Die Deutsche Novelle Im 20. Jahrhundert: Eine Gattungsgeschichte (German Edition) [Aufl. ed.] 9783412205829, 3412205826

Sascha Kiefer rekonstruiert den gattungsgeschichtlichen Verlauf der Novelle im 20. Jahrhundret, der von den formstrengen

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Die Deutsche Novelle Im 20. Jahrhundert: Eine Gattungsgeschichte (German Edition) [Aufl. ed.]
 9783412205829, 3412205826

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Sascha Kiefer Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert

Sascha Kiefer

Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert

Eine Gattungsgeschichte

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Susanne Haun: Falke im Sturzflug (2009). Tusche auf Bütten, 15 x 20 cm. © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Impress d.d., Ivančna Gorica Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Slovenia ISBN 978-3-412-20582-9

Inhalt

I. EINLEITUNG

9

1. Gattungstheoretische Grundlagen und Prinzipien der Korpusbildung 2. Der »Grund- und Fachwortschatz der Novellenlehre« 1. Die »unerhörte Begebenheit« 2. Der »Wendepunkt« 3. Der »Falke« 4. Weitere oft genannte Novellenmerkmale 3. Kommunikationsmodell der Novelle

16 26 28 38 40 44 53

II. KLASSIZISTISCHE NOVELLENTRADITION IM 20. JAHRHUNDERT

61

A. Theoretische und ideologische Grundlagen

61

1. Die Funktionsweise klassizistischer Novellenauffassung 2. ›Klassizismus‹ und ›Moderne‹

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B. Exemplarische Texte und Autoren

79

1. ›Formbewusstsein‹ und intendierte Boccaccio-Nachfolge 1. Paul Ernst (1866-1933) 2. Werner Bergengruen (1892-1964; I) 2. Opfer und Negierung der Frau 1. Rudolf Georg Binding (1867-1938) 2. Emil Strauß (1866-1960) 3. »Deutsche Erzählkunst« 1. Hans Franck (1879-1964) Exkurs zur Anekdote 2. Wilhelm Schäfer (1868-1952) und diverse Winckelmann-Novellen 4. ›Novelle‹ und ›Politik‹ 1. Bruno Frank (1887-1945) 2. Thomas Mann (1875-1955)

79 79 88 99 99 109 119 120 122 130 144 145 157

6

Inhalt III. DEUTSCHE NOVELLEN DER FÜNFZIGER JAHRE

173

A. Novellendiskurse der Nachkriegszeit

173

1. 2. 3. 4.

173 181 189 194 195 202

Novelle als Form der »Kalligraphie« Novelle versus Kurzgeschichte Novellentheoretische Beiträge in Zeitschriften und Anthologien Literaturwissenschaftliche Novellenkonzepte in den fünfziger Jahren 1. Hermann Pongs (1889-1979) 2. Johannes Klein (1904-1973)

B. Exemplarische Texte und Autoren

207

1. Historische Künstlernovellen als Relikte der Bildungsidee 1. Traditionsbildend: Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag 2. Künstlernovellen der Nachkriegszeit 1. Louis Fürnberg (1909-1957) 2. Novellenbegriff und Konservatismus 1. Friedrich Franz von Unruh (1893-1986) 2. Gerd Gaiser (1908-1976) 3. Gottfried Benn (1886-1956) 3. Christliche Novellenproduktion 1. Gertrud von le Fort (1876-1971) 2. Werner Bergengruen (1892-1964; II) 3. Stefan Andres (1906-1970) 4. Albrecht Goes (1908-2000) 4. ›Sozialistische‹ Novellen 1. Anna Seghers (1900-1983) 2. Arnold Zweig (1887-1968) 3. Theodor Plievier (1892-1955) 4. Leonhard Frank (1882-1961) 5. Franz Fühmann (1922-1984) 6. Christa Wolf (geb. 1929) 5. Ende und Anfang – Katz und Maus von Günter Grass (geb. 1927)

209 212 223 226 239 240 249 255 266 269 280 285 294 298 301 307 310 313 316 331 336

IV. DEUTSCHE NOVELLEN SEIT DEN SPÄTEN SIEBZIGER JAHREN

357

A. Der Gattungsbegriff ›Novelle‹ um 1978

357

B. Exemplarische Texte und Autoren

366

1. Auch eine ›Wiederkehr des Erzählens‹ 1. Martin Walser (geb. 1927) 2. Bodo Kirchhoff (geb. 1948) 3. Dieter Wellershoff (geb. 1925)

366 366 379 392

Inhalt

7

4. Hartmut Lange (geb. 1937) 5. Uwe Timm (geb. 1940) 2. Lust am Experiment 1. Helmut Heißenbüttel (1921-1996) 2. Ludwig Harig (geb. 1927) 3. Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) 4. Thomas Lehr (geb. 1957) 3. Künstlernovellen, revisionistisch 1. Gert Hofmann (1931-1999) 2. Jochen Beyse (geb. 1949) 3. Thomas Hürlimann (geb. 1950) und Henning Boëtius (geb. 1939) 4. ›Novelle‹ in der späten DDR 1. Erik Neutsch (geb. 1931) 2. Werner Heiduczek (geb. 1926) 3. Christoph Hein (geb. 1944)

405 417 424 427 435 443 450 459 459 472 477 486 486 492 497

V. SCHLUSS

507

VI. LITERATURVERZEICHNIS

515

A. Primärliteratur

515

B. Sekundärliteratur

528

Personenregister

575

Sachregister

584

Nachbemerkung

587

I. Einleitung

Wenn der Begriff ›Novelle‹ in der deutschen Literatur eher mit dem 19. als mit dem 20. Jahrhundert oder gar der Gegenwart assoziiert wird, so liegt das vor allem an der überragenden Bedeutung, die dieser Gattung1 im Umfeld des Bürgerlichen Realismus zukam. Mit den kanonisierten Texten von Adalbert Stifter, Annette von DrosteHülshoff, Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf, Theodor Storm oder Conrad Ferdinand Meyer ist die Novelle »zu der spezifischen und ausgezeichneten Form des dichterischen Erzählens«2 im deutschen Realismus geworden, und auch aus einer komparatistischen Perspektive gilt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als das »›âge d’or‹ de la nouvelle«.3 Von diesem quantitativen und qualitativen Höhepunkt her gesehen scheint die Novelle im 20. Jahrhundert zunächst an Bedeutung zu verlieren; bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass der tatsächliche gattungsgeschichtliche Verlauf nach 1900 alles andere als eine monoton fallende Kurve ergibt: ›Novellen‹ werden nach wie vor geschrieben und beziehen sich in Auseinandersetzung und Variation auf die bekannten Texte der Vergangenheit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es zum einen Autoren wie Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Franz Kafka und eine Reihe expressionistischer Schriftstel1

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3

Den Konventionen der Literaturwissenschaft entsprechend wird der Terminus ›Gattung‹ im Folgenden als Klassenbegriff verstanden, der auf verschiedenen Abstraktionsebenen Verwendung finden kann – wobei der übergeordnete Begriff den jeweils untergeordneten einschließt: Hauptgattungen (bes. Lyrik, Epik, Dramatik), Untergattungen (Novelle, Roman, Tragödie usw.), Typen (z.B. Kriminalnovelle, Bildungsroman, Bürgerliches Trauerspiel). Vgl. Klaus Müller-Dyes: Gattungsfragen. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 323-348, hier S. 326f., sowie Klaus W. Hempfer: Artikel ›Gattung‹. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 651-655. Fritz Martini: Die deutsche Novelle im »bürgerlichen Realismus«. Überlegungen zur geschichtlichen Bestimmung des Formtypus. In: Ders.: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute. Stuttgart 1984, S. 122-146, hier S. 124. Florence Goyet: La nouvelle 1870-1925. Description d’un genre à son apogée. Paris 1993, S. 91. – Goyet beschäftigt sich mit der deutschsprachigen Novelle nur ganz am Rande; ihre Belege entstammen vor allem der französischen, italienischen, englischen, russischen und japanischen Literatur, die meistzitierten Autoren sind Maupassant, Verga, James, Tschechov und Akugatawa. Zur älteren französischen Gattungstradition vgl. in aufschlussreicher Ergänzung zu Goyet besonders Kathrin Ackermann: Von der philosophisch-moralischen Erzählung zur modernen Novelle. Contes und nouvelles von 1760 bis 1830. Frankfurt/M. 2004 (= Analecta Romanica, Heft 70). – Die deutsche Novelle »in einem umfassenderen Vergleichssystem der europäischen und amerikanischen Erzählung« zu betrachten, unternimmt ein instruktiver Aufsatz von Werner Hoffmeister: Die deutsche Novelle und die amerikanische »Tale«: Ansätze zu einem gattungstypologischen Vergleich. In: The German Quarterly 63 (1990), S. 32-49, hier S. 33.

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Einleitung

ler, die sich der vorhandenen Gattungsnorm bedienen und sie zugleich durch ihre Werke modifizieren; daneben besteht allerdings eine konservativ geprägte Novellentradition, die die Gattungsgeschichte nicht nur unter den Bedingungen des Nationalsozialismus maßgeblich beeinflussen wird. Die Autoren des völkischen Klassizismus und ihre Vorläufer – genannt seien Rudolf G. Binding, Josef Ponten, Emil Strauß, Hans Franck, Wilhelm Schäfer und Erwin Guido Kolbenheyer – produzierten eine reichhaltige Novellenliteratur, die sich in erster Linie um die Erfüllung von Kriterien bemüht, wie sie aus kanonisierten Gattungsbeispielen und zentralen poetologischen Äußerungen (etwa Goethes, Tiecks, Heyses) abstrahiert wurden, aber in der Novellenpraxis des 19. Jahrhunderts kaum in vergleichbar ›reiner‹ Form anzutreffen sind. Die immer wieder zusammengestellten Merkmale einer Novelle4 – von der »unerhörten Begebenheit« (Goethe) über den »Wendepunkt« (Tieck) und den »Falken« (Heyse) bis zum dramatisch-konzentrierten Aufbau (Storm) – werden erst in dieser Phase hypostasiert. Zur konservativen Prägung der Novellenform trägt dabei auch die zeitgenössische Germanistik bei. Die Akzentuierung gattungspoetischer Vorstellungen geht im 20. Jahrhundert generell – und besonders stark im Hinblick auf eine ›strenge‹ Form wie die der Novelle – mit einem antimodernistischen Impuls einher, sollen doch die klassizistischen Gattungsgesetze den Maßstab bilden für die Ablehnung neuerer Tendenzen: »Von den Kritikern des Naturalismus bis hin zu E. Staiger und G. Lukács sind die Gegner der modernen Dichtung Gattungstheoretiker. Ja die Gattungstheorie wird im 20. Jahrhundert geradezu zu einer Waffe im Kampf gegen die moderne Literatur«.5 Die Germanistik der zwanziger und dreißiger Jahre unterstreicht ebenso wie der völkische Klassizismus den Anspruch der Novelle als einer ›höheren‹, weil besonders kunstvollen Literaturgattung und vermengt damit auf bedenkliche, aber in der Gattungsgeschichte lange nachwirkende Weise formale und qualitative Kriterien. Angesichts dieser Vorgeschichte kann es nicht verwundern, dass die Novelle in der Nachkriegszeit als eine wesentlich konservativ geprägte Literaturgattung galt und auf junge Autoren – vor allem im Zeichen von ›Kahlschlag‹ und ›Stunde Null‹ – zunächst keine besondere Faszination ausüben konnte. Stattdessen avancierte die Kurzgeschichte zu einer beliebten, weil weniger traditionsbelasteten und ›offeneren‹ Form der Kurzprosa. Für die kulturelle Situation in der frühen Bundesrepublik ist jedoch symptomatisch, dass viele Novellen völkisch-konservativer Autoren in den fünfziger Jahren weiterhin sehr hohe Auflagen erfahren und oft auch in den Schulen gelesen werden: So erreicht Rudolf G. Bindings (im NS-Staat verfilmter) Novellenbestseller Der Opfergang (1911) in der Insel-Bücherei das 955. Tausend (1957), Der Schleier von Emil Strauß überschreitet 1958 die 400 000-Grenze, Kolbenheyers Karls4

5

Die kanonisierten Beiträge zur Novellentheorie sind am leichtesten zugänglich in: Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Hg. v. Karl Konrad Polheim. Tübingen 1970 (= Deutsche Texte, 13); Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973 (= Wege der Forschung, 55). Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers. Tübingen 1981 (= Hermaea, NF 42), S. 322.

Einleitung

11

bader Novelle bringt es bis 1953 auf 140 000 Exemplare und Agnes Miegels Die Fahrt der sieben Ordensbrüder kommt 1954 immerhin auf das 124. Tausend der Gesamtauflage. Die Novelle muss damit als Gattung gelten, innerhalb derer sich Kontinuitäten über die historische Zäsur von 1945 hinweg besonders deutlich abzeichnen.6 Quantitativ gibt es in der frühen Bundesrepublik noch relativ viele Novellen unter den Neuerscheinungen. Sieht man von Ausnahmen ab wie etwa der Berliner Novelle, als die Gottfried Benn seinen Ptolemäer (1949) bezeichnet, werden innovative Akzente allerdings erst in den späten fünfziger Jahren gesetzt, z.B. mit Franz Fühmanns beachtlichem Band Stürzende Schatten (1959). Im Jahr 1961 sind es gleich zwei junge Autoren, die sich explizit der Gattung bedienen, wenn auch mit sehr unterschiedlichem Erfolg: Wenig Beachtung findet Christa Wolfs Erstlingswerk Moskauer Novelle (Halle 1961), sehr viel dagegen Katz und Maus von Günter Grass. Beide Beispiele zeigten nachdrücklich, dass sich die traditionelle Gattungsbezeichnung mit den Aussageabsichten einer neuen Autorengeneration verbinden ließ und widerlegten damit die normative Festschreibung der Gattung auf konservative Formen und Werte, wie sie etwa Friedrich Franz von Unruh und Hermann Pongs bis in die siebziger Jahre hinein unternahmen.7 Die fragwürdigen Versuche, einem Text wie Katz und Maus aufgrund inhaltlich-thematischer Provokationen den (formal zu begründenden) Novellenstatus abzusprechen, gehören nicht nur zur Rezeptionsgeschichte dieses wichtigen Werkes, sondern sind auch charakteristisch für die Fehlleistungen der älteren Novellenforschung im Umgang mit zeitgenössischen Gattungsbeiträgen.8 Trotz des nachhaltigen Erfolgs von Katz und Maus scheint die Novelle – fokussiert man die ausdrückliche Verwendung der Gattungsbezeichnung als von den Autoren gewählten paratextuellen Zusatz – in den sechziger und siebziger Jahren fast völlig zu verschwinden. Erst Martin Walser aktualisiert die Gattungsnorm wieder, als er 1978 Ein fliehendes Pferd explizit als ›Novelle‹ bezeichnet. Seither hat die Novellenproduktion bis in die unmittelbare Gegenwart hinein wieder zugenommen oder, um es mit den Worten von James M. Ritchie zu sagen: »Die strenge Novellenform erlebt ihr Comeback«9 – und dieses hat sich mittlerweile in weitaus mehr als zweihundert neuen, ausdrücklich ›Novelle‹ genannten Texten niedergeschlagen. Eine Auswahl he6

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8

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Vgl. allgemein zur Dominanz konservativ-rückwärtsgewandter Literaturauffassungen in den fünfziger Jahren Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. München 1986 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10), S. 214-229. Vgl. Hermann Pongs: Ist die Novelle heute tot? Untersuchungen zur Novellen-Kunst Friedrich Franz von Unruhs. Stuttgart [1961]; Friedrich Franz von Unruh: Die unerhörte Begebenheit. Lob der Novelle (1976). In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 6. Freiburg/Br., Berlin, Wien 2007, S. 373-476. Noch Benno von Wiese ist blind für die eindeutigen Bezugnahmen auf die Novellentradition, die in Katz und Maus zu beobachten sind. Vgl. Benno von Wiese: Novelle. Stuttgart 81982 (= Sammlung Metzler, 27), S. 84. James M. Ritchie: Die strenge Novellenform im zwanzigsten Jahrhundert. In: Dichtung Wissenschaft Unterricht. Rüdiger Frommholz zum 60. Geburtstag. Hg. v. Friedrich Kienecker und Peter Wolfersdorf. Paderborn, München, Zürich, Wien 1986, S. 252-264, hier S. 263.

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Einleitung

rausragender Titel sei genannt: Dieter Wellershoffs Die Sirene (1980), Gert Hofmanns Gespräch über Balzacs Pferd (1981), Christoph Heins Der fremde Freund (1982), Bodo Kirchhoffs Mexikanische Novelle (1984), Hartmut Langes Das Konzert (1986), Thomas Hürlimanns Das Gartenhaus (1989), Ludwig Harigs Die Hortensien der Frau von Roselius (1992), Uwe Timms Die Entdeckung der Currywurst (1993), Michael Kleebergs Barfuß (1995), Peter Turrinis Die Verhaftung des Johann Nepomuk Nestroy (1998) und Henning Boëtius’ Tod in Weimar (1999); bereits ins 21. Jahrhundert fallen Hürlimanns Fräulein Stark (2001), Helmut Kraussers Schmerznovelle (2001), Im Krebsgang von Günter Grass (2002), die sehr unterschiedlichen Musikernovellen Morire in levitate von Marlene Streeruwitz (2004) und Der Glückliche von Hansjörg Schertenleib, der als »Bewußtseinsnovelle« titulierte Text Die Unbeholfenen von Botho Strauß (2007) oder die Schweigeminute von Siegfried Lenz (2008). Der stabilen Bedeutung, die die Gattung Novelle im zeitgenössischen Literaturbetrieb wieder gewonnen hat, entspricht die Beachtung moderner Novellenproduktion von Seiten der Literaturwissenschaft in keiner Weise. Zwar ist in den letzten Jahren eine Reihe neuer Überblicksdarstellungen unterschiedlicher Reichweite und Qualität erschienen; verwiesen sei auf die Arbeiten von Ulrich Karthaus, Hannelore Schlaffer, Thomas Degering, Winfried Freund, Hugo Aust und Wolfgang Rath sowie auf den Forschungsbericht von Siegfried Weing.10 Für den Zeitraum nach 1978 sind darüber hinaus die lesenswerten, aber auf schmaler Textbasis argumentierenden Dissertationen von Thomas Voss und Elena Wassmann zu nennen.11 Was jedoch fehlt, ist eine 10 Vgl. Ulrich Karthaus: Novelle. Bamberg 1990; Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart,

Weimar 1993; Thomas Degering: Kurze Geschichte der Novelle. München 1994; Winfried Freund: Novelle. Stuttgart 1998 (= RUB 17607; vgl. auch den von Freund hg. Sammelband Deutsche Novellen, München 1993); Hugo Aust: Novelle. Stuttgart, Weimar 42006 (= Sammlung Metzler, 256) [die beste und materialreichste Überblicksdarstellung]; Wolfgang Rath: Die Novelle. Konzept und Geschichte. Göttingen 2000 [die 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2008 korrigiert eine Reihe von Detailfehlern, die den Wert der ersten Auflage beeinträchtigen]; Siegfried Weing: The German Novella. Two Centuries of Criticism. Columbia SC 1994. – Über die ältere Literatur informiert am besten der bis heute lesenswerte Forschungsbericht von Karl Konrad Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung. Ein Forschungsbericht 1945-1964. Stuttgart 1965. Die vor allem wissenschaftshistorisch relevanten, aber zum Teil hochproblematischen Arbeiten von Hermann Pongs und Johannes Klein werden in einem eigenen Kapitel der vorliegenden Arbeit im novellengeschichtlichen Kontext der 1950er Jahre betrachtet. Unter den älteren Standardwerken zur Novellengeschichte seien, neben der bereits zitierten Darstellung Benno von Wieses, noch besonders hervorgehoben: Hellmuth Himmel: Geschichte der deutschen Novelle. Bern 1963 [eine bis heute durch Weitblick und Sorgfalt beeindruckende Leistung]; Richard Thieberger: Le genre de la nouvelle dans la littérature allemande. Paris 1968, sowie die drei Bände von Josef Kunz: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik. Berlin 31992 (= Grundlagen der Germanistik, 2); Die deutsche Novelle im 19. Jahrhundert. Berlin 21978 (= Grundlagen der Germanistik, 10); Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Berlin 1977 (= Grundlagen der Germanistik, 23). Die Aussagekraft des letztgenannten Bandes über die Novelle im 20. Jahrhundert ist jedoch nicht nur durch das Erscheinungsjahr 1977 begrenzt, sondern auch durch die Grundüberzeugung ihres Autors, dass »[b]edeutende Novellendichtungen […] in dem Zeitraum zwischen den vierziger Jahren und der unmittelbaren Gegenwart nur in geringem Umfang geschaffen worden« seien (ebd., S. 225). 11 Thomas Voss analysiert, nach einem Eingangskapitel zu Katz und Maus, die drei in enger zeitlicher

Einleitung

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spezielle, breit angelegte Untersuchung zur Novellenentwicklung seit 1945; auf dieses Desiderat reagiert die vorliegende Arbeit. Verfolgt wird dabei ein gattungs- und literaturgeschichtliches Erkenntnisinteresse, wie es im Zuge von Poststrukturalismus und Dekonstruktion eine Zeitlang in Misskredit geraten ist.12 So produktiv sich diese Denkweisen jedoch auf die Selbstreflexion der Geisteswissenschaften und die kritische Hinterfragung sinngenerierender Prozesse ausgewirkt haben, so klar ist in der Zwischenzeit auch geworden, dass die ausdrückliche Weigerung, dem historischen Material eine Form zu geben, keine Alternative darstellt zur »Notwendigkeit gliedernder Ordnungsversuche«.13 Auch eine ›Archäologie des Wissens‹ beruht auf Vorannahmen und erkenntnisleitenden Prämissen, aus denen entsprechend motivierte Deutungen und Konstruktionen resultieren; der hermeneutische Zirkel des Verstehens kann noch so kritisch reflektiert, aber nicht umgangen werden. Jede Form historischer Erkenntnis bleibt auf die ›konstruktive Einbildungskraft‹14 des Erkennenden angewiesen, ohne die die Verständigung über Nachbarschaft erschienenen Novellen Ein fliehendes Pferd, Die Denunziation und Die Sirene. Seine auf den erzähltheoretischen Kategorien Franz Karl Stanzels basierende Vorgehensweise definiert er als »Untersuchung des novellistischen Erzählens mit dem besonderen Augenmerk auf dem Erzähler« (S. 13); ermittelt wird für alle fokussierten Texte eine »subjektivierte Perspektivierung der Erzählsituationen« (S. 231), die Voss als »Ausdruck und Reflexion einer Epochenerfahrung« (S. 29) in den literarhistorischen Kontext der späten siebziger Jahre einordnet. Der Verzicht auf eine Verlagspublikation hat die wissenschaftliche Rezeption dieser Arbeit zweifellos behindert (vgl. Thomas Voss: Die Novelle in der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Untersuchung des modernen novellistischen Erzählens anhand der Novellen Katz und Maus von Günter Grass, Ein fliehendes Pferd von Martin Walser, Die Denunziation von Gert Hofmann und Die Sirene von Dieter Wellershoff. Diss. masch. Ann Arbor/Mi 1994). Elena Wassmann wählt für ihre auf dem Intertextualitätsparadigma beruhende Untersuchung einen diachronen Ansatz, den sie allerdings auch nur über die (ausführliche und ergiebige) Interpretation von vier ausgewählten Einzeltexten realisiert; ihre Schlussfolgerungen greifen allesamt weiter als die von Voss und zeugen von intensiver Kenntnis der neueren Novellenproduktion. Die im April 2009 (und damit nach dem Abschluss der vorliegenden Arbeit) veröffentlichte Dissertation ist im Folgenden zumindest in den Fußnoten noch nachträglich berücksichtigt worden; vgl. Elena Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind und Günter Grass. St. Ingbert 2009 (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, 46). 12 Vor allem an Gattungsfragen hat der Poststrukturalismus kein Interesse: Michel Foucault etwa negiert die Relevanz von Gattungen in einer an Croce erinnernden Absolutheit, vgl. Margrit Schnur-Wellpott: Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht. Tübingen 1983, S. 6. SchnurWelpott kommt zu dem Fazit, dass eine Vermittlungsmöglichkeit zwischen traditionellen, rhetorisch-strukturalistischen Gattungsauffassungen und poststrukturalistischer Texttheorie nicht gegeben sei: »Es scheint [...] sinnvoll, Gattungstheorie und Semiotik der ›écriture‹ als zwei Diskurstypen nebeneinander bestehen zu lassen« (ebd., S. 233). Auch Derrida erteilt jeder Form traditioneller Gattungstheorie eine Absage, da es für Gattungen gar nicht möglich sei, sich nicht zu mischen; vgl. Jacques Derrida: La Loi du genre/The Law of Genre. In: Glyph 7 (1980), S. 176-232. 13 Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 1. 14 So Hayden White in Anschluss an R.G. Collingwood, vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Aus dem Amerikanischen v. Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann. Einführung v. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1986 (= Sprache und Geschichte, 10), S. 104.

Einleitung

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historische Abläufe, die Beschreibung und Erklärung der Vergangenheit unmöglich wäre; das Bewusstsein, keine ›Literatur der Fakten‹, sondern, wie Hayden White es formuliert hat, nur eine »Fiktion der Darstellung des Faktischen«15 liefern zu können, markiert einen selbstreflexiven Standard, aber entzieht historischen und literarhistorischen Arbeiten nicht die Legitimation. Vor diesem Hintergrund fokussiert die vorliegende Darstellung insbesondere, was ›Novelle‹ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeuten kann. In enger Beziehung zur jeweiligen historischen Situation werden die semantischen ›Aufladungen‹ des Gattungsbegriffs und »die kulturell eingeübten und tradierten Regeln der Sprachspiele«16 analysiert, in denen man über ›Novelle‹ und ›Novellen‹ kommuniziert. Die Bildung von Textgruppen soll erkennbar machen, wann und wo, in Bezug auf welche inhaltlichen oder ästhetischen Absichten verschiedene Autoren in ihrer Handhabung und Modifikation dessen, was sie unter ›Novelle‹ verstehen, übereinstimmen. So lässt sich etwa am Beispiel der historisch-biographischen Künstlernovelle demonstrieren, wie dieses Subgenre in den fünfziger Jahren sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Deutschen Demokratischen Republik im Rückgriff auf bedeutende Prätexte gepflegt wurde; einerseits sind unterschiedliche Akzente zu erkennen, die aus den Rahmenbedingungen des jeweiligen Literatursystems resultieren, andererseits wird eine vergleichbare Funktionszuweisung deutlich, die das Genre als Beitrag zur Memorialkultur, zum Gedächtnis ›großer‹ Künstlerpersönlichkeiten definiert – und die wiederum in deutlichem Kontrast steht zur Fortführung der historischbiographischen Künstlernovelle unter den gewandelten Geschichts- und Bildungsauffassungen der 1980er Jahre. Dabei kann eine auf die speziellen Bedingungen der ›Novelle‹ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerichtete Untersuchung nicht umhin, die von der literaturwissenschaftlichen Forschung oft nur beiläufig behandelte Phase der klassizistischen Novellenproduktion im frühen 20. Jahrhundert intensiv miteinzubeziehen. Der epochale Rang, der Autoren wie Arthur Schnitzler oder Franz Kafka zukommt, ist unbestreitbar; aber Texte wie Lieutenant Gustl und selbst Traumnovelle sind nicht vorrangig als ›Novellen‹ rezipiert worden, ebenso wenig wie Das Urteil, Die Verwandlung und In der Strafkolonie, die Kafka als »ein größeres Novellenbuch unter dem gemeinsamen Titel ›Strafen‹«17 hatte zusammenfassen wollen. Für das »Gattungsbewußtsein«18 speziell der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen diese Texte trotz 15 Ebd., S. 145. 16 Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn

2003, S. 59.

17 Franz Kafka an Georg Heinrich Meyer (Kurt Wolff Verlag), 15.10.1915. In: Ders.: Briefe. April

1914-1917. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M. 2005, S. 142f., hier S. 142f. – Kafkas einzige ausführlichere Reflexion des Novellenbegriffs – bezogen auf die Probleme des »Anfang[s]« und die Vorstellung, eine »berechtigt[e]« Novelle trage »ihre fertige Organisation in sich« – ist ein Tagebucheintrag vom 19.12.1914, vgl. Franz Kafka: Tagebücher in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcom Pasley. Frankfurt/M. 1990, S. 711. 18 Der Begriff ›Gattungsbewußtsein‹ stammt von Michal Glowiński: Die literarische Gattung und die Probleme der historischen Poetik. In: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Zur Literatur-

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ihres weltliterarischen Rangs eine deutlich geringere Rolle als die konservativ-traditionalistischen Novellen von heute weitgehend vergessenen, bei den Zeitgenossen aber sehr präsenten Autoren. Von daher ist es für eine gattungsgeschichtlich orientierte Untersuchung wichtiger, diese Texte in ihrem prägenden Einfluss auf den Novellendiskurs des 20. Jahrhunderts zu analysieren, als einen weiteren Beitrag zur ohnehin kaum mehr übersehbaren Schnitzler- oder Kafka-Forschung zu leisten – denn was Autoren und Leser, Verlagsleiter und Literaturwissenschaftler, Lehrer und Schüler in den 1950er Jahren unter einer (zeitgenössischen) ›Novelle‹ verstanden, war nicht von Arthur Schnitzler oder Franz Kafka bestimmt, sondern von Hans Franck oder Emil Strauß. Erst vor der Folie dieser konservativen Prägung des Novellenbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Gattungsentwicklung nach 1945 verstehbar. Viele Autoren setzen die Linie der klassizistischen Novellenproduktion bruchlos fort, wenn auch um den Preis sinkender Beachtung. Die Kurzgeschichte gilt als die ›moderne‹ Form, der sich eine neue Generation auch in unmittelbarer Absetzung von der Gattung ›Novelle‹ verpflichtet sieht. Allerdings ist es zu einseitig, die deutsche Nachkriegsbegeisterung für die Kurzgeschichte ausschließlich als das Bestreben zu deuten, den Anschluss an die internationale Entwicklung der short story zu finden; denn in der Literatur des NS-Staats gab es durchaus den Versuch, eine im Sinn des Nationalsozialismus politisch funktionalisierte Gattung ›Kurzgeschichte‹ als die dem Deutschen eigentlich angemessene Form der Kurzprosa zu etablieren und dezidiert gegen die aus dem romanischen Kulturkreis stammende und als altmodischbürgerlich akzentuierte Novelle auszuspielen. Einmal mehr erweisen sich die Diskurslinien der Nachkriegszeit im heiklen Spannungsfeld von ›Tradition‹ und ›Neubeginn‹ als wenig eindeutig – eine Beobachtung, die sowohl für den westlichen als auch, mutatis mutandis, für den östlichen Teil Deutschlands zutrifft. Unbestreitbar ist allerdings, dass die explizite Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ in den fünfziger Jahren konstant an Häufigkeit einbüßt und die als solche bezeichneten Texte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum zur ästhetisch bedeutenden oder gar kanonisierten Literatur ihrer Entstehungszeit gehören. Gerade angesichts der Lücke, die sich in der deutschen Novellenproduktion der sechziger und siebziger Jahre auftut, ist die Wiederbelebung des Genres seit 1978 umso bemerkenswerter. Offenbar ist, insbesondere nach der »Krise des Erzählens«19 um 1968, dem Auslaufen der ›Neuen Subjektivität‹20 im Westen und einem »Jahrzehnt sozialistischer Stagnation«21 im Osten, eine Phase in der Literaturentwicklung angebrochen, in der es theorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien. Hg. v. Aleksander Flaker und Viktor Žmegač. Kronberg/Ts. 1974, S. 155-185, hier S. 171. 19 Vgl. Keith Bullivant und Klaus Briegleb: Die Krise des Erzählens – ›1968‹ und danach. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992, S. 302-339. 20 Vgl. zu Begriff und Phänomen Hermann Schlösser: Subjektivität und Autobiographie. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992, S. 404-423. 21 Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, S. 691.

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für viele Autoren wieder reizvoll wird, statt der autobiographischen Authentizität gerade das artifizielle, bewusst gestaltete und fingierte Moment ihres Schaffens zu betonen. Die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ ist lange genug unüblich gewesen, um nun als bewusst gesetztes paratextuelles Signal auf die betonte Literarizität und den Konstruktcharakter des Textes, auf das Gewicht seiner inhaltlichen und ästhetischen Aussage im Rahmen eines spezifisch literarischen Diskurses zu verweisen. Die Wiederkehr der Novelle erweist sich damit als Teil einer »Wiederkehr des Erzählens«22, die die subjektbezogenen Schreibperspektiven der 1970er Jahre ablöst. In ihrem innovierenden Spiel mit tradierten Mustern und Erzählnormen macht diese ›Wiederkehr des Erzählens‹ einen wesentlichen Teil der sogenannten ›Postmoderne‹ aus23 und findet, auf die Novelle bezogen, in der vorliegenden Arbeit erstmals eine angemessen ausführliche Berücksichtigung im Rahmen einer gattungsgeschichtlich orientierten Darstellung.

1. Gattungstheoretische Grundlagen und Prinzipien der Korpusbildung Eine gattungsgeschichtlich orientierte Darstellung muss allerdings vorab ihre gattungstheoretischen Grundlagen klären und die Prinzipien erläutern, auf denen ihre Korpusbildung beruht. Dabei kann als fester Konsens innerhalb der germanistischen Forschung gelten, dass Gattungsbegriffe nur noch in einer strikt historisierenden Handhabung sinnvoll sind – eine Auffassung, die verstärkt seit den siebziger Jahren und am profiliertesten von Hans Robert Jauß und Wilhelm Voßkamp24 vorgebracht wurde. Demnach ist eine ›Gattung‹ keine statische bzw. logisch-klassifikatorische Kategorie, sondern ein dynamisches, in beständiger Veränderung begriffenes Bezugssystem, dessen Analyse sowohl synchron als auch diachron betrieben werden muss: Synchron insofern, als die Position einer Gattung in Relation zu anderen innerhalb des jeweils gültigen historischen Systems zu bestimmen ist, diachron im 22 Vgl. Nikolaus Förster: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er

Jahre. Darmstadt 1999. Förster bezieht sich in der Titelwahl ausdrücklich auf Volker Hages Buch Die Wiederkehr des Erzählers. Neue deutsche Literatur der 70er Jahre (Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982), betont aber, dass es gerade nicht die Wiederkehr des Erzählers gewesen sei, die eine Zäsur bewirkt habe, sondern die spätere »Wiederkehr des Erzählens, das in seiner scheinbaren Naivität jeglichen Anspruch auf Authentizität von vornherein zurückweist und stattdessen seinen Konstruktcharakter deutlich zur Schau stellt« (Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 5). 23 Ralf Schnell (Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart, Weimar 22003, S. 399) lässt die ›Postmoderne‹ in der deutschen Literatur 1978 beginnen – also im gleichen Jahr, in dem Martin Walser mit Ein fliehendes Pferd auch die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ wieder ins Bewusstsein rückt. 24 Vgl. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hg. v. Hans Robert Jauß und Erich Köhler. Bd. 1. Heidelberg 1972, S. 107-138; Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen (Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie). In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27-44.

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Hinblick auf das epochenübergreifende Verhältnis von Kontinuität und Innovation innerhalb einer Einzelgattung.25 Vor allem der diachrone Blick auf das Verhältnis von Einzeltext und gattungsbildender Textreihe lässt sich mit den Erkenntnisinteressen der Rezeptionsästhetik verbinden, die das heute gültige Verständnis von Gattungen als Kommunikationsnormen entscheidend mitgeprägt hat26: Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, erweitert, korrigiert, aber auch umgebildet, durchkreuzt oder nur reproduziert werden können. Variation, Erweiterung und Korrektur bestimmen den Spielraum, Bruch mit der Konvention einerseits und bloße Reproduktion andererseits die Grenzen einer Gattungsstruktur.27

Dass Entstehung (Institutionalisierung) und ›Verfall‹ (Entinstitutionalisierung) literarischer Gattungen zudem mit sozialgeschichtlichen Konstellationen und Prozessen verbunden sind, verdeutlicht vor allem Wilhelm Voßkamps Auffassung von »Gattungen als literarisch-soziale[n] Institutionen«.28 25 Dass die Verbindung von synchronem und diachronem Blick unerlässlich ist, um der Historizität

von Gattungsbegriffen gerecht zu werden, ist bereits eine Erkenntnis des russischen Formalismus, vgl. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. und eingel. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 433-461. 26 Ältere Gattungskonzeptionen haben demgegenüber nur noch historische Bedeutung. Das gilt etwa für nominalistische und realistische Positionen, wie sie im Anschluss an den mittelalterlichen Universalienstreit um den ontologischen Status von Allgemeinbegriffen auch in Gattungsfragen vertreten wurden. Für den Nominalisten gibt es »keine Allgemeinbegriffe, sondern bloß allgemein verwendete Wortzeichen, welche das Verstehen von Allgemeinbegriffen vortäuschen, während wir in Wahrheit nur über Einzelvorstellungen verfügen«; der Realist geht dagegen von der »Annahme eines objektiven allgemeinen Seins neben den individuellen Dingen, unabhängig vom subjektiven begrifflichen Denken« aus (Wolfgang Stegmüller: Glauben, Wissen und Erkennen. Das Universalienproblem. Einst und jetzt. 2., überprüfte Auflage. Darmstadt 1967, S. 56f.). Auf literarische Gattungen bezogen wurde die nominalistische Position am radikalsten von Benedetto Croce vertreten, demzufolge Gattungspoetik jeglicher Art statt zum besseren Verständnis zum vollständigen Verfehlen des immer einmalig und individuell gedachten Kunstwerks führen müsse (vgl. Benedetto Croce: Estetica. Bari 1902; dt. Ausgabe Leipzig 1905); eine im Sinne des Universalienstreits ›realistische‹ Position markiert etwa Emil Staigers Versuch, die drei Hauptgattungen Lyrik, Epik und Dramatik (von ihm als anthropologisch bedingte Grundhaltungen des ›Lyrischen‹, ›Epischen‹ und ›Dramatischen‹ verstanden) zu ontologisieren, in verschiedenen ›Seinsweisen‹ des Menschen zu verankern (vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946). Nominalistische und realistische Positionen, ansonsten als Gegensätze zu begreifen, berühren sich im Ignorieren der geschichtlichen Dimension, deren Beachtung im Mittelpunkt neuerer, kommunikativ-pragmatisch orientierter Gattungskonzepte steht. Über gattungstheoretische Grundfragen informiert am besten die unübertroffene Darstellung von Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973; im Anspruch gegenüber Hempfer deutlich reduziert ist die Arbeit von Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, einen ebenso knappen wie präzisen Überblick bietet Wilhelm Voßkamp: Artikel ›Gattungsgeschichte‹. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 655-658. 27 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 119. 28 Voßkamp macht dabei als einer der ersten soziologische Erkenntnisse Niklas Luhmanns für die Literaturwissenschaft nutzbar, vgl. Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, bes. S. 29f. – Dass

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Bezogen auf die Geschichte der deutschen Novelle nach 1945 ist in diachroner Perspektive vor allem der Zusammenhang mit der Gattungstradition seit dem 19. Jahrhundert zu fokussieren (etwa im Hinblick auf inhaltliche, technisch-stilistische, kompositionelle Elemente), in synchroner das Verhältnis der Novellengattung zu anderen Prosaformen, vor allem zur Kurzgeschichte (insbesondere unter Berücksichtigung intentionaler, funktionaler und sozialhistorischer Momente). Notwendigerweise muss der Begriff der ›Novelle‹ dabei ein offener Begriff bleiben, da es für ihn »weder eine erschöpfende Aufzählung notwendiger Anwendungsbedingungen geben kann noch eine vollständige Disjunktion ›novelle-machender‹ Merkmalbündel«.29 Aus sprachanalytisch-philosophischer Sicht hat Werner Strube den Begriff ›Novelle‹ im Anschluss an Ludwig Wittgenstein als ›Familienähnlichkeitsbegriff‹ gefasst30 – eine terminologische Entscheidung, die der Beobachtung gerecht wird, dass nicht alle Exemplare der Gattung in denselben Merkmalen übereinstimmen, sondern die Entwicklung darauf hinauslaufen kann, dass zwei Novellen nur noch über die historischen Zwischenstufen miteinander ›verwandt‹ sind (wie in der folgenden Graphik die Novellen a und e): Novelle a: Novelle b: Novelle c: Novelle d: Novelle e:

A

B B

C C C

D D D D

E E E E

F F F

G G

H

Über die ›Gattung‹ Novelle kann deshalb nur sinnvoll im Hinblick auf bestimmte historische Perioden gesprochen werden, deren Novellenproduktion sich in Auseinandersetzung und Variation auf die Geschichte der Gattung zurückbezieht. Eine auf die letzten Jahrzehnte bzw. die Zeit nach 1945 konzentrierte Analyse des Gates bei der Beschreibung von Literatur als Sozial- und Symbolsystem »in jeder historischen Epoche einen Überschuß an literarischen und künstlerischen Formen gibt, der gesellschaftlichen Strukturen nicht vollständig zuzuordnen ist«, betont Voßkamp heute freilich stärker als in der Konsolidierungsphase der sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft, vgl. Wilhelm Voßkamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507, hier S. 505. – Den Zusammenhang zwischen Gattungs- und Gesellschaftsstrukturen hat (bei partieller Übereinstimmung mit Jauß und Voßkamp) auch Erich Köhler mit großem Nachdruck herausgestellt; er fordert die Ergänzung der rezeptionsästhetischen Perspektive durch eine »literatursoziologisch orientierte Produktionsästhetik«, vgl. Erich Köhler: Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7-22, hier S. 7. 29 Werner Strube: Sprachanalytisch-philosophische Typologie literaturwissenschaftlicher Begriffe. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 35-49, hier S. 43; danach auch die graphische Darstellung. 30 Vgl. Werner Strube: Die komplexe Logik des Begriffs »Novelle«. Zur Problematik der Definition literarischer Gattungsbegriffe. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 32 (1982), S. 379386.

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tungsverlaufs kann dabei allerdings das Textkorpus auf andere Art und Weise bestimmen, als dies bei Überblicksdarstellungen der gesamten Gattungsgeschichte der Fall ist. Denn für das fortgeschrittene 20. Jahrhundert darf davon ausgegangen werden, dass die Verwendung des Terminus ›Novelle‹ auf intensive Reflexionen des Autors zurückgeht und sich zum einen auf der Produktionsebene, also in der Textstruktur niederschlägt, darüber hinaus aber auch als bewusste Rezeptionslenkung zu begreifen ist. Die Hypostasierung der Gattungsmerkmale durch die völkischen Klassizisten wie auch die zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich im 20. Jahrhundert mit der Novellenform auseinandersetzen, haben zu einer Schärfung des Begriffs geführt, die zumindest auf der Ebene standardisierter Merkmale von jedem Autor wie auch von vielen Lesern mitreflektiert wird. Damit gewinnt die Gattungszuschreibung durch den Autor eine grundsätzlich andere und höhere Relevanz, als das in früheren Phasen der Gattungsentwicklung der Fall gewesen ist, und kann als wesentliches Instrument zur Ermittlung des Textkorpus verwendet werden. Von selbst versteht sich, dass dieses induktive und an die Definitionshoheit des Autors gebundene Verfahren weder auf andere Gattungen noch auf den Gesamtverlauf der Novellengeschichte übertragbar wäre. Schon Emil Ermatinger hat im Rahmen einer klassischen Wissenschaftskontroverse darauf hingewiesen, dass zu unterschiedlichen Zeiten viel zu heterogene Inhalte und Formen unter dem gleichen Terminus subsumiert würden, als dass die Orientierung an expliziten Benennungen heuristischen Wert besitzen könnte – Ermatinger wandte sich hiermit gegen das Prinzip, das Karl Viëtor seiner Geschichte der deutschen Ode (1923) zugrunde gelegt hatte.31 Bezogen auf die deutsche Novelle im 19. Jahrhundert etwa würde eine Fixierung auf die vom Autor vorgenommene Gattungszuschreibung aus verschiedenen Gründen zu verzerrten Ergebnissen führen. So hat bekanntlich Heinrich von Kleist, dessen Erzählungen immer wieder einen zentralen Bezugspunkt der Novellentheorie und -geschichte bilden, den Terminus ›Novelle‹ niemals gebraucht; sein eigener Vorschlag, Werke wie Michael Kohlhaas oder Das Erdbeben in Chili unter dem Sammeltitel »Moralische Erzählungen«32 zu veröffentlichen, scheint mehr noch als die NichtVerwendung des Novellenbegriffs geeignet, gattungsgeschichtliche Erwartungen zu irritieren: Kaum etwas dürfte dem, was das 18. und frühe 19. Jahrhundert mit dem Begriff des ›Moralischen‹ verbunden haben, ferner stehen als die Inhalte, Charaktere und Handlungsverläufe der Kleistschen Prosa.33 31 Vgl. Emil Ermatinger: Das Gesetz in der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Philosophie der

Literaturwissenschaft. Berlin 1930, S. 331-375, bes. S. 333f.

32 Heinrich von Kleist an Georg Andreas Reimer, . In: Briefe von und an Heinrich

von Kleist 1793-1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt/M 1997 (= Sämtliche Werke und Briefe, 4), S. 446. 33 Hans Zeller versteht Kleists Titelvorschlag als bewusste Ironisierung der Gattungsnorm, vgl. Hans Zeller: Kleists Novellen vor dem Hintergrund der Erzählnormen. Nichterfüllte Voraussetzungen ihrer Interpretation. In: Kleist-Jahrbuch 1994, S. 83-103; zu Kleists Gattungsbezeichnungen vgl. zusammenfassend und pointierend Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 90-97.

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Mag es zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Fehlen einer entsprechenden deutschsprachigen Tradition gewesen sein, war es in späteren Jahrzehnten gerade der inflationäre Gebrauch der Gattungsbezeichnung, der manche Autoren auf den Begriff ›Novelle‹ verzichten ließ: So schrieb schon Franz Grillparzer an seinen Verleger, Der arme Spielmann solle nur »ja nicht [als] Novelle!« publiziert werden34, und Gottfried Keller brachte Paul Heyse gegenüber sein Unbehagen an einer zum Massenartikel heruntergekommenen Novellenproduktion zum Ausdruck: »Mich beschleicht nämlich schon seit einiger Zeit das Gefühl, daß die Novelliererei zu einer allgemeinen Nivelliererei geworden sei, einer Sintflut, in welcher herumzuplätschern kein Vergnügen und bald auch keine Ehre mehr sei«.35 Wie wenig geschärft der Gattungsbegriff noch im frühen 20. Jahrhundert war, zeigt die relative Beliebigkeit, mit der beispielsweise Thomas Mann den Terminus verwendet, ausspart oder in späteren Auflagen ersetzt, etwa im Fall des Tonio Kröger. Spätestens nach 1945 ist jedoch von einer gattungsgeschichtlichen Situation auszugehen, in der mit dem Novellenbegriff relativ spezielle Strukturen und Traditionen verbunden werden. Auf der Ebene der sogenannten Unterhaltungs- und Trivialliteratur ist die Gattungsbezeichnung weitgehend verschwunden, was zum einen mit der bewussten Überhöhung der Novelle durch die klassizistische Tradition, zum anderen auch mit geänderten Lesegewohnheiten zu tun haben mag: Die massenhafte, von Gottfried Keller beklagte Novellenproduktion des 19. Jahrhunderts war ja nicht zuletzt an publizistische Voraussetzungen wie die große Verbreitung von Journalen und Familienzeitschriften bis hinauf zur Deutschen Rundschau gebunden, die steten Bedarf vor allem an belletristischer Kurzprosa hatten36; auch für die außerdeutschen 34 Franz Grillparzer an Graf Majláth, 20.11.1846. In: Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hg. v. Peter

Frank und Karl Pörnbacher. Bd. 4. München 1963, S. 257. 35 Gottfried Keller an Paul Heyse, 7.9.1884. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hg. v. Carl

Helbling. Bern 1952. Bd. 3.1, S. 106-109, hier S. 108.

36 Die mediale Vermittlung über Zeitschriften, Taschenbücher, Almanache etc. gehört seit Beginn der

deutschsprachigen Gattungsgeschichte zu den Rezeptionsbedingungen der Novellenform: Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erschienen ebenso in einer Zeitschrift (Schillers Die Horen) wie die meisten Kleist-Erzählungen – so z.B. Das Erdbeben in Chili im Morgenblatt für gebildete Stände (1807), Michael Kohlhaas und Die Marquise von O … im Phöbus (1808), Die Verlobung von St. Domingo in den Berliner Abendblättern (1810). Entsprechend hat schon Paul Heyse – mit kritischem Unterton – im »Aufblühen des Journalismus« die Hauptursache für die Dominanz der Prosadichtung im 19. Jahrhundert gesehen: »denn die von Jahr zu Jahr wachsende Menge der Tages- und Wochenblätter begünstigte in früher ungeahntem Maße die Prosaformen der Dichtung und machte durch den breiten Spielraum, den sie in ihren Spalten dem Roman und der Novelle öffnete, zugleich mit der Lockung rasch zu gewinnender Popularität selbst Talente sich dienstbar, die in der klassischen Periode unzweifelhaft höheren Formen sich zugewandt hätten.« (Einleitung in: Deutscher Novellenschatz. Hg. v. Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München o.J. [1871], S. V- XXIV, hier S. X f.). – Diesen medienästhetischen Aspekt der Novellengeschichte hat Reinhart Meyer am radikalsten betont mit dem Verweis auf die rezeptions- und zum Teil auch produktionssteuernde Qualität von Gesamtprofil einer Zeitschrift, Druckformat, Bildbeigaben, Brechungen für die Fortsetzungen, Zierleisten usw.; dass er die Buchdrucke von ursprünglich in Zeitschriften und Journalen erschienenen Texten als »unautorisierte Neufassungen« bezeichnet, scheint allerdings übertrieben, vgl. Reinhart Meyer: Novelle und Journal. Erster Band. Titel und Normen. Untersuchungen zur Terminolo-

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Verhältnisse – ob in Frankreich, Italien oder den Vereinigten Staaten – bestätigt sich »le rôle central de la presse«37 bei der Distribution von Novellentexten. Unter den veränderten Lesebedingungen im 20. Jahrhundert ist es dagegen mit zunehmender Ausschließlichkeit der Roman, der die Unterhaltungsliteratur dominiert. Die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ wirkt in keinem Fall mehr ›modisch‹, sondern im Gegenteil eher elitär; schon von daher hat sich die Stellung der Gattung im literarischen System gegenüber dem 19. Jahrhundert vollständig gewandelt. Als überwiegend von bürgerlich-konservativen Autoren geprägte, sehr traditionsbehaftete Literaturgattung hatte die Novelle nach 1945 auch auf dem Gebiet ›anspruchsvoller‹ Literatur ein besonderes Profil, so dass die explizite Verwendung des Gattungsnamens durch den Autor immer auch die (affirmative oder kritische) Auseinandersetzung mit bestimmten Erwartungen bedeutet oder, anders gesagt, ein ganzes Netz intertextueller Bezüge auf Produktions- wie Rezeptionsebene aktualisiert. Mit dem Stichwort ›Intertextualität‹ ist ein wesentliches methodisches Paradigma genannt, das der gattungsgeschichtlichen Untersuchung zugrunde gelegt wird.38 gie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen. Stuttgart 1987, hier S. 8; vgl. darüber hinaus auch Fritz Hackert: Die Novelle, die Presse, Der Schimmelreiter. In: Weimarer Beiträge 41 (1995), S. 89-103, sowie Eva D. Becker: Literaturverbreitung. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. Hg. v. Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München, Wien 1996 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6), S. 108-143. 37 Goyet: La nouvelle, S. 92. 38 Wenn im Folgenden von ›Intertextualität‹ die Rede ist, ist damit nicht das ursprüngliche, von Julia Kristeva aus ihrer radikalisierenden Interpretation von Bachtins Dialogizitätsbegriff entwickelte Konzept gemeint, das einen entgrenzten, alle Sinnsysteme und kulturellen Codes umfassenden Textbegriff zugrunde legt, eine referentielle Beziehung zwischen Text und textexterner Welt negiert und die Auffassung vertritt, das ›Universum der Texte‹ regle sich selbst in Form des ständig in Transformation begriffenen, dem Einfluss des (Autor-)Subjekts entzogenen intertextuellen Prozesses (vgl. Julia Kristeva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. In: Critique [1967], H. 239, S. 48465; dt. in: Literaturwissenschaft und Linguistik: Ergebnisse und Perspektiven. Hg. v. Jens Ihwe. Frankfurt/M. 1972. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II, S. 345-375). Vor allem seit den achtziger Jahren wurden in Abgrenzung zu diesem poststrukturalistischen Intertextualitätsverständnis verschiedene hermeneutisch-strukturalistische Konzepte entwickelt, die auf dem Minimalkonsens beruhen, dass ›Intertextualität‹ das bezeichne, »was sich zwischen Texten abspielt, d.h. den Bezug von Texten auf andere Texte« (Ulrich Broich/ Manfred Pfister: Vorwort. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. IX-XII, hier S. IX). Dabei ist es, vor allem unter Berücksichtigung historisch orientierter, kontextbezogener und rezeptionsästhetischer Ansätze, weitgehend gelungen, die Intertextualitätstheorie »produktiv in eine Texthermeneutik zu integrieren« (Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek 2007, S. 146). Die Forschung hat verschiedene terminologische Vorschläge gemacht, um die poststrukturalistische Fassung des Intertextualitätsbegriffs von seinen neo-strukturalistischen Revisionen zu unterscheiden; so differenziert Renate Lachmann zwischen einem ›texttheoretischen‹ und einem ›textdeskriptiven‹ Forschungszweig (Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990, S. 56f.), Peter V. Zima zwischen ›externer‹ und ›interner‹ Intertextualität (vgl. Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne. In: Literatur als Text der Kultur. Hg. v. Moritz Csáky und Richard Reichensperger. Wien 1999, S. 41-54), Henning Tegtmeyer zwischen ›globalen‹ und ›lokalen‹ Konzeptionen (Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis’. In: Textbeziehun-

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Intertextualität gehört zu den »konstitutiven Merkmalen« jeder Gattung: »Gattungen bestehen aus Texten, die ihren Zusammenhang als Reihe oder Gruppe dadurch erhalten, daß sie aufeinander bezogen sind, und die ihre Bezogenheit auf andere Texte in der Regel durch deutliche, von jedem Rezipienten zu lesende Signale und Markierungen zum Ausdruck bringen.«39 Die ausdifferenzierten Intertextualitätskonzepte von Gérard Genette, Peter Stocker oder Susanne Holthuis werden der Bedeutung texttypologischer Intertextualität gerecht40 – und knüpfen bewusst an rezeptionsästhetische Prämissen an, wenn etwa die kommunikative Funktion von Gattungsbegriffen betont wird: »Das Wissen um die Gattungszugehörigkeit eines Textes lenkt und bestimmt, wie man weiß, in hohem Maß den ›Erwartungshorizont‹ des Lesers und damit die Rezeption des Werkes.«41 Besonders wenn ein literarisches Werk »vorgegebene Gattungsmuster nicht einfach fortschreibt, sondern sie variiert, durchbricht, bewußt macht oder thematisiert«42, kommt der ›Dialog der Texte‹ zustande, der den gattungsgeschichtlichen Prozess konstituiert. Dabei ist ›Intertextualität‹ gerade im Hinblick auf die Gattungsforschung weniger als neue Methode zu verstehen denn als theoretisches Vorverständnis, als Paradigma, in dessen Rahmen sich traditionelle Gegenstände und Aufgaben der Literaturwissenschaft integrativ zusammenfassen lassen. Zweifellos schärft intertextuell orientierte Gattungsforschung den Blick für die vielfältigen, für Entwicklung und Geschichte einer Gattung konstitutiven Möglichkeiten intertextueller Beziehungen; als Ausgangspunkt setzt sie jedoch die traditionellen Gattungskategorien voraus, die auf der Ermittlung von invarianten oder zumindest relativ konstanten Merkmalen beruhen,

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gen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Hg. v. Josef Klein und Ulla Fix. Tübingen 1997, S. 49-81, hier S. 50). Die Verwendung des Intertextualitätsbegriffs im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist prinzipiell auf textdeskriptive, interne, lokale Fassungen des Paradigmas bezogen. Vgl. Ulrich Suerbaum: Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 58-77, hier S. 58f. – Trotzdem zählten Gattungsfragen lange Zeit nicht zu den bevorzugten Gegenständen intertextueller Untersuchungen, vielleicht weil sie eine ›mittlere‹ Abstraktionsebene markieren, die weder die Globalisten in der Kristeva-Nachfolge (mit ihrem Blick auf die Gesamtheit des Textuniversums) noch die Vertreter lokaler Konzepte (die meist die Einzeltextreferenz privilegieren) besonders interessiert (vgl. ebd., S. 59). Bemerkenswerterweise möchte ausgerechnet der Gattungsspezialist Hempfer den Begriff ›Intertextualität‹ auf Relationen zwischen Einzeltexten beschränkt wissen. Vgl. Interpretationen. Das Paradigma der deutschen RenaissanceLiteratur. Hg. v. Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn. Wiesbaden 1983, S. 15. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Frz. v. Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M 1993 (Titel der frz. Ausgabe: Palimpseste. La littérature au second degré. Paris 1982); Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn, München, Wien u.a. 1998; Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993 (Stauffenburg Colloquium, 28) sowie in sinnvoller Ergänzung Andreas Böhn: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie. Berlin 2002 (= Philologische Studien und Quellen, Heft 170). Genette: Palimpseste, S. 14. Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Hg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister, S. 52-58, hier S. 56.

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die es überhaupt erst erlaubt, eine Gruppe von Texten unter einem Gattungsbegriff zu subsumieren.43 Dass deduktives und induktives Vorgehen bei der Gattungsbestimmung nicht isoliert voneinander stattfinden, sondern ähnlich wie Teil und Ganzes im hermeneutischen Zirkel aufeinander bezogen bleiben, zählt längst zum Konsens der Forschung: Jede Gattungsbetrachtung hat ein deduktives Element, indem die Auswahl der zu betrachtenden Texte notwendigerweise durch ein begriffliches Vorverständnis gesteuert wird, das vorläufige Konzept aber auf induktivem Weg an der historischen Textwirklichkeit gemessen und gegebenenfalls modifiziert werden muss.44 Die vom Autor vorgenommene Gattungsbezeichnung als Kriterium zu wählen, verlagert diesen Prozess nur scheinbar von der Rezeptions- auf die Produktionsebene, führt aber letztlich zur doppelten Reflexion des Gattungsbegriffs, indem sowohl der Autor als auch der Theoretiker den Allgemeinbegriff an bisherige Gattungsbeiträge und Definitionen rückbinden, aber auch auf den vorgelegten Text beziehen. Auf beiden Ebenen ist der deduktive Beginn kein »divinatorisches Erfassen des Gattungshaften«45, wie noch Karl Viëtor meinte, sondern stützt sich, da Gattungsbestimmungen in der Regel eine lange Tradition haben, auf die bisher vorgenommenen Gruppierungsversuche.46 Die früheren Klassifizierungen und ihre Begründungen bilden ebenso wie die Texte selbst Bezugspunkte für ein historisch sensibilisiertes Gattungsverständnis. Dabei kann der Intertextualitätsbegriff auch helfen, den mit der Frage von Deduktion und Induktion verwandten Dualismus zwischen normativer und historischer Gattungsbetrachtung entschieden zu entschärfen, wo das noch notwendig erscheint angesichts der Tatsache, dass die aktuelle Forschungsdiskussion fast ausnahmslos

43 Nach Abschluss der vorliegenden Ausführungen erschien die Arbeit von Germán Garrido

Miñambres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie. Würzburg 2009. Garrido Miñambres schreibt der Novelle insofern einen gattungstheoretischen Sonderstatus zu, als es in ihrem Fall inadäquat sei, von einer exemplifikatorischen Beziehung zwischen Einzelwerk und Gattungsbegriff auszugehen: In Gattungen wie ›Kunstmärchen‹ oder ›Anekdote‹ seien die jeweiligen Gattungsbeiträge »durch genealogische Beziehungen miteinander verbunden, die durch gemeinsame Textelemente nachgewiesen sind. Bei der Novelle hingegen liegen die intertextuellen Beziehungen in der Analogie zu einem Idealtyp, der nie seine volle Umsetzung erfährt. Daher braucht ein Text, um als Novelle bezeichnet zu werden, nicht eine Reihe konkreter Merkmale vorzuweisen; es genügt, dass ihn der Rezeptionskontext im Wirkungsbereich dieses Typs wahrnimmt. Deshalb sind die Elemente, welche die Gattungsidentität formen, nicht in der Gesamtheit der als Novellen bezeichneten Texte zu ermitteln, sondern im Leserhorizont, der den Gattungstyp geformt hat« (S. 166). Die entsprechende Aufwertung der ›lektorialen‹ gegenüber der ›auktorialen‹ Gattungshaftigkeit ist interessant, aber (abgesehen von methodologischen und praktischen Problemen bei der Fixierung des ›Rezeptionskontexts‹) weitgehend auch im Rahmen der bisherigen (intertextuellen, rezeptionsästhetischen) Gattungskonzepte zu leisten. Dahingestellt sei, ob der behauptete Sonderstatus der Novelle zutreffend ist oder ob das skizzierte Phänomen nicht doch eher ein allgemeines gattungstheoretisches Problem darstellt. 44 Vgl. Müller-Dyes: Gattungsfragen, S. 326. 45 Karl Viëtor: Die Geschichte literarischer Gattungen. In: Ders.: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 292-309, hier S. 308. 46 Vgl. auch Hempfer: Gattungstheorie, S. 135.

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eine »empirische, historisch differenzierende Betrachtung der Erzählformen«47 favorisiert, während sie dem Bemühen um überzeitliche Idealtypen eine entschiedene Absage erteilt. Innerhalb dieses dualistischen Denkschemas allerdings ist der Widerspruch nicht restlos aufzuheben. Karl Konrad Polheim – selbst konsequenter Fürsprecher einer Historisierung der Novellentheorie – hat seinen bis heute lesenswerten Forschungsbericht anhand der Unterscheidung von normativen und historischen Ansätzen strukturiert, zugleich aber darauf hingewiesen, dass der theoretischen Unvereinbarkeit dieser Modelle in der Praxis oft »Einflüsse und Vermischungen«48 gegenüberstünden. Das lässt sich anhand der älteren Forschung mühelos belegen. So hat etwa ein derart normativ denkender (und wissenschaftsgeschichtlich wie ideologisch hochproblematischer49) Novellentheoretiker wie Hermann Pongs durchaus versucht, seine Vorstellung einer »Grundform der Novelle« mit der Idee geschichtlicher Veränderung zu verbinden – etwa in Gestalt der folgenden, von Goethe und Oskar Jellinek inspirierten organologischen Metapher: Die so leidenschaftlich angezweifelte »Urform« der Novelle ist nicht als ein starres Schema anzusehen, das man […] in eine technische Schablone hineinzwingen könnte, sondern im Sinn der Goetheschen Urpflanze, die eine ungezählte Vielfalt der Formen hervorbringt und doch Goethes Wort rechtfertigt: alles ist Blatt. Keine Novelle, in der kaum übersehbaren Fülle durch Räume und Zeiten, ist der andern gleich. Jedes Volk, jede Zeit bringt ein anderes Novellenklima hervor. Und doch geht es immer um eins: daß der Blitz einer Schicksalsbegegnung in den Baum des Lebens fährt […].50

Auf der anderen Seite sind auch strikt historisch verfahrende Untersuchungen kaum je so radikal wie die romanistische, ausdrücklich und »in polemischer Absicht«51 gegen die ›deutschen Dogmatiker‹ gerichtete Arbeit von Walter Pabst, die in der Aussage kulminiert: »[…] es gibt weder die ›romanische Urform‹ der Novelle noch ›die Novelle‹ überhaupt. Es gibt nur Novellen.«52 Denn in den meisten Fällen kommt zumindest die ältere historisch orientierte Novellenforschung nicht ohne eine »normative Hilfskonstruktion«53 aus oder versucht, die beiden gegensätzlichen Aspekte doch wieder zusammenzwingen, wie es etwa Benno von Wieses Überschrift »Wesen und Geschichte der deutschen Novelle seit Goethe«54 dokumentiert. Hier kann ein lokal definierter Intertextualitätsbegriff ansetzen; den gattungsgeschichtlichen Prozess als intertextuell bestimmtes Phänomen zu verstehen, verhin47 48 49 50 51 52 53 54

Hoffmeister: Die deutsche Novelle und die amerikanische »Tale«, S. 32. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 8. Vgl. dazu das entsprechende Kapitel dieser Arbeit. Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 36. – Oskar Jellineks Bild: »Ein Blitz fährt in den Stamm: Novelle« zitiert Nino Erné: Kunst der Novelle. Wiesbaden 21961, S. 16. Garrido Miñambres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie, S. 41. Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen. Hamburg 1953, S. 245. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 9. Benno von Wiese: Einleitung: Wesen und Geschichte der deutschen Novelle seit Goethe. In: Ders. (Hg): Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf 1956, S. 1133.

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dert die Auflösung des Gattungshaften in voneinander unabhängige historische Erscheinungsformen, ohne die Gemeinsamkeiten auf eine immer wieder durchscheinende ›Urform‹ zurückführen zu wollen. Der Prozess der Gattungsentwicklung sollte nicht, wie es das organologische Bild der vielfältig verzweigten Pflanze suggerieren will, von einer angeblichen gemeinsamen Wurzel her betrachtet werden; stattdessen sollten die jeweils neuesten Gattungsbeiträge den Ausgangspunkt bilden, damit in einem eher konstruktiv-technischen Sinn geklärt werden kann, in welchem Ausmaß, mit welcher Absichtlichkeit und mit welchen Intentionen sich diese aktuellen Texte zurückbeziehen auf die Tradition. Boccaccios Decamerone liefert keine ›Urform‹ der Novelle, sondern fungiert als eine Reihe von Prätexten, die über Jahrhunderte hinweg zum Gegenstand intertextueller Bezugnahme wird. Die Gründe dafür, warum es gerade Boccaccios Erzählzyklus ist, der besonders häufig als Prätext funktionalisiert wird, sind vielfältig, liegen zum entscheidenden Teil in der häufig bestätigten ästhetischen Qualität und innovativen Kraft der Gesamtkonzeption – aber nicht in einem ontologischen Privileg, das das Decamerone zu einer wie auch immer zu verstehenden ›Urform‹ erhöhen könnte. Stattdessen bildet sich um häufig hervorgehobene Texte ein immer dichter geknüpftes Netz von Bezugnahmen, die ihrerseits Ausgangspunkt weiterer Betrachtungen werden können. Letzteres ist etwa an einem besonders exponierten Beispiel wie der ›Falkennovelle‹ zu beobachten, deren Erwähnung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur den ursprünglichen Text Boccaccios, sondern auch Heyses ›Falkentheorie‹ evoziert. Eine rezeptionsästhetisch und intertextuell orientierte Untersuchung zur deutschen Novelle nach 1945 sieht sich also mit einem vielfältigen und komplexen Bezugssystem konfrontiert, zu dessen Kernpunkten ältere Novellentexte, aber auch und vor allem die ›klassisch‹ gewordenen Novellentheorien gehören, die sich auf das Gattungsbewusstsein moderner Autoren (und Leser) bis heute prägend auswirken. Suchte man eine metaphorische Beschreibung für dieses Gattungsverständnis, so böte sich in bewusster Absetzung von dem in älteren Theorien bevorzugten organologischen Bild der Pflanze oder des Baumes die Vorstellung vom Netz an, das mal enger, mal lockerer geknüpft wird, dessen Knoten immer neue Bezugspunkte markieren, aber nicht auf eine allen gemeinsame Mitte verweisen. Dieses Bild setzt sich zugleich bewusst von der negativen Konnotation ab, die in älteren Literaturkonzeptionen dem technischen Bereich, der Vorstellung des Konstruierens, des ›Machens‹ zugunsten des vorgeblich Wesenhaften, Gewachsenen, Organischen anhaftet. Wichtige ›Knoten‹ des novellistischen Gattungsbewusstseins bilden die novellentheoretischen Schlagworte, die seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurden. Da die Novelle, ähnlich wie der Roman, eine relativ junge literarische Gattung ist, die weder auf antike Muster zurückblicken kann, noch in den normativen Poetiken eines Scaliger, Boileau, Opitz oder Gottsched Beachtung fand, kommt diesen Schlagworten eine herausgehobene Bedeutung zu, die ihre ausführliche Analyse und Kontextualisierung trotz oder wegen ihrer umfangreichen Berücksichtigung in der älteren Forschung notwendig erscheinen lässt.

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2. Der »Grund- und Fachwortschatz der Novellenlehre«55 Die typischen Schlagworte der Novellentheorie leiten sich zum einen aus ›klassisch‹ gewordenen Gattungsbeispielen wie vor allem Boccaccios oft als »Archetypus«56 der Novellenliteratur verstandenem Decamerone, zum anderen aus relativ wenigen Äußerungen kanonisierter Autoren des 19. Jahrhunderts ab; schon Karl Konrad Polheim hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um »immer wieder dieselben Äußerungen derselben Dichter«57 handele, mit denen die Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten – und man darf ergänzen: bis heute – operiere. Dass Polheim allerdings eine Gemeinsamkeit der so oft zitierten Positionen Goethes, Tiecks, Heyses oder Storms darin zu erkennen glaubt, dass sie – als »hingeworfene Sätze, flüchtige Bemerkungen, andeutende Skizzen«58 – mit einer gewissen Beiläufigkeit formuliert seien, verfehlt die entscheidende Analogie zwischen den angesprochenen Texten: Der täuschende Eindruck des Beiläufig-Skizzenhaften entsteht daraus, dass jede dieser Äußerungen den direkten Kontakt zum Rezipienten sucht, sich nicht als theoretisch-abstrakten Beitrag zur Poetik versteht, sondern unmittelbar rezeptionslenkend wirken will und sich deshalb um äußerste Kürze bemüht. Tieck, Heyse und Storm haben ihre Vorstellungen vom ›Wendepunkt‹, vom ›Falken‹ und von der dramatischen Qualität der Novelle in Einleitungen zu konkreten Texten und Textsammlungen entwickelt59; und Goethes Bemerkung über die ›unerhörte Begebenheit‹ fiel sogar in einer Art Werkstattgespräch, war zunächst an den realen Leser Eckermann gerichtet, um über diesen dann weitere und künftige Rezipienten zu 55 Hugo Aust: Novelle, S. 7. – Mit deutlich negativerer Konnotation lässt sich der Sachverhalt auch als

56

57 58 59

»Amalgam aus Topoi und Stereotypen« bezeichnen (Garrido Miñambres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie, S. 18). Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 6. – Schlaffer reduziert die Geschichte der Novelle auf »die Geschichte von Boccaccios Nachleben« (S. 7) und neigt dazu, den Einfluss Boccaccios auf die Gattungsentwicklung zu übertreiben; gerade die deutschsprachige Novelle hat jedoch schon im frühen 19. Jahrhundert eine eigene, kaum an Boccaccio anschließende Entwicklung genommen. Wenn sich Schlaffer zum Ziel setzt, »alte Strukturen und Motive auch in solchen Fällen noch ausfindig zu machen, die die Verbindlichkeit des Modells gerade dadurch beweisen, daß es kaum mehr wiederzuerkennen ist« (S. 205), bringt sie implizit selbst zum Ausdruck, was man gegen ihre Argumentation einwenden kann. Zur Kritik Schlaffers vgl. u.a. Freund: Novelle, S. 29, sowie die ausführlichen und skeptischen Besprechungen von Hugo Aust in: Arbitrium 13 (1995), S. 135-139, und Norbert Gabriel in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 27 (1995), H. 1, S. 127-132. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 51. Ebd., S. 54. Vgl. Ludwig Tieck: Vorbericht zur dritten Lieferung. In: Ders.: Schriften. Bd. 11. Berlin 1829, S. VII-XC (zur Novelle S. LXXXIV-XC); Paul Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hg. v. Paul Heyse und Hermann Kurz. München o.J. [1871], S. V-XXIV; Theodor Storm: (1881). In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4. Frankfurt/M. 1988, S. 408-410, hier S. 409. – Heyse geht es zwar nicht wie Tieck und Storm um die Rechtfertigung eigener Texte, sehr wohl aber um die Legitimierung der Auswahlkriterien, nach denen der Deutsche Novellenschatz zusammengestellt ist und auf deren induktive Vermittlung er offensichtlich nicht vertrauen möchte.

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erreichen.60 Die Intention der direkten Leseransprache ist jeweils entscheidend. Gerade die Metatextsorte ›Einleitung‹ zeichnet sich durch eine bewusst kommunikative Zielsetzung aus: Der Leser soll unmittelbar angesprochen, seine Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt werden, die dem Autor wichtig sind, die er als gestaltende Vorgaben der Kommunikationssituation verstanden wissen will. Bezogen auf den Gattungsbegriff ›Novelle‹ heißt das zugleich: Die Autoren verlassen sich nicht darauf, dass bestimmte Eigenschaften dieser Textsorte vom Leser induktiv erfasst würden, sondern wollen die Vermittlung dieser Merkmale durch begriffliche Vorgaben, durch Deduktion sicherstellen – und zwar als Mitvoraussetzung des literarischen Kommunikationsprozesses, indem die entsprechenden Appelle eben in Form von Einleitungen formuliert werden statt retrospektiv als Nachwort. Von ihrer ersten Verwendung an haben die wichtigsten Schlagworte der Novellentheorie eine bewusst kalkulierte kommunikative Funktion, die durch die intensive Ausdifferenzierung der entsprechenden Termini in der literaturwissenschaftlichen Forschung entscheidend verstärkt wurde: Allein durch Wiederholung und (begrenzte) Standardisierung entstand ein Begriffsrepertoire, das längst vor und erst recht nach 1945 die Gattungsvorstellungen von Autoren und Lesern derart stark geprägt hat, dass der Gattungsbegriff ›Novelle‹ über eine bestimmte Terminologie kommuniziert werden kann – ohne dass es für das Funktionieren dieser Kommunikation eine Rolle spielt, ob Merkmale wie ›Falke‹ oder ›Wendepunkt‹ tatsächlich geeignet sind, das Spezifische der Gattung oder gar ihr ›Wesen‹ zu erfassen. Umgekehrt ist zu sagen, dass die explizite Verwendung des Begriffs ›Novelle‹ in der Gegenwart kaum mehr denkbar ist, ohne dass Autor und Leser bestimmte Begrifflichkeiten assoziieren, die im Verlauf der letzten hundert Jahre Literatur- und Wissenschaftsgeschichte unlösbar mit dem Terminus verbunden wurden. In einer anwenderbezogenen Perspektive setzt der novellentheoretische Grundwortschatz dabei keineswegs voraus, dass ein Einzeltext jeweils alle im Laufe der Entwicklung als charakteristisch empfundenen Merkmale aufweist; ein Text kann das eine oder andere Merkmal entbehren und trotzdem vom Autor oder vom Interpreten (oder von beiden) als ›Novelle‹ betrachtet werden, wie es auch den Fall gibt (oder geben könnte), dass »zwei Texte kein ›Novellen-Merkmal‹ miteinander teilen, aber gleichwohl beide ›Novelle‹ heißen«61 – hier ist an die Vorstellung von ›Novelle‹ als ›Familienähnlichkeitsbegriff‹ zu erinnern. Hinzu kommt, dass die populärsten Konstituenten des novellentheoretischen Grundwortschatzes für semantische Veränderungen ausgesprochen zugänglich sind: Schlagworte wie ›unerhörte Begebenheit‹, ›Wendepunkt‹ oder ›Falke‹ zeichnen sich durch eine produktive Offenheit und hermeneutische Beweglichkeit aus, die es Autoren wie Interpreten erlauben, begriffliche 60 Dass Eckermann seine Gesprächsnotizen früher oder später zu einem Buch verarbeiten würde, war

dem alten Goethe durchaus bewusst und keineswegs unerwünscht; möglicherweise hat er die systematische Niederschrift sogar angeregt. Vgl. Heinz Schlaffer: Einführung. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. H. S. München 1986 (= MA, 19), S. 701-729, bes. S. 714f. 61 Strube: Sprachanalytisch-philosophische Typologie, S. 44.

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Kontinuitäten zu wahren, ohne auf inhaltliche Akzentverschiebungen zu verzichten. Mit anderen Worten: Der novellentheoretische Grundwortschatz bewährt sich – und das ist eine Erklärung für seine erstaunliche Konstanz – auch dort noch als Begriffsgerüst, wo die interpretatorische Füllung durch Autoren und Interpreten deutliche Unterschiede zum früheren Verständnis aufweist, mit dem gleichen Terminus andere und neue Inhalte verbunden werden oder der gleiche Terminus zur Bezeichnung unterschiedlicher Eigenschaften des Einzeltextes herangezogen wird. Mit systemtheoretischem Einschlag formuliert, wird die Performativität des Systems ›Novellentheorie‹ durch die relative Vagheit der einzelnen begrifflichen Bestandteile nicht vermindert, sondern sogar gesteigert – was allerdings umso stärker dazu verpflichtet, das Bedeutungsspektrum der novellentheoretischen Schlagworte zu reflektieren.

2.1. Die »unerhörte Begebenheit« Den wirkungsmächtigsten Topos der deutschen Novellendiskussion bildet Goethes erst 1836 durch Eckermann publizierte (und möglicherweise von diesem mitgeprägte) Ansicht: »was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit«.62 Im ursprünglichen Kontext auf ein individuelles Werk bezogen – nämlich Goethes eigenen, späten Erzähltext, der dann den Titel Novelle erhielt – hat sich die Gesprächsäußerung rasch verselbständigt; sie gewann Definitionsqualität für eine ganze, höchst vielfältige Gattung, wurde in den Rang einer kanonischen Wahrheit erhoben. Sich als der »Gesetzgeber unserer Dichtung«63 zu gebärden, zu dem er später stilisiert wurde, dürfte Goethe in der Gesprächssituation mit Eckermann fern gelegen haben; allerdings steht die Kurzdefinition nicht nur in Analogie zu älteren, das Novellentypische akzentuierenden Formulierungen wie dem »fortunato avvenimento« des Boccaccio, dem »cas étrange« der Marguerite de Navarre und vor allem dem »caso portentoso y jamás visto« des Cervantes64, sondern ist auch in früheren Werken Goethes vorbereitet. Als Vermittlung mit der romanischen Tradition, aber auch als Teil einer um 1800 einsetzenden »Neubegründung novellistischen Schreibens«65 erweisen sich Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in denen der gelehrte Abbé bekennt:

62 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. Heinz

Schlaffer. München 1986 (= MA, 19), S. 203 (Gesprächsäußerung vom 29. Januar 1827).

63 Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Vierte, verbes-

serte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 1960 (11954), S. 61. 64 Vgl. Wilhelm Pötters: Begriff und Struktur der Novelle. Linguistische Betrachtungen zu Boccaccios

»Falken«. Tübingen 1991, S. 39f.

65 Gerhard Neumann: Die Anfänge deutscher Novellistik – Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre –

Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Unser Commercium – Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 433460, hier S. 433.

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Ich habe selten bei einer Lektüre [...] einen Zirkel so aufmerksam und die Seelenkräfte so tätig gesehen, als wenn irgend etwas Neues und zwar eben etwas das einen Mitbürger oder eine Mitbürgerin heruntersetzt, vorgetragen wurde. Fragen Sie sich selbst und fragen Sie viele andere, was gibt einer Begebenheit den Reiz? nicht ihre Wichtigkeit, [...] sondern die Neuheit.66

Der Begriff der ›Begebenheit‹ zeigt, wie Goethes berühmte Gesprächsäußerung nicht nur auf das Spätwerk Novelle, sondern auch auf die dreißig Jahre älteren Unterhaltungen rekurriert. Auch der Aspekt der ›Neuheit‹, schon in der Gattungsbezeichnung selbst enthalten und im obigen Zitat im Wesentlichen auf Tagesgespräch und Stadtklatsch bezogen, ist in der Folgezeit immer wieder zur Charakterisierung der Novelle herangezogen worden: »In der direkten oder indirekten Behauptung der Neuartigkeit des Vorgetragenen (oder des Vortrags) hat die ›Novelle‹ ihr zentrales Strukturierungsprinzip, von dem her und auf das hin ihre Gattungsmerkmale funktionalisiert sind«.67 Letztlich kann die Wandlungsfähigkeit und Vielfalt der gesamten Novellengattung an das Beharren auf ›Neuheit‹ zurückgebunden werden: »Insofern sie nämlich nominell sagt, wofür sie einsteht: eine Neuigkeit zu sein und sie durch Gehalt und Gestalt einzulösen, erhebt sie die Devianz gewissermaßen zum Programm«68; eine ›Novelle‹, die ihren Namen verdient, wäre damit schon per definitionem immer zugleich Fortsetzung einer historischen Tradition und ›neuartiger‹ Sonderfall. Aber zurück zu Goethes Definition: Auch die Rückbindung an Goethes eigenes Novellenwerk69 kann nicht verdecken, dass die scheinbare, durch die Einbettung in eine rhetorische Frage (»was ist eine Novelle anders …«) noch betonte Prägnanz der späten Gattungscharakterisierung mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Fast vorwurfsvoll hat Oskar Walzel schon 1915, am Beginn der literaturwissenschaftlichen Diskussion, einige Unklarheiten moniert: Was sollen […] die zweideutigen Worte: eine Novelle ist eine sich ereignete unerhörte Begebenheit? Wer die Wendung deuten wollte, ohne dabei Goethes Novelle ins Auge zu fassen, könnte leicht zu dem Ende kommen, jeder aufregende Tagesvorfall, der über das Maß des Gebräuchlichen hinausgehe, sei schon eine Novelle. Meint Goethe, daß die Novelle aus dem wirklichen Leben geschöpft sei, daß sie auf einen tatsächlichen Vorgang zu-

66 Johann Wolfgang Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders.: Wirkungen der

Französischen Revolution. 1791-1797. Hg. v. Reiner Wild. München 1988 (= MA 4.1), S. 436-550, hier S. 452. 67 Jürgen Schwann: Die Gattung »Novelle«. Erschließungsverfahren, Konstituierungskriterien und Möglichkeiten der Didaktisierung. In: Studia theodisca 3 (1996), S. 163-179, hier S. 171. 68 Dieter Heimböckel: Das Unerhörte der Erinnerung des Unerhörten. Zur ästhetischen Produktivität der memoria in der Nach-Wende-Novellistik. In: Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Hg. v. Arne de Winde und Anke Gilleir. Amsterdam, New York 2008 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 64), S. 199-214, hier S. 201. 69 Neben den Unterhaltungen und der späten Novelle wäre hier vor allem die Novelleneinlage Die wunderlichen Nachbarskinder aus den Wahlverwandtschaften zu nennen (MA 9, S. 474-482), die Goethe gleichfalls im Gespräch mit Eckermann erwähnt.

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Einleitung rückgehen müsse? Darf sie nach Goethe nicht auch künstlerische Um- und Neugestaltung einer älteren Erzählung sein? Das alles bleibt offene Frage.70

Andere Literarhistoriker geben sich gemäßigter, wenden sich aber – wie z.B. Arnold Hirsch – gleichfalls gegen ein ›Auspressen‹ der »sehr oft überschätzt[en]«71 Äußerung. Solchen begründbaren Relativierungen steht die Tatsache gegenüber, dass die Charakterisierung als ›unerhörte Begebenheit‹ bis heute die meistzitierte Kennzeichnung der Novelle sein dürfte. Dabei ist die Formel in ihrer Zusammenstellung keine Neuprägung Goethes, sondern scheint schon im Barock gang und gäbe gewesen zu sein; anders wäre es nicht zu erklären, dass etwa in der Wiener Haupt- und Staatsaktion Die Enthauptung des Weltberühmten Wohlredners Ciceronis (1724) das Geschehen mit dem Ausruf »Unerhörte Begebenheit!« kommentiert wird.72 Trotzdem war es erst der Kontext von Goethes Novellendefinition, der diese Formulierung gewissermaßen dynamisierte, zum Ausgangspunkt immer neuer Interpretationen, Erweiterungen, Umakzentuierungen werden ließ. Unterstützt durch die Autorität von Goethes Namen, aber vor allem durch ihre spezifische Mischung von Prägnanz und Unschärfe hat sich diese Kurzdefinition immer wieder ausgewirkt auf die Produktion wie auf die Interpretation von Novellentexten. Von heute her gesehen dürfte schon der eigentümlich fremd gewordene Sprachduktus zur anhaltenden Attraktivität der Formel beitragen: Die veraltete, schon zur Goethezeit seltene Partizipialform, ein Adjektiv, dessen Konnotationen sich stark gewandelt haben und der nach heutigem Sprachempfinden altväterlich-entrückt klingende Begriff der ›Begebenheit‹ markieren eine Differenz zur gegenwärtigen Alltagssprache, aus der metasprachliche, terminologische Qualität erwächst. Anders gesagt: Originalität und Unverwechselbarkeit der Goetheschen Formulierung werden durch den historischen Abstand gesteigert, während die semantische Fremdheit gleichzeitig zu immer neuen Vermittlungs- und Erläuterungsversuchen auffordert.73 Eine der Fragen, die durch Goethes Definition nur scheinbar beantwortet werden, ist die nach dem Realitätsstatus des Erzählten. Mit dem Begriff der ›Begebenheit‹, so zum Beispiel Hugo Aust im Konsens mit der älteren Novellenforschung, sei 70 Oskar Walzel: Die Kunstform der Novelle. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 29 (1915).

Hier zit. n. dem gekürzten Nachdruck in: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973 (= Wege der Forschung, 55), S. 95-113, hier S. 101. – Noch in jüngster Zeit wurde Walzels Beitrag als »Inauguraltext« der wissenschaftlichen Novellentheorie bezeichnet, weil in ihm »die theoretischen Quellen des 19. Jahrhunderts vereint und besprochen werden, die ab nun Allgemeingültigkeit gewinnen« bzw. auf die zumindest immer wieder rekurriert wurde (Garrido Miñambres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie, S. 15). 71 Arnold Hirsch: Der Gattungsbegriff »Novelle«. Berlin 1928 (= Germanische Studien, Heft 64). ND Nendeln/Lichtenstein 1967, S. 40. 72 Die Enthauptung des Weltberühmten Wohlredners Ciceronis. In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen. Eingeleitet und hg. v. Rudolf Payer von Thurn. Bd. 1. ND Nendeln/Liechtenstein 1975, S. 69132, hier S. 129. 73 Von daher greift es in jedem Fall zu kurz, den Begriff der ›unerhörten Begebenheit‹ etwa durch den der ›Ausnahmesituation‹ zu ersetzen, wie es Voss vorgschlagen hat, vgl. Voss: Die Novelle in der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 16.

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der Anspruch auf Realismus verbunden; was sich ›begebe‹, sei fest in der Sphäre der Tatsächlichkeit verankert und korrespondiere damit auch mit dem ursprünglichen Wortsinn von ›Novelle‹, der ›kleinen Neuigkeit‹ aus dem wirklichen Leben.74 Kleist beispielsweise unterstreicht den Authentizitätsanspruch dessen, was in der Marquise von O… geschildert wird, durch den paratextuellen Zusatz »nach einer wahren Begebenheit […]«.75 Realitätshaltigkeit und Authentizität verband auch Michel Foucault mit dem Gattungsbegriff, als er den Plan ins Auge fasste, ›Das Leben der infamen Menschen‹, wie es in den Archiven des Hôpital général und der Bastille dokumentiert ist, als ›Novellen‹ zu veröffentlichen: Der Ausdruck »Novelle« dürfte meines Erachtens als Bezeichnung gut passen aufgrund des darin angezeigten Doppelbezugs: auf die Schnelligkeit der Erzählung und auf die Wirklichkeit der berichteten Ereignisse; denn das Gesagte ist in diesen Texten so sehr zusammengedrängt, dass man nicht weiß, ob die Intensität, die sich durch sie hindurchzieht mehr am Eklat der Wörter oder an der Gewaltsamkeit der Taten hängt, die sich in ihnen drängeln. Einzigartige Leben, die, ich weiß nicht durch welche Zufälle, zu sonderbaren Dichtungen geworden sind, und genau das habe ich in einer Art Herbarium zusammentragen wollen.76

Lange vor Foucault hatte, um in den deutschen Sprachraum zurückzukehren, schon der junge Sigmund Freud festgestellt, dass seine »Krankengeschichten […] wie Novellen zu lesen«77 seien; Freud umreißt mit dieser Äußerung nicht nur das prekäre Verhältnis der Psychoanalyse zu Fiktion und Wirklichkeit78, sondern unterstreicht auch die besondere ›Realitätsnähe‹ dessen, was er als passionierter Leser und literarisch ambitionierter Wissenschaftler unter einer ›Novelle‹ verstand. Goethes Epitheton ›unerhört‹ im Sinne von ›noch nie vernommen‹ und ›außerordentlich‹ eröffnet jedoch zugleich die Möglichkeit, gerade im Überschreiten des Tatsächlichen das Besondere zu sehen. Schon in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten spielt »das Wunderbare«79 nicht erst im abschließenden Märchen eine Rolle, sondern bereits in den Erzählungen von der Sängerin Antonelli und vom geheimnisvol74 Vgl. Aust: Novelle, S. 9. 75 Vgl. Heinrich von Kleist: Erzählungen/Anekdoten/Gedichte/Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget.

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Frankfurt/M. 1990 (= Sämtliche Werke und Briefe, 3), S. 769. − Dieser Titelzusatz findet sich allerdings nur im Erstdruck in der Zeitschrift Phöbus. Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt/M. 2003, S. 309-332, hier S. 310. Sigmund Freud: Fräulein Elisabeth von R… In: Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Leipzig, Wien 1895, S. 116-160, hier S. 140. Vgl. in diesem Zusammenhang Bettina Rabelhofer: »… und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind …«. Zur Poetik der psychoanalytischen Krankengeschichte. In: Feuilleton – Essay – Aphorismus. Nichtfiktionale Prosa in Österreich. Beiträge eines polnisch-österreichischen Germanistensymposiums. Hg. v. Sigurd Paul Scheichl. Innsbruck 2008 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 71), S. 93-108. Goethe: Unterhaltungen deutsche Ausgewanderten. In: MA 4.1, S. 436-550, hier S. 457.

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len Klopfen.80 Die Realität der Geschehnisse wird zwar beglaubigt, aber nicht rational begründet. Von dahin bis zur Verschränkung von Alltäglichem und Wunderbarem in der romantischen Novellenproduktion ist der Schritt nicht allzu groß, zumal die von den meisten Literaturkonzepten verneinte Frage, ob inneres Geschehen weniger Anspruch auf ›Realität‹ habe als äußeres, ein naives Realismus-Konzept ohnehin unterläuft. Noch Werner Bergengruen hat ausdrückliche »Spuknovellen«81 geschrieben, und unter den modernen Novellisten hat etwa Hartmut Lange mit Das Konzert ein Beispiel dafür geliefert, wie die ›unerhörte Begebenheit‹ auch in einem nur metaphysisch vorstellbaren Ereignis bestehen kann, nämlich dem postmortalen Konzert eines von den Nationalsozialisten ermordeten Pianisten vor einem gleichfalls untoten Publikum. In der erzählten Welt (oder Diegese)82 erhält Realitätsstatus, was der Autor dafür erklärt. Eine zweite Implikation des Begriffs ›Begebenheit‹ ist gleichfalls facettenreich: Als nominalisierte Form dessen, was einem widerfährt, als Erlebnis im passiven Sinn steht ›Begebenheit‹ im Gegensatz zur ›Tat‹, zum aktiven Handeln; dass das Ereignisverb ›sich begeben‹ nicht mit einem persönlichen Subjekt verwendet werden kann, ist als sprachliches Signal für die »Übermacht sich verselbständigender Prozesse«83 zu werten, wie sie in Novellen häufig gestaltet wird. Schon die Novelle des 19. Jahrhunderts bleibt oft nicht bei der »spannungsvollen Darstellung einer bestimmten Krise im Menschenleben«84 stehen, sondern verhandelt radikal »die Schwierigkeiten und Grenzen einer vernunft- und selbstbestimmten Existenzweise«85: Das determinierte Subjekt wird von eskalierenden Geschehnisabläufen überwältigt, denen es nichts entgegenzusetzen hat; die »intrusion of chaos or the irrational into an otherwise stable, rational world«86 kann gesteigert werden bis zum »Verlust der Identität«, »bis zur Auflösung des Selbst«, bis zum »Übergang in den Wahn«.87 Auch diese als typisch erkannte Struktur eines novellistischen Handlungsablaufs ist jedoch offen für unterschiedliche Interpretationen: Wenn die Novelle heute (mit dem pikaresken Roman) zu den spezifisch modernen »Gattungen des kontingenten Einzelfalls«88 gerechnet wird, so hat sich die ältere Forschung vor allem über die 80 Vgl. ebd. 457-469. 81 Vgl. Werner Bergengruen: Spuknovellen. Hg. v. Charlotte Bergengruen. Zürich 1973. 82 Vgl. zu den Begriffen Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 72007,

S. 23f.

83 Freund: Novelle, S. 56. 84 Von Wiese: Novelle, S. 11. 85 Eberhard Ostermann: Zur Darstellung von Identitätsverlust in narrativen Texten. Eine Typologie

am Beispiel der Novelle. In: Wirkendes Wort 52 (2002), S. 81-96, hier S. 82.

86 Weing: The German Novella, S. 160. 87 Ostermann: Zur Darstellung von Identitätsverlust, S. 82. 88 Kontingenz. Hg. v. Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias

Christen. München 1998 (= Poetik und Hermeneutik, XVII), S. XV. – Der Begriff ›kontingent‹ meint im Folgenden »das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können« (ebd., S. XI); in den letzten Jahrzehnten spielt der (auch für Luhmann wichtige) Terminus eine zunehmend zentrale Rolle in der Modernisierungsforschung, vgl. dazu bes. Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz. München 1997.

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Begriffe des ›Symbolischen‹ und des ›Schicksals‹ bemüht, die ›unerhörte Begebenheit‹ ihres kontingenten Charakters zu entkleiden und in sinnstiftende Zusammenhänge zu reintegrieren – das »Muster einer Verlusterfahrung, einer Suchbewegung und einer Behauptung neuer Einbindung«89, wie es für viele Autoren und Intellektuelle in der Großepoche ›Moderne‹ charakteristisch ist, zeigt sich so auch in der germanistischen Wissenschaftsgeschichte besonders der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ist die Situation der ›unerhörten Begebenheit‹ damit unterschiedlich deutbar, so gilt das auch für die Bestimmung des ›Ich‹, dem diese Begebenheit widerfährt. Interpreten mit geringer Kontingenztoleranz wie z.B. Hermann Pongs gehen von einem an sich stabilen Ich aus, dessen Niederlage exogen motiviert ist, da sie aus der »unfaßbaren Übermacht der dämonischen Weltkräfte«90 erwächst; wenn sich das Ich auf eine »unbedingte Wertebehauptung«91 zurückzieht, kann es noch im Tod einen symbolischen Sieg über das Chaos erlangen – sein Untergang erscheint im Licht tragischer Verklärung. Ein Erzählen, das von Psychologisierung und Subjektkritik geprägt ist, sieht das Ich dagegen nicht als feste Größe, sondern als Bündel zentrifugaler Impulse; das Auseinanderbrechen dieses Ich unter äußerem Einfluss ist dann nicht aus den exogenen Faktoren ›dämonischer‹ Übermacht zu erklären, sondern aus den endogenen einer prinzipiellen Labilität der Persönlichkeit. In Thomas Manns Der Tod in Venedig beispielsweise bleibt die passive Rolle der Hauptfigur gegenüber den äußeren Geschehnissen erhalten; doch das überwältigende Ereignis – die Liebe zu Tadzio – gewinnt nur als inneres Erleben Aschenbachs Gestalt, so dass sich das Interesse trotz Aschenbachs passiver Haltung von den exogenen Faktoren zu den endogenen verlagert. Die ›Begebenheit‹ – und damit: nicht was eine Person tut, sondern was ihr widerfährt – in den Mittelpunkt zu stellen, zeitigt unter verschiedenen anthropologischen und literarästhetischen Voraussetzungen diametral entgegengesetzte Folgen: In Boccaccios weitgehend apsychologischer Erzählweise scheint das Gewicht ganz auf den Geschehnissen selbst, nicht auf den Figuren zu liegen92; bei Kleist, zum Beispiel im Michael Kohlhaas – immer wieder als »Modell für individuelle Verstrickungen mit Lawineneffekt«93 angeführt –, eskalieren die Ereignisse bereits aufgrund bestimmter psychischer Dispositionen der Hauptfigur, des ›rechtschaffensten‹ Menschen, dessen (Selbst-)Vernichtung die meiste Aufmerksamkeit beansprucht. Für das späte 19. Jahrhundert konnte Fritz Martini befinden, dass »weniger das unerhörte Ereignis als der psychologisch ungewöhnliche Charakter, seine inneren, seelischen Bewegungen 89 Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20.

Jahrhunderts. Tübingen 2005 (= Hermaea, N.F. 107), S. 295.

90 Hermann Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2. Voruntersuchungen zum Symbol. Marburg 31969

(11939), S. 286. 91 Ebd., S. 291. 92 So eine frühe Beobachtung von André Jolles, vgl. Einleitung zur neuen deutschen Ausgabe des

Dekamerons. In: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Übertragen v. Albert Wesselski. Nachschöpfung der Gedichte v. Theodor Däubler. Leipzig 1921, S. VII-XCVI, hier S. LXXVII. 93 Aust: Novelle, S. 185.

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und Krisen und das Problem seines Geschicks den Novellisten anzogen« und »die Frage nach dem Menschen […] die Beschäftigung mit der auffälligen ›objektiven‹ Begebenheit« überwog.94 Im 20. Jahrhundert schließlich bleibt vom ursprünglichen Handlungsmuster, dem Zerbrechen des Ichs unter dem Einstürmen der ›Begebenheiten‹, oft nur noch der Dissoziationsprozess übrig, während die äußeren Einflüsse an den Rand treten bzw. als einzelne gar keine Relevanz mehr haben: Denn letztlich sind es das allgemeine Missverhältnis in der Welt oder seine eigene Inkonsistenz, an denen das Ich geradezu zwangsläufig scheitert – vor allem in dieser Hinsicht speisen sich etwa die Rönne-Novellen Gottfried Benns wie auch der späte Ptolemäer noch aus der Novellentradition, mit der sie auf den ersten Blick wenig gemein haben.95 Ein dritter, gleichfalls sehr unterschiedlich ausgelegter Aspekt der ›Begebenheit‹ ist ihre implizite Dramatik; ›dramatisch‹ ist hierbei zunächst im allgemeinen Sinn von ›aufregend‹, ›überraschend‹, ›spannend‹ und damit in semantischer Nähe zu Goethes ›unerhört‹ zu verstehen. Herder verwendet in seinem für die Geschichte der Literaturtheorie epochalen Shakespeare-Aufsatz mehrfach den Begriff der ›Begebenheit‹ als Gegenstück zur einfach gebauten »Handlung im griechischen Verstande«; vom »Meere der Begebenheit«, der »Seele der Begebenheit«, der »Weltbegebenheit« ist unter anderem die Rede, wenn die besondere dramatische Qualität von Shakespeares Stücken hervorgehoben wird.96 So dürfte bereits der junge Goethe den Terminus ›Begebenheit‹ in engstem Zusammenhang mit der Vorstellung dramatischer Zuspitzung rezipiert haben. Die Nähe der Novelle zum Drama wurde später vor allem durch die Romantiker betont; Schlegel rechnet Shakespeare zu denjenigen, die die »Novelle poetisiert« hätten und meint, »ohne Novellen zu kennen« seien dessen Stücke »der Form nach« nicht zu verstehen.97 Damit ist die Nähe der Novelle zum Drama eindrucksvoll unterstrichen, auch wenn Schlegel auf eine Konkretisierung seiner These verzichtet. Friedrich Schleiermacher sprach gut zwanzig Jahre später von der »dramatische[n] Spitze« der Novelle, die auf »Abneigung vom Epischen und Hinneigung zum Drama« schließen lasse.98 Bekannter geworden ist Theodor Storms noch spätere Bezeichnung der Novelle als »Schwester des Dramas«.99 Diese zielt allerdings weniger 94 Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart 41981, S. 612. 95 Dass die Ich-Dissoziation und der narzisstisch getönte Rückzug aus der Außenwelt bei Benn auch

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als positive Entwicklung, als Eröffnung poetischer Freiräume, bewertet werden, steht dabei auf einem anderen Blatt. Johann Gottfried Herder: Shakespear. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1993, S. 498-521, hier S. 508-511. – Herder folgt dabei Eschenburgs Übersetzung der von Richard Hurd geprägten Begriffe ›action‹ und ›essential fact‹. Friedrich Schlegel: Literary Notebooks 1797-1801. Hg. v. Hans Eichner. London 1957, S. 121f. (Nr. 1148 und 1154). Friedrich Schleiermacher: Ästhetik. Zit. n. Kunz (Hg.): Theorie der Novelle, S. 56-58, hier S. 57. Storm: , S. 409. – Die weibliche Semantisierung, die Storm durch die Bezeichnung der Novelle als »Schwester des Dramas« vornimmt, geht hier offensichtlich nicht einher mit einer ästhetischen Abwertung, wie sie die in den letzten Jahren intensiv geführte gendergenre-Diskussion für weiblich codierte Gattungen nachgewiesen hat (vgl. dazu Corinna Caduff/Sig-

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auf die dramatische Qualität der Handlung als auf die nach Storms Ansicht in beiden Gattungen unabdingbare Strenge und Geschlossenheit der Form: Die Novelle soll das Erbe der klassizistischen Tragödie antreten, insbesondere auch im Hinblick auf deren durch Hegel festgeschriebene Spitzenstellung in der Gattungshierarchie.100 In jüngerer Zeit hat Wolfgang Rath die strukturellen Analogien zwischen dem pyramidalen Aufbau des traditionellen Dramas (nach den modellhaften Vorstellungen Gustav Freytags) und der Novellenform noch einmal nachdrücklich hervorgehoben und zum Ausgangspunkt seiner gattungsgeschichtlichen Darstellung gemacht.101 Der Wandel des Dramenbegriffs im 20. Jahrhundert beeinflusst selbstverständlich auch die Kennzeichnung der Novelle als ›dramatisch‹: Weder das von Storm implizit zugrunde gelegte Ideal der klassizistischen Tragödie noch das traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Verständnis des Dramas als handlungszentrierter Gattung haben überzeitliche Qualität, und mit der Verschiebung dramaturgischer Paradigmen ergeben sich jeweils neue Möglichkeiten, den ›dramatischen‹ Gehalt der Novelle zu fassen. Attestiert man der neueren Novellistik beispielsweise die zunehmende Konzentration auf eine einzige Figur und eine episodenhafte Struktur, so muss daraus kein Widerspruch zum ›Dramatischen‹ entstehen, wenn die parallele Entwicklung der expressionistischen Ich-Dramatik und Stationentechnik102 als Bezugspunkt gewählt wird. Die qualitative Bestimmung der ›Begebenheit‹ schließlich und damit die Frage nach möglichen oder sogar typischen Inhalten wird von der Novellentheorie wie von der praktischen Produktion denkbar weit gefasst. Wenn Storm 1881 betont, die Novelle eigne sich »zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts«103, so ist das keine Einschränkung, sondern eine ambitionierte Ausweitung des novellistischen Themenkreises; Storm geht es darum, dass die als ›mittlere‹ Gattung mit unterhaltendem Anspruch ohnehin etablierte Novelle »auch« höchsten Ansprüchen und Sujets genügen kann, ohne mit ihrer Tradition zu brechen. Einer thematischen Festlegung jedenfalls hat sich die Novelle stets entzogen, auch wenn bestimmte Themen generell oder in bestimmten Phasen der Gattungsrid Weigel [Hg.]: Das Geschlecht der Künste. Köln, Weimar, Wien 1996). Storm betont eher die Ebenbürtigkeit als die Geschlechtlichkeit; vielleicht spielt auch der von der psychoanalytisch orientierten Storm-Forschung behauptete »Schwesternkomplex« des Autors in die Wahl der Metapher hinein, vgl. dazu Irmgard Roebling: Liebe und Variationen. Zu einer biographischen Konstante in Storms Prosawerk. In: Literaturpsychologische Studien und Analysen. Hg. v. Walter Schönau. Amsterdam 1983 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 17 [1983]), S. 99-130, bes. S. 111ff. 100 Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg besteht eine Kluft zwischen dem hohen Rang, der dem Drama und insbesondere der Tragödie in den poetologischen Schriften z.B. Hegels oder Vischers zugemessen wird, und der tatsächlichen Qualität der dramatischen Produktion. Vgl. Helmut Schanze: Drama im Bürgerlichen Realismus (1850-1890). Theorie und Praxis. Frankfurt/M. 1973 (= Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, 21). 101 Vgl. Rath: Die Novelle, bes. S. 15ff. 102 Vgl. zum Terminus Ich-Dramatik Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt/M. 1963, S. 106-108. 103 Storm: , S. 409.

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entwicklung überdurchschnittlich oft vertreten sind.104 Die erzählte ›Begebenheit‹ kann aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen stammen, so dass Spezifizierungsversuche in der Regel zu kurz greifen: Les variantes de l’inouї sont nombreuses: du simplement nouveau à l’étrange et au mystérieux, de l’invraisemblable au merveilleux et au miraculeux, de l’original à l’extraordinaire et au surnaturel, l’éventail est large. Toute époque, toute philosophie, tout auteur aura sa préférence.105

Nicht einmal das – immerhin im Gattungsnamen ›Novelle‹ enthaltene! – Kriterium der ›Neuheit‹ erweist sich als zwingend, wenn man etwa bedenkt, dass schon Boccaccios Novellen zu einem Großteil auf älteren, teils bis in die Antike zurückreichenden Quellen beruhen.106 Bereits Friedrich Schlegel versuchte diesen Widerspruch zu entschärfen, indem er das Neuigkeitspostulat in allerdings vieldeutiger Weise einschränkte: »Novellen dürfen im Buchstaben alt sein, wenn nur der Geist neu ist«.107 Wie radikal auch der Begriff des ›Unerhörten‹ relativiert werden kann, zeigt Adalbert Stifter in seiner Vorrede zu Bunte Steine; Stifters Umwertung »großer« und »kleiner« Erscheinungen ließe sich auch auf ›unerhörte‹ und ›alltägliche‹ Begebenheiten beziehen. Im gleichmäßigen Wirken des »sanften Gesetzes« wäre damit das ›größere‹ Phänomen zu sehen als im isolierten »Wunder des Augenblikes bei vorgefallenen Thaten«.108 Hannelore Schlaffer sieht Stifters Gattungsbeiträge sogar als bewusst konstruierte Gegen-Form, als ambitionierten Versuch, »die novellistischen Elemente zu gebrauchen, um eine Anti-Novelle zu schaffen«.109 Eine andere Art und Weise, der ›unerhörten Begebenheit‹ das äußerlich Spektakuläre zu nehmen, zeigt im 20. Jahrhundert Robert Musil sowohl in theoretischer Reflexion als auch in literarischen Texten. Zum Teil an die bekannten Topoi der Novellenlehre anknüpfend, verlagert Musil das unerhörte Vorkommnis ganz ins Innenleben der Figuren, fasst es als Bewusstseinszustand: Eine ›gelungene‹ Novelle liegt vor, wenn die völlige Umkehr einer Weltsicht gestaltet wird, mit der ein Individuum auf eine wie auch immer geartete »Erschütterung«, eine »Fügung des Geschicks«110 rea104 Mit Hannelore Schlaffer etwa »das sexuelle Faktum« (Schlaffer: Poetik der Novelle, S. 26) als das

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nahezu einzige Thema von Novellen zu bestimmen, blendet – bei aller Wichtigkeit, die Liebe und Sexualität für Novellentexte wie für die Literatur überhaupt haben – zahlreiche wichtige Gattungsbeiträge einfach aus. Richard Thieberger: Le genre de la nouvelle dans la littérature allemande. Paris 1968, S. 27. Vgl. zu Boccaccios Quellen schon das Pionierwerk von Marcus Landau: Die Quellen des Dekameron. Stuttgart 21884, ND Wiesbaden 1971. Friedrich Schlegel: Literary Notebooks, S. 106 (Nr. 970). Hervorhebungen im Original. Adalbert Stifter: Vorrede. In: Bunte Steine. Buchfassungen. Hg. v. Helmut Bergner. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982 (= Werke und Briefe. HKA, 2,2), S. 9-16, hier S. 14. Schlaffer: Poetik der Novelle, S. 268. – Obwohl Schlaffers Argumentation in diesem Zusammenhang überzeugt, sei angemerkt, dass sich die Eigenart von Stifters Erzählungen eher über den vom Autor selbst gewählten Studien-Begriff als über einen im Wesentlichen nur ex negativo festzumachenden Bezug zur Novellentradition erfassen lässt. Robert Musil: Literarische Chronik [August 1914]. Die Novelle als Problem. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 9. Reinbek 1978, S. 1465-1466, hier S. 1465.

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giert. Bedeutsam ist nicht die Qualität des äußeren Ereignisses, sondern die Intensität der Reaktion, die sich für Musil in den Bildern des ›Augenblicks‹ und der ›Plötzlichkeit‹ ausdrückt – beide Begriffe, von so unterschiedlichen Autoren wie Karl Heinz Bohrer und Dieter Wellershoff später aufgegriffen und weiter ausgeführt111, erhalten so auch einen gattungsspezifischen Akzent. Das existentielle, ekstatische, die Begrenztheit des realen Lebens und die Gewissheit der transzendenten Leere für einen ›Augenblick‹ aufsprengende und zur Vision verdichtende Erlebnis eines Ichs markiert die eigentliche ›unerhörte Begebenheit‹ (auch wenn Musil den Goetheschen Begriff nicht explizit verwendet). So heißt es beispielsweise in Grigia aus der 1924 veröffentlichten Sammlung Drei Frauen von der Hauptfigur, dem Geologen Homo: »Und es wurde ihm plötzlich heiß von einer neuen Gewißheit. Er war kein dem Glauben zugeneigter Mensch, aber in diesem Augenblick war sein Inneres erhellt.«112 Die innere Spannung resultiert »aus der integralen Autonomie einzelner Augenblicke, die nicht aufgrund ihrer Einbettung in eine einsträngige Handlung, sondern vor allem aufgrund ihrer formalen Geschlossenheit diese ihre Autonomie erringen«.113 Entsprechend zeigt sich (obwohl diese Momente eines ›anderen Zustands‹ ihr Gewicht auch durch ihre exklusive Seltenheit erhalten) eine »Tendenz zur Vervielfältigung der Novellenspitze«114, wie sie für die Novellenproduktion der Moderne insgesamt typisch genannt werden kann. Es muss längst nicht mehr »eine« unerhörte Begebenheit sein, die die Novelle dominiert, wobei die Vervielfältigungstendenz auch in älteren Gattungsbeiträgen mitunter angelegt gewesen sein mag – zumindest wäre dies eine Erklärung dafür, dass die Elemente der ›Begebenheit‹, aber auch des ›Wendepunktes‹ oder des zentralen Symbols in einzelnen Texten von verschiedenen Interpreten häufig verschieden verortet wurden. Musils dezidierte Verwendung des 111 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins [1981]. Mit einem

Nachwort von 1998 neu aufgelegt. Frankfurt/M. 1998; zu Wellershoffs in verschiedenen Texten entwickelten Vorstellungen vom ›Augenblick‹ vgl. zusammenfassend Ulrich Tschierske: Das Glück, der Tod und der »Augenblick«. Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs. Tübingen 1990 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 53), bes. S. 83-101. 112 Robert Musil: Drei Frauen. Novellen [1924]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 6. Reinbek 1978, S. 234-306, hier S. 241. Hervorhebungen von mir. – Werner Bergengruen hat in einer seiner späten Novellen gleichfalls auf den Begriff des ›Augenblicks‹ zurückgegriffen, allerdings ohne die existentielle Dimension Musils zu implizieren. Bei ihm steht der ›Augenblick‹ nicht für blitzartiges, individuelles Erkennen, sondern für eine Art Wendepunkt im historischen Verlauf, der einen »Blick in die Werkstätte der Weltgeschichte« eröffnen kann: »Der Geist der Begebenheiten hält den Atem an, es ist, als besinne er sich, fast schwankend, ehe er ihrem Weitergange die Entscheidung vorschreibt« (Werner Bergengruen: Der Augenblick. In: Ders.: Der letzte Rittmeister. Zürich 1952, S. 159-164, hier S. 159). Diese Vorstellung konnte Bergengruen im Übrigen bei Stefan Zweig vorformuliert finden, der im Vorwort zu seinen Sternstunden der Menschheit gleichfalls die »sublimen Augenblicke« beschwört, in denen sich der historische Verlauf bisweilen zusammendränge (vgl. Stefan Zweig: Vorwort. In: Ders.: Sternstunden der Menschheit. Zwölf historische Miniaturen. Frankfurt/M. 1987, S. 7f., hier S. 8). 113 Markus Fischer: Augenblicke um 1900. Literatur, Philosophie, Psychoanalyse und Lebenswelt zur Zeit der Jahrhundertwende. Frankfurt/M., Bern, New York 1986 (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur, 11), S. 326. 114 Rath: Die Novelle, S. 297.

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Begriffs ›Augenblick‹ im Kontext der Novelle wäre übrigens auch Manfred Durzak entgegenzuhalten, der den »Augenblick als strukturbildendes Element der Kurzgeschichte«115 definiert: Letztlich steht der Terminus in zu enger Verbindung zur ›unerhörten Begebenheit‹, um nicht eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede zwischen ›Novelle‹ und ›Kurzgeschichte‹ zu betonen. Zusammenfassend bleibt der enorme Bedeutungsspielraum von Goethes vielzitierter Definition festzuhalten: Aus der ›einen‹ Begebenheit können mehrere werden, die ursprüngliche Verortung in der Realität steht einem ›wunderbaren‹ oder rein innerlichen Erlebnis nicht im Wege, das Hauptgewicht kann ebenso bei exogenen wie bei endogenen Faktoren liegen, thematische Eingrenzungen sind kaum möglich. Ohne diese Polyvalenz freilich hätte sich die Formel nicht über mehr als 250 Jahre hinweg als populärste Bestimmung ›des Novellistischen‹ und als gern gewählter Bezugspunkt von Interpretationen behaupten können. Annähernd universale Verwendbarkeit setzt das voraus, was man negativ als mangelnde Präzision, positiv als produktive Offenheit bezeichnen kann. Goethes ›unerhörte Begebenheit‹, aber auch der auf Tieck zurückgehende ›Wendepunkt‹116 und der von Paul Heyse geforderte ›Falke‹ haben ihre Omnipräsenz in der Novellentheorie gerade nicht ihrer Klarheit oder Eindeutigkeit zu verdanken, sondern im Gegenteil dem weiten Projektionsraum, den sie eröffnen.

2.2. Der »Wendepunkt« Von daher ist Manfred Schunichts Analyse der Novellenkriterien von Tieck und Heyse einerseits zutreffend, in wichtigen Aspekten aber auch fragwürdig. Überzeugend weist Schunicht nach, dass Tieck, wenn er vom ›Wendepunkt‹ als novellentypischer Eigenart spricht, mehr und anderes meint als die bloße Zuspitzung auf einen bestimmten Mittel- oder Scheitelpunkt im Handlungsverlauf, eine Kulmination oder Peripetie. Für Tieck verbindet sich mit dem ›Wendepunkt‹ ein Umschlag ins Wunderbare und Übernatürliche: Eine Begebenheit sollte anders vorgetragen werden, als eine Erzählung; diese sich von Geschichte unterscheiden, und die Novelle nach jenen Mustern [Boccaccios, Cervantes’, Goethes] sich dadurch aus allen andern Aufgaben hervorheben, daß sie einen großen oder kleinern Vorfall in’s hellste Licht stelle, der, so leicht er sich ereignen kann, doch wunderbar, vielleicht einzig ist. Diese Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den 115 Vgl. das gleichnamige Kapitel bei Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. 2., verbesserte

Auflage München 1994, S. 161-185. 116 Obwohl der Terminus zuerst von August Wilhelm Schlegel in die Novellendiskussion eingebracht

worden ist, hat er sich in der Folgezeit sehr stark mit dem Namen Tiecks verbunden, vgl. Manfred Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«. Zu den Novellentheorien Tiecks und Heyses. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 10 (1960), S. 44-65, jetzt in: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1968, S. 433-462, hier S. 438.

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Umständen angemessen, die Folge entwickelt, wird sich der Phantasie des Lesers um so fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter andern Umständen wieder alltäglich sein könnte.117

Zudem steht mit Solgers Theorie der ›Punktualität‹ ein philosophisches Prinzip hinter Tiecks Konzeption. Entsprechend kann Schunicht folgern: »Der ›Wendepunkt‹ ist auf solch unauflösbare Weise mit Tiecks Weltansicht verflochten, daß es immer problematisch bleibt, diesen Begriff für eine Interpretation der Werke anderer Novellisten zu beanspruchen«.118 Auf der anderen Seite hat sich die Vorstellung vom novellentypischen Wendepunkt – oder sogar: von mehreren Wendepunkten innerhalb einer Novelle119 – als derart suggestiv erwiesen, dass sie sich immer mehr vom ursprünglichen Kontext gelöst und ein Eigenleben entwickelt hat. Letztlich sind die semantischen Verschiebungen und Erweiterungen im Fall des ›Wendepunkts‹ kaum stärker als bei Goethes Begriff der ›unerhörten Begebenheit‹, den Schunicht akzeptiert und (zu Unrecht) als eindeutiger empfindet. Immanent widersprüchlich wird Schunichts Argumentation dort, wo er am Ende selbst aus Tiecks Theorie das »spezifisch Novellistische«120 herleiten und generalisieren möchte, wobei er auf einmal einen festen, normativen Novellenbegriff zugrunde legt, dessen Legitimation im Dunklen bleibt.121 Aus heutiger Sicht wird dabei deutlich, wie sehr Schunicht noch versucht, das »Wesen novellistischen Erzählens«122 auf den Begriff zu bringen, ein Anspruch aus der geistesgeschichtlich-philosophisch geprägten Phase der Germanistik, der mit einem starken Affekt gegen pragmatisch-formaltechnische Interpretationsweisen einhergeht.123 Dass Hinweise auf berühmte Vorgängertexte – wie etwa der Heyses auf Boccaccios Falkennovelle – im Zuge des Intertextualitätsparadigmas nicht mehr als »begriffliche[s] Surrogat«124 und damit als methodisch insuffizient abgetan werden können, versteht sich von selbst; der moderne Literarhistoriker wird 117 Tieck: Vorbericht zur dritten Lieferung, S. LXXXVI. 118 Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 444. 119 In der älteren wie neueren Interpretationspraxis wird häufig mit der Vorstellung mehrerer ›Wende-

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punkte‹ gearbeitet; Fritz Lockemann beispielsweise glaubt in Kleists Michael Kohlhaas nicht weniger als fünf Wendepunkte bzw. »wendepunktartige Ereignisse« ausmachen zu können, vgl. Fritz Lockemann: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle. München 1957, S. 71-73. Lockemann betont allerdings auch, dass im Fall mehrerer Wendepunkte nicht jeweils eine neue Wende markiert wird, sondern die Ereignisse »in gleicher Richtung, vielleicht mit sich steigernder Kraft wirken« (ebd., S. 16). Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 445. Vgl. zur Kritik an Schunichts Argumentation schon Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 57f., 64-66. Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 450. Man beachte etwa Formulierungen wie: »So würde der Wendepunkt – konsequent genommen – zu einem technischen Trick degradiert, mit dem der harmlose Leser zu düpieren ist« (ebd., S. 439) oder ganz ähnlich »Die Isolierung des Wendepunktes aber verfälscht den Begriff zum formaltechnischen Trick« (ebd., S. 444). Eine Simplifizierung bzw. Generalisierung des Wendepunkt-Konzeptes ist sicher anfechtbar, aber nicht aus dem pseudo-moralischen Anspruch heraus, ›harmlose Leser‹ vor ›Düpierung‹ zu schützen. Ebd., S. 450.

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im Netz expliziter wie impliziter intertextueller Verweise überzeugendere Belege für sein Gattungsverständnis finden als in der von Schunicht geforderten abstrakten Begrifflichkeit. Dabei bewährt sich der Begriff des Wendepunkts auch in der neueren Forschungsdiskussion immer wieder als Ausgangspunkt weitreichender Überlegungen, etwa bei Wolfgang Rath, für den sich die frühromantische Konzeption des Wendepunkts als »Offenbarung« und »sakrale Öffnung« von gattungsprägendem Gewicht gestaltet: Der Wendepunkt »thematisiert den Einbruch eines Unbekannten, Anderen, Nicht-Darstellbaren« und erhält insofern eine »sakrale Dimension«.125

2.3. Der »Falke« Nach den Ausführungen zur ›unerhörten Begebenheit‹ und dem ›Wendepunkt‹ wird es nicht überraschen, dass auch das dritte populäre Schlagwort der Novellentheorie vieldeutig ist: der von Paul Heyse propagierte ›Falke‹. Heyse bezog sich bekanntlich auf Boccaccios Falkennovelle aus dem Decamerone, die neunte Novelle des fünften Tages; Goethe hatte sich 1776 kurzzeitig mit dem Plan getragen, sie zu dramatisieren126 (wenn man so will, ein zusätzlicher Beleg für die so oft festgestellte Affinität zwischen Novelle und Drama), aber erst durch Heyse gewann sie ihre besondere novellentheoretische Relevanz. Eine herausragende ästhetische Qualität wurde ihr immer wieder attestiert: Arnold Hirsch nennt sie »die vielleicht schönste der ganzen Dichtung«127, auch Hermann Pongs hebt sie besonders hervor128, für Johannes Klein ist sie das »Modell der echten Novelle«129 und noch eine neuere linguistische Untersuchung sieht die »narrativen Gesetze des novellistischen Erzählens« hier »in beispielhafter Vollendung«130 und offenbar überzeitlicher Gültigkeit verwirklicht. Jeder dieser Ansätze freilich bewegt sich auf den Spuren Heyses, nimmt den Text im Zusammenhang mit dessen Ausführungen wahr und sieht Boccaccio damit durch die Brille des 19. Jahrhunderts. Der ›Falke‹ ist mit der Zeit so sehr zum typischen, aufs engste mit der Novellengattung assoziierten Merkmal geworden, dass etwa die Deutsche Verlagsanstalt in den 1920er Jahren eine ganze Publikationsreihe unter den Sammeltitel Der Falke. Bücherei zeitgenössischer Novellen stellte.131 125 Rath: Novelle, S. 45. 126 Das Fragment ist allerdings ausgesprochen kurz und wenig aussagekräftig, vgl. Johann Wolfgang

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Goethe: Der Falke. In: Ders.: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786. Hg. v. Hartmut Reinhardt. München 1987 (= MA, 2.1), S. 492. Hirsch: Der Gattungsbegriff »Novelle«, S. 106. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 99-103 und 113f. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 2. Pötters: Begriff und Struktur der Novelle, S. 32. Eine Aufstellung der Reihe, die in rascher Folge 1923-1925 erschien und u.a. Texte von Josef Ponten, Hans Franck, Otto Flake sowie erstaunlicherweise den frühen Teildruck von Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull umfasst, bietet: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1911-1965. Hg. v. Reinhard Oberschelp. Bearbeitet unter der Leitung von Willi Gorzny. Bd. 34. München 1977, S. 205.

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Heyse hatte in der Falkennovelle das verkörpert gesehen, was er als Grundanforderungen an novellistisches Schreiben verstand: die knappe, konzentrierte Darstellung einer charakteristischen Begebenheit von »starke[r] Silhouette«, deren Essenz in einem zentralen »Grundmotiv« greifbar wird, dem aus dem Beispiel induzierten »Falken«. In ihm liegt für Heyse »das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet.«132 Liest man Heyses Ausführungen in ihrem ursprünglichen Kontext, ist völlig klar, dass der Autor – im Unterschied zu vielen seiner späteren Interpreten – keineswegs eine apodiktische Forderung aufstellen wollte, der alle Novellentexte zu entsprechen hätten. Heyses Ziel war, die häufige Zuspitzung der Novelle auf ein zentrales Motiv, wie sie schon vor ihm öfter beschrieben wurde, in ein Bild zu fassen; die Leser des Deutschen Novellenschatzes, in dessen Einleitung Heyse seine Ideen formuliert, konnten sich aufgefordert sehen, diese Vorstellung an den ausgewählten Texten zu prüfen. Dass sich eine der Falkennovelle entsprechende »einfache Form [...] nicht für jedes Thema unseres vielbrüchigen modernen Culturlebens finden«133 lassen würde, hat Heyse ausdrücklich betont und damit deutlich gemacht, dass seine Leitvorstellung keine absolute, sondern eine je nach dem historischen Stand der Literatur variable ist und mit verschiedener Deutlichkeit und in historisch spezifischer Ausprägung auftreten kann.134 Auch hier beweist Heyse zumindest im Ansatz ein stärkeres Problembewusstsein als viele seiner Nachfolger, die Boccaccios Text vorbehaltlos aus moderner Perspektive betrachtet und in bruchlosen Zusammenhang mit der deutschen Novellenentwicklung des 19. Jahrhunderts gestellt haben, ohne den grundverschiedenen historisch-literarischen Kontext der italienischen Renaissance zu berücksichtigen. Wenn mit Blick auf den ›Falken‹ der Eindruck entstehen könnte, dass sich die realistischen Theoretiker der Novelle im Vergleich mit ihren klassisch-romantischen Vorgängern stärker um eine klare Kategorienbildung und operationalisierbare Konzepte bemühen, sollte berücksichtigt werden, dass auch der gattungstheoretische Diskurs der Realisten immer wieder irritierende Wendungen nimmt. Als Beispiel mag ein Auszug aus dem Briefwechsel zwischen Paul Heyse und Theodor Storm dienen; Storm hatte seinem Korrespondenzpartner 1875 die Novellen Im Waldwinkel und Pole Poppenspäler zugesandt. Heyses Urteil über die erstere fällt vorbehaltlos positiv aus, während er in Bezug auf Pole Poppenspäler Bedenken äußert:

132 Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz, S. XX. 133 Ebd., S. XX. 134 Entsprechend verfehlt ist etwa, was Bernhard von Arx in diesem Zusammenhang ausführt; es sei

stellvertretend zitiert für die in der älteren Forschung häufiger anzutreffende, unangemessene Herabsetzung und Verfälschung Heyses: »Heyse auf der Jagd nach dem Falken, den er in jeder eigenen Novelle haben und in jeder fremden nachweisen will, und der die Echtheit und den Rang einer Novelle geradezu abhängig macht vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieses Tieres, erweckt im Grunde weniger Bewunderung für seine Konsequenz als Mitleid« (Bernhard von Arx: Novellistisches Dasein. Spielraum einer Gattung in der Goethezeit. Zürich 1953 [= Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, 5], S. 10).

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Einleitung Pole Poppenspäler ist auch seinem Vater aus den Augen geschnitten, der ja bekanntlich zwei Gesichter hat, ein idyllisches und ein novellistisches im eigentlichen Sinne. Ich bin nur durch meine Schatzgräberei, wo ich jede Novelle zunächst auf ihren »Falken« ansah – Sie entsinnen sich vielleicht der Einleitung zu unserm Nov. Schatz – dahin gekommen, daß ich immer etwas vermisse, wenn kein eigentlich novellistisches Motiv mir entgegenspringt, eines mit einer psychologischen Collision, ein Problem, wenn Sie lieber wollen. Eine Reihe Genrebilder, selbst von Ihrer sichern und zarten Hand ausgeführt, hinterläßt mir ein verstohlenes Verlangen nach einem Mittelpunkt, der das Ganze organisirt. Aber ich bin nicht so Pedant, daß ich auch jede reizende Geschichte für »Unsere Jugend« nach ihrem novellistischen Paß befrage, und nur die Nachbarschaft des Waldwinkels hat diese Betrachtungen angeregt.135

Heyse wendet seine Kategorie des ›Falken‹ auf Storms für die Zeitschrift Deutsche Jugend konzipierte Novelle an und moniert ein Defizit; die Einleitung zum Deutschen Novellenschatz wird nebenbei als Referenztext genannt und dem Kollegen damit implizit auch als Richtschnur der eigenen Produktion empfohlen. Storms Antwort reagiert auf Heyses Einwand und scheint die angemahnte Perspektive gleich einzulösen: Meines Doppelgesichts, dessen Sie in Ihrem letzten Briefe erwähnten, bin ich mir, und war ich mir insbesondere auch eben bei Abfassung des Poppenspälers nur zu sehr bewußt; nehmen Sie einstweilen darin den »Casperle« als den Falken; so etwas ist er es [!] doch in der That.136

Bis hierhin läge ein leicht nachvollziehbarer und von den späteren Literaturwissenschaftlern häufig in analoger Weise praktizierter Denkschritt vor: Bei näherem Hinsehen lässt sich ein ›Falke‹ im Sinne des von Heyse geforderten zentralen und integrierenden Motivs meist finden, und Tendlers Kasper-Marionette bietet sich tatsächlich an. Dann jedoch setzt Storm seinen Argumentationsgang überraschend fort: Wo ist der Falke in Göthe’s Faust? Er müßte sehr zusammengesucht werden. Das soll übrigens kein Argument gegen den von mir sehr respectirten Falken sein; ich meine nur es kann ein bedeutender poetischer Werth auch ohne ihn vorhanden sein. Die Unterscheidung von »Novelle« u. »Erzählung« ist übrigens gegeben.137

An dieser Stelle scheint Storms gattungstheoretisches Denken keineswegs puristischer oder systematischer als etwa das der Brüder Schlegel, die Shakespeares Tragödien als »dramatisierte Novellen« interpretierten138; Storm wäre sonst nicht auf die Idee verfallen, ausgerechnet mit Verweis auf Goethes umfangreiches Doppeldrama gegen Heyses Falkentheorie zu opponieren. Einerseits behauptet er, den ›Falken‹ zu 135 Paul Heyse an Theodor Storm, 11.12.1875 [Hervorhebungen im Original]. In: Theodor Storm –

Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Clifford Albrecht Berndt. Bd. 1. Berlin 1969, S. 101f., hier S. 101. 136 Theodor Storm an Paul Heyse, 18.04.1876. In: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Clifford Albrecht Berndt. Bd. 2. Berlin 1970, S. 11-12, hier S. 11. 137 Ebd. 138 Friedrich Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio. In: Ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. u. eingel. v. Hans Eichner. München, Paderborn, Wien u.a. 1967 (= Kritische Ausgabe, I,2), S. 373-396, hier S. 393.

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respektieren, andererseits erkennt er ihn weder an als Gradmesser für den ästhetischen Anspruch (was ja mit Heyses vorsichtiger Formulierung im Deutschen Novellenschatz übereinstimmt) noch als entscheidendes Abgrenzungskriterium von ›Novelle‹ und ›Erzählung‹ – diese wird offenbar auf einer anderen Ebene geleistet, ohne dass Storm präzisieren würde, inwieweit und wodurch sie (im konkreten Einzelfall oder allgemein?) »gegeben« sei. Alternativ hat er Heyse zwar zuvor durch den beiläufigen Verweis auf »Casperle« die Möglichkeit gegeben, Pole Poppenspäler als konform mit der Falken-Theorie zu deuten; doch ob er sie als Produktionsmaxime adaptiert hat, ist fraglich. Jahre später schreibt er an den Kollegen Gottfried Keller mit Bezug auf seine aktuelle Arbeit Zur Chronik von Grieshuus: »den Boccaccioschen Falken laß ich unbekümmert fliegen und verliere mich romantisch zwischen Wald und Heidekraut vergangener Zeiten«.139 Doch auch mit dieser Äußerung verharrt Storm der Falkentheorie gegenüber in einer eigentümlichen Ambivalenz: Einerseits sieht er keinen Grund, warum er nicht »unbekümmert« auf den Falken verzichten können solle, andererseits wertet er seine Missachtung als ein ›romantisches‹ Sich-Verlieren, das er zwar positiv akzentuiert, aber als ein erzählerisches Prinzip ›vergangener Zeiten‹ begreift – der Gegenwart und damit dem Realismus gemäßer, so sagt Storm implizit, wäre offenbar ein strafferes, zielgerichteteres und konzentrierteres Erzählen, wie es dem Ideal entspricht, an dem Heyse seine Falkentheorie programmatisch ausgerichtet hat. Was Heyse übrigens auf keinen Fall gefordert hat, ist die symbolische Qualität des ›Spitzenmotivs‹140; die Gleichsetzung des ›Falken‹ mit einem ›Dingsymbol‹ geht auf Hermann Pongs zurück141 und stellt eine erweiternde Interpretation von Heyses Theorie dar, für deren Konsequenzen Heyse nicht verantwortlich ist.142 Allerdings liegt auf der Hand, dass ein zentrales, den Hauptkonflikt eines Textes spiegelndes Motiv rasch über sich selbst hinausweisen und insofern symbolische Qualität erlangen kann; die Plausibilität dieser Vorstellung erklärt den nachhaltigen Erfolg der Pongsschen Heyse-Deutung. Der moderne Interpret muss daher im Einzelfall entscheiden, ob er für die Beschreibung eines Spitzenmotivs auf Heyses Begriff des ›Falken‹ rekurrieren oder lieber – mit Johannes Klein – von einem ›Leitmotiv‹143 oder 139 Theodor Storm an Gottfried Keller, 13.9.1883. In: Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel.

Kritische Ausgabe. Hg. v. Karl Ernst Laage. Berlin 1992, S. 108-110, hier S. 108.

140 Den Terminus ›Spitzenmotiv‹ wählt Schunicht, weil er ihm »für das Verständnis der Komposition

fruchtbarer« vorkommt als der von Heyse gewählte Begriff ›Grundmotiv‹; passend erscheint er sicher auch durch die Analogie zum pyramidalen Aufbau im Drama (vgl. Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 449). 141 Vgl. die frühen Aufsätze Über die Novelle (1929) und Grundlagen der deutschen Novelle des 19. Jahrhunderts (1930) in: Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 97-109 bzw. S. 110-183, bes. S. 100f. und 114f.; vgl. auch Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 451f. 142 In diesem Sinn hat Kenneth Negus Heyses Novellentheorie überzeugend gegen Schunicht verteidigt und die Gleichsetzung von ›Falke‹ und ›Dingsymbol‹ als den »most serious error« der HeyseInterpretation bezeichnet. Vgl. Kenneth Negus: Paul Heyse’s ›Novellentheorie‹. A Revaluation. In: Germanic Review 40 (1965), S. 173-191, hier S. 181. 143 Vgl. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 6f.

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sogar – in Anschluss an Pongs – von einem ›Dingsymbol‹ sprechen möchte. Versuche, zwischen diesen etablierten Termini auf einer definitorischen Ebene zu unterscheiden, haben sich nicht durchgesetzt; im Allgemeinen werden ›Falke‹, ›Leitmotiv‹ und ›Dingsymbol‹, obwohl diese Begriffe sehr unterschiedliche Akzentsetzungen vornehmen, heute »[n]ahezu synonym«144 verwendet.

2.4. Weitere oft genannte Novellenmerkmale Mit der ›unerhörten Begebenheit‹, dem ›Wendepunkt‹ und dem ›Falken‹ sind die drei häufigsten Schlagworte der Novellentheorie genannt. Hinzuzunehmen wäre etwa die aus dem Decamerone abgeleitete Tendenz zur zyklischen Anordnung und zur Rahmenerzählung.145 Da die frühen deutschen Boccaccio-Übersetzungen etwa des 15. Jahrhunderts den Rahmen weglassen und nur Einzelnovellen enthalten146, ist die diesbezügliche Vorbildwirkung des Decamerone in der deutschen Literatur erst für das ausgehende 18. Jahrhundert anzusetzen.147 Christoph Martin Wielands Sammlung Das Hexameron von Rosenhain (1805) immerhin erweist Boccaccio (und Marguerite de Navarre) in der Schilderung der Ausgangslage eine ausdrückliche Reverenz: Eine vermischte, ziemlich zahlreiche Gesellschaft, welche mehrere Wochen auf dem Lande beysammen lebt, hat, außer den gewöhnlichen Vergnügungen des Landlebens, noch manche Maßnehmungen nöthig, um die beschwerlichste aller bösen Feen, die Langeweile, von sich abzuhalten. Die Gesellschaft, von welcher hier die Rede ist, hatte bereits so ziemlich alle andern Hülfsquellen erschöpft, als eine junge Dame, die wir (weil die wahren Namen hier nicht zu erwarten sind) Rosalinde nennen wollen, auf den alten, so oft schon nachgeahmten Boccazischen Einfall kam: daß Jedes der Anwesenden, nach dem Beispiel des berühmten Dekamerone, oder des Heptamerons der Königin von Navarra, der Reihe nach, Etwas einer kleinen Novelle, oder, in Ermanglung eines Bessern, wenigstens einem Mährchen ähnliches der Gesellschaft zum Besten geben sollte.148 144 Freund: Novelle, S. 35. 145 Vgl. zu den erzähltechnischen Aspekten und zur literarhistorischen Bedeutung des Phänomens

besonders Andreas Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage. Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York, Paris, Wien 1994 (= Narratio, 10), sowie, eher exemplarisch verfahrend, Andreas Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2008. – Die erzähltheoretischen Differenzierungsmöglichkeiten im Verhältnis des Erzählers zum Geschehen rekapitulieren knapp Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, bes. S. 75-89. 146 Vgl. Otto Löhmann: Die Rahmenerzählung des Decameron. Ihre Quellen und Nachwirkungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Rahmenerzählung. Halle 1935. 147 Vgl. zur literarischen Wirkung des Decamerone vor Goethe die neueren Arbeiten von Claudia Bolsinger: Das »Decameron« in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt/M. u.a. 1998; Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im 15. und 16. Jahrhundert. Amsterdam, New York 2005; Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, bes. S. 291-333. 148 Christoph Martin Wieland: Vorbericht eines Ungenannten. In: Ders.: Das Hexameron von Rosen-

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Nach Goethe und Wieland haben vor allem Achim von Arnim in Der Wintergarten (1809), Ludwig Tieck in seinem Phantasus (1812-1816) und E.T.A. Hoffmann in den Serapionsbrüdern (1819-1821), später natürlich Gottfried Keller in den Züricher Novellen (1876/77) und besonders im Sinngedicht (1881) die Möglichkeiten des zyklischen Rahmens genutzt und erweitert; häufiger jedoch begegnet in der deutschen Literatur die Rahmung eines Einzeltexts. Fritz Lockemann hat die Rahmung als eigentlichen Kern seines Novellenverständnisses hervorgehoben und ist dabei so weit gegangen, die ungerahmte Novelle als »Grenzfall der gerahmten« zu bestimmen.149 Mit seinen Ausführungen zu ›geschlossenen‹ und ›offenen‹ Rahmenerzählungen hat er nicht nur »Verwirrung«150 gestiftet, sondern vor allem auch ein Kriterium überfordert, das in der Novellengeschichte zu oft fehlt, um gattungsindizierende Qualität zu besitzen; gerade im Hinblick auf die neuere Gattungsentwicklung ist festzustellen, dass Rahmensituationen nur selten oder ganz rudimentär gestaltet werden. Novellenzyklen sind in den letzten Jahrzehnten kaum erschienen.151 Gründe dafür dürften zum einen darin liegen, dass die Möglichkeiten sowohl der Einzelrahmung wie auch der zyklischen Rahmung in den Gattungsbeiträgen des 19. Jahrhunderts weitgehend ausgereizt wurden – man denke an die subtil perspektivierten Novellen Theodor Storms, Conrad Ferdinand Meyers oder Gottfried Kellers; zum anderen haben moderne Erzähler etwa mit dem inneren Monolog oder dem polyperspektivischen Erzählen technische Mittel zur Verfügung, durch die sich Unmittelbarkeit und Perspektivwechsel effizienter herstellen lassen als durch die oft umständliche und nicht immer glaubhafte Rahmenerzählung.152 Wo eine Rahmensituation in der neueren Novellenliteratur gestaltet wird, ist der (meist spielerische) Bezug zur Gattungstradition selbstverständlich gegeben, etwa in Uwe Timms Die Entdeckung der Currywurst (1993) oder in Robert Gernhardts kleinem Zyklus Die Florestan-Fragmente (1986); umgekehrt jedoch kann das Fehlen einer Rahmung nicht mehr als besonders auffälliges Indiz gelten. Die Einführung einer fingierten Erzählerfigur, die den Leser direkt anspricht, kann als rudimentäre Rahmung verstanden werden und ist auch in der neueren Novellenliteratur gelegentlich anzutreffen.153

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hain. Carlsruhe 1817 (= Sämtliche Werke, 38), S. V-XVI, hier S. VIf.; Hervorhebungen im Original. – Einen nah am Primärtext orientierten Überblick über die novellentheoretische Bedeutung des Hexamerons bietet Cäcilia Friedrich: Rahmenhandlung und Ansatz einer Novellentheorie in Wielands Hexameron von Rosenheim. In: Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung. Hg. v. Thomas Höhle. Halle (Saale) 1988, S. 139-150; die wirkungsgeschichtliche Perspektive auf Wielands Zyklus verlängert entscheidend Hans-Jürgen Schrader: Ermutigungen und Reflexe. Über Kleists Verhältnis zu Wieland und einige Motivanregungen, namentlich aus dem Hexameron von Rosenhain. In: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 160-194. Lockemann: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle, S. 14. Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert, S. 34f. Ein weitgehend vereinzeltes Beispiel – sieht man von Robert Gernhardts Florestan-Fragmenten ab – hat Ulrich Becher in der Nachkriegszeit vorgelegt: Nachtigall will zum Vater fliegen. Ein Zyklus Newyorker Novellen in vier Nächten. Wien 1950; Auszüge u.d.T. New Yorker Novellen. Ein Zyklus in drei Nächten. Zürich 1974, Berlin/DDR 1969. Vgl. in diesem Sinn Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert, S. 244-252. Vgl. z.B. Michael Schneider: Das Spiegelkabinett. Novelle. München 1980.

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In engem Zusammenhang mit der Rahmung steht die oft betonte Nähe der Novelle zum mündlichen Erzählen bzw. zu einer stilisierenden Nachahmung der vor allem von Wolfgang Kayser fokussierten ›epischen Ursituation‹154, in der ein Erzähler einem bestimmten Zuhörerkreis eine Geschichte vermittelt. Einmal mehr wird Boccaccio als Vorbild genannt, beispielsweise von Lutz Mackensen, der den Hinweis mit einem Plädoyer für die Oralität, die sinnliche Erfahrung der lauten Lektüre verbindet: Natürlich täuscht Boccaccios Rahmengeschichte nur vor, daß seine Erzählungen vorgetragen seien. Aber sie deutet doch den Lebenskreis an, den der Dichter seinen Geschichten anweisen wollte. Seine Geschichten sollen, erzählt oder nicht, laut werden; erst dann entfalten sie den Reichtum ihrer Sprachkünste. Man kann sie lesen; alsbald wird man versucht sein, diese oder jene Wendung, den einen oder andern Satz, hier eine Pointe oder dort eine überraschende Redensart nachzusprechen, nachzuschmecken. Man sollte sie vorlesen, damit nichts von ihnen verloren geht.155

Sozial- und mediengeschichtlich reflektiert das Decamerone zweifellos den frühneuzeitlichen »Übergang von mündlicher zu schriftlicher Erzählkultur«156 und erinnert an eine (verloren gegangene) gesellige Kulturpraxis. Selbst Bezüge zwischen der Entstehung und Ausbreitung der Novelle einerseits und dem Zeitungswesen oder dem klinischen Fallbericht andererseits lassen sich in dieser medienästhetischen Perspektive überzeugend herausarbeiten.157 Abseits von Rahmenkonstruktionen allerdings ist die Gattungsspezifik der simulierten Mündlichkeit auch zu relativieren. Denn vom philosophischen Dialog über den Brief (als Gespräch zwischen Abwesenden) und die Zeitung (als virtuelles Forum) bis hin zur Ballade und allen Erzählgattungen gibt es schließlich kaum eine Textsorte, die nicht in irgendeiner Weise als literales Substitut ursprünglicher Oralität aufgefasst werden könnte. Ein letztlich doch sehr allgemeines Merkmal schriflich-literarischer Kommunikationsprozesse kann daher allenfalls im Verein mit anderen, oft als novellentypisch behaupteten Texteigenschaften zur Schärfung des Gattungsprofils beitragen.158 Als solche häufig genannten Novellenmerkmale seien im Folgenden noch die Tendenz zur ›geschlossenen‹ Form, das Vorherrschen einer ›objektiven‹ Erzählhal154 Vgl. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft.

Bern 181978, S. 201.

155 Lutz Mackensen: Die Novelle. In: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 391-410, hier

S. 407f. (zuerst in: Studium Generale 11 [1958], S. 751-759). 156 Christine Lubkoll: Fingierte Mündlichkeit – inszenierte Interaktion. Die Novelle als Erzählmodell.

In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (2008), S. 381-402, hier S. 385. - Lubkoll plädiert dafür, über die genaue Erfassung der ›inszenierten Mündlichkeit‹ und ihrer jeweiligen historischen Funktion zu einer kultur- und funktionshistorisch fundierten Gattungsreflexion vorzudringen und stellt »ein größeres Projekt zur Geschichte der Novelle« (ebd.) in Aussicht. 157 So fokussiert z.B. Hannelore Schlaffer die Nähe von Pathographie und psychologischer Novelle im ausgehenden 18. Jahrhundert, vgl. Schlaffer: Poetik der Novelle, S. 225-239. 158 Nimmt man diese Einschränkung in Kauf, lassen sich Elemente inszenierter Mündlichkeit auch unter den gänzlich veränderten literarhistorischen Bedingungen der Gegenwart sinnvoll analysieren, etwa in den Novellen von Günter Grass, Martin Walser oder Gert Hofmann.

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tung, die angebliche ›mittlere Länge‹ sowie, als inhaltlich-strukturelles Element, die Ausrichtung auf eine ›Krise‹ genannt und problematisiert. Die Wahrung einer geschlossenen Form entspricht weitgehend den klassizistischen Anforderungen an die Novelle: Konzentration der Handlung, Funktionalität der Details, Orientierung an einem mittleren, einheitlichen Sprachniveau gehören dazu. Abgeleitet werden kann das Postulat der strengen Form unter anderem aus den Ausführungen Heyses, der die Konzentration der Novelle auf »einen einzelnen Conflict« forderte und darin ein Abgrenzungskriterium zum »Cultur- und Gesellschaftsbild im Großen«159 sah, wie es der Roman biete; besonders deutlich betont der völkisch-konservative Autor Wilhelm Schäfer die gattungsindizierende Qualität der geschlossenen Form: »Durch ihre Geschlossenheit wird eine Erzählung zur Novelle; und die strenge Verpflichtung, den Ring aus den einzelnen Gliedern der Handlung einheitlich zu schmieden, ist die Forderung der novellistischen Form.«160 Spätere Literaturwissenschaftler wie z.B. Fritz Lockemann haben die geschlossene Form zugleich als adäquates Mittel gesehen, mit dem der Novellist auf das ›Chaotische‹ und ›Ungebändigte‹ seines Gegenstands reagiere, indem er dem »prinzipiell Abgründige[n] […] die ordnenden Kräfte des Stils und der Struktur entgegenzustellen« versuche.161 Die Vorstellung, dem allgemeinen Chaos durch organisiertes Erzählen ein neues Ordnungsmodell entgegenzusetzen, ist ja immerhin schon bei Boccaccio präsent. Allerdings: Das Ideal der ›Formstrenge‹ zum allgemeinen und absoluten Maßstab der Novellenliteratur erheben zu wollen, ist der Komplexität und Vielfalt der tatsächlichen literarhistorischen Entwicklung zu keinem Zeitpunkt angemessen.162 Problematisch ist das Kriterium nicht zuletzt, weil es spätestens von Paul Ernst ideologisch aufgeladen und in den Dienst einer antimodernen Geisteshaltung gestellt wurde: Ernst meinte, die angebliche »moderne Auflösung der Novelle« damit begründen zu können, dass »die relativistische Richtung des modernen Geistes […] jeder Form feindlich« sei, »bei der es eben Anfang und Ende, Ursache und Folge«163 geben müsse. In gewisser Nähe zur strengen Form steht die häufig behauptete ›Objektivität‹ novellistischen Erzählens. Schon Friedrich Schlegel glaubte in seiner Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio (1801) feststellen zu können, dass die Novelle »sehr zum Objektiven neig[e]« und sich gerade dadurch zur Darstellung einer »indiHeyse: Einleitung, S. XVIIf. Wilhelm Schäfer: Vorwort. In: Ders.: Novellen. München 1943, S. 5-9, hier S. 7. So die zustimmende Paraphrase bei Freund: Novelle, S. 24. Mit am entschlossensten hat Adolf von Grolman versucht, den Novellenbegriff für ›formstrenge‹ Texte zu reservieren, wie sie in der ›Moderne‹ überhaupt nicht mehr geschrieben werden könnten, vgl. Adolf von Grolman: Die strenge »Novellen«form und die Problematik ihrer Zertrümmerung. In: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 154-166 (zuerst in: Zeitschrift für Deutschkunde 1929, S. 609-627). 163 Paul Ernst: Zum Handwerk der Novelle [zuerst u.d.T. ›Zur Technik der Novelle‹, 1901]. In: Ders.: Der Weg zur Form. Abhandlungen über die Technik vornehmlich der Tragödie und Novelle. München 1928, S. 68-76, hier S. 75. 159 160 161 162

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rekten und verborgenen Subjektivität« eigne.164 Das dialektische Verhältnis von Objektivität und Subjektivität, wie es bei Schlegel schon angelegt ist, hat Arnold Hirsch genauer untersucht und in seiner Definition des Novellenbegriffs in den Mittelpunkt gestellt: Die Novelle habe einen Hang zur »planvollen Umstilisierung der natürlichen Ordnung«, bringe aber gerade dadurch das subjektive Element, »in artistischer Formgebung verhüllt«, eindrucksvoll zum Ausdruck.165 Benno von Wiese schloss sich dieser These an, als er die »Doppelnatur der Novelle« betonte, durch die dem »Subjektiven von vornherein de[r] Schein des Objektiven« gegeben werde166; auch Fritz Martini sieht die »Polarität des Subjektiven und Objektiven«167 als ästhetisches Grundproblem des Realismus und insbesondere der realistischen Novelle. Auch bei diesem Kriterium bleiben allerdings Zweifel an Allgemeingültigkeit und Spezifik; zugestanden sei trotzdem, dass die Spannung zwischen objektivem Bericht und subjektiver Einfärbung im Einzelfall mit großem Gewinn fokussiert werden kann, insbesondere, wenn die entsprechende Novelle sich durch eine Rahmensituation oder sonstige Formen perspektivierten Erzählens auszeichnet, in denen subjektive Deutung besonders gut als objektive Wahrnehmung verschleiert werden kann. Das Kriterium des Textumfangs schließlich ist besonders populär geworden in Gestalt der Kurzdefinition, die Emil Staiger im Wintersemester 1946/47 einem Novellenseminar zugrunde legte und die sein Schüler Bernhard von Arx (quasi in der Eckermann-Rolle) überliefert und ausgebaut hat: »Eine Novelle ist nichts anderes als eine Erzählung mittlerer Länge«.168 Implizit kann sich Staiger dabei auf die erste Novellendefinition innerhalb der deutschen Literatur berufen, Christoph Martin Wielands bekannte Fußnote aus der zweiten Auflage seines Romans Die Abenteuer des Don Silvio von Rosalva von 1772, in der Novellen als »eine Art von Erzählungen« charakterisiert werden, »welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden«.169 Die nur auf den ersten Blick banale Definition Staigers bietet zwar zahlreiche Anknüpfungspunkte – die Länge einer Erzählung prägt fraglos auch deren Konstruktionsprinzipien, erlaubt Abgrenzungen vor allem zur epischen Breite des Romans, ist auch leserpsychologisch interessant, insofern eine relative Kürze das Lesen in einem Zug erlaubt usw. –, sollte aber auch nicht überstrapaziert werden; die salomonische Lösung der Gattungsfrage, als die von Arx das Diktum seines Lehrers vermitteln will, ist hier sicherlich nicht gefunden.170 Schon Polheim weist zutreffend daraufhin, Friedrich Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio, S. 394. Hirsch: Der Gattungsbegriff »Novelle«, S. 146f. Von Wiese: Novelle, S. 9. Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 73. Arx: Novellistisches Dasein, S. 8. Die in der ersten Auflage des Romans von 1764 noch nicht enthaltene Fußnote Wielands steht am Anfang aller Quellensammlungen zur Novellentheorie, vgl. z.B. Kunz (Hg.): Novelle, S. 27; Karthaus: Novelle, S. 8; Krämer (Hg.): Theorie der Novelle, S. 9. 170 Im angelsächsischen Raum haben genaue Kategorisierungen von Literaturgattungen nach Umfang Tradition, wie z.B. E.M. Forsters in Deutschland u.a. von Wolfgang Kayser (Das sprachliche Kunstwerk, S. 366) aufgegriffene und durch Marcel Reich-Ranicki popularisierte Bestimmung des 164 165 166 167 168 169

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dass ausgerechnet die so oft als Prototyp beschworene Falkennovelle des Boccaccio keineswegs als ›Erzählung mittlerer Länge‹ bezeichnet werden kann.171 Erst recht zeigt die Novellenproduktion des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll, dass sich eine Verbindung des Gattungsbegriffs mit dem Umfangskriterium erst spät verfestigt haben kann: So veröffentlicht Eduard Mörike seinen mehrhundertseitigen (und äußerst komplex gebauten) Maler Nolten 1832 als Novelle in zwei Theilen, während einige Jahrzehnte später Gottfried Keller zwar konzediert, man sei »nachgerade gewöhnt, psychologisch sorgfältig ausgeführte kleine Romane Novellen zu nennen«, solle aber »zur Abwechslung etwa auch wieder die kurze Novelle kultivieren«172 – somit findet sich der Novellenbegriff sowohl auf umfangreiche als auch auf mittellange als auch auf kurze Prosawerke angewandt, und die Reichweite der Staigerschen Definition ist entsprechend zu relativieren. Von den bisherigen Versuchen, den Novellenbegriff an Themen und Inhalte zu binden, kann keiner überzeugen: Wer beispielsweise, wie Hannelore Schlaffer, als »Kern der Novellenhandlung« nur »das sexuelle Faktum«173 anerkennen will, muss sich zum einen fragen lassen, ob es nicht doch Novellen ohne Mittelpunktstellung des »sexuellen Faktums« gibt, darüber hinaus aber auch die Tatsache leugnen, dass »das sexuelle Faktum« als eines der vitalsten Interessensgebiete von Autoren und Lesern genauso gut und genauso oft in Romanen, Erzählungen, Dramen oder Gedichten behandelt wird wie in Novellen. Plausibler erscheint es, nicht bestimmte Themen und Inhalte, sondern bestimmte Handlungsanlagen und Handlungsverläufe zumindest tendenziell als ›novellentypisch‹ zu akzentuieren. Manche dieser Handlungsverläufe sind schon in den Schlagworten ›unerhört‹, ›Begebenheit‹ oder ›Wendepunkt‹ angelegt. Die bei Paul Heyse, Friedrich Theodor Vischer und anderen betonte Konzentration der Novelle auf einzelne Konflikte, auf einen »Ausschnitt«174 legt die Mittelpunktstellung einer einzelnen Figur nahe; eine ›Begebenheit‹, die deren Leben zu einem ›Wendepunkt‹ führen könnte, erwächst sehr oft aus einer Begegnung.175 Als ›unerhört‹ bzw. spektakulär und packend wiederum kann ein solcher ›Wendepunkt‹ nur dann vermittelt werden, wenn er die Biographie des Helden grundlegend beeinflusst, einen Umschlag mit sich bringt. Vischers Begriff der »Krise« erweist sich

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Romans als »freie Prosadichtung von über 50000 Worten« belegt (E.M. Forster: Ansichten des Romans [1927]. Dt. v. Walter Schürenberg. Frankfurt/M. 1962, S. 14); Nino Erné zitiert entsprechend die Enzyclopedia Americana: »A short story usually contains from 1000 to 20000 words; a novelette from 20000 to 40000, and a novel from 40000 words upward« (s. Kunst der Novelle, S. 107). Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 10. Gottfried Keller an Paul Heyse, 27. Juli 1881. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hg. v. Carl Helbling. Bern 1952. Bd. 3.1, S. 55-59, hier S. 56. Schlaffer: Poetik der Novelle, S. 26f. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Theil, Zweiter Abschnitt. Stuttgart 1857, S. 1318. Emphatisch gesteigert zur »Begegnung des Menschen mit den Mächten des Schicksals«, sieht Werner Bergengruen hier sogar das »Urmotiv aller novellistischen Kunst« (Werner Bergengruen: Novelle und Gegenwart. In: Ders.: Mündlich gesprochen. Zürich 1963, S. 294-313, hier S. 297).

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hier als besonders suggestiv. Die Gestaltung einer Krisen- oder Extremsituation steht fraglos oft im Mittelpunkt von Novellen; als ›Grenzsituation‹ im Sinn von Karl Jaspers gedeutet, könnte man sie sogar als anthropologisch-existentielle Basis vieler Novellentexte betrachten. Vischers Beobachtung jedenfalls, die Novelle gebe »nicht die vollständige Entwicklung einer Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das eine Spannung, eine Krise hat und uns durch eine Gemüths- und Schicksalswendung mit scharfem Accente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist«176, ist bei der Strukturanalyse zahlreicher Novellen sinnvoll anzuwenden. Freilich hat sich das Verständnis von ›Krise‹ und die Vorstellung, wie mit ›Krisen‹ umzugehen sei, im Lauf der Zeit drastisch gewandelt. Gerhard Neumann, der die Novelle des 19. Jahrhunderts bestimmt sieht »durch die Dialektik von Krise und Identität«177, macht daran auch eine gattungstheoretische Unterscheidung fest: Während es in der klassisch-romantischen Novelle noch gelinge, eine existentielle Krise ›positiv‹, im Sinne einer Bestätigung der Subjektidentität zu bewältigen, sei es gerade ein Merkmal der modernen Kurzgeschichte, dass das menschliche Selbst »nicht mehr durch Krisen in seiner lebenszyklischen Form bestärkt«178 werden könne. Wie differenziert neuere Novellen jedoch mit dieser Frage umgehen, belegen Gattungsbeiträge wie etwa Martin Walsers Ein fliehendes Pferd, Dieter Wellershoffs Die Sirene oder zahlreiche Texte Hartmut Langes – hier werden die Krisenerfahrungen der Protagonisten mit einer Subtilität behandelt, die Neumanns diesbezügliche Gegenüberstellung von Novelle und Kurzgeschichte deutlich relativiert. Damit wären die seit Beginn der germanistischen Forschung gängigen Koordinaten der Novellentheorie im Wesentlichen abgesteckt. Es hat in den letzten Jahrzehnten nicht an Kritikern gefehlt, die die Konzentration auf diese wenigen, »zu Schulweisheiten herabgesunkene[n] Gattungskategorien«179 als untauglich für eine wissenschaftliche Fundierung des Novellenbegriffs bezeichnet und an ihrer »mechanischen und inkonsistenten Verwendung«180 Anstoß genommen haben. Inwieweit dieser Ansicht zuzustimmen ist, hängt vom jeweils implizierten Anspruch ab. Zu Beginn der literaturwissenschaftlichen Novellenforschung war es zuerst die Hoffnung, ein Begriffsraster zu erarbeiten, das eine logische Klassifizierung von Novellentexten auf induktivem Weg ermöglichen sollte – entsprechend dem positivistischen, am Paradigma der Naturwissenschaften orientierten Literaturverständnis, 176 Vischer: Ästhetik, S. 1318. 177 Gerhard Neumann: Christa Wolf: Selbstversuch. Ingeborg Bachmann: Ein Schritt nach Gomorrha. Bei-

träge weiblichen Schreibens zur Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Dominique Iehl, Horst Hombourg (Hg.): Von der Novelle zur Kurzgeschichte. Beiträge zur Geschichte der deutschen Erzählliteratur. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1990 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 27), S. 81-99, hier S. 81. 178 Ebd., S. 83. 179 Gert Sautermeister: Klassische Novellenkategorien in der Restaurationszeit. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hg. v. Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 521-534, hier S. 522. 180 Hackert: Die Novelle, die Presse, Der Schimmelreiter, S. 89.

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das ein literarisches Gattungssystem gerne in Analogie zum Periodensystem der Elemente oder zur linnéschen Klassifikation gesehen hätte. Die geistesgeschichtlich orientierte Forschung lehnte zwar die Ausrichtung an den Naturwissenschaften ab; indem sie dafür den Anspruch erhob, das ›Wesen‹ einer Gattung nicht an formalästhetischen, ›äußerlichen‹ Merkmalen festzumachen, sondern es auf einer ›tieferen‹ Seinsebene zu bestimmen, hielt sie allerdings die Klassifizierungsforderung aufrecht, wobei sich die vorgeblichen ›Seinsmerkmale‹ der Novelle meist als Ontologisierung der bekannten formalästhetischen Elemente (vom Wendepunkt bis zur Rahmung) erwiesen. Sowohl der positivistische als auch der geistesgeschichtliche Novellendiskurs verhalten sich damit analog zu den Prozessen der Subjekts- und Identitätsbildung, wie sie Michel Foucault beschrieben hat. Foucault zufolge bringen die juridischen Machtregime die Subjekte, die sie zu repräsentieren beanspruchen, erst selbst hervor; über Beschränkungen, Regulierungen, Verbote und Kontrolle wird das ›Subjekt‹ produziert und anschließend von derselben Ordnung, die es geschaffen hat, als naturalisierte Grundvoraussetzung ausgegeben – mit dem Ziel, die Hegemonie dieser Ordnung zu legitimieren.181 Hier sei eine selektive Adaption der Foucaultschen Theorie erlaubt: Denn auch der novellentheoretische Diskurs, wie er seit dem späten 19. Jahrhundert und bis weit in die fünfziger Jahre hinein geführt wurde, versucht, seine normativen Idealvorstellungen als deskriptiv gewonnenen Merkmalskatalog auszugeben und sie – durch Rückbezug auf eine angebliche ›Urform‹ – zu ontologisieren. Der damit gewonnene Gattungsbegriff ›Novelle‹ wiederum erweist sich als Schnittpunkt der verschiedensten Diskurse, deren meist dichotom strukturierte Ausschlussund Wertungskriterien ihn mitprägen; die genauere Untersuchung der klassizistischen Novellenproduktion wird zeigen, wie stark die Affinitäten zwischen dem literarischen Diskurs und dem nationalen, dem politischen oder dem Geschlechterdiskurs sind. Zweifellos sind die positivistischen wie die geistesgeschichtlich orientierten Bemühungen um den Novellenbegriff hinter ihren selbst gesetzten Zielen zurückgeblieben: Weder ist es gelungen, trennscharfe Kriterien für eine induktive Gattungsbestimmung zu entwickeln, noch war es möglich, den ontologischen Status, das ›Wesen‹ novellistischen Erzählens in einer zeitübergreifend gültigen Form zu erfassen. Vor allem der zuletzt genannte Anspruch ist nicht nur im Zuge poststrukturalistischer Kritik, sondern auch als Folge des heute etablierten historischen Gattungsverständnisses überholt; doch selbst, wenn man ihn aufrecht erhielte, bliebe als Widerspruch bestehen, dass die entsprechenden Autoren zwar scharfe Kritik an den gängigen, aus ihrer Sicht ›formalistischen‹ Termini der Novellentheorie übten, aber letztlich nicht auf sie verzichten konnten. Selbst in der Hochphase normativ orientierter Gattungsforschung wurden keine tragfähigen Alternativen zu den bekannten Begriff181 Vgl. z.B. Michel Foucault: Recht über den Tod und Macht zum Leben. In: Sexualität und Wahrheit.

Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Übersetzt v. Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt/M 1977, S. 159-190.

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lichkeiten entwickelt: So schlägt beispielsweise Schunicht zwar vor, »den Falken zu schlachten« und den Wendepunkt »aus der Nomenklatur der Gattungstheorie zu streichen«182, doch sein Versuch, alternative Wege in der Novellentheorie zu beschreiten, läuft rasch auf eine neue Paraphrase der älteren Schlagworte hinaus.183 Wo die bekannten Termini zu weltanschaulich fundierten Novellenkonzepten ausgebaut werden sollten, ist jedenfalls größere Vorsicht geboten als bei einer noch so einseitig formalistisch orientierten Merkmalssammlung. Ein Großteil der älteren Forschung ist schon deshalb von nur noch historischem Interesse, weil Begriffe wie beispielsweise ›Ich‹, ›Ordnung‹ oder ›Chaos‹ im modernen, durch Kontingenzerfahrung geprägten Bewusstsein fragwürdig geworden sind, zumindest eine massive Bedeutungsveränderung durchlaufen haben; dagegen glaubte noch Fritz Lockemann beispielsweise, einen Dualismus von »Ordnung« und »Chaos« mit solcher Sicherheit bestimmen zu können, als handle es sich hier um unanfechtbare, ontologisch fundierte Kategorien und nicht etwa um jeweils historisch zu bestimmende Realitätskonzeptionen von variablem und durchaus auch ideologischem Gehalt. Letzterer wird besonders deutlich angesichts einseitiger Parteinahme für die Ordnungsmächte und der Tendenz, im Zusammenbruch eines bestimmten Ordnungsmusters den Zusammenbruch aller Ordnung und allen Sinns zu perhorreszieren; über diese undifferenzierte Sehweise war schon Thomas Mann im Tod in Venedig deutlich hinausgegangen, als er Aschenbachs individuelle Katastrophe zugleich auch als Lusterlebnis inszenierte. Doch selbst wenn man epistemologische und ideologiekritische Fragen außer Acht lässt, bleibt festzuhalten, dass eine weltanschaulich fundierte Novellenkonzeption, wie sie bei Hermann Pongs, aber auch bei Josef Kunz oder Fritz Lockemann anzutreffen ist, einerseits vom Anspruch her überholt ist, andererseits auch bei immanenter Lektüre nie eine zwingende Verbindung zwischen den entworfenen Inhalten und einer spezifischen Novellenform herzustellen vermochte. Warum etwa sollten Lockemanns »Spannung zwischen Ordnung und Chaos«184 oder der von Josef Kunz fokussierte Konflikt zwischen dem »Gesetzlichen« und dem »Ungebändigten«185 nicht auch im Roman gestaltet werden können? Liegt der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft nicht dem Strukturschema des Bildungs- und Entwicklungsromans genauso deutlich zugrunde, wie er viele Novellen prägt? Sind die Judenbuche oder die schwarze Spinne in den gleichnamigen Novellen überzeugendere 182 Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 453 bzw. 445. 183 Vgl. in diesem Sinn schon die Kritik Polheims in: Polheim: Novellentheorie und Novellenfor-

schung, S. 64-66.

184 Lockeman: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle, S. 16. 185 Josef Kunz: Geschichte der deutschen Novelle vom 18. Jahrhundert bis auf die Gegenwart. In:

Deutsche Philologie im Aufriß. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Wolfgang Stammler. Bd. 2. Berlin 1954, Sp. 1739-1840, hier Sp. 1742. – Kunz’ Begriffswahl orientiert sich an Goethe, der in den Wahlverwandtschaften, kurz bevor der Lord die Novelle mit dem Titel Die wunderlichen Nachbarskinder erzählt, vom »Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurteils« spricht (MA 9, S. 474).

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oder zentralere Symbole als der Zauberberg oder das Glasperlenspiel in den umfangreichen Romanen von Thomas Mann und Hermann Hesse? Können die »Rolle des Zufalls« und gar das »Stilprinzip der Ironie«186 als novellenspezifische Merkmale gefasst und so von ihrem doch unbestrittenen Vorkommen in Romanen und anderen Prosaformen unterschieden werden? Keine der genannten Eigenschaften taugt wirklich zu einer induktiven Gattungsbestimmung, da die zwingende, spezifische und exklusive Verbindung zur Novellenform nicht herzustellen ist: »Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, Ordnung und Chaos, Schicksal und Freiheit, Verantwortung und Anonymität, Orientierung und Entfremdung und wie sie sonst noch heißen mögen – das alles kommt auch jenseits der Novellen-Berge vor und meint allgemeine Tendenzen der Erzählliteratur überhaupt«.187

3. Kommunikationsmodell der Novelle Nach der weitgehenden Verabschiedung normativer Gattungsparadigmen188 ist daher nur noch die Zähigkeit zu bewundern, mit der eine geringe Zahl von Begriffen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten die novellentheoretische Diskussion dominiert. Fraglos sind die Bemühungen der positivistischen wie der geistesgeschichtlichen Novellenforschung insofern folgenreich gewesen, als die hergebrachten Positionen im Bemühen um die Gattungsnorm und das ›Wesen‹ der Novelle immer wieder neu gelesen, erweitert, uminterpretiert, in jedem Fall aber im Bewusstsein festgeschrieben wurden als unhintergehbare Bestandteile eines novellentheoretischen Diskurses. Indem sie vor allem die ältere Novellenliteratur interpretierend auf den Begriff bringen wollte, hat die Forschung dazu beigetragen, einen Wort- und Vorstellungsschatz zu etablieren, der auf die neuere Novellenproduktion zurückwirkt und dort im Rahmen der Autor-Leser-Kommunikation als Code funktioniert. Auf diese Weise haben sich die viel gescholtenen Schlagworte als Bezugspunkte in einem kommunikativen System zwischen Autoren, Theoretikern, Wissenschaftlern und Lesern bewährt; sie avancierten »zu Begriffen, die eine Werkreihe zur Gattung organisieren«189, und noch die schärfsten Kritiker ihrer Verwendung sorgten durch 186 Benno von Wiese: Vom Spielraum des novellistischen Erzählens. In: Ders.: Die deutsche Novelle

von Goethe bis Kafka. Bd. 2. Düsseldorf 1962, S. 9-25, hier S. 20. 187 Hugo Aust: Unterhaltungen deutscher Lehrenden über Poetik, Geschichte und Gegenwart der

Novelle (Goethe – Benn – Perutz). In: »Hinauf und Zurück/in die herzhelle Zukunft«. Deutschjüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Birgit Lermen. Hg. v. Michael Braun, Peter J. Brenner, Hans Messelken, Gisela Wilkending. Bonn 2000, S. 83-106, hier S. 88f. 188 Als weitgehend isolierte ›Nachzügler‹ normativer Novellenauffassung kann man Henry Remaks Studie Novellistische Struktur: Der Marschall von Bassompierre und die schöne Krämerin (Bassompierre, Goethe, Hofmannsthal). Essai und kritischer Forschungsbericht (Bern 1982) sowie die mit der literaturwissenschaftlichen Novellendiskussion kaum zu vereinbarende Arbeit von Pötters (Begriff und Struktur der Novelle) betrachten. Vgl. die Kritik an diesen Forschungsbeiträgen durch Aust: Novelle, S. 48f. 189 Aust: Novelle, S. 16.

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ihre Ablehnung dafür, diesen kommunikativen und hochgradig intertextuell bestimmten Prozess fortzusetzen. Damit behalten die vielgenannten Novellenmerkmale ihre Bedeutung, nicht weil sie tatsächlich konstitutiv für eine ontologisch zu denkende Urform der Novelle wären, sondern weil sie so oft als novellentypisch kommuniziert wurden, dass sie bei der Betrachtung der Gattung nicht mehr außen vor gelassen werden können – die Ergebnisse der traditionellen Novellentheorie bleiben brauchbar, sobald sie von ihren ontologisierenden Intentionen getrennt und gewissermaßen konstruktivistisch reformuliert werden. In diesem Sinne lässt sich ein Kommunikationsmodell der Novelle entwerfen, dessen Funktionieren sich im Wesentlichen daraus erklärt, dass die Literaturwissenschaft, der Deutschunterricht und in besonderem Maße auch metatextuelle Vermittlungsinstanzen wie Vorworte, Klappentexte und Rezensionen den novellentheoretischen Wortschatz seit Goethe beständig im Bewusstsein gehalten und semantisch derart aufgeladen haben, dass ein moderner Autor, sobald er durch die explizite, paratextuelle Bezeichnung als ›Novelle‹ den entsprechenden Kommunikationsrahmen setzt, das ›Gattungshafte‹ seines Textes über die etablierten Merkmale und Begrifflichkeiten kommunizieren kann im Vertrauen darauf, dass die entsprechenden Signale von den Lesenden verstanden und zugeordnet werden können. Zuordnung und Bewertung bestimmter, über etablierte Begrifflichkeiten transportierter Novellenmerkmale werden vom Autor dahingehend antizipiert, ob sie die Gattungsvorstellungen der Rezipienten stabilisieren, desautomatisieren oder auch nachhaltig irritieren. ›Die Novellenform‹ wird dabei nicht als etwas substantiell Seiendes verstanden, sondern als ein akzidentelles, kommunikativ erzeugtes, durch das Vorwissen von Autor und Leser ermöglichtes Phänomen, das weder den vollständigen Merkmalspool traditioneller Novellendefinitionen aufweisen muss noch über sich selbst hinausweisende normative Ansprüche erhebt. Das Kommunikationsmodell der Novelle ist dabei in Analogie zum allgemeinen Kommunikationsmodell des Erzähltextes zu verstehen, wie es von Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter ausdifferenziert wurde.190 Als theoretische Grundlage der Textinterpretation hat sich dieses Modell in den letzten Jahren bewährt und dabei auch immer wieder seine Anschlussfähigkeit an neuere Theorieströmungen unter Beweis gestellt.191 Wie das ›Gattungshafte‹ auf verschiedenen Kommunikationsebenen vermittelt werden kann, sei im Folgenden näher und unter Verwendung der bei Kahrmann, Reiß und Schluchter entwickelten Kriterien und Begriffe ausgeführt. Grundlegende und rezeptionssteuernde Funktion kommt zunächst der »Ebene des Autorbewußtseins im Text« zu, die Kahrmann/Reiß/Schluchter als »Kommuni190 Vgl. Cordula Kahrmann/Günter Reiß/Manfred Schluchter: Erzähltextanalyse. Eine Einführung.

Mit Studien- und Übungstexten. Weinheim 41996 [11986].

191 Vgl. etwa die systemtheoretisch orientierte Reformulierung durch Oliver Sill: Literatur in der funk-

tional differenzierten Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phänomen. Wiesbaden 2001, S. 165-175.

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kationsniveau 3« definieren. »Autorbewußtsein im Text« wird dabei als »Integrationspunkt und Voraussetzung für die Generierung einer Gesamthypothese zur Bedeutung des Textes, ausdrückbar als Erzählkonzept«192 verstanden. »Merkmale, die den Text als Ganzes konturieren«193, erlauben Rückschlüsse auf die Intentionen des realen Autors; dazu gehört auch die Wahl der Gattungsbezeichnung, die bestimmte Vorstellungen impliziert und beim Leser aufruft. Dass schon der Terminus ›Novelle‹ im Deutschen stärker als in anderen Sprachen als Kommunikationssignal fungiert, belegt übrigens die Tatsache, dass er, wo er im Original zum Haupttitel gehört, in Übersetzungen meist vermieden wird: In der englischsprachigen Welt etwa heißt Schnitzlers Traumnovelle im Haupttitel Rhapsody, Bruno Franks Politische Novelle erschien unter dem Titel The Persians are coming, Stefan Zweigs Schachnovelle als The Royal Game und Louis Fürnbergs Mozart-Novelle als Mozart in Prague.194 Wo der Terminus ›Novelle‹ als Bestandteil von Titel oder Untertitel genannt wird und weitere Merkmale wie ein entsprechender Textumfang, ein typischer Aufbau, die Verwendung einer bestimmten Erzählsituation oder die Bevorzugung bestimmter Motive hinzutreten, wird das ›Gattungshafte‹ des jeweiligen Textes bereits auf der Ebene des Autorbewusstseins im Text vermittelt. Dem Kommunikationsniveau 3 sind die Kommunikationsniveaus 1 und 2 funktional und hierarchisch untergeordnet: Denn es ist die Ebene des Autorbewusstseins im Text, von der die Entscheidungen ausgehen, die sich in der Konstitution sowohl der fiktiven Figurenwelt (N1) wie auch des fiktiven Erzählers (N2) ausdrücken. Wie die Vermittlung des ›Gattungshaften‹ auf den Kommunikationsniveaus 1 und 2 aussehen kann, sei an Beispielen erläutert: (1) In Katz und Maus von Günter Grass empört sich der Oberstudienrat Klohse über den Diebstahl eines Ritterkreuzes an seiner Schule unter anderem mit folgenden Worten: »Unerhörtes habe sich zugetragen und das in schicksalhaften Zeiten, da alle zusammenhalten müßten«.195 Diese Äußerung bewegt sich auf der Ebene der erzählten Figuren: Eine erzählte (sendende) Figur – der Lehrer – wendet sich an erzählte (empfangende) Figuren – die Schüler – und teilt ihnen in einer bestimmten syntaktischen Form etwas mit (dass die indirekte Rede die Vermittlung durch einen fiktiven Erzähler signalisiert, ist dabei nebensächlich). Unter den erzählten Figuren werden die gewählten Worte vermutlich nur als Umschreibung des Sachverhalts hingenommen196; der reale Leser jedoch, an 192 Kahrmann/Reiß/Schluchter: Erzähltextanalyse, S. 47. 193 Ebd., S. 83. 194 Laut Hoffmeister hat der Terminus ›novella‹ in der amerikanistischen, anglistischen und komparatis-

tischen Forschung der englischsprachigen Länder erst »seit den 60er Jahren an Respektabilität und begrifflichem Profil gewonnen«, und das fast ausschließlich auf dem Gebiet der literaturwissenschaftlichen Analyse, nicht als gebräuchliche paratextuelle Gattungsbezeichnung. Vgl. Hoffmeister: Die deutsche Novelle und die amerikanische »Tale«, S. 35. 195 Günter Grass: Katz und Maus. Eine Novelle. In: Ders.: Katz und Maus. Eine Novelle. Hundejahre. Roman. Hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 3), S. 5-140, hier S. 86. 196 Dieser Punkt ist im speziellen Fall besonders heikel: Zwar gibt es kein Indiz, dass die erzählten

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bestimmte Begrifflichkeiten der Novellentheorie seit Jahrzehnten gewöhnt, wird zumindest im ›Unerhörten‹ ein deutliches Signal für den Gattungsdiskurs entdecken, der an dieser Stelle mitvermittelt wird als Anspielung auf Goethes ›unerhörte Begebenheit‹ – besonders Kundige könnten sogar die Betonung des ›Schicksalhaften‹ noch im Kontext der Novellentheorie sehen, aber so weit muss der Interpret hier gar nicht gehen. Da auch der reale Autor Grass weiß, wie stark das Wort ›unerhört‹ von dem Augenblick an semantisch aufgeladen ist, in dem er seinen Text (auf Kommunikationsniveau 3) als ›Novelle‹ tituliert, darf davon ausgegangen werden, dass Grass ein entsprechendes Aufmerken des Rezipienten antizipiert und, zunächst im Hinblick auf den abstrakten, intendierten Leser, den Begriff ›unerhört‹ intentional verwendet hat, um den realen Leser zu erreichen. (2) Das Kommunikationsniveau 2 bezeichnet die Ebene der erzählenden Figuren. Sender ist hier der »fiktive Erzähler«; dieser ist »als erzählende Figur keine autonome Größe«, sondern wird als figurale Instanz des Textes konstituiert. Welche Erzählsituation – in den eingeführten Begriffen Franz K. Stanzels: auktorial, personal oder IchErzählung197 – dabei gewählt wird, spielt im Rahmen des Modells keine Rolle, kann aber bei der praktischen Textanalyse Berücksichtigung finden. Zwei Beispiele für die Kommunizierung von ›Gattungshaftem‹ auf N2 seien angeführt: (2.1) Uwe Timms Novelle Die Entdeckung der Currywurst endet damit, dass der IchErzähler der Rahmenhandlung einen Zettel in die Hand nimmt, auf dessen Vorderseite (wahrscheinlich) das Originalrezept der ersten Currywurst steht; auf der Rückseite ist »das Stück eines Kreuzworträtsels zu sehen«: »Einige Buchstaben ergeben keinen Wortsinn, andere kann man ergänzen […]. Fünf Wörter aber sind noch ganz zu lesen: Kapriole, Ingwer, Rose, Kalypso, Eichkatz und etwas eingerissen – auch wenn es mir niemand glauben wird – Novelle«.198 Hier wird der Gattungsbegriff ›Novelle‹ geschickt und zugleich in voller Abstraktion auf der Ebene der erzählenden Figuren vermittelt: Der fiktive Ich-Erzähler wendet sich an textimmanente Adressaten – »auch wenn es mir niemand glauben wird« –, erreicht aber letzten Endes natürlich den konkreten Rezipienten; dem Autor wiederum ist es ganz nebenbei gelungen, durch die Verwendung des Terminus ›Novelle‹ als Schlusswort seinem in vielfältiger Weise auf die Gattungstradition alludierenden Text das zu geben, was Fontane einmal in einem anderen Zusammenhang als »rundere Rundung«199 bezeichnet hat. Figuren sich hier im Sinne einer Durchbrechung der Fiktionsebene über Novellenspezifisches austauschen; doch immerhin hat Grass zumindest in Bezug auf seinen Ich-Erzähler schon auf den ersten Seiten des Textes einen vergleichbaren Fiktionsbruch riskiert, indem er Pilenz sagen lässt: »Der uns erfand, von berufswegen, zwingt mich [zu schreiben]« (S. 6). Damit kann nicht einmal die hintergründige (und zugegebenermaßen hochspekulative) Lesart, dass Klohse hier den erzählten Figuren vermittelt, sie befänden sich mitten in einer Novelle, vollkommen ausgeschlossen werden. 197 Vgl. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964 (121993), sowie weitere Schriften des Autors, die das dort entwickelte Modell ausdifferenzieren und variieren (z.B. ders.: Theorie des Erzählens. 4., durchges. Auflage Göttingen 1989). 198 Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst. Novelle. Köln 1993, S. 221. 199 Fontane bezog sich mit dieser Vorstellung auf seinen (nebenbei als ›Novelle‹ figurierenden!) ersten

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(2.2) Gert Hofmann verwendet novellenspezifisches Vokabular als Bestandteil der auktorialen Erzählerrede in seiner Novelle Casanova und die Figurantin. Schon im ersten Satz heißt es: In einem kürzlich ans Licht gekommenen Brief an den Portugiesischen Gesandten Da Silva schreibt der Fürst von Ligne (1735-1814) über seinen Freund Giacomo Casanova (1725 bis 1798) unter anderem, wie dieser an einem bestimmten Punkt seines Lebens eine bestimmte unheimliche Begegnung gehabt habe, die sein Leben gewiß geändert hätte, wenn sein Leben an diesem Punkt noch zu ändern gewesen wäre.200

Auf den Folgeseiten wird »die erwähnte unheimliche Begegnung« noch mehrfach herausgestrichen, als »ganz außergewöhnliche Begegnung«, »etwas ganz Einmaliges«201 und schließlich als »die unerhörte Begegnung«202 umschrieben, letzteres wiederum durch Kursivschrift hervorgehoben. Damit ist der Goethe-Bezug zweifelsfrei hergestellt, während die Erwähnung des »Punktes« im ersten Satz auf Tiecks WendepunktTheorie anspielt – wenn auch in ironisch negierter Form: die angesprochene Begegnung hätte einen ›Wendepunkt‹ in Casanovas Leben bedeutet, wenn dieses Leben »noch zu ändern gewesen wäre«. Die Mittelpunktstellung einer Begegnung, die Berufung des Erzählers auf ein authentisches Dokument (das seinerseits auf einen mündlichen Bericht Casanovas zurückzugehen behauptet), der durch Nachstellung der Lebensdaten erhobene Authentizitätsanspruch, die Betonung der ›Neuheit‹ einer Episode, die sich zwar im 18. Jahrhundert ereignet, aber erst durch einen »kürzlich ans Licht gekommenen Brief« bekannt wurde, wären weitere, etwas weniger direkte Mittel, mit denen Hofmann bekannte Inhalte der Novellentheorie im Leserbewusstsein wachruft. Kahrmann, Reiß und Schluchter unterscheiden die Kommunikationsniveaus N1 bis N3 als textinternen Bereich von zwei weiteren, textexternen Bereichen N4 bis N5.203 Diese beziehen sich auf die Produktion bzw. Rezeption des Erzählwerks. Bezogen auf ein Kommunikationsmodell der Novelle wären hier auf der Produktionsseite vor allem Selbstinterpretationen des realen Autors zu berücksichtigen, Äußerungen, die sich auf seinen Gattungsbeitrag, den Novellenbegriff im Allgemeinen oder das Verhältnis zur Tradition und bestimmten Vorbildern beziehen. Als Beispiel sei ein Auszug aus einem Werkstattgespräch zitiert, das Manfred Durzak mit dem Autor Uwe Timm, unter anderem über dessen Novelle Die Entdeckung der Currywurst geführt hat:

200 201 202 203

Berliner Gesellschaftsroman L’Adultera (1880) und auf das darin verwendete Motiv des titelgebenden Tintoretto-Gemäldes, das sowohl am Anfang als auch am Ende des Romans erwähnt wird und so den Text »kunstgemäß (Pardon)« abrundet. Vgl. die Äußerungen in den Briefen an Julius Grosser vom 4.4.1880 und an Salo Schottländer vom 11.9.1881 in: Dichter über ihre Dichtungen: Theodor Fontane. Hg. v. Richard Brinkmann und Waltraud Wiethölter. München 1973. Bd. 2, S. 263f., 266. Gert Hofmann: Casanova und die Figurantin. In: Ders.: Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen. Salzburg, Wien 1981, S. 41-93, hier S. 41. – Hervorhebung im Original. Ebd., S. 42. Ebd., S. 56. Vgl. Kahrmann/Reiß/Schluchter: Erzähltextanalyse, bes. S. 48.

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Einleitung Ich muß hier gar nicht betonen, die Novelle hat eine lange Tradition, und ich kann mich an meine Studienzeit entsinnen, eigentlich konnte niemand so recht sagen, was denn eine »Novelle« sei. Kurz soll sie sein, eine, wie Goethe gesagt hat, unerhörte Begebenheit, Motive soll sie haben, Dingsymbolik, einen Falken und was weiß ich. Totgesagt wurde sie wie der Roman, aber sie ist sonderbarerweise putzmunter. […] Mich interessierte zunächst einmal das, was die Gattungsbezeichnung ursprünglich meinte, Novelle im Sinn von einer kleinen Neuigkeit. Also gerade das beiläufig Alltägliche. Die Currywurst ist ja etwas sehr Alltägliches, wie die gesamte Situation, in der sie gegessen wird. Der Stehimbiß. Aber ihre Entdeckung ist eine unerhörte Begebenheit gewesen. Und zwar im doppelten Sinn des Wortes als »unglaublich« wie auch als »noch nie gehört«.204

Belegt dieses Zitat zum einen die Bewusstheit, mit der der gelernte Literaturwissenschaftler Timm die gattungstypischen Momente handhabt – trotz der schon im Studium bezogenen Erkenntnis, dass eine normative Novellendefinition nicht möglich ist – so zeigt es zugleich, dass die erkenntniskritische Skepsis gegenüber diesen Merkmalen ihrer Verwendung und produktiven Neudeutung nicht im Wege steht. Die Kommunizierung des Gattungsbegriffs über den literarischen Text hat insofern funktioniert, als Äußerungen konkreter Leser genau diese Aspekte wiederum fokussieren und ihre Rezeption daran ausrichten. Als Beleg sei aus einer Rezension der Neuen Zürcher Zeitung zitiert: »Uwe Timm hat als Literaturwissenschaftler natürlich gewusst, was aus theoretischer Sicht von einer Novelle erwartet wird: das innerhalb einer Rahmenhandlung thematisierte Erzählen, die Darstellung eines ›unerhörten Ereignisses‹ [!]«.205 Vom ungenauen Goethe-Zitat abgesehen ist hier ein geradezu mustergültig aufgehender Kommunikationsprozess zu beobachten, in dem wesentliche Momente dessen, was der Sender übermitteln wollte, vom Empfänger mühelos dekodiert wurden. Die Rezension, metatextuelles Dokument der konkreten Lektüreerfahrung einer einzelnen (wenn auch geübten und professionellen) Leserin, steuert ihrerseits die weitere Rezeption, genauso wie etwa der Text des Rückumschlags, der in seiner Inhaltsangabe gleichfalls nach wenigen Zeilen die Aufmerksamkeit auf Novellentypisches fokussiert: »Und dann erweist sich die so alltäglich beginnende Geschichte doch als eine unerhörte Begebenheit …«.206 Zusammenfassend kann zu dem Versuch, ein Kommunikationsmodell der Novelle zu skizzieren, festgehalten werden: Wenn sich ein Autor nach 1945 bewusst dafür entschließt, einen Text als Novelle zu planen und explizit so zu benennen (statt etwa den neutraleren Terminus ›Erzählung‹ zu wählen oder einen gattungsbestimmenden Zusatz gänzlich auszusparen), ist zum einen davon auszugehen, dass das zugrunde gelegte Gattungsverständnis in wesentlichen Punkten durch die immer wieder neu interpretierten Zentralbegriffe der Novellentheorie mindestens ebenso 204 Manfred Durzak: Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm. In: Die Archäo-

logie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. v. Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln 1995, S. 311-354, hier S. 347f. 205 Gerda Wurzenberger: Wurstnovelle. Die Entdeckung der Currywurst von Uwe Timm. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.10.1993. 206 Vgl. die Rückseite der Taschenbuchausgabe (Kiepenheuer & Witsch 1995).

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stark bestimmt ist wie durch berühmte Vorgängertexte – und dass die Allusion auf bestimmte Vorstellungen und Strukturprinzipien wie etwa die ›unerhörte Begebenheit‹ oder den ›Falken‹ im Rahmen einer auf gemeinsamem Vorwissen basierenden Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser funktioniert bzw. auch funktionieren soll, das ›Gattungshafte‹ des Novellentextes also über bestimmte Textelemente als Kommunikat vermittelt wird, das die vom Autor vorgenommene Gattungsbestimmung erst mit Inhalt füllt und für den Leser verstehbar macht. Die geschilderte Offenheit des novellentheoretischen Wortschatzes für Neudeutung und Umakzentuierung trägt zur Attraktivität dieser kommunikativen Möglichkeiten bei und ist aus der Perspektive eines historisch orientierten Gattungsverständnisses – das ohnehin davon ausgeht, dass die Bezeichnung ›Novelle‹ zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen hat – positiv zu fassen. Selbstverständlich hängt die ästhetische Qualität einer Novelle nicht davon ab, »ob in ihr ein Wendepunkt oder ein Falke zu finden ist«207 oder nicht – ebenso wenig wie beispielsweise die bloße Verwendung des fünfaktigen Dramenaufbaus oder der Sonettform an sich etwas über den Rang des jeweiligen Textes aussagen. »Wir besitzen wertvolle Novellen mit und ohne ›Falken‹, mit und ohne ›Wendepunkt‹, mit und ohne ›Rahmen‹, mit und ohne ›Idee‹, ja sogar mit und ohne ›Leitmotiv‹. Sehr oft tritt dann eine Formmöglichkeit an die Stelle einer anderen«208, hat schon Benno von Wiese resümiert. Bei aller Variabilität jedoch trägt die Erkenntnis dieser Formelemente zum ›Sinn‹ des jeweiligen Werkes bei, das sich durch die Verwendung vorgeprägter Muster in einen Traditionszusammenhang stellt, in dem es nicht aufgeht, von dem es aber auch nicht gelöst werden darf. Begriffe wie etwa die ›unerhörte Begebenheit‹, der ›Wendepunkt‹ oder der ›Falke‹ (sowie ihre jeweiligen Umdeutungen und Erweiterungen in Theorie und Praxis) liefern nach wie vor einen brauchbaren terminologischen Rahmen; dieser darf allerdings nicht als Prokrustesbett verstanden werden, sondern als ein intertextuelles und kommunikatives Bezugssystem, in dem ein Novellentext vom Autor wie vom Leser situiert werden kann, ohne seinen ästhetischen Eigenwert zu verlieren.209 Nachdem der Anspruch, das ›Wesen‹ der Gattung zu definieren und vermeintlich trennscharfe Kriterien zu erarbeiten, als verfehlt zurückgewiesen werden kann, leitet sich die Legitimierung des Bezugssystems ›Novelle‹ allein aus sprachlicher Praxis und kommunikationeller Interaktion ab – und gewinnt damit durchaus ›postmoderne‹ Züge.210 Es geht nicht mehr um ›Wesen‹ und ›Wahrheit‹, sondern um 207 Darin besteht ein weiterer Vorbehalt Schunichts gegen die Konzentration auf diese Begrifflichkei-

ten, vgl. Schunicht: Der »Falke« am »Wendepunkt«, S. 437.

208 Von Wiese: Novelle, S. 11f. 209 So kommt z.B. auch Hugo Aust als einer der gegenwärtig besten Kenner der Gattungsgeschichte in

seiner Interpretation von sieben modernen Novellen im Wesentlichen mit den drei klassischen Fixpunkten der Novellentheorie aus. Vgl. Hugo Aust: Zur Entwicklung der Novelle in der Gegenwart. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Hg. v. Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1997 (= Stauffenburg Colloquium, 44), S. 81-95. 210 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1986, bes. S. 122ff.

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Sprachspiel und Performativität; und dieses grundsätzlich andere Verständnis sollte es nicht zuletzt ermöglichen, die bei normativen Gattungstheoretikern so häufig anzutreffende »Haßliebe zur Novelle«211 zu überwinden. So steht der positiv besetzte Begriff des Spiels im Vordergrund, wenn das erfolgreiche Kommunizieren des ›Gattungshaften‹ an ein bestimmtes, wenn auch durch seinen Schlagwortcharakter und die jahrzehntelange Ausdifferenzierung vergleichsweise allgemein gewordenes Vorwissen geknüpft ist. Mit den vertrauten Formen zu spielen, sie zu variieren und mit neuen Inhalten aufzuladen, ist für viele Autoren besonders der letzten Jahrzehnte eine zweifellos auch lustbesetzte Tätigkeit. Der intendierte Leser wird als Partner antizipiert, der bestimmte Elemente erkennt und zu seinem theoretischen Vorwissen wie zu früheren Novellenlektüren in Beziehung setzt; wer allerdings die Regeln nicht kennt, beherrscht auch das Spiel nicht und bleibt somit in gewissem Sinne außerhalb der Kommunikation. Wenn er jedoch ›das Novellistische‹ als einen spielerisch eingesetzten Code mit kommunikativer Funktion begreift, kann der Leser die Rolle des wissenden, vom Autor auf einer gemeinsamen Ebene angesprochenen Partners übernehmen – und dies als ebenso angenehme wie intellektuell bereichernde Kommunikationserfahrung verbuchen. Die folgenden Kapitel rekonstruieren, was in bestimmten Phasen des 20. Jahrhunderts mit dem Gattungsbegriff ›Novelle‹ vorrangig verbunden, wie er semantisiert und kommuniziert worden ist; dabei steht die konservativ-klassizistische Prägung der Gattung im frühen 20. Jahrhundert zwar einem ›spielerischen‹ Umgang mit Inhalten und Formen fern – doch gerade, indem sie bewusst zur Verfestigung bestimmter Vorstellungen beiträgt, liefert sie implizit auch die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Elemente des Novellendiskurses später als Versatzstücke funktionalisiert und in neue Kontexte gestellt werden konnten. Insofern kann die Novellen des späten 20. Jahrhunderts nicht verstehen, wer die populärsten Gattungsbeiträge des frühen 20. Jahrhunderts aus der literarhistorischen Reflexion auszuschließen versucht.

211 Cornelia Becher Cadwell: Generation und Genre. Ein Beitrag zur deutschen Novelle des 19. Jahr-

hunderts. Erlangen 1991 (= Erlanger Studien, 91), S. 38.

II. Klassizistische Novellentradition im 20. Jahrhundert

A. Theoretische und ideologische Grundlagen Schon für das späte achtzehnte Jahrhundert und verstärkt für das gesamte 19. Jahrhundert ist ein »terminologisches Chaos«1 festzustellen, wenn es um die Gattungsbezeichnung von kürzeren oder längeren Prosatexten geht. Der Begriff ›Novelle‹ ist in der zeitgenössischen Handhabung vage und vieldeutig, wird synonym verwendet mit ›Erzählung‹, ›Roman‹, ›Novellette‹, ›Bild‹, ›Capriccio‹, ›Idylle‹, ›Gemälde‹ oder ›Geschichte‹, allesamt Begriffe, die durch Hinzufügung von Epitheta ins nahezu Unendliche variiert werden können.2 Texte, die nach heutigem Verständnis schon von ihrem Umfang her als ›Romane‹ klassifiziert würden, tragen in ihren Erstdrucken den Untertitel ›Novelle‹3; umgekehrt wurden viele der von der Literaturwissenschaft im nachhinein als musterhaft und musterbildend deklarierten Gattungsbeiträge von ihren Autoren (etwa Heinrich von Kleist) keineswegs als ›Novellen‹ bezeichnet. Trotz der auf Normierung gerichteten Bemühungen, wie sie sich etwa in Heyses Deutschem Novellenschatz niederschlugen, hat sich diese »terminologische Liberalität oder Nachlässigkeit«4 auch über die Wende zum 20. Jahrhundert hinweg fortgesetzt. Quantitativ gesehen erschienen mehr Novellen denn je, was dem allgemeinen Anwachsen des literarischen Marktes entsprach; ein zwingender Zusammenhang zwischen der Gattungsbezeichnung und tatsächlich typischen, definierbaren Texteigenschaften war jedoch nach wie vor kaum herzustellen. Auch auf allen qualitativen Niveaus, bei männlichen und weiblichen Autoren, bei Debütanten und Etablierten, war die Gattungsbezeichnung anzutreffen, wie am Beispiel des willkürlich gewählten Jahres 1898 gezeigt werden kann: Unter den ausdrücklich als ›Novellen‹ ausgewiesenen Neuerscheinungen finden sich unter anderem Bände der beiden dreiundzwanzigjährigen Jungautoren Thomas Mann und Rainer Maria Rilke, des Altmeisters Paul Heyse und des jüngeren Klassizisten Ernst Hardt, der erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellerinnen Friederike Kempner und Ferdinande von Brackel sowie der ambitionierteren Clara Viebig.5 1 2 3 4 5

Meyer: Novelle und Journal, S. 106. Vgl. die Auswahlliste ebd., S. 107. Meyer nennt eine Reihe von Titeln, die über die kanonisierten Beispiele von Tiecks Der junge Tischlermeister oder Mörikes Malter Nolten hinausgehen, vgl. ebd., S. 23f. Ebd., S. 108. Vgl. Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann. Novellen. Berlin 1898; Rainer Maria Rilke: Am

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Fokussiert man lediglich die Texte, die sich als anspruchsvolle Literatur verstanden und als solche wahrgenommen werden wollten, so zeichnen sich bei aller Vielfalt der Novellenproduktion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert jedoch zwei grundsätzliche Richtungen ab, die sich auf den (wie auch immer zu fixierenden) Gattungsbegriff stark niederschlugen: Die eine ist mit den vielfältigen Strömungen zu assoziieren, die gemeinhin als ›literarische Moderne‹6 firmieren. Gerhart Hauptmann versieht seinen Bahnwärter Thiel 1888 mit dem Untertitel Novellistische Studie (wie ein Jahr zuvor schon John Henry Mackay seine Sammlung Schatten) und bringt den Begriff des Novellistischen damit in unmittelbare Verbindung zu einem neuen, am naturwissenschaftlichen Ideal der ›Studie‹ orientierten Literaturverständnis.7 Arthur Schnitzler verwendet die Novellen-Bezeichnung mit seltener Konsequenz für fast alle seine kleineren Prosatexte von Sterben. Novelle (1895) und Lieutenant Gustl. Novelle (1901) bis zur Traumnovelle (1926) und der Flucht in die Finsternis. Novelle (1931). Gerade im Zusammenhang mit der avancierten Erzähltechnik, die Schnitzler im Lieutenant Gustl (und später in Fräulein Else. Novelle, 1924) einsetzt, mag der Gattungsbegriff einerseits erstaunen: Der konsequent gehandhabte innere Monolog ist kaum vereinbar mit der Tatsache, dass die Novelle so oft mit einem ›objektivierten‹ Erzählen in Verbindung gebracht wird; auf der anderen Seite ist gerade diese Redeform besonders geeignet, einen psychischen Ausnahmezustand, »eine zugespitzte Krise des Sub-

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Leben hin. Novellen und Skizzen. Stuttgart 1898; Paul Heyse: Medea. Er soll dein Herr sein. Zwei Novellen. Stuttgart 1898; Ernst Hardt: Priester des Todes. 13 Novellen. Berlin 1898; Friederike Kempner: Novellen. Berlin 1898; Ferdinande von Brackel: Novellen. Stuttgart 1898; Clara Viebig: Vor Tau und Tag. Novellen. Berlin 1898. Der Begriff der ›Moderne‹ gehört zu den schwierigsten innerhalb der literaturwissenschaftlichen Diskussion; wo im Folgenden von ›Moderne‹ die Rede ist, wird der Bedeutungsrahmen bestimmt durch die bis heute imponierende begriffsgeschichtliche Analyse von Hans-Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosseleck. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93-131, sowie den stärker auf die ästhetische Dimension des Begriffs fokussierten Artikel von Cornelia Klinger: Modern/Moderne/Modernismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2002, S. 121-167. Eine breitere Darstellung der ästhetischen Moderne liefert Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. – Das überaus komplexe Verhältnis von ästhetischer Moderne und gesellschaftlicher Modernisierung und die daraus resultierenden Unschärfen der literaturwissenschaftlichen Begriffsverwendung beleuchtet besonders Anke-Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 32 (2007), H. 1, S. 1-15. Das weite Spektrum des literaturwissenschaftlichen Moderne-Diskurses dokumentiert darüber hinaus eindrucksvoll der Sammelband: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. v. Sabina Becker und Helmuth Kiesel unter Mitarbeit v. Robert Krause. Berlin, New York 2007; vgl. dort insbesondere den Beitrag von Walter Erhart, der, nach einem instruktiven wissenschaftshistorischen Überblick, für die Zukunft die »wechselseitige Erhellung von literaturwissenschaftlicher Moderne-Forschung und Gesellschaftstheorie« einfordert (Walter Erhart: Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte. In: Becker/Kiesel [Hg.]: Literarische Moderne, S. 145-166, hier S. 165). Vgl. zur Gattungsbezeichnung des Bahnwärter Thiel Aust: Novelle, S. 139f. sowie Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984, bes. S. 187f.

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jekts«8 zu gestalten – womit also ein anderes häufiges Bestimmungskriterium der Novelle erhalten und lediglich in eine neue erzähltechnische Handhabung überführt worden wäre. Auch Heinrich und Thomas Mann, Georg Heym und Gottfried Benn, Carl Sternheim und Alfred Döblin, Franz Kafka und Robert Musil verbinden – bei aller individuellen Unterschiedlichkeit und ungeachtet der Tatsache, dass vor allem Thomas Manns Der Tod in Venedig ohne weiteres geeignet ist, einer konsequenten Dichotomisierung von Klassizismus und ›Moderne‹ den Boden zu entziehen9 – den Novellenbegriff mit avancierten Aussageabsichten. Daneben bildet sich im frühen 20. Jahrhundert aber immer deutlicher eine konservativ-klassizistische Novellenproduktion heraus, die Erzählstrategien des 19. Jahrhunderts bewusst perpetuiert und das Bild der Gattung langfristig prägen sollte. Gälte nicht die Novelle generell als eine ›geschlossene‹ Form, die als solche von ›offeneren‹ Formen der Kurzprosa abgegrenzt wird10, so böte es sich angesichts dieser gattungsgeschichtlichen Situation an, eine ›offene‹ und eine ›geschlossene‹ Form innerhalb des Novellengenres zu unterscheiden: Die genannten Autoren wären dabei mit einer ›offenen‹ Variante der Novellenform zu identifizieren, während der bewusste Klassizismus der im Folgenden zu besprechenden Schriftsteller auf die Propagierung einer ›geschlossenen‹ (und daher in engeren Grenzen definierbaren) novellistischen Gestaltungsform hinausläuft.11 Klassizistische Ideale von ›Form‹ und ›Schönheit‹ erweisen sich dabei in vielfältiger Weise als anschlussfähig an kulturkritische, aber auch völkische und rassistische Konzepte.12 Der damit angesprochene Gegensatz zwischen zwei Flügeln der deutschen Literatur – einer ästhetisch avancierten, am europäisch-internationalen Standard orientierten, urban geprägten, politisch überwiegend ›linken‹ und einer traditionalistischen, Barbara Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«. Zur Psychopoetik der Hysterie in Schnitzlers Fräulein Else. In: Text + Kritik. Heft 138/39. Arthur Schnitzler. April 1998, S. 76-88, hier S. 86. 9 Hans Rudolf Vaget hat bereits 1973 nachgewiesen, wie sehr gerade Der Tod in Venedig durch Thomas Manns »sowohl einläßliche[s] als auch kritisch-distanzierende[s] Verhältnis zur Neuklassik« geprägt wurde, vgl. Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann und die Neuklassik. Der Tod in Venedig und Samuel Lublinskis Literaturauffassung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 432-454, hier S. 454. Ähnlich betont Walter Müller-Seidel, dass Mann im Gegensatz zu Ernst und Lublinski die Klassizität »nicht außerhalb der Moderne […], sondern in ihr« gesucht habe, vgl. Walter Müller-Seidel: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983, S. 13. 10 Vgl. zur Übernahme dieser kunstgeschichtlichen Grundbegriffe Wölfflins in Bezug auf die Novelle u.a. Grolman: Die strenge »Novellen«form, S. 159. 11 Vgl. in diesem Sinn auch Simone Winko: Novellistik und Kurzprosa des Fin de siècle. In: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus 1890-1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München, Wien 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 7), S. 339-349. 12 Vgl. zu diesem Phänomen auch Wolfgang Braungart: »die schönheit die schönheit die schönheit«. Ästhetischer Konservatismus und Kulturkritik um 1900. In: »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. v. Jan Andres, Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann. Frankfurt, New York 2007 (= Historische Politikforschung, 10), S. 30-55. – Als Ganzes fragt dieser instruktive Sammelband allerdings überwiegend nach den literaturgeschichtlich bedeutsamen ›konservativen‹ Autoren Stefan George, Rudolf Borchardt, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal sowie nach den Beziehungen zwischen ästhetischem Konservatismus und sich radikalisierender Moderne. 8

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deutsch-nationalen, regional orientierten, politisch überwiegend ›rechten‹ – ist zwar auch auf übergeordneten Ebenen zu erkennen und prägte in gesteigerter Form das spannungsreiche kulturelle Klima der Weimarer Republik; seinen deutlichsten Ausdruck fand er in den verbreiteten Kampfbegriffen einer »Asphaltliteratur« und einer »Literatur der Scholle« bzw., wie Alfred Döblin polemisch zuspitzte, einer »Literatur des total platten Landes«.13 Speziell auf die Novelle hat sich dieser Gegensatz jedoch stärker ausgewirkt als auf andere Gattungen; denn während etwa der Gattungsbegriff ›Roman‹ niemals von der einen oder der anderen Richtung gänzlich besetzt werden konnte, sondern traditionell erzählte Prosawerke genauso häufig bezeichnete wie experimentelle, fand sich der Terminus ›Novelle‹ zunehmend mit einer ästhetisch und politisch konservativen Schreibhaltung identifiziert. Diese konservative Besetzung des Novellenbegriffs wurde fraglos dadurch gefördert, dass viele ›moderne‹ Autoren spätestens seit den zwanziger Jahren die Auseinandersetzung mit Phänomenen der ›Masse‹ und der großstädtischen Lebenswelt als wesentliches Stimulans ihrer Produktion begriffen haben. Aus dieser Ausrichtung heraus erfuhr in erster Linie der Roman, auch und gerade der avancierte, montierte Roman, einen nochmaligen Bedeutungszuwachs; die Novelle als eine Erzählform, die traditionell mit der Darstellung von Einzelschicksalen und überschaubaren Lebensverhältnissen identifiziert wurde, schien vielen modernen Autoren dagegen weniger attraktiv und wurde insofern auch bewusst den traditionsorientierten Schriftstellern überlassen. Diese wiederum verstanden sich oft als ›Dichter‹ im emphatischen Sinne und grenzten sich von den sogenannten ›Literaten‹ ab; damit war ein Dualismus etabliert, dessen Struktur auch das zeitgenössische Novellenverständnis prägen sollte – indem nämlich die ›Novelle‹ ausgespielt wurde gegen eine bloße ›Erzählung‹. Die ›Novelle‹ war dabei auf der Seite der ›wahren‹, ›überzeitlichen‹, ›formbewussten‹, ›innerlich-gemüthaften‹, ›deutschen‹ ›Dichtung‹ anzusiedeln, während die ›Erzählung‹ der ›zeitwichtigen‹, ›modischen‹, ›formlosen‹, ›intellektuell-sachlichen‹, ›internationalen‹ ›Literatur‹ angehörte. Die Vehemenz, mit der solche »philiströsen Unterscheidungen zwischen ›Schriftstellern‹ und ›Dichtern‹«14 von den Vertretern der 13 Vgl. Asphaltliteraten und Dichter des total platten Landes. Der Streit in der Sektion für Dichtkunst

der Preußischen Akademie der Künste. In: Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Bearbeitet von Jochen Meyer. Marbacher Magazin 35/1985, S. 47-86; Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach den Dokumenten. München 1971; Werner Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen. Der Einfluß der nationalkonservativen Dichter an der Preußischen Akademie der Künste 1918 bis 1947. Berlin, Weimar 1992, bes. S. 95-130, sowie Ulrike Haß: Vom »Aufstand der Landschaft gegen Berlin«. In: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. Hg. v. Bernhard Weyergraf. München 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 8), S. 340-370. 14 So Erik Reger in seinem Aufsatz Die publizistische Funktion der Dichtung von 1931: »Wir machen auch die philiströsen Unterscheidungen zwischen ›Schriftstellern‹ und ›Dichtern‹ nicht mit, denn wir glauben nicht, daß ein Schriftsteller mit Intellekt jemals weniger wert ist als ein Dichter mit Seele […]« (jetzt in: Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 190-192, hier S. 192).

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Neuen Sachlichkeit zurückgewiesen wurde, bestätigt ihre diskursprägende Kraft ebenso wie das Ausmaß, in dem der Nationalsozialismus diese Schlagworte später adaptierte: »Wir wollen den Literaten nicht mehr, wir wollen den verantwortlichen, den Dichter«, hieß es etwa in einer der Reden zur Bücherverbrennung im Mai 1933.15

1. Die Funktionsweise klassizistischer Novellenauffassung ›Klassizistisch‹ ist das im Folgenden analysierte und an einzelnen Autoren überprüfte Novellenkonzept deshalb zu nennen, weil es sich über die »Absichtlichkeit, Klarheit und Strenge«16 definiert, mit der die im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ›klassisch‹ (im Sinne von musterhaft) definierten Novellenkriterien in der praktischen Produktion umgesetzt werden. Was der ›strengen‹ Form entspricht, gilt als gelungen, was ihr zuwiderläuft, als kunstlos, ja, wo es die Selbstbezeichnung als ›Novelle‹ beansprucht, sogar als destruktiv im Sinne der »Formzertrümmerung«.17 Man mag es als Vorzug klassizistischer Novellenauffassung bezeichnen, dass ihr an einer klaren Definition des Gattungsbegriffs gelegen ist; auf der Sollseite stehen jedoch die strikte Normativität, mit der dabei verfahren wird, der Exklusivitätsanspruch des eigenen Konzepts, der Versuch, den Novellenbegriff auf eine historisch bedingte Idealvorstellung dauerhaft festzulegen und die Unfähigkeit, davon abweichende Entwicklungen zunächst einmal wertneutral als Wandel statt als Dekadenzsymptom zu begreifen. Das Inadäquate dieses Anspruchs gegenüber den tatsächlichen Entwicklungen der Gattungsgeschichte ist offensichtlich, hat aber bis in die fünfziger Jahre hinein auch literaturwissenschaftliche Darstellungen beeinflusst. Die Funktionsweise klassizistischer Novellenauffassung in Theorie und Praxis lässt sich am besten veranschaulichen, wenn man dieses Gebiet als pars pro toto für die Funktionsweise des Kunstsystems im Sinne Niklas Luhmanns betrachtet.18 Luhmanns Überlegungen sind dabei in vielfältiger Weise anschließbar an literaturtheoretische Paradigmen vom Strukturalismus über die Rezeptionsästhetik bis zur Intertextualität19; ihre sinnvolle Adaption macht es trotzdem nötig, sich mit dem system15 So der Bonner Germanistik-Ordinarius Hans Naumann in seiner Rede zur Bücherverbrennung, vgl.

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den Neudruck in Gerhard Sauder (Hg.): Zum 10. Mai 1933. Die Bücherverbrennung. München, Wien 1983, S. 250-254, hier S. 252. Aust: Novelle, S. 162. Grolman: Die strenge »Novellen«form, S. 160. Aus Luhmanns umfangreichen Œuvre haben im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Adaption am meisten Beachtung gefunden: Ist Kunst codierbar? In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3. Opladen 1981, S. 245-266; Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M. 1986, S. 620-672; Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995. Ein Berührungspunkt mit der Intertextualitätstheorie liegt etwa auf der Hand, wenn Luhmann die Selbstbezüglichkeit und nicht-mimetische Funktionsweise des Kunstsystems betont oder auch die Auffassung André Malrauxs zitiert, der Künstler orientiere sich nicht an den Objekten, sondern an

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theoretischen Blick auf Literatur wenigstens ansatzweise vertraut zu machen.20 Die Zuspitzung auf einen (am Ganzen des Kunstsystems gemessen) verschwindend kleinen Teilbereich wie den der klassizistischen Novellenproduktion könnte dabei sogar geeignet sein, die Funktionsweise des Kunstsystems überzeugender zu illustrieren als das auf der von Luhmann bevorzugten allgemeinen Ebene möglich ist. Luhmann definiert die Gesellschaft und ihre Teilsysteme (terminologisch an die Biologen Humberto R. Maturana und Francisco Varela anschließend) als ›autopoietische Systeme‹: Diese Systeme produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen. Es handelt sich mithin um selbstreferentiell-geschlossene Systeme, oder genauer, um Systeme, die ihr Umweltverhältnis auf zirkulär-geschlossene Operationsverknüpfungen stützen. Es geht bei dieser Art von Selbstreferenz nicht nur um Reflexion: nicht nur darum, daß das System seine eigene Identität beobachten und beschreiben kann. Sondern alles, was im System als Einheit funktioniert, erhält seine Einheit durch das System selbst, und das gilt nicht nur für Strukturen und Prozesse, sondern auch für die einzelnen Elemente, die für das System selbst nicht weiter dekomponierbar sind.21

Die spezielle Struktur der modernen Gesellschaft ermöglicht es ihr, funktionsbezogene autopoietische Teilsysteme wie etwa das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem oder das Kunstsystem auszubilden. Was die übergeordnete Ebene prägt, wirkt sich auch in Subsystemen und in einzelnen Bereichen dieser Subsysteme aus; insofern ist es legitim, die von Luhmann im Hinblick auf das gesamte Kunstsystem beobachteten Prozesse an Segmenten des Systems nachzuweisen – etwa an Gattungen, die zwar »keine eigenen autopoietischen Systeme« bilden, aber »ganz offensichtlich die Autopoiesis der Kunst [erleichtern], indem sie limitiertes und trainiertes Beobachten einschließlich des Erkennens überraschender, aber einleuchtender Abweichungen von Formvorgaben ermöglichen«.22 Was Kunst ist und wie sie zu bewerten sei, ergibt sich aus zirkulären Definitionen. Dabei sichern die Kunstwerke generell »ein Mindestmaß von Einheitlichkeit den Vorgängern (vgl. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 626); daneben bezieht sich Luhmann auch öfter auf die russischen Formalisten (vgl. z.B. Die Kunst der Gesellschaft, S. 90, Anm. 121). 20 Wie systemtheoretische Ansätze für die Literaturwissenschaft nutzbar gemacht werden können, reflektieren u.a. die folgenden Sammelbände: Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Hg. v. Henk de Berg und Matthias Prangel. Tübingen 1995; Systemtheorie und Hermeneutik. Hg. v. Henk de Berg und Matthias Prangel. Tübingen 1997; Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Hg. v. Gerhard Plumpe und Niels Werber. Opladen 1995; Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. Opladen 1993. Darüber hinaus ist besonders auf die Arbeit von Oliver Sill zu verweisen, weil sie die Anschlussfähigkeit der Systemtheorie an die Textwissenschaft betont, statt die germanistische Tradition einem forcierten Innovationsanspruch aufzuopfern; vgl. Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. – Als Überblicksartikel empfiehlt sich Harro Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. v. Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990, S. 201-217. 21 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 620. 22 Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 90, Anm. 121.

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und Wechselbezüglichkeit […] der auf sie bezogenen Kommunikation«.23 Für die Anfertigung, Rezeption und Beurteilung klassizistischer Novellen gilt diese Beobachtung in forcierter Form.24 Wenn der nach bestimmten Kriterien produzierte Text in einer von den gleichen Kriterien gelenkten Rezeption wahrgenommen wird, kann man am vereinfachten Modell bestätigt finden, was Luhmann über die allgemeine Funktionsweise des Kunstwerks aussagt – nämlich dass es die Kommunikation vereinheitlicht, die Beliebigkeit der absehbaren Einstellungen ihm gegenüber reduziert und die Erwartungen reguliert. »Man erfährt das eigene Erleben als geführt« und das Kunstwerk als »Kommunikationsprogramm«25; insbesondere wenn der Rezipient den Erwartungshorizont und die Maßstäbe des klassizistischen Novellenkonzepts teilt oder zumindest kennt, erfolgt keine Irritation des Systems. Als (klassizistischer) »Stil« wird dabei erkennbar, was der jeweilige Text anderen Texten verdankt, und was er für weitere, neue Texte bedeuten kann.26 »Stil« im Sinne Luhmanns wirkt als Regulativ gegenüber dem seit dem 18. Jahrhundert verstärkt erhobenen Originalitätspostulat. Im speziellen Fall der klassizistischen Novellenkonzeption liegt allerdings ein immanenter Widerspruch darin, dass zwar bestimmte Formelemente fixiert werden, zugleich aber die Vorstellung einer Regelkunst, einer rezept- und anleitungsorientierten Kunstproduktion, auf vehemente, aus dem Festhalten am genieästhetischen Dichtungskonzept gespeiste Ablehnung stößt. Trotzdem prägt ihr Form- und Regelbewusstsein das Selbstverständnis der klassizistischen Novellenautoren in dem Sinn, dass sie sich vorrangig an ein Lesepublikum wenden, dem sie genügend ›Bildung‹ attestieren, um die eigene Leistung würdigen zu können. »Die zwölf Stücke dieser Sammlung sind Novellen«, schreibt etwa Wilhelm Schäfer im Vorwort zu einer Auswahlausgabe seiner Werke, »sie erheben den Anspruch, als solche betrachtet zu werden, und setzen eine bessere Kenntnis der novellistischen Form voraus, als sie heute geläufig ist«.27 Nur, wer aufgrund seiner Vorbil23 Ders.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 627. 24 Im Folgenden werden Ästhetik, Literaturkritik und Literaturwissenschaft mit Luhmann als Bestand-

teil des Literatursystems gesehen, obwohl gerade dieser Punkt von Luhmanns Konzept häufig kritisiert wurde; so lehnen es etwa Gerhard Plumpe und Niels Werber entschieden ab, ästhetische und literaturwissenschaftliche Reflexion über Texte als Selbstreflexion des Kommunikationssystems ›Literatur‹ zu betrachten: In ihrer Operationalisierung der Systemtheorie sind Ästhetik/Literaturwissenschaft und Literatur füreinander Umwelt. Vgl. Gerhard Plumpe/Niels Werber: Kunst ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. Opladen 1993, S. 9-43. – Nicht übernommen wird im Folgenden jedoch Luhmanns Trennung von ästhetisch hochwertiger Literatur, die er im Rahmen des Sozialsystems ›Kunst‹ analysiert, und Unterhaltungsliteratur, die er zu den ›Massenmedien‹ rechnet (vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage Opladen 1996). Sill verweist zu Recht auf die Fragwürdigkeit dieser Aufteilung und spricht von einer »fatalen Nähe insbesondere zu Adornos normativem Literaturverständnis und der von ihm behaupteten Antithesis Kunst vs. Kulturindustrie« (Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 118). 25 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 628. 26 Ebd., S. 632. 27 Wilhelm Schäfer: Vorwort. In: Ders.: Novellen. München 1943, S. 5-9, hier S. 5.

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dung die ›Klassik‹ bzw. die Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts kennt und in der für das deutsche Bildungsbürgertum typischen Art und Weise schätzt28, scheint damit geeignet, ›klassizistische‹ Qualitäten zu erkennen. Für diese spezielle Schicht wurden die klassizistischen Novellen geschrieben und erfolgreich wurden sie in dem Maße, in dem eine immer größer werdende Zahl von Lesenden ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eben auch durch die Lektüre und positive Aufnahme dieser Texte unter Beweis stellen wollte29 – ein weiterer Zirkel, der es unmöglich macht zu entscheiden, ob das klassizistische Novellenkonzept die soziale Resonanz bestimmt oder ob das entsprechend gelagerte Interesse des gebildeten Bürgertums eine klassizistische Ästhetik befördert. Der klassizistische Stil erweist sich hier »als Kontaktebene zwischen Kunstsystem und gesellschaftlicher Umwelt«30, was das Beharren auf ästhetischer Autonomie und das Zurückweisen von Anforderungen der Umwelt ebenso mit einschließt wie das Eingehen auf bestimmte Interessen eines bestimmten Publikums. Während ein epochenübergreifendes ›Gattungssystem‹ Novelle aufgrund der starken historischen Wandlungen und der unscharfen Systemgrenzen kaum sinnvoll zu umreißen sein dürfte, kann der Teilbereich der klassizistischen Novellenproduktion des frühen 20. Jahrhunderts sehr gut als autopoietisch geschlossenes System betrachtet werden: Hier gelingt es leicht, »Literatur als eine Kette von kommunikativen Handlungen und Ereignissen zu identifizieren«.31 Der novellentheoretische Klassizismus legt die Kriterien fest, die als ›klassisch‹ zu gelten haben; durch die Befolgung dieser Kriterien sanktioniert sich die literarische Produktion selbst, misst sich ›klassischen‹ Rang zu und belegt damit zugleich die postulierte und zugrunde gelegte Gültigkeit und Erfahrbarkeit ›klassischer‹ Ideale in der Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Überzeugung wiederum gehört zum Kernbestand deutsch-bürgerlicher Mentalität in dieser Zeit und geht einher mit konservativem, nationalem, auch völkischem Denken – damit dokumentiert die klassizistische Novellenproduktion des frühen 20. Jahrhunderts insgesamt die lang andauernde »Behinderung moderner Literatur durch eine falsche, weil zeitlos verstandene Klassik«.32

28 Vgl. zur besonderen Bedeutung von ›Bildung‹ für die Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürger-

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tums Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M, Leipzig 1994, sowie Carola Groppe: Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900. Ästhetische Praxis und soziale Distinktion: Wer liebt welche Kunst? In: »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. v. Jan Andres, Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann. Frankfurt, New York 2007 (= Historische Politikforschung, 10), S. 56-76. Hier bietet sich ein Seitenblick auf die Theorien Pierre Bourdieus an: Wie kaum ein anderer Soziologe hat Bourdieu betont, dass der Besitz von Kulturgütern (auch) der Manifestation sozialer Unterschiede dient und damit Bestandteil eines auf Distinktion ausgerichteten Lebensstils ist. Vgl. z.B. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982, S. 355 u.ö. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 646. Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften, S. 92. Müller-Seidel: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik, S. 25.

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Soziologisch umfasst die Leserschicht klassizistischer Novellentexte vor allem das mittlere Bürgertum und das Großbürgertum, wobei einzelne Autoren sich durch eigene Herkunft und literarisch-weltanschauliche Prägung auch spezieller auf bestimmte Zielgruppen beziehen lassen, so Emil Strauß eher auf die kleinbürgerliche Schicht, Rudolf G. Binding eher auf die großbürgerliche33; in ihrer Hochschätzung von ›Bildung‹ und einer für das konservative Denken vor allem in der Weimarer Zeit typischen Hoffnung auf neue ›Bindungen‹, auf die Wiedererstarkung normierender, Sicherheit gebender, werteorientierter Grundhaltungen weisen die klassizistischen Novellenautoren jedoch starke Gemeinsamkeiten auf, die diese soziologischen Differenzierungen überwiegen. Zu einem Zeitpunkt, als die identitätsgarantierenden Prinzipien des 19. Jahrhunderts längst brüchig geworden waren, hielten diese Autoren fest an der Vorstellung, dass der poetische Akt in erster Linie als Stiftung von Subjektivität legitimiert sei und gerade die Novelle nach wie vor die Aufgabe habe, eine »in der Dialektik von Krise und Identität augenblickshaft sichtbar werdende Lebensgeschichte als organische Einheit des Selbst«34 zu gestalten. Die Kontingenzerfahrung einer säkularisierten Moderne, die Freisetzung dissoziierender Kräfte, die Vervielfältigung der Legitimationsinstanzen, die Brüchigkeit eines emphatischen, im Geniegedanken verankerten Subjektbegriffs und einer als anthropologische Grundkonstante verstandenen Geschlechterordnung – kurz, alle Faktoren und Prozesse, die die gesellschaftliche Modernisierung bestimmen, werden vehement zurückgewiesen; eine an scheinbar ›bewährten‹ Prinzipien festhaltende literarische Produktion dagegen galt den Verfassern klassizistischer Novellen im frühen 20. Jahrhundert als probates Mittel, gegen die als krisenhaft und chaotisch empfundene Zeit anzuschreiben im Sinne einer Refundierung längst obsolet gewordener Orientierungsmuster. Die ideologische Ausrichtung auf ›Perspektivegewissheit‹ und auf Normierungstendenzen wiederum korrespondiert mit einem formalen Klassizismus, der auf ästhetischem Gebiet stilbildend wirken und in einer unter nationalem Aspekt rezipierten ›deutschen Klassik‹ einen zentralen Bezugspunkt sehen wollte.35 An der Grenzziehung zwischen formalästhetischer Auffassung und ideologischer Besetzung hatten viele Autoren klassizistischer Novellen ganz offensichtlich kein Interesse. Ein Musterbeispiel hierfür ist Paul Ernst (1866-1933), der mehrere, meist knappe Aufsätze zur Novellentheorie und rund 250 Gattungsbeiträge vorgelegt hat. Bei ihm ist die problematische Legierung von formalem Traditionsbewusstsein mit einem teils aggressiv vorgetragenen weltanschaulich-ideologischem Konservatismus bereits 33 Vgl. Bernd Peschken: Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschisti-

schen Periode. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 207-223, hier S. 214. 34 Gerhard Neumann: Christa Wolf: Selbstversuch. Ingeborg Bachmann: Ein Schritt nach Gomorrha. Beiträge weiblichen Schreibens zur Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts, S. 81. 35 Peschken sieht im Streben nach ›Perspektivegewissheit‹ und autoritären Ordnungsstrukturen auch einen Grund dafür, warum Johannes R. Becher als Anhänger einer anderen totalitären Idee in den dreißiger Jahren gleichfalls klassizistische Stilideale verfolgt, vgl. Peschken: Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschistischen Periode, S. 214f.

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eklatant spürbar; so schrieb er etwa 1923 im Rahmen seines Essays Zwei Novellen und ihre Entstehungsgeschichte: Wir leben in einer Zeit, da alle menschlichen und göttlichen Bande gelöst sind und die Gemeinheit sich fessellos austobt. In den Dichtern kommt immer die Sehnsucht der Zeit zum Ausdruck – nicht das tatsächliche Leben der Zeit, wie die mittelmäßigen Tröpfe sich einbilden, die heute dichten und über solche Dinge nachdenken – und die tiefste Sehnsucht unserer Zeit geht doch wohl nach einer neuen Bindung durch eine das Volk umfassende und auf das Volk wirkende Religion.36

Der ästhetische Traditionalismus, mit dem »Geschlossenheit und strenge Fügung«37 der Novellenform gefordert werden, tritt in beständiger Verbindung mit radikal kulturkonservativen Positionen auf, wird instrumentalisiert im Kampf gegen moderne Entwicklungen in der Literatur (Ernsts vehementeste Polemiken gelten dem Naturalismus) wie in der gesamten Gesellschaft. Ebenso normativ wie der Literaturbegriff sind die gesellschaftspolitischen Leitvorstellungen: Hinter dem ästhetischen Programm steht das ideologische. In Ernsts Bewusstsein allerdings erscheint diese mentalitätsgeschichtlich bedingte Verbindung als notwendig und gegeben. So geht er beispielsweise von einer »wunderbaren Verbindung […] zwischen der strengen Form und der Ethik und Metaphysik«38 aus; der postulierte Zusammenhang wird nicht rational argumentierend, sondern durch Verweis auf das ›Wunderbare‹, Metaphysische, Vorgängige begründet. Im gleichen Zusammenhang betont Ernst, das Kunstwerk habe »nicht Subjektives auszudrücken, sondern Objektives zu wirken«, legt dieses ›Objektive‹ aber prompt auf die wirkungsästhetische Absicht fest, »im Leser eine Richtung zum Schönen, Edlen und Freudigen zu stärken« und damit auch zum »Wiederaufbau unseres Volkes« (nach dem verlorenen Weltkrieg) beizutragen.39 Insbesondere die erste Intention zeigt Ernsts unkritische Identifizierung von eigener Überzeugung und objektiver Wahrheit, setzte er sich doch permanent mit dem Naturalismus als einer Kunstrichtung auseinander, die diese Zielsetzung keineswegs mehr als einzige und ›objektiv‹ gegebene hinzunehmen gedachte. Ähnlich wie Paul Ernst sind sämtliche Vertreter eines klassizistischen Novellenkonzepts im 20. Jahrhundert dem konservativen Spektrum zuzuordnen – wobei dessen Bandbreite allerdings so groß ist, dass die individuellen Unterschiede zwischen den Autoren teils beträchtlich ausfallen. Unter den im NS-Staat kanonisierten Schriftstellern ist eine ganze Reihe klassizistischer Novellisten.40 Hans Pyritz hebt in 36 Paul Ernst: Zwei Novellen und ihre Entstehungsgeschichte. In: Ders.: Der Weg zur Form. Abhand-

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lungen über die Technik vornehmlich der Tragödie und Novelle. München 1928, S. 361-396, hier S. 390f. Ebd., S. 391. Paul Ernst: Bemerkungen über mich selbst. In: Ders.: Der Weg zur Form, S. 11-29, hier S. 21. Ebd., S. 21f. Peschken (Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschistischen Periode, S. 207f.) hat darauf hingewiesen, dass die nationalsozialistische Literaturtheorie, soweit man von einer solchen überhaupt sprechen darf, die Begriffe ›klassizistische Tendenz‹ und ›Klassizismus‹ in der Regel vermeidet und auch nicht gut integrieren kann; denn ihrer Auffassung nach begann ja mit

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seinem 1942 veröffentlichten Aufsatz über Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle des 20. Jahrhunderts41 vor allem Hermann Stehr, Paul Ernst, Wilhelm Schäfer, Emil Strauß, Rudolf G. Binding und Agnes Miegel hervor.42 Das sind zugleich diejenigen Autoren, die auch in Hellmuth Langenbuchers nationalsozialistischem Standardwerk Volkhafte Dichtung der Zeit an prominenter Stelle besprochen werden.43 Ausnahmslos gehören sie einer älteren, wesentlich im Kaiserreich sozialisierten Generation an und zeigten in den zwanziger Jahren republikfeindliche Tendenzen; mit ihrer Aufwertung und Hochschätzung dieser Autoren konnten die Nationalsozialisten, wie in vielen anderen Bereichen auch, an die Mentalität des Wilhelminismus anknüpfen. Die genannten Schriftsteller wiederum vermochten sich (in unterschiedlichem Grad) mit der nationalsozialistischen Weltsicht zu identifizieren, profitierten zudem davon, dass sie, in der Weimarer Republik nicht auf der Höhe der Zeit, im ›Dritten Reich‹ zu den offiziösen Repräsentanten der deutschen Literatur aufstiegen, als die Pyritz sie vorstellt: Denn die renommierteren Generationskollegen waren überwiegend im Ausland, und jüngeren, noch partei- und linientreueren Autoren fehlte es vor allem in den ersten Jahren der Hitler-Herrschaft an schriftstellerischem Ruf (und Rang).44 Dass Pyritz die exilierten und verfemten Autoren ignoriert, ist unter den Bedingungen des NS-Staats selbstverständlich; wie stark hier der ideologische Blickwinkel dominiert, wird jedoch durch die Tatsache bewusst, dass auch Autoren, die in Deutschland noch publizieren durften, aber dem Regime eher suspekt waren, unerwähnt bleiben, obwohl ihre Novellen zu den wichtigen und erfolgreichen der dreißiger Jahre gehören – zu denken wäre etwa an Ernst Wiechert45, Stefan Andres, Werner Bergengruen, Ricarda Huch und Gertrud von le Fort. In einem Aufsatz, dem es am Vorabend des ›totalen Krieges‹ darum ging, den »eigentümlichen Beitrag« heraus-

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dem ›Dritten Reich‹ etwas Neues, entstanden neue ›volkhafte‹ Bindungen aus dem Geist der ›deutschen Bewegung‹, und die Distanz zur Klassik spricht z.B. auch aus der Umbenennung des ›Euphorion‹ in ›Dichtung und Volkstum‹ und der Begründung dieses Namenswechsels durch die Herausgeber (vgl. das Kapitel zu Hermann Pongs in dieser Arbeit). Hans Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle des 20. Jahrhunderts. In: Dichtung und Volkstum 42 (1942), S. 76-94. – Pyritz zählte in den fünfziger Jahren zu den angesehensten bundesdeutschen Germanisten, wurde sogar Herausgeber des wieder in Euphorion umbenannten Organs, in dem diese Arbeit erschien; trotzdem ist festzustellen, dass sich sein Aufsatz »weder in Argumentation noch Diktion von dem üblichen Ton der Dichtung und Volkstum-Beiträge zur Gegenwartsliteratur unterscheidet«, vgl. Wolfgang Adam: Einhundert Jahre Euphorion. Wissenschaftsgeschichte im Spiegel einer germanistischen Fachzeitschrift. In: Euphorion 88 (1994), S. 1-72, hier S. 55. Dabei knüpft Pyritz auch an das im Gefolge von August Sauer und Josef Nadler durchgesetzte literarhistorische Paradigma von den stammesmäßigen Grundlagen der deutschen Literatur an. So wird jeder Autor mit einem entsprechenden genealogischen Hinweis introduziert: der Schlesier Stehr, Ernst und sein »thüringisch-sächsisches Bluterbe« (S. 81), der Hesse Schäfer, der Alemanne Strauß, der Rheinfranke Binding und die Ostpreußin Miegel. Allen voran Paul Ernst (vgl. in der Auflage Berlin 31937, S. 29-36 u.ö.). Vgl. Peschken: Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschistischen Periode, bes. S. 213. Hugo Aust bezeichnet Wiecherts Hirtennovelle (München 1935) als »einen Höhepunkt der Novelle in den dreißiger Jahren« (Aust: Novelle, S. 178).

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zustreichen, den »der deutsche Geist zur Bewältigung des Lebensproblems leistet«46, ist dies wohl kein Wunder; belegt wird aber zugleich die tatsächliche Marginalisierung jener im Nachhinein als ›Innere Emigration‹ zusammengefassten Literatur. In der jungen Bundesrepublik freilich sollten etwa Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort zu den höchstdekorierten Schriftstellern gehören47, und gerade über sie war das Fortwirken klassizistischer Novellenauffassung in den fünfziger Jahren gesichert.

2. ›Klassizismus‹ und ›Moderne‹ Der Begriff ›Klassizismus‹ ist im Folgenden keineswegs als negativ konnotierter Gegenbegriff zu einer allein seligmachenden, auf ›innovative‹ Aspekte reduzierten ›Moderne‹ aufzufassen. Schon für die Literatur um 1800 greift eine solche Dichotomisierung nicht: Die Weimarer Klassik kann unter dem Gesichtspunkt ihrer Bindung an antike Ideale als ›Klassizismus‹, aber auch als »Anfang der Moderne« gelten.48 Erst recht für das 19. und frühe 20. Jahrhundert ist in der neueren Forschung die Tendenz vorherrschend, lange Zeit als ›nicht-modern‹ oder sogar ›anti-modern‹ bezeichnete Strömungen als genuinen und nicht zu isolierenden Bestandteil des Modernisierungsprozesses gelten zu lassen; so begreift etwa Norbert Miller den ›Klassizismus‹ Heyses als eine »andere Moderne«49 – auch und gerade, um die implizit wertende Dichotomisierung von ›Klassizismus‹ und ›Moderne‹ zu vermeiden. Insbesondere für die Analyse der komplexen intellektuellen und ästhetischen »Gemengelage«50 in der Weimarer Republik hat sich seit den neunziger Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass gerade diese Zeit, die zu ihrer Selbstinterpretation und Weltdeutung mit Vorliebe auf Dichotomisierungen zurückgriff, aus dem historischen Abstand heraus am wenigsten durch scharfe Grenzziehungen und Frontbildungen zwischen ›modern‹ und ›anti-modern‹ oder ›links‹ und ›rechts‹ zutreffend zu erfassen ist. Damit wurde die Voraussetzung für eine Analyse übergreifender struktureller Bedingungen geschaffen, die es etwa ermöglicht, Gemeinsamkeiten zwischen politisch 46 Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle, S. 94. 47 Vgl. zur häufigen Auszeichnung traditionalistischer Autoren in der frühen Bundesrepublik z.B.

Friedhelm Kröll: Literaturpreise nach 1945. Wegweiser in die Restauration. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945-49. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. Hg. v. Jost Hermand, Helmut Peitsch, Klaus R. Scherpe. Berlin 1982, S. 143-164. 48 Vgl. z.B. – vor allem im Hinblick auf die Kunsttheorien der Weimarer Klassik – Helmut Pfotenhauer: Klassizismus als Anfang der Moderne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie. In: Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner zum 11. März 1996. Hg. v. Victoria von Flemming und Sebastian Schütze. Mainz 1996, S. 583-597; vgl. allgemein auch Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Stuttgart 1993 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände, 13). 49 Vgl. Norbert Miller: Die andere Moderne. Paul Heyse und die italienische Kultur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Studi germanici (nuova serie) 24-26 (1986-1988), S. 193-234. 50 Vgl. Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Hg. v. Manfred Gangl und Gérard Raulet. Frankfurt/M., New York 1994.

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gegensätzlichen Autoren wie Georg Lukács, Ernst Jünger, Carl Schmitt und Walter Benjamin in einer Art und Weise zu fokussieren, die in den siebziger Jahren kaum denkbar gewesen wäre.51 Entdeckt werden konnte dabei eine Fülle von »gefährlichen Beziehungen«52 und »unheimlichen Nachbarschaften«53; die Rekonstruktion von »Austauschdiskursen«54 zwischen scheinbar antipodischen Intellektuellen zeigt die Bedeutung der gemeinsamen Zeitgenossenschaft, die »osmotischen Verbindungen mit gegnerischen Feldern«55, die für den Blick auf eine historisch gewordene Epoche an Relevanz gewinnen. Zu den lagerübergreifenden »Tiefenstrukturen«56 der zwanziger Jahre gehört das schon von Ronald Gray als spezifische »german tradition«57 bis in die Goethezeit und noch weiter zurückverfolgte Denken in Dichotomien und »binären Codes«.58 Seine Hochkonjunktur in der Weimarer Republik ist als Reaktion auf ein umfassendes Krisenbewusstsein zu verstehen, das die Mentalität sowohl ›rechter‹ als auch ›linker‹ Intellektueller entscheidend prägt.59 Dieses Krisenbewusstsein wurde ausgelöst durch die Erfahrung von ›Modernität‹ in dem Sinne, dass sich die Gesellschaft zunehmend durch ein Nebeneinander verschiedener, autonomer und nicht zwingend aufeinander bezogener Lebensentwürfe und Lebensgewohnheiten auszeichnet: Angesichts einer Vielfalt von Optionen hat das moderne Individuum zwar ein höheres 51 Vgl. etwa den Beitrag von Wolfgang Eßbach: Radikalismus und Modernität bei Jünger und Bloch,

Lukács und Schmitt. In: Ebd., S. 145-159.

52 Vgl. Susanne Heil: »Gefährliche Beziehungen«. Walter Benjamin und Carl Schmitt. Stuttgart 1996. 53 Vgl. Helmut Lethen: Unheimliche Nachbarschaften. Neues vom neusachlichen Jahrzehnt. In:

Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1 (1995), S. 76-92.

54 Vgl. Wolfgang Eßbach: Einleitung zu Teil I: Austauschdiskurse. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet

(Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 15-17. Lethen: Unheimliche Nachbarschaften, S. 78. Ebd., S. 81. Vgl. Ronald Gray: The German Tradition in Literature 1871-1945. Cambridge 1965, S. 1-15. Vor allem Hans-Ulrich Gumbrecht hat versucht, von den ›binären Codes‹ her die gesamte Kulturhistorie der Weimarer Republik erfahrbar zu machen (wobei insbesondere auch »zusammengebrochene Codes«, die unter dem Einfluss der Zeitgeschichte ihre paradoxentfaltende Funktion, nicht aber ihre Prägekraft verloren haben, eine Rolle spielen). Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2001, bes. S. 477f. Dabei steht Niklas Luhmann als gedanklicher Anreger im Hintergrund: In Luhmanns Theorie dienen binäre Codes dazu, die funktionsspezifische Beobachterperspektive einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme zu beschreiben; allerdings konzentriert sich Luhmann vor allem auf eine jeweilige Leitdifferenz – im Kunstsystem ›schön/hässlich‹, was vielfach mit guten Gründen kritisiert wurde (vgl. z.B. den Überblick bei Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 98-104). Vor Gumbrecht hat u.a. schon Helmut Lethen gezeigt, wie sich die kulturelle Situation der zwanziger Jahre über Oppositionspaare charakterisieren lässt, vgl. Helmut Lethen: Chicago und Moskau. Berlins moderne Kultur der 20er Jahre zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. In: Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert. Unter Beteiligung zahlreicher Autoren hg. v. Jochen Boberg, Tilman Fichter, Eckhart Gillen. München 1986, S. 190-213, bes. S. 197, sowie ders.: Neue Sachlichkeit. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 9. Reinbek 1989, S. 168-179, bes. S. 172f. 59 Vgl. z.B. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart, Weimar 1994. 55 56 57 58

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Maß an Freiheit, muss aber zugleich damit leben lernen, dass jede Kohärenzkonstruktion, die es vornimmt, durch Alternativen relativierbar bleibt – einen substantiellen, ontologischen Letztgrund kann keine der Optionen vorweisen. »Deshalb sind Wirklichkeiten in dieser Situation nur kontextuell verankert und Ordnungen kontingent – sie könnten auch anders sein«.60 In dieser Form bewusst erfahren wurde ›Modernität‹ in Deutschland historisch erstmals in den zwanziger Jahren, nachdem sich die ›klassische Moderne‹61 bereits seit der Jahrhundertwende zu entfalten begann. Gerade die Intellektuellendiskurse der Weimarer Republik belegen allerdings, dass die mit der ›Moderne‹ verbundene, alle Lebensbereiche betreffende Pluralisierung fast ausnahmslos negativ, als »Situation der bodenlosen Kontingenz«62 gedeutet wurde. Das dichotome Denkmodell avancierte deshalb zur prägenden Tiefenstruktur der zwanziger Jahre, weil es die Möglichkeit zu eröffnen schien, als verunsichernd und chaotisch empfundene Ausdifferenzierungen auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiet einem eindeutig klassifizierenden Schema zu unterwerfen. Dabei galt klare »Feindbestimmung«63 als Voraussetzung dafür, der existentiell bedrohlichen Sinnkrise der Gegenwart entgegentreten zu können; nicht auf die Synthese von Gegensätzen kam es an, sondern auf das eindeutige, wertende und parteinehmende Bekenntnis zu einer als fest behaupteten Position. Aus Polaritäten wurden Dualismen; diskursive oder höchst reale Gewalt fand sich zunehmend legitimiert als Mittel, »um den zur negativen, feindlichen, ›bösen‹ Entität gewordenen Pol auszumerzen und zugleich des anderen Pols als eines nun freilich hypostasierten Absoluten habhaft zu werden«.64 60 Michael Makropoulos: Haltlose Souveränität. Benjamin, Schmitt und die Klassische Moderne in

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Deutschland. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 197-214, hier S. 198. Vgl. zum Begriff der Kontingenz auch Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von Christa Krüger. Frankfurt/M. 1989, bes. S. 21-123. – Unter den literarischen Werken der ausgehenden zwanziger Jahre wird das Thema der Kontingenz kaum je so produktiv wie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, dessen erster Band 1930 erscheint. Unter anderem heißt es dort einmal, man könne »nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können« (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 131) – das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit wird geradezu zum gedanklichen Zentrum des Romans (vgl. Matthias Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit. Modaltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1987). Ergänzend wäre z.B. auf eine Äußerung von Musils Landsmann Hermann Broch zu verweisen: Broch zufolge war seine Generation geprägt vom »Problem des Absolutheitsverlustes« und des »Relativismus, für den es keine absolute Wahrheit, keinen absoluten Wert und sohin auch keine absolute Ethik gibt« – eine Situation, die, so Broch angesichts von Nationalsozialismus und Weltkrieg, nur »apokalyptische Folgen« zeitigen könne; vgl. Hermann Broch: Autobiographie als Arbeitsprogramm. In: Ders.: Philosophische Schriften 2. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1977 (= Kommentierte Werkausgabe, 10/2), S. 195-203, hier S. 195. Vgl. zum Begriff der ›Klassischen Moderne‹ Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt/M. 1987. Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 202. Vgl. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993, 21995, S. 48-59. Klaus Vondung: Einleitung zu Teil II: Zwillingsbrüder. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.):

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Carl Schmitt gehört sicherlich zu denjenigen Intellektuellen, die dichotome Denkmuster am nachdrücklichsten vertraten – auch auf dem Gebiet kulturgeschichtlich-ästhetischer Wertung. Dies wird etwa deutlich, wenn er eine radikale Absage an diejenige Literatur formuliert, die heute zu Recht als Ursprung der ästhetischen Moderne65 betrachtet wird: die Romantik. Schmitt wirft der Romantik gerade das vor, was ihre positive Selbstdefinition wesentlich ausmacht, nämlich die unendliche Reflexion und die Autoreferentialität. Den Romantikern sei es möglich geworden, »alle sachlichen Gegensätze und Unterschiede, Gut und Böse, Freund und Feind, Christ und Anti-Christ« zu rein »ästhetischen Kontrasten« herabzustufen und damit einer geistigen Beliebigkeit Vorschub zu leisten, die Schmitt als ›Occasionalismus‹ zu fassen versucht: Die romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio. Man kann ihn mit Vorstellungen wie: Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall umschreiben. Aber seine eigentliche Bedeutung erhält er durch einen Gegensatz: er verneint den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Es ist ein auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt […], ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar.66

Die Verbindung von romantischem Occasionalismus und parlamentarischem Liberalismus macht Schmitt verantwortlich dafür, dass eine stabile gesellschaftliche und politische Ordnung in der Gegenwart nicht mehr zu erreichen sei. Ästhetischer und politischer Diskurs laufen zusammen in einem »Totalverdikt gegen die Moderne«67, das zahlreiche Elemente der konservativen Mentalität versammelt; deren Kernvokabular zumindest findet allein in der oben zitierten Passage fast vollständig Verwendung: ›Bindung‹, ›Zwang‹, ›Ursächlichkeit‹, ›Konsequenz‹, ›Ordnung‹. Die Hoffnung auf neue Einheit und neue ›Bindung‹ bestätigt implizit noch einmal, wie stark die Welt als gespalten und durch »Antinomien«68 geprägt wahrgenommen wird. Gerade diese Sehnsucht nach ›Ganzheit‹ allerdings ist zwar – ebenso wie das Prinzip des dichotomen Denkens – bei den üblicherweise als ›konservativ‹ klassifizierten Autoren ausgesprochen häufig anzutreffen, aber kein exklusives Charakteristikum; als Ausdruck geringer »Kontingenztoleranz«69 findet sie sich bei Carl Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 125-128, hier S. 128.

65 Vgl. zur ›Modernität‹ der Romantik z.B. Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemge-

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schichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992; Ders./Dirk Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998. Carl Schmitt: Politische Romantik. München, Leipzig 21925, S. 22. Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 52. So der Terminus, den Georg Quabbe in seiner konservativen Programmschrift Tar a Ri. Variationen über ein konservatives Thema (Berlin 1927) verwendet, um die Gegensätze zwischen Konservatismus und Fortschritt in Gruppen zusammenzustellen (vgl. dort S. 115ff.); als wichtige Gegensatzpaare benennt er z.B. Kreislauf/Fortschritt, Leben/Wahrheit, das Ganze/das Individuum, Irratio/Ratio und Autorität/Freiheit. Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 211.

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Schmitt ebenso wie bei Hugo von Hofmannsthal70 und schließlich bei Walter Benjamin. Dass solche Tiefenstrukturen aufgedeckt und damit eingefahrene Sehweisen wie die Polarisierung von ›modern‹ und ›antimodern‹ aufgebrochen werden, ist zweifellos wichtig. Trotzdem darf nicht aus dem Blick geraten, dass das gemeinsame ›wie‹ der Denkstruktur die Frage nach dem gegensätzlichen ›was‹ der transportierten politischen, kulturellen, intellektuellen Inhalte nicht gegenstandslos werden lässt. Es wäre wenig sinnvoll, sämtliche in der Weimarer Republik entstandenen Texte plötzlich unter dem Etikett ›modern‹ zu behandeln, weil sie sich »trotz aller divergierender und perspektivisch verengter Wahrnehmungsweisen auf dieselbe Totalität der historischen Realität«71 beziehen oder weil eine »Ästhetik der Entmischung«72 sowohl bei den Vertretern der Neuen Sachlichkeit festzustellen ist als auch bei den Repräsentanten einer klassizistischen ›deutschen Erzählkunst‹. Es ist richtig, dass auch eine dezidiert anti-moderne Literatur in den Modernisierungsprozess eingebunden bleibt, weil sie sich gerade durch ihre Protesthaltung nicht von den abgelehnten Strukturen lösen kann; doch das heißt nicht, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Schreibhaltungen vollständig zu nivellieren wären. Entsprechend macht die Erkenntnis gleicher oder ähnlicher Grundstrukturen die Ausdifferenzierung intellektueller, kultureller, ästhetischer und politischer Positionen keineswegs überflüssig, sondern fordert entsprechende hermeneutische Anstrengungen stärker denn je. Wie komplex solche Ausdifferenzierungen ausfallen können (und müssen) zeigen paradigmatisch die Versuche, die verschiedenen Strömungen des politischen und intellektuellen ›Konservatismus‹ in der Weimarer Republik voneinander (und vom Nationalsozialismus) abzugrenzen.73 Weniger das dichotome Denken an sich – das sie mit den traditionell als ›modern‹ und ›links‹ eingestuften Autoren und Intellektuellen eher verbindet – als die spezifische Ausformung und inhaltliche Akzentuierung bestimmter Dichotomien soll im Folgenden fokussiert werden, um Elemente einer bestimmten konservativen Mentalität zu benennen, wie sie auf die klassizistische Novellenproduktion zwischen 1900 70 Zu verweisen ist hier besonders auf die 1927 gehaltene Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der

Nation, in der u.a. der Begriff der »konservativen Revolution« eine zentrale Rolle spielt. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Hg. v. Bernd Schoeller u.a. Frankfurt/M. 1980 (Gesammelte Werke, 10), S. 24-41. – Zur Interpretation der intensiv und kontrovers diskutierten Rede vgl. z.B. Severin Perrig: Hugo von Hofmannsthal und die Zwanziger Jahre. Eine Studie zur späten Orientierungskrise. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 1994, S. 195-203. 71 Walter Delabar: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 41. 72 Lethen: Unheimliche Nachbarschaften, S. 84. 73 Vgl. dazu etwa Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1986; Panajotis Kondylis: Konservatismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986; Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution; Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 1998; Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen. Heidelberg 1998 (= Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, 11).

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und 1945 eingewirkt hat. Mit Paul Ernst, Werner Bergengruen, Rudolf G. Binding, Emil Strauß, Hans Franck und Wilhelm Schäfer wird eine Reihe von Autoren vorgestellt, die der Novelle in ihrem Werk einen zentralen Stellenwert zumessen und die in ihrer Zeit als ›Meister‹ dieser Gattung gewürdigt wurden. Dass in diesem Zusammenhang auch Bruno Frank und Thomas Mann betrachtet werden, soll einer allzu kurzschlüssigen Verbindung von Ästhetik und Politik vorbeugen; die Gattungsbeiträge der beiden späteren Emigranten haben durchaus Anteil an bestimmten Vorstellungskomplexen, die in den Werken der vorgenannten, im NS-Staat hoch geschätzten Autoren entfaltet werden. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine weltanschauliche Prägung in den Novellen Ernsts und Bindings, Hans Francks und Wilhelm Schäfers weitaus deutlicher zutage tritt, ein Umstand, der auch durch ihre Rezeptionsgeschichte im NS-Staat bestätigt wird; die in der Forschung gelegentlich gebrauchte Formel vom ›völkisch-heroischen Klassizismus‹74 vereint zu Recht eine formale und eine ideologische Facette des gleichen Phänomens. Dass zahlreiche Novellen nicht nur der deutschen, sondern der Weltliteratur bereits auf inhaltlich-struktureller Ebene von einer antithetischen Konstellation geprägt sind (Florence Goyet zählt die »structure antithétique«75 zu den typischen Merkmalen der Gattung), macht die Nähe des Genres zu entsprechenden Denkmustern umso plausibler. In der deutschen Diskussion beginnt die ideologische Vereinnahmung der Gattung damit, dass der ›strengen Novellenform‹ eine höhere Wertigkeit zugemessen wird als anderen Genres; für viele Autoren markiert die ›Novelle‹ den Gegensatz zur (weniger angesehenen) ›Erzählung‹, steht für einen Beitrag zur zeitlosen ›Dichtung‹ statt zur modischen ›Literatur‹, für formbewusst-kunstvolles statt formlosroutiniertes Schreiben. Mit dem auf diese Weise gefassten Gegensatzpaar Novelle/Erzählung‹ verbinden sich weitere Oppositionen wie etwa Werteorientierung/Beliebigkeit, Klarheit/Ambivalenz, Idealismus/Materialismus, ›Seele‹/Intellekt oder Deutsch/Nicht-deutsch. Hinzu kommt ein dichotomes Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit. Als »zentrales Strukturprinzip«76 reicht die im 19. Jahrhundert zunehmend ontologisierte Geschlechterdifferenz in die verschiedensten Diskurse hinein; das gilt für den politischen Bereich – wenn etwa soldatisch disziplinierte Männerbünde als Gegenmodell zur angeblich weiblichen Welt der Demokratie77 propagiert werden – ebenso wie für den literarisch-ästhetischen, wo die geschlechtliche Codierung auffällig häufig anzutreffen ist. In ihren Ursprüngen bei Boccaccio mag die Novelle noch eine überwiegend ›weiblich‹ konnotierte (und an weibliche Leser gerichtete) Gattung gewesen sein78; spätestens Kleist jedoch hat eine entschie74 Vgl. z.B. Hackert: Die Novelle, die Presse, Der Schimmelreiter, S. 92. 75 Vgl. Goyet: La nouvelle 1870-1925, S. 28-47. 76 Ute Frevert: »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne.

München 1995, S. 10.

77 Vgl. Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 41-43 (mit zahlreichen Belegen und Ver-

weisen) sowie Bernd Widdig: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne. Opladen 1992, bes. S. 47f. 78 Dieses Verständnis der Novelle als »weibliche Gattung« vertritt insbesondere Hannelore Schlaffer,

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dene ›Vermännlichung‹ der Novelle herbeigeführt79 und sich ein Ansehen als besonders ›männlicher‹ Autor erworben, an das Paul Ernst und sein Novellenverständnis mit Nachdruck anknüpfen. Entsprechend werden dichotome Geschlechtsrollenmuster auch und vor allem auf der Inhaltsebene vieler Novellentexte propagiert, und das mit einer Aggressivität, die unfreiwillig verdeutlicht, wie sehr der Modernisierungsprozess den überkommenen Konzepten von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ bereits den Boden entzogen hatte. Die forcierte Herausarbeitung von Binaritäten, die sich zahlreiche Autoren klassizistischer Novellen auferlegten, lässt es im Übrigen umso sinnvoller erscheinen, die klassizistische Novellenliteratur als ein ›System‹ im Sinne Luhmanns zu betrachten, das sich über binäre Schematisierung zu stabilisieren und von seiner Umgebung abzugrenzen versucht. Wie im Folgenden nachgewiesen wird, bezeichnet die Begriffsreihe Novelle – Dichtung – Formbewusstsein – Eindeutigkeit – Haltung – Männlichkeit – Deutschtum im dichotom orientierten Selbst- und Literaturverständnis der klassizistischen Novellenautoren die eigene, bewusst und nachdrücklich vertretene Position, während die jeweiligen Gegenbegriffe Erzählung – Literatur – Formlosigkeit – Ambivalenz – Zersetzung – Weiblichkeit – Internationalität das verkörpern, was geringgeschätzt, abgelehnt, aktiv bekämpft oder im eigenen Text totzuschweigen versucht wird.

auch im Rückbezug darauf, dass Boccaccio in seinen Novellen »die Hauptrolle am liebsten den Frauen« überlasse, vgl. Schlaffer: Poetik der Novelle, S. 30. Für die deutsche Tradition seit dem 19. Jahrhundert jedoch ist diese Auffassung nicht zutreffend. 79 Vgl. zu der bewussten ›Vermännlichung‹ des Genres durch Kleists Gattungsbeiträge Claudia Liebrand: Pater semper incertus est. Kleists Marquise von O… mit Boccaccio gelesen. In: KleistJahrbuch 2000, S. 46-60, besonders S. 60.

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B. Exemplarische Texte und Autoren 1. ›Formbewusstsein‹ und intendierte Boccaccio-Nachfolge 1.1. Paul Ernst (1866-1933) Im Allgemeinen zählt Paul Ernst heute zu den weitgehend vergessenen Schriftstellern80; insbesondere sein dramatisches Werk, das im Zeichen der Neuklassik steht, wird kaum mehr gelesen geschweige denn aufgeführt.81 Auf dem Gebiet der Novellentheorie jedoch fällt sein Name immer noch relativ häufig; vor allem der Essay Zur Technik der Novelle (1901) wurde in die gängigen Quellensammlungen regelmäßig aufgenommen.82 Der pragmatischste Grund hierfür liegt in der Kürze des Textes; darüber hinaus hat neben der Tatsache, dass Ernst mit rund 250 Gattungsbeiträgen zu den fleißigsten Novellisten seiner Zeit gehörte, auch der Zeitpunkt der Erstveröffentlichung unmittelbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt: der Text erscheint so als vorläufiger Abschluss der novellentheoretischen Diskussion, die im 19. Jahrhundert noch überwiegend von den Autoren selbst geführt wurde, bevor sie im Wesentlichen auf die Literaturwissenschaftler überging. Dabei gilt jedoch für den Aufsatz Zur Technik der Novelle – später in Zum Handwerk der Novelle umbenannt – das gleiche wie für den gesamten Band Der Weg zur Form, in dem Ernst diese und weitere »Abhandlungen über die Technik vornehmlich der Tragödie und Novelle« vorgelegt hat: Die prägnante Titelformel weckt jeweils Erwartungen, die von den Texten selbst, was Reflexionsniveau und Originalität betrifft, kaum eingelöst werden. Eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen selbst gesetztem Anspruch und tatsächlichem Vermögen, zwischen einem überhöhten Verständnis des viel beschworenen Dichterberufs und den vergleichsweise bescheidenen eigenen Möglichkeiten prägten Ernsts Leben und seine Werke; für einen besonders 80 Daran haben weder die Bemühungen einzelner Wissenschaftler noch die Aktivitäten der in Ulm

ansässigen Paul-Ernst-Gesellschaft e.V. viel ändern können; Ernsts Nachlassverwalter Karl August Kutzbach (1903-1992), der einen Großteil der älteren Forschungsliteratur zu Paul Ernst verfasst hat, verstand es immerhin noch in höchstem Alter, motivierend auf junge Wissenschaftler(innen) zu wirken, vgl. etwa das Vorwort in Jutta Bucquet-Radczewski: Die neuklassische Tragödie bei Paul Ernst (1900-1910). Würzburg 1993, S. 7. – Der von Horst Thomé herausgegebene Band Paul Ernst: Außenseiter und Zeitgenosse (Würzburg 2002) kann bei allem Engagement der Beiträger wohl nur die Auffassung bestätigen, dass Ernsts Texte keine intensive ›Wiederentdeckung‹ des Autors zu rechtfertigen vermögen. 81 Die beste Arbeit zur neuklassischen Tragödientheorie stammt von Andreas Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik. Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski. Frankfurt/M., Bern, Cirencester/U.K. 1979 (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur, 4). 82 Vgl. Kunz (Hg.): Novelle, S. 79-86 (vollständig); Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle, S. 174-181 (vollständig); Krämer (Hg.): Theorie der Novelle, S. 51-57 (gekürzt); Karthaus: Novelle, S. 31-33 (gekürzt).

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›formbewussten‹ Autor, der »versucht die ›klassische‹ Novellenform nach italienischen und französischen Formvorbildern wiederzubeleben«83, kann er wohl nur bei denjenigen gelten, die auf eine Spiegelung dieses Anspruchs an Ernsts tatsächlicher Novellenproduktion verzichten. Ausgesprochen disparat sind schon die Beiträge zur Novellentheorie.84 Im bereits erwähnten Aufsatz Zur Technik der Novelle, den Ernst bald nach einem für sein dichterisches Selbstverständnis entscheidenden Italienaufenthalt geschrieben hat, fallen zunächst pauschale, allerdings auch zeittypische Nationalitätenklischees auf: »Wir Deutsche, die wir eine engere Beziehung zur Wirklichkeit haben […], haben nicht das starke Gefühl für die künstlerische Form wie die Romanen« heißt es etwa, und »Die Italiener sind in sittlichen Dingen Naturwesen«.85 Daneben wird gelegentliches Spezialwissen eingestreut, das offenkundig imponieren und die eigene Polemik insbesondere gegen den Naturalismus als durch fundierte Kennerschaft begründetes Urteil ausweisen soll: In den letzten Jahren hat bei uns in Deutschland, vornehmlich unter dem Einfluß der naturalistischen Lehren, eine völlige Verwirrung der Ansichten über die Bedeutung der Kunstformen um sich gegriffen. Es geschieht das immer, wenn die Kunst sich durch Rückkehr zur Natur erneut; man denke nur, wie in der Frührenaissance mit einem Male das feine Stilgefühl der Gotik wie weggeblasen ist, und um nur ein bezeichnendes Beispiel herauszugreifen, das Relief erst bei Donatello sich wieder darauf besinnt, daß es anderen Gesetzen unterliegt wie das Bild; und die Geschichte des Reliefs zeigt auch, wie schnell bei dem Verfall der Kunst gerade dieses Verständnis wieder verloren geht: Cellinis Reliefs am Sockel seines Perseus haben schon wieder Ähnlichkeit mit denen des Ghiberti, natürlich mit dem Unterschiede des virtuosenhaften Könnens von dem inbrünstigen und unbefangenen Ringen.86

Was Ernst allerdings nach diesen Einleitungsworten zur Formfrage der Gattungen beisteuert, ist wenig originell. »Drama und Novelle« seien die »ihrer Natur nach am stärksten durch Gesetze eingeengt[en]«87 Gattungen, wird ohne weitere Begründung postuliert; ›Form‹ gilt als objektive, von historischer Determination unabhängige und durch immanente ›ewige‹ Gesetze gültige Kategorie.88 Der Roman findet sich, wohl im Anklang an Schiller, der den »Romanschreiber« bekanntlich nur als einen »Halbbruder« des Dichters89 gelten ließ, als »Halbkunst« gegenüber der »Vollkunst des 83 So der Zwischentext in Krämer (Hg.): Theorie der Novelle, S. 51. 84 Sie sind sämtlich enthalten in Paul Ernst: Der Weg zur Form. Abhandlungen über die Technik

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vornehmlich der Tragödie und Novelle. München 1928; vgl. dort insbesondere: Zum Handwerk der Novelle (1901), S. 68-76; Schlußwort zur Judenbuche (1904), S. 85-97; Die Entwicklung eines Novellenmotivs (1904), S. 98-120; Ein Novellenstoff (1914), S. 278-290; Zwei Novellen und ihre Entstehungsgeschichte (1923), S. 361-396; Novelle, Anekdote, Romankapitel (1920), S. 427-434. Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Der Weg zur Form, S. 68-76, hier S. 69 und 71. Ebd., S. 68. Ebd. Vgl. in diesem Sinn auch Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik, S. 28-32. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 91993, S. 694-780, hier S. 741.

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Dramas« abgewertet – dies aber angesichts einer mit Schillers Erfahrungshintergrund in keiner Weise mehr vergleichbaren gattungsgeschichtlichen Situation: ungefähr zur gleichen Zeit wie Ernsts Aufsatz erschienen bereits Thomas Manns Buddenbrooks, und schon das Romanschaffen Kellers, Stifters, Raabes und Fontanes reichte fraglos aus, den Anachronismus dieses Urteils zu beweisen. Ernsts Ausführungen zur Novelle befinden sich, da er die Namen Tieck und Heyse nicht erwähnt, mindestens in der Grauzone zwischen Traditionsgebundenheit und Plagiat.90 Die von Heyse übernommene Falkentheorie wird – um gedankliche Eigenständigkeit zu suggerieren? – nicht an Boccaccios berühmterer (und älterer!) Novelle illustriert, sondern »an einer Novelle von Giovanni Sercambi, einem alten Italiener, der 1375 schrieb«91, und in dessen Text gleichfalls ein Falke eine wichtige Rolle spielt. Erst recht in den Schlussfolgerungen, die Ernst an eine kurze Inhaltsangabe knüpft, wird deutlich, wie sehr diese Gedanken entlehnt sind. Schon Karl Konrad Polheim hat eine Gegenüberstellung der folgenden Passage mit einem Textauszug von Tieck vorgenommen und die erheblichen Überschneidungen herausgearbeitet.92 So heißt es bei Ernst etwa: Hier ist ein ganzes Menschenschicksal, insofern es an Charakter und Umstände geknüpft ist in einem einzigen Punkt entschieden, welcher ein außergewöhnlicher Vorfall ist. Viele verlorene Söhne mögen in der Fremde Elend erdulden, durch deren Summe schließlich gedemütigt werden und dann nach Hause zurückkommen; und nach der heute gewöhnlichen naturalistischen Theorie hätte der Dichter die ermüdende Menge dieser kleinen, sich häufenden Elendsfälle aufzuweisen, welche den Menschen allmählich mürbe machen; hier wird derartiges nicht erzählt, sondern das alles in einem einzigen Vorfall zusammengefaßt, von dem aus das Leben dann nach rückwärts und nach vorwärts bestrahlt wird; und dieser Vorfall ist seltener und eigentümlicher Art, so daß er sich der Phantasie einprägt. 93

Bei Tieck heißt es, die Aufgabe der Novelle bestehe darin, daß sie einen großen oder kleinern Vorfall in’s hellste Licht stelle, der, so leicht er sich ereignen kann, doch wunderbar, vielleicht einzig ist. Diese Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den Umständen angemessen, die Folge entwickelt, wird sich der Phantasie des Lesers um so fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter andern Umständen wieder alltäglich sein könnte.94

90 Nicht nachzuvollziehen ist daher die große Wertschätzung, die etwa Josef Kunz gerade den theore-

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tischen Beiträgen Ernsts entgegenbringt: »Paul Ernst beansprucht darüber hinaus nicht nur als Erzähler Interesse, er muß auch als einer der wichtigsten Theoretiker der Novelle im 20. Jahrhundert genannt werden. In […] ›Der Weg zur Form‹ finden sich einige Arbeiten über die Novelle, die keiner übersehen kann, der seine Aufmerksamkeit auf die Theorie dieser Gattungsform richtet« (Kunz: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert, S. 96). Ernst: Zum Handwerk der Novelle, S. 70. Vgl. Karl Konrad Polheim: Paul Ernst und die Novelle. In: ZfdPh 103 (1984), S. 520-538, hier S. 523f. Ernst: Zum Handwerk der Novelle, S. 71. – Hervorhebungen von mir. Tieck: Vorbericht zur dritten Lieferung, S. LXXXVI. – Hervorhebungen von mir.

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Das gemeinsame Wortmaterial ›einzig, Punkt, Vorfall, Charakter, Umstände, Phantasie, einprägen‹ spricht für sich; Ernsts individueller Anteil beschränkt sich einmal mehr auf die antinaturalistische Polemik, und in gleicher Weise bleiben nahezu alle seine theoretischen Überlegungen zur Novelle an Goethe, Tieck oder Heyse orientiert und ohne gedankliche Eigenleistung.95 Seinem ›Klassizismus‹ fehlt damit auf theoretischem Gebiet jede produktive Komponente. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit erscheint noch größer bei einem Blick auf Ernsts Novellentexte. Irritierend wirkt bereits, dass Ernst, der in seinen theoretischen Beiträgen eine ›von Natur aus‹ gegebene Besonderheit der Novellenform behauptet, in der poetischen Praxis recht willkürlich mit dem Begriff umgeht. Auf der einen Seite hat er apodiktisch formuliert: »Die Novelle gehört zur strengen Kunst und hat deshalb eine Form, die – mit der nötigen Beschränkung des Wortes ist das gesagt – ewig ist«96; auf der anderen Seite hat er die gleichen Texte in einer frühen Gesamtausgabe sämtlich als ›Novellen‹, in einer späteren sämtlich als ›Geschichten‹ bezeichnet. Im Rahmen einer ersten Werkedition (1916-1922) wird die ausdrückliche Gattungsbezeichnung der Erstausgaben übernommen, die entsprechenden Sammelbände sind sogar als Novellenzyklen mit Rahmenhandlung angelegt: Die Hochzeit. Ein Novellenbuch (München 1913), Die Taufe. Novellen (München 1916), Der Nobelpreis. Eine Novellensammlung (München 1919); in der zweiten Gesamtausgabe (1927-1938) wird der ›Novellen‹-Begriff überall getilgt, die Zyklen werden aufgelöst zugunsten einer thematischen Gruppierung, etwa in Geschichten von deutscher Art, Romantische Geschichten (zuvor Romantische Novellen), Komödianten- und Spitzbubengeschichten, Liebesgeschichten, Geschichten zwischen Tag und Traum (zuvor Okkultische Novellen) usw. Karl Konrad Polheim wertet diese Eliminierung des Novellenbegriffs zwar positiv im Sinne seiner prinzipiellen Ablehnung normativer Gattungskonzepte, so als ziehe Ernst die Konsequenz aus der theoretischen Unmöglichkeit, ›die Novelle‹ von anderen Formen der Kurzprosa abzugrenzen.97 Dem Autor ein entsprechend avanciertes Problembewusstsein zu unterstellen, scheint aber kaum plausibel: In seinen theoretischen Schriften hat Ernst stets einen normativen und überzeitlich gültigen Novellenbegriff vertreten und den Wechsel der Bezeichnungen hat er auch nicht poetologisch reflektiert. Überhaupt schrieb er in der Regel »nicht Vorbedachtes, Ausgedachtes, Zuendegedachtes«, sondern eher rasch und »drauflos«98 (was er vor sich selbst gern als Indiz genialischer Inspiration gewertet hat). So lassen die meisten Texte Paul Ernsts gedankliche Klarheit und sprachliche Sorgfalt vermissen, und sein dichterisches Selbstverständnis zeugt ebenso wie seine apodiktische Aburteilung anderer Autoren nur von »grotesker Selbstüberschätzung«.99 95 Polheims Versuch, eine gewisse Eigenständigkeit Ernsts über dessen Verwendung des ›Arabesken‹-

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Begriffs hervorzuheben, überzeugt weniger als seine grundsätzlichere Kritik an Ernsts novellentheoretischen Beiträgen. Vgl. Polheim: Paul Ernst und die Novelle, S. 531-538. Paul Ernst: Bemerkungen über mich selbst. In: Der Weg zur Form, S. 11-29, hier S. 21. Vgl. Polheim: Paul Ernst und die Novelle, S. 529f. Norbert Fuerst: Paul Ernst. Der Haudegen des Geistes. München 1985, S. 29. Herbert Lehnert: Geschichte der deutschen Literatur vom Jugendstil zum Expressionismus. Stutt-

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Als Beispiel für Ernsts novellistisches Schaffen sei die »im Sommer 1917«100 abgeschlossene Sammlung Der Nobelpreis kurz untersucht. Eine sehr knapp skizzierte, erzähltheoretisch schwer einzuordnende Rahmenhandlung umgibt die 34 Binnenerzählungen. Schwer zu definieren ist dieser Erzählrahmen deshalb, weil er – darin alles andere als ›klassizistisch‹ – fiktionale Elemente mit metatextuellen Passagen (eher in der Art eines Vorworts) und politischen Stellungnahmen (zum Ersten Weltkrieg) verbindet und darüber hinaus den Autor selbst (nicht als ›Ich‹, sondern als ›Paul Ernst‹) sowie den zeitweilig mit Ernst befreundeten Ästhetiker Georg Lukács (damals noch von Lukács)101 persönlich auftreten lässt. Außerdem wird eine Verbindung dieser Sammlung mit den beiden früheren Zyklen hergestellt: Ausgangssituation ist jeweils eine festliche Zusammenkunft im Schloss des Herrn von Brake; im Band Die Hochzeit werden Geschichten erzählt, während man auf den Bräutigam wartet, in Die Taufe wird die Frucht dieser Verbindung gefeiert und in Der Nobelpreis findet sich der Schwiegersohn des Herrn von Brake von der schwedischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Die ersten Abschnitte des Erzählrahmens sind typisch für die Mischung von Fiktion, Poetologie, Selbstkommentar und Polemik, die Ernst hier bietet, sowie für sein stilistisches Bemühen, die Illusion mündlicher Ansprache zu erzeugen (durch Füllwörter, rhetorische Fragen, Vermutungen usw.): Von zwei Gesellschaften im Schloß des Herrn von Brake ist schon berichtet; bei der letzten wurde angedeutet, daß eine dritte Gesellschaft bevorstehe. Wir wissen ja nicht, welche Beziehungen Herr von Brake zur schwedischen Akademie der Wissenschaften unterhielt; wir möchten vermuten, gar keine; immerhin hatte er richtig gewahrsagt, daß sein Schwiegersohn den Nobelpreis bekommen werde. Die drei Bücher, in welchen die Gesellschaften des Herrn von Brake erzählt werden, sind ja drei Novellensammlungen. Novellen sind Erzählungen von merkwürdigen Vorfällen, von Vorfällen, welche niemals völlig durch den Verstand zu erfassen sind und den unbegreiflichen Gewalten, mögen wir sie als Zufall bezeichnen, als göttliche Leitung, oder als innern Trieb, einen großen Spielraum lassen. Sie haben darin eine offenbare Ähnlichgart 1978, S. 528. – Ernsts großspurige Verdikte treffen nicht nur Zeitgenossen, sondern mitunter auch einen Shakespeare, über den es in den Jugenderinnerungen (1928) heißt: »Erst als Student habe ich mir ihn gekauft und ganz durchgelesen. Ich war immer abgestoßen von vielem Unsinnigen, das ich in ihm bemerkte«. (Paul Ernst: Jugenderinnerungen. Hg. v. Karl August Kutzbach. Gütersloh 1959, S. 311); vom überzogenen Selbstbild Ernsts und seinem emphatischen Dichterbegriff zeugen ebenso ambitionierte wie inhaltsschwache und pseudowissenschaftliche Unternehmungen wie das Buch Grundlagen der neuen Gesellschaft (München 1930) oder das in wenigen Wochen im Januar und Februar 1930 niedergeschriebene Versepos Der Heiland, eine Evangelienparaphrase, in der unter anderm folgende Jesus-Worte fingiert werden: »Du, Dichter, kannst mein Wort verstehen./ Was soll ich mit den andern tun!« (S. 66). 100 Paul Ernst: Der Nobelpreis. Eine Novellensammlung. München 1919 (= Gesammelte Werke, 8), S. 306. 101 Lukács hatte Ernsts Brunhild-Tragödie im Jahr 1911 enthusiastisch rezensiert; später distanzierte er sich nachdrücklich von seinem früheren Freund. Zur Beziehung zwischen Ernst und Lukács vgl. ausführlich Karl August Kutzbach: Paul Ernst und Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Emsdetten, Lechte 1974.

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Klassizistische Novellentradition keit mit den Preisverleihungen. Indem wir nun einen logischen Sprung machen, erklären wir, daß daraufhin die Geschichte vom Nobelpreis ein angemessener Rahmen für den dritten Novellenband ist. Wir brauchen es nicht zu begründen, daß der Schwiegersohn des Herrn von Brake den Nobelpreis bekam; der Preis ist eigentlich für Dichter bestimmt, welche durch ihn von der lästigen Erwerbstätigkeit befreit werden sollen, damit sie ganz ihrer Arbeit leben können; haben ihn nicht wirkliche Dichter bekommen, wie Mistral, Pontoppidan und Heidenstam – die beiden ersten freilich immerhin bloß zur Hälfte – haben ihn die drei Männer nicht wirklich sehr gut brauchen können, und hat wohl ein Mensch beansprucht, daß ein solcher Zufall begründet sein müsse? Nein, Zufall ist Zufall. Wir haben eine Novellensammlung vor uns, und wir müssen ohne weiteres glauben, daß der Nobelpreis gefeiert wird.102

Nach diesen Einleitungspassagen spricht Ernst kurz die Kriegssituation an, in der er seinen Novellenzyklus zusammenstellt und die Rahmenhandlung spielen lässt; wie oft bei Ernst ist viel vom Essen die Rede und es fehlt weder an Durchhalteparolen noch an nationalen Vorurteilen. Trotzdem bleibt die Konstellation blass, wird keineswegs mit der Drastik und Ausführlichkeit geschildert, wie die Florentiner Pest oder die Flucht vor den Revolutionstruppen, die die krisenhaften Rahmensituationen bei Boccaccio und Goethe prägen. Die Überleitung zu den Binnenerzählungen erfolgt kunstlos: »Dieses sind nun die Geschichten des Nobelpreises:«, heißt es lapidar. In den vier Fortsetzungen des Erzählrahmens wird kein Bezug auf die Binnennovellen genommen; an keiner Stelle nutzt Ernst seine Konzeption, um, etwa im Sinn des Decamerone oder der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, das Erzählte von der Gesellschaft kommentieren und diskutieren zu lassen. Stattdessen scheint er ein Forum für seine politischen und kulturpolitischen Ansichten zu suchen; die willkürliche Anordnung der Einzelnovellen und der fehlende Zusammenhang zwischen Rahmenund Binnenerzählungen belegen die Beliebigkeit der zyklischen Komposition. Die einzelnen Novellen sind von begrenzter Länge, die meisten umfassen etwa acht bis zehn Seiten, die längste vierzehn, die kürzesten vier. In dieser Knappheit zeigt sich vielleicht der deutlichste Versuch von Ernst, an die alte italienische und französische Novellentradition anzuknüpfen.103 Inhaltlich sind die Erzählungen bunt, spielen in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten (von der Antike bis zum Weltkrieg); erzählt wird durchweg auktorial, der erste Satz oder der erste Abschnitt geben in der Regel zuverlässig Auskunft über Ort, Zeit und Hauptfiguren des Geschehens, wobei die Protagonisten häufig mit einer Berufs- oder Standesbezeichnung eingeführt werden.104 Die Benennung einzelner Novellen nach bestimmten 102 Ernst: Der Nobelpreis, S. 2. 103 Mit dieser Tradition war Ernst u.a. durch seine umfangreiche Übersetzungstätigkeit vertraut, vgl.

etwa Altitaliänische Novellen. Ausgewählt und übertragen von Paul Ernst. Leipzig 1902. 104 Vgl. z.B. »ein Offizier« (S. 8), »ein wohlhabender Kaufmann« (S. 30), »der regierende Herr in einem

kleinen norddeutschen Fürstentum« (S. 44), »in der Familie eines höheren Beamten« (S. 54), »ein verwundeter Offizier« (S. 62), »ein junger Maler« (S. 70), »ein Setzer namens Hofmann« (S. 120), »ein älterer Gelehrter« (S. 140), »eine Bauernfamilie« (S. 158), »ein alter Tischler« (S. 166), »ein junges Mädchen« (S. 184), »ein Student« (S. 208), »ein unverheirateter Mann« (S. 214) usw.

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Gegenständen könnte auf den ersten Blick auf die herausgehobene Bedeutung eines Symbols verweisen, doch diese Erwartung wird meistens nicht erfüllt: Weder Die Truhe, noch Der Brief, Die Fabrik, Der hölzerne Kindersäbel oder Das Porzellangeschirr nehmen in den jeweiligen Texten eine Funktion im Sinne des Heyseschen ›Falken‹ ein, werden oft sogar erstaunlich beiläufig und erst am Schluss der Erzählungen erwähnt. Auch die Konzentration auf einen spektakulären Vorfall ist eher selten anzutreffen; die erzählte Zeit kann mitunter mehrere Jahre umfassen, etwa in Der Meister, wo – thematisch verwandt mit Max Kretzers Roman Meister Timpe (1888) – das tragische Schicksal eines Handwerksmeisters geschildert wird, der zum Opfer der zunehmenden Industrialisierung und der modernen Massenproduktion wird.105 Typische ›Wendepunkt‹-Situationen kommen gelegentlich, aber keineswegs häufig vor.106 Wenn manche Literaturwissenschaftler insbesondere der dreißiger und vierziger Jahre den »Verzicht auf jegliche psychologische Analyse«107 in Ernsts Novellenwerk loben, wird sicherlich die Intention des Autors erfasst, an den vorpsychologischen Erzählstil Boccaccios anzuknüpfen; zugleich aber belegt etwa die einst sehr beliebte Novelle Förster und Wilddieb108, dass der typologische Blick auf den Menschen und der Verzicht auf introspektive Schilderungen sehr wohl mit hochgradig konstruiert wirkenden Schuld-, Gewissens- und Moralfragen einhergehen kann – das bloße Fehlen einer explizit gemachten psychologischen Durchdringung eröffnet keineswegs den Rückweg in ›naivere‹ Zeiten. Selbst der wohlwollende Johannes Klein kann hier nicht umhin, »viel Spitzfindiges«109 zu entdecken – und damit genau das Gegenteil der angestrebten ›archaischen‹ Wirkung. Im Hinblick auf die paradigmatisch untersuchte Sammlung Der Nobelpreis jedenfalls kann Ernst seinen eigenen Anspruch, einer ›strengen‹ Form der Novelle zu neuem Ansehen zu verhelfen, kaum erfüllen. Was sich als ›Klassizismus‹ verstehen will, ist letztlich weniger im formalen als im inhaltlichen Bereich konservativ geprägt. Zahlreiche Texte aus Der Nobelpreis beziehen eine angesichts der Entstehungszeit geradezu reaktionäre Position. Zwar erschwert Ernst durch seinen Lebenslauf den Versuch, ihn weltanschaulich festzulegen bzw. vertrauten Vorstellungen von ›links‹ und ›rechts‹ zuzuordnen; als konservativer Antikapitalist und aristokratiefeindlicher Monarchist110, der zeitweise dem linksradikalen Flügel der Sozialdemokratie angehört, 105 Vgl. Ernst: Der Nobelpreis, S. 165-170. 106 Am deutlichsten in der Kriegsgeschichte Das Gewissen (ebd., S. 99-106), wo es an der entsprechen-

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den Stelle heißt: »Und da sei nun der Umschwung bei ihm gekommen. Es sei gewesen wie ein Blitz; er habe gesehen, wie gemein er sein ganzes Leben gelebt habe […]« (ebd., S. 104). Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle des 20. Jahrhunderts, S. 82. Paul Ernst: Förster und Wilddieb. In: Ders.: Die Taufe. Novellen. München 1916 (= Gesammelte Werke, 7), S. 263-270. – Eine Inhaltsangabe bietet Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 474; für die einstige Beliebtheit gerade dieses Textes auch in den Schulen spricht u.a. der Aufsatz von Walter Haussmann: Paul Ernst im Unterricht. Mit drei Interpretationen für die Mittelstufe. In: Der Deutschunterricht 9 (1957), H. 1, S. 76-90. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 475. Dass man Kaiser und Kaisertum verehren, aber den Adel als »Vampir-Adel« verachten konnte, hat schon Fontane an einer seiner Roman-Nebenfiguren gezeigt: dem Leutnant Vogelsang aus Frau Jen-

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um in den zwanziger Jahren ein monumentales Kaiserbuch zu verfassen, zeigt seine geistige Biographie ein Konglomerat von scheinbar oder tatsächlich gegensätzlichen Strömungen, wie es typisch für die Vertreter der Konservativen Revolution ist. Die Einzelnovellen des Nobelpreises transportieren allerdings eine eindeutig konservative Einstellung; in der unkritisch-verklärten Darstellung bürgerlicher Werte und Tugenden, mit seinen aufrechten Handwerkern und tugendsamen Mädchen (die an Entwicklungen zerbrechen, denen sich das reale Bürgertum schon seit Jahrzehnten angepasst hat), knüpft Ernst unmittelbar und mit eklatanter historischer Verspätung an die schwächsten Erzeugnisse von Biedermeier und Frührealismus an.111 Als besonders abwehrend erweisen sich die Texte dort, wo von der Frauenemanzipation die Rede ist, die offenbar – neben Kapitalisierung und Industrialisierung – als Hauptübel der Moderne begriffen wird. Ernst hat die für seine Zeit charakteristische, streng dichotome Auffassung der Geschlechterrollen mit einer Aggressivität vertreten, die beinahe an die misogynen Extrempositionen von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) heranreicht112, und das in seinen Erzählungen genauso wie in gesellschaftspolitischen Essays113 oder in feuilletonistischen Beiträgen. Letztere bestätigen geradezu exemplarisch die Erkenntnis der Gender-Studien, dass sowohl die literarische Qualität als auch bestimmte Gattungen im ästhetischen Diskurs geschlechtlich konnotiert sind114: In seinem 1920 erschienenen Aufsatz Novelle, Anekdote, Romankapitel etwa wirft er Selma Lagerlöf vor, durch mangelnde Gestaltungskraft zu wenig aus ihren »ausgezeichnete[n] Stoffe[n]« gemacht zu haben. Begründet wird dieses Urteil allerdings nicht aus individuellen Mängeln, sondern daraus, dass Lagerlöfs Dichten »eben weibermäßig« sei:

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ny Treibel, der das (vom Autor satirisch bloßgestellte) Gesellschaftskonzept einer »Royaldemokratie« vertritt (vgl. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t«. Roman. Hg. v. Tobias Witt. Berlin 2005 [Große Brandenburger Ausgabe], S. 43f.). Am Ende des Nobelpreis bezeichnet Paul Ernst (als Figur der Rahmenhandlung) die »dumme, rohe und alberne Aristokratie« als eine Hauptursache der deutschen Schwierigkeiten und beteuert: »Deutschland ist immer nur in den Dichtern und Denkern gewesen, nicht in den Fabrikanten und Landräten« (Der Nobelpreis, S. 305). – Vgl. zu der auf den ersten Blick befremdlichen Tatsache, dass bei Paul Ernst »gesellschaftsanalytische Ansichten, wie man sie sonst nur aus Texten linksorientierter Autoren kennt, in einem konservativen Denken verankert sind«, auch Viktor Žmegač: Literatur und Gesellschaft aus der Sicht der Neuklassik. In: Zagreber Germanistische Beiträge 6 (1997), S. 29-39, hier S. 29 (Zusammenfassung). Vgl. z.B. Eheglück, in: Der Nobelpreis, S. 53-60 und Der Brief, ebd., S. 151-155. Biographisch mag man diese Rigidität vielleicht auch als Kompensation der Tatsache deuten, dass der Bergmannssohn Ernst es in erster Linie dem Vermögen seiner zweiten Frau Luise von Benda verdankte, wenn er sich seit 1899 eine Italienreise, eine erlesene Liebhaberbibliothek sowie ein »Heim in Weimar, die Grundlage seiner Selbststilisierung zum Klassiker« leisten konnte (vgl. Fuerst: Paul Ernst, S. 33). Vgl. z.B. Die Zerstörung der Ehe (Darmstadt 1917) und dessen textnahe Analyse durch Heide Stieger: Paul Ernsts Aufsatz Die Zerstörung der Ehe von 1917 oder die Angst vor Veränderung. In: Paul Ernst. Außenseiter und Zeitgenosse. Hg. v. Horst Thomé. Würzburg 2002, S. 79-88. Vgl. Caduff/Weigel (Hg.): Das Geschlecht der Künste.

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Die Frau ist immer sofort mit dem Herzen bei ihrer Sache; sie hat ihre Gefühle nicht in Zucht und kann sie nicht zurückhalten. Der Mann wird sich sehr hüten, wenn er einen solchen Stoff findet, ihn gleich ins Gefühl zu nehmen; er weiß, daß er dadurch ihm gegenüber unfrei wird; er muß ihn erst nüchtern sachlich betrachten, ehe er ihn sich innerlich zu eigen macht. Hier liegt eine der hauptsächlichsten Ursachen, warum die Frauen nie das Höchste in der Kunst leisten werden – und nicht nur in der Kunst ist es so, sondern auch auf allen anderen Gebieten, welche die Frauen heute, wie sie es nennen, »erobert« haben. Zucht aus sich heraus hat nur der Mann; und nur vom Mann kann die Frau Zucht lernen. Leistung setzt immer Zucht voraus; deshalb wird man bei jeder bedeutenden Frauenleistung fragen, welcher Mann dahinter steht.115

Diese Äußerungen gegen die schöpferische Kraft der Frau gipfeln in der Frage, was aus Lagerlöfs Stoffen hätte werden können, wenn sie ihre Erfindungen einem Dichter mitgeteilt hätte, der vielleicht ihr Sohn oder ihr Geliebter gewesen wäre, der mit ihnen etwas Dauerndes und Festes hätte machen können, dessen Arbeit dann wieder befruchtend auf sie zurück gewirkt hätte? So wie sie nun in Wirklichkeit gelebt hat, ist nur altjungfernmäßige Unfruchtbarkeit herausgekommen.116

Nahezu alle Gegensatzpaare, die die Geschlechterforschung mit dem patriarchalischen und hierarchischen Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit verbindet, sind in diesen Passagen versammelt: Emotionalität, mangelnde Gefühlsbeherrschung, Subjektivität, Mutterschaft (bzw. beim Abweichen von der vorgegebenen Rolle: deren schuldhafte Verfehlung, die »altjungfernmäßige Unfruchtbarkeit«) stehen auf der weiblichen Seite, Rationalität, Kontrolle, Objektivität, Autorschaft auf der männlichen.117 Aufgrund ihres Geschlechtes wird Lagerlöf die Fähigkeit abgesprochen, eine ›echte‹ Novelle zu schreiben, denn die Novelle als ›strenge‹, ›zuchtvolle‹, ›dauernde‹ Form ist für Ernst männlich codiert und setzt das biologische männliche Geschlecht voraus; entsprechend läuft auch sein Schlußwort zur Judenbuche darauf hinaus, die Qualität des Textes aus einer angeblichen »Eigenbewegung des Stoffes« heraus zu begründen. Drostes »bewußtes künstlerisches Wollen« sei »ganz gering« gewesen, sie selbst eine »Dilettantin«: So haben wir also hier ein ganz merkwürdiges Beispiel für das Eigenleben der künstlerischen Form; wiewohl die Dichterin sie nicht kennt, […] haben die Bedürfnisse der Form ohne ihre Absicht die Geschichte in ihrem Geist so tief verändert, daß eine klassische Novelle aus ihr entstanden ist.118

Die »Kräfte […], die ihn zur Novelle werden lassen« werden in den authentischen stofflichen Vorwurf hinein verlagert: »die entwickeln sich nun in einem dichterisch 115 Paul Ernst: Novelle, Anekdote, Romankapitel. In: Ders.: Der Weg zur Form, S. 427-434, hier

S. 432. 116 Ebd. 117 Vgl. zum aktuellen Stand der Geschlechterforschung in Deutschland z.B. Christina von Braun/

Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2000. Dort auch bibliographische Nachweise zu einem in der Zwischenzeit ungeheuer ausdifferenzierten Forschungsfeld. 118 Paul Ernst: Schlußwort zur Judenbuche. In: Der Weg zur Form, S. 85-97, hier S. 97.

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begabten Menschen, wie ein Samenkorn in der Erde«.119 Der geschlechtlich codierte Vergleich degradiert die Droste zur halbdilettantischen Leihmutter ihres berühmtesten Werkes, das Schreiben einer ›klassischen‹ Novelle bleibt männliches Territorium. Angesichts dieser bis in den produktionsästhetischen und gattungstheoretischen Bereich hineinreichenden Weiblichkeitsvorstellungen ist es nicht erstaunlich, dass Ernst in seinen literarischen Werken reaktionäre Geschlechtsrollenstereotype umsetzt. Was die Sammlung Der Nobelpreis betrifft, so diffamiert schon die Auftaktnovelle Das Abiturientenexamen weibliches Bildungs- und Ausbildungsstreben in schwer erträglicher Weise; dass Ernst die jugendliche Protagonistin, die am Ende lieber einen Offizier ehelicht als weiter das Gymnasium zu besuchen, ausgerechnet Nora nennt, ist wohl als ironischer Bezug auf Ibsens Drama zu sehen – doch dass er in einem Buch, das 1917 abgeschlossen wurde, noch gegen Ibsen glaubt polemisieren zu müssen, zeigt den Anachronismus von Ernsts Aussageabsichten fast deutlicher als die Aussage selbst. »Das Weib ist geschaffen für Mann und Kind und alle andere Betätigung ist für sie nur Ersatz«120, lässt Ernst einen seiner Novellenhelden konstatieren, und keiner seiner weiblichen Charaktere ist geeignet, diese Aussage in Frage zu stellen – der undifferenzierte Nachdruck, mit dem Ernst diese Position innerhalb seiner Texte zu bestätigen sucht, ist allerdings das klarste Indiz für das Ausmaß, in dem sie von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen schon des frühen 20. Jahrhunderts in die Defensive gedrängt worden ist.

1.2. Werner Bergengruen (1892-1964; I) Wo Paul Ernsts Novellenproduktion vor den selbst gesetzten Anforderungen eines formalen Klassizismus und eines Anknüpfens an die italienische Tradition letztlich versagt, kann Werner Bergengruen die erfolgreiche Umsetzung dieser Ziele eher attestiert werden. Seine Sprache ist in ihrem getragen-feierlichen Rhythmus, in ihrem stilisierenden und archaisierenden Duktus tatsächlich ›klassizistisch‹ zu nennen – auch wenn diese patinierte Diktion Geschmackssache ist und mit Gründen kritisiert werden kann.121 Bergengruen hat sich stets zu einer konservativ-traditionalistischen Literaturauffassung bekannt122 und speziell in seiner Novellenproduktion ist die Tra119 Ebd. 120 So in Die Fabrik, in: ebd., S. 125-131. 121 Noch zu Lebzeiten Bergengruens hat etwa Karlheinz Deschner an der Epigonalität und den »un-

durchsichtigen Satzmonströsitäten« (S. 81) des Autors Anstoß genommen; vgl. Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift. München 1957, S. 77-85, sowie (mit ähnlicher Ausrichtung) Christian Grawe: Die Sprache von Bergengruens Der Großtyrann und das Gericht. In: Ders.: Sprache im Prosawerk. Beispiele von Goethe, Fontane, Thomas Mann, Bergengruen, Kleist und Johnson. Bonn 1974, S. 25-37. In beiden Fällen ist die Schärfe der Kritik entscheidend durch die zeitgenössische Überschätzung und vorbehaltlose (schulische) Kanonisierung Bergengruens provoziert und daher, von heute aus gesehen, auch als zeitbedingt zu relativieren. 122 Vgl. z.B. Werner Bergengruen: Rede über die Aufgabe des Dichters in der Gegenwart. In: Nation

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ditionsverhaftung unverkennbar: Für das Boccaccio-Vorbild sprechen schon seine frühe, 1930 vorgelegte Sammlung Der tolle Mönch. 20 Novellen123 und die bis in die späten Jahre hinein bewahrte Vorliebe für ein idealisiertes Renaissance-Italien als Hintergrund und Schauplatz124; den Bezug zu Goethes Novellendefinition signalisiert ein Titel wie Begebenheiten. Geschichten aus einem Jahrtausend.125 Dass Bergengruens Kunst der ästhetischen Durchformung und seine Freude an symbolischer Aufladung mitunter zu deutlich hervortreten, ist allerdings nicht zu leugnen; schon für Benno von Wiese war er »ein eher altmodischer, dem Erzählerstil des 19. Jahrhunderts verpflichteter, an Conrad Ferdinand Meyer erinnernder«126 Autor, und diese Charakterisierung passt auf den bekannten Roman Der Großtyrann und das Gericht ebenso wie auf das reichhaltige Novellenœuvre. Nachdem er im NS-Staat zwar noch veröffentlichen konnte, aber als politisch unzuverlässiger Autor galt und 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde127, erlebte Bergengruen in der jungen Bundesrepublik einen bemerkenswerten Rezeptionsschub. Vor allem für die Schulen werden seine Novellen entdeckt, gelten sie doch, wie der Oberstudiendirektor und offenkundige Heideggerianer Dr. Kurt Reiche 1952 in der Zeitschrift Der Deutschunterricht formuliert, als besonders geeignet, um »die Seins-Offenbarung in der Welt des Dichters als Anruf zum Wesen in jungen Seelen zum Klingen zu bringen«.128 Werner Zimmermann kann 1960 bestätigen, dass Bergengruens Novellen »zum kanonischen Lesegut in den mittleren Klassen der höheren Schule geworden« sind129; dass dies insbesondere für Die drei Falken gilt, begründen die Didaktiker der fünfziger Jahre mit der besonderen Deutlichkeit, mit der dieser Text ›gattungstypische‹ Merkmale vermittele: »Das Wesen der Novelle als Kunstform läßt sich vielleicht an keiner andern Erzählung überhaupt so eindringlich verdeutlichen wie an der klassischen Novelle Die drei Falken«.130 An dieser Stelle kommt das theoretische Dilemma der gesamten klassizistischen Novellenauffassung implizit zum Ausdruck: Denn was als »Wesen der Novelle« er-

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und Schrifttum 1 (1932), Nr. 2, S. 1-6, und ders.: Privilegien des Dichters. Vortrag in der Plenarsitzung der Akademie der Wissenschaft und der Literatur, Mainz, 2. März 1956. U.a. in: Ders.: Mündlich gesprochen. Zürich 1963, S. 267-287. Vgl. ders.: Der tolle Mönch. 20 Novellen. Berlin 1930. Eines von vielen Beispielen: Der humoristische Text Der Pfauenstrauch. Eine Novelle (Zürich 1953). Vgl. ders.: Begebenheiten. Geschichten aus einem Jahrtausend. Berlin 1940. Benno von Wiese: Gegen den Hitler in uns selbst. Über Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht (1935). In: Romane von gestern – heute gelesen. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 3. 19331945. Frankfurt/M. 1990, S. 61-68. Die ausführlichste (allerdings reichlich unkritische) Darstellung von Bergengruens Leben und Schreiben zwischen 1933 und 1945 bietet Albert J. Hofstetter: Werner Bergengruen im Dritten Reich. Diss. Freiburg in der Schweiz. Luzern 1968. Kurt Reiche: Bergengruens Novellen im Unterricht. In: Der Deutschunterricht 4 (1952), H. 6, S. 43-54, hier S. 44. Werner Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen der Gegenwart. Interpretationen für Lehrende und Lernende. Bd. 3. Düsseldorf 1960, S. 135. Reiche: Bergengruens Novellen, S. 47, zustimmend zitiert von Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen, S. 135.

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scheint, ist nicht mehr als die Summe der induktiv gewonnenen oder der Gattung im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugewiesenen Formmerkmale. Wie bereits angesprochen, liegt der angestrebten ontologischen Bestimmung ein Zirkelschluss zugrunde: Als typisch eingestufte Formmerkmale der Novelle werden gesammelt, systematisiert und zu unhistorisch verstandenen ›Wesensmerkmalen‹ stilisiert. In einem zweiten Schritt werden Werke geschrieben, die gezielt und nachdrücklich auf diese Merkmale – ›unerhörte Begebenheit‹, ›Wendepunkt‹, ›Falke‹ usw. – hin konzipiert sind. Wird die Analyse dieser Texte dann von den gleichen Kriterien geleitet, die ihrer Produktion zugrunde lagen, erscheint das ›Wesen‹ der Novelle in ihnen logischerweise ›reiner‹ ausgedrückt, als das in vielen Gattungsbeiträgen etwa des 19. Jahrhunderts der Fall ist. Bezeichnend sind jedoch die Blindheit oder besser gesagt die Abwehr, mit der viele Interpreten und Selbstinterpreten diesem Prozess gegenüberstehen; denn ein klares Bekenntnis dazu, dass die Autoren sich an bestimmten Regeln orientiert haben, wäre für viele von ihnen unvereinbar gewesen mit ihrem beharrlichen Festhalten am Konzept der ›Inspiration‹ und der ›Unmittelbarkeit‹ des Schreibakts, das zu den Kennzeichen traditionalistischen Autorenbewusstseins in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.131 Der stets perhorreszierte Vorwurf des Epigonentums wird abgewehrt, indem man die Orientierung an Regeln und Vorbildern eben nicht als bewusste Nachahmung und Systematisierung klassischer Beispiele, sondern als ›tieferes‹ und ›reineres‹ Verstehen und Umsetzen eines überzeitlichen Gattungsgehalts definiert. Nur so ist es möglich, dass etwa der Bergengruen-Biograph Hans Bänziger im Rahmen seiner Interpretation der Drei Falken die auf Goethe, Schlegel, Tieck und Heyse zurückgeführten Novellenmerkmale benennt und dabei lediglich anmerkt: »Man darf vermuten, Bergengruen habe diese Rezepte gekannt; so verblüffend genau decken sie sich mit seinem Kunstwerk.«132 Der Leser soll offensichtlich die Vorstellung pflegen, dass Goethe, Tieck, Heyse und Bergengruen sich unabhängig voneinander um das ›Wesen‹ der Novelle bemüht hätten; die ›verblüffende‹ Deckungsgleichheit der Ergebnisse wird dann nicht aus einem intertextuellen Abhängigkeitsverhältnis erklärt, sondern aus der jeweils selbständigen Annäherung an das immer gleiche ›Wesen‹. Dass und wie gut Bergengruen die Äußerungen älterer Autoren über die Novelle gekannt hat, zeigt der späte Vortrag Novelle und Gegenwart, den er am 19. Februar 1962 131 Vgl. Wolfgang Kaempfer: Traditionalismus. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v.

Horst Albert Glaser. Bd. 9. Reinbek 1983, S. 189-199, hier S. 190. – Im Rahmen dieses überhöhten Dichterbilds leben bei Bergengruen die Vorstellungen vom Dichter als dem privilegierten Sprachrohr und »Mitwisser Gottes« fort (vgl. die Belege bei Hofstetter: Werner Bergengruen im Dritten Reich, S. 12f.), und bei Rudolf G. Binding heißt es in diesem Zusammenhang etwa: Der Dichter »allein ist der Herr über alle Dinge, die sichtbaren wie die unsichtbaren; und also ist er auch jeglicher Wahrheit Herr« (Rudolf G. Binding: Erlebtes Leben. Frankfurt/M. 1927 [= Gesammeltes Werk, 4], S. 225). 132 Hans Bänziger: Werner Bergengruen. Weg und Werk. Vierte, veränderte Auflage. Bern, München 1983.

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in der Aula der Münchner Universität gehalten hat. Zugleich ist dieser Vortrag überaus symptomatisch für das Selbstverständnis und die Selbstlegitimation der klassizistischen Novellenautoren, weshalb er an dieser Stelle ausführlicher untersucht werden soll. Seinen Ausgangspunkt nimmt Bergengruen übrigens von Paul Ernsts Novelle Förster und Wilddieb; ein eigenes Werk als Paradigma zu wählen, empfand er offenbar als unpassend. Doch auch wenn die vermeintlich oder tatsächlich typischen Novellenmerkmale in Förster und Wilddieb deutlicher erkennbar sein mögen als in vielen Binnenerzählungen des Nobelpreises: In Bergengruens eigenen Gattungsbeiträgen ist das Phänomen eines bewussten formalen Klassizismus auf ästhetisch überlegenem Niveau zu beobachten. Auffällig ist zunächst die Sicherheit, mit der der Autor das ›Wesen‹ der Novelle aus den Definitionsversuchen seiner Vorgänger ergründen zu können glaubt: »Goethe und die Romantiker haben das Wesentliche zur Begriffsbestimmung der Novelle getan. Die Schlegelsche Theorie führt den Gedanken des Wendepunktes ein, Tieck greift ihn auf und macht ihn populär«.133 Heyses Falkentheorie wird »klassische Bedeutung zugeschrieben«.134 Nicht auf literarische Vorgänger, aber auf gängige Positionen der älteren Novellenforschung kann sich Bergengruen beziehen, wenn er die »Begegnung des Menschen mit dem Schicksal als das Urmotiv aller novellistischen Kunst« bezeichnet und überzeugend scheint die Verwendung des auf Heidegger zurückgeführten Begriffs der »Grenzsituation« als »Voraussetzung dieser Begegnung«.135 Eine eigene Prägung fügt Bergengruen mit dem Begriff der »metaphysischen Pointe« hinzu; diese sei für die novellistische Begebenheit unentbehrlich, weil sie das Schicksalhafte und Symbolische verbürge, das dem Handlungsablauf »archetypischen Rang« verleihe und auf Transzendentes verweise.136 In diesem Merkmalskatalog sieht Bergengruen die induktiv gewonnen »Gesetze« der Gattung, wobei er ›Gesetz‹ im Sinne von ›Naturgesetz‹ und damit letztlich im Sinn von »primären Merkmalen« verstanden wissen will137; »Grundformen« der Novelle glaubt er schon in der Antike nachweisen zu können, womit er sich endgültig zur normativen Gattungsauffassung bekennt. Als Besonderheit ›geistiger‹ Gesetze im Unterschied etwa zu mathematischen gesteht er allerdings variable Ausprägungen zu, die er auf »die Individualität des Autors«, »den Stoff« und die historischen »Besonderheiten des Zeitalters«138 zurückführt. Die zentrale, auch für sein eigenes Werk wichtige Aussage in Bergengruens Vortrag fällt gleich im Anschluss: Obwohl es nicht oft geschehen wird, daß sich sämtliche Kennzeichen der Novelle nun in reiner Ausprägung in einer einzigen Novelle versammelt finden, glaube ich doch behaupten zu dürfen, daß uns immer diejenige Novelle am stärksten ergreift, die möglichst viele 133 Werner Bergengruen: Novelle und Gegenwart. In: Ders.: Mündlich gesprochen. Zürich 1963, 134 135 136 137 138

S. 294-313, hier S. 296. Ebd., S. 298. Ebd., S. 297. Ebd., S. 304. Ebd., S. 300. Ebd., S. 301.

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Klassizistische Novellentradition der angeführten und noch anzuführenden Merkmale aufweist. Ihr werden wir den Rang des Klassischen zuerkennen und gewiß ist eine bestimmte Klassizität ja der Novelle überhaupt eigen.139

Hier ist am deutlichsten ausgesprochen, was der klassizistischen Novellenproduktion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde liegt: Die Novellenform ist nicht nur durch induzierte, von den ursprünglichen Kontexten ablösbare Einzelmerkmale bestimmbar, sondern die Häufigkeit, mit der diese Merkmale in neueren Texten eingesetzt werden, dient zugleich auch als Bewertungsmaßstab für ›klassischen‹ Rang. ›Klassizität‹ ergibt sich als Akkumulationsphänomen, wäre damit für den Novellenautor in erster Linie ein handwerklich-technisches Problem – wenn nicht zugleich die Vorstellung von »Rezepte[n] zur Herstellung von Novellen«140 wieder ängstlich abgewehrt würde. Denn nachdem er eine ganze Reihe traditioneller Vorgaben analysiert hat, die sehr wohl als rational handhabbare ›Rezepte‹, als Anleitung zum Schreiben dienen können und die er selber ja auch bewusst befolgt hat, zieht Bergengruen sich sogleich auf eine genieästhetisch inspirierte Position zurück: »[Der Novellist] muß allerlei Gaben aufweisen können, und nur eins ist ihm nicht nötig, nämlich die Kenntnis der novellistischen Gesetze. Er wird sie im Blut haben, oder er ist kein Novellist. Ist er aber keiner, so wird die subtilste Kenntnis dieser Gesetze ihm nicht das Mindeste nützen«.141 Ein zweiter Grundgedanke klassizistischer Novellenproduktion ist in Bergengruens Vortrag gleichfalls anzutreffen: die Überleitung der Formbestimmung in eine entschiedene Wertung. Die Novelle erscheint nicht nur als klar bestimmbare, von feststehenden »Wesensmerkmalen«142 geprägte Gattung, sondern sie wird als an sich privilegierte, besondere Anforderungen an Autor und Leser stellende Kunstform exponiert – wie so oft, auf Kosten anderer kleinepischer Formen und vor allem der Kurzgeschichte. Letztere lasse sich, so Bergengruen, »mit dem photographischen Schnappschuß vergleichen«, denn sie »setzt nichts beim Leser voraus, und so ist sie einem jeden zugänglich, während es, um den künstlerischen Reiz einer Novelle zu kosten, eines ebenso geschulten Aufnahmeorganes bedarf, wie es die Malerei vom Bildbetrachter verlangt«. Im Ganzen habe »der massenhafte Bedarf der Tageszeitungen und Zeitschriften die Kurzgeschichte neuerdings auf das Niveau eines reinen Konsumartikels hinabgedrückt«.143 Dass sich diese Abhängigkeit von Publikationsbedingungen auf die Novellenproduktion des 19. Jahrhunderts in gleicher Weise ausgewirkt hat, wird geflissentlich übersehen; letztlich läuft die Differenzierung lediglich darauf hinaus, dass eine gelungene Erzählung als Novelle, eine tatsächlich oder vermeintlich minderwertigere als Kurzgeschichte betrachtet wird. Novellenautoren und Novellenleser avancieren zur bewusst elitären Gemeinde: 139 140 141 142 143

Ebd., S. 301f. Ebd., S. 310. Ebd. Ebd., S. 308. Ebd., S. 308f.

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Lieschen Müllers Lieblingslektüre wird die Novelle auch in Zukunft nicht werden, und das ist kein Schade. Die Kunst der Novelle ist eine aristokratische, eine exklusive und vielleicht sogar eine esoterische Kunst. Was den äußeren Erfolg angeht, so wird sie mit dem Roman oder der Kurzgeschichte nie in Wettbewerb treten können. […] Die Kenner und Liebhaber der Novelle sind in Deutschland etwas wie ein Geheimbund, sie sind einsame Verschworene, versprengte Kameraden.144

In Bergengruens Vorstellung eines ›Geheimbundes‹ der Novellenkenner leben unverkennbar die bündischen Konzepte des frühen 20. Jahrhunderts fort, deren wesentliche Bestandteile Bernd Widdig wie folgt zusammengefasst hat: »eine elitäre Vorstellung von Kultur, die Kultur als etwas spezifisch Männliches versteht, von der Frauen deshalb ausgeschlossen sind; eine starke Tendenz zur ›Selbstfindung‹ durch radikale Abgrenzung; die Bedrohung durch die Masse als Hauptfeind der Kultur«.145 Die ›breite Masse‹, im männerbündischen Denken ohnehin weiblich konnotiert146, wird hier von ›Lieschen Müller‹ repräsentiert, was die geschlechtliche Codierung noch eindeutiger macht. Bergengruens mystifizierender Sicht auf Produktion und Rezeption von Novellenliteratur wären allerdings die beachtlichen Auflagen entgegenzuhalten, die einige seiner eigenen Novellen vom ersten Erscheinen an erreichten und mit denen wohl die wenigsten Autoren von Kurzgeschichten konkurrieren konnten. Etwa zur Zeit seines Vortrags lagen beispielsweise Die drei Falken in der 38. Auflage vor, Der spanische Rosenstock näherte sich bereits der Halbmillionengrenze, und Die Feuerprobe zählte seit dem ersten Erscheinen 1933 zu den Klassikern des Reclam-Katalogs.147 Diese drei populärsten Gattungsbeiträge Bergengruens seien im Folgenden als repräsentativ für sein Novellenœuvre vorgestellt. In der Feuerprobe gestaltet Bergengruen einen besonders prägnanten Vorfall als »Begebenheit« (der Begriff fällt im Text148). Barbara Gripen hat ihren Ehemann, einen Ratsherrn in Riga, betrogen. Ihr Liebhaber zieht in den Krieg. Als es heißt, er sei gefallen, zwingt der Ratsherr seine Frau zur Feuerprobe, zum Tragen des glühenden Eisens, einer Form des Gottesurteils, wie sie insbesondere auch aus Gottfrieds Tristan bekannt ist.149 Dies scheint ihm der einzige Weg, um die Gerüchte, die ihm über den Ehebruch hintertragen wurden, zu widerlegen. Durch Beichte und Bußübungen gelingt es Barbara offenbar, sich zu reinigen; ein »Gnadenwunder«150 geEbd., S. 312. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 25f. Vgl. ebd., bes. S. 101-127. Vgl. Werner Bergengruen: Die drei Falken. Eine Novelle. 38. Auflage, 320.-335. Tausend. Zürich: Arche 1960; ders.: Der spanische Rosenstock. 31. Auflage, 449.-475. Tausend. Tübingen: Wunderlich 1963. Beide Werke sind niemals aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher verschwunden und auch gegenwärtig über den Buchhandel zu beziehen (vgl. Die drei Falken. Zürich: Arche 2000, Der spanische Rosenstock. Zürich: Arche 2001). 148 Werner Bergengruen: Die Feuerprobe. Novelle. Stuttgart 1975 (= RUB 7214), S. 16f. 149 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. v. Karl Marold. ND Berlin 1969, V. 15521-15768. 150 Bergengruen: Feuerprobe, S. 30. 144 145 146 147

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schieht: die Hand der Ehebrecherin bleibt vom glühenden Eisen unverletzt. Ein überraschender Wendepunkt ereignet sich, als der tot geglaubte Liebhaber zurückkehrt. Die Feuerprobe hat die Sünder nur noch stärker aneinandergekettet, sie können sich nicht dauerhaft meiden, drohen der Hybris zu erliegen, von Gott ausgezeichnet, ja ihm gleich zu sein. Am zweiten Jahrestag des Wunders greift Barbara noch einmal zu dem Stück Eisen, das sie getragen hat; doch nun ist es das kalte Eisen, das ihren Körper verbrennt. Der Kern der Erzählung entstammt volkstümlicher baltischer Überlieferung151; indem er die Frage nach Schuld, Buße und vor allem nach der Gnade Gottes in den Mittelpunkt stellt, gibt Bergengruen seinem Novellentext jedoch eine dezidiert christliche Prägung. Die erzählte »Begebenheit« ist von starker Wirkung, der Text selbst knapp und konzentriert; die häufige Verwendung von Metaphern, Vergleichen und Paradoxien, in denen von ›heiß‹ und ›kalt‹ die Rede ist, schafft ein leitmotivartiges Geflecht von großer Dichte.152 Wenn Bergengruen eine Novelle unter dem Titel Die drei Falken schreibt, die noch dazu im Italien des Spätmittelalters spielt, ist der intertextuelle Bezug zu Boccaccio und zur Diskussion um die Falkennovelle überdeutlich herausgestellt: »Wie in Boccaccios berühmter Federigo-Novelle wird ein Falke Anlaß zu einer inneren Entwicklung und damit zum faßbaren Sinnbild eines Herzensvorgangs«, heißt es bereits bei Johannes Klein.153 Weitere der Novellentradition verhaftete Elemente treten hinzu; in Novelle und Gegenwart hat Bergengruen etwa den weitgehenden Verzicht auf Eigennamen als Zeichen dafür gedeutet, dass das Typische in der Novelle wichtiger sei als das Individuelle154 – in den Drei Falken bekommen selbst zentrale Figuren wie »der Falkenmeister«, »der Seidenhändler und seine Frau« oder »der Prior« keine individualisierenden Namen. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Todes- und Erbschaftsfall. Ein berühmter Falkenmeister hinterlässt drei edle Tiere; seine Erben sind ein angeheirateter Seidenhändler und dessen Frau sowie Cecco der Hinker, »ein Jungfernkind […] ohne einen ordentlichen Leumund«155, das der Falkenmeister posthum als leiblichen Sohn anerkennt. Bei der Testamentseröffnung wird beschlossen, die drei Falken zu versteigern: der Erlös des ersten soll Gläubigern und Armen, der des zweiten einem Kloster, der des dritten den Erben zugute kommen. Der Verteilungsplan wird schwieriger, als ein 151 Zur Wirkung des Textes trägt die regional getönte Atmosphäre durchaus bei, z.B. in Form eines

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Taufspruchs, der baltisches Selbstbewusstsein auf amüsante Art zum Ausdruck bringt: »Wir wünschen dem Kinde, es möge einmal Ratsherr zu Riga werden oder doch wenigstens König von Dänemark« (ebd., S. 10). So heißt es etwa: »Er […] wußte nicht, ob sein Herz von Feuer gekühlt oder von Eis versengt wurde« (S. 23); außerdem kommen Begriffe wie »Herzensbrennen« (S. 32), »heiße[s] Geflüster« (S. 34), »brennende[r] Atem« (S. 35) sowie »Liebesflamme« (S. 39) bzw. »Liebes- und Höllenflammen« (S. 46) gehäuft vor, neben Formulierungen, die das Gegenteil signalisieren (»wie es ihr kalt ums Herz wurde«, S. 33). Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 575. Vgl. Bergengruen: Novelle und Gegenwart, S. 295. Werner Bergengruen: Die drei Falken. Eine Novelle. Zürich 2000, S. 18.

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Falke entfliegt; der Klosterprior verzichtet zugunsten der Armen, doch noch während man um den zweiten Falken steigert, wird der entflogene zurückgebracht. Der Prior steht zu seinem Wort, so dass der Erlös der beiden ersten Falken der Armenfürsorge zufällt; vom dritten Falken erhofft der Seidenhändler den größten Gewinn; doch Cecco, der das Tier mit einemmal als »Inbild aller königlichen Herzensfreiheit«156 erkennt, wehrt sich gegen die rücksichtslose Kapitalisierung dieses Symbols und lässt den Falken fliegen. In Ceccos Entschluss und Tat gestaltet Bergengruen die ›unerhörte Begebenheit‹, die als Bekenntnis zur Freiheit von bürgerlich-kapitalistischen Zwängen verstanden sein will. Cecco, der soziale Außenseiter, bringt sich durch seine Tat auch um sein Erbteil und eine Heiratsaussicht, erteilt damit seiner Integration in die bürgerliche Gesellschaft eine entschiedene Absage; dafür steht am Ende der Novelle seine Aufnahme in die männerbündisch organisierte, elitäraristokratische Falkenbruderschaft, die das ›Großherzige‹ an Ceccos Handeln zu erkennen vermag. Nebenbei lässt sich die Novelle auch als Erzählung von Kunst und Künstlertum lesen – Cecco ist sehr deutlich als Künstlerfigur, ja als Verkörperung der Poesie angelegt, deren urtümliche Kraft durch die Begegnung mit der regelbewussten Falkenbruderschaft anerkannt und gebändigt wird.157 ›Zeitenthoben‹ allerdings ist der Text keinesfalls. Dass Bergengruens Novelle im NS-Staat geschrieben und veröffentlicht wurde, muss schon deshalb erwähnt werden, weil der Autor selbst im Nachhinein eine politische Dimension seines Textes herausgestellt hat: Auch diejenigen unter meinen im verruchten Jahrzwölft entstandenen Novellen, in denen scheinbar nichts vom grauenvollen Geschehen der Zeit berührt wurde, verleugneten ihre Entstehungsjahre nicht; und sei es auch nur dadurch, daß ein Gegenbild aufzurichten versucht wurde, an dem diese Ära zu messen war. So habe ich in der 1935/36 geschriebenen Novelle Die drei Falken ein Bild königlicher Herzensfreiheit, ein Bild der Großmut und Hochherzigkeit gezeichnet, also gerade jener seelischen Elemente, die damals aus der deutschen Realität ohne Spur verschwunden zu sein schienen.158

156 Ebd., S. 59. 157 Vgl. die Beschreibung Ceccos bei der Testamentseröffnung: Abseits »saß selbstvergessen in der

Fensterbrüstung Cecco der Hinker und […] summte halblaut mit seinem in sich gewandten Lächeln eine Melodie. […] Er erwarb sich seinen Unterhalt als Puppenspieler, in welcher Eigenschaft er sich an überraschenden Eingebungen sehr reich zeigte, […] er geigte bei Hochzeiten, wobei er es liebte, Melodien zu erfinden« und könnte sich niemals »in ein immerwährendes Verhältnis der Abhängigkeit« im Rahmen bürgerlicher Erwerbstätigkeit schicken (ebd., S. 18f.). Hier sind zahlreiche Elemente des romantischen Künstlerideals versammelt; das Puppenspiel als Inbegriff des KünstlerischPoetischen zu sehen erinnert zudem an Theodor Storms Pole Poppenspäler (1874). Das Bürger-Künstler-Verhältnis wird auch an späteren Stellen noch thematisiert, wenn es etwa heißt: »Sie [die Bürger] hatten es gern, einander Bemerkungen und Redensarten zuzutragen, deren er sich in seinen Puppenspielen bedient hatte, und viele empfanden ein entferntes Wohlgefallen an seiner vogelhaften Freiheit; doch gab es auch solche, die gleich den Seidenhändlersleuten in ihm nur einen Tagedieb sahen« (ebd., S. 30). 158 Werner Bergengruen: Schreibtischerinnerungen. Zürich 1961, S. 176f.

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Es wäre anmaßend, die subjektive Authentizität dieser Äußerungen bezweifeln zu wollen; doch zumindest wird die Problematik der Inneren Emigration am Beispiel der Drei Falken ebenso deutlich wie in Bergengruens diesbezüglich am stärksten diskutiertem Roman Der Großtyrann und das Gericht.159 Das intendierte Widerstandspotential bleibt zu sehr im Verborgenen und Vieldeutigen; zahlreiche Elemente in Bergengruens Novelle lassen sich nicht nur unabhängig von der politischen Situation, sondern geradezu im Einklang mit ihr lesen. Das gilt vor allem für die vehemente Antibürgerlichkeit, die aus dem Text spricht. Die Handlung spielt in der Verfallszeit des edlen Rittertums und der Falknerei; bedingt ist dieser Verfall durch den aufkommenden Kapitalismus, dessen herausragende Vertreter der Seidenhändler und seine Frau sind. In ihrer Charakterisierung spiegeln sich alle Negativklischees von profitgierigen, gefühlskalten, egoistischen Kaufleuten, die blind sind für alles, dessen Wert sich nicht in Geld ausdrücken lässt.160 Sympathien gelten dagegen dem Volk, das in Form der Armenfürsorge gleich doppelt vom Erlös des Falkenverkaufs profitiert. Die Art und Weise, wie hier die ursprünglichen Objekte privaten Kalküls und Handelns zugunsten der ›Volksgemeinschaft‹ kapitalisiert werden, das Eigentum vorgeblich im Guten Allgemeinen aufgehoben wird, ist mit dem antibürgerlichen Affekt der Nationalsozialisten durchaus vereinbar und die vorgeführten Kaufmannklischees sind, wenn nicht aus antisemitischer Polemik heraus geboren, so doch aus dieser bestens vertraut. Ceccos »Ekel daran, daß alles um Geld zu Markte stand«, sein Schrecken angesichts einer »Welt der Kaufpreise und Marktgängigkeiten«161 sind keine Absagen an den Nationalsozialismus, sondern an eine kapitalisierte Gesellschaft, wie sie sich auch in der nationalsozialistischen Ideologie niedergeschlagen haben. Als kleine Inkonsequenz kann zudem gelten, dass die Novelle eigentlich ›Der dritte Falke‹ heißen müsste, denn nur dieser erlangt die Freiheit, avanciert zum Symbol; die beiden ersten werden regulär versteigert und wechseln in privaten Besitz, ohne dass ein Grund für die Privilegierung des dritten zu erkennen wäre. Was den ästhetisch-formalen Bereich betrifft, sind Bergengruens Drei Falken fraglos ein Mustertext klassizistischer Novellentradition, der zahlreiche als novellentypisch erachtete Merkmale in ›reiner‹ Form aufweist, vom intertextuellen BoccaccioBezug über die zentrale Stellung einer ›unerhörten Begebenheit‹, deren Sinngehalt im Wort- wie im übertragenen Sinne ein ›Falke‹ verkörpert, bis zum regelmäßigen, 159 Vgl. etwa die kritischen Ausführungen zu diesem Buch von Reinhold Grimm (Im Dickicht der

inneren Emigration. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 406-426, bes. S. 415f.) und Wolfgang Emmerich (Die Literatur des antifaschistischen Widerstandes in Deutschland. In: Ebd., S. 427-458, bes. S. 448-450). 160 Als der Seidenhändler etwa die Erbmasse begutachtet und dabei ein Lehrbuch über die Falkenjagd bemerkt, in das der verstorbene Falkenmeister »allerlei Anmerkungen aus seiner vielfältigen Erfahrung eingetragen« hat, ist das einzige, was ihm dazu einfällt: »Dies Buch müsste sich günstig veräußern lassen […]. Es ist nur schade, daß der Alte es beschmiert hat.« (S. 13). Was aus idealistischer Perspektive den Wert unendlich erhöht, kann der Materialist nur als wertschädigend erfassen. 161 Bergengruen: Die drei Falken, S. 59f.

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streng kalkulierten Aufbau.162 Insofern hatte Marcel Reich-Ranicki Recht, als er zwei Jahre nach Bergengruens Tod nachdrücklich an gerade diesen Text erinnerte, ihn als »in seiner Art vollendet« lobte und die Lektüre insbesondere denjenigen empfahl, »die meinen, ein Feinschmecker müsse sich heute über einen Schriftsteller wie Werner Bergengruen […] unbedingt mit milder Geringschätzung und mit spöttischer Nachsicht äußern«.163 Als kritische Würdigung hat Reich-Ranickis knapper Artikel bis heute Bestand: Gewiß fällt es schwer, die in manchem der vielen Bücher Bergengruens enthaltenen Elemente der Innerlichkeit und der schiefen Idyllik, der Künstelei und einer etwas hausbackenen Betulichkeit ohne Widerspruch zu akzeptieren. So bedenklich eine solche Mischung, in Deutschland zumal, auch sein mag, so wenig darf man Bergengruens Meisterschaft verkennen.164

Ähnliches lässt sich auch über die noch erfolgreichere Novelle Der spanische Rosenstock (1940) sagen. Zu den in den Drei Falken realisierten Gattungsmerkmalen tritt hier eine Rahmenhandlung hinzu; Erzählerfigur ist der Dichter Fabeck, dessen Abschiednehmen von einem geliebten Mädchen sich in der Binnengeschichte spiegelt. Bergengruen entspricht durch die simulierte Oralität seiner eigenen Beobachtung aus Novelle und Gegenwart: »Wieviele Novellen jeder und auch unserer Zeit bekennen sich schon dadurch zu ihrer Abstammung, daß sie ausdrücklich einem bestimmten Erzähler in den Mund gelegt werden!«165 Klassizistische Rundung des Erzählstils wird zum einen durch gewählte Ausdrucksweise und häufige Archaisierungen erreicht (z.B. sehen die Protagonisten nie ›zum Mond hinauf‹, sondern immer »zum Monde«166), zum anderen durch die Bevorzugung der indirekten Rede im Binnenteil; letzteres verstärkt die Illusion des mündlichen Erzählens und sorgt dafür, dass sich, wie Eberhard Lämmert allgemein formuliert hat, »die Rede […] dem durcherzählten Geschehen widerstandsloser«167 anschmiegt. Im Unterschied zu Ernst gelingt Bergengruen eine subtile Verknüpfung von Rahmen- und Binnenerzählung168, und die Handlung hat einen bis heute nachfühlbaren Reiz, der auch und gerade in ihren irrationalen, romantischen oder auch (horribile dictu) sentimentalen Zügen liegt.169 Der titelgebende Rosenstock symbolisiert nicht nur die Liebe zwischen den Protagonis162 Vgl. zu letzterem Hans Bänziger: Werner Bergengruen. Weg und Werk. Vierte, veränderte Auflage

Bern, München 1983, S. 61f.

163 M.[arcel] R.[eich]-R.[anicki]: Zu empfehlen. In: Die Zeit, 26.8.1966; die Anspielung bezieht sich

wahrscheinlich auf Deschners Bergengruen-Kritik in Kitsch, Konvention und Kunst. Ebd. Bergengruen: Novelle und Gegenwart, S. 295. Ders.: Der spanische Rosenstock. Novelle. Zürich 2001, S. 31. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 51972, S. 234. Zum symmetrischen Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung vgl. Johannes Pfeiffer: Über Werner Bergengruens Erzählung Der spanische Rosenstock. In: Der Deutschunterricht 4 (1952), H. 6, S. 55-58. 169 Walter Jens geht zu hart mit dem Text ins Gericht, wenn er ihn als »sentimentale[ ] Etüde« bezeichnet (während er Bergengruens Tod in Reval im gleichen Atemzug als »Meisterwerk« würdigt). Vgl. Walter Jens: Deutsche Literatur der Gegenwart. Themen, Stile, Tendenzen. München 1961, S. 59. 164 165 166 167 168

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ten – deren Schicksal einmal mehr im renaissancezeitlichen Italien zu spielen scheint – sondern steigert sich zu religiös-märchenhafter Dimension, wenn die liebende Oktavia am Ende von Rosen umwuchert und dabei ein »sanftes Geborgensein«170 empfindet, als sei dies ein Vorgeschmack vom Garten Gottes. Elemente einer Kunsterzählung kommen wie bei den Drei Falken auch diesmal hinzu; der Erzähler ist ein Autor, der sich noch entwickelt, der den Übergang vom Fabulieren zum Schreiben noch nicht gefunden hat, denn vorerst schreibt er seine Geschichten nie auf, weil »er dunkel fühlen mochte, es fehle ihm noch eine bändigende und sondernde Kraft, wie sie nur in Jahren erworben werden kann.«171 Immerhin vermittelt der Ausgang der Geschichte nicht nur dieses konservativ-klassizistische Dichterbild, sondern macht die Fiktionalität des Erzählten bewusst, indem Fabeck die Schlussvarianten zwischen buchstäblichem und symbolischem Verständnis changieren lässt und letzte Sicherheiten über das Ende der Liebenden verweigert. Bergengruens Beliebtheit in den fünfziger Jahren, gerade auch in der Schule, hat dieselben Gründe, aus denen die gegenwärtige Literaturwissenschaft wenig mit ihm anfangen kann. Wenn es in der Nachkriegszeit als Aufgabe des Deutschlehrers galt, »Geschmack und Wertempfinden der ihm anvertrauten Jugend«172 zu bilden, so boten sich Bergengruens Novellen gleich doppelt zur Besprechung an: Die abstrakten, im Vagen bleibenden Ideale, um die Texte wie Die drei Falken und Der spanische Rosenstock angeordnet sind, ließen viel Raum für eine ›werteorientierte‹ Lektüre (ohne dass diese Werte eine politische Konkretisierung erfahren hätten), und der formale Klassizismus war mit den Mitteln einer werkimmanenten Interpretation hervorragend zu erfassen. Bergengruens Zugehörigkeit zur ›Inneren Emigration‹ mag für die Lehrplankommissionen eine implizite Legitimation dargestellt zu haben, um seine Texte als Schullektüre zu kanonisieren; in der pädagogischen Arbeit aber wurde, legt man etwa Werner Zimmermanns weit verbreiteten didaktisch orientierten Aufsatz zu Die drei Falken zugrunde, eine solche Verbindung in keiner Weise gesucht. So ist in Zimmermanns Ausführungen zwar viel von »Formwillen«, allgemein-menschlicher »Sinnesart« und Symbolik die Rede173, nicht aber von konkreten Entstehungsbedingungen des Textes aus einer unmittelbar erfahrenden zeitgenössischen Situation heraus – geschweige denn, dass die Angemessenheit der literarischen Antwort in irgendeiner Weise diskutiert würde. Gelänge dem aktuellen Deutschunterricht eine Einbeziehung dieser Faktoren, dürften sich Die drei Falken allerdings auch einer kritischen, an sozialhistorischer Kontextualisierung interessierten Lektürehaltung neu 170 Bergengruen: Der spanische Rosenstock, S. 54. 171 Ebd., S. 8. 172 Robert Ulshöfer: Die Prosadichtung der Gegenwart in der Schule. In: Der Deutschunterricht 4

(1952), H. 6, S. 5-10, hier S. 6. – »Bildenden Wert« gesteht Ulshöfer lediglich einer »gesetzgebend[en]«, sprich konservativ-klassizistischen Literatur zu, wogegen er »Werke der Dekadenz, des Surrealismus, des extremen Naturalismus« (ebd., S. 7) möglichst ganz aus der Schule fernhalten will; ausführliche Beiträge widmet das von ihm verantwortete Heft zur Gegenwartsliteratur neben Bergengruen Stefan Andres, Gertrud von le Fort, Ernst Wiechert und (immerhin) Thomas Mann. 173 Vgl. Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen der Gegenwart, u.a. S. 135, 155.

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erschließen; unter den klassizistischen Novellenautoren des 20. Jahrhunderts jedenfalls ist Bergengruen – so viel sei vorweggenommen – der einzige, der zumindest mit einigen seiner Werke eine Wiederentdeckung verdienen würde.

2. Opfer und Negierung der Frau 2.1. Rudolf Georg Binding (1867-1938) »Konservativ in der Gesinnung und klassisch in der Form«174, gehörte Rudolf G. Binding zu den Lieblingsautoren des wilhelminischen und nachwilhelminischen Bürgertums – insbesondere mit seiner Novelle Der Opfergang (1911). Als Nr. 23 der InselBücherei erfuhr dieser Text Auflage um Auflage; 1937 lag er bereits in 475 000 Exemplaren vor, zwanzig Jahre später war das 955. Tausend erreicht, 1963 wurde die Millionengrenze überschritten und in unveränderter Ausstattung ist der Opfergang bis heute im Buchhandel erhältlich.175 Literarästhetische Einwände wurden überwiegend erst nach 1945 vorgebracht, dann aber immer massiver; 1951 gilt die erfolgreichste Novelle des Autors noch als »Grenzfall zwischen Kunst und Kitsch«176, in Walther Killys Textsammlung Deutscher Kitsch von 1962 dagegen ist Binding bereits eindeutig als Trivialautor klassifiziert.177 Die ästhetische Unrettbarkeit seiner Texte tut ihrer kultur- und mentalitätshistorischen Aussagekraft jedoch keinen Abbruch; ihre zeitgenössische Wirkung war eng verknüpft mit dem Ansehen des Autors als Offizier, Rennreiter und ›Gentleman‹178, der den »deutschen Geist«179 und den Patriotismus, die »Zucht«180 und die Ehre stets hochgehalten hat. Das Kunstwerk verstand er als emphatischen »Ausdruck eines innersten Erlebnisses«181 und hat, nicht nur in seiner romanhaften Autobiographie Erlebtes Leben182, oft mit Analogien zwischen Fiktion und Realität kokettiert. 174 Hans Schwab-Felisch: Zum Bilde Rudolf G. Bindings. In: Neue deutsche Hefte 6 (1959/60), S. 59-

66, hier S. 59f.

175 Rudolf G. Binding: Der Opfergang. Eine Novelle. Frankfurt/M.

541997. – Angesichts dieses Erfolgs ist es kein Wunder, dass Binding zum 25jährigen Jubiläum der Reihe gebeten wurde, einen Beitrag zu schreiben, vgl. Rudolf G. Binding: Die Insel-Bücherei. In: Die Insel-Bücherei 1912-1937. Leipzig 1937, S. 21-33. 176 Johannes Pfeiffer: Über Bindings Novelle Der Opfergang. In: Die Sammlung 6 (1951), S. 475-479, hier S. 475. 177 Vgl. Walther Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 51966, S. 49f., 131133. 178 Vgl. dazu ausführlich Roger L. Cole: The Ethical Foundations of Rudolf Binding’s »Gentleman«Concept. The Hague, Paris 1966. 179 Rudolf G. Binding: Ad se ipsum. Aus einem Tagebuch. Hamburg 1951 [11939], S. 8. 180 Ders.: Erlebtes Leben, S. 131, 135. 181 Ders.: Ad se ipsum, S. 105. 182 Aus dieser Figura etymologica spricht zugleich die herausragende Bedeutung, die Binding der Lebensphilosophie und dem Erlebnis-Konzept Wilhelm Diltheys zumaß, vgl. dazu Bernhard Martin:

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Dies trifft besonders auf die im Opfergang geschilderte Figurenkonstellation zu. Dort steht der Novellenheld Albrecht zwischen seiner Ehefrau (und Cousine) Octavia und seiner Geliebten Joie. Beide Frauennamen sind sprechend; ›Octavia‹ erinnert einerseits an das ›reinste‹ Intervall, andererseits an die tugendhafte Schwester des Augustus, die von ihrem Gemahl Marcus Antonius verlassen wurde, als dieser den Reizen Cleopatras erlag. ›Joie‹ heißt ›Freude‹ – die sexuelle Konnotation ist gewollt183, und das Französische war für das wilhelminische Bürgertum ohnehin das Medium, über das man sich in eroticis leichter zu artikulieren vermochte als in der Muttersprache.184 Die für die Weiblichkeitsmuster der patriarchalen Gesellschaft typische Polarisierung von Hure und Heiliger, ›roter‹ (sexualisierter) und ›weißer‹ (entsexualisierter) Frau185 ist hier mehr als nur angedeutet. In Erlebtes Leben spricht Binding von seiner eigenen Ehefrau (und Cousine) Helene als ›Octavia‹ und charakterisiert sie teils mit den gleichen Formulierungen wie seine literarische Figur, sogar ein »Opfergang durch Jahre«186 wird ihr attestiert. Als ›Joie‹ bezeichnet der Autor seine Geliebte Eva Connstein; die 1950 veröffentlichten Briefe An eine Geliebte dokumentieren auch den Entstehungsprozess des Opfergangs. Zudem bieten sie eine ausführliche Selbstinterpretation des Autors, der sich vor Eva Connstein nicht zuletzt dafür rechtfertigen muss, Details aus ihrer intimen Beziehung verarbeitet zu haben: Daß im Opfergang vieles so wörtlich ist? Ja, Liebste! Deine Worte festzuhalten, für uns beide nur als solche kenntlich, das war mir beinah’ das Schönste am Arbeiten. Aber ich glaube, daß auch rein künstlerisch manches gut gelungen ist und stark ist. […] Obgleich das Ganze, als Novelle, als Komposition, wohl hinter den beiden voraufgehenden Geschichten zurückbleibt, glaube ich, an Kraft innerhalb einzelner Situationen und Symbolisationen jene ersten ab und zu übertroffen zu haben; eine Hoffnung, die ich wegen des mir noch immer nötigen Fortschritts bewahrheitet sehen möchte.187

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Dichtung und Ideologie: Völkisch-nationales Denken im Werk Rudolf Georg Bindings. Frankfurt/M., Bern, New York 1986, S. 24-30. – Ausgehend von ihrem mentalitätsgeschichtlichen Quellenwert hat Jean Améry Bindings Autobiographie als »wichtiges Zeugnis für affirmative Bürgerlichkeit« zur kritischen Lektüre empfohlen; vgl. Jean Améry: A propos »Haltung« und »Zersetzung«. Über Rudolf G. Binding, Hans Carossa, Erich Kästner, Hermann Kesten und Ernst Glaeser. In: Ders.: Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts. Stuttgart 1981, S. 65-79, hier S. 69. John Margetts verweist in seinem sehr bemerkenswerten Aufsatz darauf, dass ›Freude‹ im obszönen Wortschatz eine Umschreibung für ›Vagina‹ darstelle; über seinen Nachnamen ›Froben‹ (= Freund des Frohseins) ist Albrecht zudem etymologisch mit Joie in Verbindung zu bringen; vgl. John Margetts: Ride a Cock Horse … to see two fine Ladies: on the contradictions in R.G. Binding’s Der Opfergang. In: German Life and Letters 44 (1991), S. 110-121, hier S. 120, Anm. 19. – Durch einen aparten Druckfehler erscheint dieser Titel bei Aust: Novelle, S. 163, als »Ride a Cook Horse«. Noch Thomas Manns Hans Castorp legt Zeugnis dafür ab, vgl. das Ende des Kapitels Walpurgisnacht in Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M. 1974 (= Gesammelte Werke, 3), bes. S. 474-478. Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/M. 1977, 1978. Binding: Erlebtes Leben, S. 200. Rudolf G. Binding an Eva Connstein, 14.11.1911. In: Ders.: An eine Geliebte. Briefe für Joie. München, Leipzig, Freiburg i.Br. 1950, S. 105-107, hier S. 105f. – Erlebtes Leben ist übrigens in gleicher Weise durch bestimmte abgegrenzte Situationen und Bilder strukturiert, die teils leitmotivische

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Es handelt sich zugleich um eine der wenigen konkreteren produktionsästhetischen Äußerungen Bindings, der sich sonst in der Regel nur emphatisch und pauschal zu einem überhöhten Dichter- bzw. Formbegriff bekannte. Die ›einzelnen Situationen‹, die er anspricht, nehmen in der Novelle beinahe die Qualität von lebenden, mit Bedeutung übersättigten Bildern an, die zwar ausgesprochen statisch ausfallen, aber die Handlung auf ihre Weise durchaus ›scharf silhouettieren‹ (um an Heyses Terminologie anzuknüpfen). Auch der titelgebende ›Opfergang‹ Octavias gehört zu diesen vom Autor hervorgehobenen Situationen. Er ist zugleich die ›unerhörte Begebenheit‹ dieses oft als »typische Novelle«188 charakterisierten Textes und besteht darin, dass Octavia der erkrankten Joie vortäuscht, der eben erst an der Cholera verstorbene Albrecht sei noch am Leben – um damit der Geliebten ihres verstorbenen Mannes über die Krise in ihrer Scharlach-Erkrankung hinwegzuhelfen. Mit der Cholera infiziert hat sich Albrecht bei Joies unehelich geborenem Kind; Eva Connstein gegenüber hat Binding diese tragische Lösung der Dreieckskonstellation wie folgt verteidigt: Es mag richtig sein, daß es etwas »bequem« ist, Albrecht durch die Hand von Joies Kind sterben zu lassen; aber ich fand doch, daß er sterben muß. Er geht nicht eigentlich damit dem Konflikt aus dem Wege; er scheidet vielmehr aus, und die Lösung des Konflikts bleibt in den Händen der Frauen: beide bleiben Siegerinnen.189

Die biographische Dreieckskonstellation löste sich weniger spektakulär; Binding und seine Frau trennten sich bereits 1913 nach sechsjähriger Ehe und ließen sich 1919 scheiden, die Beziehung zu Eva Connstein ging 1922 zu Ende; die Frauen waren wohl ebenso wenig ›Siegerinnen‹ wie Binding ein ›Opfer‹. Wie die Situation im Opfergang stilisiert wird, ist allerdings mentalitätsgeschichtlich gesehen überaus aufschlussreich, insbesondere dort, wo von Frauen- und Geschlechterrollen die Rede ist oder, in engem Zusammenhang damit, Sexualität thematisiert wird. Dass das Sprechen über Sexualität den Opfergang geradezu dominiert, ist für den heutigen Leser offensichtlich190; interessant ist jedoch, dass diese Tatsache von früheren Lesergenerationen anscheinend ignoriert oder zumindest nicht ins Bewusstsein gehoben wurde. Die Novelle avancierte vielfach zur Schullektüre und galt als typisches Konfirmationsgeschenk gerade für Mädchen; ihre Besprechung in der Oberstufe wird noch in den fünfziger Jahren empfohlen.191 Es bleibt also zu rekonstruieFunktion erhalten und vielleicht als ›Erlebnisse‹ im Sinne Diltheys intendiert sind. 188 Vgl. z.B. Klaus Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und Entwicklung. Darm-

stadt 61980, S. 66.

189 Rudolf G. Binding an Eva Connstein, 14.11.1911. In: Ders.: An eine Geliebte, S. 106. 190 Wirklich herausgestellt und auf den Punkt gebracht wurde die sexualisierte Sprache Bindings aller-

dings erst in dem (nicht zufällig von einem Auslandsgermanisten stammenden?) Artikel von Margetts: Ride a Cock Horse. 191 Vgl. Else Löns: Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde – Bindings Novelle Der Opfergang. In: Der Deutschunterricht 1 (1948/49), H. 7, S. 57-63; drei Jahre später schreibt Walter Haussmann in der gleichen Zeitschrift: »Den Opfergang (Inselbücherei) müssen wir der Oberstufe vorbehalten; die bei Reclam ausgewählten Abschnitte aus dem Erlebten Leben sollten jedoch schon um ihrer zeitge-

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ren, wieso eine derart offenkundig sexualisierte Sprache in einer Zeit, die Sexualität als literarischen Gegenstand sehr weitgehend und vor allem im schulischen Kontext tabuisiert hat, auffällig wenig Anstoß hervorrief. An erster Stelle ist hier vielleicht der klassizistische Anspruch zu nennen, den Bindings Texte signalisieren. Der durchgängig hohe, pathetisch-feierliche Ton des sprachlichen Umfelds mag dazu beigetragen haben, die permanente Evokation von Sexualität für ein bürgerliches Lesepublikum annehmbar zu machen.192 Erklärbar ist dieses Phänomen am ehesten durch Sigmund Freuds Äußerungen zur Funktion der ästhetischen Form: Freud zufolge bietet die Form(schönheit) einen Lustgewinn, der aber als ›Vorlust‹ oder als ›Verlockungsprämie‹ fungiere, weil diese erst die größere Lust am verbotenen Phantasie-Inhalt ermögliche.193 Was bei ästhetisch höherrangiger Literatur reduktiv erscheint, könnte im Fall Bindings die einleuchtendste Erklärung für seinen großen Erfolg sein. Allzu raffinierte Verdichtungs- oder Verschiebungsarbeit leistet der Autor jedenfalls nicht; man muss kein Freudianer sein, um Texte wie die 1924 erschienene Reitvorschrift für eine Geliebte als peinlich, wenn nicht als unfreiwillig komisch zu empfinden. Parallelisierungen zwischen dem Reit- und dem Sexualakt, wie sie sowohl die Vulgärsprache als auch die Psychoanalyse nahelegen, hat Binding häufig vorgenommen; am unmittelbarsten in einer Passage aus Erlebtes Leben194, mehr oder weniger offensichtlich in der Reitvorschrift für eine Geliebte195, nur schwach verborgen in einer Passage des Opfergangs: Eines Morgens, als sie von einem heißen Ritt durch warm duftende Kornfelder heimkamen, bat ihn Joie, einmal in ihren Stall herüberzukommen und ihren Rappen anzusehen, der sich bei einem verwegenen Sprung verletzt hatte. Albrecht brachte sein Pferd in seinen Stand und ging hinüber. Joie stand in dem Gang des kurzen Stallbaues vor der geöff-

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schichtlichen Bedeutung willen, besonders aber wegen ihrer gesammelten Sprachzucht, in Klasse 6 gelesen werden«, vgl. Walter Haussmann: Dichtung der Gegenwart im Deutschunterricht der Mittelstufe. In: Der Deutschunterricht 4 (1952), H. 6, S. 10-24, hier S. 22. Auf ungleich höherem literarischen Niveau liegt der Fall bei Thomas Manns etwa zeitgleich mit dem Opfergang entstandenen Tod in Venedig ähnlich: Hier wird das Skandalon des homoerotischen Affekts durch Stilisierung und antik-philosophische Überhöhung gemildert und für ein bildungsbürgerliches Publikum akzeptabel gemacht. Vgl. in diesem Sinn Werner Deuse: »Besonders ein antikisierendes Kapitel scheint mir gelungen.« Griechisches in Der Tod in Venedig. In: Heimsuchung und süßes Gift. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Hg. v. Gerhard Härle. Frankfurt/M. 1992, S. 41-62. Vgl. Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991, S. 24. »Mein Tag war trotz meiner Unerfülltheit nicht völlig leer. Ich ritt und liebte. Ich ritt nach Herzenslust und liebte nicht anders. […] Frauen sind immer reizend wenn sie lieben. Sie lügen nicht. Ich ritt aber am liebsten, am freudigsten, fast möchte ich sagen: am besten, wenn ich liebte; denn dann war ich in besonderer Weise gehoben […]«. Es folgt eine längere und klischeereiche Auflistung von Bindings Jugendgeliebten. Vgl. Binding: Erlebtes Leben, S. 150-152. Was auf einer ersten Ebene als pseudo-philosophische Reitanweisung gelesen werden soll (und auch so gelesen wurde, schließlich erhielt Binding für diesen Text 1928 in Amsterdam eine olympische Medaille!), wird in unverkennbarer Weise mit Anspielungen auf den Sexualakt durchsetzt, vgl. Rudolf G. Binding: Reitvorschrift für eine Geliebte. In: Ders.: Gesammeltes Werk. Bd. 2. Frankfurt/M. 1927, S. 273-324, bes. S. 301, 304, 317, 319-321 u.ö.

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neten Tür einer Box, aus der der Rappe halb herausgetreten war und nun Nase und Stirn in einem unaufhörlichen Bohren und Auf und Nieder an Brust und Schoß seiner Herrin schabte […]. Sie ließ sich das lächelnd gefallen, als ob sie eine Liebkosung, die sie einem Tiere erweisen könne, nicht unterbrechen dürfe. Die Zärtlichkeit des Pferdes war jedoch ein wenig zu ungestüm und unbemessen, so daß sie auf den Saum ihres Kleides zurücktreten mußte und dadurch beinah zu Fall gekommen wäre. Albrecht, der hinter sie getreten war, scheuchte das Tier mit einer Bewegung zurück und fing sie, nicht ohne eine leichte Erregung, in seinen Armen auf. Da entzog sich Joie dieser neuen Berührung ebensowenig wie der des schmeichelnden Tieres.196

Was folgt, ist nicht allzu viel; über diese Berührung hinaus kommt es an dieser Stelle nicht einmal zu einem Kuss – auch einen tatsächlichen Ehebruch wird es im Opfergang weder hier noch später geben –, nur zu einer pseudo-pathetischen Prophezeiung Joies über gemeinsames Unglück. Die geradezu pornographische Qualität des Textes entsteht jedoch aus der penetrant sexualisierenden Beschreibung nicht-sexueller Vorgänge; die Phantasie von Autor und Leser kann sich an der sexualistischen Aufladung entzünden, zugleich jedoch lässt sich das Bewusstwerden dieser Tatsache dadurch abwehren, dass auf der Inhaltsebene eigentlich nichts oder wenig ›passiert‹, was der Kontrolle der Protagonisten entglitte. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen einer überdeutlich sexualisierten Beschreibungsebene und einer vollkommen gesellschaftskonformen, keineswegs anstößigen Handlungsebene ist schon für das Wiedersehen Albrechts und Octavias zu Beginn des Textes festzustellen; über die fast allegorisch ausgebaute Wasser-, Brandungs-, Schifffahrts- und Anker-Metaphorik197 erfolgt während eines von Albrecht durchaus züchtig vorgebrachten Heiratsantrags so etwas wie ein »linguistic deflowering«198 Octavias. Dass in Bindings Novelle vor allem der männliche Blick auf die beiden weiblichen Figuren inszeniert wird, macht schon die knappe Einleitungspassage deutlich, die einen (später nicht geschlossenen) Rahmen signalisiert. Octavias ›Opfergang‹, so wird suggeriert, hatte einen Beobachter; dieser ist ihr »nachgegangen, ohne daß sie etwas davon gemerkt hat«. Aus der Ich-Perspektive heißt es dann: »unsichtbare Spuren erzählten mir ihre wundervolle Geschichte«, bevor die Rückblende zum Wiedersehen Albrechts und Octavias und damit der Übergang zum auktorialen Erzählen erfolgt.199 In der Darstellung der beiden Frauengestalten, der angeblichen »Siegerinnen«, werden ausgesprochen männliche Projektionen wirksam; vieles ist geradezu prototypisch für die Weiblichkeitsmuster, wie sie in den Texten männlicher Autoren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anzutreffen sind.200 Binding hatte die zeittypi196 Wegen der weitaus größeren Verbreitung dieser Ausgabe wird Der Opfergang im Folgenden nach der

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Insel-Bücherei, nicht nach Gesammeltes Werk zitiert. Vgl. Binding: Der Opfergang. Eine Novelle. Frankfurt/M. 541997, S. 29f. Vgl. ebd. S. 10-13. Margetts: Ride a Cock Horse, S. 114. Dort auch eine detaillierte Analyse der angesprochenen Textstelle, S. 112-114. Binding: Der Opfergang, S. 6. Die (ideologie-)kritische Untersuchung von Frauenbildern männlicher Autoren zählt zu den frühes-

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sche, dichotome Geschlechterauffassung internalisiert, wie symptomatische Passagen aus Erlebtes Leben zeigen: Zu seinen frühkindlichen Erinnerungen beispielsweise zählen anstrengende Wanderungen mit dem Vater zu Bergen und Flüssen; »zu den Wiesen drüben mit den vielen Blumen« jedoch ging der Junge nicht mit ihm, dem bekannten Rechtsprofessor201, »der zu unternehmend, zu stürmisch, zu männlich für Wiesen und Blumen war«, sondern mit der Tante und der Mutter; diese werden in engster Verbindung mit der Natur wahrgenommen, mit Vertrauen assoziiert, wo zwischen Sohn und Vater ein »ungeschriebener Ehrenkodex« herrscht, der unter anderem befiehlt, »Gefühle zu verschweigen«.202 Der Vater bleibt das nie eingeholte Vorbild, »das Maß meiner Dinge«203, »der unbewußte einzig ebenbürtige, aber auch unüberwindliche Gegenspieler meines Lebens«204, die Mutter das weibliche Ideal.205 Nach dem Bild des autoritären Vaters formen sich Bindings Vorstellungen von Männlichkeit; dass er sowohl das Jura- als auch das Medizinstudium abbrach und sich auf die sportliche »Zucht« seines Körpers verlegte, um sich, seinen eigenen Worten nach, für die Zukunft zu stählen, für ein »Ernstes, Männliches«, das kommen und »vor dem man eben doch bestehen müsse«206, zeigt die Verlagerung des Ideals in einen anderen Bereich, der jedoch vor Inferioritätsgefühlen nicht schützen kann: Die Berufe denen ich mich genähert hatte, hatten mich nicht behalten. Ich stand vor dem Nichts. Ich wußte genau genug daß ich vor meinem Vater nichts galt, vor meiner Mutter und meinen Geschwistern vermutlich auch nichts. Aber ich weiß auch daß sich sofort in mir eine verruchte innere Lust ausbildete, vor nichts zu stehn.207

Erst als er sich mit vierzig und nach einer schweren Nervenkrise zum Dichter berufen fühlt, kann Binding diese Selbstsicht korrigieren: Das produktive Schreiben und das spätere Kriegserlebnis sind Dinge, von denen er weiß, dass sein Vater sie angestrebt hat, ohne sie zu erreichen; dass er seine erste Erzählung »kindlich genug (wie Kinder ihre erste Arbeit an diesen Platz tragen)« seinen »Eltern zu Weihnachten schenkt«208, ist ein klarer Beleg für eine späte und unvollständige Emanzipation vom Elternhaus. Was Binding beim Tod seiner Eltern empfindet, sagt viel aus über seine Kindheit: Beim Tod der Mutter erinnert er sich daran, gegenüber den jüngeren Ge-

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ten und ergebnisreichsten Interpretationsansätzen innerhalb der feministischen Literaturwissenschaft, vgl. etwa Inge Stephan: »Bilder und immer wieder Bilder …«. Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Dies./Sigrid Weigel: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin 1983, S. 15-34. Karl Ludwig Binding (1841-1920) gilt als führender Vertreter der an der Vergeltungstheorie festhaltenden klassischen Schule im Strafrecht – ganz entfernt mag man an die Verbindung von Vaterautorität und Justizmetaphorik denken, wie sie für Kafkas Vaterbild charakteristisch ist. Binding: Erlebtes Leben, S. 22f. Ebd., S. 171. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 59f. Ebd., S. 131. Ebd., S. 145. Ebd., S. 179.

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schwistern zurückgesetzt gewesen zu sein209, beim Tod des Vaters – dem Schlusspunkt der Autobiographie! – heißt es: »So starb der Mann, der mich am meisten von allen Menschen geliebt hätte, wenn ich nicht sein Sohn gewesen wäre«.210 Weitere Selbstreflexionen bezeugen nicht nur die Ausrichtung seiner Geschlechtsrollenvorstellungen an Mutter und Vater, sondern implizit auch die Gewalt, mit der Binding sich selbst und Teile seiner Persönlichkeit der eigenen (bzw. internalisierten) Vorstellung von ›Männlichkeit‹ unterworfen hat: Ich habe manche Eigenschaften die ihr [= der Mutter] Erbteil waren an mir bekämpft. Aber dennoch ist ihre Erbschaft fühlbar in einer großen Unentschlossenheit, Bedenklichkeit, Langsamkeit die mich manchmal übermannen und dicht neben einer großen Entschlossenheit, Unbedenklichkeit und Schnelligkeit liegen die auf das Erbteil meines Vaters fallen. […] Sie war fast völlig Unpersönlichkeit, mein Vater ganz Persönlichkeit.211

Die Ideale von ›Zucht‹, ›Bändigung‹, ›Haltung‹ und ›Gentlemantum‹ erweisen sich als Ausdruck eines permanent fortgesetzten, gewaltsamen Prozesses, dem Binding sich unterwirft, um einem vorgefassten Männerbild entsprechen und neben dem Vater bestehen zu können. Dass sich diese Gewalt gegen die eigene Person auch als Gewalt gegen andere und insbesondere als eine wie auch immer sublimierte Gewalt gegen Frauen äußert, entspricht den Erkenntnissen der Geschlechterforschung.212 Wenn Binding bei seiner zum Schlüsselerlebnis stilisierten Begegnung mit dem Hermes des Praxiteles von der »Gewalt der Form« spricht, vom »ungeheure[n] Gewaltakt« des Schöpfers, vom »Triumph« und vom »Siege«213 des Künstlers, zeigt sich, wie stark er auch den kreativen Prozess als gewaltbesetzt und (deshalb) ausgesprochen ›männlich‹ begreift – wobei er mit der Codierung von ›Form‹ als ›männlich‹ und Materie als ›weiblich‹ im Übrigen an eine lange, bis zu Aristoteles zurückreichende Tradition anknüpfen kann.214 Nach diesem Erlebnis sieht er »die männlichen Berge von Lokris« und den »Leib des Parnaß«215; letzteren, den Musensitz und das Symbol des Dichtertums, schickt er in der Folge sich zu unterwerfen an wie den eigenen Leib und den Leib der Frau. 216 209 Vgl. ebd., S. 230. Vgl. auch: »Meine Mutter hat mich sehr geliebt, immer mit dem Wunsche, aber

doch auch mit der Unfähigkeit […], eigentlich auf mich einzugehen« (ebd., 229f.). 210 Ebd., S. 286. 211 Ebd., S. 229. – Zur Interpunktion innerhalb des Zitates: Binding war der Auffassung, die deutsche

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Schriftsprache sei mit Satzzeichen überfrachtet und folgte daher eigenen Regeln, vgl. dazu Rudolf G. Binding: Über Zeichensetzung. In: Ders.: Rufe und Reden. Fortführungen und Betrachtungen. Frankfurt/M. 1928, S. 239-246. Vgl. Willi Walter: Gender, Geschlecht und Männerforschung. In: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 97-115, bes. S. 103. Binding: Erlebtes Leben, S. 194. Vgl. Monika Wagner: Form und Material im Geschlechterkampf oder: Aktionismus auf dem Flickenteppich. In: Das Geschlecht der Künste. Hg. v. Corina Caduff und Sigrid Weigel. Köln, Weimar, Wien 1996 (= Literatur – Kultur – Geschlecht, 8), S. 175-196. Binding: Erlebtes Leben, S. 196. Nebenbei bemerkt wird man allerdings nicht fehlgehen, wenn man aus der Autobiographie auch eine latente Homosexualität Bindings herausliest: Keine zwischenmenschliche Beziehung wird so

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Wie schlagen sich diese Strukturen in Bindings berühmtester Novelle nieder? Auf den ersten Blick scheinen die Frauenfiguren im Mittelpunkt zu stehen; Albrecht bleibt dagegen blass und schwach – seine einzige entschlossene Tat, die Rettung von Joies Kind, bringt ihm den Tod. Er, der biologische Mann, ist nicht eigentlich der Träger des ›Männlichen‹; diese Funktion übernimmt Octavia. Sie symbolisiert die Vaterwelt, stammt ab von einem Vater, der »es sich leisten konnte, seinen Töchtern erlesene Namen zu geben« (während Joie den ihren von ihrer Großmutter bekam).217 In einer scheinbar beiläufigen Bemerkung schreibt Binding in Erlebtes Leben über seine tatsächliche, mit Octavia identifizierte Ehefrau, als die Trennung bevorsteht: »Sie wurde meinem Vater viel; mehr als sie mir noch sein konnte«218, und unterstreicht damit ihre Zuordnung zur Vaterwelt. Die fingierte Octavia muss diese ›männliche‹ Codierung nicht mit Hässlichkeit bezahlen, im Gegenteil, ihre Schönheit wird wortreich gepriesen; aber es ist eine kalte, frigide, einschüchternde Schönheit, vom Charakter eines »lebenden schönen Bildes«.219 Diese Schönheit schafft Distanz zu den Männern (auch zum eigenen: ›als ob eines Armes Länge zwischen ihren Leibern wäre‹ heißt der Satz, der im Opfergang wie in Erlebtes Leben das Verhältnis zu Octavia umschreibt220) und zur Natur. Joies Nähe zur Natur und Octavias Ferne werden überdeutlich vor Augen geführt, wenn in zwei parallel gebauten Szenen zunächst Joie die Hafenmöwen füttert, die sie umschwärmen, ihr geradezu eine »Huldigung« darbringen, während sie dasselbe Futter von Octavia nicht nehmen, ja »wie vor einer unsichtbaren Wand« kehrtmachen, wenn sie zunächst auf sie zufliegen.221 Das Frauenbild, das Binding mit Joie entwirft, ist geradezu prototypisch für die Imaginationen der patriarchalen Gesellschaft; Joie wird mit der Natur identifiziert, mit Fruchtbarkeit222 und Vitalität, erscheint als naturmagische Mondgöttin223, als »Hexe« und »Nixe«224 – und damit auch in der problematischen Ambivalenz, die

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intensiv beschrieben wie die zu dem »sehr hübschen« (S. 153), über zehn Jahre jüngeren Anton. Die gemeinsame Griechenlandreise im Frühjahr 1909 wird zum Höhepunkt der Freundschaft. Wenn Binding z.B. die Vorbeifahrt an Kythere schildert, drängt ein homoerotischer Subtext vehement an die Oberfläche (vgl. S. 183f.). ›Anton‹ legte später einen eigenen, geradezu schwärmerischen Erinnerungsband an Binding und die gemeinsame »Rauschfahrt« vor, die in Rom endete: »Dort lernte Rudolf Binding Joie kennen. Die Rauschfahrt war zu Ende. Ein neues Dasein begann« (Anton Mayer: Der Göttergleiche. Erinnerungen an Rudolf G. Binding. Potsdam 1941, hier S. 91). Binding: Der Opfergang, S. 9, vgl. zu Joies Benennung durch ihre französische Großmutter ebd., S. 26. Ders.: Erlebtes Leben, S. 232. Ders.: Der Opfergang, S. 15. Vgl. ebd. S. 15; ders.: Erlebtes Leben, S. 164. Ders.: Der Opfergang, S. 40f. Ein extremes Beispiel ist ebd., S. 42-45, zu finden. Vgl. ebd., S. 35-37. Ebd., S. 20 und 21. – Vor allem das Undinenmotiv zählt zum Kernbestand männlich geprägter Weiblichkeitsentwürfe und ist gut erforscht, vgl. z.B. Anna Maria Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur. Opladen 1992; Ruth Fassbind-Eigenheer: Undine oder Die nasse Grenze zwischen Mir und Mir. Ursprung und literarische Bearbeitungen eines Was-

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diesem Weiblichkeitskonstrukt innewohnt und die zuerst im Rahmen der feministischen Literaturwissenschaft aufgedeckt und kritisiert wurde: Die Vorstellungen vom Naturwesen Frau tragen ein Janusgesicht. Zum einen führen sie zum Ausschluß der Frau aus der kulturellen Sphäre und rechtfertigen dieses auch noch, weil Kultur und Natur im zivilisatorischen Prozeß zu unvereinbaren Gegensätzen geworden sind. Zum anderen sind in ihnen die Erinnerungen und Sehnsüchte an ein verlorenes Paradies von Naturhaftigkeit aufbewahrt. Die Frau wird zum diffusen Symbol all dieser Sehnsüchte. Aber auch dieses Symbol ist außerordentlich ambivalent. Es ist belastet mit der Erinnerung an den Prozeß der Zerstörung von äußerer und innerer Natur und ist daher Schreckbild und Wunschbild zugleich. In der Vorstellung vom Naturwesen Frau vermischen sich das Bewußtsein von Schuld, die Angst vor Rache und die Sehnsucht nach Harmonie.225

Binding potenziert die Widersprüchlichkeiten dieser Imagination noch dadurch, dass er Joie, das vitalistische, scheinbar so selbstbestimmt lebende Naturwesen, dann doch einem internalisierten Moralkodex von großer Rigidität unterwirft. Offenbar als Strafe und Sühne für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit, glaubt sie sich Albrecht verweigern zu müssen: »Mein Freund«, sprach sie – und ihre Stimme war so voller Leid wie das Klagen eines Wildes – , »mein Freund, dir ist mein Herz und dir ist mein Sehnen. Aber die Wünsche meines Schoßes sollen dir nicht mehr sein. – Und wären doch dein gewesen, unberührt, mit tausend Freuden! Einst wurden sie verschenkt, ach! auch wohl mit tausend Freuden, und dennoch: heute, heute – – weine ich um sie.«226

Diese Äußerungen können nur dann sinnvoll erscheinen, wenn man sie als schwach getarntes Konglomerat männlicher Imaginationen wertet: In wenigen Sätzen werden sowohl die Sinnenfreude Joies und ihre unbedingte Liebe zu Albrecht bestätigt als auch ein seltsames Minderwertigkeitsgefühl ihm gegenüber artikuliert, dem zufolge sie sich zu unwürdig fühlt, um seine Ehe zu brechen – womit er zugleich jeder Entscheidung und Verantwortung enthoben ist. Ebenso durchschaubar sind die Wunschanteile, die in die Octavia-Gestalt eingehen; in absoluter Hingabe an Albrecht ist diese bereit und in der Lage, dessen Liebe zu Joie hinzunehmen, ja (offenbar im Bewusstsein eigener erotischer Defizite) sogar gutzuheißen: »Kann nichts Schlechtes sein, […] wenn es meinem Gemahl eine Kraft und eine Freude und einen Flug gibt, wie ich noch nie an ihm gesehn«.227 Albrechts Verführbarkeit sieht sie als schicksalhaft an, seine Unentschlossenheit zwischen Ehefrau und Geliebter nicht als Situation, in der sie selbstverständlich als Partei involviert sein müsse, sondern als »ernste Qual« ihres Mannes, die zu durchleiden sie ihm beistehen möchte: serfrauenmythos. Von Paracelsus über Friedrich de la Motte Fouqué zu Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1994 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 291). 225 Stephan: »Bilder und immer wieder Bilder …«, S. 19, teils im Anschluss an Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979. 226 Binding: Der Opfergang, S. 44. 227 Ebd., S. 34.

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Und sie beschloß, ihm in seiner Qual und seinem Kampf beizuspringen. Denn es war ihre Art, für den Mann, den sie liebte, alles zu tun, was sie vermöchte; darum traute sie sich in der wundervollen Unanfechtbarkeit ihres Wesens auch zu, dieses Mannes Schildträger in dem Streit seiner Gefühle zu sein.228

Octavia als »Schildträger«, in männlicher Rolle, und im Kampf letztlich gegen sich selbst; hier werden bereits die Voraussetzungen ihres ›Opfergangs‹ hergestellt, der sie endgültig als Stellvertreterin ihres Mannes zeigen wird, als Frau, in seinem Mantel, mit seinem Hut, sogar mit seinem »kurzen Rohrstock, den er mit der Linken halb in die weite Tasche des Mantels zu versenken liebte« (!) und in seiner »männlich-freien Haltung, die sie nachahmte«.229 Die vorübergehende Aneignung der männlichen Geschlechterrolle gelingt und täuscht aus der Entfernung sogar Joie, sie geschieht aber im Zeichen einer glorifizierten Opferbereitschaft, »für einen Toten, den sie geliebt«.230 Die männliche Angst-Lust-Phantasie, sich von der Frau ersetzt und übertroffen zu sehen, wird im Licht ›weiblicher‹ Demut und Hingabe inszeniert; »Siegerin« aber kann Octavia nur sein »in den Augen des Mannes«.231 Was Binding entwirft, sind damit keine weiblichen Charaktere, sondern allenfalls männliche Wunschbilder, wenn nicht überhaupt Externalisierungen männlicher Psyche insofern, als Octavia für das männlich konnotierte ›Über-Ich‹ (mit Zügen der ödipalen Vater-Imago) und Joie für das weiblich konnotierte, faszinierende und furchteinflößende ›Es‹ eintritt – während die Figur Albrecht entsprechend das (im autoritären Charakter schwach ausgeprägte) ›Ich‹ verkörpert. Vor kritischer Reflexion geschützt bleibt Albrechts Schwäche, indem sie als notwendig und schicksalhaft ausgegeben wird232, seine Krankheit und sein Tod zudem als Folge einer karitativen Tat (der Rettung von Joies Kind) erscheinen. Insgesamt gesehen dürfte sich der immense Erfolg des Opfergangs zu einem Großteil daraus erklären, dass der Text bestimmte Irritationen der traditionellen Geschlechterrollen sowie das Gewaltsame ihrer Aufrechterhaltung zwar registriert, aber auf eine Art und Weise verarbeitet, die doch wieder zur Affirmation, ja Überhöhung der hergebrachten Muster hinführt. Für die nationalsozialistische Ideologie und Ästhetik war allerdings das geringe kritische Potential, das in Bindings Blick auf ›männliche‹ und ›weibliche‹ Geschlechtsidentität liegt, schon zu viel. Als Veit Harlan kurz nach Bindings Tod an die Verfilmung des Opfergangs ging, wurde die Geschichte entsprechend korrigiert: Albrecht avanciert vom schöngeistigen Kunsthistoriker zum männlich-entschlossenen Weltumsegler und Kolonisator; Joie (im Film mit dem skandinavischen Namen ›Äls‹ belegt) wird gänzlich auf die Rolle der physisch attraktiven, aber Verderben bringenden Ebd., S. 32f. Ebd., S. 53f. Ebd., S. 53. Peter Krumme: Der Opfergang von Rudolf Binding. In: Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen. Hg. v. Marianne Weil. Berlin 1986, S. 41-55, hier S.51. 232 Bindings frühe Biographin Traude Stenner etwa meint zur Figurenkonstellation: »Alle drei wissen: was sich ereignet […] ist Schicksal, und sie tragen es, jeder wie es seiner Art zukommt«; vgl. Traude Stenner: Rudolf G. Binding. Leben und Werk. Potsdam 1938, S. 70. 228 229 230 231

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erotischen Frau festgelegt. Am Ende stirbt Äls, während Albrecht genesen darf; durch die Grenzerfahrung gereift, findet er zu einem neuen, ausgeglichenen Verhältnis mit der durch die emotionale Herausforderung des ›Opfergangs‹ belebten Octavia.233 Glaubt man Harlans Memoiren, war es Joseph Goebbels, der auf dem veränderten Ausgang bestand: »Sterben müsse die an dem Ehebruch schuldige Frau und nicht der Ehemann. Die Ehe müsse vielmehr erhalten bleiben. Das wäre übrigens nicht nur für die Front, sondern auch für die Heimat im volkserzieherischen Sinne besser«.234 Wie fragwürdig auch die ästhetische Qualität von Bindings Novelle sein mag – an dieser Leserreaktion gemessen, erhält ihre Verarbeitung der Geschlechtsrollenproblematik dann doch eine kritische Legitimation.

2.2. Emil Strauß (1866-1960) »Merkwürdig: unter den Dichtern, deren Namen durch das Dritte Reich plötzlich wieder berühmt geworden sind, sind bloß zwei wirkliche Dichter, [Paul] Ernst und [Emil] Strauß«, notierte Hermann Hesse im Juli 1933 in seinem Tagebuch.235 Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass Paul Ernst und Emil Strauß auch in Hellmuth Langenbuchers nationalsozialistischem Standardwerk Volkhafte Dichtung der Zeit als herausragende Autoren der ›neuen Zeit‹ gepriesen werden.236 Mehr noch als der oft unentschlossene und inkonsequente Binding hat sich Strauß zur Zeit des Nationalsozialismus politisch kompromittiert: Während Binding nie Mitglied der NSDAP geworden ist, trat Strauß bereits am 1. September 1930 in die Partei ein, und bekannte sich in verschiedenen Artikeln – etwa in der am 20. April 1933 im Völkischen Beobachter erschienenen Eloge Der Hitler – nachdrücklich zum neuen Regime.237 Dass seine Werke von Anfang an, und natürlich verstärkt in den späten, im NS-Staat vollendeten Romanen Das Riesenspielzeug (1934) und Der Lebenstanz (1940), völkisch-nationale, antizivilisatorische, antidemokratische und antisemitische Passagen aufwei233 Vgl. zu Harlans Verfilmung von 1944 (Darsteller: Carl Raddatz, Kristina Söderbaum, Irene von

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Meyendorff, Drehbuch von Veit Harlan und Alfred Braun) Frank Noack: Veit Harlan. »Des Teufels Regisseur«. München 2000, S. 266-282 (mit zahlreichen Abbildungen), sowie, auf höherem Reflexionsniveau, Mary Elizabeth O’Brien: Male Conquest of the Female Continent in Veit Harlan’s Opfergang (1944). In: Monatshefte 87 (1995), S. 431-445. Veit Harlan: Im Schatten meiner Filme. Gütersloh 1966, S. 164. Hermann Hesse: Tagebuch vom Juli/August 1933. In: Ders.: Autobiographische Schriften I. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2003 (= Sämtliche Werke, 11), S. 672-685, hier S. 676. – Hesse hat sich mehrfach höchst anerkennend zu Strauß geäußert, vgl. z.B. Ein süddeutscher Dichter [1916]. In: Ders.: Die Welt im Buch II. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1911-1916. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 1998 (= Sämtliche Werke, 17), S. 562-567. Vgl. die ausführlichen Kapitel zu Ernst und Strauss in: Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit. Berlin 31937, S. 29-36 und 51-60. Vgl. Thomas B. Schumann: Fahne, Idee, Suggestion. Emil Strauß und der Nationalsozialismus. In: »Wahr sein kann man«. Zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866-1960). Symposion der Stadt Pforzheim, 8.-10. Mai 1987. Hg. mit einem Nachwort v. Bärbel Rudin. Pforzheim 1990, S. 101-112.

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sen, ist eine ebenso starke Belastung für ihre Rezeption wie Langenbuchers fatales Lob, Strauss habe mit Prinz Wieduwitt (1898) »die erste ernste Rassennovelle« geschrieben, »die die deutsche Dichtung aufzuweisen hat«.238 Das meistgelesene Werk von Emil Strauß, abgesehen von seinem 1902 erschienenen Schülerroman Freund Hein, war lange Zeit Der Schleier, als »herrlichste seiner Novellen«239 gepriesen und oft mit Bindings Opfergang verglichen. Hans Pyritz feierte beide Texte als »die zweifache Krone der gegenwärtigen deutschen Novellendichtung«.240 Äußere Gemeinsamkeiten sind zunächst in der fast zeitgleichen Entstehung – Der Opfergang erschien 1911, Der Schleier als Vorabdruck in den Süddeutschen Monatsheften 1913 – und im großen, bis in die fünfziger Jahre hinein reichenden Verkaufserfolg zu sehen.241 Darüber hinaus jedoch gibt es deutliche inhaltliche Analogien: Beide Novellen zeigen einen Mann zwischen zwei Frauen, und in beiden steht am Ende die Glorifizierung einer Ehefrau, deren Selbstüberwindung und Opferbereitschaft jeweils im Titel der Novellen symbolisch anklingen. Weitaus stärker als der Gattungsbeitrag Bindings allerdings weist derjenige von Emil Strauß auch intertextuelle Bezüge zur Novellengeschichte auf: Denn Der Schleier verwendet Motive aus den Memoiren des französischen Hofmannes François de Bassompierre (1579-1646), auf die wiederum schon Goethe in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Hugo von Hofmannsthal mit Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre (1900) zurückgegriffen haben. Bei Strauß geht es zwar nicht um Bassompierres mysteriöse Begegnung mit einer schönen Krämerin, die Goethe knapp und in beinahe wörtlicher Übersetzung übernommen242 und Hofmannsthal in einer deutlich erweiterten Version vorgelegt hat243; doch seine stoffliche Vorlage ist ebenfalls schon durch Goethes Novellenzyklus in die deutsche Literatur überführt worden. Denn nachdem die Geschichte von der schönen Krämerin mit ungeklärten Todesfällen und Pestilenz zu Ende ging, fürchtet die Rahmengesellschaft der Unterhaltungen um ihre Nachtruhe und fordert, vor dem Zubettgehen noch etwas ›Artigeres‹ zu hören – ein Wunsch, der aus der gleichen Quelle befriedigt wird: 238 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 333. 239 Josef Hofmiller: Emil Strauß. In: Ders.: Letzte Versuche. München, Berlin 31943, S. 127-162, hier

S. 151. 240 Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle, S. 86. 241 Weil die Editionslage unübersichtlich ist – verschiedene Ausgaben bei verschiedenen Verlagen, als

Einzelwerk und in Sammlungen liegen vor – ist die Gesamtauflage schwer abzuschätzen. Eine Nachkriegsausgabe der Novelle bei Hanser (München) jedenfalls erreichte bereits 1958 das 390.405. Tausend; insgesamt dürfte Der Schleier, ähnlich Bindings Opfergang, bis zum Beginn der sechziger Jahre die Millionengrenze überschritten haben. 242 Vgl. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 471-475. 243 Einen ausführlichen Vergleich der drei Fassungen bietet (mit eindeutigen Wertungen, die Bassompierres Version gewissermaßen als normativen Urtyp einer Novelle, Goethe als dessen Bewahrung und Hofmannsthals Version als weitgehend missglückte Abweichung ausmachen wollen) Henry H.H. Remak: Novellistische Struktur: Der Marschall von Bassompierre und die schöne Krämerin (Bassompierre, Goethe, Hofmannsthal). Essai und kritischer Forschungsbericht. Bern, Frankfurt/M. 1983 (= Germanic Studies in America, 46).

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Es fällt mir noch eine Geschichte ein, sagte Karl, die artiger ist und die Bassompierre von einem seiner Vorfahren erzählt. Eine schöne Frau, die den Ahnherrn außerordentlich liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhause, wo er die Nacht mit ihr zubrachte, indem er seine Frau glauben ließ, daß er diese Zeit zu einer Jagdpartie bestimmt habe. Zwei Jahre hatten sie sich ununterbrochen auf diese Weise gesehen, als seine Frau einigen Verdacht schöpfte, sich eines Morgens nach dem Sommerhause schlich und ihren Gemahl mit der Schönen im tiefen Schlafe antraf. Sie hatte weder Mut noch Willen sie aufzuwecken, nahm aber ihren Schleier vom Kopfe und deckte ihn über die Füße der Schlafenden. Als das Frauenzimmer erwachte und den Schleier erblickte, tat sie einen hellen Schrei, brach in laute Klage aus und jammerte, daß sie ihren Geliebten nicht mehr wieder sehen, ja daß sie sich ihm auf hundert Meilen nicht nähern dürfe. Sie verließ ihn, nachdem sie ihm drei Geschenke, ein kleines Fruchtmaß, einen Ring und einen Becher für seine drei rechtmäßigen Töchter verehrt und ihm die größte Sorgfalt für diese Gaben anbefohlen hatte. Man hub sie sorgfältig auf und die Abkömmlinge dieser drei Töchter glaubten die Ursache manches glücklichen Ereignisses in dem Besitz dieser Gabe zu finden. Das sieht nun schon eher dem Märchen der schönen Melusine und andern dergleichen Feengeschichten ähnlich, sagte Luise.244

Luise erkennt hier zu Recht, dass das sonderbare Verhältnis des Ahnherrn strukturell dem Muster der Feengeschichte entspricht, obwohl die »schöne Frau« in Karls Wiedergabe an keiner Stelle ausdrücklich als Melusinen- oder Feengestalt bezeichnet wird. Das abrupte Ende der Liebesbeziehung durch einen Tabubruch (in diesem Fall den Verlust der Heimlichkeit) sowie die Hinterlassenschaft von drei segensreichen Gaben weisen jedoch deutlich darauf hin, dass es sich hier um die Beziehung eines Menschen zu einem naturdämonischen Wesen gehandelt haben dürfte; beide Elemente sind typisch für ein ganzes Genre der populären Erzähltradition.245 Strauß transponiert die Handlung in seine zeitgenössische Gegenwart; aus dem Ahnherrn Bassompierres wird der Landadlige Freiherr von Tettingen, die »schöne Frau« erhält Namen und Titel einer Gräfin Ittendorf. Wichtige Funktionen der Sagenüberlieferung gehen freilich verloren: Bei Bassompierre dient die Geschichte noch deutlich dazu, nicht nur die Herkunft der drei Glücksgegenstände zu erklären, sondern vor allem auch das eigene Geschlecht durch die Beziehung zu einem übernatürlichen Wesen aufzuwerten, vor anderen auszuzeichnen.246 Strauß geht in seiner Adaption so weit, die Glücksgaben – deren Schilderung ja noch bei Goethe einen verhältnismäßig breiten Raum einnimmt – gänzlich zu streichen; übrig bleiben die rational nicht auflösbare Bestimmtheit, mit der die Gräfin aus der Entdeckung ihrer Liebschaft deren sofortige und schicksalhafte Beendigung ableitet247 sowie die Sym244 Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 475. 245 Vgl. Leander Petzoldt: Von der Liebe zu übernatürlichen Frauen. Emil Strauß’ Novelle Der Schleier

und ihre Beziehungen zur populären Erzähltradition. In: »Wahr sein kann man«. Zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866-1960). Symposion der Stadt Pforzheim, 8.-10. Mai 1987. Hg. mit einem Nachwort v. Bärbel Rudin. Pforzheim 1990, S. 89-100. 246 Vgl. ebd., S. 94. 247 »Ein Wimmern brach aus dem Munde der Gräfin und sie sprach in klagendem Tone aus, was sie

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bolkraft des Schleiers, die Strauß sogar noch erhöht, indem das Zurücknehmen des Schleiers durch Frau von Tettingen Verzeihung und Neubeginn zum Ausdruck bringen. Inwieweit die Gräfin Ittersdorf in der Nähe einer Melusine zu sehen ist, bleibt offen, doch zumindest gibt es deutliche Hinweise auf ihre Zuordnung zum Wasser: Sie lebt einsam am See248, wo sich das Paar auch begegnet, wird öfter im Zusammenhang mit dem See beschrieben – »Wenn er aufschaute, sah er ihre Gestalt dunkel und neugierreizend vor der weit hinausgedehnten hellen Wasserfläche« –, von ihren Augen ist die Rede als von »blauen Brunnen«, in ihrem Anblick kann Tettingen ›versinken‹.249 Der »Zauber«250, den sie ausübt, kann als naturmagische Elementarkraft gedeutet werden (schon zu Beginn des Textes erwacht Tettingen bei Brunnenrauschen, ist auf seinen Gängen auch immer wieder in Wassernähe); auf der anderen Seite gehört es zu den Stärken des Textes, dass Tettingens Krise, sein plötzliches Ungenügen an zehnjähriger glücklicher Ehe, seine Hoffnung auf neues erotisches »Jugendglück« und damit auf »ein Stück Unsterblichkeit«251 psychologisch überzeugend motiviert werden: als Angst vor dem Alter. Durch den Bezug zu Bassompierre und dessen Sagenüberlieferung – die sogar von den Brüdern Grimm übernommen wurde252 – kann das Wasserfrauenmotiv bei Strauß jedenfalls noch als märchenhafter Subtext fungieren: Zwar ist es ein patriarchalisch geprägter Mythos, der die Folie abgibt, aber er ist zumindest noch als Mythos erkennbar, während das Nixenmotiv in Bindings Opfergang nur als bürgerliche Männerphantasie weiterlebt. Neben den Bezügen zur Undinenthematik gibt es weitere inhaltliche und stilistische Elemente, die es nahelegen, den Schleier im Kontext der Neuromantik zu verorten: Die Schilderung von Tettingens Jagdgängen und deren Parallelisierung mit Gefühlsverwirrungen und Identitätskrisen etwa erinnern an entsprechende Passagen in Ludwig Tiecks Der Runenberg (1802), manches andere wirkt »eichendorffisch«.253 Mit ›Neuromantik‹ ist dabei die ernst zu nehmende Strömung der gegennaturalistischen Moderne gemeint, wie sie von Hermann Bahr umrissen wurde, als er zur »Überwindung« des Naturalismus einen »jähen Kopfsprung in die neue Romantik« forderte und durch das Beiwort »nervöse Romantik« zugleich den ›modernen‹ Anspruch die-

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unverrückbar notwendig fühlte: ›Nun muß ich fortreisen – weit fort – und die halbe Erde zwischen uns bringen – und wir dürfen uns nie – mehr – sehen!‹« (Emil Strauß: Der Schleier. In: Ders.: Der Schleier. Die Novellen der Bände Hans und Grete und Der Schleier. München 1952, S. 150-175, hier S. 171). Verschiedene Interpreten identifizieren den im Text genannten See mit dem Bodensee, vgl. z.B. Hofmiller: Emil Strauß, S. 152. Ebd., S. 158. Ebd., S. 156. Ebd. Vgl. Deutsche Sagen. Herausgegeben von den Brüdern Grimm. Ediert und kommentiert v. Heinz Rölleke. Frankfurt/M. 1994, S. 101f. Walter Franke: Emil Strauß: Der Schleier. In: Der Deutschunterricht 12 (1960), H. 3, S. 90-104, hier S. 102.

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ser Kunstrichtung signalisierte254; erst die spätere Abgrenzung der Neuromantik von Dekadenz, Ästhetizismus, Jugendstil und Symbolismus hat aus dieser Tendenz eine antimodernistische in der Nachbarschaft der Heimatkunst-Bewegung gemacht.255 Strauß leistet eine konsequente Psychologisierung der Handlung, wie sie einer ›nervösen Romantik‹ angemessen ist. Die verzeihende Güte der betrogenen Ehefrau und deren Ausdruck im Schleiersymbol werden bis zu einem gewissen Grad historisch indiziert, als archaische Relikte der Erzähltradition kenntlich gemacht, während der tatsächliche Neubeginn der Eheleute keineswegs nur auf Frau von Tettingens Bereitschaft zur Vergebung beruht: Der Mann ließ sich ihr gegenüber auf die andere Bank nieder und sah sie aus brennenden Augen an, und Scham und Trauer drückte so schwer, daß er kein Wort mehr hervorbrachte. Da kam der Hund die Treppe heraufgetappt, ihnen nach, sprang neben der Frau auf die Bank und blickte durch den offenen Bogen in die Weite, dem Lichte der aufdrängenden Sonne entgegen: und als scheuten sie sich, das Tier etwas merken zu lassen, fingen sie miteinander zu sprechen an.256

Das Gespräch miteinander ist Voraussetzung für eine gemeinsame Zukunft, nicht die große Geste, mit der Frau von Tettingen sich den tränennassen Schleier angesteckt hat; erst die Paarkommunikation kann einlösen, wofür die symbolische Handlung steht. In dieser Sehweise kann der Ausgang der Novelle einerseits an die romantische Hochschätzung des Gesprächs anknüpfen, aber andererseits auch eine ›moderne‹ Perspektive gewinnen – für die sich die bislang vorliegenden Interpretationen des Textes allerdings kaum je geöffnet haben. Im Gegenteil streichen die älteren Deutungen gerade diejenigen Elemente als besonders gelungen heraus, die auf heutige Leser besonders problematisch wirken müssen: die Stilisierung des Ehebruchs zu »etwas Geheimnisvollem, Schicksalhaftem« auch aus der Sicht der Ehefrau und die Glorifizierung von Selbstüberwindung, »Reife und Mütterlichkeit«.257 Wieder kann Hans Pyritz als Beispiel zitiert werden: Seiner Ansicht nach hat Strauß dem »galanten Motiv« Bassompierres »den ganzen tiefen und entscheidungssüchtigen Ernst spezifisch deutscher Daseinserfahrung«258 aufgeprägt. Frau von Tettingen stehe für eine »ethische Überwindung«, für eine »Schicksalsbewältigung«, wie sie Pyritz über mehrere Seiten hinweg als Ideal feiert.259 Nur konsequent erscheint es angesichts dieser Lesart, wenn Pyritz den Opfergang Bindings noch über den Schleier stellt und als »eine vorweggenommene, steigernde Variation des von Strauß behandelten Themas« begreift. Dass Bindings Octavia, vergli254 Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Ausge-

wählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart, Berlin, Köln u.a. 1968, S. 85, 87. 255 Vgl. Jürgen Viering: Artikel ›Neuromantik‹. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. 256 257 258 259

Hg. v. Harald Fricke u.a. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 707-709. Strauß: Der Schleier, S. 175. Ebd., S. 169. Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle, S. 86. Ebd.

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chen mit Frau von Tettingen, der noch weitaus unglaubwürdigere und schematischere Charakter ist, gerät ihr bei Pyritz zum Vorteil, glaubt er doch in dieser Gestalt »das Hohelied des heroischen Herzens, das in schweigender Hingabe über das Verhängnis triumphiert« noch »gewaltiger« gestaltet zu sehen: Was vom grausamen Leben her einbricht, verwandelt sich in dem starken Dulderherzen einer Frau zur reifen und kostbaren Frucht eines adligen Menschentums. Wieder also – wie bei Strauß – das heldische Leiden, das Schicksal hinnimmt und aneignet und dadurch überwindet; wieder das Erlebnis der sittlichen Freiheit, die den Menschen aus dem bloß elementarischen Bereich, aus dem Spielfeld der geheimen Naturkräfte herausreißt und seines Ichseins so mächtig macht, daß er es aus eigenem Entschluß der Notwendigkeit opfern kann. Daß solche sittliche Leistung nicht allein aus der subjektiven Innerlichkeit stammt und sich nicht in ihr erschöpft, das wird bei Binding noch deutlicher als bei Strauß: sie ist erst möglich als Endergebnis eines seelischen Geschlechtererbes aus Blut und Geist; und sie bezeugt sich als Haltung, die die Gesamtexistenz bis in die leiblichen Gebärden hinein beherrscht und in Zucht hält. Leben ist blutgebundene und formgewordene Seelenkraft gegen das Fatum.260

So müssen beide Texte, Der Opfergang von Binding wie Der Schleier von Emil Strauß, in Pyritz’ Fazit dafür herhalten, völkisch-nationalsozialistische Ideologeme zu illustrieren. Es sei keineswegs bestritten, dass beide Novellen Ansatzpunkte für eine solche Interpretation bereithalten; trotzdem ist festzuhalten, dass die literaturwissenschaftlichen Interpretationen das ihrige dazu beigetragen haben, gerade die aus heutiger Sicht hochproblematischen Züge beider Erzählungen herauszustellen und zu verabsolutieren – und das nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern bis in die sechziger Jahre hinein. Walter Franke etwa grenzt den Schleier noch 1959 als »einfach, natürlich und gesund«261 von Bindings Opfergang, aber mehr noch von Stefan Zweigs Novelle Angst (1910) ab; Bindings Text scheint ihm ästhetizistisch, Zweigs psychologistisch, während er an Strauß – zu Beginn des Artikels – die »männlich herbe und doch einfühlsame Sicht- und Gestaltungsweise« bzw. – am Ende des Artikels – die »männlichkeusche und dichterisch verwandelnde Gestaltungskraft«262 rühmt. Die Qualitäten des Schleiers werden ausdrücklich nicht im psychologischen Erzählen gesucht, dieses geradezu verleugnet zugunsten einer »blitzhaft[en]« Wandlung Tettingens und einer ›symbolischen‹ Erzählweise. Damit greift Franke letztlich die Argumentation von Hermann Pongs auf: Dieser hatte schon 1943 befürchtet, der »Zeitstil einer überhellen Seelendurchleuchtung«, dem Strauß sich im Schleier nicht gänzlich verschlossen habe, könne »leicht mißverstanden werden«, während doch tatsächlich »Gradlinigkeit des Gefühls« und Wertebewusstheit die Grundlage der Novelle bildeten263; Pongs wie Franke gelingt es damit, die ›modernen‹ Elemente im Straußschen Erzählen zu260 261 262 263

Ebd., S. 91. Franke: Emil Strauß: Der Schleier, S. 90. Ebd., S. 91 bzw. 104. Hermann Pongs: Ehre und Liebe in der Novelle. In: Dichtung und Volkstum 43 (1943), S. 107-130, hier S. 124.

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gleich zu benennen und doch zugunsten der eigenen ästhetischen und ideologischen Position abzuschwächen, ja zu destruieren. Wenn Franke schließlich Frau von Tettingen rühmt als eine Figur, »der es eine Lust ist und die Selbsterfüllung, karyatidenhaft zu tragen und für das Ganze da zu sein«264, so wird auch hier das Maß übersteigert, in dem die Novelle selbst diese Haltung positiv konnotiert. Ein Autor, dessen Frühwerk von so unterschiedlichen Kollegen wie Arnold Zweig und Oskar Loerke, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Hesse hochgeschätzt wurde265, ist hier nicht nur gegen sich selbst und seine eigene politische Entwicklung, sondern auch gegen seine (wohlmeinenden!) Interpreten in Schutz zu nehmen. Ebenso abwegig ist es allerdings, die Qualitäten von Emil Strauß ausgerechnet in seiner Schilderung weiblicher Charaktere zur verorten; Johannes Klein hat dies getan, als er Strauß als »Meister der Liebesgeschichte« bezeichnete und zur Begründung hinzufügte: »Diese Meisterschaft ist bei ihm, dem sehr männlichen Menschen, durch eine erstaunliche Fühlsamkeit für das Weibliche bedingt. Er sieht die Frau, wie sie selbst sich sehen würde, ohne die Illusionen des Mannes, aber auch ohne dessen Ressentiments«.266 Richtig ist vielmehr, dass gerade die in den Texten entwickelten Weiblichkeitsmuster sehr viel über die psychische Disposition dieses »sehr männlichen Menschen« und Autors verraten. Strauß vertrat, ebenso wie Binding und zahlreiche andere Schriftsteller des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ein gespaltenes Frauenbild, das sich in seinen Texten meist in polaren Frauentypen niederschlägt. Ein besonders deutliches Beispiel zeigt die Novelle Vorspiel, die 1907 erstmals erschien und 1919 in den Band Hans und Grete aufgenommen wurde. Hier wird das preußische, zurückhaltende, demütigdienende Fräulein Anna Juchow mit der aggressiven Sexualität der brasilianischen Sklavin Bemvinda kontrastiert. Langenbucher fasst die Handlung, tendenziös zuspitzend, aber nicht wesentlich verfälschend, wie folgt zusammen: In das Haus des deutschen Auswanderers, der eine Fabrik leitet, kommt die schwarze Geliebte eines französischen Geistlichen, um, da die beiden sich gegenseitig satt haben, rechtzeitig für Ersatz zu sorgen. Der Deutsche, der alles andere im Sinn hat als die Absicht, zu nehmen, was die schwarze Schönheit, die, sich schlafend stellend, unbekleidet im offenen Zimmer auf einem Ruhebett liegt, gern geben möchte, wird durch deren Raserei dazu getrieben, den Menschen der fremden Rasse zu töten, um den der eigenen zu retten!267

Sowohl Anna als auch Bemvinda sind reine Männerphantasien, wie sie Klaus Theweleit analysiert hat: mit realen Frauen oder Geschlechterverhältnissen haben sie nichts zu tun, stattdessen beinhalten sie individuelle und kollektive Phantasien über das 264 Franke: Emil Strauß: Der Schleier, S. 97. 265 Vgl. die entsprechenden Zitate bei Jürgen Schweier: Zeitgemäß und unmodern zugleich. Emil

Strauß – Umrisse einer Biographie. In: »Wahr sein kann man«. Zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866-1960). Symposion der Stadt Pforzheim, 8.-10. Mai 1987. Hg. mit einem Nachwort v. Bärbel Rudin. Pforzheim 1990, S. 7-28, hier S. 15 und 24. 266 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 506. 267 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 335.

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›Wesen‹ der Frau, mit denen Männer auf die Beschädigungen durch den zivilisatorischen Prozess reagieren. Anna verkörpert den entsexualisierten, demütigen, bis zur Selbstaufgabe helfenden und zugleich hilfsbedürftigen Typus; sehr auffällig betont der Text, dass sie beim Protagonisten keine sexuellen, sondern ausschließlich karitative Empfindungen hervorruft. Bemvinda dagegen ist das »schöne, beutelüsterne Raubtier«268, triebhaft und bedrohlich und zudem von fremder, exotischer Rasse. Erst ihre Tötung stiftet die Beziehung zwischen Anna und dem Auswanderer, dessen Schlussworte lauten: »Im Mittelalter mauerte man in den Grundstein der Münster etwas Lebendes ein. Auch wir haben etwas Lebendes im Fundamente liegen; wir werden etwas Gutes und Tüchtiges aus uns machen müssen! Wir werden einen schönen Turm bauen müssen auf diesem Fundamente, damit wir hoch darüber wohnen und weit darüber hinwegschauen können!«269

Der tote Körper Bemvindas und mit ihm das anarchische Begehren werden so überformt von der christlich-europäischen Ehe als einer tugendhaften und leistungsethisch begründeten Gemeinschaft. Diese überhöhende Sicht der Ehe ist auch im Schleier anzutreffen; ebenso wie in der Figurenkonstellation von Vorspiel schlägt sich in der Glorifizierung der Ehefrau und Mutter ein durch und durch männlich geprägtes Weiblichkeitsmuster nieder – insbesondere, indem die Frau durch unverhältnismäßig große Opferbereitschaft aufwiegen muss, was der Mann an Selbstdisziplin vermissen lässt. Zur Zeit seiner Affäre hat sich Herr von Tettingen als »Knabe« und »Näscher« gefühlt270; wenn Frau von Tettingen den sechsfachen Vater wieder bei sich aufnimmt, suggeriert der Text einen Entwicklungssprung des plötzlich schuldbewussten Freiherrn: dieser will »als Mann vertreten«, was er »als Knabe beging«.271 Der Ehebruch Tettingens erhält damit zugleich eine Legitimation, die von älteren Interpretationen vorbehaltlos affirmiert wird; so heißt es etwa in einer Dissertation von 1953: »Dieser Um- und Abweg des Freiherrn war für seine Entwicklung notwendig, denn nur über sein Versagen konnte er zu Bewußtheit und Verantwortlichkeit erwachsen«.272 Indem Frau von Tettingen jedoch als verzeihende Über-Mutter inszeniert wird, bestätigt der Text gerade das, was er vorgeblich entmachten will – die jungmännliche, um nicht zu sagen: infantile Sicht der Frau. Zu diesem Frauenbild passt auch, dass Strauß in seinen Novellen sehr häufig Jugendlieben fokussiert, so in Baptist, Der Laufen und Befund273; meist sind sie als Rückblick eines verwitweten oder alleinstehenden Mannes gestaltet, und Zuhörer sind Strauß: Vorspiel. In: Der Schleier, S. 5-43, hier S. 36. Ebd., S. 43. Ders.: Der Schleier, S. 173. Ebd., S. 174. Robert Fritzsch: Die Beziehungen zwischen Mann und Frau bei Emil Strauß. Dissertation (ms.) Erlangen 1953, S. 47. 273 Emil Strauß: Der Laufen. In: Der Schleier, S. 119-149; Baptist. In: Ebd., S. 199-214; Befund. In: Ebd, S. 260-290. 268 269 270 271 272

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einer oder mehre Männer. Als letztes Beispiel für die Liebes- und Frauenkonzeption von Emil Strauß sei ein Blick auf Befund geworfen. Erzählt wird diese Novelle aus der Perspektive eines berühmten und geehrten Professors der Chirurgie. Dieser gibt, wie er selbst sagt, einen »Augenblick« aus seinem Leben »zum besten«: »Jener Augenblick war für mich bedeutend, wie der alte Goethe sagen würde; er entschied nicht nur das laufende Spiel«.274 Mit der Betonung einer augenblickshaften Begebenheit von großer Tragweite, durch die Mündlichkeit suggerierende Erzählsituation und wenn man so will auch durch die Erwähnung Goethes unterstreicht der Autor das ›Novellistische‹ seines Textes schon auf der ersten Seite. Die Binnengeschichte zeigt den Erzähler als jungen, idealistischen Studenten des zweiten Semesters, der die Semesterferien zu einer kleinen Reise nutzt. Unterwegs verliebt er sich in die Gastwirtstochter Marie; zu mehr als einem (halb erzwungenen) Kuss kommt es nicht, bevor der Vater den jungen Mann aus dem Haus wirft. Ein dramatischer Kampf mit dem Wirt ist die Folge; Marie, von dieser Entwicklung völlig überfordert, will nichts mehr von dem Studenten wissen. Die erste Liebe ist entzaubert, eine Illusion zerstört: Ich war unerträglich dadurch gedemütigt oder eigentlich empört, daß ich ein unverbrauchtes junges, schweres Herz in eine sofort umkippende Waagschale gelegt hatte. Ich wollte es immer und immer und immer nicht gelten lassen, daß ich einen Tag lang die zartesten, reinsten, süßesten Gefühle, Gedanken, Worte und Bilder an die Vorstellung dieses Mädchens verschwendet hatte. Nun war all das ein für alle Male in mir verbraucht, vergiftet, vernichtet!275

Die selbstverordnete Therapie gegen den Liebeskummer ist schließlich höchst prosaisch und besteht in dem Entschluss: »Das nächste nette Mädel, das mir in den Weg läuft, wird geküßt!«276 Hier sieht das erzählende Ich den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben: Hätte ich die Kraft, die Gefühlskraft gehabt, jene Abfuhr […] in mir herumzutragen, […] so würde das Märi aus mir hinausgeschwärt sein, sie würde auch als Maske verblaßt und zerstoben sein; aber was ich hinter der Maske erwartet hatte, das erfahrungslos nebelhafte Traum- und Wunschbild würde sich aus diesem Erlebnis mit bestimmten Zügen niedergeschlagen, geformt und festgewachsen haben, es würde in mir gelebt und gewirkt, Urteil, Wunsch und Wahl bestimmt, es würde mich zu der geführt haben, die Platon in seinem Mythos unsere andere Hälfte nennt und die mir, der ich Ergänzung gewesen wäre, sie wie aus mir, ich wie aus ihr herausgewachsen.277

Stattdessen habe er – »kein Don Juan, aber doch ein wenig wie er!« – den Arm »um die nächste derbe Wirklichkeit« gelegt und sich damit selbst den Zugang zu einer

274 275 276 277

Ders.: Befund, S. 260. Ebd., S. 284. Ebd., S. 286. Ebd., S. 288f.

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›höheren Gefühlsstufe‹ verstellt.278 Diese habe er auch in der Ehe nicht erreicht, obwohl er seiner verstorbenen Frau nur Gutes attestiert: Ich habe sie aus Neigung geheiratet, und als ich sie im Sarge sah, war diese Neigung noch nicht geringer, und ich war darauf stolz. Aber – wenn ich, schon als Freiersmann, hörte, der oder jener sei schon jahrelang verlobt, dann schüttelte ich den Kopf – so hätte mich meine Braut nicht gefesselt; wär’s nicht gegangen, dann hätte ich eine andere genommen. Und in den Jahrzehnten meiner Ehe sind mir genug Mädchen und Frauen begegnet, die mir ebenso gut gefielen wie die meine, die ich ebenso gut hätte heiraten, mit denen ich ebenso gut hätte leben können. Das zu fühlen hat mich immer ein wenig nachdenklich und traurig gemacht. Trotz allem können wir ja nicht umhin, zu wissen, daß nur absolute Lösungen menschlich anständig sind.279

Unter dem Druck dieser Auffassung, nur absolute Lösungen als »menschlich anständig« zu akzeptieren, formt sich die Persönlichkeit. Sie läuft bei aller partiellen Erkenntnis darauf hinaus, die reale Frau entgelten zu lassen, dass sie den männlichen Kopfgeburten und Wunschprojektionen nicht entspricht; mehr noch: die Frau wird dafür verantwortlich gemacht, wenn der Mann hinter seinen ›eigentlichen‹ sittlichen Möglichkeiten zurückbleibt. Diese wiederum werden in einem dichotomen Raster verankert, das nur extreme (wie etwa Platon und Don Juan) und »absolute Lösungen« anerkennt. Wie wenig Frauen hier tatsächlich ›gemeint‹ sind, macht ein Satz von Hellmuth Langenbucher unfreiwillig deutlich: »Im Verhältnis der Geschlechter zueinander entscheidet sich immer wieder das Ja oder Nein der Straußschen Lebensidee, ob der Mensch die Möglichkeit hat, zu werden, was er ist, oder ob ihm diese Möglichkeit durch schicksalhafte Umstände, durch andere Menschen, z.B. Frauen, bestritten und verbaut wird.«280 Der Mensch mit Möglichkeiten ist immer nur der Mann. In diesem Sinne löst Befund von Emil Strauß unfreiwillig ein, was der Titel verspricht: Die Novelle erweist sich als psychographischer Befund einer typischen, männlichen Mentalität des frühen 20. Jahrhunderts, die die weibliche Position in ihren Texten mit reinen Imaginationen besetzt hat; dass viele Leser und vielleicht noch mehr Leserinnen aus diesen Texten wiederum Rückschlüsse für ihr Geschlechtsrollenverständnis gezogen haben dürften, markiert die sozialaffirmative Funktion einer Literatur, in der umso ausführlicher von Frauen die Rede ist, je offensichtlicher sie in diesem männlichen Diskurs vollkommen fehlen.

278 Ebd., S. 289. 279 Ebd., S. 287f. 280 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 59. – Hervorhebung von mir.

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3. »Deutsche Erzählkunst« Hans Franck und Wilhelm Schäfer zählten in ihrer Zeit zu den prominentesten und erfolgreichsten national-konservativen Autoren. Besonders Schäfer, heute weitgehend vergessen, besaß bei seinen Zeitgenossen hohes Renommee; vor dem Ersten Weltkrieg fanden selbst Franz Kafka und Kurt Tucholsky lobende Worte für sein Werk281 und noch nach dem Zweiten bescheinigte ihm Johannes Klein in einem eigenen, siebzehn Seiten umfassenden Kapitel seiner Novellengeschichte, »eine breitere Wirkung erlebt [zu haben] als irgendein Novellist deutscher Sprache seit Gottfried Keller, vielleicht Thomas Mann ausgenommen«.282 Es gibt eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Franck und Schäfer: Beide haben schon in der frühen Weimarer Republik völkische Gedanken vertreten und sich in der Folgezeit als überzeugte Anhänger der Nationalsozialisten erwiesen – Franck unter anderem durch eine verklärend-schwärmerische Hitler-Biographie.283 Beide hatten eine Volksschullehrerausbildung absolviert und durften 1933 längst als arrivierte Schriftsteller gelten (schließlich war Schäfer zu diesem Zeitpunkt bereits 65, Franck 54 Jahre alt). Beide verfassten traditionalistische Novellen, waren zugleich aber auch bemüht, mit knapperer, als ›Anekdoten‹ oder ›Geschichten‹ bezeichneter Kurzprosa an Kleist und Hebel anzuknüpfen – in den dreißiger Jahre galten sie als Hauptvertreter einer spezifisch deutsch-national ausgerichteten Kurzgeschichte.284 Beide waren miteinander befreundet285 und teilten darüber hinaus die Vorliebe für Stoffe aus der deutschen Geschichte: Franck schrieb Novellen und Romane unter anderem über Johann Sebastian Bach und dessen Sohn Friedemann, über Goethe, Hamann und die Droste, Schäfer hatte Erfolge mit dem Pestalozzi-Roman Lebenstag eines Menschenfreundes (1916), mit Novellen über Winckelmann und Hölderlin sowie mit seinem pseudo-historischen, dem ›wahren Deutschtum‹ verpflichteten Hauptwerk Die dreizehn Bücher der deutschen Seele (1922). An den Auflagen des letzteren ist zudem abzulesen, wie sehr Schäfer vom geistigen Klima des ›Dritten Reiches‹ profitieren konnte: Bis 1925 verkauften sich die Dreizehn Bücher 32 000 Mal, in den nächsten Jahren erhöhte sich die Auflage nur um weitere 4000, um nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten stetig und erheblich anzusteigen; 1942 erreichte die Gesamtauflage schließlich 195 000 Exemplare.286 Einmal mehr zeigt dieses Bei281 Vgl. Franz Kafka: Tagebuchaufzeichnung vom 31.10.1911. In: Franz Kafka: Tagebücher in der

282 283 284 285 286

Fassung der Handschrift, S. 214; Kurt Tucholsky: Die unterbrochene Rheinfahrt [zuerst in: Die Schaubühne, 22.1.1914]. Jetzt in: Ders.: Texte 1914-1918. Hg. v. Bernhard Tempel. Reinbek 2003 (= Texte und Briefe, 2), S. 27-29. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 503. Vgl. Hans Franck: Hitler. Ein Volks- und Jugendbuch. Wiesbaden 1934. Vgl. Hans Adolf Ebing: Die deutsche Kurzgeschichte. Wurzeln und Wesen einer neuen literarischen Kunstform. Diss. Münster 1936. Vgl. Hans Franck: Ein Dichterleben in 111 Anekdoten. Stuttgart 1961, S. 160-164. Vgl. Carsten Würmann: Vom Volksschullehrer zum »vaterländischen Erzieher«. Wilhelm Schäfer:

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spiel, dass »das Jahr 1933 keine eigene Epoche generiert, sondern bereits vorhandene Denkstrukturen aufgenommen und verschärft werden«.287 Mit seinem provokativen Austritt aus der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie – zusammen mit Kolbenheyer und Emil Strauß – legte Schäfer 1931 ein klares politisches Bekenntnis ab288; in die ›gesäuberte‹ Akademie tritt er 1933 wieder ein und wird als eine Art Doyen der völkischen Literatur in den folgenden Jahren vielfach geehrt: der »Künder und Wahrer echten deutschen Glaubens«289 erhält 1937 den Rheinischen Literaturpreis, 1941 den Frankfurter Goethepreis, 1942 den Düsseldorfer Immermann-Literaturpreis und 1943 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Sowohl Franck als auch Schäfer haben sich in essayistischen Schriften und Reden oft und offensiv zu einem national-konservativen Literaturverständnis bekannt; in jeder Hinsicht sind sie repräsentativ für den bereits in der Weimarer Republik starken, im Nationalsozialismus schließlich dominierenden völkisch-klassizistisch ausgerichteten Flügel der deutschen Literatur, dem auch Autoren wie Erwin Guido Kolbenheyer, Hermann Stehr, Werner Beumelburg, Hans Grimm, Josef Ponten, Wilhelm von Scholz, Hans Friedrich Blunck, Paul Alverdes oder Agnes Miegel zuzurechnen sind.

3.1. Hans Franck (1879-1964) Hans Francks Abhandlung Deutsche Erzählkunst erschien 1922 als einleitender Band der von Max Tau herausgegebenen Publikationsreihe Die deutsche Novelle. Eine Bücherei zeitgenössischer Dichtung im Trierer Verlag Friedrich Lintz. Das Epitheton ›deutsch‹ ist sowohl im Reihentitel als auch in Francks Ausführungen emphatisch zu verstehen: Es geht darum, eine für spezifisch ›deutsch‹ gehaltene Schreibweise gegen eine literarische Öffentlichkeit zu behaupten, die sich einseitig zugunsten einer international oder zumindest »europäisch gewordenen Erzählkunst« ausspreche. Dabei sieht sich Franck als »ernsten, konzessionslosen Erzähler«, der aber gerade durch diese Tugenden »auf verlorenem Posten« stehe in einem Literaturbetrieb, in dem »ohnmächtige Pfuscher und konjunkturkundige Macher, geschickte Publikumsgeschmackkitzler Ein völkischer Schriftsteller zwischen sozialer Frage und deutscher Seele. In: Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933-1945. Hg. v. Christiane Caemmerer und Walter Delabar. Opladen 1996, S. 151-168, hier S. 156f. 287 Sabine Brenner: »Wir ungereimten Rheinländer wollen es wieder richtig machen«. Wilhelm Schäfer und die Kulturzeitschrift Die Rheinlande. In: »Ganges Europas, heiliger Strom!« Der literarische Rhein (1900-1933). Hg. v. Sabine Brenner, Gertrude Cepl-Kaufmann, Bernd Kortländer. Düsseldorf 2001, S. 47-74, hier S. 56. 288 Vgl. dazu ausführlich Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie, S. 95-130. 289 Der Landeshauptmann der Rheinprovinz Heinz Haake an den Dichter [Laudatio bei der Verleihung des Rheinischen Literaturpreises in Köln am 13. November 1938]. In: Wilhelm Schäfer: Mein Lebenswerk. Zum 70. Geburtstag des Dichters am 20. Januar 1938 überreicht von seinem Verlag. München 1938, S. 12-16, hier S. 15.

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und aufgeblähte Literaten« dominierten und dabei von »zeilenschindenden Zeitungschreibern [!] und titelüberhäuften Professoren« unterstützt würden.290 Diese ausgiebige Polemik gegen den (Berliner) Literaturbetrieb und die damit verbundene Pose des unverstandenen, zu Unrecht marginalisierten Dichters sind in den zwanziger Jahren typisch für die Mentalität vieler national-konservativer Autoren, die die eigene Misere auch auf die aus ihrer Sicht katastrophale Lage des republikanischen Deutschlands zurückführten. Entsprechend ist in den Erläuterungen des Verlags zur Publikationsreihe Die deutsche Novelle von den Dichtern die Rede, »die abseits zu stehen scheinen«, und das »nicht weil sie zeitfremd sind, sondern weil sie die Zeit in tieferem Sinne begreifen als flinkfedrige Schriftsteller, die der Schwäche und der Eitelkeit der Menge Tribut zollen«; sie eine »das unausgesprochene Gelöbnis: durch treuen Dienst der eigenen Seele zu schöpferischen Verkündern der leidenschaftlich umworbenen deutschen Volksseele aufzuwachsen; dienend also Meister zu werden, das Umworbene meisternd, ihm Diener zu bleiben«.291 Typisch für den kulturkonservativen Wortschatz ist in diesem Zusammenhang auch die wertende Gegenüberstellung von ›Dichtung‹ und ›Literatur‹ bzw. ›Dichter‹ und ›Schriftsteller‹/ ›Literat‹: erstere, nicht zweitere wolle der Verlag durch seine Publikationsreihe fördern. Dieses emphatische Verständnis von (deutscher) ›Dichtkunst‹ ist in der Weimarer Zeit immer wieder angegriffen worden, etwa von Alfred Döblin, der sich ironisch gegen die »überzeitlichen Fabrikanten von Ewigkeitswerten« und deren »altertümliche, altertümelnde Produkte« aussprach.292 Das änderte wenig daran, dass Döblin von einem Großteil der literarischen Öffentlichkeit in den zwanziger Jahren zwar als ›zeitwichtiger Autor‹, Emil Strauß, Wilhelm Schäfer oder Erwin Guido Kolbenheyer aber als ›unvergängliche Dichter‹ wahrgenommen wurden.293 Was die Novellentheorie betrifft, bietet Francks Abhandlung nichts Neues; als eine der wenigen ausführlichen theoretischen Schriften auf dem Gebiet des nationalkonservativen Klassizismus ist sie dennoch von Interesse, weil sie die Wirkungsabsichten dieser Autoren anschaulich zusammenfasst und eine literarhistorische Einordnung versucht. Im Sinne des emphatischen Dichtungsbegriffes wird zunächst der Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit nachdrücklich erhoben: ›Wahrhafte‹ Erzählkunst befasse sich mit »allgemein Menschlichem«, strebe »innere Erhöhung, nicht Erniedrigung« an, verleihe dem Besonderen eines Ereignisses »Bedeutung, Resonanz, überpersönliche Gültigkeit und unvergängliche Wahrheit«.294 Deutlich weist die von Franck intendierte Rezeption auf das Kunstverständnis der Nationalsozialisten voraus: Kunst wird 290 Hans Franck: Deutsche Erzählkunst. Trier 1922, S. 5f. 291 Ebd., S. 133. – Veröffentlicht wurden in der Reihe Novellentexte von Bruno Arndt, Friedrich Grie-

se, Paul Gurk, Josef Ponten und Wilhelm Lehmann. 292 Alfred Döblin: Bilanz der »Dichterakademie« [zuerst in: Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung,

25.1.1931]. Jetzt in: Ders.: Kleine Schriften III. Hg. v. Anthony W. Riley. Zürich, Düsseldorf 1999, S. 237-245, hier S. 238. 293 Vgl. Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie, S. 132. 294 Franck: Deutsche Erzählkunst, S. 10.

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nicht als »Gegenstand der Erkenntnis« oder der Analyse, sondern als »Gegenstand des Gefühls, […] des Erlebnisses« definiert.295 Ziel ist die Überwältigung der Leser bzw. Zuhörer im Sinne eines gleichschaltenden Gewaltaktes: »was kann es Herrlicheres geben, als hunderte, tausende, millionen Herzen durch die Gewalt armseliger Menschworte zu bestimmen, zu verlocken, zu zwingen: im Takte des eigenen Herzens zu schlagen?«296 Entsprechend sieht Franck im »dämonische[n] Wille[n] zur Seelenbezwingung, zur Seelenvergewaltigung« die wesentliche Motivation eines Autors und definiert es als »Mission« der deutschen Erzähler, »Menschen ins Göttliche […] hinaufzureißen«.297 Erforderlich seien erzählerische »Magierkräfte«; »Schilderung, Beschreibung, Sezierung, Psychologisierung, Zerfaserung« werden dagegen als »Mittel der nichts-als-modernen halbkünstlerischen Novellistik« abgewertet.298 Exkurs zur Anekdote Francks gattungstheoretische Ausführungen definieren Anekdote, Novelle und Roman als »die drei Grundarten der Erzählung, die dem heutigen Dichter gegeben sind«; dabei werden »haarscharfe Unterscheidungen zwischen Anekdote und Novelle einerseits und zwischen Novelle und Roman andrerseits« ausdrücklich nicht angestrebt.299 Wesentliche Differenz sei, dass Anekdote und Novelle vom »Besonderen, Losgelösten, Zugespitzten« ausgingen, um zum »Allgemeinen, Allverbundenen, Indie-Breite-Strebenden vorzudringen«, während es »Wesen und Aufgabe des Romans« sei, »die Weite, das Unabsehbare, zu fassen und künstlerisch solange zusammenzudrängen, bis es […] Konsistenz, Prägnanz, Rundung, Eindeutigkeit« erhalte.300 Franck zufolge verfahren also Novelle und Anekdote eher induktiv, der Roman eher deduktiv; dass hiermit zugleich ein ganz bestimmter, traditionalistischer Romantypus absolut gesetzt wird, ist offensichtlich. Erläuterungsbedürftig ist der Begriff der ›Anekdote‹, weil er für die nationalkonservativen Autoren eine wichtige Rolle spielt und auch in der völkisch orientierten Literaturwissenschaft eine starke Aufwertung erfahren hat – so vor allem bei Robert Petsch, der die Anekdote in direktem Rekurs auf Franck zu den ›Urformen‹ des Erzählens rechnet.301 Unter den Autoren der damaligen Gegenwart berief man sich vor allem auf Wilhelm Schäfer, den schon Franck in märchenhafter Metaphorik 295 296 297 298 299 300 301

Ebd., S. 23. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 56. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Vgl. Robert Petsch: Wesen und Formen der Erzählkunst. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage Halle/Saale 1942 (= Buchreihe der DVjs, 20), S. 425-437. – Petsch hat die Deutsche Erzählkunst ausführlich und positiv rezensiert, vgl. Robert Petsch: Hans Franck und die deutsche Erzählkunst. In: Zeitschrift für Deutschkunde 38 (1924), S. 81-94 und S. 185-189.

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zum »Wiedererwecker« der Gattung stilisiert: »Er hat sich zu dieser fast völlig in Vergessenheit geratenen, von dem Dorngestrüpp der schludrigen Zeitungerzählung überwucherten urdeutschen Kunstart den Weg gebahnt und sie wachgeküßt«.302 Als die beiden Ahnherrn der neueren Anekdote hebt Franck Heinrich von Kleist und Johann Peter Hebel hervor, doch für den »Allvater der Anekdote« hält er den »Gottgeist des Volkes, der die deutschen Märchen schuf und sich in den Gebrüdern Grimm seine Propheten bestellte«.303 Den Terminus ›Anekdote‹ will Franck »als Formbezeichnung« bestimmt sehen, nicht als inhaltliche Charakterisierung: »die Anekdote umfaßt alle Arten der Kurzgeschichte: Sage und Satire, Märchen und Legende, Groteske und Geschichte«.304 Damit nennt er allerdings eine ganze Reihe weiterer Gattungsbegriffe, von denen jeder einzelne alles andere als klar definiert ist, ganz zu schweigen von den hierarchischen Über- und Unterordnungen der jeweiligen Termini. Besonders heikel scheint das Verhältnis von ›Anekdote‹ und ›Kurzgeschichte‹305; ähnlich wie bei den Begriffen ›Erzählung‹ und ›Novelle‹ werden exakte Abgrenzungen durch die Vermengung formaler und ästhetisch-wertender Aspekte erschwert. Klaus Doderer hat die These vertreten, dass im konservativ-nationalen Literaturverständnis der Anekdotenbegriff überall dort verwendet würde, wo künstlerisch wertvolle Kurzgeschichten gemeint seien, während der Terminus ›Kurzgeschichte‹ in diesem Kontext immer negativ konnotiert sei, ein schwaches, formloses, dem Journalismus angelsächsischer Prägung nahestehendes Produkt bezeichne.306 Letzteres zumindest ist aus den Quellen zu belegen: Schäfer etwa sieht ›Kurzgeschichte‹ nicht nur als »Albernheit«, sondern sogar als »Schimpfwort« und verwahrt sich ausdrücklich gegen eine solche Bezeichnung seiner Kurzprosa.307 Auf der anderen Seite allerdings gab es im NS-Staat sehr wohl Versuche, den Begriff der ›Kurzgeschichte‹ aufzuwerten und ideologisch zu besetzen, wie es etwa in Hans-Adolf Ebings Arbeit über Die deutsche Kurzgeschichte. Wurzeln und Wesen einer neuen literarischen Kunstform von 1936 geschieht: Ebing rekurriert nicht nur ausführlich auf Francks Deutsche Erzählkunst (der sogar verschiedene Motti dieser Münsteraner Dissertation entnommen sind)308, sondern empfiehlt des302 Franck: Deutsche Erzählkunst., S. 26. – Im Anschluss an Schäfer legten dann vor allem Franck

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selbst, Wilhelm von Scholz, Josef Winckler, Walter von Molo und Werner Bergengruen Anekdotenbände vor: vgl. Heinz Grothe: Anekdote. Stuttgart 1971 (= Sammlung Metzler, 101), S. 5. Franck: Deutsche Erzählkunst, S. 27. Ebd., S. 26. Ein besonders auffälliges Beispiel für die unscharfen Begriffsgrenzen bieten auch Titel und Untertitel des von Paul Alverdes und Hermann Rinn herausgegebenen Bandes Deutsches Anekdotenbuch. Eine Sammlung von Kurzgeschichten aus vier Jahrhunderten (München 61942). – Heinz Grothe, der sich gerade mit den national-konservativen Anekdotendichtern ausführlich beschäftigt, will die »Kurzgeschichte zwischen Anekdote und Novelle« verortet sehen, vgl. Grothe: Anekdote, S. 23. Vgl. Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland, S. 14-31. Wilhelm Schäfer: Vorwort zur ersten Gesamtausgabe [1942]. In: Ders.: Die Anekdoten. Ausgabe letzter Hand. Stuttgart 1957, S. 7-11, hier S. 8f. Vgl. Ebing: Die deutsche Kurzgeschichte, S. V, 20, 29, 131. – An späterer Stelle seiner Arbeit vermerkt Ebing, Franck sei mit der Deutschen Erzählkunst in einem Sinne als »Theoretiker und Lehrer« hervorgetreten, »daß ihm nur noch Paul Ernst an die Seite gestellt werden kann, was Bestimmtheit

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sen Sammlungen Der Regenbogen und Zeitenprisma als Muster einer spezifisch ›deutschen‹, »wirklich verwurzelte[n] Kunst«.309 Seine Versuche, die Kurzgeschichte als »typische Äußerung des deutschen Geistes« von »romanischer Novelle und angelsächsischer short-story« abzugrenzen, münden jedoch in inhaltlich-terminologische Verwirrung.310 Franck erging es dreizehn Jahre zuvor nicht besser: Als Differenzierungskriterien zwischen Anekdote und Novelle bleiben in der Deutschen Erzählkunst nur die größere Knappheit der ersteren und ihre Kulmination in einem besonders »einprägsamen, Menschlichkeit vielfach farbig widerspiegelnden Wort«, während die Novelle in einer »einmaligen Tat« – sprich: der unerhörten Begebenheit – gipfele.311 Punktuelle »Krystallisation«, eine Aussage von »symbolhafter […] Kraft« werden als höchstes Ziel der Anekdote definiert; die Novelle biete dagegen ähnlich wie der Roman eine breiter ausgeführte Handlung.312 Hier ist sich Franck wiederum mit Schäfer einig, der im Vorwort zur ersten Gesamtausgabe seiner Anekdoten behauptet: »Der Unterschied zwischen den beiden Gattungen liegt, handgreiflich gesprochen, darin, daß die Novelle den geschlossenen Ring einer Handlung gibt, während die Anekdote um einer Pointe willen eine historische Situation bemüht«.313 Allerdings schreibt Schäfer im gleichen Kontext einerseits, dass er seine Anekdoten als »kleine Novellen« begreife, und andererseits, dass er seine »umfänglicheren Stücke novellistischer Art in einem Band ›Novellen‹ abgesondert habe«.314 Damit scheint er die Begriffe ›Anekdote‹ und ›Novelle‹ als Binnendifferenzierungen innerhalb des Novellengenres zu verstehen, etwa in dem Sinn, in dem ältere Literaturwissenschaftler wie Hermann Pongs oder Hans Pyritz die knappere Form einer an Boccaccio orientierten ›Ereignisnovelle‹ von der deutschen ›Großform‹ der ›Charakter‹- oder ›Schicksalsnovelle‹ abzugrenzen versuchten.315 Angesichts dieser terminologischen Verwirrung ist Francks und Schäfers Bemühungen um den Anekdotenbegriff höchstens zugute zu halten, dass sie be-

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und Klarheit des Urteils und des Empfindens inmitten einer Welt schamlosester Dekadenz, undeutschester Wurzellosigkeit und Zersplitterung betrifft« (ebd., S. 63). Ebd., S. 105. – Francks Sammlungen Der Regenbogen. Siebenmalsieben Geschichten (Leipzig 1927) und Zeitenprisma. Dreimaldreizehn Geschichten (München 1932) enthalten Texte, die zwischen 1911 und 1931 entstanden sind. Ebd., S. 131. Franck: Deutsche Erzählkunst, S. 47. Ebd., S. 31. – Dass Franck diese Ausführungen zum Anekdoten-Begriff vierzig Jahre später fast gleichlautend wiederholte, hat ihnen nicht mehr Trennschärfe verliehen. Vgl. die Vorbemerkungen in Franck: Ein Dichterleben in 111 Anekdoten, S. 7-10. Schäfer: Vorwort zur ersten Gesamtausgabe [1942], S. 8. Ebd., S. 8. – Nicht zu Unrecht hat Hans Peter Neureuter in diesem Zusammenhang bemerkt: »Die Erzählungen Wilhelm Schäfers, die er seit 1908 in mehreren Bänden unter dem Titel ›Anekdoten‹ veröffentlichte, sind auch ein Hauptgrund für die so erstaunliche Verwirrung der Begriffe in literarhistorischen Bestimmungen der Anekdote« (Hans Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458-480, hier S. 475). Vgl. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 105, sowie Pongs’ späteren Aufsatz Die Anekdote als Kunstform zwischen Kalendergeschichte und Kurzgeschichte. In: Der Deutschunterricht 9 (1957), Heft 1, S. 520; vgl. auch Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle, S. 77.

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stimmte, auch für spätere literaturwissenschaftliche Definitionen der Anekdote zentrale Merkmale wie Knappheit, Pointierung, Anspruch auf Faktizität, symbolische Überhöhung usw. benennen – und dass eine trennscharfe Abgrenzung der Anekdote von anderen Formen der Kurzprosa auch für die neuere Literaturwissenschaft nur ansatzweise möglich ist.316 Dass Schäfers und Francks praktische Gattungsbeiträge als »dichterische Leistung in die Nähe derjenigen von Kleist und Hebel«317 gerückt wurden, illustriert aus heutiger Sicht jedoch allenfalls die Historizität literarischer Wertungen. Im Anschluss an seine gattungstheoretischen Überlegungen geht es Hans Franck vor allem darum, die spezifische Eigenart ›deutscher‹ Erzählkunst aus der Literaturgeschichte abzuleiten und eine in die Zukunft gewandte Aufgabe zu formulieren. Unter den Autoren der Vergangenheit sind es neben Goethe vor allem Hölderlin und Kleist, die besonders hervorgehoben werden. Hölderlin habe sich von »der je länger desto mehr antideutsch gewordenen Klassik« distanziert und die »Eindeutschung der Antike« geleistet, wie Franck in geschlechtlich codierender Metaphorik behauptet: »Er umschloß die Fremdblütige mit sehnsüchtigen Armen und weckte in ihrem Schoß neues Leben«.318 Noch über Goethe und Hölderlin firmiert Kleist als Inbegriff des ›deutschen‹, ›männlichen‹ Erzählers und als Überwinder von Klassik und Romantik.319 Mit der nachdrücklichen Wertschätzung Kleists geht, gerade im Hinblick auf die Novellengeschichte, eine regelrechte Invektive gegen Paul Heyse einher. Dieser sei ein reines »Formtalent« und als der »angebliche Meister der klassischen deutschen Novelle […] geradezu ihr Hauptverderber geworden«: Mit Recht hat Wilhelm Schäfer darauf hingewiesen, wie gerade Jene, denen die Kraft zur Erfindung und Schaffung einer sinnbildlichen Handlung mangele, sich an der symbolischen Atrappe [!] des Falken genügen lassen und sich ihrer Ohnmacht im Aufblick zu Paul Heyse noch rühmen. Wenn jemand persönliche Schuld daran trägt, daß den Deutschen der Zugang zu der von urdeutschen Formgesetzen beherrschten Novellistik Heinrich von Kleists jahrzehntelang nahezu unmöglich war und noch heute unnötige Mühen macht, dann ist es dieser vielschreibende ›Meister der Novelle‹ und seine an Boccaccio

316 Vgl. neben den bereits zitierten Arbeiten von Grothe und Neureuter etwa Jürgen Hein: Nachwort.

In: Deutsche Anekdoten. Hg. v. J.H. Stuttgart 1976, S. 353-384 [Schäfer ist in dieser Sammlung mit sieben Beispielen vertreten, Franck mit fünf]; Walter Ernst Schäfer: Anekdote – Antianekdote. Zum Wandel einer literarischen Form in der Gegenwart. Stuttgart 1977; Rudolf Schäfer: Die Anekdote. Theorie – Analyse – Didaktik. München 1982; Volker Weber: Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium, 26) sowie Heinz Schlaffers Artikel ›Anekdote‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 87-89. 317 Grothe: Anekdote, S. 68. 318 Franck: Deutsche Erzählkunst, S. 107. 319 Ebd., S. 107f. – Die geschlechtliche Codierung verwendet Franck im Hinblick auf die Anekdote, die im Norddeutschen Kleist den Ahnvater der »männlich harten«, in Johann Peter Hebel den »süddeutsche[n] Ahn der weiblich liebenswürdigen Linie« gefunden habe (ebd., S. 26f.).

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angeschlossene Kunstlehre (die freilich nicht gegen den Meister, auf den sie sich beruft, wohl aber gegen das halbdichterische Talent seines Meisterschülers spricht).320

Solche massiven Vorbehalte gegen Heyse sind bei den klassizistischen Novellenautoren des 20. Jahrhunderts bis hin zu Werner Bergengruen öfter zu finden und markieren einen der heikelsten Punkte im Selbstverständnis dieser Schriftsteller, die zwar normative Gattungsvorstellungen vertraten, aber jede allzu konkrete poetologische Handreichung – als die sie Heyses ›Falkentheorie‹ verstanden – als unkünstlerisch ablehnten. Nach dem literarhistorischen Überblick versucht Franck noch einmal und auch hier an verbreitete Auffassungen des völkisch-nationalen Lagers anknüpfend, die spezifische Mission ›deutscher‹ Erzähler zu definieren: Ihre zentrale Aufgabe bestehe darin, eine »Synthesis« zwischen Nord und Süd, West und Ost zu geben; als »Herzland Europas« müsse Deutschland »die widerstrebenden Seelenmächte der Erde mit seiner Liebe« umfassen und segnen.321 Im Jahr 1922 setzte diese versöhnlich und offen klingende Vorstellung allerdings eine Stellung Deutschlands voraus, die es nach dem verlorenen Krieg in keiner Weise ausfüllen konnte und die ihm kein anderes Land hätte zugestehen wollen; der revisionistische Grundton war damit unverkennbar. Franck hofft auf eine »Erneuerung des deutschen Wesens aus jenem Geiste heraus, der die Werke deutscher Kunst schuf«322; möglich wiederum sei diese nur aus der »Kraftquelle« des »wahrhaften, in seinen Wesenstiefen unwandelbaren Volkstum[s]«323 heraus. Später hat Franck klar zu erkennen gegeben, dass er im ›Dritten Reich‹ diese Erneuerung geleistet sah; das bezeugen nicht nur seine Hitler-Biographie, sondern auch zahlreiche journalistische Arbeiten oder die eindeutig ideologisch motivierte Saarkampf-Erzählung Jakob Johannes. Der Opfergang eines Saardeutschen, deren Protagonist im Jahr 1919 »von den Franzosen […] zu Unrecht verurteilt« und »um keiner anderen Schuld als um seines Deutschtums willen erschossen« wird.324 Auf der anderen Seite hat er viele seiner belletristischen Arbeiten auch freigehalten von nationalsozialistischen oder antisemitischen Anklängen, so dass er nach dem Krieg weiterhin Biographien und historische Erzählungen sogar in der DDR veröffentlichen konnte325, Ebd., S. 122f. Franck: Deutsche Erzählkunst, S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 85f. Hans Franck: Jakob Johannes oder Der Opferweg eines Saardeutschen. Erzählung. Berlin 1934, S. 82. 325 Vgl. Anita Bernstetter: Hans Franck. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936-1943. Eine Ausstellung in der Staatsbibliothek Bamberg, 8.-31.5.1985. Hg. v. Wulf Segebrecht. Bamberg 1985, S. 146-155, bes. S. 153. – Franck selbst hat die Tatsache, dass er in West und Ost veröffentlichen konnte, als »Beweis innerer Unbeirrbarkeit« gewertet: »Denn auch in den Jahren der tiefsten Wirrnis hat mein Wirken und Schaffen stets Dem gegolten, zu dessen Dienst ich mich von Anbeginn verpflichtet fühlte: dem gesamten Deutschland, dem unzerteilten, der Erhöhung des Menschentums zugewandten deutschen Volk« (Hans Franck: Mein Leben und Schaffen. In: Das Herzgeschenk. Hans Franck zum 75. Geburtstag 20. Juli 1954. Hannover 1954, S. 5-16, hier S.15. 320 321 322 323 324

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und auch frühere erfolgreiche Werke, insbesondere die Novellen Die Südseeinsel und Die Pilgerfahrt nach Lübeck, problemlos neuaufgelegt wurden. Aus heutiger Sicht mehr als erstaunlich wirkt darüber hinaus das überschwängliche Lob Thomas Manns für Francks Roman um Marianne von Willemer und Goethe – auch wenn man weiß, dass Thomas Mann in seinen Empfehlungen generell großzügig mit Superlativen umging: »Ein Goethe-Roman! Ich habe auch einmal einen geschrieben, ein etwas schwerfälliges Lustspiel. […] Der Goethe-Roman ist nun dieser, der Ihre. Die Nation wird ihn hoch erheben, und neidlos-beneidend tue ich’s mit ihr […]«.326 Angesichts der Invektive gegen Paul Heyse in der Deutschen Erzählkunst ist es nicht ohne Ironie, dass Die Südseeinsel ausgerechnet in der von der Stuttgarter Verlags-Anstalt herausgegebenen Publikationsreihe Der Falke veröffentlicht wurde und dass Hermann Pongs gerade diesen Text ausgewählt hat, um die auch von Franck kritisierten Auswirkungen der ›Falkentheorie‹ zu illustrieren: »Das seltsame Beispiel eines im Kern vortrefflichen Novellenmotivs, das von einer Falkenfassade überdeckt und entstellt wird, bietet Hans Francks Südseeinsel, als Meisternovelle der Gegenwart viel genannt«.327 Pongs’ Argumentation, sonst häufig anfechtbar, trifft in diesem Fall recht exakt die Schwächen von Francks Novelle, in der das Motiv der Südseeinsel offensichtlich als eine Art ›Falke‹ fungieren soll, aber letztlich nur aufgesetzt wirkt. Die eigentliche Handlung lässt sich zusammenfassend darstellen, ohne das angebliche Zentralmotiv zu erwähnen: Der Festungsbaumeister Egbert von Walrawe wird von Friedrich dem Großen wegen Hochverrats verurteilt; Anlass des Verrats war Walrawes Geldnot, in die den verheirateten Mann die aufwändige Werbung um eine Geliebte gestürzt hat. Friedrich macht ihm ein perfides Zugeständnis: Jede Frau dürfe zu ihm auf die Festung, doch einmal dort eingelassen, müsse sie lebenslang seine Haft unter bescheidensten und demütigenden Bedingungen teilen. Walrawes Geliebte ist nicht dazu bereit, seine Ehefrau kommt zu ihm und bleibt bis zum gemeinsamen Tod in hohem Alter; dass sie mit ihrem Blut die Kerkerwände beschreiben, ist zwar ein Nebenmotiv, aber im Hinblick auf das von der modernen Literaturwissenschaft so häufig fokussierte Verhältnis von Körper und Schrift bemerkenswert. Im Mittelpunkt steht jedoch fraglos – und ähnlich wie in Bindings Opfergang und dem Schleier von Emil Strauß – die Verherrlichung einer aufopfernden, den Betrug des Mannes überwindenden und verzeihenden Ehefrau328; der Titel der Novelle bezieht sich dabei auf eine analog zur Haupthandlung konstruierte Binnengeschichte, 326 Thomas Mann an Hans Franck, 26. Januar 1954. In: Die Lesestunde. Zeitschrift der Deutschen

Buchgemeinschaft Darmstadt 31 (1955), H. 3, S. 8. – Über Manns stete Bereitschaft, durch überaus lobende Kommentare den Verkaufserfolg von Kollegen zu fördern, wurde schon in der Weimarer Zeit gespottet, vgl. z.B. Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch. In: Ders.: Texte 1930. Hg. v. Sascha Kiefer. Reinbek 2003 (= Texte und Briefe, 13), S. 422-430, hier S. 426. 327 Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 103. – Hervorhebung im Original. 328 Dass und wie sehr dieses Weiblichkeitsmuster ernstgenommen und als vorbildlich empfunden wurde, bestätigt Robert Petschs enthusiastisches Lob: In der Südseeinsel reiße Franck »ungeheure Tiefen einer Frauenseele vor uns auf und offenbart unter engsten und beklemmendsten Verhältnissen eine ganz überwältigende Fülle des Opfermutes und der Hingabe« (vgl. Petsch: Hans Franck und die deutsche Erzählkunst, S. 188f.).

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die Egbert von Walrawe noch vor seiner Verhaftung erzählt: Ein Hallenser Naturforscher habe auf einer Weltreise eine Südseeinsel von paradiesischer Schönheit entdeckt. […] Doch die ehemaligen Bewohner […] wären samt und sonders ausgestorben. Er hause auf der Insel […] als der einzige Mensch. Da ihm die Schönheit seines Südseereiches […] unmöglich mache, nach dem kärglichen Europa zurückzukehren, so bäte er seine Gattin, ihm dorthin nachzufolgen. […] Dann […] könnten sie – in paradiesischer Umgebung – bis zu ihrem Ende nichts anderem als sich und ihrer Liebe leben. Sollte aber […] seine Frau […] nicht folgen wollen, so schiede er sich für Zeit und Ewigkeit von ihr ab, weil ihm dieses Nichtkönnen der unumstößliche Beweis wäre, daß sie nicht die wahre Liebe zu ihm besäße noch jemals besessen hätte.329

Walrawe will von seiner Geliebten und von seiner Frau wissen, wie sie sich an Stelle der Gelehrtengattin verhalten hätten; die Geliebte bekennt sich sofort zur unbedingten Nachfolge, die Ehefrau zögert und hält es für Versündigung, diese Frage ohne Not zu beantworten. Als die vergleichbare Situation sich stellt, versagt die Geliebte, während die Frau sich bewährt; hier hat allerdings Pongs mit seinen Einwänden weitgehend recht: Die (fiktive) Königsentscheidung, Walrawes Aufforderung an Geliebte und Ehefrau, das Opfer der letzteren würden als Handlung und ›unerhörte Begebenheit‹ völlig ausreichen – »Franck aber ist die ›Tat‹ als symbolischer Mittelpunkt nicht genug, er braucht einen ›Falken‹: die ›Südseeinsel‹«.330 In seiner bekanntesten und bis heute im Buchhandel erhältlichen Novelle Die Pilgerfahrt nach Lübeck331 verzichtet Franck auf einen ›Falken‹ bzw. eine ›Falkenfassade‹ oder ›Falkenattrappe‹. Um den Eindruck einer stark verdichteten, formal konzentrierten Erzählung zu erzeugen, greift er stattdessen auf sprachliche Leitmotive zurück; zu diesen gehört beispielsweise die Titelformel, die, leicht variiert, nicht weniger als zehnmal im Text genannt wird.332 Außerdem ist der Text streng symmetrisch gebaut: So werden die Organisten Johann Sebastian Bach und Dietrich Buxtehude, die Frauenfiguren Maria Barbara Bach und Anna Margareta Buxtehude, die Städte Arnstadt und Lübeck einander gegenübergestellt und aneinander gespiegelt; zudem stehen am Anfang und am Ende der Handlung einander korrespondierende Szenen, die den jungen Bach als Angeklagten vor seinem Konsistorium zeigen. Der historische Kern der Novelle – die rechtzeitig zum Bach-Jahr 1935 herausgebracht wurde – liegt im Besuch des zwanzigjährigen Bach bei dem rund fünfzig Jahre älteren Buxtehude, der als der bedeutendste Organist und Komponist seiner Zeit galt. Belegt ist auch, dass eine ganze Reihe junger, begabter Musiker – vor Bach bereits Georg Friedrich Händel und Johann Mattheson – die Nachfolge Buxtehudes in 329 Hans Franck: Die Südseeinsel. Novelle. Berlin, Leipzig 1923 (= Der Falke. Bücherei zeitgenössi-

scher Novellen, 9), S. 25f. 330 Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 105. 331 Vgl. die aktuelle Ausgabe Gütersloh 82007, unter dem Titel: Johann Sebastian Bachs Pilgerfahrt

nach Lübeck. Eine musikalische Reise zu Dietrich Buxtehude. 332 Vgl. Hans Franck: Die Pilgerfahrt nach Lübeck. Eine Bachnovelle. Berlin 1935, S. 7, 14, 19, 52, 67,

91 (»Pilgerfahrt nach Lübeck«), 63, 66, 83 (»Pilgerfahrt«), 83 (»Lübecker Pilgerfahrt«).

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Lübeck ausgeschlagen haben, weil diese an eine Eheschließung mit Buxtehudes Tochter Anna Margaretha geknüpft war.333 Fraglos hat Franck Quellenstudien betrieben, von denen seine »Bachnovelle« profitiert; unter anderem integriert er Auszüge aus dem berühmten Protokoll des Arnstädter Konsistoriums vom 21. Februar 1706, das Bachs Rechtfertigung für seinen unerlaubt langen Aufenthalt in Lübeck dokumentiert.334 Später hat Franck sogar eine Bach-Biographie vorgelegt, die der berühmte Pianist Wilhelm Kempff den Standardwerken von Philipp Spitta und Albert Schweitzer zur Seite gestellt sehen wollte.335 In der Pilgerfahrt nach Lübeck allerdings wird jeder Anspruch auf historische Authentizität überlagert durch die vorbehaltlose Verklärung des Bachschen Genies, die Franck aus der Perspektive der Nachwelt in die Vergangenheit projiziert. Beispielhaft dafür ist die erste Begegnung von Bach und Buxtehude; der junge Bach stellt sich, noch bevor er seinen Namen nennt, mit einer B-A-C-H-Fuge vor und löst damit bei dem siebzigjährigen Lübecker Organisten folgende Reaktion aus: »Wer könntest Du anders sein«, ruft, in seinen Grundvesten erschüttert, Dietrich Buxtehude aus, »als: Bach; als: jener Bach, von dem mir mein Wandergenosse, der achtzigjährige Jan Reinken zu Hamburg, gesagt hat, daß alle unsere Lichtlein vor seinem Glanz vergehen werden wie der Schein der Sterne vor der Glorie der Sonne; als: Der, den sie Johann Sebastian tauften; Johann, weil er ausgesandt ist, Gott die Wege zu bereiten, Sebastian, weil er mehr wird leiden müssen denn wir Alle.« Und Johann Sebastian Bach, der Zwanzigjährige, der auf der Orgelbank zu St. Marien sitzt, hat Mühe, den siebzigjährigen Dietrich Buxtehude zu hindern, daß er vor ihm niederkniet.336

Auf Bachs Wunsch hin, von Buxtehude zu lernen, ruft der Ältere »in ehrlicher Selbstdemütigung« aus: »Ich bedarf, daß ich durch Dich gelehret werde, und Du kommst zu mir?«337 Seine eigene Kunst und die seiner Generationsgenossen sieht Buxtehude damit lediglich als zu überwindende Station in einem musikhistorischen Verlauf, der teleologisch auf den Höhepunkt der Bachschen Musik ausgerichtet ist. Beim Abschied vier Monate später sind es sogar pseudo-religiöse Erlösungsphantasien, die Buxtehude an die Person seines jungen Schülers knüpft: »Der, dessen wir warteten, der Meister aller Deutschen Meister, der Erfüller unserer Hoffnungen, die 333 Vgl. Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. Gekürzte Ausgabe mit Anmerkungen und Zusätzen von

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Wolfgang Schmieder. Leipzig 1935, S. 25. – Erst Johann Christian Schieferdecker (1679-1732) erfüllte die Bedingung und wurde nach Buxtehudes Tod 1707 (nur ein gutes Jahr nach dem BachBesuch) dessen Nachfolger. Vgl. ebd., S. 74-81; was den Umgang mit diesem Dokument bedenklich macht, sind weniger die leichten Modernisierungen als die Ergänzungen, die Franck seinem Bach in den Mund legt, etwa über das ›Wesen‹ der Musik, vgl. ebd. S. 76. – Das originale Protokoll ist enthalten in: BachDokumente. Hg. v. Bach-Archiv Leipzig. Bd. 2. Kassel, Basel, Paris u.a. 1969, Nr. 16, S. 19-21. Vgl. Hans Franck: Cantate. Das Leben des Johann Sebastian Bach. Stuttgart 1960. – Vgl. die von der Verlagswerbung zitierten Äußerungen Kempffs am Ende von Francks Ein Dichterleben in 111 Anekdoten (Stuttgart 1961). Franck: Die Pilgerfahrt nach Lübeck, S. 29. Ebd., S. 30.

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Verwirklichung, die Verkörperung unserer Prophezeiungen – – Du bist es und wirst es mit jedem Jahre Deines Lebens mehr werden«.338 Die Pilgerfahrt nach Lübeck gerät damit in Analogie zur Taufe Jesu durch Johannes – der Pilgerer erweist sich als der überlegene Heilsbringer (Buxtehudes Namensdeutung ruft diesen Kontext auf, obwohl er Bach zunächst mit Johannes zu identifizieren scheint).339 Am Ende räsoniert der junge Bach schon selbst über seinen Lebenslauf, als sei er sein eigener Hagiograph; seine Abschiedsworte an Anna Margaretha Buxtehude etwa lauten: »Dank, Anngret. Vielleicht hast Du mir zur Vollendung meines Menschentums – und damit zur Erfüllung meiner Kunst, der Musik – ebensoviel gegeben wie Dein Vater Dietrich Buxtehude«.340 Menschliche ›Vollendung‹ und künstlerische ›Erfüllung‹ sind, ganz einer vulgarisierten idealistischen Tradition verpflichtet, untrennbar miteinander verknüpft. Der Künstler erscheint als Märtyrer seines Genies; zudem wird klargestellt, dass persönliche Opfer anderer ein notwendiger Tribut an seine Entwicklung sind (und von den Betroffenen dankbar erbracht werden, wie Anna Margarethas Reaktion zeigt341). Den Barockmenschen Bach und Buxtehude jedenfalls kann dieser anachronistische, durch spätere Vorstellungen von ›Deutschheit‹342, Künstlertum und Genieästhetik gelenkte Blick nicht gerecht werden; damit allerdings reiht sich Francks Novelle ein in die lange Reihe der pseudobiographischen Künstlererzählungen und Künstlerromane, die von der Romantik bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ihre Intention vor allem in der vorbehaltlos verklärenden Darstellung der genialen Geistesheroen gesehen haben.

3.2. Wilhelm Schäfer (1868-1952) und diverse Winckelmann-Novellen Dem deutschen Volk »in seiner bitteren Geschlagenheit Trost [zu] bringen« war die explizite Intention Wilhelm Schäfers, als er »zu Weihnachten 1921 nach fünfjähriger Arbeit« seinen idealisierend-verfälschenden Geschichtsquerschnitt Die dreizehn Bücher 338 Ebd., S. 67. 339 Ein in ähnlicher Weise religiös überhöhtes Bach-Bild ist auch in Wilhelm Schäfers Dreizehn Büchern

der deutschen Seele zu finden, wo es u.a. heißt: »Der von allen Meistern der Kunst der gewaltigste war, der aus der Seelengewalt noch einmal die Schöpfung vollbrachte, der einzige, der seinen Turm in den Himmel zu bauen vermochte: er wurde den Deutschen, wie einmal der jüdische Zimmermannssohn, in Niedrigkeit eingeboren« (Wilhelm Schäfer: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele. München 1935 [11922], S. 232). 340 Franck: Die Pilgerfahrt nach Lübeck, S. 72. 341 Vgl. ebd.: »Anna Margareta Buxtehudin konnte nicht widersprechen, noch gar zustimmen; sie konnte nur weinen. Als sie den Kopf zurückwarf und sagen wollte: ›Dank, Johann Sebastian; auch Du hast mir mehr gegeben als irgend ein Mensch, als Vater und Mutter, als Freund und Freundin, hast mir gegeben, was ich nicht verdiente!‹ war die Stube leer.« 342 Schon Spitta hat das »ausgeprägt Nationale« an Bach nachdrücklich betont und ihn zum Herold deutscher Größe erhoben: »Nach einer Periode tiefster Gesunkenheit des deutschen Volkes ist Sebastian Bach die erste beseligende und volle Bürgschaft eines neu beginnenden geistigen Frühlings« (Einleitung. In: Spitta: Johann Sebastian Bach, S. 1-3, hier S. 3).

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der deutschen Seele herausbrachte.343 Das von heute her gesehen unerträglich pathetische Werk verstand sich als eine »aus politischer Absicht geschriebene Geschichte des deutschen Volkstums«344 und wollte insbesondere auch volksbildnerisch und pädagogisch wirken.345 Unter den Vorbildgestalten, denen im Buch der Propheten eigene kleine Abschnitte gewidmet sind, befindet sich (neben Hans Sachs, Bach, Klopstock, Goethe und den Romantikern) auch der Philologe, Bibliothekar und Kunstwissenschaftler Johann Joachim Winckelmann (1717-1768)346; von Winckelmanns letzter Reise und seiner Ermordung in Triest ist hier zwar keine Rede – doch trotzdem dürfen die anderthalb Seiten als Keimzelle der wenige Jahre später erschienenen Novelle Winckelmanns Ende (1925) angesehen werden. Dabei ist Schäfers Gattungsbeitrag nur eines von fünf ausdrücklich als ›Novelle‹ bezeichneten Erzählwerken, die allesamt zwischen 1924 und 1927 entstanden sind und den gewaltsamen Tod Winckelmanns thematisieren. Die Autoren sind ausnahmslos dem konservativ-traditionalistischen Teil des zeitgenössischen Literaturspektrums zuzurechnen: Neben Schäfer sind es in chronologischer Reihenfolge Werner Bergengruen347, Victor Meyer-Eckhardt348, Ernst Penzoldt349 und Richard Friedenthal350; Schäfers und Meyer-Eckhardts Beiträge können dabei als ›Erzählungen mittlerer Länge‹ gelten, während die übrigen drei Novellen deutlich knapper ausfallen. Wie ist dieses signifikante belletristische Interesse an Winckelmann in einem so zusammengedrängten Zeitraum zu erklären? Zu den allgemeinen Gründen gehört 343 Wilhelm Schäfer: Nachwort. In: Ders.: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele. München 1935

[11922], S. 408.

344 Ders.: Mein Lebenswerk. Zum 70. Geburtstag des Dichters am 20. Januar 1938 überreicht von

seinem Verlag. München 1938, S. 4. 345 Entsprechend stolz verweist er auf die Wirkung der Dreizehn Bücher: »Namentlich der deutschen

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Jugend sind sie – dies ist mir hundertfach von Lehrern und Schülern bezeugt – ein Wegweiser zum Volkstum gewesen, und sind dies noch heute, wenn die Absatzziffern etwas sagen« (ebd., S. 5). Ders.: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele, S. 246-248. Werner Bergengruen: Winckelmann in Triest. Novelle. Erstdruck in: Velhagen & Klasings Monatshefte 41 (1926/27), S. 185-196; erste Buchausgabe u.d.T. Die letzte Reise. In: Der Teufel im Winterpalais und andere Erzählungen. Leipzig 1933, S. 143-170; Einzelausgabe u.d.T. Die letzte Reise. Eine Novelle. Zürich 1950 (= Die kleinen Bücher der Arche, 104). Viktor Meyer-Eckhardt: Die Gemme. In: Ders.: Die Gemme. Novellen. Jena 1926, S. 63-157. Ernst Penzoldt: Winckelmann. In: Die portugalesische Schlacht. München 1930, S. 131-144; Penzoldts Text ist bereits 1926 entstanden; im Erzählungsband Die portugalesische Schlacht (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, ebenfalls 1930, aber in Berlin veröffentlichten Drama) fehlt die ausdrückliche Benennung als Novelle, trotzdem kann der Band als Novellenband gesehen werden, da er u.a. auch eine Novelle in Weiß beinhaltet (ebd., S. 147-155). In die Werkausgabe, die der Suhrkamp-Verlag aus Anlass von Penzoldts 100. Geburtstag vorlegte, fand die WinckelmannErzählung keine Aufnahme (vgl. Ernst Penzoldt: Die Erzählungen. Hg. v. Ulla Penzoldt und Volker Michels. Frankfurt/M. 1992 [= Jubiläumsausgabe, 5]). – Eine Auflistung belletristischer Prosatexte zu Winckelmann bietet u.a. Glen A. Dolberg: The reception of Johann Joachim Winckelmann in modern german prose fiction. Stuttgart 1976 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 31), S. 109; in neuerer Zeit ist zumindest noch hinzugekommen: Wolfgang Eschker: Tod in Triest. In: Ders.: Miniaturen aus dem Leben von Lichtenberg, Winckelmann, Storm. Blieskastel 1999, S. 40-99. Richard Friedenthal: Arcangeli. In: Ders.: Marie Rebscheider. Vier Novellen. Leipzig 1927, S. 61-81.

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zweifellos die starke Konjunktur historisch-biographischer Literatur in den späten zwanziger Jahren; die großen Verkaufserfolge, die etwa Emil Ludwig und Werner Hegemann, aber auch Stefan Zweig mit ihren psychologisierenden und romannahen Biographien erzielten, gaben Siegfried Kracauer Anlass genug, über die »Biographie als neubürgerliche Kunstform« zu reflektieren.351 In ähnlicher Weise beliebt waren Romane und Novellen mit historischen Inhalten. Damit ist aber noch nichts über die spezifische Faszination gesagt, die gerade von Winckelmann in dieser Zeit ausgegangen ist. Auch dass 1923 die dritte Auflage des biographischen Standardwerks von Carl Justi herauskam, zählt zunächst eher zu den Voraussetzungen als zu den Erklärungen der Winckelmann-Renaissance.352 Justis Jahrzehnte altes Standardwerk war zweifellos jedem bekannt, der sich an eine Winckelmann-Novelle wagte; das Schlusskapitel Letzte Reise/Ende353 nimmt eine belletristische Ausarbeitung partiell schon voraus, was kaum verwundert in einer Biographie, die sich mit einer Einteilung wie »Römische Lehrjahre« und »Römische Meisterjahre« bewusst an Strukturmustern der fiktionalen Narrativik orientiert, gewissermaßen den Bildungsroman des Porträtierten liefert. Wichtiger ist jedoch, dass Justi die Rolle Winckelmanns als »deutsches Symbol«354 stark herausstreicht. Seine Biographie beginnt mit einer Passage, die den aktuellen (und vergleichbar vagen) Erneuerungshoffnungen vieler konservativer Autoren der zwanziger Jahre ideal entgegengekommen sein dürfte: Winckelmanns Gestalt erscheint dem Deutschen im Schein jenes ersten Morgenlichts, als nach tiefer Verfinsterung und langer zweifelhafter Dämmerung […] der deutsche Genius, in Berührung mit dem hellenischen und dem biblischen, endlich sich selbst wiederzufinden begann, dann aber um auch alsbald sein Licht in weitem Umkreis auszustrahlen. Seine Werke und ihre Aufnahme waren eins der Anzeichen, daß endlich auch Deutschland eine leitende Rolle in der geistigen Bewegung des Abendlandes beschieden sein sollte.355

Winckelmann als Symbolfigur deutscher geistiger Weltgeltung wie auch das Konzept seines ästhetischen Klassizismus konnten sich offenbar auf engste nicht nur mit politisch und gesellschaftlich konservativen, sondern auch mit germanophilen, völki351 Vgl. Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Frankfurter Zeitung,

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29.6.1930. Auch in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1977, S. 75-80; vgl. auch Christoph Gradmann: Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik. Frankfurt/M., New York 1993 (= Historische Studien, 10). Auf die zeitliche Nähe dieser Neuauflage zu den Winckelmann-Novellen ist schon früh verwiesen worden, vgl. Walter Heynen: Winckelmanns Ende. In: Preußische Jahrbücher 209 (1927), S. 76-89, hier S. 80, und George H. Danton: Winckelmann in Contemporary German Literature. In: The Germanic Review 9 (1934), S. 173-195, hier S. 195. Vgl. Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Hg. v. Walther Rehm. Bd. 3. Köln 51956, S. 476-492. – Auch neuere Biographien bedienen sich gerne der Mittel des fiktional-belletristischen Erzählens, sobald von Winckelmanns Ermordung die Rede ist, vgl. z.B. Wolfgang Leppmann: Winckelmann. Eine Biographie. Frankfurt/M. Berlin, Wien 1971 [New York 1970], S. 13-22. Manfred Fuhrmann: Winckelmann, ein deutsches Symbol. In: Neue Rundschau 83 (1972), S. 265283. Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Bd. 1, Einleitung.

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schen und revanchistischen Intentionen verbinden: »Das Leitmotiv der deutschen Winckelmannrezeption war […] die kompensatorische und erzieherische Funktion seines ›klassischen‹ Ideals in einer als defizitär empfundenen Gegenwart«.356 Darüber hinaus mag ein zur Identifikation einladendes Nebenmotiv in Winckelmanns Aufstieg aus kleinen und provinziellen Verhältnissen zu internationalem Gelehrtenruhm gelegen haben. So beginnt Schäfer den ersten, achten und fünfzehnten Abschnitt seiner Novelle mit dem einen gleichlautenden Teilsatz, der sich weitgehend schon in den Dreizehn Büchern der deutschen Seele findet und genau dieses soziale Moment hervorhebt – »Johann Joachim Winckelmann, der zu Stendal in der Mark ein Schuhmacherssohn war und danach zu Rom ein Meister der Wissenschaft wurde, daß die Großen der Welt ihn besuchten […]«357; Werner Bergengruen interpretiert Winckelmanns Sympathie für Arcangeli aus sozialpsychologischer Perspektive, indem der Umgang mit dem späteren Mörder einerseits der Entspannung und Entlastung des permanent unter Erwartungsdruck stehenden Gelehrten, andererseits der narzisstischen Bespiegelung seines Erfolges dient: »Tat es nicht wohl, im zwanglosen Umgang mit einem gleich ihm dem Volke Entsprossenen sich dankbar seines Ursprungs zu erinnern, seines Ursprungs und der Beharrlichkeit und Leistung, die ihn über diesen Ursprung hinausgetragen hatten?«358 Zudem hat das enthusiastisch-sensualistische Kunstverständnis Winckelmanns den traditionalistischen Autoren der zwanziger Jahre mehr entsprochen als etwa das nüchtern-kritische seines Antipoden Lessing. Besonders der George-Kreis brachte Winckelmann ein panegyrisch artikuliertes Interesse entgegen; Winckelmann erschien als Vorläufer, was Freundschaftsideal und Jünglingskult betraf, und avancierte geradezu zum »mythischen Begründer wahren Deutschtums«.359 Max Kommerells hymnische Verse Winckelmann in Triest (1929) und sein Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik360 dokumentieren diese Phase der Rezeptionsgeschichte ebenso wie die 1931 erschienene Winckelmann-Biographie Berthold Vallentins361 – die Voraussetzungen für eine ›Winckelmann-Renaissance‹362 im NS-Staat sind bereits vor 1933 geschaffen und schwingen nach bis in die fünfziger Jahre.363 356 Vgl. Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von

Winckelmanns Antikenideal 1840-1945. Berlin 2004, S. 370. 357 Vgl. Wilhelm Schäfer: Winckelmanns Ende. In: Ders.: Novellen. München 1943, S. 133-209, hier

S. 133, 158, 181.

358 Bergengruen: Winckelmann in Triest, S. 193.– Auch in Max Kommerells hymnisch-lyrischer Gestal-

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tung Winckelmann in Triest ist das Motiv des Aufstiegs aus ärmlichen und provinziellen Verhältnissen präsent: »Ein wunder wars was mich hinabgeleitet:/ Ich das armleute-kind der Altmark zog/ Nach Rom und fand der echten Hellas bild« (Max Kommerell: Winckelmann in Triest. In: Ders.: Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt. Berlin 1929, S. 5-8, hier S. 6). Fuhrmann: Winckelmann, ein deutsches Symbol, S. 278. Vgl. Max Kommerell: Winckelmann in Triest; ders.: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin. Berlin 1928. Berthold Vallentin: Winckelmann. Berlin 1931. Vgl. dazu die ausführliche Rekonstruktion von Winckelmanns Funktionalisierung im NS-Staat bei Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 295-364. Vgl. z.B. Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens. Bern 31952.

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Die Anregung, das Winckelmann-Sujet gerade als Novelle zu bearbeiten, dürfte sich für viele Autoren schon aus den historischen Ereignissen selbst und den überlieferten Reaktionen auf den Mord ergeben haben: Wenn etwa Goethe in Dichtung und Wahrheit schreibt, die Nachricht von Winckelmanns Tod habe »wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel« gewirkt und der »ungeheuere Vorfall […] eine ungeheuere Wirkung«364 getan, so könnten beide Formulierungen auch als Umschreibung novellentauglicher Begebenheiten gelten; und erst recht spricht die Aufnahme des Falles in den Neuen Pitaval (1847) für eine subkutane Beziehung zum Novellengenre, zumal der Bearbeiter Willibald Alexis ausdrücklich auf das novellistische Potential des Stoffes aufmerksam macht.365 Fokussiert man zudem das Oppositionspaar Italien-Deutschland als das zumindest für den fiktionalen Winckelmann entscheidende und prägende, so spiegelt es sich auch im Gattungsverständnis der betreffenden Autoren: Zum einen in der Auffassung, dass die spezifisch ›deutsche‹ Novelle als (überlegene) Sonderform des italienischen Vorbilds zu begreifen sei, zum anderen in einer Korrespondenz der ›strengen Novellenform‹ mit den ästhetischen Auffassungen des formbewussten Klassizisten Winckelmanns.366 Dass der italienische Faschismus in den zwanziger Jahren vielfach als fortschrittliche Regierungsform gepriesen wurde, von der sich gerade die konservativen Intellektuellen auch für Deutschland positive Entwicklungen versprachen, mag darüber hinaus unterstreichen, dass die Disjunktion Deutschland-Italien in den Winckelmann-Novellen keineswegs nur ein geistesgeschichtliches Problemfeld markiert, sondern für die Verfasser auch aktuelle Relevanz besaß: Über die Gattungsfrage spielt sie in den ästhetisch-formalen Diskurs hinein, über die Frage nach geistiger Neubesinnung in den weltanschaulichen und über die implizite, im Bewusstsein der Zeitgenossen präsente Gegenüberstellung von Weimarer Republik und italienischem Faschismus in den politisch-sozialen. Was damit schon angedeutet ist, bestätigt sich bei einer genaueren Betrachtung der fünf Winckelmann-Novellen: Die historische Figur des deutschen, in Italien 364 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München 1985 (= MA

16), S. 353f.

365 Vgl. Willibald Alexis: Winckelmann’s Ermordung. In: Der Neue Pitaval. Serie I. Bd. 12. Leipzig 21859,

S. 422-444, bes. S. 423, wo Alexis bemerkt: »Wir könnten eines Art Spannung erzielen, wenn wir Winckelmann’s Ankunft in Triest schilderten und den seltsamen Freundschaftsbund mit Arcangeli […]. Stoffes genug zu einem novellistischen Eingange […]«; zur Bedeutung des (Alten) Pitaval für die Entwicklung der Kriminalnovelle und damit (da etwa Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre zu den frühen Ausprägungen der Novelle in Deutschland gehört) für die gesamte Gattungsgeschichte vgl. z.B. Edgar Marsch: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. München 1972, S. 89-121, und Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive [1983]. Jetzt in: Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. Hg. v. Jochen Vogt. München 1998, S. 322-339. 366 Den »überzeitlichen Gehalt« klassizistischer Ordnungsprinzipien gegen die angeblich »chaotische« Kunst, Literatur und Musik der Moderne auszuspielen, ist vor 1945 noch gang und gäbe, und häufig wird Winckelmann dafür als Kronzeuge berufen. Vgl. z.B. Ludwig Curtius: Winckelmann und unser Jahrhundert. Vortrag zur Winckelmannsfeier des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom 1929. In: Die Antike 6 (1930), S. 93-126, hier S. 104 und 125.

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lebenden, zum Katholizismus übergetretenen und homosexuellen Kunstwissenschaftlers wird zum Schnittpunkt genau derjenigen Diskurse, in denen sich die aktuelle Verunsicherung und das Krisenbewusstsein der betreffenden Autoren am nachhaltigsten manifestiert haben. Denn hier verschränken sich eine nationale, eine ästhetische, eine religiöse und eine sexuelle Thematik, die allerdings in den einzelnen Novellen unterschiedlich akzentuiert werden. In Schäfers Winckelmanns Ende dominiert – wenig überraschend – die nationale Frage; alle anderen Bereiche sind ihr nachgeordnet, werden über sie definiert. »Der die Dreizehn Bücher der deutschen Seele geschrieben, ist auch hier seinem deutschen Thema treu geblieben«, hat schon ein früher Rezensent bemerkt und von einer »kerndeutschen Gestaltung« des Stoffes gesprochen.367 Winckelmann wird als Deutscher charakterisiert, der sich von seinem Herkunftsland zwar abgewandt hat, aber die angeborene Volkszugehörigkeit nicht verleugnen kann. Das unterstreicht nicht zuletzt seine Sprechweise; vom Stabreim bis zum Luther-Anklang legt Schäfer seinem Winckelmann alles in den Mund, was der literarischen Evokation eines dezidiert ›deutschen‹ Tonfalls dienen kann.368 Auch mit einseitigen Wertungen spart der Autor nicht, wenn etwa ein Ausfall gegen die »Seeräuberstadt« Venedig – »Alles hat dieses Händlervolk listig in seinen Sumpf eingebaut, nur keinen richtigen Baum […]«369 – kontrastiert wird mit dem Lobpreis der Südtiroler Landschaft, die, in bewusstem Widerspruch zu den politischen Realitäten der zwanziger Jahre, ausdrücklich als ›deutsche‹ beschrieben wird.370 Winckelmanns Entschluss zur Reise erwächst hier aus der »Unruhe […], die Heimat wiederzusehen« und wird schon auf der ersten Seite der Erzählung fatalistisch aufgeladen: »Zu leben kam ich nach Rom, zu sterben muß ich nach Deutschland!«371 Der greise Kardinal Albani stellt ihm die Diagnose: Euch hat das deutsche Heimweh gepackt! […] So, heißt es, hätten einst die Barbaren nach ihren Waldgöttern geseufzt aus den Tempeln der Griechen! Ich dachte, die Jahre hätten

367 Heynen: Winckelmanns Ende, S. 81f. 368 Vgl. die häufigen Alliterationen wie »müde der […] Mühsal« (133), »Wie soll mir Griechenland

grünen?« (139), »ich mag nicht suchen und sammeln« (ebd.), »Rom ist Stein im Staub vergangener Größe« (140), »Fahren wir erst ins Deutsche hinunter, will ich wohl weilen« (143), »hielten wir heilig« (148), »trotz ihrer listigen Lockung« (169) usw. und lutherisierende Sätze wie: »So ihrer drei trinken mit Schweigen, so ist es recht, weil ihre Seelen im Wein einander wortlos verstehen; denn so sie schwätzen dazu von ihren Geschäften und Narreteien, ist der Saft vor die Säue geschüttet« (149). Zu den sprachlichen Auffälligkeiten des Textes zählt darüber hinaus die starke (fast aufdringliche) Rhythmisierung, für die Schäfers Prosaarbeiten einst gerühmt wurden; viele Passagen von Winckelmanns Ende sind dem Versmaß des Hexameters angenähert. 369 Ebd., S. 144. 370 Vgl. die Äußerungen über das »deutsche Tirol« und Winckelmanns noch vor Bozen getroffene Aussage »wie hab ich mich deutsch gefühlt, wenn ich ans grüne Tirol dachte!« (S. 159). – Auf eine geographisch korrekte und detaillierte Nachzeichnung der Reiseroute legt Schäfer spürbar wert, sicher auch, um seinem Ruf als kulturhistorisch interessiertem Landschaftsschriftsteller zu entsprechen. 371 Schäfer: Winckelmanns Ende, S. 133.

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Euch dennoch zum Römer gemacht; nun sehe ich wohl, daß niemand ein Römer sein kann, er sei denn als Römer geboren!372

Gegen Ende der Novelle ist in Winckelmann die Einsicht gereift, dass der Kardinal Recht gehabt habe; das Heimwehthema wird wieder aufgenommen: Da wußte er, daß es die Liebe des Blutes war, die ihn heimwehkrank gemacht hatte. Heimweh der Liebe war es, das nicht heimfinden konnte, weil seine Sinne anders zu lieben gewöhnt waren, als sein Blut verlangte. Die Sonne hat mir verbrannt, was ihnen deutsch ist, sie hat mir die Haut gebräunt und das Hirn ausgeglüht, daß ihm kein gotischer Spuk mehr einwohnen kann: nur im Blut ist mir der Spuk meiner Herkunft geblieben. So bin ich nicht welsch und nicht deutsch, so bin ich ein Zwitter. […] So bin ich gerichtet!373

Dem Gegensatz von ›deutsch‹ und ›welsch‹ entsprechen die weiteren Dualismen: ›Sinne‹ und ›Blut‹ (am Anfang der Novelle ist analog vom ›unersättlichem Geist‹ und ›müdem Herzen‹ die Rede374), Antike und Gotik und letztlich auch homosexuell und heterosexuell. Winckelmanns Homosexualität wird nicht ausdrücklich angesprochen, ist aber zwischen den Zeilen präsent.375 Die geschlechtliche Codierung ist nicht nur in der »Zwitter«-Metapher mitenthalten, sondern drückt sich auch im Gegensatz der Kunstrichtungen aus: Für die Antike steht die Verabsolutierung männlicher Schönheit (als er den Niobiden der Veroneser Sammlung Maffei bewundert, greift Winckelmann »den Marmor an wie einen schwellenden Leib«376), für die deutsche Kunst steht ein Kupferstich Albrecht Dürers377, der eine füllige nackte Frau als ›Nemesis‹ zeigt; Winckelmann kann sie nur als plumpe »Nürnberger Bürgersfrau« mit einem »ausgetragenen Bauch« empfinden und sich darüber entsetzen, dass »ein Volk in solcher Kunst bleibt, indessen vor zweitausend Jahren schon bei den Griechen edle Einfalt und stille Größe zur Gültigkeit kamen: dies zu denken ist mir viel schlimmer, als je mein Tod!«378 Diese Absage an die deutsch-mittelalterliche Kunst wird mehrfach formuliert und gipfelt darin, dass Winckelmann ein ihm aufgedrängtes Exemplar des Dürer-Stichs zerreißt.379 Die Gegenposition vertritt der junge Graf Terzi de Sissa, ein zeitweiliger 372 373 374 375

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Ebd., S. 135. Ebd., S. 196f. Ebd., S. 133. Vgl. Wolfgang von Wangenheim: Winckelmann als Held. In: Johann Joachim Winckelmann. Neue Forschungen. Eine Aufsatzsammlung. Stendhal 1990 (= Schriften der Winckelmann-Gesellschaft, 11), S. 130-147, bes. S. 135f., 140. Schäfer: Winckelmanns Ende, S. 155. – Diese Sexualisierung der Kunsterfahrung ist im Übrigen an Winckelmanns Schriften belegbar, vgl. dazu Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1994, S. 39-77. Für Schäfer ist Dürer der »volkstümliche Träger« der »deutsche[n] Form«, mit dessen Namen sich »die Vorstellungen von Deutschheit inniger verbinde[n] als mit sonst einem Namen der bildenden Kunst«, vgl. Wilhelm Schäfer: Festrede auf Albrecht Dürer [1928]. In: Ders.: Deutsche Reden. München 1933, S. 145-163, hier S. 161. Schäfer: Winckelmanns Ende, S. 182f. Vgl. ebd., S. 194.

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Reisegefährte, der zwar väterlicherseits »ein Welscher«380 ist, sich aber trotzdem als vehementer Fürsprecher der altdeutschen Kunst erweist – ein Romantiker avant la lettre. Ihm bleibt es vorbehalten, vor Winckelmann ein entsprechendes Plädoyer zu halten: Auch die Griechen haben nicht eine andere Wiese gehabt als die ihrer Natur! Daß ihre Kunst groß wurde, kam von der Wiese, und daß sie blühte. Ihr aber wollt uns künstliche Blüten mit Eurer Gelehrsamkeit züchten. Eure Allegorie und Archäologie hat Berge zusammen getragen mit Fleiß; aber auf diesen Bergen kann Euch kein Knöterich wachsen, geschweige Veilchen! […] Ihr seid in die Wiese der Griechen gegangen und habt uns Blumen mit eifrigen Händen gepflückt; da ihr saht, wie sie welkten und trocken wurden, habt Ihr der Dürre geseufzt. […] Folgten wir Euch, wir müßten durch alles, was deutsch ist, einen Sensenschnitt machen. Es kann aber ein Volk keine andere Kunst haben, als die seine; wer sie ihm nimmt, der schlägt es tot. Wie die Lorbeerbäume, in Kübeln frierend, so wollt Ihr die Marmorleiber der Griechen in unsere Schloßgärten stellen. Aber die Dome mit ihren Portalen und glühenden Glasfenstern sollen uns tot sein. Und von der alten Reichsherrlichkeit soll uns nichts bleiben als der Staub der Geschichte. Was hilft uns Euer Olymp, wenn uns die Märzwinde wehen?381

Das fiktive Gespräch zwischen Terzi de Sissa und Winckelmann markiert das Zentrum der Novelle, indem es den Gegensatz von Humanismus und Volkstum herausstellt. Schäfer hat nie einen Hehl aus seiner antihumanistischen Gesinnung gemacht382: Terzi de Sissa fungiert hier als Sprachrohr seines Autors, der, seinen Lebenserinnerungen zufolge, selbst »vor Erschütterung« geweint hat, als er »in den Uffizien zu Florenz unerwartet vor Dürer trat«.383 Winckelmann wird auf einem Irrweg gezeigt, verkörpert in Schäfers Intention die »Zwiespältigkeit des deutschen Wesens, das seine eigene Vergangenheit vergessen hatte und im Griechentum die verlorene Heimat suchte«.384 Winckelmanns abstrakte Verpflichtung auf die Vorbildlichkeit antiker Ideale kann keine Synthese zwischen griechischer Kunst und deutschem Wesen leisten – das wird in Schäfers Sicht Goethe und Hölderlin vorbehalten bleiben385 – sondern erweist sich als »Bedrohung deutscher Innerlichkeit durch bloß 380 Ebd., S. 192. 381 Ebd., S. 192f. 382 Breiter ausgeführt hat Schäfer seine antihumanistische Position u.a. in: Wider die Humanisten. Eine

Rede gesprochen am 7. Mai 1942 in der Wittheit zu Bremen. München 1943. Hier heißt es z.B. programmatisch und mit Bezug auf Winckelmann: »Was wir mit der Seele suchen, ist das Land der Deutschen. […] Damit stehen wir freilich wider die Humanisten mit ihrem Edelreis einer uns aufgepfropften Bildung. Wir wollen getrost der Wildling sein, der wir angeblich sind, und wollen unsere Äpfel tragen, die – darüber täuschen wir uns nicht – weder von edler Einfalt noch von stiller Größe sind. Wir wollen um so getroster damit sein, als wir wissen, daß die Äpfel der Griechen auch nicht anders waren. Nicht sie selber haben uns ja diese Bildungsformel gebracht, sondern ein verspäteter Humanist tat dies, als er nach Gipsabdrücken begeistert war. Das Griechentum, dies wissen wir heute, war kein Gips sondern Leben, nicht weniger grausam, als es das unsrige ist« (S. 14f.). 383 Wilhelm Schäfer: Rechenschaft. Kempen-Niederrhein 1948, S. 285. 384 Mit diesen Worten umschreibt er ebd. das Thema seiner Novelle, die er für seine beste hielt. 385 Immerhin als notwendige Station auf dem Weg zur deutschen Klassik erscheint Winckelmann in den Dreizehn Büchern der deutschen Seele, wenn die berühmte Formel von der ›edlen Einfalt und stillen

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antiquarische Gelehrsamkeit«.386 Damit ist Winckelmann zum tragischen Scheitern verurteilt; was er nicht herbeiführen kann, darf er nur als Wunsch formulieren – das allerdings in einer für die zwanziger Jahre charakteristischen und folgenreichen Denkfigur: »ich will mir das dritte Reich bauen, blühender als meine verdorrte Jugend und reicher als meine Abbatenherrlichkeit in Rom!«387 Letztlich jedoch eröffnet in der Novelle nur der Tod eine synthetisierend-versöhnliche Perspektive; entsprechend begrüßt Winckelmann ihn als Erfüllung von Freiheit und Schönheit.388 Dass der Mord in Triest geschieht, lässt sich lückenlos in Schäfers dualistische Konzeption einfügen; schon Justi hatte Triest einen gewissen Symbolwert zugesprochen, als »einer welschen Stadt, die zum Reich gehörte« und »an der Grenze beider Nationen«389 lag. Insgesamt jedoch spielen die Triester Ereignisse, die doch den eigentlichen unerhörten Vorfall in Winckelmanns Leben darstellen, bei Schäfer nur eine untergeordnete Rolle; von den 21 nummerierten Abschnitten der Erzählung sind nur zwei dieser letzten Woche Winckelmanns gewidmet. Auch die Figur des Mörders Francesco Arcangeli ist in keiner der anderen Novellen so blass geraten wie hier, zumal Schäfer als einziger darauf verzichtet, die Katastrophe aus einem besonderen Verhältnis zwischen Opfer und Mörder heraus zu motivieren. Dies unternimmt dagegen mit großem Nachdruck Viktor Meyer-Eckhardt in seiner Novelle Die Gemme, die fast gleichzeitig mit derjenigen Schäfers erschien. Der freie Umgang mit den Quellen wird dabei legitimiert, indem die Benennung der Figuren für eine gewisse Distanz zu den historischen Vorbildern sorgt: So wird der Bezug zu Winckelmann zwar durch die pathetische Widmung der Novelle390, biographische Analogien und Zitate seiner Schriften zweifelsfrei hergestellt, doch im Text selbst ist immer nur abstrahierend von dem »Gelehrten« oder dem »Antiquar« die Rede; Winckelmanns Mörder wird unter dem (sprechenden) Namen Angelo Amaro,

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Größe‹ in das enthusiastische Lob von Goethes Hermann und Dorothea eingeschmolzen wird und die Erwähnung Homers und Dürers von Synthese kündet: »Homerische Rundung der Bildergestalten, Dürersche Sorgfalt und Treue, die Seelengewalt der deutschen Musik gingen miteins, in deutscher Landschaft und deutscher Kleinbürgerschaft edle Einfalt und stille Größe zu walten« (Schäfer: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele, S. 251). – Seine Auffassungen vom ›deutschen Griechentum‹ wollte Schäfer eigentlich in einer Novellen-Trilogie zum Ausdruck bringen, doch neben Winckelmanns Ende entstand nur noch (im selben Jahr) Hölderlins Einkehr; eine weitere Novelle, die sich an Goethe annähern sollte (ohne diesen selbst zum Helden zu haben), kam aber nicht zustande: es »langte […] nicht zu der erhofften Trilogie« (Schäfer: Rechenschaft, S. 286). Bernhilde Landwehrmeyer-Jutz: Die Gestalt Winckelmanns in der Literatur. Diss. Freiburg/Br. 1955, S. 155. Schäfer: Winckelmanns Ende, S. 169. Vgl. ebd., S. 208f. Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Bd. 3, S. 490. »Manibus DIVI ARTIUM DUCIS Johann Joachim Winckelmann. Mirator Discipulus« (Viktor Meyer-Eckhardt: Die Gemme. In: Ders.: Die Gemme. Bad Salzig und Boppard am Rhein 1949, S. 73-188, hier S. 74). Der Neudruck des Textes in dem Band Novellen um Winckelmann (Mit einem Nachwort versehen von Heinz Berthold. Mainz 1993 [= Beiträge der Winckelmann-Gesellschaft, 20], S. 133-240) ist editionsphilologisch schon dadurch entwertet, dass sowohl diese Widmung als auch das Schopenhauer-Motto »Der Tod ist die große Zurechtweisung« fehlen.

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der ›bittere Engel‹, eingeführt, ist statt achtunddreißig »kaum älter […] als zwanzig Jahre«391 und ein Muster jungmännlicher Schönheit. Vom ersten Erscheinen der Gemme an wurden Parallelen zum Tod in Venedig bemerkt.392 Das liegt weniger an dem Ausmaß, in dem die Figur Gustav von Aschenbach auch an Winckelmann erinnert393, als an der Verbindung der Homosexualitätsthematik mit Antike bzw. Klassizismus einerseits und Krankheit bzw. Tod andererseits. Bei Thomas Mann resultierte aus dieser Verknüpfung die hohe Akzeptanz eines an sich Anstoß erregenden Sujets beim gebildeten Bürgertum. Im Fall der Winckelmann-Novellen allerdings tritt das Prekäre dieser Konstellation noch deutlicher hervor: der Tod bzw. die Ermordung sind direkte Folge homosexueller Leidenschaft, die, gewissermaßen als schuldhafte Verstrickung Winckelmanns, dessen eigenen Anteil an seinem nur dadurch ›tragischen‹ Untergang markiert: »Dahinter steht der Glaube an Finalität, ja an Kausalität: Wer so ist, muß so enden«.394 Durch diese Form fiktionaler Sinngebung sind alle Winckelmann-Novellen, was den Umgang mit dem Thema Homosexualität angeht, von vornherein reaktionär akzentuiert. Im Tod in Venedig wie in der Gemme sind zudem der Einfluss von Ästhetizismus und Dekadenz unverkennbar, wie Winckelmann überhaupt in den meisten fiktionalen Texten als ästhetizistische Künstlerfigur erscheint.395 Auch dadurch werden ästhetischer und sexueller Diskurs zusammengeführt: Nicht zufällig hat Thomas Mann zur gleichen Zeit, in der die meisten Winckelmann-Novellen entstanden, die Homosexualität als »erotische[n] Ästhetizismus«396 bezeichnet. In der Gemme allerdings hat die homoerotische Leidenschaft entschieden mehr Körperlichkeit: Was sich bei Aschenbach allenfalls in der Phantasie vollzieht (zumal durch Tadzios Alter die entscheidende Grenze zwischen homosexuellem Kontakt und Päderastie überschritten würde), nimmt in der Beziehung des Antiquars zu Angelo konkretere Formen an. Ob sich ein mann-männlicher Sexualakt vollzieht, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, auch wenn Angelo und der Antiquar eine Nacht im gleichen Bett verbringen; in diesem Zusammenhang heißt es von Winckelmann: Trunken von Qual und Sehnsucht warf er sich auf die Seite dem Jüngling entgegen, umgriff den Kopf unter den Locken und küßte den Mund. Als er fühlte, daß der Mund Ant391 Vgl. ebd., S. 157. 392 Vgl. Heynen: Winckelmanns Ende, S. 85f. 393 Vgl. hierzu Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines ›unhis-

torischen‹ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. In: DVjs 56 (1982), Sonderheft: Kultur. Geschichte und Verstehen, S. 168-201, bes. S. 180-182; Bernhard Böschenstein: Apoll und seine Schatten. Winckelmann in der deutschen Dichtung der beiden Jahrhundertwenden. In: Johann Joachim Winckelmann 1717-1768. Hg. v. Thomas W. Gaehtgens. Hamburg 1986 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 7), S. 327-342, bes. S. 338-340. 394 Wangenheim: Winckelmann als Held, S. 131. 395 Vgl. Dolberg: The Reception of Johann Joachim Winckelmann, S. 35-43. 396 Thomas Mann: Die Ehe im Übergang. Brief an den Grafen Hermann Keyserling. [1925]. In: Ders.: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 2. Frankfurt/M. 1993, S. 267-282, hier S. 272.

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wort gab, umfing er den Schweigenden mit beiden Armen, zuerst nur scheu, wie er einst in Rom beim ersten Anblick des Apollon dessen Knie umfangen hatte in der ersten Erfüllung seines Lebens. Als der Jüngling entschlummert war, lag auf seinem Herzen die Rechte des Mannes, der einschlief ohne Verwunderung.397

Wolfgang von Wangenheim meint, für den an Freud geschulten Leser schwinge in diesem ans Kapitelende gesetzten ›ohne Verwunderung‹ das auf Enthaltsamkeit zielende ›ohne Verwundung‹ mit, und wertet dies als Indiz dafür, dass der Sexualakt unterblieben sei.398 Wie dem auch sei – die spätere Mordszene ist in jedem Fall in Analogie zur sexuellen Vereinigung gesetzt, ob als Reminiszenz oder als destruktivsymbolische Ersatzhandlung: Da fühlte er heiße Lippen seinen Mund erstickend umschließen und zugleich eine eisige Schärfe hinabsinken bis in sein Herz. Immer tiefer bohrte die Schärfe, aber schon leibentnommen regte sich seine Seele über dem purpurnen Meer. Er fand noch die Kraft, Angelo die Rechte auf den Nacken zu legen, aber ihm war, als reiche er sie aus der Höhe eines Sternes hinunter in Dunkelheit.399

Beiden Szenen mit Angelo ging im Übrigen eine Verschmelzungsphantasie voraus, die Winckelmann in rauschhafter Vereinigung und »Vermählung«400 mit der Natur zeigt. Seiner erklärten Absicht zufolge wollte Meyer-Eckhardt verdeutlichen, wie sich Winckelmanns zu lange unterdrückte Kreatürlichkeit Bahn breche – zunächst im sexualisierten Naturerleben, dann in der Begegnung mit Angelo401; damit knüpft er direkt an die im späten 19. Jahrhundert und noch beim jungen Thomas Mann so oft gestaltete Kunst-Leben-Problematik an – was allerdings für die Handlungszeit der Novelle anachronistisch und für ihre Entstehungszeit schon wieder epigonal ist. Was die formale Gestaltung des Textes angeht, ist die ›Falken‹-Vorstellung virtuos umgesetzt: Die titelgebende Gemme zeigt eine »Freundschaftsszene«402 zwischen Alexander dem Großen und Hephaistion; damit evoziert sie sowohl die antike Welt als auch die homoerotische Liebe. In der gemeinsamen Betrachtung dieses Kunstobjekts – Gemmen, so konnte Meyer-Eckhardt bei Justi lesen, galten im 18. Jahrhundert als besonders geeignet, einen unmittelbaren Zugang zur Antike zu eröffnen403 – spiegelt sich zugleich die schwierige und in jeder Hinsicht ungleiche Beziehung zwischen dem Antiquar und Angelo, und schließlich führt Winckelmanns Verdacht, 397 Meyer-Eckhardt: Die Gemme, S. 151. 398 Wangenheim: Winckelmann als Held, S. 139. – Erst recht minimiert die ältere Forschung die sexuel-

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le Dimension des Verhältnisses; Klein schreibt in seiner Inhaltsangabe des Textes zur Vorgeschichte der gemeinsamen Nacht: »Angelo bittet, bei ihm bleiben zu dürfen wie ein Kind« (Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 568), und Himmel spricht von einer »platonischen Beziehung« (Himmel: Geschichte der deutschen Novelle. Bern, München 1963, S. 458). Meyer-Eckhardt: Die Gemme, S. 188. Ebd., S. 132. Vgl. die brieflichen Äußerungen Meyer-Eckhardts, die Danton in seinen Artikel integriert: Winckelmann in Contemporary German Literature, S. 191f. Meyer-Eckhardt: Die Gemme, S. 113. Vgl. Justi: Winckelmann. Bd. 1, S. 419f.

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Angelo habe die Gemme gestohlen, unmittelbar die Katastrophe herbei. Die seinerzeit viel gerühmte Sprache des Textes allerdings kann aus heutiger Sicht kaum mehr überzeugen; vieles erscheint nur noch pathetisch und überorchestriert, »nicht frei von Anklängen an Binding einerseits, an die gemäßigten Expressionisten andererseits«.404 Sprachlich vergleichsweise schlicht wirkt Werner Bergengruens WinckelmannNovelle, wobei der ›klassische‹ Duktus auch Resultat späterer Bearbeitungen ist; manche Adjektivhäufung der ersten Fassung etwa wurde im Nachhinein getilgt.405 Auch inhaltlich ist dieser Text sehr viel ausgewogener als die Beiträge von Schäfer und Meyer-Eckhardt. Einige fiktive Nebenfiguren, vor allem ein blatternarbiger Arzt, fungieren symbolträchtig als Botschafter des nahen Todes; die Homosexualitätsthematik wird nicht umgangen, aber stark abgemildert, teilweise ins Androgyne verlagert, wenn Winckelmann sich etwa fasziniert zeigt von einer jungen Seiltänzerin, die er zunächst für einen Knaben hält.406 Ein moralisierendes Handlungselement ist sicher auch als Absage an den Schönheitskult des George-Kreises zu verstehen: So ist es bei Bergengruen der Schönheitssinn, der Winckelmann blind macht für die Erkenntnis der Wahrheit und ihn zum attraktiven Dieb und Mörder mehr Vertrauen fassen lässt als zum entstellten Arzt und Menschenfreund; hätte er mehr Empathie für den Blatternarbigen gezeigt, als dieser ihn vor Triest bat, ihm seinen Platz in der Postkutsche zu überlassen, wäre er Arcangeli gar nicht begegnet. Insgesamt werden in Bergengruens Variante weder der nationale noch der sexuelle noch der religiöse407 Akzent des Winckelmann-Stoffes sonderlich herausgestellt, was ihr zwar in den fünfziger Jahren zu schulkanonischem Rang verholfen hat408, aber ihre mentalitäts- und zeitgeschichtliche Aussagekraft entschieden mindert. Richard Friedenthal gelingt es in Arcangeli, die Homosexualitätsthematik auf knappem Raum zu akzentuieren, ohne sich der gehobenen Diktion Meyer-Eckhardts anzunähern. Friedenthals Arcangeli, als sechzehnjähriger Proletarier geschildert, ist allerdings auch in keiner Weise emotional affiziert, sondern tötet lediglich aus Habgier. Obwohl sich der später als Biograph berühmte Autor hier keineswegs stärker an 404 Himmel: Geschichte der deutschen Novelle, S. 458. 405 Die Überarbeitungspraxis ist typisch für Bergengruens Arbeitsweise und illustriert seine Vorstellun-

gen von ›Klassizität‹ und Teleologie – mit den hymnischen Worten Reinhold Schneiders gesagt: »Die Leidenschaft nach Vollendung ließ den Dichter immer wieder Werke der frühen, an Eingebung und Phantasie überströmenden Jahre vornehmen, um sie ins Dauernde zu erheben« (Reinhold Schneider: Werner Bergengruen. In: Werner Bergengruen: Privilegien des Dichters. Zürich 1957, S. 7-18, hier S. 9). 406 Der intertextuelle Bezug zu Goethes Mignon-Gestalt dürfte beabsichtigt sein. 407 Von Bergengruen hätte man vielleicht am ehesten erwartet, dass er Winckelmanns (aus Kalkül, als Voraussetzung der römischen Karriere vorgenommene) Konversion zum Katholizismus stärker thematisieren würde, da er selbst schließlich 1936 übertrat; das Thema spielt in der Letzten Reise jedoch fast keine Rolle. 408 Vgl. Erich Hock: Bergengruens Winckelmann-Novelle. In: Blätter für den Deutschlehrer 3 (1960), S. 1-12, und Karl Migner: Werner Bergengruen. Die letzte Reise. Betrachtung der Novelle im Rahmen der Klassik. München 1961 (= Oldenbourg Interpretationen zum Deutschunterricht an den höheren Schulen).

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den historischen Fakten orientiert als seine Kollegen, gerät seine Verarbeitung der Ereignisse weitaus weniger verklärend als das in den anderen Winckelmann-Novellen der Fall ist – der Tod Winckelmanns etwa, bei Schäfer und Meyer-Eckhardt zum pathetischen Übergangserlebnis stilisiert, wird hier mit fast neusachlicher Distanz registriert.409 Sehr lakonisch vermerkt auch Ernst Penzoldt den Tod seines Helden, doch ist seine Gestaltung der Thematik insgesamt am weitesten entfernt von den historischen Vorgaben; Italien wird zwar als Gegenbild zum »dunkleren Deutschland, dem umnachteten Land«410 geschildert, doch weist die Landschaft durchweg surreal-phantastische Züge auf, was sich in den einzelnen, assoziativ aneinandergereihten Handlungsstationen fortsetzt. Die lokale Bindung an Triest und das Gasthaus sind aufgegeben, der Großteil des Geschehens vollzieht sich in dem Dorf Eterno, wo Winckelmann den »braune[n] Hirten« Arcangeli kennen lernt und in seine Dienste nimmt; beider Verhältnis soll offenbar die Unvereinbarkeit von Schönheit und Weisheit, Kunst und Leben illustrieren, wobei Winckelmann zwischenzeitlich zur halbgöttlichen Erlösergestalt stilisiert wird. Obwohl der mythisierend-surreale Blick auf die Thematik einen eigenen Akzent setzt, bestätigt Penzoldts Winckelmann-Novelle im Wesentlichen, was auch die anderen besprochenen Texte belegen: Winckelmann avanciert aus der Sicht der zwanziger Jahre zum Schnittpunkt zeitgenössischer Diskurse; seine Biographie lädt zur Auseinandersetzung ein, weil sie Analogien zum krisenhaften Gegenwartsbewusstsein der Autoren aufweist. Das Winckelmann-Sujet bietet vielfältige Möglichkeiten, sich mit kulturellen Leitvorstellungen, der nationalen Bildungstradition, der Achse Deutschland-Italien auseinanderzusetzen; die Spannung zwischen regionaler und internationaler Ausrichtung, wie sie die Literatur der Weimarer Republik prägt, schlägt sich im Verweis auf Winckelmanns provinzielle Herkunft und den trotzdem erlangten gesamteuropäischen Ruhm nieder. Die Ausgrenzung des Weiblichen entspricht der Mentalität der konservativen Autoren ebenso, wie die homosexuelle Orientierung Winckelmanns eine – wenn auch negativ besetzte – Faszination ausübt und sich, nicht zuletzt im Anschluss an Thomas Manns Tod in Venedig, mit dem (nur in der Todeserfahrung aufzulösenden) Dualismus von Kunst und Leben, Geist und Schönheit in Beziehung setzen lässt. Zugleich ist sie Reflex der zeitgenössischen Irritation traditioneller Sexualnormen. Die Bezeichnung ›Novelle‹ schließlich fungiert in diesem Zusammenhang keineswegs als neutraler Gattungsbegriff; sie dient der Rückbindung des eigenen Textes an eine ›klassische‹ Tradition, die dem ›klassischen‹ Sujet angemessen scheint und signalisiert damit die Parteinahme für den konservativen Pol im zeitgenössischen Literatursystem genauso auffällig wie etwa Schäfers inhaltliche Bezugnahme auf ›deutsches Wesen‹ und ›deutsche Sehnsucht‹. Die Winckelmann-Novellen der Weimarer 409 Vgl. Friedenthal: Arcangeli, S. 81: »Man brachte ihn in sein Zimmer und legte ihn auf das Bett. Er

erwachte noch einige Male und versuchte, die Hände nach dem offenen Fenster hin auszustrecken, durch das ein kühler Geruch vom Meere her kam. Gegen Morgen starb er«. 410 Penzoldt: Winckelmann, S. 131.

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Republik dokumentieren ein breites Spektrum traditionalistischer Schreibhaltungen, das vom deutsch-völkischen Einschlag Schäfers über Bergengruens um Klassizität bemühten Erzählstil bis zum enthusiasmierten Meyer-Eckhardt auf der einen und dem fast neusachlich berichtenden Friedenthal auf der anderen Seite reicht. Damit ist zugleich das Feld bezeichnet, mit dem die gesamte Gattung ›Novelle‹ seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend identifiziert wird; die einseitig konservative Prägung der Novelle, von den Autoren der zwanziger Jahre befördert, von der Literaturpolitik des NS-Staats festgeschrieben, sollte sich als ausgesprochen dauerhaft erweisen und schien in den fünfziger Jahren zunächst unerschütterlich, solange etwa Hans Franck und Wilhelm Schäfer zu den vielgelesenen Novellisten gehörten, Bindings Opfergang weiterhin hohe Auflagen erlebte, Bergengruen einen massiven Rezeptionsschub erfuhr und Der Schleier von Emil Strauß sich sogar als »verspäteter Longseller«411 erwies. *** Als später Nachklang der besprochenen Winckelmann-Novellen ist Hartmut Langes Die Bildungsreise (2000) anzusehen. In dieser klassisch erzählten Novelle – die sogar einen leitmotivisch eingesetzten »Wanderfalken«412 aufweist – vollzieht der Berliner Kunsterzieher Müller-Lengsfeldt »Winckelmanns letzte Reise«413 nach. Der ästhetische Diskurs spielt dabei nur am Rande eine Rolle; immerhin wird einem Wiener Psychiater die provokante These in den Mund gelegt, Winckelmanns Labilität in der letzten Lebensphase gehe darauf zurück, dass er sich »beim Anblick des Apoll von Belvedere plötzlich gelangweilt«414 habe. Die angedeutete »Imitatio Winckelmanns«415 – eine Zeitlang sieht es sogar so aus, als würde auch der Berliner Kunsterzieher in Triest seinen Mörder kennen lernen und so dem »gleichen Würgeengel«416 zum Opfer fallen – wird allerdings nicht in letzter Konsequenz durchgeführt417; so bleibt der 411 »Wahr sein kann man«. Dokumentation zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866-1960). Ausstel-

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lung der Stadt Pforzheim 8.5.-14.6.1987, Katalog und Ausstellung: Bärbel Rudin unter Mitarbeit v. Jürgen Schweier. Pforzheim 21990, S. 53. Hartmut Lange: Die Bildungsreise. In: Ders.: Gesammelte Novellen in zwei Bänden. Bd. 2. Zürich 2002, S. 401-494, hier S. 404, 411, 423, 425, 431, 451, 453, 463, 475, 480. Ebd., S. 446. Ebd., S. 454. Werner Hoffmann: Müller-Lengsfeldts letzte Reise. Zur Interpretation von Hartmut Langes Novelle Die Bildungsreise. In: Wirkendes Wort 51 (2001), S. 420-434, hier S. 425. Lange: Die Bildungsreise, S. 478. Hoffmann vertritt die Auffassung, dass Müller-Lengsfeldt am Ende der Novelle stirbt, obwohl der Text das offen lässt: »Hartmut Lange hat nicht explizit davon gesprochen, daß Müller-Lengsfeldts Leben mit diesem Traum zuende gegangen ist. Aber es kann gar nicht anders sein. Die von dem Kunsterzieher angestrebte Winckelmann-Nachfolge erfordert schlechterdings diese Analogie, die überdies durch eine Fülle von Vorausverweisen auf der Darstellungsebene manifest wird« (Hoffmann: Müller-Lengsfeldts letzte Reise, S. 431). Dem wäre entgegenzuhalten, dass eine konsequente Imitatio Winckelmanns auf den homoerotischen Impuls kaum verzichten könnte; dieser klingt bei Lange nur an, um als blindes Motiv rasch »ins Leere geführt« (ebd., S. 427) zu werden. Wenn aber

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Leser am Ende des 20. Jahrhunderts zurück in der (desillusionierenden?) Einsicht, dass die Distanz zur Antike wie zu den Vordenkern des europäischen Klassizismus auch durch die ambitionierteste ›Bildungsreise‹ nicht mehr zu überbrücken ist.

4. ›Novelle‹ und ›Politik‹ Bei den bisher vorgestellten Autoren klassizistischer Novellen verband sich die konservative Schreibweise fast ausnahmslos mit einer teils aggressiv vorgetragenen deutsch-völkischen Gesinnung. Angesichts der politischen Ereignisse des Jahres 1933 hat keiner von ihnen die Entscheidung getroffen, das ›Dritte Reich‹ zu verlassen; im Gegenteil: von Bergengruen abgesehen, gehörten sie zu seinen wichtigen literarischen Repräsentanten.418 Doch es wäre der Komplexität der Situation nicht angemessen, die klassizistische Novellentradition des frühen 20. Jahrhunderts zu sehr und zu eindeutig mit einer politischen Haltung zu identifizieren, die auf eine mehr oder weniger entschiedene Bejahung des nationalsozialistischen Regimes hinausgelaufen ist. Noch fragwürdiger wäre der moralisierende Umkehrschluss, dass die deutlichen Schwächen der jeweiligen literarischen Produktion nichts anderes wären als die logische Konsequenz eines verfehlten politischen Bewusstseins. Eine derart vulgärmarxistische Sehweise ist zwar von verschiedenen Emigranten vertreten worden – beispielsweise von Klaus Mann419 – und hatte eine legitime Funktion für das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Exil-Autoren; den komplexen Zusammenhängen zwischen Ästhetik und Politik jedoch kann die vorbehaltlose Ineinssetzung ebenso wenig entsprechen wie das Postulat absoluter wechselseitiger Autonomie. So ist auf der einen Seite festzustellen, dass sich die geistige Biographie eines Emil Strauß, eines Wilhelm Schäfer, eines Hans Franck nur folgerichtig zu entwickeln scheint, wenn aus bestimmten, sowohl in literarischen Werken als auch in Essays und theoretischen Schriften schon während der zwanziger Jahre transportierten Dispositionen, Wertungen, weltanschaulich grundierten Stellungnahmen eine unmitteldie erotische Analogie fehlen kann, gibt es keinen handlungslogischen Grund, die letale einzufordern. – Kursorische Interpretationen zur Bildungsreise finden sich auch in mehreren Aufsätzen des Sammelbandes Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange (Hg. v. Manfred Durzak. Würzburg 2003); am ausführlichsten versucht dort Giovanni Scimonello, einen Bogen von Lange zurück zu den Winckelmann-Novellen des frühen 20. Jahrhunderts zu schlagen (vgl. Giovanni Scimonello: Das Unheimliche im Alltagsgeschehen. Zum ästhetischen Aufbau der Italienischen Novellen im Werk Hartmut Langes. In: Ebd, S. 191-208). 418 Das gilt auch für den am 13.5.1933 verstorbenen Paul Ernst, wie dessen breite Berücksichtigung in Langenbuchers Volkhafte Dichtung der Zeit belegt (vgl. dort S. 29-36 u.ö.). 419 Vgl. z.B. Klaus Manns Auseinandersetzung mit Gottfried Benn (Gottfried Benn oder Die Entwürdigung des Geistes) und die unterschiedlichen moralischen Anforderungen, die er an Vertreter bürgerlicher Berufe und solche des Künstlerstandes stellt, etwa in dem Artikel Zahnärzte und Künstler (in: Klaus Mann: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933-1936. Hg. v. Uwe Naumann und Michel Töteberg. Reinbek 1993, S. 40-43 und 107-110).

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bare Zustimmung zum NS-Staat resultiert. Ihr antirepublikanisches, deutsch-völkisches, dezidiert ›männliches‹ und auf Autoritäten ausgerichtetes Denken scheint genau dem Sozialcharakter zu entsprechen, auf den der Nationalsozialismus setzen konnte. Diese Auffassung birgt allerdings auch die Gefahr, dass bestimmte, für die zwanziger Jahre zentrale Diskurselemente ausschließlich mit Präfaschismus und ›Anti-Moderne‹ identifiziert und damit bei der Betrachtung derjenigen Literatur, deren Verfasser später ins Exil gingen, übersehen werden. Gerade die bisher nachgewiesenen dichotomen Denkmuster jedoch reichen in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr weit in eine Schicht hinein, die sich als bürgerlich-liberal, humanistisch und sogar republikfreundlich verstand, ohne einen Widerspruch zwischen ihrer polarisierenden Weltsicht und den vordergründig vertretenen Werten zu realisieren. Mit kaum zu überbietender Deutlichkeit zeigt ein Text wie Bruno Franks Politische Novelle die Aporien bürgerlich-humanistischen Denkens in den zwanziger Jahren; dass diese auch in Thomas Manns Werke hineinspielen, belegt die diskursprägende Kraft bestimmter Tiefenstrukturen, die einer deutsch-völkisch orientierten Novellistik genauso zugrunde liegen wie den im Folgenden zu analysierenden Texten.420

4.1. Bruno Frank (1887-1945) Auf »35 Jahre kaum unterbrochener Nachbarschaft und des Austausches«421 blickte Thomas Mann zurück, als er den Tod Bruno Franks im Juni 1945 in seinem Tagebuch vermerkte; die Münchner Freundschaft zwischen den Familien hatte sich im gemeinsamen kalifornischen Exil fortgesetzt. »Der Zauberer und Mielein schienen immer besonders animiert, wenn er bei uns war«, erinnert sich Klaus Mann an das Verhältnis seiner Eltern zu dem »generöse[n] und joviale[n]« Frank, dem er »männlich-herzliche Urbanität« und »warme, reiche Menschlichkeit« attestiert.422 Dass die Freundschaft zwischen Bruno Frank und Thomas Mann eine ungleiche war, kann angesichts ihres Zustandekommens nicht überraschen: Als »nachstrebender Enthusiast, gesegnet mit der Gabe der Bewunderung« hatte Frank das 12 Jahre ältere Vorbild 1910 aufgesucht und die Beziehung »unternehmend inauguriert« – so 420 Zu den Verbindungen zwischen Thomas Mann und dem Denken der Konservativen Revolution

vgl. Stefan Breuer: Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen ›konservativer Revolution‹, ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus. In: Politisches Denken. Jahrbuch 1997, S. 119-140, sowie von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik, bes. S. 24-53. – Die folgenden Ausführungen greifen Überlegungen auf, die ich bereits in einem älteren Aufsatz publiziert habe, vgl. Sascha Kiefer: Novellenbegriff und Zeitbezug. Bruno Franks Politische Novelle (1928) und Thomas Manns Mario und der Zauberer (1930). In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 (2004), S. 89-128. 421 Thomas Mann: Tagebucheintrag vom 21.6.1945. In: Ders.: Tagebücher 1944-1.4.1946. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt/M. 1986, S. 218. 422 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit Textvarianten und Entwürfen im Anhang hg. und mit einem Nachwort versehen von Fredric Kroll. Reinbek 2006, S. 121 und S. 675.

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die Erinnerung Thomas Manns, der in gleichem Zusammenhang der »unbedingten Liebe und Treue«, der »bejahenden, unerschütterlichen Zugewandtheit und Hingebung« Franks gedenkt.423 Die positiven Worte, die Thomas Mann mehrfach für das Werk Bruno Franks gefunden hat, reflektieren das persönliche Verhältnis bis hin zu einem zwar freundlich-ermunternden, aber gelegentlich etwas herablassenden Tonfall, den Mann bei diesen Gelegenheiten anschlägt. Trotzdem sind die Affinitäten zwischen beiden nicht zu verkennen: Sie reichen vom gemeinsamen thematischen Interesse an Friedrich II.424 über die unverkennbare Orientierung von Franks Politischer Novelle am Tod in Venedig bis hin zu Anregungen, die wiederum von der Politischen Novelle auf Mario und der Zauberer ausgegangen sein dürften. Verbindend haben darüber hinaus Fragen der Herkunft und des Lebensstils gewirkt; Frank, Sohn aus wohlhabender jüdischer Bankiersfamilie, verheiratet mit der Tochter der Operettendiva Fritzi Massary, verkörperte eine ähnliche Mischung von großbürgerlichem Hintergrund und künstlerischer Ambition, wie sie auch bei Thomas Mann gegeben war. Wenn Frank den »Typus des humanen Gentleman«425 als sein Ideal bezeichnet, lassen sich mentale Verbindungslinien zu Thomas Mann genau so ziehen wie etwa zu Rudolf G. Binding und dessen Gentleman-Konzept (das die ›humane‹ Komponente freilich weniger stark gewichtet). Unter den Werken Bruno Franks ist die Politische Novelle, neben dem historischen Roman Cervantes und dem Schauspiel Sturm im Wasserglas, das relativ bekannteste geblieben.426 Die Handlung ist rasch zusammengefasst: Hauptfigur ist der deutsche Jurist und Politiker Carl Ferdinand Carmer. Dreimal hatte er bereits ein Ministeramt inne; im Laufe der Handlung wird er eine vierte Berufung ins Kabinett erhalten. Zu Beginn der Novelle ist er auf Urlaub in Italien; von dort reist er die Riviera entlang, um sich mit dem französischen Politiker Achille Dorval zu treffen, zunächst in einem Casino in Cannes, dann in einem provençalischen Dorf, das beide gemeinsam aufsuchen. Diesen Teil der Handlung bezogen zeitgenössische Leser fast zwangsläufig auf die Verhandlungen zwischen den beiden versöhnungsbereiten Außenministern Stresemann und Briand, die zur Ratifizierung der Locarno-Verträge führten; vor 423 Thomas Mann: In memoriam Bruno Frank. In: Ders.: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt/M. 21974

(= Gesammelte Werke, 10), S. 497-500, hier S.498. 424 Frank hat mehrere Friedrich-Novellen verfasst, die Mann nachdrücklich lobte, während er selbst

den geplanten Friedrich-Roman bekanntlich nicht geschrieben hat, sondern ihn nur im fingierten Werkkatalog seines Gustav von Aschenbach verzeichnet. Vgl. zu Franks Friedrich-Novellen Tage des Königs (1924), seinem Roman Trenck. Roman eines Günstlings (1926) und der biographischen, Franks Anliegen einer Humanisierung der Friedrich-Gestalt schon im Titel signalisierenden Darstellung Friedrich der Große als Mensch im Spiegel seiner Briefe, seiner Schriften, zeitgenössischer Berichte und Anekdoten (Berlin 1926) die insgesamt enttäuschende Dissertation von Ulrich Müller: Schreiben gegen Hitler. Vom historischen zum politischen Roman. Untersuchungen zum Prosawerk Bruno Franks. Darmstadt 1994, S. 11-27. 425 Frank Lennartz: Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik. Bd. 1. Stuttgart 1984, S. 504. 426 Die ambitionierten Neuausgaben, die Martin Gregor-Dellin zwischen 1976 und 1985 von Franks wichtigsten Werken vorgelegt hat, sind in der Zwischenzeit wieder aus den Katalogen lieferbarer Bücher verschwunden und konnten keine dauerhafte Kanonisierung des Autors bewirken.

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allem das sogenannte ›Gespräch von Thoiry‹, ein Treffen Stresemanns und Briands in dem gleichnamigen Dorf bei Genf am 17. September 1926, wurde assoziiert. Fritz Rostosky beispielsweise sieht es als Ausgangspunkt, den Frank gemäß den Anforderungen der Novellenform stilisiert habe: »Der politische, ins Symbolische überhöhte Stoff besteht in dem Ereignis von Thoiry, wobei Frank Briand für würdig eines Porträts hält, seinen deutschen Partner, der dazu allerdings wohl auch nicht verlockt, aber nicht«.427 Auch alle anderen Rezensenten haben Dorval als idealisiertes BriandPorträt erkannt (und meist kritisiert); Stefan Großmann schrieb sogar: »Bruno Frank hat sich in Briand verliebt«.428 Dem breit entfalteten Dialog zwischen Carmer und Dorval korrespondieren Gespräche zwischen den jüdischen Sekretären der beiden Staatsmänner; im Zentrum steht jeweils die notwendige Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs, da sich nur ein einiges Europa erfolgreich gegen Amerikanismus, Kommunismus und den zunehmenden Druck aus den früheren Kolonien behaupten könne. Nach dem Abschied von Dorval zieht es Carmer ins Marseiller Hafenviertel, geführt von einer überdeutlich zum Todesboten stilisierten Gestalt429; es sind diese Passagen der Novelle, die in so eklatanter Weise an Thomas Manns Tod in Venedig erinnern, dass etwa Martin Gregor-Dellin seine Interpretation mit dem Titel Der Tod in Marseille überschrieben hat.430 In den Armen einer afrikanisch-malayischen Prostituierten wird Carmer ermordet, nachdem er zunächst den Angriff eines Schwarzen abwehren konnte; sein Mörder jedoch ist schließlich ein Weißer, ein junger Mensch mit einem breiten hellen Gesicht, mit stumpfblauen Augen und stumpfblondem Haar, das hervorquoll unter der Kokarde einer schirmlosen Soldatenmütze. […] Er hielt das Urwaldmesser in seiner Hand, das er beim Stoß der Wunde entrissen hatte. Aber er selbst war nur ein Splitter der furchtbaren Waffe, mit der Europa seinen Selbstmord beging.431

Spätere Interpreten haben diese Zeilen als symbolische Warnung vor dem aufkommenden Nationalsozialismus gelesen, zumal sie innerhalb des Textes mit dem kritischen Blick auf eine faschistische Kundgebung im Italien Mussolinis korrespondieren. Die zeitgenössischen Rezipienten jedoch realisierten vorrangig andere Momente 427 Fritz Rostosky: Frank, Bruno: Politische Novelle. In: Die schöne Literatur 29 (1928), S. 243-245,

hier S. 244.

428 Stefan Großmann: Bruno Franks Politische Novelle. In: Das Tagebuch 9 (1928), S. 632-635, hier

S. 632. 429 »Neben ihm auf der Bank saß Einer, ein Stummer. Nicht stumm nur mit der Zunge, auch toten-

stumm angetan. […] Der Dunkle, mit einem Rauschen seiner Gewänder, stand aufrecht. In kleiner Entfernung machte er Halt und wandte sich um. Carmer wußte, daß er ihn ansah aus seinen blauen Tüchern, und schon folgte er nach« (Bruno Frank: Politische Novelle. Berlin 1928, S. 166-168). 430 Vgl. Martin Gregor-Dellin: Der Tod in Marseille. Über Bruno Frank: Politische Novelle. In: Romane von gestern – heute gelesen. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 2. 1918-1933. Frankfurt/M. 1989, S. 107-113; vgl. auch Reinhold Grimm: Drei bis vier politische Novellen: Notizen zu Bruno und Leonhard Frank, Johannes Weidenheim, Thomas Mann und Gottfried Benn. In: Ders.: Versuche zur europäischen Literatur. Bern, Berlin, Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 93-134, hier S. 107f. 431 Frank: Politische Novelle, S. 179f.

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des ›Politischen‹ an Franks Novelle – und nahmen überwiegend daran Anstoß. Zu den ersten scharfen Kritikern gehörten Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky in der Weltbühne sowie Bernard von Brentano in der Frankfurter Zeitung. Ossietzky eröffnet seinen Artikel mit einem Satz, der zumindest zum Teil die Heftigkeit erklärt, mit der Franks Text diskutiert wurde: »Wenn der Novellist in die Politik vorstößt, läuft er Gefahr, politisch bewertet zu werden«.432 Der Titel Politische Novelle und die damit verbundene Thematik provozierten insofern, als hier eine als Inbegriff der ›hohen‹ Dichtung verstandene Gattungsbezeichnung mit dem Attribut ›politisch‹ kombiniert wurde, das im damals gültigen Literaturverständnis allenfalls mit einer ästhetisch minderwertigen Tendenzliteratur in Verbindung zu bringen war; auch Ossietzky legt die zeittypische und implizit wertende Unterscheidung von ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ zugrunde, wenn er Frank einleitend als »einen Belletrist[en]« charakterisiert, »der gelegentlich der Dichtung ziemlich nahekommt«.433 Nimmt man den so oft mit der Novellengattung assoziierten Anspruch auf exemplarische Geltung hinzu (Cervantes formuliert ihn mit der Sammlung seiner Novelas ejemplares genauso wie Goethe, wenn er seinen späten Gattungsbeitrag unter der übergreifenden Gattungsbezeichnung publiziert), so signalisiert Franks abstrakter Titel die klare Ambition, die Essenz des Politischen in einer literarisch gültigen Form zu erfassen.434 Es ist dieser implizite Anspruch, der die Schärfe der Kritik provoziert. Ossietzky urteilt als politischer Publizist: Er hält Franks Buch für »schädlich, weil es Gefahren maskiert und Illusionen weckt«, weil es »Staatsmänner präsentiert, die es nicht gibt«.435 Außerdem wage der Text zu wenig, wenn er mit den Stichworten ›Locarno‹ und ›Paneuropa‹ die »einzigen hoffähig gewordenen Formeln für Pazifismus« aufgreife, mithin politisches Engagement nur so weit riskiere, wie es den Erfolg beim bürgerlichen Lesepublikum nicht tangiere oder, aufgrund des »Modewerte[s]«, sogar fördere.436 Auch Tucholskys Kritik zielt auf eine Vorstellung von Politik, die in ihrer Konzentration auf charismatische Persönlichkeiten sowohl die gesellschaftlichen Strukturen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten als auch den Einfluss der Massen ignoriere: »In feiner, dünner Luft führen ein Deutscher und ein Franzose platonische Dialoge«437, schreibt Ossietzky, und Tucholsky bekräftigt: »[…] wie bombastisch ist das; wie geziert, wie ganz und gar verkannt; das ist jene Politik, wie sie sich in neuern berliner und auch pariser Salons darstellt, wo die Bekanntschaft mit einem richtigen Diplomaten das persönliche Prestige erhöht … Ja, wenn Politik so dumm und so einfach wäre –!«.438 432 Carl von Ossietzky: Carmer und Lichnowsky. In: Die Weltbühne, 6.3.1928, I, S. 351-354; im Fol-

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genden zitiert nach dem Neudruck in: Carl von Ossietzky: Sämtliche Schriften. Oldenburger Ausgabe. Bd. 4. Hg. v. Werner Boldt und Renke Siems. Reinbek 1994, S. 321-326, hier S. 321. Ebd. Vgl. Grimm: Drei bis vier politische Novellen, bes. S. 93-100. Ossietzky: Carmer und Lichnowsky, S. 324. Ebd., S. 322. Ebd. Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch. In: Die Weltbühne, 8.5.1928, I, S. 717-721. Jetzt in: Ders.:

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Bernard von Brentano geht kaum weniger hart und wesentlich ausführlicher mit Frank ins Gericht; als Autor, der später selbst mit Novellen hervortreten sollte, nimmt er zunächst an der Form des Textes Anstoß, den er allenfalls als »eine sonderbare Art von kleinem Roman«439 gelten lassen will. Die Verbindung von formalem Anspruch und politischer Thematik, wie sie durch Franks Titelwahl suggeriert wird, begreift Brentano als den misslungenen »Versuch, einen unsterblichen Leitartikel zu schaffen«. Franks Politikverständnis sei ›dichterisch‹ in dem Sinne, dass es mit der Realität nichts zu tun habe, seine Sprache »geschraubt«, »humorlos und pathetisch«; beide Urteile werden in schlüssiger Weise durch Zitate belegt. Insgesamt fällt die Rezension Brentanos genauso vernichtend aus wie diejenige Ossietzkys oder Tucholskys; allerdings ist sie literarhistorisch wirksamer geworden, weil sie es war, die Thomas Mann dazu veranlasste, öffentlich für Bruno Frank und dessen Werk einzutreten. Das lag auch daran, dass Mann die Kritik der angesehenen, bürgerlichliberalen Frankfurter Zeitung sehr viel ernster nahm als etwa die der Weltbühne, von der er wohl nichts anderes erwartet hatte.440 Manns Plädoyer erschien erstmals am 21. Juli 1928 in Das Tagebuch, bald darauf auch im Sammelband Die Forderung des Tages.441 Problematisch ist dieser Text nicht wegen der persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Autoren, sondern durch seine wenig überzeugende Argumentationsstrategie: Brentanos Rezension wird mit großer Vehemenz als »böswillig« zurückgewiesen und den »sinn- und herzlosen Abschlachtungen«442 zugeschlagen, aber an keiner Stelle argumentativ widerlegt. Statt einzelne Kritikpunkte Brentanos zu entkräften, stellt Thomas Mann die allgemeine Forderung, die Literaturkritik solle zu besprechende Werke »menschlich […] hinnehmen«, mit Rücksicht darauf, »daß hinter dem Werk, das sie hechelt, ein Leben, ein Schicksal, ein atmender Mensch steht«.443 Zu Recht konnte ihm Brentano in einer Erwiderung entgegenhalten: »Kritik nun, welche den Namen verdient, hechelt nicht, sondern untersucht. Und was ist es, das sie dabei nicht vergessen soll – daß hinter dem Werk ein Familienvater steht?«444 Indem Thomas Mann sich auffällig breit über die »Menschen- und Lebensfreundlichkeit« Franks, »seine allgemein geistig-kulturTexte 1928. Hg. v. Ute Maack. Reinbek 2001 (= Texte und Briefe, 10), S. 197-205, hier S. 200. 439 Bernard von Brentano: Zu Bruno Franks Buch: Politische Novelle. In: Frankfurter Zeitung,

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440 Im Rückblick, anlässlich von Franks Tod 1945, hat Mann den »sinn- und ruchlos[en]« Artikel Bren-

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tanos gar als symptomatisch bezeichnet für den Zustand »von Verwirrung und Vorbeugungsangst, von dem damals die große Presse des Landes schon befallen war« (Mann: In memoriam Bruno Frank, S. 498) – und damit, was den speziellen Gegenstand betraf, zweifellos übertrieben. Thomas Mann: Die Forderung des Tages. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1925-1929. Berlin 1930; später nahm Mann den Artikel auch auf in: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt/M. 1953. Ders.: ›Politische Novelle‹. In: Ders.: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt/M. 21974 (= Gesammelte Werke, 10), S. 685-700, hier S. 688. Ebd., S. 686. Bernard von Brentano: Antwort an Thomas Mann. In: Ders.: Kapitalismus und Schöne Literatur. Berlin 1930, S. 42-46, hier S. 42f.

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politische Haltung und Gesinnung«, seine »Anmut, Anständigkeit und Bescheidenheit«445 auslässt, markiert er sein Plädoyer von vornherein als Freundschaftsdienst und erweckt – unfreiwillig? – den Eindruck, dass die Persönlichkeit des Autors für die Schwächen seines Textes eintreten müsse. Gerade der Thomas-Mann-Leser kann kaum umhin, die Ambivalenz des folgenden Lobes zu registrieren: Hier ist ein Mensch, klug, gütig, verständig, kulturfreundlich […], so wohlerzogen, wie man es nur bei schönster Fähigkeit zur Bewunderung, zu liebender Nachfolge zu sein vermag, im Geistigen klar, maßvoll und gutwillig, im Sinnlichen gesund und heiter. Er liebt die ›Unterwelt‹ nicht, das Mystische, Schlimme; er ist romantischer Wollust wenig zugänglich; vielleicht weiß er von fruchtbarer Krankheit nicht genug – aber wäre das ehrenrührig? Vielleicht ist er, charmant aus Sympathie, ein wenig zu sehr Weltkind, Sybarit und Mann des ›Grübchens‹, der gern an wohlgedeckten Tafeln des Lebens sitzt […]. Er ist ein Sonntagskind, das sich zuweilen grämt.446

Alles, was Thomas Mann als Voraussetzung des Künstlertums betrachtet (und an sich selbst analysiert hat), wird Bruno Frank hier abgesprochen: das Wissen um Krankheit, die ›Sympathie mit dem Tode‹, die Kunst-Leben-Problematik, die sexuelle Ambivalenz. Dass Mann im Folgenden kaum mehr als eine ausführliche Inhaltsangabe der Politischen Novelle liefert, verstärkt den Eindruck eines ausgesprochen zwiespältigen Plädoyers, woran auch die reichlich eingestreuten und strategisch platzierten Lobesworte447 nichts ändern können. Indem er sich einerseits auf die Sympathie für den Autor und andererseits auf eine Inhaltsangabe des Textes zurückzieht, umgeht Thomas Mann nicht nur die argumentative Auseinandersetzung mit Franks Kritikern, sondern verfehlt auch die Ebene, auf der die tatsächlich erstaunliche Aussagekraft von Franks Politischer Novelle liegt – und möglicherweise verfehlt er sie absichtlich, weil diese Ebene gerade nicht mit der Charakterstudie zu vereinbaren ist, die Thomas Mann so nachdrücklich von Frank entwirft. Mann beharrt auffällig darauf, die Politische Novelle als »Manifestation«, als unmittelbaren Ausdruck der Autorpersönlichkeit zu lesen. Tatsächlich aber ist kaum ein Text der zwanziger Jahre dermaßen geeignet, gegen die expliziten Intentionen seines Autors gelesen zu werden wie dieser. Frank wollte zeigen, wie das bürgerlich-humanistische Europa von außen bedroht wird; tatsächlich demonstriert sein Text jedoch die immanenten Aporien und die Brüchigkeit einer Weltsicht, die sich selbst als bürgerlich-humanistisch definiert, ohne zu erkennen, wie sehr ihre ausgrenzenden und dichotomisierenden Denkmuster gerade die Werte unterminieren, für die sie vermeintlich einsteht: »Was als das Projekt der Verteidigung von Humanität, Demokratie und Völkerfreundschaft angelegt ist, entlarvt sich durch eine Sprache, die dem zuwiderläuft«.448 445 Mann: ›Politische Novelle‹, S. 685f. 446 Ebd., S. 686f. 447 Schon im ersten Satz etwa heißt es plakativ: »Sie wünschen zu hören, wie ich über die literarische

Sensation dieses Frühjahrs, Bruno Franks Politische Novelle denke?« (ebd., S. 685). 448 Widdig: Männerbünde und Massen, S. 78. – Dass Widdig in dem entsprechenden Kapitel seiner

Arbeit (vgl. ebd., S. 73-100) die aufschlussreichste und überzeugendste Interpretation des Textes ge-

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Beispiele finden sich in der Politischen Novelle zuhauf, etwa bei einer Unterhaltung zwischen Carmer und seinem jüdischen Sekretär Erlanger. Erlanger hat kein Verständnis für das Boxtraining seines Vorgesetzten; Carmer gibt unter anderem zur Antwort: »Wenn Ihr Juden einmal alle Bescheid wißt mit Kinnhaken und Uppercuts, dann wird es bald keinen Antisemitismus mehr geben, glauben Sie nur!«449 Dass er dabei »den jungen Mann brüderlich« anblickt, ändert nichts daran, dass hier das Vorurteil, ›die Juden‹ seien eine körperlich untüchtige Rasse, vorbehaltlos reproduziert wird. Noch stärker treten Vorurteile gegenüber Schwarzafrikanern hervor: Wenn Frank den Casino-Auftritt der Tänzerin Becky Floyd schildert (von den Zeitgenossen mühelos als Porträt Josephine Bakers identifiziert450), zeigt sich die unselige Verbindung von Antifeminismus und Rassismus kaum weniger deutlich als etwa in Emil Strauß' Brasilien-Novelle Vorspiel. In Becky Floyd kreuzen sich die Gefahren der Kulturindustrie und des Amerikanismus, des Weiblichen und des Schwarzen; unterstützt von »Negermusik« verführt sie ihre Zuschauer: Becky Floyds Mund, der eben noch so töchterlich gelächelt, wölbte sich plötzlich vor zu dem afrikanischen Fleischtrichter, der er eigentlich war, mit einem kleinen tückischen Grinsen blickte sie sich im Saale um und ersah sich einen beleibten, glatzköpfigen Herrn, der friedlich bei seiner Gattin saß. Sie forderte ihn auf. Er gehorchte. Jeder wußte, daß man sich hier zu fügen habe. […] Keiner entzog sich; es war ein seltsames, klassisch gewordenes Opfer der Würde.451

Das reiche, aber überalterte, leblos-dekadente und im Tanz mit Becky der Lächerlichkeit preisgegebene Publikum ermöglicht den »ungeheuerlich schamlosen, hohnlachend gewaltigen Triumph des Schwarzen Geschlechts«.452 Die schwarze Frau, wie sie hier imaginiert wird, ist als Angstprojektion des bürgerlich-europäischen Autors mühelos erkennbar; ebenso offensichtlich ist die Diskriminierung durch die gewählte Sprache. Als Kontrastfigur wird ihr Achille Dorval gegenübergestellt; »sein Auftreten« im Casino ist es, das allein die Aufmerksamkeit von der Tänzerin abziehen kann. Hier sind es wiederum die Abwehr- und Dominanzphantasien, die sich Bahn brechen; scheinbar mühelos siegt die in der großen, männlichen, weißen Einzelpersönlichkeit verkörperte Idee über die animalische, weibliche, schwarze Sexualität: Die Negermusik schwieg längst, von mehreren Seiten heftig bedeutet. Die Gesellschaft stand und schaute dem Manne nach, dessen unelegantes Greisenalter eine Idee bedeutete: die Idee Europa und Frieden. […] Becky Floyd, mitten aus ihrer Urwaldraserei zur Gelas-

449 450 451 452

lungen ist, verdeutlicht besonders der Vergleich mit dem naiv-emphatischen ›Rettungsversuch‹, den Sascha Kirchner der Politischen Novelle angedeihen lässt, vgl. Sascha Kirchner: Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887-1945). Leben und Werk. Düsseldorf 2009, S. 161-179. Frank: Politische Novelle, S. 14. Vgl. z.B. Ossietzky: Carmer und Lichnowsky, S. 323. Frank: Politische Novelle, S. 65-67. Ebd., S. 70. – Die Großschreibung des »Schwarzen Geschlechts« hebt den in Bezug auf die Doppeldeutigkeit von Geschlecht als Rasse und Sexus hier ohnehin bemerkenswerten Begriff zusätzlich hervor.

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senheit sich ernüchternd, war mit einem klugen Seitenblick ihrer herrlichen Tieraugen gleich bei Achille Dorvals Auftreten lautlos entwichen.453

Wie an mehreren anderen Stellen der Novelle ist es auch hier der überdeutliche Erzählerkommentar, der in seiner distanzlosen Parteilichkeit das ästhetische Scheitern des Autors herbeiführt. Ein Seitenblick auf Thomas Mann sei vorwegnehmend gestattet: Ihm gelingt es durch raffinierte Perspektivierungen und das erzählerische Prinzip der Ironie, vergleichbare Szenen und sogar ähnliche Wertungen auf ästhetisch überzeugende Art und Weise in seine Texte zu integrieren. Auch bei Thomas Mann findet sich amerikanische Tanz- und Jazzmusik als »wildes, parfümiertes Zeug« und »aufgeputztes Neger-Amüsement«454 charakterisiert, so in der Novelle Unordnung und frühes Leid – doch er verlegt diese Wertung ins Figurenbewusstsein des konservativen Geschichtsprofessors Cornelius, der selbst wieder ironisiert wird, und, wie der Autor betont, »des erzählerischen Humors von außen weit mehr«455 bedurft habe als die jungen und jazzbegeisterten Protagonisten der Novelle. Bei Frank gibt es weder ›erzählerischen Humor‹ noch eine Perspektive ›von außen‹; Autor- und Erzählerbewusstsein sind nicht zu unterscheiden und vor allem deshalb kann der Auftritt Becky Floyds auch in keiner Weise mit der Vorführung Cipollas in Thomas Manns Mario und der Zauberer konkurrieren, obwohl die rein inhaltlichen Parallelen frappierend sind: In beiden Fällen geht es um künstlerische Darbietungen jenseits der Hochkultur, beide Veranstaltungen finden in einem schwülen südlichen Klima statt, sowohl Cipolla als auch Becky Floyd verführen und entwürdigen ihr Publikum bis hin zum Identitätsverlust – doch wo Thomas Mann durch den reflektierten Einsatz des Erzählers Distanz schafft, offenbart Franks Text letztlich nur, wie sehr das als humanistisch, demokratisch und polyglott definierte Autorbewusstsein infiltriert ist von Denkmustern, die sich auch im Faschismus wiederfinden.456 Die Vorstellungen von Politik wiederum, die hier bewusst oder unbewusst transportiert werden, machen Franks Titelwahl verständlich. Die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ mit dem Adjektiv ›politisch‹ zu verbinden, ist nur insoweit ungewöhnlich, als politische Themen allgemein mit weniger traditionellen, weniger den ›Kunstwert‹ signalisierenden Genrebegriffen assoziiert wurden. Die anfängliche Irritation relativiert sich jedoch entscheidend, sobald die spezielle Prägung des ›Politischen‹ in den Blick gerät, dessen Codierung bei Frank exakt mit dem Bild übereinstimmt, das sich auch für das zeitgenössische Novellenverständnis ergibt: Im Rahmen der dichotomen Denkmuster rangiert Franks Politikverständnis bei den Polen ›männlich‹, ›geistig‹, ›zuchtvoll‹, ›elitär‹ und ›eindeutig‹. 453 Ebd., S. 71f. 454 Thomas Mann: Unordnung und frühes Leid. In: Ders.: Erzählungen. Frankfurt/M. 21974 (= Ge-

sammelte Werke, 8), S. 618-657, hier S. 647. Vgl. hierzu auch Sascha Kiefer: Gesellschaftlicher Umbruch und literarisierte Familiengeschichte. Thomas Manns Unordnung und frühes Leid und Klaus Manns Kindernovelle. In: Wirkendes Wort 49 (1999), S. 355-371, bes. S. 362f. 455 Thomas Mann: ›Unordnung und frühes Leid‹. In: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt/M. 21974 (= Gesammelte Werke, 11), S. 620-622, hier S. 622. 456 Vgl. auch Widdig: Männerbünde und Massen, S. 88f.

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Vor allem die Hauptfigur Carmer verkörpert diese Positionen: Der Preuße aus traditionsreicher Familie457 wird als Asket geschildert; eine anzügliche Bemerkung Dorvals ruft bei ihm den Gedanken hervor, »daß es vielleicht Sünde und Raub sei, vom mächtig kreisenden Lebens- und Liebesstrom sich so vorzeitig abzusperren« – im Nachsatz heißt es dann auch noch: »Eine recht deutsche Sünde vermutlich«.458 Ohne Furcht vor Klischeehaftigkeit werden der lebenslustige Franzose und der tiefsinnige Deutsche einander gegenübergestellt; Carmer zeichnet sich zudem durch eine (typisch deutsche?) Sehnsucht nach dem Süden und speziell Italien aus. Einig sind sich Carmer und Dorval in der Hochschätzung der Provinz gegenüber der Großstadt, womit eine weitere zentrale Denkfigur der Weimarer Konservativen bedient wird: Marseille etwa ist die »Hölle«459, auf dem Land dagegen ist unentfremdetes, idyllisches Leben noch jederzeit anzutreffen. In der heimischen Politik fehlt Carmer ein »männlicher, gerade Impuls«, Zweifel und Furcht hält er für »Weibergedanke[n]«.460 Politik wird sowohl von Carmer als auch von Dorval als persönliche Angelegenheit gebildeter Männer verstanden; die Nähe zu männerbündischen, homosozialen Strukturen ist unverkennbar, wenn sich etwa die beiden Sekretäre jeweils mit der Formel »Gute Nacht, Meister« von ihren Arbeitgebern verabschieden, Stefan George zu einem zentralen Gesprächsthema avanciert oder Dorval zur antibürokratischen, charismatischen Führerpersönlichkeit stilisiert wird.461 Weder die beiden Politiker noch ihre Sekretäre haben eine Frau; von Carmer erfährt man, er habe vor dem Krieg »in einer wahrhaft seligen Ehe mit einer Tochter aus altem süddeutschem Kaufmannshause, einem geisteslebendigen, pikanten, heitern Geschöpf« gelebt462 – ähnlich glückliche Ehen zwischen dem norddeutschen, pflichtbewussten, rationalen, männlichen Part und dem süddeutschen, lebensfrohen, emotionalen, weiblichen Pendant finden sich in der konservativ geprägten Novellistik bis hin zu Unruhs Tresckow. Bei Kriegsausbruch geht Carmers Frau gleichzeitig mit ihm »als Pflegerin zur Front« und stirbt sechs Wochen später an einer Infektion; »Carmer sah nur noch ihren entstellten Leichnam«.463 Theweleit hat in den Männerphantasien ausgeführt, welche Rolle gerade die Krankenschwester im soldatisch geprägten Bewusstsein spielt, als Inbegriff der ›weißen‹, entsexualisierten Frau.464 Dass sie innerhalb der Novelle namenlos bleibt, macht es noch leichter, Carmers Frau als Typus zu identifizieren. Ein französisches Pendant zu ihr wird gleichfalls vorgeführt, 457 Im Text heißt es explizit und leicht belehrend: »Er entstammte der Familie jenes Freiherrn von

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Carmer, der als Großkanzler König Friedrichs das Preußische Landrecht schuf, das erste moderne Gesetzbuch Europas und also der Erde« (Frank: Politische Novelle, S. 17). Damit streicht Frank zugleich die Traditionslinie heraus, in der er seine fiktive Figur sehen will. Ebd., S. 120. Ebd., S. 129. Ebd., S. 34, 115. Vgl. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 80-85. Frank: Politische Novelle, S. 19f. Ebd., S. 20. Vgl. Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1, S. 89-128.

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in Gestalt von Madame Grandin, der aufopfernden Mutter, die durch den Kriegstod ihres Mannes gezwungen ist, selbst für ihren und ihres Sohnes Lebensunterhalt zu sorgen. Tot oder verwitwet, aufopfernd als Pflegerin oder als Mutter und Kriegerwitwe wird der eine Pol des Weiblichen besetzt; den anderen verkörpern Becky Floyd und die malayisch-afrikanische Prostituierte, in deren Armen Carmer sterben wird – zwischen den Extremen ist keine der wenigen Frauenfiguren des Textes zu verorten. So sind nahezu alle für das dichotome Denken der zwanziger Jahre typischen Oppositionspaare in Figurenrede wie Erzählerkommentar der Politischen Novelle anzutreffen: Geist versus Körper, Nord versus Süd, Deutschland versus Frankreich, europäischer Humanismus versus amerikanische Massenkultur, Provinz versus Großstadt und, mit allen diesen Punkten legiert, Männlichkeit versus Weiblichkeit. Politik ist in der Politischen Novelle die Sache herausragender, männlicher Einzelpersönlichkeiten, genauso wie die Gattung der Novelle spätestens seit Paul Ernst als Kunstform für überdurchschnittliche, männliche Begabungen verstanden wurde. Der Gattungstradition erweist Frank seine Reverenz durch den geringen Textumfang und den regelmäßigen Aufbau (»nicht ohne lächelnde Zahlenfrömmigkeit«465 wird die Handlung in zwölf Kapitel unterteilt); darüber hinaus lässt sich ein ›Falke‹ identifizieren in Gestalt eines Erinnerungsbildes, das Carmer zum Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten werden ließ und das öfter im Text auftaucht: es ist das Bild einer Männerleiche, »an der ein hungriges Schwein fraß«.466 Verdichtende, symbolische Sprechweise prägt in mehr oder weniger geglückter Form den ganzen, einheitlich auf gehobenem Sprachniveau angesiedelten Text; insbesondere an Vorausdeutungen auf Carmers Tod fehlt es nicht, bis hin zur »Brot- und Weinandacht«467, die den letzten Abend mit Dorval zu einem letzten Abendmahl werden lässt. Die Reisestruktur als Grundlage der Handlung und die zentrale Stellung von Gesprächen, in denen Gegensätze konturiert werden468, gehören ebenso zu den häufig als novellentypisch benannten Elementen wie die fatalistische Unaufhaltsamkeit, mit der sich Carmers Untergang vollzieht.469 Die Schilderung seines Todes und der vorausgehenden Begebenheiten erinnern nicht nur an Thomas Manns Tod in Venedig, sondern auch an Wilhelm Schäfers Winckelmanns Ende – die fremdrassige Erotik des Hafenviertels ist als Ort des Verbotenen und Sündigen, des Krankhaften, Zersetzenden und schließlich Tödlichen genauso negativ besetzt wie der homoerotische Impuls bei Mann und in den Winckelmann-Novellen. Damit geht Bruno Franks Politische Novelle fast restlos in der Begriffsreihe auf, die bereits als typisch für die klassizistische Novellenproduktion in Deutschland herausgearbeitet werden konnte: Wie bei Paul Ernst oder Werner Bergengruen, bei Binding 465 466 467 468 469

Mann: ›Politische Novelle‹, S. 698. Frank: Politische Novelle, S. 22, 86. Ebd., S. 141. Vgl. Aust: Novelle, S. 172. Vgl. Freund: Novelle, S. 274.

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oder Strauß, bei Franck oder Schäfer bilden die Pole Novelle – Dichtung – Formbewusstsein – Eindeutigkeit – Haltung – Männlichkeit die Normalmatrix des Gattungsverständnisses, in klarer Opposition zu Erzählung – Literatur – Formlosigkeit – Ambivalenz – Zersetzung – Weiblichkeit. Auch in Bezug auf die Dichotomie Deutschtum/Internationalität nimmt die Politische Novelle in wenig überraschender Weise Stellung – obwohl es sich um einen Text handelt, in dessen Mittelpunkt die Idee der deutsch-französischen Aussöhnung steht. Thomas Mann bezeichnet dieses »groß[e] und brennend[e]« Thema als »persönliche Herzensangelegenheit« Franks, »des schwäbischen Humanisten, dessen geistigste Liebe ›Europa‹ heißt«470; trotzdem zeigt sich bei genauerem Hinsehen, wie sehr die deutsche Perspektive dominiert in dieser Novelle, die keinen deutschen Schauplatz hat. Eine scheinbar marginale Bemerkung in Tucholskys Rezension weist bereits den Weg: Tucholsky, selbst Frankreich-Kenner, wundert sich, wie »ein Mann, der so lange in Frankreich gelebt hat, der Frankreich so gut kennt wie Bruno Frank, etwas so ganz und gar Unfranzösisches hat produzieren können«; es gebe »keinen Franzosen, der einem Deutschen ins Gesicht sagte, wie häßlich die deutsche Sprache sei« (was im Gespräch der Sekretäre vorkommt) und »keine französische Frau […], die sich selber vorstellt« (wie Madame Grandin das tut).471 Das sind Detailbeobachtungen, die symptomatische Bedeutung haben für den ›deutschen‹ Blick in Franks Novelle, dem alles andere untergeordnet wird. In der Politischen Novelle geht es nicht um die Anerkennung von nationaler Verschiedenheit oder gar Multikulturalität472, sondern um die Konstruktion einer homogenen, auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführten europäischen Kultur, die es so nie gegeben hat. Wenn Frank seinem Dorval in den Mund legt: »Es ist ja nicht einzusehen […], daß wir ewig leiden sollen, nur weil die Söhne Karls des Großen sich damals benommen haben wie Dummköpfe«473, zeigt sich zum einen sein auf Persönlichkeiten fixiertes Geschichtsverständnis, zum anderen die Erinnerung an die Art europäischer Einheit, die ihm letztlich vorschwebt. Das ›Heilige römische Reich deutscher Nation‹ signalisiert das staatliche Gebilde, das hier im Hintergrund steht, die Ausstrahlungskraft der griechischen Antike soll ergänzend die kulturelle Einheit verbürgen, wobei hier wiederum an die im Selbstverständnis der deutsch-konservativen Intelligenz weit verbreitete Auffassung zu erinnern ist, nach der die Deutschen das Erbe der Griechen in Philosophie und Dichtung angetreten hätten. Entsprechend zeichnet Frank den Frontverlauf und markiert er die Prioritäten. Die Gespräche, die Carmer und Dorval einerseits und ihre Sekretäre Erlanger und Bloch andererseits im Casino von Cannes führen, enden beide mit dem Bild einer Konfrontation durch das gleiche Ereignis: den Einsatz der Jazzkapelle im Nebenraum. Dorval ist gerade dabei, die Gefahren aufzuzählen, die Europa drohen: 470 Mann: ›Politische Novelle‹, S. 691. 471 Tucholsky: Auf dem Nachttisch, S. 200. 472 Letztere wird mit Blick auf das Bevölkerungsgemisch des Hafenviertels ausdrücklich perhorresziert. 473 Frank: Politische Novelle, S. 113.

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»Seien wir wenigstens einig, wir hundert Millionen. Griechenland war kleiner und schwächer, als damals der Xerxes kam. Freilich – heute kommen sie von Westen mit ihrer Unbekümmertheit und ihrem Gold, sie kommen von Osten als ungeheure Woge kollektivischer Uniformität …« In diesem Augenblick stieß der Wind das angelehnte Fenster völlig auf, der quäkend schrille Aufschrei einer Musik schlug herein, gefolgt von einem negerhaft wilden Stimmenjubel. »Und von dorther«, sagte Dorval und deutete mit dem alten Haupt nach dem Fenster, »von dorther kommen sie auch!«474

In einem anderen Zimmer rezitiert der französische Jude François Bloch zur gleichen Zeit eine Passage aus dem zweiten Faust-Monolog – ein Bekenntnis zur deutschen Sprache und Kultur, das eine Art geistige Einheit zwischen Erlanger und Bloch herstellt; diese wird jedoch sofort von außen provoziert: Die Himmelstöne! Besiegt und beglückt wäre er ihrer Stimme vielleicht lange gefolgt. Aber ein schriller Jubel zerschnitt sie. Es war der dämonenhafte Aufschrei jener Urwaldmusik, es war derselbe Triumph-Ruf der afrikanischen Perser, den man auch oben […] so deutlich vernahm. Herr François Bloch brach ab. Sie blickten sich an.475

Die Jazzkapelle unterbricht sowohl den europäischen Großpolitiker als auch den Faust-Vortrag. In beiden Fällen wird sie mit den Persern assoziiert, deren Abwehr durch die Griechen die Hegemonie abendländischer Kultur begründet hat; die amerikanische Ausgabe der Politischen Novelle brachte diesen Gedanken gleich im Titel The Persians Are Coming (New York 1929) zum Ausdruck – wobei das amerikanische Lesepublikum zunächst nicht davon ausgegangen sein dürfte, dass es hier im metaphorischen Sinn zu den Persern gerechnet wurde. Als Repräsentanten europäischer Hochkultur und Eigenart, wie sie in Deutschland, Frankreich und dem assimilierten Westjudentum kulminiert, sehen sich Carmer, Dorval und ihre Sekretäre im Entscheidungskampf gegen Amerikanismus, Kommunismus, den Ansturm aus den früheren Kolonien und die im Jazz symbolisierte, mit Amerika und Afrika verbündete Massenkultur. Geistesgeschichtlich gesehen spiegelt sich in diesem Frontverlauf Nietzsches in der Geburt der Tragödie getroffene Unterscheidung vom ›apollinischen‹ Griechenland/Europa und vom ›dionysischen‹ Asien, Kategorien, die auch in Thomas Manns Tod in Venedig literarisch fruchtbar gemacht wurden. Doch Dorvals Diagnose vom bedrohten Europa ist so oder ähnlich auch bei vielen konservativen Autoren der zwanziger Jahre zu lesen, zum Beispiel bei Wilhelm Schäfer, der die schicksalhafte Lage des Deutschen Reiches »zwischen Versailles und Moskau«, zwischen der »rote[n] Zwietracht im Osten« und der »goldene[n] Spinne im Westen« beschwört476 – nur einer von vielen denkbaren Belegen dafür, wie weitreichend sich Franks Überzeugungen einerseits mit deutsch-völkischen Positionen, andererseits, 474 Ebd., S. 90f. 475 Ebd., S. 105. 476 Schäfer: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele, S. 404.

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was die resignative Grundstimmung betrifft, auch mit dem Kulturpessimismus etwa eines Oswald Spengler berühren. Damit aber demonstrieren Franks Gefahrenpanorama und das dagegen beschworene Ideal vor allem die Fragwürdigkeit und Brüchigkeit der bürgerlich-konservativen Weltsicht in den zwanziger Jahren: Eine von Elitarismus, Rassismus, Antifeminismus, Provinzialismus, Körperfeindlichkeit und Ressentiments gegen Masse und Massenkultur infiltrierte Anschauung, die sich noch dazu selbst als humanistisch, demokratisch und weltoffen definieren konnte, ohne ihre immanente Widersprüchlichkeit zu erkennen, war alles andere als ein Bollwerk gegen den Nationalsozialismus. So riskant der Gedanke auch sein mag, sei er trotzdem formuliert: Franks Leitvorstellung einer homogenen, vom Völkergemisch des Marseiller Hafenviertels klar abgegrenzten und große Teile der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Realität massiv und wertend ausgrenzenden Gemeinschaft weist strukturelle Analogien auch zu nationalsozialistischen Einheitskonzepten auf, deren extreme, radikale und destruktivste Ausprägung der Holocaust gewesen ist.477

4.2. Thomas Mann (1875-1955) Es gibt gute Gründe dafür, Thomas Mann als ›konservativ‹ zu bezeichnen, und er selbst hat es oft getan. Er war es im politischen Bereich, als Großbürger von Herkunft und Lebensstil, als ›notorischer Villenbesitzer‹ und repräsentierender Hausvater, genauso wie im ästhetischen, als Erbe der realistischen Erzählkunst und Meister des psychologisierenden Romans. Trotzdem ist mit dem Etikett ›konservativ‹ in beiden Fällen wenig gesagt, das Spezifische verfehlt – und es gibt genauso gute Gründe, den ›konservativen‹ Thomas Mann zugleich als »eminent modern denkenden Künstler«478 zu begreifen. Einige Bemerkungen zu Manns politischer Entwicklung sind angebracht, da sich hier Parallelen zum literarisch-künstlerischen Selbstverständnis des Autors auftun. Zentral ist sicher der Wandel in seinen politischen Anschauungen während der zwanziger Jahre, nachdem die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) noch durchweg als Manifest eines rückwärtsgewandten, antidemokratischen Konservatismus gelesen wurden.479 Dieser Wandel ist in der Rede Von deutscher Republik (1922) keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil: Wie in den Betrachtungen formuliert Mann auch hier das 477 Vgl. dazu Klaus Vondungs Charakterisierung des Holocaust als »Extremfall des Versuchs, Einheit

und Homogenität mit Gewalt herzustellen«. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 127. 478 Lohmeier: Was ist eigentlich modern?, S. 13. 479 Die Betrachtungen eines Unpolitischen bleiben das am kontroversesten diskutierte Buch Thomas Manns: Besonders scharf fällt z.B. die Kritik von Klaus Harpprecht aus (Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 410-431), moderater und ausgewogener urteilt z.B. Dieter Borchmeyer: Politische Betrachtungen eines angeblich Unpolitischen. Thomas Mann, Edmund Burke und die Tradition des Konservatismus. In: Thomas Mann Jahrbuch 10 (1997), S. 83-104.

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Ideal einer deutschen Kulturgemeinschaft; neu ist lediglich, dass er nun die Republik, nicht mehr das Kaiserreich als geeignete Staatsform zur Verwirklichung dieser Idee ansieht. Schon zeitgenössischen Hörern fiel allerdings auf, dass die von Mann imaginierte Republik wenig gemeinsam hatte mit der real existierenden »Demokratie von Berlin W«.480 Er versucht, republikanische Identität nicht über die Traditionen der Aufklärung und der westlichen Demokratie, sondern vor allem über die der deutschen Romantik zu definieren, und dabei Novalis, nicht etwa Heinrich Heine als geistigen Bezugspunkt im 19. Jahrhundert festzuschreiben.481 Demokratie könne »Niveau haben, sogar das Niveau der deutschen Romantik«482, lautet eine zentrale Botschaft. Mann setzt auf eine »Einheit von Staat und Kultur«, die im Nebeneinander einer bieder-braven Staatsverwaltung – »Vater Ebert« in »seinem schwarzen Röcklein« wird genannt – und einer homosozial strukturierten, elitären »Bruderschaft« des Geistes eingelöst werden soll.483 Zur Begründung der letzteren beruft er sich ausdrücklich auf die »soziale Erotik« unter Männern, auf ein »erotischpolitisches Pathos«, das er in der griechischen Demokratie ebenso wiederzufinden glaubt wie im »erotisch-allumarmende[n] Demokratismus« eines Walt Whitman.484 Die Rede Von deutscher Republik, von vielen Zeitgenossen als Bruch mit den Betrachtungen verstanden, markiert damit nur eine frühe Station in Manns politischem Bewusstseinswandel und steht in vielfältiger Wechselbeziehung zu konservativen Gesellschaftskonzepten der zwanziger Jahre.485 Doch schon ab 1923 werden aufklärerische Traditionen in Thomas Manns essayistischem Werk zunehmend aufgewertet, bis die berühmte Deutsche Ansprache (1930) sich schon im Untertitel als Appell an die Vernunft bezeichnet und damit auf die zentrale Instanz der Aufklärung Bezug nimmt. 1932 schließlich weist Mann den früher von ihm selbst ins Feld geführten »kulturellen Ideenkomplex von Volk und Gemeinschaft […] als bloße Romantik«486 zurück. Als »konservativer Progressist«487 kann Thomas Mann die Widersprüche 480 Vgl. z.B. Friedrich Hussong: Saulus Mann. In: Der Tag, 15.10.1922. Jetzt in: Thomas Mann im

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Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891-1955. Hg. mit einem Nachwort und Erläuterungen v. Klaus Schröter. Frankfurt/M. 22000 (= Thomas-Mann-Studien, 22), S. 99-102, hier S. 102. Vgl. zu Manns Novalis-Rezeption in diesem Zusammenhang Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das ›politische‹ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983, S. 36-40. Thomas Mann: Von deutscher Republik. In: Ders.: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 2. Frankfurt/M. 1993, S. 126-166, hier S. 150. Ebd., S. 162, 141, 155. Ebd., S. 161, 158. – Vgl. speziell zu diesem Aspekt auch Hans Wisskirchen: Republikanischer Eros. Zu Walt Whitmans und Hans Blühers Rolle in der politischen Publizistik Thomas Manns. In: »Heimsuchung und süßes Gift«. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Hg. v. Gerhard Härle. Frankfurt/M. 1992, S. 17-40. Vgl. auch das Kapitel bei Widdig: Männerbünde und Massen, S. 55-72. Thomas Mann: Kultur und Sozialismus. In: Ders.: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 3. Frankfurt/M. 1994, S. 53-63, hier S. 61. Daniel Argelès: Thomas Manns Einstellung zur Demokratie. Der Fall eines ›progressiven Konservativen‹. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 221-231, hier S. 229.

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zwischen kulturellem Aristokratismus, aufklärerischer Tradition und sozialistischem Engagement zumindest so weit versöhnen, dass sich eine Art ›dritter Weg‹ des deutschen Konservatismus herauskristallisiert – zwischen dem ›alten‹ Konservatismus des Kaiserreichs und dem aktuellen der konservativen Revolution mit ihren Hoffnungen auf eine neue Volksgemeinschaft. In Bezug auf das literarische Werk ergibt sich ein ähnlicher Befund: Auch hier findet Thomas Mann einen ›dritten Weg‹ zwischen ästhetischem Traditionalismus und avantgardistischer Neuorientierung. Was er über Henrik Ibsen und Richard Wagner ausgesagt hat, passt genauso auf sein eigenes Œuvre: »beide sind sie schöpferisch in dem perfektionierend-übersteigernden Sinn, daß sie aus dem Gegebenen das neue und Ungeahnte entwickeln«488; zu Recht ist Thomas Mann häufig als »Brückenbauer und Vermittler«489 zwischen bürgerlicher Vorkriegskultur und ästhetischer Moderne gewürdigt worden. Ein zentrales Mittel, über das Thomas Mann seine spezifische Form von ›Modernität‹ entwickelt, ist das vielbesprochene Prinzip der Ironie. In ihrer »Mittel- und Mittlerstellung zwischen Geist und Leben« ist die Ironie ein zentrales »künstlerisches Element«; dass sie »immer Ironie nach beiden Seiten hin« ist, sich ebenso gegen das ›Leben‹ wie gegen den ›Geist‹ richtet, »nimmt ihr die große Gebärde, dies gibt ihr Melancholie und Bescheidenheit«.490 Über seine ironische Grundhaltung sichert sich Thomas Mann zumindest für den Bereich der Kunstproduktion einen geistigen Spielraum, der so vielen anderen fehlt und der zugleich deutlich macht, dass Thomas Manns Aussage »Der Ironiker ist konservativ«491 nur bedingt zutrifft: Denn Ironie, verstanden als ›Schweben‹ über den Gegensätzen, als Redeweise, die eine Position und ihr Gegenteil zum Ausdruck bringen kann, ist eine Form der Kontingenztoleranz. Bei fast allen seinen ›konservativen‹ Zeitgenossen ist die dichotomische Denkstruktur zu dualistischen Weltbildern geronnen – bei Thomas Mann jedoch konnte das ironische Sprechen verhindern, dass Polaritäten zu Dualismen wurden. Wie sehr er das zeittypische dichotomische Denken des frühen 20. Jahrhunderts adaptiert hat, zeigt allerdings schon die Tatsache, dass sich viele seiner Texte aus Oppositionen konstituieren; »die Darstellung des Gegensätzlichen« wurde sogar als »das entscheidende Strukturmerkmal« seiner Romane und Erzählungen benannt.492 Es genügt in diesem Zusammenhang, etwa an Tonio Kröger und den Tod in Venedig zu erinnern, wo sich an die Leitdifferenzen Künstlertum/Bürgertum bzw. Appolli488 Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. In: Ders.: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke

und Stephan Stachorski. Bd. 4. Frankfurt/M. 1995, S. 11-72, hier S. 16. 489 Walter Jens: Der sprachgewaltigste Enzyklopädist. In: Was halten Sie von Thomas Mann? Achtzehn

Autoren antworten. Hg. und mit einem Vorwort versehen v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 21986, S. 37-40, hier S. 40. 490 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Ders.: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt/M. 21974 (= Gesammelte Werke, 12), S. 7-589, hier S. 572f. 491 Ebd., S. 568. 492 Helmut Koopmann: Thomas Mann. Theorie und Praxis der epischen Ironie. In: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hg. u. eingel. v. Reinhold Grimm. Frankfurt/M., Bonn 1968, S. 274-296, hier S. 287.

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nisch/Dionysisch eine Fülle weiterer Gegensätzlichkeiten anlagert.493 Entscheidend ist dabei jedoch, dass der Ironiker Mann die Oppositionspaare in der Schwebe hält. Anders als bei Binding, Strauß, Franck oder Schäfer nehmen seine literarischen Texte nicht einseitig Partei, sondern greifen die diskursprägenden Dichotomien auf, um sie zugleich zu unterlaufen. Die Goethe-Nachfolge, mit der er zeitlebens kokettiert hat, scheint hier insofern gelungen, als Mann mit seinen spezifischen Mitteln an Goethes Polaritätsphilosophie anknüpfen kann. Wie in Goethes Leitvorstellung von ›Systole‹ und ›Diastole‹ bleiben Polaritäten wie ›Künstlertum‹ und ›Bürgertum‹ oder das ›Dionysische‹ und das ›Apollinische‹ aufeinander angewiesen: Über die ironische Brechung kann eine sich selbst relativierende Form von ›Ganzheitlichkeit‹ realisiert werden, die in der kontingenten Welt der Moderne ansonsten nicht mehr zu haben ist. So gelingt es Thomas Mann etwa, mit dem Tod in Venedig einen ›klassizistischen‹ Text zu schreiben, der nicht in einem klassizistischen Kunstbegriff aufgeht: indem das Schreiben und der Schriftsteller selbst zum Gegenstand werden, in apollinisch-beherrschter Form das Scheitern des apollinischen Künstlers Aschenbach zelebriert wird, stellt der Text sich selbst infrage und eröffnet einen weitreichenden Reflexionsprozess; die Notwendigkeit einer ›neuen Klassizität‹494 wird zugleich mit dem Eingeständnis ihrer Unmöglichkeit gestaltet. Vergleicht man Thomas Manns Umgang mit dichotomen Denkfiguren im essayistischen und im episch-fiktionalen Bereich, zeigt sich zudem rasch, wie sehr die ironisch-relativierende Behandlung ein eminentes Spezifikum des ästhetischen, des künstlerischen Schreibens ist.495 Wo der Sachtext nach Stellungnahme und Entscheidung zu verlangen scheint, hält das Kunstwerk das Nebeneinander gegensätzlicher Standpunkte nicht nur aus, sondern gewinnt dadurch sogar. Die andauernde Wirkung Thomas Manns geht zu einem erheblichen Teil auf ein ironisches Erzählkonzept zurück, das in seinen Konsequenzen sogar vielfältiger ist, als es Manns Selbstdeutungen des Phänomens vermuten lassen.496 493 Die tabellarische Form, in der z.B. Kurzke diese Gegensätze einander gegenüberstellt, macht das

Phänomen besonders anschaulich. Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1985, S. 99 (zu Tonio Kröger) und 124 (zu Tod in Venedig). 494 Vgl. dazu Vaget: Thomas Mann und die Neuklassik, bes. S. 442f. 495 Als Beispiel sei der Vorstellungskomplex der ›Nationalcharaktere‹ und ›nationalen Identitäten‹ genannt, der sowohl in den Betrachtungen eines Unpolitischen als auch im Zauberberg eine Rolle spielt. Jürgen Link hat gezeigt, wie die Betrachtungen eine Fülle von Binäroppositionen entwerfen (etwa ›deutscher‹ versus ›französischer Charakter‹, ›Kultur‹ versus ›Zivilisation‹, ›Seele‹ versus ›Gesellschaft‹, ›Dichtung‹ versus ›Literatur‹, ›Männlichkeit‹ versus ›Weiblichkeit‹), die im Zauberberg ausnahmslos destruiert werden: »Alle fixen ›Charakter‹-Zuschreibungen erweisen sich in diesem Roman […] als haltlos«, das Lungensanatorium steht für eine nationalitäten- und geschlechterübergreifende Dekadenz, angebliche ›nationale Eigentümlichkeiten‹ kreuzen sich bei allen Figuren, in Clawdia Chauchat mischen sich nicht nur ›russische‹ und ›französische‹ Elemente, sondern auch heterosexuelles und homosexuelles Begehren; übrig bleiben Transnationalität, Transsexualität und Transsubjektivität. Vgl. Jürgen Link: ›Arbeit‹ oder ›Leben‹? Das Drama der ›Nationalcharaktere‹ und der Bruderzwist im Hause Mann. In: Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 129-144, hier S. 141. 496 Vgl. zur Relativierung von Manns Selbstdefinitionen Kurzke: Thomas Mann, S. 165-170.

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Das Bestreben, Gegensätze auszubalancieren, ist auch auf formaler Ebene von Bedeutung. Da die Begriffe ›Novelle‹/›Erzählung‹ im zeitgenössischen Bewusstsein des frühen 20. Jahrhunderts als binäres Oppositionspaar verstanden wurden, verfährt Mann mit ihnen genauso wie mit allen übrigen Dichotomien. Deshalb ist es erstaunlich, dass ausgerechnet Helmut Koopmann, der Manns relativierenden Umgang mit Gegensätzen auf anderen Ebenen so überzeugend herausgearbeitet hat, zu dem Schluss kommt, der Autor verbinde mit dem Gattungsbegriff ›Novelle‹ nur vage Vorstellungen497 – wenn Thomas Mann etwa den Künstler/Bürger-Gegensatz ausbalanciert, heißt das ja auch nicht, dass er sich über die Einzelphänomene im Unklaren wäre. Und lässt es auf ›vage‹ Vorstellungen schließen, wenn die Erzählerfigur schon in einem der frühesten Werke Thomas Manns, Gefallen von 1894, die Binnengeschichte einleitet mit dem Satz: »Ja, ich will euch die Geschichte gern einmal erzählen, […] gleich fix und fertig in Novellenform. Ihr wißt ja, daß ich mich einmal mit dergleichen beschäftigt habe«498? Zutreffend ist allerdings, dass Thomas Mann keine poetologischen Reflexionen über die Novellenform hinterlassen hat; außerdem veröffentlichte er den gleichen Text mal mit, mal ohne die Klassifizierung als ›Novelle‹. Die scheinbare Laxheit gegenüber der Gattungsfrage erklärt sich jedoch aus dem gleichen Umstand, der andere Autoren bewog, entschlossen an der Bezeichnung ›Novelle‹ festzuhalten: Ihnen bot die zunehmende konservative Aufladung des Novellenbegriffs eine willkommene Möglichkeit, entsprechende Intentionen ihres Textes über die äußere Kennzeichnung zu unterstreichen; für Thomas Mann hingegen erwuchs aus diesem Phänomen eher die Gefahr, einer falschen Eindeutigkeit Vorschub zu leisten, die er mit seinen Texten keineswegs anstrebte. So ist es kein Zufall, wenn Mann seit den mittleren zwanziger Jahren zunehmend vorsichtig mit dem Novellenbegriff umgeht, zumindest, was seine offizielle Verwendung als Paratext angeht: Im Rahmen der ersten Gesamtausgabe erscheint 1922 noch ein Band Novellen, der damit die Klassifizierung der frühen Prosasammlungen – etwa Der kleine Herr Friedemann. Novellen (1898), Tristan. Sechs Novellen (1903) und Das Wunderkind. Novellen (1914) – übernimmt; im erweiterten Pendant im Rahmen der Stockholmer Gesamtausgabe firmieren die Texte als Erzählungen.499 Über die gesamte Schaffenszeit Thomas Manns hinweg bestätigt sich, dass ›Novelle‹ vor allem für die frühen Werke, ›Erzählung‹ eher für die späteren Verwendung findet; was die Gewichtung betrifft, muss allerdings berücksichtigt werden, dass von den über 30 kürzeren Prosawerken Thomas Manns fast fünf Sechstel vor dem ersten Weltkrieg erschienen sind, also zum Frühwerk gehören, dessen Ende üblicherweise mit Manns berühmtester Novelle, dem Tod in Venedig, angesetzt wird. 497 Vgl. Helmut Koopmann: Ein grandioser Untergang. Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1912). In:

Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 221-235, bes. S. 221-224. 498 Thomas Mann: Gefallen. In: Ders.: Frühe Erzählungen. Hg. v. Terence J. Reed unter Mitarbeit v. Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004 (= GKFA, 2), S. 14-49, hier S. 17. 499 Vgl. Thomas Mann: Ausgewählte Erzählungen. Stockholm 1945 (= Stockholmer Gesamtausgabe, 11).

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Festzuhalten bleibt, dass Thomas Mann die explizite Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ nicht als unverzichtbaren Paratext behandelt hat, der in allen Folgeauflagen beizubehalten wäre. Damit ist allerdings keine konsequente Abwendung vom Novellen-Begriff verbunden: Die Tilgung der expliziten Gattungsbezeichnung anlässlich einer Neuauflage schließt nicht aus, dass Thomas Mann den entsprechenden Text in Briefen und Selbstkommentaren weiterhin als ›Novelle‹ bezeichnet. Insofern ist davon auszugehen, dass das nachträgliche Streichen der Gattungsbezeichnung den literarischen Kommunikationsprozess auf struktureller Ebene nicht aufhebt, sondern ihn allenfalls auf eine weniger offensichtliche Ebene überführt. Strukturelle Merkmale, die im frühen 20. Jahrhundert als ›novellentypisch‹ betrachtet wurden, haben die Komposition der Mannschen ›Novellen‹ nachweislich beeinflusst. Bei einem Autor, der sich so bewusst mit der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat wie Thomas Mann, wäre es auch kaum nachvollziehbar, wenn er ausgerechnet beim Schreiben von Novellen ignorieren würde, was bewunderte Vorgänger wie Keller, Meyer, Stifter oder Storm zur deutschen Novellentradition beigetragen haben. Das heißt zum einen, dass Thomas Mann in Texten, die er im Erstdruck als ›Novellen‹ bezeichnet hat, sowohl affirmierend als auch variierend und erneuernd auf die Tradition Bezug nimmt; zum anderen, dass viele dieser Texte das künftige Novellenverständnis beeinflusst und mitgeprägt haben. Wenn die Nachwirkungen Thomas Manns bei späteren Autoren lange Zeit gering veranschlagt wurden500, ist das gerade für den Bereich der Novellenproduktion klar zu widerlegen: So wie Martin Walsers Ein fliehendes Pferd mehr als nur subkutane Bezüge zu Tonio Kröger aufweist501, wären etwa Dieter Wellershoffs Die Sirene oder Michael Schneiders Das Spiegelkabinett undenkbar ohne die jeweiligen Vorbilder von Tod in Venedig und Mario und der Zauberer. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Urteile über Manns Verhältnis zur Novellenform wie zur Form überhaupt oft extrem ausgefallen sind: So heben die konservativen Weggenossen der zwanziger Jahre ein Moment der ›Formstrenge‹ hervor, das den eigenen ästhetischen Idealen entspricht. Aus Anlass seines 50. Geburtstags etwa wird Thomas Mann von Rudolf G. Binding als überlegener »Walter und Wahrer« der Tradition gepriesen, für Hans Franck ist er ein »Alles-Könner«, der immer »weiß, worauf es ankommt«, Wilhelm Schäfer spekuliert über Manns »Herzenssicherheit« und Frank Thiess, der spätere Widersacher im Streit um die ›Innere Emigration‹, widmet dem Jubilar ein fürs Konservativ-Traditionalistische vereinnahmendes Gedicht: »In eines Säkulums Gedränge/wo jede Zucht verbannt, verbrannt,/hast du mit überlegner Strenge/dich zum Gesetz der Form bekannt.«502 500 Vgl. z.B. Peter Pütz: Thomas Manns Wirkung auf die deutsche Literatur der Gegenwart. In: Text

und Kritik. Sonderband Thomas Mann. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1978, S. 135-145. 501 Vgl. Manfred Dierks: »Nur durch Zustimmung kommst du weg.« Martin Walsers Ironie-Konzept

und Ein fliehendes Pferd. In: literatur für leser 1984, S. 44-53.

502 Alle Zitate stammen aus den offiziellen Glückwünschen zum 50. Geburtstag, die das Berliner Tage-

blatt am 31. Mai und 7. Juni 1925 veröffentlicht hat. Jetzt in: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 121-129, hier S. 122 (Binding), 124f. (Schäfer), 126 (Thiess), 128f. (Franck). – Bindings Glück-

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Auf der anderen Seite gibt es bis in die ältere Forschung hinein immer wieder Stimmen, die Thomas Mann keineswegs als »Walter und Wahrer« künstlerischer Tradition betrachten, sondern ihn geradezu für den ›Verfall‹ der Novellenform verantwortlich machen wollen; hier wäre nicht nur ein Adolf von Grolman503 zu nennen, sondern etwa auch der britische Germanist E.K. Bennett, dessen 1934 erschienene Novellengeschichte in Thomas Manns Gattungsbeiträgen nur eine dekadente Schwundform erkennen kann, »which exhausts the last possibilities of which the genre ist capable«.504 Noch Johannes Klein tut sich schwer mit dem Kapitel Thomas Mann als Novellist und verwendet in diesem Zusammenhang überwiegend Vokabeln, die in Bezug auf die Gattungszugehörigkeit ein Defizienzverhältnis suggerieren: »Dekadenznovelle«, »lyrische Novelle«, »Schwundnovelle«.505 Hier zeigt sich allerdings kaum mehr als die charakteristische Unfähigkeit normativ orientierter Novellenkonzepte, historische Veränderungen des Gattungsprofils positiv einzubinden. Die praktische Bedeutung des Novellenbegriffs für Thomas Mann soll im Folgenden am Beispiel von Mario und der Zauberer illustriert werden; die Wahl fällt auch deshalb auf diesen Text, weil sich aufschlussreiche Bezüge zu Bruno Franks Politischer Novelle ergeben. Die explizite Kennzeichnung als ›Novelle‹ findet sich nur im Erstdruck: Velhagen & Klasings Monatshefte veröffentlichten Mario und der Zauberer im April 1930 mit dem Untertitel Tragisches Reiseerlebnis. Novelle. Schon der Publikationsort – eines der beliebten Magazine des deutschen Bildungsbürgertums – verbindet den Text mit der Novellentradition des 19. Jahrhunderts. Die erste Buchausgabe, noch im gleichen Jahr 1930 bei S. Fischer in Berlin herausgekommen, trägt den Titel Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis und verzichtet auf den Zusatz Novelle. Trotzdem taucht der Begriff sowohl in den Rezensionen als auch in Thomas Manns Selbstkommentaren immer wieder auf. Eine der substanzreichsten Auskünfte des Autors reflektiert zum einen den authentischen Hintergrund des Textes – in den zahlreiche Erinnerungen an zwei Ferienwochen im toskanischen Forte dei Marmi bei Viareggio eingeflossen sind – und verwendet zum anderen den Novellenbegriff an markanter Stelle: Der »Zauberkünstler« war da und benahm sich genau, wie ich es geschildert habe. Erfunden ist nur der letale Ausgang: In Wirklichkeit lief Mario nach dem Kuß in komischer Beschämung weg und war am nächsten Tage, als er uns wieder den Tee servierte, höchst vergnügt und voll sachlicher Anerkennung für die Arbeit »Cipolla’s«. Es ging eben im Leben weniger leidenschaftlich zu, als nachher bei mir. Mario liebte nicht wirklich, und der wunsch ist dabei der vorbehaltloseste und pathetischste, Schäfers der skeptischste: Schäfer spürt sehr wohl, dass der Zauberberg letztlich nicht dem eigenen Streben nach (geistiger) ›Gesundheit‹ und ›Eindeutigkeit‹ entspricht und lässt diese Irritation auch in den Glückwunsch einfließen. 503 Vgl. etwa Grolmans Kritik an »Th. Mann, der seinen Tod in Venedig eine Novelle nennt, was fast jedermann ihm nachspricht, wiewohl es sich um einen ganz normal gebauten, kleinen Roman handelt« (Grolman: Die strenge »Novellen«form, S. 165f.). 504 K.E. Bennett: A History of the German Novelle. From Goethe to Thomas Mann. Cambridge 21949, S. 248. 505 Vgl. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 446, 449, 452. – Den Tod in Venedig allerdings rechnet Klein zu den »wichtigsten Novellen seit Kleist« (ebd., S. 453).

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streitbare Junge im Parterre war nicht sein glücklicher Nebenbuhler. Die Schüsse aber sind nicht einmal meine Erfindung: Als ich von dem Abend hier [in München] erzählte, sagte meine älteste Tochter [Erika]: »Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen hätte.« Erst von diesem Augenblick war das Erlebte eine Novelle […].506

Der Novellentext, den Thomas Mann gut drei Jahre nach den authentischen Vorgängen vorlegt, ist also einerseits Reflex eines tatsächlichen Ereignisses, andererseits auch der in Literatur überführte mündliche Erzählvorgang aus dem geselligen Familienkreis. Die fixierte ›Novelle‹ ist insofern schon ein Metatext, als sie sich der Interaktion zwischen Erzähler und Publikum – im speziellen Fall: zwischen Thomas und Erika Mann – verdankt, deren Ergebnis dem fertigen Text eingeschrieben ist. Erikas Äußerung markiert einen zentralen ›Augenblick‹; dass Thomas Mann hier einen Begriff verwendet, der über seine spezifische Akzentuierung bei Robert Musil ebenfalls in Beziehung zur Novellentradition steht, muss bereits hellhörig machen. Der ›Augenblick‹ ist der Moment der Inspiration, in dem aus dem ›Erlebten‹ eine ›Novelle‹ erwächst, und der im Rahmen dieser Selbstäußerung in gewisser Weise die ›unerhörte Begebenheit‹ repräsentiert, zu deren Erfindung und Ausarbeitung er geführt hat. Im fertigen Text ist es vor allem der durch direkte Leseransprache und fragende Selbstreflexion rudimentär angelegte Rahmen, der die Vorstellung mündlichen Erzählens suggeriert. Thomas Mann hat nachdrücklich betont, die Geschichte sei »gesprochen, ganz natürlich«507; freilich handelt es sich um eine sehr reflektierte und kalkulierte Form ›natürlichen‹ Sprechens. Dieser Erzählstil verweist ebenso deutlich auf die europäische Novellentradition wie die Benennung der Protagonisten schon im Titel, die Betonung des Erlebnishaft-Authentischen (sowohl im Untertitel als auch im Haupttext508), die dramatische Spannungssteigerung, das im Text angesprochene Ideal des ›bel parlare‹509, der toskanische Schauplatz und, in engem Zusammenhang mit den beiden letztgenannten Punkten, die Tatsache, dass der Name ›Cipolla‹ auch in einer Novelle des Decamerone auftaucht.510 Damit ist offensichtlich, dass die Struktur von Mario und der Zauberer in vielfältiger Weise durch üblicherweise als novellentypisch benannte Elemente bestimmt wird, der Novellenbegriff mit all den Assoziationen, die er auslöst, also keine äußerliche oder austauschbare Bezeichnung, sondern eine die Textkonstitution mitbestimmende Leitvorstellung markiert.511 506 Thomas Mann an Otto Hoerth, 12.6.1930. In: Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. Hg. v.

Hans Wysling unter Mitarbeit v. Marianne Fischer. Bd. 2. München 1979, S. 367f., hier S. 368.

507 Thomas Mann an Julius Bab, 12.5.1930. In: Ebd., S. 367. 508 So wird die Zaubervorführung beispielsweise als

»Sammelpunkt aller Merkwürdigkeit, Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit« bezeichnet – eine klare Bezugnahme auf die Punktualität der Novellenanlage, die Konzentration auf ein zentrales, ›merkwürdiges‹ Ereignis. Vgl. Thomas Mann: Mario und der Zauberer. In: Ders.: Erzählungen. Frankfurt/M. 21974 (= Gesammelte Werke, 8), S. 658-711, hier S. 695. 509 Vgl. ebd., S. 679. 510 Vgl. die zehnte Novelle des sechsten Tages, die vom gerissenen Bruder Cipolla handelt, s. dazu Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984, S. 247 (mit Literaturverweisen). 511 Die spezifisch novellistischen Eigenschaften von Mario und der Zauberer stellt besonders nachdrück-

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Die zahlreichen Interpretationen zu Mario und der Zauberer jedoch stellen in der Regel nicht gattungstypologische Gesichtspunkte, sondern Fragen des politischen Gehalts in den Mittelpunkt.512 Über den Verweis auf Bruno Franks Politische Novelle, mit der sich Thomas Mann so eingehend beschäftigt hat, lässt sich dieser Interpretationsaspekt stärker als bisher geschehen an die Gattungsdiskussion heranführen. Das Erscheinen der Politischen Novelle 1928 liegt zwischen den in Mario und der Zauberer verwendeten autobiographischen Erlebnissen – der Urlaub in Forte dei Marmi fand zwischen dem 31. August und dem 13. September 1926 statt – und der literarischen Ausarbeitung, die Thomas Mann erst im Sommer 1929 vornahm. Obwohl entsprechende Äußerungen sowohl Manns als auch Franks fehlen, liegt es nahe, dass Thomas Mann mit Mario und der Zauberer seine Vorstellungen einer ›politischen Novelle‹ realisiert hat, zumal bestimmte Handlungsstationen analog zu Franks Text konstruiert scheinen – von der lastenden Schwüle, die die Geschehnisse grundiert, bis zur zentralen Rolle, die einer (semi-)künstlerischen Darbietung zugemessen wird. Im Gegensatz zu Frank allerdings privilegiert Mann die politische Deutung seines Textes nicht schon durch die programmatische Benennung – er verfährt diskreter und optiert damit zugleich für die Polyvalenz des literarischen Kunstwerks. Dabei ist schon in den zeitgenössischen Rezensionen der Deutungsrahmen abgesteckt, der in der späteren literaturwissenschaftlichen Diskussion zwar beachtlich ausdifferenziert, aber kaum grundsätzlich erweitert wurde: Bereits 1930 findet sich neben autobiographisch und geistesgeschichtlich orientierten Lesarten auch die politische Interpretation, und das keineswegs so vereinzelt, wie es die Forschung bis in die siebziger Jahre hinein behauptet hat.513 lich heraus: Henry H.H. Remak: Thomas Mann als Novellist. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag. Hg. v. Paul Michael Lützeler in Verbindung mit Herbert Lehnert und Gerhild S. Williams. Frankfurt/M. 1987, S. 103-122. 512 Vgl. Hartmut Böhme: Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Position des Erzählers und Psychologie der Herrschaft. In: Orbis Litterarum 30 (1975), S. 286-316; Egon Schwarz: Fascism and Society: Remarks on Thomas Mann’s Novella Mario and the Magician. In: Michigan Germanic Studies 2 (1976), S. 166-189; Wolfgang Freese: Thomas Mann und sein Leser. Zum Verhältnis von Antifaschismus und Leseerwartung in Mario und der Zauberer. In: DVjs 51 (1977), S. 659-675; Manfred Dierks: Die Aktualität der positivistischen Methode – am Beispiel Thomas Manns. In: Orbis Litterarum 33 (1978), S. 158-182; Gert Sautermeister: Thomas Mann: Mario und der Zauberer. München 1981; Klaus Müller-Salget: Der Tod in Torre di Venere. Spiegelung und Deutung des italienischen Fascismus in Thomas Manns Mario und der Zauberer. In: Arcadia 18 (1983), S. 50-65; Friederike Eigler: Die ästhetische Inszenierung von Macht: Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer. In: Heinrich Mann- Jahrbuch 2 (1984), S. 172-183; Bernd Widdig: Thomas Manns Mario und der Zauberer aus massenpsychologischer Sicht. In: Ders.: Männerbünde und Massen, S. 128-143; Helmut Koopmann: Führerwille und Massenstimmung: Mario und der Zauberer. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Hg. v. Volkmar Hansen. Stuttgart 1993, S. 151-185, sowie die beiden Arbeiten von Regine Zeller: Gustave Le Bon, Sigmund Freud und Thomas Mann. Massenpsychologie in Mario und der Zauberer. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 (2004), S. 129150; Cipolla und die Masse. Zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer. St. Ingbert 2006 (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, 40). 513 Vgl. dazu Vaget: Thomas Mann – Kommentar, S. 246-248.

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Gestützt auf eine breite Quellenbasis konnte Hans Rudolf Vaget die Legende einer unpolitischen Frührezeption des Mario entschieden widerlegen514; renommierte Rezensenten wie Julius Bab, Ernst Weiß, Hans Natonek und Stefan Großmann haben die faschismuskritische Intention sofort registriert und Cipolla als »Übermussolini«515 gesehen. Julius Bab vermerkte, dass Mussolini, verstünde er etwas von Kunst, »diese Novelle in Italien verbieten lassen« müsste, und Thomas Mann gratulierte ihm postwendend zu dieser Deutung.516 Schwieriger ist freilich die Frage zu beantworten, ob die Bezugnahme auf den italienischen Faschismus zugleich als Warnung an das deutsche Lesepublikum zu verstehen ist, entsprechenden Entwicklungen im eigenen Land vorzubeugen; die Deutsche Ansprache, in der sich Thomas Manns kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, stammt zwar ebenfalls von 1930, doch zwischen der Veröffentlichung des Mario und der am 17. Oktober 1930 gehaltenen Rede liegen die Septemberwahlen, bei denen die Nationalsozialisten ihren ersten Massenerfolg verbuchen konnten und in einer neuen Art und Weise als Bedrohung der Republik wahrnehmbar wurden. Thomas Mann selbst hat die politischen Implikationen seiner Novelle in den frühen Selbstkommentaren eher heruntergespielt, in den späteren zunehmend aufgewertet; in einem Brief an Henry Hatfield von 1947 beispielsweise heißt es zwar, er habe beim Schreiben des Textes nicht geglaubt, »daß Cipolla in Deutschland möglich sei«; andererseits interpretiert er seine Novelle als »erste Kampfhandlung gegen das, was damals schon die europäische Gesamtatmosphäre erfüllte«.517 Dass die politische Dimension, gerade auch im Hinblick auf den historischen Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung, das Spezifikum dieser Novelle darstellt und bis heute besonders fasziniert, entzieht ›unpolitischen‹ Deutungen nicht zwangsläufig die Legitimation. Eine knappe Rezension in der Vossischen Zeitung etwa belegt zum einen, wie sehr Thomas Manns Texte von vielen Zeitgenossen biographisch gelesen wurden518, zum anderen ordnet sie den Zauberer in eine literarische Tradition ein: »Mit Cipolla betritt nun der leibhaftige Dapertutto die Bühne«.519 Diese Beobachtungen werden nicht falsch dadurch, dass der Interpret keinen Bezug zum italienischen Faschismus (geschweige denn zur deutschen Situation von 1930) herstellt: Selbstverständlich enthält der Text auch autobiographische Elemente, und die anhaltende 514 Vgl. die ebenso breite wie spannende rezeptionsgeschichtliche Darstellung in: Ebd., S. 229-246; vgl.

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auch den einige Jahre älteren Aufsatz von Dieter Wuckel: Mario und der Zauberer in der zeitgenössischen Presseresonanz. In: Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog. Hg. v. Helmut Brandt und Hans Kaufmann. Berlin, Weimar 1978, S. 346-356. Ernst Weiß: Mario und der Zauberer. Der neue Thomas Mann. In: Berliner Börsen-Courier, 6.5.1930. Zit. n. Vaget: Thomas Mann – Kommentar, S. 232. Vgl. Thomas Mann an Julius Bab, 12.5.1930. In: Dichter über ihre Dichtungen, S. 367. Thomas Mann an Henry Hatfield, 20.4.1947. In: Ebd., S. 372. U.a. heißt es in der anonymen Rezension: »Familie Thomas Mann, auf zwei Paare zusammengeschrumpft, nämlich auf die Eltern und die beiden jüngsten Kinder, will sich im italienischen Seebade Forte dei Marmi erfrischen (im Buche Torre die [!] Venere genannt)«. Vgl. M.J.: »Mario und der Zauberer«. Eine neue Erzählung Thomas Manns. In: Vossische Zeitung, 7.5.1930. Ebd.

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Attraktivität biographisch orientierter Interpretationsmuster wird ja gerade durch die Thomas-Mann-Forschung (insbesondere seit der posthumen Veröffentlichung der Tagebücher) immer wieder bestätigt520; genauso ist Cipolla eben auch ein »type hoffmannesque«521, wie es analog zur Vossischen Zeitung in einer französischen Rezension heißt, eine Künstlerfigur mit allen problematischen Zügen, die Thomas Manns durch Schopenhauer und Nietzsche beeinflusste Selbstreflexion dem Künstler verliehen hat.522 Diese Mehrdimensionalität unterscheidet das literarische Kunstwerk von der unmittelbaren politischen Stellungnahme; ausschlaggebend für die qualitative Überlegenheit von Mario und der Zauberer gegenüber Franks Politischer Novelle ist aber keineswegs, dass Manns Text weniger explizit zu einer ›politischen‹ Lesart nötigt, als die Tatsache, dass gerade dadurch auch die politische Sphäre differenzierter und aussagekräftiger getroffen wird. Durch seine zentrale Idee, den manipulativen Machtanspruch, die Ästhetisierung des Politischen und die massenpsychologische Wirkung des Faschismus im Verhältnis eines zwielichtigen Künstlers zu seinem Publikum zu spiegeln, kann Thomas Mann eine dem literarischen Medium adäquate Perspektive auf das politische Phänomen entwickeln, wo Frank ins Leitartikelhafte und, was die Schilderung von Betty Floyds Auftritt betrifft, Banal-Kulturpessimistische abgleitet. Darüber hinaus ist es das Aufgeben der allwissenden Erzählerposition zugunsten einer Erzählerfigur, deren Unentschlossenheit und Schwäche, Irritation und Anfälligkeit, Ratlosigkeit und Handlungsgehemmtheit offenbar werden, das Thomas Mann davor bewahrt, sich wie Frank in den Selbsttäuschungen und Aporien bürgerlich-humanistischen Denkens zu verstricken. Thomas Manns Erzählerfigur und Franks Politiker Carmer verkörpern beide den Typus des liberalen, rationalen und bildungsbewussten Großbürgers. Frank verkleidet den faschistischen Machtanspruch jedoch nicht in einer angeblichen Zaubervorführung, sondern macht seinen Protagonisten zum Zeugen einer unmittelbar politischen Kundgebung; dabei konstruiert er eine Beobachterperspektive, die völlig frei von Anfälligkeit zu sein beansprucht: Kriegerischer Aufmarsch, Musik, die Hymne, Heilrufe, schräg aufwärts geworfene Arme […]. Ravello feierte sein Waffenfest. Ach, diesem Aufwand widerstanden sie nicht. Sonntäglich gestimmt, für die Abwechslung dankbar, hörten sie gerne die Hymne an, die von Jugend und aber Jugend schrie, obgleich ihr Zuruf dem Ältesten und Abgelebtesten in der Welt galt, sie erlagen, südliche Kinder die sie waren, der militanten Geste […], bald sang 520 Besonders deutlich etwa durch Kurzkes Biographie, vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das

Leben als Kunstwerk. München 1999.

521 Jean-Édouart Spenlé: Lettres allemandes. In: Mercure de France 225 (1931), S. 224-226. Zit. n.

Vaget: Thomas Mann – Kommentar, S. 239. 522 Entsprechend hat Manfred Dierks die Künstlerthematik gegenüber der politischen Dimension der

Novelle aufgewertet, vgl. Dierks: Die Aktualität der positivistischen Methode. – Auf Umwegen können Thomas Manns Reflexionen zum Thema Kunst und Künstler allerdings auch wieder zum Politischen führen, etwa in dem Essay Bruder Hitler, der Hitler als dilettierenden Halbkünstler, damit aber auch als ›Bruder‹ zu begreifen sucht. Vgl. Thomas Mann: Bruder Hitler [1938]. In: Ders.: Essays. Bd. 4. Frankfurt/M. 1995, S. 305-312.

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der ganze Platz, die Front der Schwarzuniformierten löste sich auf, es begann die Vermischung, wieder und noch einmal die Hymne, ein Kommando dann, Stille und es betrat die primitive Bühne der Redner. Ja, das hatte Carmer recht häufig gehört. Ein bitterer Ekel, ihm so vertraut, brannte ihm schon bei den ersten Sätzen im Schlunde. Er hätte dem Armseligen dort einsagen können.523

Die Masse erliegt der Verführung, der souveräne Carmer nicht; diese Sicht des personalen Mediums, als das Carmer hier erzähltechnisch fungiert, erfährt keinerlei Relativierung.524 Thomas Manns Erzähler dagegen weist höchstens zu Beginn der Zaubervorstellung eine vergleichbare Selbstgewissheit auf (wenn er etwa sofort erkennt, dass Cipolla mit Hypnose arbeitet und dass sein Habitus die Außenseiterposition des »Krüppels«525 kompensieren soll). Nach der Pause jedoch verfällt der Erzähler immer mehr der »Faszination« Cipollas, die er nicht mehr erklären kann und die seine »Entschlüsse lähmt«.526 Seine Legitimationsnot (vor sich selbst wie vor den fiktiven Zuhörern) reflektiert die unbewusste Anfälligkeit gerade des sich fortschrittlich und humanistisch glaubenden Bürgertums für massenpsychologische, auch im Politischen wirksame Prozesse, wo Frank sie im Erzählerkommentar wie im Denken seiner Protagonisten rigoros abstreitet. Noch die von Hartmut Böhme vorgebrachte Kritik, »der schicksalhafte Schluß« stelle »zuletzt doch eine Kapitulation vor Cipolla«527 dar, kann eingebunden werden in die sozialpsychologische Charakterisierung des Erzählers, denn dieser ist es ja, der die finale Wendung unter Preisgabe seines Rationalitätsanspruchs fatalistisch interpretiert; dem Leser steht die Erkenntnis frei, dass die »Befreiung von Cipolla […] nicht zugleich die Befreiung vom autoritär-masochistischen Charakter des Publikums«528 bedeutet, das diesen Cipolla erst ermöglicht hat. Obwohl oder gerade weil Mario und der Zauberer, im Gegensatz zu Franks plakativer Titelwahl, auf eine allzu dezidierte Betonung des ›Politischen‹ verzichtet, ist Thomas Mann die überzeugendere ›politische Novelle‹ gelungen. Bei Frank laufen zwei Handlungsebenen schwach verbunden nebeneinander her: auf der einen wird politisch diskutiert, die andere zelebriert Carmers Untergang; bei Thomas Mann dagegen ist das ›Politische‹ untrennbar mit einem novellistisch zugespitzten Ereignis verbunden, Teil eines Spannungsfelds, im dem sich persönlich-individuelle und politisch-allgemeine Faktoren wechselseitig beleuchten. Raffinierter verfährt Mann auch dort, wo es um geschlechtliche Codierung geht. Allerdings spielen Frauen in Mario 523 Frank: Politische Novelle, S. 41-43. 524 In seiner Frank-Rezension hat sich Thomas Mann von dieser Passage eher distanziert: In der Dar-

525 526 527 528

stellung der »faschistische[n] Gala-Orgie« lege Frank hier »einen Abscheu vor dem Gebaren, der Geistesverfassung des neuesten Italien an den Tag, den wir in solcher Unbedingtheit nicht teilen und keinesfalls als unbefugte Einmischung verstanden wissen möchten« (Mann: ›Politische Novelle‹, S. 694). Die ›Unbedingtheit‹ betrifft implizit sicher auch die Erzählhaltung, nicht nur die politische Wertung. Mann: Mario und der Zauberer, S. 687. Ebd., S. 695. Böhme: Thomas Mann: Mario und der Zauberer, S. 303. Ebd., S. 313.

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und der Zauberer eine noch geringere Rolle als in der Politischen Novelle; da die Ehefrau des Erzählers an keiner Stelle die Stimme erhebt und dieser auch nie versucht, im Gespräch mit ihr Empfindungen zu verbalisieren oder Handlungshemmungen zu überwinden, avanciert die Pensionswirtin Sofronia Angolieri zur relativ profiliertesten Frauengestalt des Textes. Wo im Verhältnis von Masse und Führer geschlechtliche Codierungen wirksam werden, folgt Thomas Mann der im massenpsychologischen Diskurs der Moderne seit Le Bon und Freud üblichen Zuweisung von ›Weiblichkeit‹ an die Masse und ›Männlichkeit‹ an den Führer.529 Dass Marios Kuss Folge von Cipollas homosexuell-sadistischem Begehren ist, bringt die Frage der Geschlechterordnung in die für Thomas Mann typische Ambivalenz; obwohl Cipolla sich in der entscheidenden Szene als weiblichen Part ausgibt, sprechen das Machtgefälle zwischen beiden und der von Cipolla geforderte Akt der Unterwerfung eine andere Sprache, erscheinen »im Rahmen des geschlechtsspezifischen Musters von einem aktiven, begehrenden Mann und einem femininen beziehungsweise feminisierten Opfer«.530 Mit der Kuss-Szene ist zugleich der höchste Punkt der Spannungskurve erreicht; das ›Novellistische‹ dieses Höhepunkts macht Thomas Mann sogar explizit, indem er Begriffe verwendet, die aus dem Umfeld der Gattungsdiskussion bekannt sind – wie ›Augenblick‹ und ›spannend‹: »Der Augenblick war grotesk, ungeheuerlich und spannend, – der Augenblick von Mario’s Seligkeit«.531 Viel eher als der Erzähler und Cipolla ist Mario eine ›novellistische‹ Figur: Die Erzählperspektive erzwingt zwar den Verzicht auf Innensichten Marios oder weiterführende Informationen (etwa darüber, wieso Mario eine geladene Waffe bei sich trägt); doch gerade darin, dass der junge Kellner ausschließlich durch seine Tat zu einer Hauptfigur avanciert, liegt eine Verbindung zur älteren Novellentradition. Mario verbürgt das ›Novellistische‹ des Textes auch insofern, als die Ermordung Cipollas nach dem Kuss als gewaltsame Wiederherstellung von Eindeutigkeit und sexueller Identität zu lesen ist532; wo der Blick des Erzählers für die Faszination der Ambivalenz spricht, steht Mario zumindest für einen kurzen Moment für ›Entschlossenheit‹, ›Eindeutigkeit‹, ›Männlichkeit‹ und damit für diejenigen Werte, die mit der Gattungstradition der Novelle im frühen 20. Jahrhundert amalgamiert sind. Von der ersten Veröffentlichung an wurde Mario und der Zauberer fast einhellig als »Meisterwerk« erkannt und gewürdigt. Die zeitgenössische Rezeption vor 1933 belegt einmal mehr, dass die Wertschätzung Thomas Manns einen der wenigen Punkte markierte, in denen ein Konsens zwischen den Vertretern divergierender politischer und literarischer Strömungen in der Weimarer Republik noch möglich schien. Angesichts des politischen Subtextes von Mario und der Zauberer überzeugen aus heutiger 529 530 531 532

Vgl. zu dieser Thematik generell Zeller: Cipolla und die Masse. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 140. Mann: Mario und der Zauberer, S. 710. Man beachte in diesem Zusammenhang auch die betont männlich-phallische Metaphorik: Mario schießt »mit auseinandergerissenen Beinen«, nach dem Schuss wird ihm »die kleine, stumpfmetallne, kaum pistolenförmige Maschinerie« entwunden usw. Vgl. ebd., S. 711.

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Sicht eher die ›linken‹, zumindest faschismuskritischen zeitgenössischen Lesarten; doch es hieße ein einseitiges Bild der Rezeptionsgeschichte zu vermitteln, wenn man die zum Teil überraschenden Begründungen unterschlüge, mit denen auch konservative Kritiker zu einer positiven Bewertung dieses Textes gelangen. Als letztes Rezeptionszeugnis zu Mario und der Zauberer sei deshalb die Besprechung Heinz Strohs angeführt, die am 20. Mai 1930 in der Berliner Börsen-Zeitung erschien. Von allen zeitgenössischen Rezensenten unternimmt Stroh am entschiedensten den Versuch, Mario und der Zauberer für die Tradition einer spezifisch ›deutschen‹ Novelle zu reklamieren. Die politischen und kritischen Untertöne des Textes werden dabei nicht nur marginalisiert, sondern geradezu gegen den Strich gelesen: Wie in Unordnung und frühem Leid neben der Familienidylle und der Liebe zu seinen beiden Kleinen das grausame Bild der Inflation deutlich zu erblicken war, so ist auch in Mario und der Zauberer neben dem Privaten die »Erweckung« des Sichfühlens eines Volkes zu erkennen und festgehalten, und organisch in die Erzählung gewebt. Wir verstehen plötzlich die Italiener, das italienische Bürgertum, wie es nach dem Kriege sich gewandelt und, nationalbewußt, auch am Strande niemals eine überbetonte Eigenheit und sich brüstende Überheblichkeit außer acht läßt. Die Fremden bekommen es zu spüren, obschon jene, die Quartier und Verpflegung, Aufenthalt und auch Erholung gegen Entgelt abgeben, das Wort »Gastfreundschaft« gern im Munde führen. Die Novelle ist schon ein wenig von überdimensionalen Eindrücken und Erkenntnissen getränkt.533

Die italienischen Episoden erscheinen so als Zeugnisse eines zum Nationalbewusstsein erweckten Volkes; die – wie man meinen sollte: unverkennbare – Ironie, mit der Thomas Mann etwa den »Herrn im Schniepel«534 oder das »antikische Heldenjammergeschrei« des unangenehmen Fuggièro535 schildert, wird nicht realisiert. Die von den Kritikerkollegen Julius Bab, Ernst Weiß oder Stefan Großmann vorgenommenen politischen Deutungen verkehrt Stroh von der Faschismuskritik in eine vielleicht distanzierte, aber doch anerkennende Bewertung nationalen »Sichfühlens«; entsprechend wird Cipolla zu einer zwar fragwürdigen, aber doch »durch natürlichen anmutigen Witz nicht unsympathische[n]« Figur verharmlost, den allerdings durch Marios Tat ein verdientes »Schicksal« ereile.536 Auf diesem Weg steuert Stroh sein Fazit an: Erstaunlich, wie eine anscheinend private Erzählung, im leichten Plauderton vorgetragen, plötzlich tief ins geradezu Dämonisch-Geheimnisvolle sich lenkt. Mario und der Zauberer, leicht erzählt und abgründig tief, fast erschreckend Menschen offenbarend und in die Herzen hineinleuchtend, ist wohl ein Nebenwerk Thomas Manns, das aber zu einer formvollendeten und besten deutschen Novelle wurde, da ein Dichter, selbst ein Zauberer, der aus dem Nichts Leben formt, an den Stoff geriet.537

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Heinz Stroh: Thomas Manns neue Novelle. In: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 140, 20.5.1930. Mann: Mario und der Zauberer, S. 668. Ebd., S. 665. Ebd. Stroh: Thomas Manns neue Novelle.

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Strohs Wortwahl und seine zentralen Gedankengänge, so fragwürdig sie aus heutiger Sicht erscheinen, knüpfen dabei unmittelbar an die damals neuesten Beiträge der germanistischen Novellenforschung an – insbesondere an diejenigen von Hermann Pongs, die, mehrfach nachgedruckt, die Novellendiskussion bis weit in die fünfziger Jahre hinein beeinflussen sollten.538 Die Unterscheidung einer romanischen Novelle als unterhaltungszentrierter ›Gesellschaftskunst‹ und einer spezifisch deutschen ›Schicksalsnovelle‹ sowie insbesondere der Begriff des ›Dämonischen‹ sind zentrale Momente in Pongs’ novellengeschichtlichen Ausführungen, die bei Stroh eindeutig aufgegriffen und auf Mario und der Zauberer angewendet werden; auch mit der emphatischen Beschwörung des »Dichters« liegt der Rezensent auf der Linie von Hermann Pongs wie fast der gesamten konservativen bzw. deutsch-völkisch orientierten Germanistik der zwanziger und dreißiger Jahre. Damit illustriert Strohs Kritik zum einen die weitgehende Einheitlichkeit des konservativen Novellendiskurses der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, der sich in den Rezensionen der Tagespresse genauso niederschlug wie in der akademischen Literaturwissenschaft; zum anderen zeigt sie die rigorose Direktheit, mit der die Repräsentanten dieses Novellendiskurses verfuhren, um die Eigenschaften, die ihrer Meinung nach das ›Wesen‹ des Novellistischen markierten, über alle Widerstände und Ambivalenzen eines Textes hinweg interpretatorisch zu ermitteln bzw. zu dekretieren – und damit selbst einen Text wie Mario und der Zauber auf die angeblich novellentypischen Wertsetzungen von ›Dichtung‹ und ›Formbewusstsein‹, ›Eindeutigkeit‹ und ›Haltung‹, ›Männlichkeit‹ und ›Deutschtum‹ reduzierend festzulegen.

538 Vgl. zu den novellengeschichtlichen Arbeiten von Pongs das entsprechende Kapitel der vorliegen-

den Arbeit. Pongs’ erster, in spätere Arbeiten übernommener Aufsatz zur Novelle erschien 1929: vgl. Hermann Pongs: Über die Novelle. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 5 (1929), S. 175-185.

III. Deutsche Novellen der fünfziger Jahre

A. Novellendiskurse der Nachkriegszeit 1. Novelle als Form der »Kalligraphie« Um der gattungsgeschichtlichen Situation nach 1945 gerecht zu werden, war eine relativ breite Analyse sowohl der Wertungen und Konnotationen, die sich mit dem Begriff der Novelle in den zwanziger und dreißiger Jahren verbunden haben, als auch der tatsächlichen Novellenproduktion dieser Zeit unerlässlich. Der Zusammenbruch des NS-Staates markiert bekanntlich keine ›Stunde Null‹.1 Sowohl im Westen als auch in der Sowjetischen Besatzungszone wurden die Nachkriegsjahre durch kulturkonservative Strategien dominiert; komplexe Systeme wie das Literatursystem oder das Wissenschaftssystem reagieren schließlich, von der bekannten »Trägheit der Institutionen«2 ganz abgesehen, nicht schlagartig auf historische Umbrüche, sondern mittelbar und phasenverschoben. Fraglos ist die Frühgeschichte vor allem der Bundesrepublik durch personelle Kontinuitäten in Militär, Justiz, Verwaltung und kulturellen Einrichtungen geprägt: »Hatte man die Toten gezählt, die Emigranten endgültig vergessen, die kalte Dusche der Entnazifizierung in aller Regel überstanden, gingen die Rechtsanwälte und Ärzte, die höheren Beamten und Pfarrer, die Studienräte und Professoren wieder ihrer erlernten Tätigkeit nach«.3 Die meisten Intellektuellen übten sich in undifferenzierter Technik- und Medienkritik, knüpften zur Legitimation ihres elitären Selbstbildes an massentheoretische Positionen des frühen 20. Jahrhunderts an und legten eine erhebliche Demokratieskepsis an den Tag.4 1

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3

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Die Vorstellung eines voraussetzungslosen Neubeginns wäre überhaupt nur als mythisch-theologisches Konzept zu rechtfertigen und kann innerhalb der Geschichte nicht tragen, vgl. Karl Esselborn: Neubeginn als Programm. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. München 1986 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10), S. 230-243, bes. S. 230. Eberhard Lämmert: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. In: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz. Frankfurt/M. 1967, S. 7-41, hier S. 33. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 19491990. München 2008, S. 139; vgl. auch Norbert Frei (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt/M. 22002. Diese langlebigen Konstituenten im intellektuellen Selbstverständnis lassen sich besonders deutlich

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Trotz der unverkennbaren und mitunter bedrückenden Kontinuitäten allerdings ist der pauschale Restaurationsvorwurf, wie ihn zum Beispiel Walter Dirks und Hans Werner Richter gegen die junge Bundesrepublik vorgebracht haben, genauso unhistorisch wie die Vorstellung einer ›Stunde Null‹: Eine starre Restauration ehemaliger Verhältnisse ohne jede Modifizierung ist genauso unmöglich wie ein Neubeginn ohne jede Voraussetzung. Für viele zeitgenössische Autoren und Intellektuelle jedoch traten die Diskontinuitäten und Innovationen der Nachkriegsgeschichte völlig zurück hinter den einseitig behaupteten ›restaurativen Charakter der Epoche‹.5 In ihrer Sicht avancierte ›Restauration‹ zu einem »negativen Erwartungsbegriff«6, der nicht nur mit Reaktion und Stagnation gleichgesetzt wurde, sondern auch auf die Gefahren eines neuen Faschismus verweisen sollte. Diese extrem negative Einschätzung der ›restaurativen‹ Bundesrepublik hat den westdeutschen Intellektuellendiskurs nachhaltig geprägt (wie nicht zuletzt die literaturhistorischen Darstellungen belegen7), doch zugleich den Blick darauf verstellt, dass es auch eine »Modernisierung im Wiederaufbau«8 gegeben hat, dass neue demokratische Freiheiten zur Verfügung standen und eine in dieser Form noch nicht da gewesene Industriegesellschaft hervorgebracht worden war. Soziologisch gesehen war die Situation schon deshalb weniger ›offen‹ als in der Weimarer Republik, weil der Klassenkonflikt der zwanziger Jahre »nach dem Ende des Dritten Reiches in zwei deutsche Staaten übertragen [wurde], wobei der kalte Krieg die stabilisierenden (geschlossenen) Ideologien stellte«.9 Die Auseinandersetzung mit der schuldhaften Vergangenheit dagegen hatte in keinem der beiden deutschen Staaten Priorität: In der Bundesrepublik wurden die fünfziger Jahre rückblickend oft als das ›Jahrzehnt der Verdrängung‹ bezeichnet; im Osten Deutschlands

5 6

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8 9

in den politisch-kulturellen Zeitschriften der frühen Nachkriegszeit nachweisen, vgl. dazu AnkeMarie Lohmeier: Geschichtsdeutung und Selbstverständnis der westdeutschen Intelligenz in den frühen Nachkriegsjahren. Konsensbildung in den politisch-kulturellen Zeitschriften 1945-1949. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – Polen. Regensburg 1993. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn 1994, S. 203-217; dies.: Zeitschriftenkultur in den Westzonen zwischen Kriegsende und Währungsreform. In: Neue Perspektiven der deutschen Buchkultur in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Symposion. Hg. v. Günter Häntzschel. Wiesbaden 2003 (= Buchwissenschaftliche Forschungen 3/2003), S. 13-28. Vgl. Walter Dirks: Der restaurative Charakter der Epoche. In: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 942954. Helmuth Kiesel: Die Restauration des Restaurationsbegriffs im Intellektuellendiskurs der frühen Bundesrepublik. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Hg. v. Carsten Dutt. Heidelberg 2003, S. 173-193, hier S. 179; Kiesel führt ausführliche Belege zur Semantik des Restaurationsbegriffs in den Nachkriegsjahren an (Richter, Dirks, Kogon u.a.). Vgl. ders.: Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung. In: Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Hg. v. Walter Erhart und Dirk Niefanger. Tübingen 1997, S. 13-45. Vgl. den umfangreichen Sammelband: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hg. v. Axel Schildt und Arnold Sywottek. Bonn 21998 [11993]. Vgl. David Roberts: Nach der Apokalypse. Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Literatur nach 1945. In: »Die Mühen der Ebenen«. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945-1949. Hg. v. Bernd Hüppauf. Heidelberg 1981, S. 21-45, hier S. 40f.

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war es der »antifaschistische Gründungsmythos der DDR, initiiert und kulturell ausgestattet in den Jahren 1945 bis 1949«10, der sowohl den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erleichtern sollte als auch den Rahmen bot für die in der Folgezeit forcierte Orientierung am ›bürgerlich-humanistischen Kulturerbe‹. Der heutige Blick auf die Nachkriegsjahre besonders in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR, sollte Vereinseitigungen vermeiden, die der Komplexität von Wende- und Umbruchszeiten nicht gerecht werden können. Neuere literaturwissenschaftliche Arbeiten tragen dieser Erkenntnis zunehmend Rechnung: Gegenüber der lange Zeit üblichen und vor allem in den siebziger und achtziger Jahren dominanten, rigoros moralischen Bewertung der Nachkriegszeit macht sich allmählich »eine Tendenz bemerkbar, die beinahe als Einfühlung in die Nachkriegsmentalität bezeichnet werden kann«.11 Das bringt zum einen die Aufwertung oder zumindest vorbehaltlosere Betrachtung ›traditioneller‹ Texte und ›konservativer‹ Autoren mit sich und führt zum anderen dazu, dass zahlreiche Schriftsteller, die sich selbst in der Nachkriegszeit als eine Art moralischer Instanz verstanden haben, kritischer denn je hinterfragt werden.12 Das gilt etwa für Alfred Andersch, der als Publizist und Romanautor, als Leiter von Radioredaktionen, als Herausgeber der Zeitschrift Texte & Zeichen in dem sich entfaltenden Literaturbetrieb der Bundesrepublik zunächst eine Schlüsselstellung eingenommen hat. Sein Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung, zuerst als Rede bei der zweiten Tagung der Gruppe 47 gehalten, zählt zu den bekanntesten Manifesten der Nachkriegsliteratur und gewährt bis heute Einblick in das Selbstverständnis einer ganzen Autorengeneration. Zentral ist zunächst die von Andersch vehement proklamierte Vorstellung einer »tabula rasa«. Angesichts der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs stehe »die junge Generation […] vor der Notwendigkeit, in einem originalen Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen«.13 Ihr »dichterische[r] Wille« richte sich »auf einen neuen Sturm und Drang«, denn allgemein herrsche die »Verachtung aller überkommenen formalen Gesetze«: 10 Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 21997,

S. 71. 11 Ursula Heukenkamp: Vorbemerkung. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in

deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Hg. v. U. H. Amsterdam, Atlanta, GA 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50.1), S. 15-20, hier S. 17. 12 Besonders Klaus Briegleb hat in mehreren Arbeiten auf die Notwendigkeit verwiesen, die Geschichte etwa der Gruppe 47 kritisch zu beleuchten, statt sich zu sehr durch das Selbstbild und die Selbststilisierung ihrer Mitglieder beeinflussen zu lassen. Vgl. Klaus Briegleb: »Neuanfang« in der westdeutschen Nachkriegsliteratur – Die Gruppe 47 in den Jahren 1947-1951. In: Stephan Braese (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Berlin 1999, S. 35-63. Exemplarisch verwiesen sei auch auf den äußerst kritischen (und im Hinblick auf die verwendeten Kategorien z.T. fragwürdigen) Andersch-Essay von W.G. Sebald: Der Schriftsteller Alfred Andersch. In: Ders.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt/M. 32002, S. 111-147. 13 Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation. Karlsruhe [1948], S. 24.

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»Man spürt, daß die alten Formen den geistigen Inhalt der neuen Zeit nicht tragen können«.14 Abgewirtschaftet habe insbesondere die Schreibhaltung der »Kalligraphie«, der klassizistischen Epigonalität, die sich spätestens im Nationalsozialismus als »literarischer Eskapismus« erwiesen habe und der »Kraft unmittelbarer Aussage« entrate.15 Den Terminus der ›Kalligraphie‹ übernahm Andersch aus Gustav René Hockes Artikel Deutsche Kalligraphie oder Glanz und Elend der modernen Literatur, der 1946 in Der Ruf, dem wichtigsten Publikationsorgan der jüngeren Intellektuellen, erschienen war. Ursprünglich stammte der Begriff aus einer italienischen Literaturdebatte um 1900: dem Streit zwischen den ›Contenutisti‹, den ›Inhaltlern‹, und den ›Calligrafisti‹, den ›Schönschreibern‹. Den rückwärtsgewandten Charakter der kalligraphischen Schreibweise hob Hocke schon dadurch hervor, dass er die beiden ersten Worte seiner Titelzeile in Fraktur, den Rest in Antiqua drucken ließ. Gemeint ist, wie später bei Andersch, eine »kunstgewerbliche« Literatursprache, die nach dem Ende der Diktatur jede Legitimation eingebüßt habe und überlebt sei: »Wir bewundern die Fertigkeit, aber diese ebenso gepflegte wie gebildete Seminaristensprache spricht uns nicht mehr an«. Nötig seien vielmehr »Klarheit der Form und Unmittelbarkeit der Aussage«; nur so könne man zu einer »neuen realistischen Dichtung« gelangen. Als Inbegriff kalligraphischer Schreibhaltung gelten Hocke vor allem die »Novellen […], die mit anspruchsvoller Diktion von sehr unwesentlichen Gefühlen ebenso unbedeutender Schattengestalten berichten«, aber noch immer die literarischen Zeitschriften dominierten.16 Mit ähnlichen Intentionen wie Hocke und Andersch greift Wolfgang Weyrauch den Begriff der »Kalligraphie« auf, als er 1949 das Nachwort zur bald berühmt gewordenen »Sammlung neuer deutscher Geschichten« Tausend Gramm schreibt: Eine zeitgemäße Prosa müsse »von vorn anfangen, ganz von vorn« und sich der »Fortsetzung der kalligraphischen (Alfred Andersch) Literatur in Deutschland, der Verhängung und dem Verhängnis eines neuen Nebels bei uns«, vehement widersetzen.17 Weyrauch prägt in diesem Zusammenhang die Vorstellung vom »Kahlschlag«, die zu einer weit ausgreifenden Allegorie gehört: Die »gegenwärtige deutsche Prosa befindet sich in einem verschlungenen und finsteren Dickicht«18; einige Autoren »tappen herum« auf der Suche nach »Wegweisern […], die allenthalben in unserm literarischen Gestrüpp aufgestellt sind«19; der Anspruch junger Autoren müsse es sein, »einen Kahlschlag in unserm Dickicht« zu leisten. Schwierig sei dies jedoch vor allem auch,

14 Ebd., S. 25. 15 Ebd., S. 12. 16 [Gustav R. Hocke]: Deutsche Kalligraphie oder Glanz und Elend der modernen Literatur. In: Der

Ruf 1 (1946), Nr. 7, S. 9f.

17 Wolfgang Weyrauch: Nachwort. In: Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten. Hg.

v. W. W. Hamburg, Stuttgart, Baden-Baden, Berlin 1949, S. 207-219, hier S. 216. 18 Ebd., S. 210. 19 Ebd., S. 211f.

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weil »Schilder mit den Namen ›Binding‹ und ›Schäfer‹ […] noch überall herum«20 stünden. In Anderschs Essay ebenso wie in Weyrauchs knappem Nachwort zur »Fibel der neuen deutschen Prosa«21 ist der forcierte Erneuerungsanspruch auch als Versuch erkennbar, eine neue, ›junge‹ Autorengeneration auf dem literarischen Markt zu etablieren.22 Einig sind sich beide in ihrer dezidierten Absage an die »kalligraphische« Tradition ebenso wie in der Forderung, dass eine neue deutsche Literatur eine politisch bewusste, »eine verpflichtete Literatur«23 sein müsse; formuliert wird im Wesentlichen das Ideal eines kritischen Realismus, dem es um »Genauigkeit« und eine emphatisch begriffene »Wahrheit«24 zu tun ist. Zudem betonen beide Autoren die Zäsur des Jahres 1945, die das Ende der hergebrachten, traditionalistischen Konzepte von Literatur und Kultur markiere. Damit wurde allerdings eher ein Postulat erhoben als eine tatsächliche Bestandsaufnahme der aktuellen Situation geliefert. Das belegen andere Dokumente der ersten Nachkriegsjahre. Andersch selbst gibt bereits zu, dass der »breite […] Strom […] der Kalligraphie […] immer noch den Vordergrund beherrscht«.25 Bestätigt und verschärft wird dieser Befund durch Theodor W. Adornos bemerkenswerten Artikel Auferstehung der Kultur in Deutschland?, der 1950 in den Frankfurter Heften erschien. Adorno registriert eine starke »Beziehung zu geistigen Dingen« und eine »intellektuelle Leidenschaft«26, die er bei den Nachkriegsdeutschen nicht erwartet habe; allerdings betont er vor allem das Problematische und Anachronistische »solcher angespannten Vergeistigung«: In der kulturellen Renaissance des gegenwärtigen Deutschland fühlt man sich an Zarathustras Frage erinnert, ob der Tod Gottes noch nicht bekannt geworden ist: Es hat sich noch nicht herumgesprochen, daß Kultur im traditionellen Sinn tot ist […]. Der Umgang mit Kultur im Nachkriegsdeutschland hat etwas von dem gefährlichen und zweideutigen Trost der Geborgenheit im Provinziellen.27

Adorno will »sich nicht damit zufrieden« geben, »daß so etwas wie Geist überhaupt noch existiert«, denn zugleich glaubt er nur wenige bemüht »um Einsicht in die Gesetze, welche das jüngst vergangene Unheil zeitigten, um den Begriff einer menschenwürdigen Einrichtung der Welt und seine theoretische Begründung, oder gar um die Analyse der heute aktuellen Möglichkeiten zur ganzen, inhaltlichen Verwirkli-

20 Ebd., S. 213. 21 Ebd., S. 217. 22 Vgl. zu den vielen Facetten dieser Positionierung auch den instruktiven Sammelband: »Uns selbst

23 24 25 26 27

mussten wir misstrauen«. Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hg. v. Hans-Gerd Winter. München 2002. Weyrauch: Nachwort, S. 216. Ebd., S. 217. Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 25. Theodor W. Adorno: Auferstehung der Kultur in Deutschland? In: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 469-477, hier S. 469. Ebd., S. 470f.

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chung der Freiheit«.28 ›Kultur‹ im abgelebten, traditionellen Verständnis wird zum Surrogat, oder – hier verweist Adorno auf einen kurz zuvor erschienen Artikel des jungen Max Frisch29 – zum Alibi: »Als isolierter Daseinsbereich, bar einer genauen Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, taugt Kultur dazu, den Rückfall in die Barbarei zu vertuschen«.30 Damit sei die Kompromittierung der traditionellen Literatur allerdings nicht aufgehoben, sondern trete umso deutlicher hervor: Der Nachkriegsgeist, in allem Rausch des Wiederentdeckens, sucht Schutz beim Herkömmlichen und Gewesenen. Aber es ist in der Tat gewesen. Den überlieferten ästhetischen Formen, der traditionellen Sprache, dem überlieferten Material der Musik, ja selbst der philosophischen Begriffswelt aus der Zeit zwischen den Kriegen wohnt keine rechte Kraft mehr inne. Sie alle werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen. Darum will das Schutzsuchen so wenig geraten, wie anderseits das verängstigte Bewußtsein einen solchen Schutz nicht entbehren möchte. Nicht nur, daß die gemäßigte und gebildete kulturelle Mitte, die so fatal lockt, in sich selber abbröckelt. Es offenbart sich vielmehr, dem verzweifelten Kulturwillen zum Trotz, allenthalben ein Bruch zwischen den Produzierenden und der Kultur, der sie nachhängen. Indem sie aus dem Vorrat zehren, vernichten sie, wozu sie sich bekennen. Die vor dreißig Jahren geprägten nicht-konformierenden Worte und Gedanken sind selber konventionell und brüchig geworden. Sie reichen nicht mehr an das heran, was sie sagen sollen, sondern klappern. Die Errungenschaften zumal Rilkes und Georges, dessen Schule in den wenigen Jahren seit seinem Tode zerfiel, sind Allgemeingut geworden, aber um ihren Sinn gebracht und der ungeschickten Geschicklichkeit eines jeden Bildungsphilisters überantwortet.31

Dieses durch die historische Entwicklung hervorgerufene Ungenügen an der traditionellen Kultur hat Adorno später kaum mehr so differenziert geäußert wie hier – am wenigsten in der provozierenden Behauptung der Prismen, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben«, sei »barbarisch«.32 Zudem gibt er offen zu, er habe »auch keine sogenannte konkrete Lösung anzubieten«33, was der Qualität seiner Diagnose jedoch keinen Abbruch tut.34 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 471f. Vgl. Max Frisch: Kultur als Alibi. In: Der Monat 1 (1949), H. 7, S. 82-85. Adorno: Auferstehung der Kultur, S. 474. Ebd., S. 473. Theodor W. Adorno: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963, S. 26. Adorno: Auferstehung der Kultur, S. 476. Eine unfreiwillige Bestätigung von Adornos Thesen findet sich übrigens noch in der gleichen Ausgabe der Frankfurter Hefte: Karin Homann porträtiert dort Martin Heidegger, spricht über die »Idylle« der berühmten Hütte, vor der der Philosoph stünde »wie eine Figur aus Eichendorffs Novellen« und gibt einen Überblick über »Leben und Werk«, der Heideggers politische Biographie vollständig ausblendet. Walter Weymann-Weyhe lässt einen Beitrag folgen, der Eine kritische Frage überschrieben ist, aber sich keineswegs mit Politik, sondern mit Heideggers Position zur christlichen Offenbarung beschäftigt (vgl. Karin Homann/Walter Weymann-Weyhe: Das Porträt: Martin Heidegger. In: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 527-531). Geistig-kulturelle und politisch-gesellschaftliche Sphäre bleiben strikt getrennt und affirmieren damit genau das Konzept von ›Kultur‹, das Adorno einige Seiten zuvor kritisiert hat; zugleich belegt diese Konstellation paradigmatisch den »Widerspruch zwischen Programm und eigener Praxis«, durch den sich die christlich-sozialistisch orientierten

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Adornos »unorthodox marxistische Analyse«35 ist mit den Befunden von Andersch und Weyrauch durchaus vereinbar, doch anders als der Philosoph und Soziologe zielen die beiden Schriftsteller auch darauf ab, die eigene literarische Produktion zu propagieren und sich möglichst deutlich von traditionalistischen Schreibweisen abzugrenzen. Dieser Profilierungsdruck ist ein keineswegs zu vernachlässigender Faktor, wenn es um eine Erklärung dafür geht, warum die Vorstellungen von »tabula rasa«, »Kahlschlag«, »Nullpunkt« oder »Stunde Null« etwa für die Autoren der Zeitschrift Der Ruf und der aus dem Ruf-Kreis hervorgegangenen Gruppe 47 so anziehend wirken mussten.36 Die Zäsur von 1945 (und damit implizit auch die von 1933) überzubetonen, erwies sich als probates Mittel, die eigene Arbeit als Teil eines radikalen literarisch-gesellschaftlichen Neubeginns zu begreifen und Eigenständigkeit zu demonstrieren. Das galt nicht nur für junge Autoren, sondern auch für Vertreter der mittleren Generation, die seit den dreißiger Jahren auf dem literarischen Markt präsent waren und während des ›Dritten Reiches‹ zumindest eingeschränkt publizieren durften; so nahmen etwa Günter Eich37, Peter Huchel, Wolfgang Koeppen und Marie Luise Kaschnitz nach 1945 bereitwillig und absichtlich »die Haltung des Debütanten ein, des Zeitgenossen, der an einer neuen Literatur arbeitet und damit seine moralische Legitimation und sein literarisches Profil gewinnt«.38 Die »Nullpunkt-Rhetorik« war immer auch »ein Stück Selbstlegitimation«39 – schließlich hatten selbst Andersch und Hans Werner Richter schon unter der Diktatur publizieren können, und Wolfgang Weyrauch war nicht nur als Autor, sondern auch in der Rolle als Herausgeber bereits im NS-Staat hervorgetreten, etwa mit der Anthologie 1940. Junge deutsche Prosa.40 Im Gegensatz zur Selbsteinschätzung der betreffenden Autoren stimmt die literaturwissenschaftliche Forschung seit langem darin überein, dass die Daten, die die

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Frankfurter Hefte rasch »ins gesellschaftliche Abseits« manövriert haben (Bernd Hüppauf: Einleitung: Schwierigkeiten mit der Nachkriegszeit. In: »Die Mühen der Ebenen«. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945-1949. Hg. v. B. H. Heidelberg 1981, S.7-20, hier S. 18). Walter Veit: Die Stunde Null im Spiegel einiger zeitgenössischer Zeitschriften. In: »Die Mühen der Ebenen«. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945-1949. Hg. v. Bernd Hüppauf. Heidelberg 1981, S. 195-232, hier S. 221. Vgl. hierzu auch Georg Guntermann: ›Stunde Null‹, ›Kahlschlag‹, ›Trümmerliteratur‹? Einige Mythen der Gruppe 47. In: So viel Anfang war nie? 50 Jahre Nachkriegszeit. Öffentliche Ringvorlesung. Hg. v. Kurt Düwell und Herbert Uerlings. Trier 1996 (= Trierer Beiträge, 25), S. 21-32. Vgl. zu Eichs schriftstellerischer Tätigkeit unter dem Nationalsozialismus Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945. Eggingen 1993. Frank Trommler: Nachkriegsliteratur – eine neue deutsche Literatur? In: Literaturmagazin 7. Hg. v. Nicolas Born und Jürgen Manthey. Reinbek 1977, S. 167-186, hier S. 168. Keith Bullivant: Alfred Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung (1947/8). In: literatur für leser 1994, S. 99-107, hier S. 105. Vgl. zu Weyrauchs Vor- und Nachkriegsanthologien Carsten Wurm: Kurzgeschichte und allegorische Erzählung. Der Anteil der Anthologien an der Prosaentwicklung. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945-1960). Hg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 2000, S. 167-197.

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nationalsozialistische Herrschaft begrenzen, als Einschnitte in der Kunstentwicklung nur relative Bedeutung haben41: Bereits 1929/30 deutete sich in der deutschen Literatur eine »restaurative Unterströmung«42 an, die durch den NS-Staat sicherlich verstärkt wurde, aber auch die Exilliteratur nicht unberührt ließ43; und das metaphernreiche Erneuerungspathos, das so viele theoretische Texte etwa des Ruf-Kreises auszeichnet, steht in deutlichem Gegensatz zur geforderten nüchternen Neuorientierung.44 Den Neubeginn zum Programm zu erheben, bedeutete gerade auf dem Gebiet der Literatur noch keineswegs, den als unausweichlich apostrophierten Traditionsbruch auch schon zu vollziehen – eine Erfahrung, die die ›Junge Generation‹ von 1945 im Übrigen mit den vorausgegangenen literarischen ›Jugendbewegungen‹ seit dem Naturalismus verbindet (die sich ihrerseits, wie auch Andersch, gern auf den Sturm und Drang berufen haben). Auch die Kritik an der als ›Kalligraphie‹ bezeichneten Literatur steht in einer langen Tradition, verweist zurück auf die Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre. Binding und Schäfer, von Weyrauch als Beispiele für eine vergangene Literatur angeführt, hatten ihre erfolgreichsten Werke bereits vor 1933 veröffentlicht, zählten im NS-Staat zu den anerkannten Autoren und kehrten bald nach 1945 in die Verzeichnisse lieferbarer Bücher zurück. Der achtzigjährige Schäfer legte 1948 eine Autobiographie unter dem Titel Rechenschaft vor (die freilich keinerlei Auseinandersetzung mit seiner politischen Vergangenheit umfasste); im Nachwort klagt er zwar, dass alle seine »andern Bücher […] verbombt« seien, kann aber tröstend hinzufügen, dass sich der Thomas-Verlag in Kempen von nun an der »Bergung [s]einer Dinge« annehme45 – die angeheftete Verlagswerbung kündigt neun Neuauflagen an. Auch der 1938 verstorbene Binding blieb auf dem deutschen Buchmarkt präsent: Seine populärsten 41 Als einer der ersten, die konsequent auf diese relative Eigenständigkeit der literarhistorischen Ent-

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wicklung hingewiesen haben, ist Hans Dieter Schäfer zu nennen: Hans Dieter Schäfer: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Literaturmagazin 7. Hg. v. Nicolas Born und Jürgen Manthey. Reinbek 1977, S. 95-115. – Schäfers Thesen wurden seither aufgegriffen, modifiziert und weiterentwickelt, vgl. etwa. Stephen Parker/Peter Davies/Matthew Philpotts: The Modern Restauration: Re-thinking German Literary History 1930-1960. Berlin, New York 2004. Schäfer: Zur Periodisierung, S. 97. So gab z.B. Döblin die avancierte Erzähltechnik von Berlin Alexanderplatz zugunsten traditionellerer Erzählmodelle wieder auf, Thomas und Heinrich Mann verfolgten mit ihren mehrteiligen und bereits in der Weimarer Republik projektierten historischen Romanen gleichfalls hergebrachte Erzählkonzepte (die in der Wahl der historischen Sujets zudem mit der gleichzeitigen Strömung innerhalb der sog. ›Inneren Emigration‹ korrespondierten) usw. Vgl. zum Aspekt der sprachlichen Kontinuität bes. Urs Widmer: 1945 oder die »Neue Sprache«. Studien zur Prosa der »Jungen Generation«. Düsseldorf 1966. – Das ›Nullpunkt‹-Konzept wurde vor allem seit Ende der sechziger Jahre relativiert und zurückgewiesen, u.a. von Hans Mayer: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher. Reinbek 1967; Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Dieter Lattmann, Heinrich Vormweg, Karl Krolow, Hellmuth Karasek. München, Zürich 1973; Volker Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-48) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971. Schäfer: Rechenschaft, S. 327.

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Werke lagen 1948 beim Hamburger Verlag Dulk vor, im Gründungsjahr der Bundesrepublik kamen bei Insel zuerst das 801.-810. und gleich anschließend das 811.-822. Tausend des Opfergangs heraus. Obwohl sie auf eine andauernde buchhändlerische Erfolgsgeschichte zurückblicken konnten, war es für die noch lebenden Vertreter einer nationalkonservativen Literatur nach 1945 keine neue Erfahrung, von jüngeren Schriftstellern angegriffen zu werden. In der Weimarer Republik hatten ihre Gegner vor allem auf der Seite der Neuen Sachlichkeit gestanden – die sie auch ihrerseits heftig attackierten; im Nationalsozialismus zählten sie zu den geachteten Autoren, ohne an der Spitze der Bewegung zu stehen – weshalb es abermals eine beachtliche Gruppe von jüngeren, diesmal stark nationalsozialistisch engagierten Autoren gab, die ihre Dominanz in Frage stellten. »Zwischen den nationalsozialistischen Schriftstellern und den bestehenden nationalkonservativen Kreisen gab es bis in die Kriegsjahre hinein eine beträchtliche Distanz, so sehr auch die Grenzen zwischen den Gruppierungen von der offiziellen Propaganda übertüncht wurden und nur noch von einer nationalen, das heißt nationalsozialistischen Literatur die Rede war«.46 Zu diesen dezidiert nationalsozialistischen Autoren gehörten zum Beispiel Heinrich Anacker, Arthur Dinter, Richard Euringer und Will Vesper; letzterer etwa offenbarte als Herausgeber der Zeitschrift Die schöne Literatur (1923-1943) eine derartige politische Linientreue, dass sich viele nationalkonservative Schriftsteller (darunter Binding) deutlich von ihm distanzierten.47 Autoren wie Binding, Schäfer, Grimm, Kolbenheyer, Strauß, Franck oder Ponten verdankten ihr Ansehen hauptsächlich einem breiten Rückhalt beim bürgerlichen Lesepublikum, nur bedingt ihrem explizit-politischen Verhalten (obwohl es kompromittierend genug gewesen ist). Von einer ›jungen Generation‹ angegriffen wurden sie sowohl in der Weimarer Republik als auch im Hitler-Reich als auch nach 1945 – nur die Richtung, aus der die Angriffe kamen, hatte sich jeweils verändert.

2. Novelle versus Kurzgeschichte Dabei wurde die Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Autorengruppen schon in den dreißiger Jahren auch als gattungstheoretischer Diskurs geführt und sowohl vor als auch nach dem Krieg war es die ›traditionelle‹ Novelle, die in die Defensive gedrängt, und die ›moderne‹ Kurzgeschichte, die gegen sie ins Feld geführt wurde. Denn der häufig anzutreffenden Abwertung der Kurzgeschichte als ›feuilletonistisch‹ standen in den dreißiger Jahren engagierte Versuche gegenüber, die Gattung aufzuwerten: Man erhoffte sich von ihr offenbar eine konsequente ›Germanisierung‹ der Novelle; Ebing in seiner bereits erwähnten Arbeit über Die deutsche Kurzgeschichte sieht die Kurzgeschichte als »deutsche ›Novelle‹«.48 Die Kriterien, die er zur 46 Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie, S. 214. 47 Vgl. ebd., S. 215. 48 Ebing: Die deutsche Kurzgeschichte, S. 32.

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formalen Abgrenzung von Novelle, Anekdote und Kurzgeschichte anbietet, sind allerdings alles andere als trennscharf und ausnahmslos inhaltlich-ideologischer Herkunft: »Das, was die neue Kurzgeschichte von aller impressionistischen Nervenkitzelei […] scheidet, ist ihr unverkennbarer Zug zu letzter Sinndeutung, was Josef Winckler […] das ›Paradigmatische‹ der Anekdote nennt«49, heißt es etwa, und an vielen weiteren Stellen gehen die Gattungsbegriffe in ähnlicher Weise durcheinander. Das Fehlen überzeugender Definitionen hält jedoch weder Ebing noch andere Autoren der dreißiger Jahre davon ab, eine intensive Gattungsdiskussion zu führen, die immer wieder auch um die Frage kreist, wie gerade die Kurzgeschichte den ideologischen und kulturpolitischen Zielen des Nationalsozialismus dienstbar gemacht werden könne.50 Manfred Durzak, der die umfangreichste Gattungsmonographie zur deutschen Kurzgeschichte vorgelegt hat, spricht in diesem Zusammenhang nur von einem »fragwürdigen nationalsozialistischen Propagierungs-Zwischenspiel«51; gerade was die Gegenüberstellung von Novelle und Kurzgeschichte betrifft, wurden jedoch schon in dieser Phase des gattungstypologischen Diskurses Positionen entwickelt, die auch in den fünfziger Jahren wieder anzutreffen sind. Das belegt etwa der Artikel von Bert Brennecke, der 1938 in der Zeitschrift Der deutsche Schriftsteller – dem Organ »für die in der Reichsschrifttumskammer eingegliederten Schriftsteller« – erschienen ist. Brennecke verbindet typische Diskurselemente der ›Moderne‹ mit einer dezidierten Stellungnahme für den Nationalsozialismus; seine Argumentation macht damit auch deutlich, dass die Identifizierung ›nationalsozialistischen‹ Schreibens mit Traditionalismus und Pathos einseitig und verfehlt ist. An den Anfang stellt Brennecke die Unterscheidung von ›Schriftsteller‹ und ›Dichter‹, die er – ganz in dem Sinn, in dem diese Dichotomie schon in den zwanziger Jahren gehandhabt wurde – den Gattungen ›Kurzgeschichte‹ und ›Novelle‹ sowie den Publikationsmedien ›Zeitung‹ und ›Buch‹ zuordnet. Das »Gesicht der Zeitung« habe »durch die Kurzgeschichte eine Bereicherung erfahren«, was besonders deutlich werde, wenn man die gegenwärtigen Blätter mit der »Unterhaltungsbeilage einer Vorkriegszeitung« vergleiche: Ich hatte kürzlich Gelegenheit, einen aus dieser Zeit stammenden Sammelband einer größeren Tageszeitung unseres Gaues daraufhin durchzusehen. Gewiß, die Novelle war damals stärker vertreten, aber – und das möchte ich ausdrücklich betonen – in einer erschreckenden Dürftigkeit ihres geistigen und seelischen Gesichts. Man fragt sich unwillkürlich, was diese Novellenschreiber eigentlich veranlaßt hat, eine Angelegenheit, die mit zwanzig Sätzen treffend erledigt werden konnte, über fünf und mehr Fortsetzungen zu wälzen.52 49 Ebd., S. 39. 50 Vgl. Leonie Marx: Die deutsche Kurzgeschichte im Dritten Reich. In: Dies.: Die deutsche Kurzge-

schichte. Stuttgart 21997 (= Sammlung Metzler, 216), S. 110-121 (mit bibliographischen Hinweisen).

51 Manfred Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts. Werkstattgesprä-

che. Interpretationen. Würzburg 32002, S. 13. 52 Bert Brennecke: Kurzgeschichte oder Novelle. In: Der deutsche Schriftsteller 3 (1938), S. 75-77,

hier S. 75.

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In der Antwort, die Brennecke gibt, leben Argumentationsmuster fort, die so oder ähnlich auch in der neusachlichen Kritik an traditionalistischer Literatur zu finden sind: Doch, wir müssen gerecht sein, der eigentliche Grund hierfür liegt weniger bei den Schreibern dieser Novellen, als in der Zeit selbst, in der sie lebten und für die sie schrieben. Es ist die Zeit kurz vor der serienmäßigen Herstellung des Automobils, alles atmet noch eine gewisse Beschaulichkeit, die Landstraßen, ich meine die Hauptverkehrswege, besitzen noch Kopfsteinpflaster, auf den Marktplätzen der Städte stehen die Mietsdroschken, und ab und zu flitzt, von neugierigen Augen bestaunt und bewundert, ein uns heute vorsintflutlich anmutendes Automobil durch die Straßen. Kein Wunder also, daß diese Beschaulichkeit auch im Schrifttum jener Tage zu finden ist. Wie anders dagegen die Gegenwart, in der wir stehen! Eine Zeit, die so schnellebig, im Tempo so ungeheuer gesteigert ist, wie die unsere, kann es sich nicht leisten, in dem für den Tagesgebrauch geltenden Schrifttum einen Standpunkt einzunehmen, wie er vor zwanzig oder dreißig Jahren gang und gäbe war. Auch die Zeitung, wenn sie aktuell bleiben wollte, mußte sich dieser Entwicklung anpassen, indem sie allen unnötigen Ballast über Bord warf. Zu diesem Ballast gehört auch die sich über mehrere Fortsetzungen hinziehende Novelle, auch wenn darin sich die ganze Seele ihres Schöpfers spiegelt. Die Kurzgeschichte trat ihren Siegeszug an, und sie ist es auch, die dem Schriftsteller das weitaus größte Betätigungsfeld gibt.53

›Modernisierung‹, ›Beschleunigung‹, ›Tempo‹, ›Aktualität‹, das Plädoyer für knappes, zeitgemäßes, ›sachliches‹ Schreiben – Brennecke greift zahlreiche Schlagworte auf, die in den zwanziger Jahren von der literarischen Avantgarde geprägt und für die eigene Produktion beansprucht wurden. Eine Absage erteilt er dagegen an »Leute mit wallenden Bärten« und »einseitig befangene Befürworter der Novelle«, die den Verfasser von Kurzgeschichten als »Vielschreiber« diskreditierten, statt die Gefahren der Vielschreiberei auch und gerade bei den Novellisten zu erkennen. Die Kurzgeschichte wird ideologisch beansprucht als ideales Medium zur Aufnahme von »Tagesprobleme[n], die an der Wurzel angepackt werden müssen«. Brennecke nennt als Beispiele: »WHW., KdF., RSV., Werkscharen, Hitler-Jugend, Arbeitsdienst, Wehrmacht – alles Dinge, die sich wohl dazu eignen, in der Kurzgeschichte behandelt und in lebendiger Darstellung dem Zeitungsleser vor Augen geführt zu werden«. Es folgt die nationalsozialistische Variante des Horazischen Aut prodesse aut delectare: »Ich will dem belehrenden, wissenschaftlich untermauerten Aufsatz seine Bedeutung keineswegs absprechen, aber für den ungeschulten Leser erweist sich die Kurzgeschichte, wenn sie diese Probleme in unterhaltender Form aufnimmt, als ein besonders geeignetes Mittel, ihm das Ideengut der nationalsozialistischen Weltanschauung nahezubringen«.54 Gegen die ›künstlerische‹ Novelle wird die Kurzgeschichte als eine Form von ›zeitgemäßer‹, ja im Sinn der herrschenden Ideologie ›engagierter‹ Literatur ausgespielt.55 53 Ebd., S. 75f. 54 Ebd., S. 76. 55 Zwei weitere kurze Beiträge im gleichen Heft von Der deutsche Schriftsteller bestätigen diese Wertun-

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Hier wird deutlich, wie schwer es für Wolfgang Weyrauch und die Autoren der Sammlung Tausend Gramm gewesen ist, sich theoretisch abzugrenzen. ›Kurzgeschichten‹ als ein Genre politisch engagierter Literatur gegenüber der traditionellen Novelle zu privilegieren war ein Konzept, das bereits unter dezidiert nationalsozialistischem Vorzeichen entwickelt worden war. Wenn Weyrauch noch in einem späten Rückblick das »nazistische« mit dem »pathetische[n] Schreiben« identifiziert56, ist das eine einseitige Festlegung, die durch einen Beitrag wie den Brenneckes zumindest relativiert werden kann: ›Sachlichkeit‹ oder ›Realitätsbezug‹ waren keine Bastionen gegen ideologische Indienstnahme. Bei aller politisch-inhaltlichen Gegensätzlichkeit weist Weyrauchs Bekenntnis zur »essentiellen Wahrheit« und zu einer »verpflichteten«, pädagogisch wirksamen Literatur strukturelle Analogien zu Brenneckes ideologisch dominierter Funktionalisierung der Kurzgeschichte auf. Einige konzeptionelle Besonderheiten von Tausend Gramm unterstreichen sogar noch die Nähe zu theoretischen Überlegungen der dreißiger Jahre: Insbesondere die Konsequenz, mit der Weyrauch einen Bezug zur amerikanischen Gegenwartsliteratur vermeidet, ist auffallend57 und erinnert an die älteren Versuche, amerikanische short story und deutsche Kurzgeschichte so weit wie möglich auseinanderzuhalten, auf unterschiedliche Ursprünge und gegensätzliches »Wesen«58 zurückzuführen. Wenn Weyrauchs Untertitel Sammlung neuer deutscher Geschichten auf die Lehnübersetzung ›Kurzgeschichte‹ verzichtet und stattdessen den Terminus ›Geschichte‹ in ausdrücklicher Verbindung mit dem Epitheton ›deutsch‹ verwendet, ist der Bezug zur traditionalistischen Literaturproduktion vor 1945 deutlich hergestellt. Außerdem suggerieren die Fünf Modellgeschichten, die Weyrauch voranstellt, einen genuin europäischen Urgen: Der eine sieht die Kurzgeschichte als »echtes rechtes Produkt unserer Zeit« (E.C. Christophé: Von der Kurzgeschichte. In: Der deutsche Schriftsteller 3 [1938], S. 54), der andere betont den exemplarischen Kunstwert der »Novelle als strenger Kunstform« unter Rückgriff auf die üblichen, vor allem von Pongs festgeschriebenen Kriterien völkisch-klassizistischer Novellendefinition wie ›das Symbolische‹, ›das Dämonische‹ und das ›Schicksal‹ (Ernst Schmidt: Die Novelle als Kunstform. In: Der deutsche Schriftsteller 3 [1938], S. 54-56). 56 Manfred Durzak: »Die Fibel der neuen deutschen Literatur«. Gespräch mit Wolfgang Weyrauch. In: Ders.: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, S. 19-34, hier S. 21. 57 Vgl. ebd., S. 22f. 58 Vgl. z.B. C. Atzenbeck: Die deutsche Kurzgeschichte. In: Die Scholle 13 (1936/37), S. 732-735, hier S. 732. Atzenbeck sieht die amerikanische short story als »echtes Kind der Zivilisation und der Großstadt; ihre Mutter ist die tagverhaftete Schreibe, ihr Vater ist der Journalismus, ihre Taufpaten sind die ›Konstruktion‹ und der ›Einfall‹ […] Die Ahnenreihe der deutschen Kurzgeschichte geht viel weiter zurück: Ihre Stammutter ist nicht die Schreibe, sondern das gesprochene Wort. In der Fabel, in der Parabel, in der Sage, im Märchen […] haben wir ihre Urformen vor uns« (S. 732). ›Deutsche‹ und ›amerikanische‹ Kurzgeschichte werden im Folgenden in ein typisch dichotomes Wertungsmuster gepresst und den Polen gut/schlecht, konstruiert/gestaltet, gekonnt/gewachsen, erwerbsmäßig hergestellt/gedichtet zugeordnet. Allerdings bleibt auch dort, wo in der Nachkriegszeit versucht wird, die Eigenständigkeit der amerikanischen Story in positivem Sinn zu betonen, die ›Novelle‹ mit ihren »strenge[n] feststehende[n] Formen«, »ihrem Aufschwung, ihrem kritischen Höhepunkt und ihrem resultierenden Ausklang« das überlebte, nicht mehr zeitgemäße Gegenbild zur ›modernen‹ Kurzprosa, so z.B. bei Ernst Schnabel: Die amerikanische Story. In: Nordwestdeutsche Hefte 1 (1946), H. 3, S. 25-28, hier S. 26.

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sprung der Gattung mit deutschem Übergewicht: Neben Tschechow und Maupassant werden – typische Bezugspunkte auch eines Hans Franck oder Wilhelm Schäfer – Hebel und Kleist, darüber hinaus noch Friedrich Hebbel als Orientierungsmuster angeboten. Dieses Ausblenden des amerikanischen Einflusses ist insofern erstaunlich, als mit Kurt Ullrichs Band Neu Amerika (1937) selbst unter dem Nationalsozialismus eine Sammlung amerikanischer Kurzgeschichten veröffentlicht worden war und erst Recht nach 1945 ein enormes Interesse an amerikanischer Literatur bestand. Wolfdietrich Schnurre zufolge waren die short storys von Hemingway und anderen Vertretern der ›lost generation‹ geradezu »Offenbarungen für die deutschen Nachkriegsautoren«59 und in jeder neueren Darstellung wird das amerikanische Literatursystem des 19. und 20. Jahrhunderts als der »entscheidende geschichtliche und kulturelle Humusboden dieser Prosaform« hervorgehoben.60 Ein anschauliches Indiz sowohl für die Rezeption (vor allem) amerikanischer Kurzgeschichten als auch für die entsprechende Programmierung des gattungstheoretischen Diskurses sind der Titel und die wechselnden Untertitel der Zeitschrift Story, die der Rowohlt-Verlag zwischen 1946 und 1953 herausgebracht hat: Anfangs führte Story den Untertitel Novellistik des Auslands; 1948 gab die Redaktion einen Sammelband Erzähler des Auslands heraus, 1949 wurde der Untertitel für die ersten drei Hefte in Erzähler unserer Zeit und schließlich in Die moderne Kurzgeschichte verändert.61 Der Titel Story signalisierte von Anfang an ein gewisses internationales Flair, der erste Untertitel benutzte noch den Begriff Novellistik, auch und gerade um einen gehobenen literarischen Anspruch zu bekunden; Erzähler des Auslands ist eine offene und sachlichere Kennzeichnung, Erzähler unserer Zeit beseitigt die geographische Einschränkung zugunsten der temporalen und Die moderne Kurzgeschichte bringt bewusst den Moderne-Begriff ins Spiel, um den eigenen ästhetischen Standpunkt zu proklamieren und den Begriff Kurzgeschichte in diesem Sinne zu präzisieren. Die deutsch-nationale Diskussion um die Gattung Kurzgeschichte wurde damit rasch überlagert durch eine Perspektive, die dieses Genre mit ›Amerika‹, ›Internationalität‹ und ›Moderne‹ verband. Das heißt nicht, dass die theoretischen Bemühungen um »eine eigene, selbständige deutsche Kurzgeschichte«62 zu einem Ende gekommen wären; als die Zeitschrift Der Deutschunterricht 1957 ein Themenheft zur Kurzgeschichte vorlegte, stammte der erste Aufsatz (ausgerechnet) von Hermann Pongs. Pongs definiert die Kurzgeschichte im Anschluss an André Jolles als neue ›Einfache Form‹, »deutlich […] abgrenzbar« von Anekdote und Kalendergeschichte: »Als Einfache Formen sind sie zeitlos, stellen sich immer wieder her. Die Anekdote um den Kern einer Persönlichkeit; die Kalendergeschichte um die Einfalt der Volksseele […]; 59 Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte [1959]. In: Ders.:

Erzählungen 1945-1965, München 1977, S. 388-396, hier S. 393.

60 Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, S. 12. 61 Vgl. Marx: Die deutsche Kurzgeschichte, S. 126f. 62 Helmut Motekat: Gedanken zur Kurzgeschichte. Mit einer Interpretation der Kurzgeschichte So ein

Rummel von Heinrich Böll. In: Der Deutschunterricht 9 (1957), H. 1, S. 20-35, hier S. 21.

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die Kurzgeschichte um das schockhafte Grauen, wie es den wehrlosen Einzelnen vor den wilden Zufällen eines Massenzeitalters überkommt«.63 Auf der Basis dieser normativen, von ›zeitlosen‹ Urbildern ausgehenden Gattungsauffassung formuliert Pongs vor allem zwei Thesen: Die erste behauptet, dass die ›deutsche‹ Kurzgeschichte des amerikanischen Einflusses nicht bedurft habe; bereits Paul Ernst sei »ganz aus dem eignen Gesetz zu der neuen Form«64 gelangt. Die zweite, als Fazit angelegte, abstrahiert von der in Kurzgeschichten nach 1945 dominierenden konkreten Kriegsthematik zu einem ontologisch verbrämten Daseinsproblem, in dem zugleich auch die Frage nach deutscher Schuld und Verantwortung aufgehoben wird: Drei markante Typen traten uns entgegen im begrenzten deutschen Bereich: das Grauen als Schatten, den die Überforderung der Charaktere wirft, unter vererbtem Pflichtgefühl [so bei Paul Ernst, S.K.]; das vom Urgrauen durchschütterte Leidensgesicht der den Zweiten Weltkrieg verkraftenden Generation [so bei Wolfgang Borchert, S.K.], und das Grauen, als Gericht an der bürgerlichen Welt schlechthin, mit der rigorosen Forderung, diese Welt bis auf alle Traditionsgründe zu verändern [so bei Gerd Gaiser, S.K.].65

Im gleichen Heft neigt auch Helmut Motekat dazu, die in Kurzgeschichten nach 1945 gestellte »Sinnfrage« mindestens in gleichem Maß »aus den Tiefen des deutschen Wesens« zu erklären »wie aus der spezifischen Situation, in die der Träger dieses Wesens, der deutsche Mensch seit 1945 hineingestellt ist«.66 Die pseudowissenschaftliche Diktion abstrahiert sowohl bei Pongs als auch bei Motekat von der bei Borchert oder Böll sehr viel konkreter erfassten historischen Lage, in die der ›deutsche Mensch‹ eben nicht nur ›hineingestellt‹ wurde, sondern in die er sich zu einem erheblichen Teil auch selbst manövriert hat; die ontologisch ausgeweitete Sinnfrage korrespondiert darüber hinaus mit einem ontologisch gefassten Gattungskonzept, das etwa »von der klassischen Novelle und ihrem Formgesetz ausgehend, das Wesen der Kurzgeschichte«, die normative Gestalt einer »echten Kurzgeschichte« erfassen möchte.67 Die Beiträge, die das entsprechende Heft des Deutschunterricht zur Kurzgeschichte vorlegt, dokumentieren so in exemplarischer Form die fachgeschichtliche Kontinuität, das Fortleben normativer Gattungsauffassungen und der ›existentiellen‹ Literaturinterpretation, sowie, bezogen auf die Kurzgeschichte, den Versuch, eine deutsche Sonderform nicht als spezielle historische Ausprägung, sondern als ›wesenhafte‹ Form zu legitimieren. 63 Hermann Pongs: Die Anekdote als Kunstform zwischen Kalendergeschichte und Kurzgeschichte.

In: Der Deutschunterricht 9 (1957), H. 1, S. 5-20. 64 Ebd., S. 16. – Ein weiterer Beitrag definiert Paul Ernsts Werk als »zukunftgerichtet«; er endet mit

den Worten: »Paul Ernst hat einmal gesagt: ›Bei dem Wiederaufbau unseres Volkes sollen meine Dichtungen einen Baustein abgeben. Er ist nicht groß, das ist mir bewußt. Aber er ist wenigstens ein Baustein.‹ Ich glaube, daß der Baustein trägt und zum Eckstein werden könnte, wenn wir auf ihn zu bauen wissen, was unseres Amtes ist: Zucht, Ehrfurcht und Liebe«, vgl. Walter Haussmann: Paul Ernst im Unterricht. Mit drei Interpretationen für die Mittelstufe. In: Der Deutschunterricht 9 (1957), S. 76-90, hier S. 89. 65 Pongs: Die Anekdote als Kunstform, S. 20. 66 Motekat: Gedanken zur Kurzgeschichte, S. 35. 67 Ebd., S. 27, 29.

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Gerade in diesem eigentümlichen Doppelcharakter ihrer literarischen und politischen Konnotierung kann man jedoch auch den Grund sehen, aus dem die Kurzgeschichte in den frühen Nachkriegsjahren zur »Gattung der historischen Stunde«68 avancierte: Sie war eben nicht nur Ausdruck einer Orientierung am anglo-amerikanischen Vorbild, sondern erinnerte auch an eine spezifisch deutsche, zum Teil unter dezidiert nationalsozialistischem Vorzeichen geführte Gattungsdiskussion, deren Argumentationsmuster subkutan und trotz aller verbalen Beschwörung von ›Kahlschlag‹ und ›Neubeginn‹ in die literarischen Konzepte der Nachkriegszeit hinüberspielte. Wie hat sich die schon von den Zeitgenossen registrierte »jähe Blüte der Kurzgeschichte«69 in den ersten Nachkriegsjahren auf den Novellenbegriff und die Novellenproduktion ausgewirkt? Die Antworten auf diese Frage sind wenig überraschend: Im gleichen Ausmaß, wie die Kurzgeschichte zur ›modernen‹ und ›aktuellen‹ Gattung avanciert, wird die Novelle auf den Gegenpol des ›Unzeitgemäßen‹ und ›Historischen‹ festgelegt. Einer Formulierung Heinrich Bölls zufolge war die Pflege der Kurzgeschichte »mehr oder weniger bewußt der Abschied von der Novelle, die eine sehr aristokratische Form der kurzen Prosa ist«70 (und man wollte ja nun demokratisch sein). Fast alle Versuche, die Kurzgeschichte theoretisch zu umreißen, bemühen sich um eine explizite oder implizite Abgrenzung der jüngeren Gattung von der älteren. Was früher oft als Vorzug ›der Novelle‹ gegenüber anderen Formen der Kurzprosa gepriesen wurde – nämlich ›strenge‹ poetische Durchformung und hoher ästhetischer Anspruch – gerät ihr nun zum Nachteil innerhalb des poetologischen Diskurses: Für die ›Kahlschlägler‹ zählte weniger die ästhetische Qualität eines Textes als die Verpflichtung auf ›Engagement‹ und ›Wahrheit‹ selbst »um den Preis der Poesie«.71 Auch wo diese Postulate nur in abgeschwächter Form vertreten werden – etwa bei Hans Bender – erscheint ›das Novellistische‹ als etwas Traditionelles, Antiquiertes, im Wesentlichen Überholtes. Ende der siebziger Jahre hat Bender die Schlusswendung einer seiner bekanntesten Kurzgeschichten, Iljas Tauben (1957), wie folgt kommentiert: Da hat mir jemand mal etwas sehr Gutes gesagt, nämlich da sei noch ein alter novellistischer Kern vorhanden. Der Böse, der das alles angerichtet hat, der bekommt die gerechte Strafe. Und das habe ich akzeptiert. Ja, ich hab gesagt, das steckt eben noch in mir, diese humanistische Bildung und die Kenntnis der Novelle. Der Kurzgeschichtenschluß, der ist im Satz vorher, wo es ganz salopp heißt: Wer weiß, ob ich mal wieder Tauben esse. Da hätte die Geschichte aufhören können. Ich weiß auch, daß ich damals gegen diese zu per-

68 Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte, S. 14. 69 Schnurre: Kritik und Waffe, S. 392. 70 Heinrich Böll [im Gespräch mit Ekkehart Rudolph]. In: Ekkehart Rudolph (Hg.): Protokoll zur

Person. Autoren über sich und ihr Werk. München 1971, S. 27-43, hier S. 29. 71 Weyrauch: Nachwort, S. 217.

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fekte Saloppheit schon eine Art Widerwillen hatte und daß dann dieser Schluß hinzugekommen ist.72

Bender signalisiert hier zwar Distanz zur oft als gattungskonstitutiv gesehenen ›Offenheit‹ der Kurzgeschichte; doch zugleich wird diese Distanz als novellistischer Restbestand gedeutet, als unzeitgemäßes Erbe ›humanistischer Bildung‹ und eines entsprechenden Weltbildes. Fast entschuldigend bemerkt er im gleichen Gespräch, er habe »als Germanistikstudent über die Novelle gearbeitet« und »1940 in Erlangen ein Referat gehalten bei Benno von Wiese«: »ich war also auch noch vollgestopft mit Ansichten, die ich damals auf der Universität gehört oder gelesen habe«.73 Trotz des negativen Beiklangs ist diese Aussage ein anschaulicher Beleg dafür, wie Gattungsbegriffe und als typisch deklarierte Gattungsmerkmale innerhalb des Literatursystems kommuniziert werden und entsprechend Einfluss nehmen auch auf die literarische Produktion – unabhängig davon, ob der Rekurs auf die Tradition unter affirmativem oder kritischem Vorzeichen steht. Die zeitgenössischen (beziehungsweise in die Vorkriegszeit zurückweisenden) »Ansichten« von dem, was eine Novelle ausmacht, geben in den fünfziger Jahren die Bezugspunkte und Kategorien vor, die die theoretische Abgrenzung und Legitimation der Kurzgeschichte bestimmen – und das in einem Ausmaß, das vielen Autoren erst im Rückblick bewusst wird. Ein Beispiel dafür ist auch Klaus Doderers Dissertation Die Kurzgeschichte in Deutschland, die 1953 den ersten größeren literaturwissenschaftlichen Versuch darstellte, die Gattung zu definieren; erst in der Vorbemerkung zum Neudruck (1969) registriert Doderer, dass der Begriff des ›Schicksalsbruchs‹ wie überhaupt die Kategorie des ›Schicksals‹, mittels derer er verschiedene Typen von Kurzgeschichten unterscheiden wollte, dem novellentheoretischen Diskurs stark verpflichtet, zu sehr ›novellistisch‹ aufgeladen sei, um der angestrebten Abgrenzung der Gattungen voneinander tatsächlich zu nützen.74 Dass das Spezifische der Kurzgeschichte ausgerechnet mit Worten und Begriffen zu erfassen gesucht wird, die in gleicher oder ähnlicher Form schon die besonderen Qualitäten von Novellen hatten kennzeichnen sollen, begegnet in den poetologischen Äußerungen von Autoren allerdings genauso oft wie in literaturwissenschaftlichen Beiträgen: Hier wäre etwa auf Kurt Kusenbergs Aufsatz Über die Kurzgeschichte zu verweisen, der mit Begriffen wie »exemplarisch«, »paradoxe Wendung«, »Umschlag«, »Unerwartetes und Besonderes«, »Ohnmacht des Menschen« und »Macht des Schicksals« nahezu den kompletten Wortschatz der Novellentheorie bemüht, um die spezifischen Möglichkeiten der Kurzgeschichte zu profilieren.75 Doch selbst, wo das Scheitern einer auf inhaltlich-motivische Bestimmungen gestützten Gattungsde72 Manfred Durzak: »Die Kurzgeschichte deutscher Spielart«. Gespräch mit Hans Bender. In: Ders.:

Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, S. 68-84, hier S. 79.

73 Ebd., S. 71. 74 Vgl. Doderer: Vorbemerkung zum Neudruck. In: Die Kurzgeschichte in Deutschland, S. VII-XVI,

hier S. XIII. 75 Kurt Kusenberg: Über die Kurzgeschichte. In: Merkur 19 (1965), S. 830-838.

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finition weniger deutlich hervortritt, ist das logische Grunddefizit der meisten Abgrenzungsversuche offenkundig: ›Die Kurzgeschichte‹ wird nahezu ausnahmslos als spezielles, auf die Gegenwart und die Moderne bezogenes Genre verstanden; begünstigt durch den Umstand, dass man sie als traditionsarm, wenn nicht vollständig ›neu‹ betrachtete, wurde ihr angebliches ›Wesen‹ in enger Anlehnung an die zeitgenössische Produktion definiert. Die historische Erscheinungsform, von der man die ›zeitlose‹ Norm der ›echten‹ Kurzgeschichte abstrahierte, war also die der eigenen Gegenwart; die historische Erscheinungsform, von der man das angebliche ›Wesen‹ der Novelle ableitete, war jedoch die des späten 19. Jahrhunderts bzw. der klassizistischen Novellenproduktion. Damit stand natürlich fest, dass ›die Kurzgeschichte‹ im gattungstypologischen Diskurs der fünfziger Jahre von vornherein als das aktuellere, dynamischere und zukunftsfähigere Genre wirken musste, während ›die Novelle‹, festgelegt auf eine historisch zurückliegende, aber zur absoluten Norm erhobene Erscheinungsform zwangsläufig das statische, erzähltechnisch traditionelle, sprachlich altmodische und insgesamt obsolete Gegenbild abgeben musste. Zur vielfach hervorgehobenen ›Krise‹ der Novelle in den fünfziger Jahren trug darüber hinaus bei, dass sich nicht nur die ›Kahlschlägler‹ und sonstige Kritiker der Novellenform, sondern auch ihre Befürworter kaum je von ihrem normativen Gattungskonzept lösten und so ihrerseits die Vorstellung einer nicht mehr entwicklungsfähigen, unzeitgemäßen Gattung zu befestigen halfen. Die Auswirkungen auf die literarische Praxis sind nicht zu verkennen und quantifizierbar: Innerhalb weniger Jahre, zwischen 1946 und 1953, wird sich die Zahl der ausdrücklich als ›Novelle‹ bezeichneten Neuerscheinungen um rund zwei Drittel reduzieren. So erscheinen in den vier Jahren zwischen 1946 und 1949 etwa dreihundert Bände mit einer oder mehreren ›Novellen‹, in den folgenden vier Jahren zwischen 1950 und 1953 nicht einmal mehr einhundert.76 Mit diesem Rückgang der Novellenproduktion lässt sich die theoretische Einschätzung der Novelle in einigen knappen Artikeln korrelieren, die zwischen 1948 und 1954 erschienen sind.

3. Novellentheoretische Beiträge in Zeitschriften und Anthologien Im Abstand von nur einem Jahr publizierten Ernst Glaeser im westdeutschen Dreiklang und Franz Hammer im ostzonalen Aufbau zwei Artikel unter der identischen Überschrift Die Kunst der Novelle. Die Titelwahl indiziert, dass beide Verfasser das traditionelle Verständnis der Novelle als einer anspruchsvollen Gattung von besonderem Kunstwert teilen. Glaeser, in der Weimarer Republik als Autor pazifistisch orientierter Romane wie etwa Jahrgang 1902 viel beachtet, erweist sich als der originellere Denker; das gilt auch und vor allem für die Fähigkeit, literarische Entwicklungen im Zusammenhang mit sozialhistorischen zu betrachten. Hammer schickt seinen Aus76 Diese Zahlen basieren auf einer Auswertung der elektronischen Bibliothekskataloge im Karlsruher

Virtuellen Katalog.

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führungen einen apologetischen Abschnitt voraus, der das Zitieren politisch belasteter Autoren entschuldigen will, aber dies nur durch einen schwachen Verweis auf die Eigengesetzlichkeit des ästhetischen Diskurses leisten kann: Im folgenden soll versucht werden, die Formgesetze der Novelle grundlegend zu erörtern. Zu diesem Zwecke ist es unerläßlich, Männer zu Worte kommen zu lassen, die für uns heute politisch untragbar geworden sind – deren Beitrag aber so bedeutend ist, daß – will man ein vollkommenes Bild von der deutschen Novelle vermitteln – sie nicht einfach totgeschwiegen werden können. Und da es hier schließlich nicht um politische oder weltanschauliche Auseinandersetzungen, sondern um reine formale Feststellungen, um eine Ästhetik der Novelle geht, sei es daher gestattet, Männer wie Paul Ernst, Wilhelm Schäfer und auch den Balladendichter Börries von Münchhausen zu zitieren.77

Was folgt, ist nicht mehr als eine affirmative Zusammenfassung der einschlägigen Äußerungen von Goethe bis Schäfer; der Novellenbegriff wird normativ und wertend gefasst: Es geht um die »Eigenschaften der echten Novelle«78 in Abgrenzung zu dem, was nur als »dürftiger Erzählversuch«79 gelten dürfe. Emil Strauß, Rudolf G. Binding und Wilhelm Schäfer werden zu denjenigen gerechnet, die »Mustergültiges auf dem Gebiet der Novelle« schufen; die Bemerkung, dass Binding sich »übrigens bei ihrem Erscheinen stark für die Novellen um Claudia von Arnold Zweig« eingesetzt habe, ist als zaghafter Versuch einer politischen Entlastung erkennbar. Recht unvermittelt kommt Hammer zum Schluss, nachdem er noch einige Novellen des wenig bekannten Hermann Kesser als »Beispiel und Ansporn für die künftige Generation« hervorgehoben hat; Hauptintention des Artikels scheint die Hinüberrettung eines durch die »Konservativen«80 geprägten Gattungsideals in die sozialistische Zukunft.81 Glaesers Artikel geht zunächst von einer unverkennbaren Krise der Gattung in der zeitgenössischen Gegenwart aus: Die Novelle als Kunstform hat in der öffentlichen Geltung eine erhebliche Einbuße erlitten. Auf die Frage, wie viele Freunde der Literatur sich heute noch aus Lust am Genre der Lektüre von Novellenbüchern hingeben, wird wohl von jedem wahren Verleger, selbst unter Berücksichtigung des gegenwärtigen, schier inflationistischen Lesehungers der Deutschen, mit einer behutsamen Skepsis beantwortet werden. Behutsam aus dem Grunde, weil man zur Stunde die Größe X, das kaufende Publikum, in seiner literarischen 77 78 79 80 81

Franz Hammer: Die Kunst der Novelle. In: Aufbau 4 (1948), S. 330-333. Ebd., S. 332. Ebd., S. 330. Ebd., S. 333. Hammer hatte zwei Jahre zuvor einen kleinen Novellenband vorgelegt. Karl Ewald Böhm betont im Vorwort die Herkunft Hammers von der sozialistischen Jugendbewegung und sein Publikationsverbot unter dem Nationalsozialismus; die Kriterien, nach denen seine literarische Leistung bewertet wird, sind allerdings ausgesprochen traditionell: »Besonders die vorliegenden drei Novellen weisen ihn als echten Dichter aus: sie sind nicht das Elaborat von zweckbestimmten Überlegungen, sondern der unstillbare Fluß einer durch und durch menschlichen Gesinnung« (Karl Ewald Böhm: Vorwort. In: Franz Hammer: Phosphor. Novellen. Weimar 1946 [= Thüringer Volksschriften, Heft 4], S. 11-14, hier S.11). Entstanden sind die drei knappen, wenig belangvollen Texte Der Krüppel, Gerichtstag und Phosphor vor 1945.

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Grundhaltung noch nicht zu erkennen vermag. Skeptisch, weil man zu wissen glaubt, daß der große Roman und jenseits der Kunstsphäre, die Reportage, im Begriffe stehen, einen der edelsten Zweige epischer Schöpferkraft zum Absterben zu bringen.82

So macht Glaeser die noch unklaren Zeitumstände und den schwer kalkulierbaren Publikumsgeschmack nach dem deutschen Zusammenbruch für die Krise der Novellenform mitverantwortlich. Indem er von Erfahrungen der Vermassung ausgeht, knüpft er an den ästhetischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik an: In einem Zeitalter, das sich immer mehr in das Problem des Massenhaften verstrickt, ist diese Entwicklung keineswegs verwunderlich. Denn die Novelle setzt, um überhaupt entstehen zu können, den Glauben an die absolute Wichtigkeit des Einzelschicksals voraus, einen Glauben also, den man auch heute nicht durch gelegentliche Lippenbekenntnisse in Reden und Zeitungsartikeln aus den Massengräbern zweier furchtbarer Kriege wieder zu erwecken vermag. Was gilt schon in Wahrheit das Schicksal der Marquise von O. …, was gilt schon die düstere Wanderung eines Lenz in den Wahnsinn einem Geschlecht, das nur noch in Gruppen […] zu denken sich anschickt?83

Als »die individualistischste aller epischen Formen« müsse die Novelle im Massenzeitalter zwangsläufig in den Hintergrund treten – eine Auffassung, die später vor allem Hellmuth Himmel in seiner Geschichte der deutschen Novelle prononciert vertreten und damit literaturwissenschaftlich sanktioniert hat.84 Den denkbaren Einwand, dass etwa der deutsche Bildungsroman noch viel mehr als die Novelle Boccaccios vom Glauben an die Wichtigkeit des Individuums getragen ist, nimmt Glaeser insofern vorweg, als er den Erzähler Goethe viel eher als Novellisten denn als Romancier sehen will.85 Der anschließende historische Abriss geht davon aus, dass der »Abstieg« der Novelle nach 1870/71 eingesetzt habe: »Immer mehr wird das einzelne Schicksal von der Anonymität der hoch- und monopolkapitalistischen Ära aufgesaugt und in die Zwangsläufigkeit der beginnenden Massenprozesse gepreßt«.86 Um soziale Bewegungen und Hintergründe zu beleuchten, sei der Roman das geeignetere Medium; »in Zeiten gewaltiger gesellschaftlicher Veränderungen und Umschichtungen« trete »die Kunst der Novelle etwas in den Hintergrund«.87 Unter friedlicheren, stabileren Zeitumständen werde sie jedoch wieder möglich, weil mit einer gesamtgesellschaftlichen Konsolidierung auch das Interesse an Einzelschicksalen und existentiellen Fragen zurückkehren werde. Obwohl sein Novellenverständnis auch normative Züge aufweist, eröffnet Glaeser mit dieser optimistischen Schlussprognose doch eine historische Perspektive, die die Gattung nicht auf eine Verfallsgeschichte festlegt, sondern ihr Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten zugesteht. Nora Tinnefeld, die 1948 eine Anthologie von Novellen der Lebenden unter dem Titel Das erhörte Herz herausgab, ist erkennbar von Glaeser beeinflusst. Auch sie geht 82 83 84 85 86 87

Ernst Glaeser: Die Kunst der Novelle. In: Dreiklang 2 (1947), S. 195-197, hier S. 195. Ebd., S. 195f. Vgl. Himmel: Geschichte der deutschen Novelle, S. 491. Vgl. Glaeser: Die Kunst der Novelle, S. 196. Ebd. Ebd.

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davon aus, dass die Novellenform ein »Wissen um die Bedeutung und Wichtigkeit des Einzelschicksals« voraussetze, »das man nur mühsam vor den Massengräbern zweier furchtbarer Kriege« wiedergewinnen könne.88 Hierin allerdings sieht sie ein ausdrückliches Ziel ihrer Anthologie: »Im Kollektivgeschehen unserer Zeit möchte diese Sammlung von Novellen […] ihren Beitrag leisten zur Wiedergewinnung des Glaubens an den Wert und die Würde des einzelnen Menschen«.89 Der späthumanistischen Zielsetzung entspricht der Traditionalismus der Textauswahl, die unter anderem Novellen von Stefan Andres, Werner Bergengruen, Hans Leip, Otto Brues und Wilhelm von Scholz umfasst. Zwei weitere Publizisten führen die auch von ihnen hervorgehobene Krise der Novellenform zwar gleichfalls auf ungünstige gesellschaftliche Bedingungen zurück, bleiben aber noch stärker an konservative Vorstellungen gebunden. Rudolf Engelhardt beklagt in erster Linie den Mangel an »geistige[r] Geselligkeit«, der in Deutschland – im Unterschied zum Italien der Renaissance – stets geherrscht habe: »Die italienischen, wie überhaupt die romanischen Novellisten, wurden von einer Geselligkeit getragen wie gute Reiter von einem edlen Pferd; die deutschen Novellisten mußten sich diese Gesellschaft erst imaginieren«.90 Die Gunst seiner Zuhörerinnen zu erlangen, sei Boccaccios höchstes Ziel gewesen: »Ein freundliches Lächeln war ihm mehr wert als die Ehre, nach Jahrhunderten in Bücherschränken zu verstauben«.91 Dass das Decamerone nicht die Intaktheit oraler Tradition verbürgt, sondern im Gegenteil ein frühes Dokument für die Dominanz der Schriftkultur darstellt – innerhalb derer auch ein Boccaccio Oralität nur noch fingieren kann – muss diesem verklärendem Blick entgehen. Für die Krise der Novelle werden nicht die Autoren, sondern die Leser verantwortlich gemacht; Paul Ernst, Wilhelm Schäfer, Hans Grimm oder Werner Bergengruen seien durchaus »Männer, […] die Novellen schreiben können«: »Wo aber sind die Menschen, die einer solchen geistigen Unterhaltung und Erholung bedürftig sind?«92 Dass auf der Produktionsseite von »Männern« die Rede ist, auf der Rezeptionsseite aber von »Menschen«, weist darauf hin, dass hier auch eine geschlechtliche Codierung im Spiel ist; vollends klären die Schlussfragen Engelhardts über diesen Aspekt auf: Ob unser Mangel an tüchtiger Novellenkunst vielleicht auch daran liegt, daß unsere Schriftsteller allein in ihrer Kammer sitzen, daß sie nur mit geschäftigen Verlegern verhandeln, daß ihr Dank eine Dutzendbesprechung in einer Zeitschrift ist? Liegt es daran, daß keine schönen Frauen mehr dankbar lächeln, wenn der Novellist eine Novelle erzählt hat?93

88 Nora Tinnefeld: Nachwort. Von der Würde des Menschen. In: Dies. (Hg.): Das erhörte Herz. 89 90 91 92 93

Novellen der Lebenden. Recklinghausen 1948, S. 309-312, hier S. 309. Ebd., S. 312. Rudolf Engelhardt: Die Novelle und ihre Leser. In: Welt und Wort 3 (1948), S. 99f, hier S. 100. Ebd. Ebd. Ebd.

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Engelhardts Ausführungen belegen damit zwar nicht das Ende der Novelle, aber (unfreiwillig) den Anachronismus einer normativ fixierten Novellenkonzeption. Der Artikel von Edgar Groß Wo bleibt die Novelle? bestätigt 1953 noch einmal, »daß die Novelle im deutschen Schrifttum der Gegenwart sehr zurückgetreten ist«94, kann aber keine Erklärungen bieten, die über Glaeser hinausgehen würden. Weit hinter Glaeser zurück fällt Helmut M. Braem, wenn er die Novelle im 20. Jahrhundert zu einem »Paradoxon«95 erklärt; vor seinem extrem normativ orientierten Gattungsbegriff kann nicht einmal die Novellenproduktion des Realismus bestehen: Schon Mörike und C. F. Meyer rechnet er zum »vielstrophigen Abgesang der deutschen Novelle«. Entsprechend wird auch Johannes Kleins gerade erschienene Gattungsgeschichte wegen der »Jovialität des Autors« kritisiert: Klein lasse viel zu viele Texte als Novellen gelten, die nur noch für die »Scheinexistenz« des Genres in der neueren Zeit sprächen.96 Da Braem das »geschlossene Weltbild einer großen Gemeinschaft« zur »unbedingte[n] Voraussetzung der Novelle« erklärt, bleibt Boccaccio alleiniger Maßstab: »Löst sich die Gesellschaft auf, so zerfällt die Form der Novelle«.97 Entsprechend negativ muss die Bilanz ausfallen: Von einem allgemein verbindlichen Weltbild in unserer Zeit kann nicht gesprochen werden, ebensowenig von einem gleichgerichteten Zeiterleben, noch von einer Einheit der Gesellschaft. Damit ist die Novelle, wo sie heute geschrieben wird, zu einem Paradoxon geworden. Denn sie basiert auf Voraussetzungen, die nicht mehr gegeben sind.98

Bis zu diesem Punkt ist Braems Verbindung einer normativ fixierten Gattungskonzeption mit dem Erfahrungshorizont der Moderne wenigstens konsequent; sein Schlusssatz allerdings kann nur noch Staunen hervorrufen: »Es liegt an uns, ob sich die Novelle wieder mit Leben füllt oder ob sie ein versiegter Brunnen inmitten öder Wüstenei bleibt«.99 Um wieder von einer ›Novelle‹ sprechen zu können, sieht sich Braem nicht etwa veranlasst, seinen extrem verengten Gattungsbegriff für historische Entwicklungen zu öffnen; stattdessen setzt er offenbar auf die Rückkehr zum (angeblich) geschlossenen Weltbild der Renaissance – die Formulierung »Es liegt an uns« suggeriert, dass die Willens- und Entschlusskraft von Individuen ausreichen würde, um die Moderne rückgängig zu machen. Die ›öde Wüstenei‹ meint anscheinend die kulturelle Situation der zeitgenössischen Gegenwart und die Bedingungen einer offenen Gesellschaft. Wie sehr normative Gattungsvorstellungen nicht nur den Blick auf literarhistorische Entwicklungen verstellen, sondern symptomatisch sind für einen auf allen Ebenen eingeschränkten, simplifizierenden und ausgrenzenden Blick, wird kaum je so deutlich wie in diesem Artikel. 94 Edgar Groß: Wo bleibt die Novelle? In: Welt und Wort 8 (1953), S. 300. 95 Helmut M. Braem: Die Novelle im 20. Jahrhundert – ein Paradoxon. In: Deutsche Rundschau 80

(1954), S. 574-576. 96 Ebd., S. 574. – Da Klein keineswegs eine historische Gattungskonzeption vertritt, sondern durch-

aus eine normative (s. u.), ist dieser Kritikpunkt besonders fragwürdig.

97 Ebd., S. 575. 98 Ebd., S. 576. 99 Ebd.

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4. Literaturwissenschaftliche Novellenkonzepte in den fünfziger Jahren Normative Konzepte prägten auch das literaturwissenschaftliche Novellenverständnis bis in die 1960er Jahre hinein. Das geistesgeschichtliche Paradigma, das in den zwanziger Jahren den Positivismus abgelöst hatte, überwölbt die politischen Zäsuren von 1933 und 1945100, sein Fortwirken wurde durch personelle Kontinuitäten unterstützt: Nahezu alle führenden Germanisten der jungen Bundesrepublik – ob Paul Böckmann oder Wolfgang Kayser, Fritz Martini oder Benno von Wiese – waren schon im NS-Staat erfolgreich gewesen, alte Seilschaften beeinflussten die Lehrstuhlbesetzungen der Nachkriegszeit.101 Traditionell geistesgeschichtlich orientierte Denk- und Deutungsmuster hatten sich im Hitler-Reich mit nationalsozialisitschen Ideologemen verbunden, bei geringfügiger Modifikation finden sie sich in den fünfziger Jahren wieder102, ebenso wie die sogenannte ›existentielle Methode‹ der Literaturinterpretation.103 Erst der Münchner Germanistentag von 1966 gab den Auftakt zu einer fachgeschichtlichen Selbstreflexion, die 1945 ausgeblieben war; in den Folgejahren hat man nicht nur die Rolle der Germanistik im ›Dritten Reich‹ hinterfragt, sondern auch neue Forschungsparadigmen etabliert, die von der Rezeptions- und Sozialgeschichte über kommunikationstheoretische, strukturalistische und poststrukturalistische Zugänge bis zu anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen reichen. Mit dieser Entwicklung verglichen wirkt das methodische Spektrum der Vor- und Nachkriegsgermanistik ausgesprochen begrenzt, auch wenn es falsch wäre, die selbstverständlich vorhandenen und teils erheblichen Unterschiede zwischen einzelnen Forschern zu nivellieren. 100 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der

deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Hg. v. Wolfgang Prinz und Peter Weingart. Frankfurt/M. 1990, S. 240-248, sowie Marcus Gärtner: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. Bielefeld 1997. 101 Das ist eindrucksvoll zu belegen am Beispiel der Installierung von Hans Pyritz an der Hamburger Universität, vgl. Christa Hempel-Küter und Hans-Harald Müller: Zur Neukonstituierung der neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg nach 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hg. v. Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt/M. 1996, S. 19-34, sowie Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz. Berlin 2000, bes. S. 92-136. 102 Vgl. Renate von Heydebrand: Zur Analyse von Wertsprachen in der Zeitschrift Euphorion/Dichtung und Volkstum vor und nach 1945. Am Beispiel von Hans Pyritz und Wilhelm Emrich. In: Barner/König (Hg.): Zeitenwechsel, S. 205-230. 103 Diese war unter eindeutig nationalsozialistischem Vorzeichen programmatisch entfaltet worden, vgl. die entsprechenden Aufsätze von Hermann Pongs, Horst Oppel und Fritz Dehn in: Dichtung und Volkstum 38 (1937), S. 1-43. Ungeachtet ihrer politisch-ideologischen Vorgeschichte dominieren existentialistisch und ontologisch funierte Ansätze die Germanistik der fünfziger Jahre, vgl. Helmut Kreuzer: Vom »Sein« zur »Postmoderne«. Streiflichter auf vier Dekaden der Literatur und Literaturwissenschaft im westlichen Deutschland. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag. Hg. v. Paul Michael Lützeler u.a. Frankfurt/M. 1987, S. 296-323, bes. S. 301.

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Speziell auf die germanistische Novellenforschung bezogen, ist in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1960 kaum ein Wandel im Gattungsverständnis festzustellen; die ›strenge‹ Novellenform bleibt weitgehend auf ihre konservativ-klassizistische Tradition festgelegt und an überzeitlich definierte, weltanschaulich fundierte Modelle rückgebunden. Stellvertretend werden im Folgenden die Forschungsbeiträge von Hermann Pongs (1889-1979) und Johannes Klein (1904-1973) untersucht, die die Novellendiskussion ihrer Zeit nachhaltig beeinflusst haben. Während Pongs sich vor allem in Aufsätzen mit der Novelle beschäftigte (die er dann in den größeren Zusammenhang seines Hauptwerks Das Bild in der Dichtung gestellt hat), verfasste Klein die bis heute umfangreichste, in den fünfziger Jahren mehrfach wiederaufgelegte Gattungsmonographie. Beide Beispiele sind nebenbei geeignet, die wissenschaftsgeschichtliche Kontinuitätsthese zu stützen: Pongs lässt in den sechziger Jahren unverändert neu drucken, was er Anfang der Dreißiger zu Papier gebracht hat, und auch Klein greift auf Material zurück, das schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend aufbereitet war – sein Einleitungskapitel etwa entspricht, von Erweiterungen abgesehen, im Wesentlichen einem Aufsatz, den er bereits 1936 in der GermanischRomanischen Monatsschrift veröffentlicht hatte.104

4.1. Hermann Pongs (1889-1979) Hermann Pongs’ Aufsätze zur Novelle sind im Wesentlichen in den zweiten der insgesamt vier zwischen 1927 und 1973 veröffentlichten Bände seines Hauptwerks Das Bild in der Dichtung eingegangen, müssen also in engem Zusammenhang mit der dort entwickelten Symboltheorie betrachtet werden. Deren gedanklicher Ansatz blieb über die Jahrzehnte hinweg konstant und lässt sich in einer Kernthese zusammenzufassen: Das symbolische Sprechen des (genialen) Dichters verbürgt als »Höchstform alles künstlerischen Bildens«105 die Existenz und Erfahrbarkeit einer in der modernen Welt ansonsten verloren gegangenen Totalität.106 Dieser ersehnten Totalität steht – als »Zeiterkrankung« und «Seelenschwäche« – die »Ambivalenz« entgegen, »ein Wertezweifel, eine Unsicherzeit in den entscheidenden Wertungen des Lebens«, die zur »Entkräftung aller leitenden Symbole im Leben und in der Dichtung«107 führe und daher zu bekämpfen sei.108 Der ›wahre‹, ›anagogische‹ Dichter zeichne sich durch die 104 Vgl. Johannes Klein: Wesen und Erscheinungsformen der deutschen Novelle. In: Germanisch-

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Romanische Monatsschrift 24 (1936), S. 81-100; jetzt in: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 195-221. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 93f. Dabei verwendet Pongs den Symbolbegriff auf verschiedenen Abstraktionsebenen (zum ›Symbol‹ können sprachliche Einzelphänomene, ganze Gedichte oder bestimmte Verse, Dinge, Handlungen oder Charaktere werden) und zudem häufig synonym mit ›Metapher‹ und ›Bild‹, vgl. dazu kritisch Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik, S. 130f. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, Vorwort (unpaginiert). Dass Pongs den Begriff ›Ambivalenz‹ inkonsequent und ungenau handhabt, hat schon Seidler nach-

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Fähigkeit aus, Ambivalenzen im symbolischen Sprechen aufzuheben, während der ›ambivalente‹, ›analytische‹ Schriftsteller in den Grenzen seines Ich gefangen bleibe.109 Mit seiner Ablehnung von »Ambivalenz« steht Pongs den völkisch-konservativen Strömungen der späten zwanziger Jahre nahe, ein Eindruck, der durch die Verwendung einer »pseudophilosophischen Nomenklatur«110 und einen unverkennbaren »Vulgärexistentialismus«111 verstärkt wird. Nach 1933 zählt Pongs zu denjenigen Literaturwissenschaftlern, die den NS-Staat und seine Ideologie besonders nachdrücklich bejahen. Zusammen mit Julius Petersen betreibt er als Herausgeber die Umbenennung des Euphorion in Dichtung und Volkstum112; die früher hochgeschätzte Fachzeitschrift verkommt in ihrer Neuen Folge »zu einem Magazin für nationalsozialistische Weltanschauung«.113 Im Denken und in der Mentalität des mittlerweile sechsundfünfzigjährigen Hermann Pongs bedeutete das Jahr 1945 keinen erkennbaren Einschnitt. Die angestrebte Rückkehr in den Hochschuldienst blieb ihm zwar verwehrt, aber immerhin wurde er 1954 mit Erreichen der Altersgrenze bei vollen Bezügen emeritiert.114 Fast kompensatorisch wirkt das Ausmaß seiner Publikationstätigkeit115, doch spätestens seit Mitte der sechziger Jahre wird Pongs in der Fachdiskussion kaum mehr ernst genommen.116 Politisch ähnlich belastete, allerdings meist jüngere Kollegen wie etwa

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gewiesen, der sich im Übrigen verwahrt gegen die »im deutschen Raum alltäglichen ressentimentgeladenen Angriffe auf Pongs« (vgl. Herbert Seidler: Der Ambivalenzbegriff in der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Beiträge zur methodologischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Wien 1969, S. 35-54, hier S. 35). – Noch in den fünfziger Jahren hat Pongs versucht, anhand der gegensätzlichen Begriffe ›Ambivalenz‹ und ›Einfalt‹ eine Literaturgeschichte der Gegenwart zu strukturieren, vgl. Hermann Pongs: Im Umbruch der Zeit. Das Romanschaffen der Gegenwart. Tübingen 1952 (Vierte neubearbeitete Auflage u.d.T. Romanschaffen im Umbruch der Zeit. Eine Chronik von 1952 bis 1962. Tübingen 1963). Diese Anschauung will Pongs durch einen geradezu grotesken Vergleich zwischen Gottfried Kellers Frau Regel Amrain und ihr Jüngster (1856) und Stefan Zweigs Brennendes Geheimnis (1911) belegen, vgl. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 78f. Hartmut Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung. Bonn 1993 (= Literatur und Wirklichkeit, 27), S. 122. Adam: Einhundert Jahre Euphorion, S. 42. Vgl. Hermann Pongs/Julius Petersen: An unsere Leser! In: Dichtung und Volkstum 35 (1934), Vorwort (unpaginiert). Zahlreiche Beiträge von Pongs zeugen in den nächsten Jahren von seiner Bereitschaft, Literatur und Literaturwissenschaft vorbehaltlos in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie zu stellen. Wolfgang Adam: Dichtung und Volkstum und erneuerter Euphorion. Überlegungen zur Namensänderung und Programmatik einer germanistischen Fachzeitschrift. In: Barner/König (Hg.): Zeitenwechsel, S. 60-75, hier S. 67. Vgl. Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik, S. 293. Gaul-Ferenschilds Rechnung zufolge hat Pongs den vor 1945 entstandenen 1700 Druckseiten seiner germanistischen Arbeiten bis zu seinem Tod 1979 ein Dreifaches hinzugefügt, vgl. ebd., S. 289. »Der Rezensent sah sich außerstande, diesen kolossalen Wirrwarr ganz zu lesen«, schrieb etwa Dieter Sulzer: Rezension zu Das Bild in der Dichtung (Bd. 3. Marburg 1969). In: Germanistik 12 (1971), S. 57.

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Benno von Wiese (1903-1987) – dessen 1933 vorgelegte Schrift Dichtung und Volkstum Pongs wohlwollend rezensiert hatte117 – oder Fritz Martini (1909-1991) passten sich den veränderten Zeitbedingungen flexibler an und gehörten zu den einflussreichsten Literaturwissenschaftlern der Bundesrepublik. Pongs dagegen sah sich zunehmend marginalisiert; auf Kritik an seiner politischen Vergangenheit reagierte er höchst aggressiv, drohte mit Verleumdungsklagen und rügte die »Ehrfurchtslosigkeit« der jüngeren Germanisten.118 Für Neuauflagen Anfang der sechziger Jahre nahm Pongs an den beiden ersten Bänden von Das Bild in der Dichtung verschiedene Änderungen vor, bei seinen Ausführungen zur Novelle aber aktualisierte er nur die Anmerkungen (obwohl der Haupttext schon 1939 aus älteren Aufsätzen kompiliert worden war und erhebliche Redundanzen aufweist).119 Die Novelle als Gattung interessiert ihn vor allem, weil sie durch ihre Ausrichtung auf einen besonderen Vorfall prädestiniert sei, »das Symbolfähige« der jeweiligen Begebenheit zu extrapolieren. Die Fähigkeit zum symbolischen Erzählten wird schon Boccaccio zugestanden; der ›Falke‹ avanciert zum »Dingsymbol«, wobei Pongs die Ausführungen Heyses teils aufgreift, teils modifiziert.120 Wesentlich sei nicht die »starke Silhouette«, sondern die »Erfüllung mit Symbol-Kraft«, wie sie Boccaccios Novelle geleistet habe: »Im Falken vollzieht sich die Verwandlung vom Zufälligen der Begebenheit in ein sinnhaltiges Geschehen, und sie vollzieht sich als Zusammenfall im Symbol«.121 Mehr noch als die Falkennovelle hebt Pongs übrigens die Erste Geschichte des Vierten Tages hervor, in der Ghismonda das Herz ihres ermordeten Liebhabers liebkost; denn anders als der Falke, der erst durch die besonderen Umstände der Novelle symbolische Qualität erlange, bringe das Herz »selbst schon uralte Symbolkraft« mit, so dass die pathetische Steigerung der Erzählung noch eindrucksvoller gelinge. Abgesehen davon, dass der Falke durch seine Bedeutung im Rittertum und in der Minnelyrik zumindest symbolisch vorbelastet ist, wird hier deutlich, wie sehr sich Pongs von Heyse unterscheidet: Heyses Überlegung geht ja gerade auf »das Specifische«122 einer Novelle aus, und findet deshalb in der weitge117 Hermann Pongs: Rezension zu Benno von Wiese: Dichtung und Volkstum. Frankfurt/M. 1933. In:

Dichtung und Volkstum 35 (1934), S. 288. 118 Zu einem für diesen Generationenkonflikt beispielhaften Fall nahm Karl Otto Conrady 1965 Stel-

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lung, vgl. Karl Otto Conrady: Ehrfurchtslose Germanistik? Notwendige Notizen zum Thema »Literaturwissenschaft im Dritten Reich«. In: Ders.: Literatur und Germanistik als Herausforderung. Skizzen und Stellungnahmen. Frankfurt/M. 1974, S. 233-238; auch Albrecht Schöne, der sich zur gleichen Zeit in seiner Studie Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert (Göttingen 1965) mit den dem Nationalsozialismus nahestehenden Dichtungen Gerhard Schumanns und ihrer lobenden Interpretation durch Pongs auseinandersetzte, erfuhr empörten Widerspruch sowohl vom Dichter als auch vom Interpreten; die Reaktionen von Schumann und Pongs’ »Antwort« hat Schöne in der zweiten Auflage seines Buches abgedruckt (Göttingen 1969, S. 83-95). Zum Beispiel drei gleichgerichtete Interpretationen von Kleists Michael Kohlhaas, vgl. auch GaulFerenschild: National-völkisch-konservative Germanistik, S. 211. Vgl. Hermann Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 99-101. Ebd., S. 100f. Hervorhebung im Original. Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz, S. XX.

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hend kontextgebundenen, vom Autor bewusst konstruierten Sonderstellung des Falken das beste Anschauungsmaterial; Pongs dagegen sucht nach möglichst allgemeingültigen, »uralten« Symbolen und kann den produktionsästhetischen Zug von Heyses Theorie nur negativ fassen, als »Gefahr [..], Novellen auf eine Falkenfassade hin aufzubauen« statt sie auf das »Zwingend-Überzeugende des realen Symbols«123 zu gründen. Für die Rezeptionsgeschichte der Falkentheorie bleibt als Konsequenz, dass die durch Pongs vorgenommene Zuspitzung auf das ›Symbolische‹ den weitaus offener gehaltenen Überlegungen Heyses einen einengenden, normativen Anspruch verleiht, dessen Fragwürdigkeit jedoch häufig auf den ursprünglichen Ansatz Heyses zurückprojiziert und diesem zu Last gelegt wurde. Während er Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als »didaktische Spätform der Gesellschaftsnovelle«124 abwertet, rühmt Pongs in Heinrich von Kleist den eigentlichen Begründer der deutschen, tragischen »Schicksalsnovelle«: »Kleists Erdbeben in Chile, wenig umfangreicher als eine größere Novelle Boccaccios, führt in allem über ihn hinaus«.125 Über alle Polyvalenzen und Widerstände des Textes hinweg stellt Pongs in seiner Interpretation Eindeutigkeit her: »[W]ie bei Boccaccio der Falke«, so bestimme das Kind von Jeronimo und Josephe als »Ursymbol« und »Weltsymbol der Schöpfung« im Erdbeben in Chili den Aufbau der Novelle; »als das Einzig-Überlebende in der Katastrophe der Eltern sammelt es notwendig auf sich den Sinn des ganzen Geschehens«.126 Dass Kleist, wie die neuere Forschung in unzähligen Beiträgen nachgewiesen hat, gerade den »Zusammensturz des Allgemeinen«127, das Versagen oder zumindest die Erschütterung von Deutungsmustern gestaltet habe, ist eine Perspektive, die Pongs völlig fern liegt128; ebenso wenig werden die massiven Elemente von Sozialkritik und Geschichtspessimismus in Kleists Erzählung realisiert.129 Bei Pongs behält die Gesellschaft vorbehaltlos Recht und die schockierende Brutalität der Erzählung tritt ganz in den Schatten des »Ursymbols«: »Die Sinnlosigkeit des durch die Sitte verhängten Untergangs wird im göttlichen Sinn aufgehoben durch die Fortexistenz des Kindes in der Hut derselben Gesellschaft, aus der die Eltern unrettPongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 101f. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 105; zu Goethes Unterhaltungen vgl. nochmals ausführlicher ebd., S. 124-134. Ebd., S. 105f. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 106. – Eine etwas differenziertere Interpretation legte Pongs in Symbol als Mitte (Marburg 1978, S. 456f.) vor. 127 Vgl. Helmut J. Schneider: Der Zusammensturz des Allgemeinen. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili. Hg. v. David E. Wellbery. München 31993, S. 110-129. 128 Wie sehr sich Pongs gegen diese Betrachtungsweise wehrt, wird schon in der rigorosen Art deutlich, in der er in den Anmerkungen zur Neuauflage Walter Müller-Seidels Habilitationsschrift Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist (Köln, Graz 1961) zurückweist: Müller-Seidel mache Kleist zum Dichter der Ambivalenz, statt auf die »Metapher- und Symbolsprache« zu achten, »mit der Kleist seine ins Pathologische greifenden Grenzzonen des Widersprüchlichen ins Ganze seines Weltbildes eingeformt hält« (Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 677). 129 Damit bleibt Pongs auch hinter den Erkenntnismöglichkeiten der älteren Kleist-Forschung zurück, vgl. etwa die weitaus subtilere und facettenreichere Interpretation des Erdbeben in Chili durch Heinrich Meyer-Benfey: Kleists Leben und Werke. Göttingen 1911, S. 211-217. 123 124 125 126

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bar verstoßen waren«.130 Selbst der vieldeutige, immer wieder irritierende Schlusssatz der Novelle lässt sich aus dieser Sicht harmonisierend abschwächen. Von Don Fernando, der anstelle seines leiblichen, vom wütenden Mob ermordeten Sohnes Juan das Kind von Jeronimo und Josephe angenommen hat, heißt es dort: »und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.«131 Für Pongs ist es hier einfach das »am Kind offenbarte höhere Gesetz«, das »auch im Gefühl des Retters lebendig« wird und so als Ahnung im – immerhin noch als »überraschend« apostrophierten – Schlusssatz seinen Ausdruck findet.132 Ein »Ursymbol wie das Kind« bedeute, so der Interpret abschließend, »wohl die höchste Steigerung, die der ›Falke‹ erreichen kann«.133 Wenn Pongs an anderer Stelle den »Zug zu klaren Wertentscheidungen, zu bewußter Symbolmitte«134 als Charakteristikum der Novelle bezeichnet, so zeigen gerade seine Kleist-Deutungen, wie oft diese angeblichen Eigenschaften erst in einer entsprechend einseitigen Interpretationspraxis hergestellt werden. Die weitere Entwicklung der deutschen Novelle im 19. Jahrhundert sieht Pongs dominiert durch die Auseinandersetzung mit dem ›Tragischen‹ und dem ›Dämonischen‹. Trotz der unscharfen, pseudoontologischen Diktion gelingt es ihm allerdings auch immer wieder, einzelne Momente der Novellengeschichte treffend zu erfassen. So verweist er etwa auf die Häufigkeit, mit der die Novelle auf den »elementaren Einbruch eines dämonisch-erschreckenden Ereignisses«135 reagiere – die Pest als Hintergrund des Decamerone, die Französische Revolution (aus Goethes Sicht) in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die verschiedenen Naturkatastrophen bei Kleist, das »Reich des Unbewußten«136 und des Wunderbaren in den Novellen Tiecks und E.T.A. Hoffmanns führen zweifellos existentielle Krisensituationen herbei, die im Text und durch den Text nach Antworten verlangen. Problematisch wird es jedoch, wenn Pongs normativ vorgeben will, wie diese Antworten auszufallen haben: Als einzig adäquate Reaktion angesichts der »zerstörenden Unsicherheit« lässt er »unbedingte Wertebehauptung« und »klare Entscheidungen«137 gelten. Nur »Unbedingtheit des Gefühls«138 – eben nicht: ambivalenter Wertezweifel – kann Rettung verheißen, ruft jedoch auch »die Gegenkräfte des Dämonen heran, die sich ihre Macht nicht ohne Opfer entreißen lassen«.139 Der tragische Tod des Helden ist oft

130 Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 106f. 131 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili [Paralleldruck mit Jeronimo und Josephe]. In: Ders.: Erzäh-

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lungen/Anekdoten/Gedichte/Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990 (= Sämtliche Werke und Briefe, 3), S. 189-221, hier S. 221. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 107. Ebd. Ders.: Das Bild in der Dichtung. Bd. 3. Marburg 1969, Vorwort. Ders.: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 287. Ebd., S. 288. Ebd., S. 291. Ebd., S. 290. Ebd., S. 291.

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die Folge, verbürgt aber den »höchste[n] Sieg des Menschen über das Chaos«.140 Umso näher liegt zudem die Überhöhung im Symbol, das die Bezogenheit des Einzelnen auf transzendente Mächte verbürge und spätestens seit Kleist eine »Existenzerhellung«141 leiste. Da Pongs’ Ausführungen zur Novelle, soweit sie in Das Bild in der Dichtung eingegangen sind, sämtlich vor 1933 geschrieben wurden, hält sich die Verwendung völkisch-nationalsozialistischer Terminologie in Grenzen. Das gilt keineswegs für den 1943 erschienenen Aufsatz Ehre und Liebe in der Novelle142, den Hartmut Gaul-Ferenschild mit Recht zu Pongs’ »militärethischen Literaturanalysen«143 rechnet; in vollem Einklang befindet sich Pongs dabei mit dem bereits mehrfach zitierten Aufsatz von Hans Pyritz über Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle des 20. Jahrhunderts, der unter seiner redaktionellen Verantwortung in Dichtung und Volkstum erschien und den »grundlegenden Novellenstudien«144 des Herausgebers eine nachdrückliche Reverenz erweist.145 Insgesamt gesehen haben weder die eigenen politisch eindeutigen Schriften noch entsprechende Adaptionen seiner Novellentheorie durch andere Forscher die Wirksamkeit der Pongsschen Arbeiten nach 1945 erkennbar behindert. Selbst der Prager Germanist Josef Körner, als Jude und Opfer der nationalsozialistischen Diktatur unverdächtig, mit Pongs aus anderen als wissenschaftlichen Gründen zu sympathisieren, hat dessen Arbeiten 1949 als »das Wertvollste, was bisher über d.[ie] d.[eutsche] N.[ovelle] des 19. und 20. Jh.s erarbeitet worden ist«, bezeichnet.146 Johannes Klein bestätigt Körner fünf Jahre später fast gleichlautend durch die Aussage, die Aufsätze in Das Bild in der Dichtung seien »unter den Arbeiten über die Novelle das Bedeutendste«.147 Der gattungsgeschichtliche Überblick von Josef Kunz148 bleibt in 140 Ebd. 141 Ebd., S. 296. 142 Hermann Pongs: Liebe und Ehre in der deutschen Novelle. In: Dichtung und Volkstum 43 (1943),

S. 107-130. 143 Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik, S. 215. 144 Pyritz: Mensch und Schicksal in der deutschen Novelle, S. 76. 145 Die weitreichenden Übereinstimmungen zwischen Pyritz und Pongs werfen übrigens ein weiteres

Licht auf die Kontinuitätsfrage innerhalb der Literaturwissenschaft: Denn als Herausgeber der nun wieder als Euphorion firmierenden Fachzeitschrift wurde Pyritz bei der Neubegründung 1950 zum Nachfolger des untragbar gewordenen Pongs, vgl. dazu Adam: Dichtung und Volkstum und erneuerter Euphorion, bes. S. 68-72. 146 Josef Körner: Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums. 3. völlig umgearbeitete und wesentlich vermehrte Auflage. Bern 1949, S. 28. – Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die deutsche Novelle lange Zeit nicht zu den bevorzugten Forschungsgegenständen der Literaturwissenschaft gehörte. Polheim vermerkt an anderer Stelle, dass »bis zum zweiten Weltkrieg nur drei selbständige Monographien über die deutsche Novelle, davon zwei im außerdeutschen Sprachraum, erschienen waren«, allein zwischen 1953 und 1963 aber deren zehn (Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 3). 147 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 652. 148 Vgl. Josef Kunz: Geschichte der deutschen Novelle vom 18. Jahrhundert bis auf die Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Wolfgang Stammler. Bd. 2. Berlin 1954, Sp. 1739-1840. – In dem von Kunz herausgegebenen Band der Reihe Wege

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seiner weltanschaulich dominierten Perspektive den Pongsschen Theorien ebenso verpflichtet wie die Darstellung Fritz Lockemanns, der sie explizit als Ausgangspunkt der eigenen Arbeit benennt.149 Benno von Wiese erwähnt die »wichtigen Untersuchungen von Pongs« nur kurz, greift aber durch seine starke Betonung des Symbolischen unmittelbar ihre Kernthese auf.150 Indem er es als »Heyses Verdienst« bezeichnet, »auf die Bedeutung des ›Dingsymbols‹ hingewiesen zu haben«151, trägt von Wiese außerdem dazu bei, die symbolische Dimension des ›Falken‹ bereits bei Heyse zu verorten und die Unterschiede zwischen der ursprünglichen ›Falkentheorie‹ und ihrer Zuspitzung durch Pongs einzuebnen.152 Karl Konrad Polheim bespricht Pongs’ Ausführungen zur Novelle ausführlich und sachlich (obwohl sie im Hinblick auf ihre Erstveröffentlichung nicht in den Untersuchungszeitraum seines Forschungsberichts gehören); als »ausgesprochen normativ«153 fallen sie jedoch auch Polheims genereller Distanz zu normativen Gattungskonzepten anheim. Strikte Normativität dominiert auch die kleine Schrift, mit der Pongs 1961 an seine älteren Arbeiten zur Novelle angeknüpft hat: Ist die Novelle heute tot? Untersuchungen zur Novellen-Kunst Friedrich Franz von Unruhs.154 Pongs beschwört hier die gegenwärtigen Möglichkeiten novellistischen Erzählens, die er in Unruhs Gattungsbeiträgen exemplarisch verkörpert sieht.155 Zweifellos reizte ihn die Möglichkeit, mit seiner Novellentheorie die praktische Produktion zu beeinflussen: Schon in den zwanziger Jahren hat er sich, was damals ungewöhnlich war, sogar im Rahmen germanistischer Lehrveranstaltungen mit Gegenwartsliteratur beschäftigt – seine erwartungsgemäß problematische Auswahl bleibt freilich überwiegend auf völkisch-konservative Autoren beschränkt, die er noch nach 1945 als angebliche ›moderne Klassiker‹ gegen jede Form avancierter Literatur zwischen Kafka und Grass auszuspielen versuchte.156

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der Forschung ist Pongs der einzige Wissenschaftler, der mit zwei Beiträgen vertreten ist (vgl. Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 139-153, 174-182). Vgl. Lockemann: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle, S. 10. Von Wiese: Einleitung. In: Ders. (Hg): Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, S.16; vgl. die Ausführungen zur »symbolische[n] Bildgestaltung« und zur »echte[n] Symbolgestalt«, S. 21-25. Auch in von Wieses Band Novelle in der Reihe Sammlung Metzler (Stuttgart 1963, 81982) wird Pongs oft und meist zustimmend zitiert. Ebd., S. 27. Nicht mit den Überzeugungen von Pongs in Einklang zu bringen ist allerdings die Konzeption, die von Wiese diesem (und anderen) Sammelbänden zugrundegelegt hat: die Thematisierung einer Gattung in Form von Einzelinterpretationen. Hier vermisst Pongs seinerseits denn auch die ›große Linie‹ und moniert die Verwischung des Gattungsbegriffs, die ihm nicht zuletzt die Aufnahme von Kafkas Hungerkünstler signalisiert, vgl. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 679. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 34. Hermann Pongs: Ist die Novelle heute tot? Untersuchungen zur Novellenkunst Friedrich Franz von Unruhs. Stuttgart [1961]. Mit Unruh pflegte Pongs in den fünfziger Jahren auch einen ausgedehnten Briefwechsel (erhalten im Deutschen Literatur-Archiv Marbach). Vgl. Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik, S. 300f. – Marcus Gärtner hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die zunehmende Öffnung der Universitätsgermanistik für Gegenwartsliteratur zwar zum einen als ein Prozess der Modernisierung seit den sechziger Jahren gesehen werden kann, zum anderen aber auch schon – bei freilich linientreuer Auswahl – im NS-

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Auch seine Beschäftigung mit Unruh versucht, einen in formal-ästhetischer wie inhaltlich-ideologischer Hinsicht reaktionären Autor aufzuwerten und als Verfasser von »klassischen Novellen«157 zu etablieren. Unruh revanchierte sich, indem er Pongs in seinem eigenen essayistischen Werk Die unerhörte Begebenheit. Lob der Novelle als den »Alt- und Großmeister der deutschen Literaturwissenschaft« pries und sich dessen »großartig sicheren Deutungen« in vielem anschloss.158 Theorie und Praxis reflektieren sich gegenseitig und entsprechen sich kongenial: Pongs’ alte Auffassung beispielsweise, dass die Novelle den »Triumph« eines entschlossenen Charakters über die »verwirrte Welt«, und sei es im »tragischen, sich opfernden Untergang«159 bezeuge, lässt sich in Unruhs Offiziersnovelle Tresckow bei weitem leichter und eindeutiger bestätigt finden als in den Kleist-Novellen, die Pongs zu diesem Zweck immer wieder interpretatorisch usurpiert hat. Damit sind zum einen die ideologischen Gemeinsamkeiten der beiden Weltkriegsteilnehmer Pongs und Unruh belegt, die sich an Ideal und »Inbegriff des soldatischen Mannes«160 bis ins hohe Alter zu begeistern vermochten; zum anderen zeigt sich an einem besonders deutlichen Beispiel, wie konservative Novellentheorie und Novellenpraxis in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zusammenwirken, um gegen alle ›modernen‹ Tendenzen die traditionalistische Prägung einer Gattung aufrechtzuerhalten, die sich erst allmählich von dieser Dominanz befreien wird.

4.2. Johannes Klein (1904-1973) Während Pongs seine verschiedenen Aufsätze zur Novelle bei aller Schreibfreudigkeit nicht zu einer Gattungsmonographie ausgebaut hat, ist der Name von Johannes Klein vor allem mit dessen umfangreicher Geschichte der deutschen Novelle verbunden. In Bezug auf seinen Lebenslauf unterscheidet sich Klein ganz wesentlich von Pongs, was das Verhalten im NS-Staat angeht. Weil seine Frau eine sogenannte ›Halbjüdin‹ war, wurde ihm 1938 die Venia an der Universität Marburg entzogen; das Ehepaar Klein ging nach Schweden.161 Allerdings hatte Klein 1933 noch das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Hitler unterzeichnet, und seine Schriften zeugen insgesamt von jenem geistesgeschichtlich geprägten Konservatismus, der sich als mentale Voraussetzung antifaschistischen Widerstands kaum je bewährt hat. Staat im Zuge von ›Lebensorientierung‹ und ›Volkserziehung‹ programmatisch gefordert wurde (u.a. von Karl Viëtor, Pongs, Paul Fechter u.a.); vgl. Gärtner: Kontinuität und Wandel, S. 64-66. 157 Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 26. 158 Friedrich Franz von Unruh: Die unerhörte Begebenheit. Lob der Novelle (1976). In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung v. Leander Hotaki. Bd. 6. Freiburg/Br., Berlin, Wien 2007, S. 373-476, hier S. 382f. 159 Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 36. 160 Ebd., S. 21. 161 Zur Biographie vgl. Kai Köhler: Artikel Johannes Klein. In: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Hg. und eingel. v. Christoph König. Berlin, New York 2003, S. 946f.

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Noch 1960 wird er Rudolf G. Binding über die Maßen loben, während er an dem vorsichtigen Versuch von Albrecht Goes, Schuld und Elend des Weltkriegs in der Novelle Unruhige Nacht zu verarbeiten, ausgerechnet kritisiert, der Text sei »noch zu sehr von Bitterkeit über das Vergangene in eingestreuten Urteilen belastet«.162 Kleins Novellenmonographie dokumentiert alle Schwächen der geistesgeschichtlich geprägten Literaturbetrachtung: Eine Reflexion des eigenen Standpunkts fehlt, spezifische historische Bedingungen werden missachtet, die Terminologie ist vage und pseudophilosophisch, die Bewertungen fallen meist undifferenziert aus. Zugleich fehlt der bei aller Bedenklichkeit doch beeindruckende Zugriff, mit dem Pongs in seinen frühen Arbeiten die großen Linien einer Novellengeschichte entwirft. Wo Pongs in seinem aggressiven Antimodernismus zumindest für eine mentalitätsgeschichtlich klar zu umreißende Geisteshaltung steht, wirkt Klein nur antiquiert und blass, ohne dafür durch größere Offenheit oder neuere Ansätze entschädigen zu können. Im Gegenteil: In vielen problematischen Wertungen liegt Klein auf der gleichen Linie wie sein älterer Fachkollege, etwa in der unbedingten Hochschätzung Friedrich Franz von Unruhs, dem Klein am Ende seiner Gattungsgeschichte nicht weniger als 17 lobende Seiten widmet.163 Ebenso wie Pongs glaubt er zwar an eine Zukunft, sogar an eine »Renaissance der Novelle«, kann aber »Anzeichen einer Erneuerung«164 nur in ästhetisch-formal wie inhaltlich-ideologisch konservativen Texten wie denen Unruhs entdecken. Sein Interesse an Gegenwartsliteratur ist keines an ›modernen‹, avancierten Texten, sondern motiviert durch traditionelle geisteswissenschaftliche Vorstellungen einerseits von übergreifenden Zusammenhängen, andererseits von ›Lebensnähe‹ – ein Vorlesungstitel wie Die großen Neuerscheinungen der Gegenwart in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang (Universität Marburg, Sommersemester 1950) sagt genug über die Wertungsfreudigkeit (nur ›große‹ Neuerscheinungen verdienen akademische Beachtung) und den traditionalistischen (auf ideelle Kontinuität gerichteten) Blickwinkel des Vortragenden. Schon auf den ersten Seiten seiner Novellengeschichte macht Klein es seinen Kritikern leicht. Mit äußerster Knappheit berichtet er über die »[e]uropäische Herkunft« der Novelle; Boccaccio wird von vornherein nur mit Bezug auf Heyse betrachtet und eine ›Urform‹ der Gattung ist rasch und ohne weitere Begründung gefunden: »Das Modell einer echten Novelle wurde die berühmte Geschichte von Federigo und seinem Falken, aus der Paul Heyse seine Novellentheorie entwickelt hat«.165 Bruchlose Kontinuitäten werden hergestellt und münden in den ›deutschen Geist‹: »Die Linien, die von Boccaccio und Cervantes ausgehen, sind in der europäi162 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 639. Zu Binding vgl. ebd., S. 519-532. 163 Vgl. ebd., S. 622-638. Schon im Einleitungskapitel hat Klein zudem betont, dass »bei diesem Ringer

um hohe Form eine neue Wandlung der Novelle« einsetze (S. 58); Unruh revanchierte sich wie bei Pongs so auch bei Klein, indem er ihn im eigenen Novellen-Essay nach und neben ersterem als den einzigen wichtigen Novellenforscher der Gegenwart herausstreicht, vgl. Unruh: Die unerhörte Begebenheit, S. 383. 164 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 640. 165 Ebd., S. 2.

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schen Literatur deutlich zu verfolgen. Mit dem Aufbruch des deutschen Geistes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde auch die Novelle eine deutsche Kunstform«.166 Zwei kurze Abschnitte über die ›innere‹ und die ›äußere‹ Form der Novelle drohen den wissenschaftlichen Diskurs zugunsten allgemeinster Weisheiten zu verlassen – unter Berufung auf menschliche »Grunderfahrung« zwischen »Freiheit und Zwang«, »Macht und Ohnmacht«, »Sinn und Unsinn« behauptet Klein ohne weitere Präzisierung, »die Urform der Novelle« sei »das Leben selbst«, und das Pathos des folgenden Abschnitts (durch rhetorische Frage und drohende ›Wehe‹Formel noch verstärkt) liefert ein Äußerstes an antiquierter Pädagogenpose: Wer den Umkreis der Kunstformen abschreitet, wird immer wieder überrascht, daß sich der Kreis dort schließt, wo höchste Kunst und tiefstes Leben einander begegnen. Wie mancher kennt in seinem Leben ein Mittelpunktsereignis, – wer schaute in seinem Dasein nicht unwillkürlich nach Leitmotiven hin? Und wehe, wenn seinem Leben die Idee fehlt! Diese drei Elemente sind zugleich die Grundformen der Novelle.167

Jede Äußerung in diesen Zeilen bleibt vage generalisierend, will überlegene Weltweisheit signalisieren, um sich dann jedoch in Leerformeln zu erschöpfen; Termini, die zwar aus der Alltagssprache bekannt sind, aber eine hochgradig komplexe philosophische Begriffsgeschichte haben wie ›Leben‹, ›Dasein‹ und ›Idee‹ bleiben ohne inhaltliche Füllung, Verbindungen zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹ scheinen so selbstverständlich möglich als sei die Vereinbarkeit dieser Bereiche nie problematisiert worden, die metaphorische Formulierung vom »Umkreis der Kunstformen« suggeriert ein harmonistisches, aber kaum auf den Begriff zu bringendes Literaturkonzept, was »Grundformen« sein sollen und wovon sie abzuheben wären, bleibt ungeklärt. Darüber hinaus fehlt den angeblichen Novellencharakteristika ›Mittelpunktsereignis‹, ›Leitmotiv‹ und besonders ›Idee‹ jede zwingende Beziehung zu einer spezifischen Gattung, wie schon Karl Konrad Polheim nachdrücklich kritisiert hat.168 Ebenso wenig überzeugen Kleins Versuche, die Novelle von anderen Genres – Roman, Erzählung, Anekdote, Legende, Märchen u.a. – abzugrenzen. Vor allem »die schwierigste«169 Unterscheidung, nämlich die von Novelle und Kurzgeschichte, löst nachhaltiges Befremden aus. Klein misst den beiden Gattungen einen unterschiedlichen ontologischen Status zu: Die Novelle ist eine »Urform« des Erzählens, die Kurzgeschichte nicht, denn diese sei erst in der Moderne, mithin in einer Zeit der pluralistischen »Stillosigkeit« entstanden – »echte Form« entstehe aber nur aus einer »Beziehung zu einem unzweifelhaften Sinn des Lebens«. Wo dieser ›Sinn des Lebens‹ fragwürdig werde – die Erinnerung an Pongs’ Verwendung des Ambivalenz-Begriffs liegt nahe –, »können sich zwar Spielarten von Formen ergeben, aber keine echte Form mehr«.170 Mithin erscheint die Kurzgeschichte als Dekadenzphänomen, oder, 166 167 168 169 170

Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Vgl. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 10f. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 16. Ebd., S. 17.

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in Kleins Metaphorik, als »illegitimes Kind der Novelle«.171 Entsprechend unterschiedlich werden die Entwicklungsmöglichkeiten der beiden Gattungen beurteilt: Die Novelle kann von der Dichtung zur bloßen Literatur herabsinken; es ist in ihrer Geschichte oft vorgekommen. Die Kurzgeschichte aber ist überhaupt nur literarisch möglich geworden. Sie ist nicht wie die Novelle aus einem natürlichen geselligen Kreis entstanden. Sie ist, gemäß ihrer späten Entstehung, auf Zeitungsfeuilletons, Magazine usw. angewiesen. Sie hat sich entwickelt, weil der moderne Mensch nicht mehr die Zeit fand, große Erzählwerke zu lesen und weil die formbetonte Novelle immer noch Ansprüche stellte.172

Kleins einziges Zugeständnis an die jüngere Gattung bleibt in diesem Zusammenhang: »Es kommt vor, daß ein Novellist vom Dichter zum Literaten herabsteigt. Und es kommt immer öfter vor, daß ein Kurzgeschichtler vom Literaten zum Dichter emporsteigt«. Doch noch in der vierten Auflage seines Buches von 1960 – also Jahre nach den großen Gattungsbeiträgen von Wolfdietrich Schnurre bis Heinrich Böll, von Wolfgang Borchert bis Ilse Aichinger – glaubt Klein konstatieren zu können: »Eine Novelle ist gut, wenn sie etwas Überraschendes hat. Eine Kurzgeschichte ist überraschend, wenn sie gut ist«.173 Von diesen gehäuften Fragwürdigkeiten im Detail abgesehen, bleibt auch die Grundkonzeption der Kleinschen Gattungsmonographie problematisch. Polheim hat, teils im Anschluss an frühere Rezensenten des Buches, auf Kleins Unentschlossenheit zwischen normativem und historischem Ansatz hingewiesen. Programmatisch angestrebt wurde offenbar die Synthese beider Betrachtungsweisen: »Die Novelle ist eine Urform des Erzählens, aber sie hat sich geschichtlich entwickelt«.174 Im Verlauf seiner Darstellung gelingt es Klein allerdings nicht, die von ihm vorausgesetzte normative Urform hinreichend zu konturieren, sondern löst sie letztlich in immer neue Modifikationen auf, ohne die Differenzierung von »Grundformen«, »Strukturtypen«, »Urtypen«, »Aufbautypen«, »Gestaltungstypen« in ein logisches System bringen oder auch nur die konstanten und variablen Gattungsmerkmale stärker profilieren zu können.175 Letztlich scheitert Klein sowohl mit seinem normativen Postulat als auch mit dem Versuch, durch Heranziehung möglichst vieler Einzelnovellen die historische Dimension der Gattungsentwicklung zu erfassen; entsprechend scharf ist sein Buch schon früh kritisiert worden: Erik Lunding fragte »angesichts der massiven Stoffanhäufungen« beispielsweise, »ob diese angebliche Geschichte der 171 Ebd., S. 16. 172 Ebd., S. 24. 173 Ebd., S. 25. – Kleins Vorliebe für Aperçus und geistreichelnde Formulierungen hat schon zeitge-

nössische Rezensenten irritiert, vgl. die vernichtende Rezension durch Walter [!] Killy in: orbis litterarum 11 (1956), S. 245-248; eine »Überprüfung des Stils« und die Beseitigung »mißglückte[r] Wortspiele« empfiehlt sogar die vergleichsweise freundliche Kritik von Wilhelm Grenzmann. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1956/57), S. 177-179, hier S. 179. 174 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. VII. 175 Vgl. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung S. 11f. Besonders scharf distanziert sich Killy von der »durchgängigen terminologischen Verwirrung«, die er bei Klein ausmacht, vgl. Killy: Rezension, S. 245, 246, 247.

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deutschen Novelle auch nur als Prolegomena zu einer solchen Geschichte hingestellt werden«176 könne, und Benno von Wiese bezeichnet Kleins Darstellung als »wahlloses Potpourri von zahlreichen Novellen sehr verschiedenen Ranges, deren Inhalt kurz, aber nicht immer richtig zusammengefaßt wird«.177 Gerade in ihren Schwächen jedoch ist Kleins Gattungsmonographie charakteristisch für die germanistische Novellenforschung der fünfziger Jahre; schärfer als bei anderen Wissenschaftlern treten die thematische Einseitigkeit, die begriffliche Vagheit und das logische Defizit sowohl der geistesgeschichtlichen Interpretationsmethode als auch der normativen Gattungskonzeption hervor, wie sie das Fach bis in die sechziger Jahre hinein immer noch geprägt haben. Die Zeitgebundenheit dieser Darstellung demonstriert auch die Tatsache, dass sie zunächst recht erfolgreich war; noch im Jahr der Erstveröffentlichung 1954 erfolgte eine 2. Auflage, die dritte kam 1956 heraus, aber die vierte und letzte 1960. Bezeichnenderweise war es Walther Killy (1917-1995), Vertreter einer neuen, kritischen Germanistengeneration, der im Verkaufserfolg des Kleinschen Buches schon 1956 »ein Indiz für bedenkliche Bedürfnisse in Kreisen der mit der deutschen Philologie Befassten«178 erkannte. Zukunftsweisende Ansätze vermochte Klein nicht zu bieten, sieht man davon ab, dass er mit dem Terminus ›Leitmotiv‹ eine weitere, später öfter aufgegriffene terminologische Variante für den ›Falken‹ und das ›Dingsymbol‹ etablierte.179 Die häufigen Übereinstimmungen mit Pongs demonstrieren, dass sich aus den unterschiedlichen Lebensläufen des Emigranten Klein und des Nationalsozialisten Pongs keine Differenzen ergaben, die nicht im Rahmen des konservativ-geistesgeschichtlichen Paradigmas überbrückt werden konnten; die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Hochschätzung Friedrich Franz von Unruhs steht für die traditionalistische Vereinnahmung und antimoderne Abschottung des Novellenbegriffs, die den etablierten Gattungsbegriff in den fünfziger Jahren geradezu zur »Kampfparole« und zum »Sinnbild einer konservativen Kunstanschauung«180 werden ließ und die in Hermann Pongs und Johannes Klein ihre profiliertesten und militantesten Befürworter fand.

176 Erik Lunding: Rezension (u.a. zu Kunz: Geschichte der deutschen Novelle) in: Anzeiger für deut177 178 179 180

sches Altertum 69 (1956/57), S. 166-177, hier S. 171. Von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, S. 12. Killy: Rezension, S. 248. Vgl. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 127. So die treffende Beobachtung Polheims in: Novellentheorie und Novellenforschung, S. 108.

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B. Exemplarische Texte und Autoren Angesichts einer solchen Programmierung des gattungstypologischen Diskurses, die den Terminus ›Novelle‹ immer normativ und fast ausnahmslos in einer dezidiert traditionalistischen, aus Positionen des frühen 20. Jahrhundert abgeleiteten Konnotierung verwendet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Novellenproduktion nach 1945 zunächst kontinuierlich zurückging. Josef Kunz schrieb 1977 in Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert: »Bedeutende Novellendichtungen sind in dem Zeitraum zwischen den vierziger Jahren und der unmittelbaren Gegenwart nur in geringem Umfang geschaffen worden. Anstelle der Novelle ist weithin die Kurzgeschichte getreten«.181 Letzteres begreift Kunz offenbar als endgültigen Paradigmenwechsel innerhalb der kürzeren Prosaformen; die Novellengeschichte scheint ihm im Wesentlichen abgeschlossen. Da er durchaus ›bedeutende‹ Novellen etwa von Gottfried Benn, Gerd Gaiser, Anna Seghers oder Franz Fühmann nicht berücksichtigt, ist dieses Urteil schon für den Zeitraum überzogen, den Kunz überblicken konnte; es hat nur insofern eine gewisse Berechtigung, als die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ unter den literarischen Neuerscheinungen bis zum Ende der siebziger Jahre immer seltener auftaucht. Schon ein Jahr nach Kunzens summarischem Überblick allerdings veröffentlichte Martin Walser Ein fliehendes Pferd mit dem dezidierten Untertitel ›Novelle‹, und sowohl quantitativ als auch qualitativ kehrte die angeblich durch die Kurzgeschichte ersetzte Gattung zunehmend zurück (während die Kurzgeschichte ihrerseits schon seit den sechziger Jahren totgesagt wurde182). Doch wie sah die tatsächliche Novellenproduktion der Nachkriegszeit aus, die in den bisherigen Gattungsdarstellungen so weitgehend ausgeblendet wird? Die folgenden Ausführungen widmen sich einer historischen Konkretisierung des Gattungsbegriffs für die Zeit zwischen 1945 und 1961; sie gehen davon aus, dass das Jahr 1945 zwar keine unmittelbare Zäsur in der literarischen Entwicklung darstellt, aber sehr wohl ein Veränderungspotential beinhaltet, dessen zunehmende Entfaltung zur bereits beschriebenen Marginalisierung der Novelle – beziehungsweise bestimmter historischer Erscheinungsformen dieser Gattung! – entscheidend beigetragen hat. Typische Novellenmuster, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, werden in den fünfziger Jahren fortgeschrieben: So bestärkt etwa die Fülle historischbiographischer, meist auf eine Künstlerfigur bezogener Novellen überwiegend das Bild eines ›überlebten‹ Genres. Interessant ist vor allem, dass die Unterschiede zwischen westdeutscher und ostdeutscher Belletristik auf diesem Gebiet kaum ins Gewicht fallen. Überhaupt sind die strukturellen Gemeinsamkeiten, die das ›konservative‹ Novellenverständnis etwa eines Friedrich Franz von Unruh und den ›sozialistischen‹ Novellenbegriff etwa einer Anna Seghers miteinander verbinden, einerseits 181 Kunz: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert, S. 225. 182 Vgl. zur deutlichen Zäsur in der Entwicklung der Kurzgeschichte seit Mitte der sechziger Jahre z.B.

Marx: Die deutsche Kurzgeschichte, S. 162f.

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überraschend, andererseits aus der jeweiligen geringen Kontingenztoleranz und ausdrücklichen Wertgebundenheit erklärbar – in beiden Fällen wird die Novelle als derjenige Gattungsbegriff favorisiert, der für ›strenge Form‹ und eindeutige Aussage stehe. Dass solche Novellenkonzepte auch für eine dezidiert christliche Literatur attraktiv erscheinen mussten, liegt nahe und lässt sich anhand der nach 1945 entstandenen Gattungsbeiträge von Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen oder Stefan Andres nachweisen. Gegenüber einer Mehrheit traditionell konzipierter und an Mustern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientierter Texte treten die wenigen überraschenden Gattungsbeiträge bedeutender Autoren in den Hintergrund, werden aus normativer Sicht gar nicht als ›Novelle‹ anerkannt oder unter anderen als gattungstypologischen Gesichtspunkten rezipiert – Benns ›Berliner Novelle‹ Der Ptolemäer ist das herausragende Beispiel. Wenig Beachtung verdient dagegen eine Variante der Gattung, die kurzzeitig unter dem Titel »Film-Novelle« gepflegt wurde. Was auf den ersten Blick eine medienästhetische Innovation zu versprechen scheint, läuft auf anspruchslose, meist mit Szenenfotos angereicherte Prosaversionen von Filmplots hinaus. Den Autoren und Herausgebern etwa der kurzlebigen Reihe »Kunst der Film-Novelle« ging es ganz offensichtlich nicht darum, einem traditionellen Literaturgenre neue Aspekte abzugewinnen, sondern im Gegenteil das ›Buch zum Film‹ über die etablierte Gattungsbezeichnung aufzuwerten und einen ›literarisch-künstlerischen‹ Anspruch zu signalisieren, den die Texte allerdings nicht einlösen konnten.183 Das Jahr 1961 markiert insofern eine Zäsur, als hier mit Katz und Maus von Günter Grass (und, mit Abstrichen, der Moskauer Novelle von Christa Wolf) endlich wieder der Fall gegeben ist, dass ein hochrangiger und kontrovers diskutierter Autor der jungen Generation bewusst auf den Novellenbegriff rekurriert. Das Ergebnis ist heute als »Meisterstück novellistischer Erzählkunst«184 anerkannt, blieb aber nach dem ersten Erscheinen insofern isoliert, als sich keineswegs eine ›Wiederbelebung‹ der Novelle anschloss; vielleicht aber wären weder Walsers Ein fliehendes Pferd noch die zahlreichen anderen, seit den späten siebziger Jahren entstandenen Novellentexte möglich gewesen, wenn nicht Katz und Maus signalisiert hätte, dass die Verwendung des Novellenbegriffs und der Rekurs auf die Novellentradition vereinbar sind mit der kritischen und engagierten Schreibhaltung eines Autors, der schon in den sechziger Jahren zum modernen Klassiker aufzusteigen begann. Katz und Maus steht daher am Schluss der folgenden Ausführungen zur Novelle in den fünfziger Jahren – aus ästhetischer Sicht aufgrund der herausragenden Kunstleistung, die dieser Text darstellt, 183 Vgl. Kunst der Filmnovelle. Eine periodisch erscheinende Sonderreihe der Film-Revue. Baden-

Baden 1/1948-5/1949. In der Reihe erschienen u.a. Titel wie Carl G. Wingenroth: Adieu Chérie. Novelle. Mit 8 Bildern aus dem gleichnamigen Film. Baden-Baden 1949 (= Kunst der Filmnovelle, 3) oder Helmut Schulz: Zum kleinen Glück. Novelle. Mit 8 Bildern aus dem gleichnamigen Film. Baden-Baden 1949 (= Kunst der Filmnovelle, 5).– Dass es auch in Ost-Deutschland ›Filmnovellen‹ nach DEFA-Produktionen gab, belegen etwa Jan Petersen: Der Fall Dr. Wagner. Eine Filmnovelle. Berlin 1954, und Helmut Hauptmann: Hanna. Eine Filmnovelle. Berlin 1963. 184 Dieter Stolz: Günter Grass, der Schriftsteller. Eine Einführung. Göttingen 2005, S. 164.

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aus inhaltlich-motivischer Perspektive, weil auch hier das Sujet thematisiert wird, das in den fünfziger Jahren als ›unerhörte Begebenheit‹ zahlreicher Novellen erscheint: die Erfahrung des Krieges, die, in überaus charakteristischer, sozial- und mentalitätsgeschichtlich aussagekräftiger Abwandlung und Akzentuierung, bei so unterschiedlichen Autoren wie Friedrich Franz von Unruh, Albrecht Goes, Gerd Gaiser, Franz Fühmann und eben Günter Grass literarisch verarbeitet wird.

1. Historische Künstlernovellen als Relikte der Bildungsidee Bis in die frühen sechziger Jahre hinein erwies sich die traditionell erzählte historische Novelle als ein nach wie vor attraktives, aber weitgehend ausgeschriebenes Muster. Ihre typische Grundstruktur ist relativ leicht zu beschreiben: Anhand einer charakteristischen, als exemplarisch für die jeweilige Lebensproblematik begriffenen Situation wird das Bild einer bekannten historischen Persönlichkeit geliefert. Variationen dieses Schemas, etwa durch die Einbeziehung weiterer Episoden, sind möglich. Die Konzentration auf eine Hauptfigur ist durch den begrenzten Umfang des Novellentextes vorgegeben (während der historische Roman zum panoramatischen, figurenreichen Geschichtsbild neigt). Meist werden Personen der Kulturgeschichte, nicht der politischen Geschichte in den Mittelpunkt historischer Novellen gestellt: Autoren, Musiker, seltener ein bildender Künstler oder Wissenschaftler; deshalb ist im Folgenden von der historischen Künstlernovelle die Rede. Es sind vor allem zwei Traditionsbereiche, die das Erscheinungsbild der historischen Künstlernovelle bestimmen und die sich schon im Terminus selbst niedergeschlagen haben: Zum einen wird das Genre durch die allgemeinen Merkmale historischen Erzählens geprägt, zum anderen durch das lange Nachwirken des romantischen Künstlerbildes. Der erste Bereich betrifft zunächst die sprachlichen Mittel, die die Autoren einsetzen, um die erzählerische Aktualisierung von Geschichte zu leisten und zugleich das Bewusstsein von Differenz wach zu halten. Hier ist neben dem meist gehobenen Sprachduktus des auktorialen Erzählers vor allem die Verwendung archaisierender und dialektaler Elemente in der Figurenrede hervorzuheben – die zeiträumliche Individualisierung kann eine regelrechte Kunstsprache hervorbringen und die Illusion erwecken, die Figuren sprächen auf die ihrem historischen und geographischen Umfeld gemäße Art und Weise. Für die Ebene des Inhalts gilt – spätestens seit dem prägenden Vorbild Walter Scotts, der seinerseits auf die Tradition des englischen und deutschen Geschichtsdramas zurückgegriffen hatte185 – die Lizenz, historisch verbürgte Personen mit fik185 »Literaturgeschichtlich gesehen, geht von Goethes Götz von Berlichingen die entscheidende Anregung

auf Scotts Werks aus (s. Scotts Übersetzung, 1799)«, schreibt Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994 (= Sammlung Metzler, 278), S. 64 – wobei sich der junge Goethe bekanntlich seinerseits am Vorbild von Shakespeares Histories orientiert hat.

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tionalen Figuren zusammentreffen zu lassen. Auch die zentrale Episode in biographischen Novellen vermischt in der Regel authentische und fiktive Elemente. Das Leitbild der Wahrscheinlichkeit bleibt davon ebenso unberührt wie ein gewisser Anspruch auf Quellentreue und kulturhistorischen Realismus.186 Zu den vielfältigen erkenntnistheoretischen Fragen, die historisches Erzählen aufwirft und die hier nicht im Einzelnen zu verfolgen sind, gehört auch die nach ›Objektivität‹: Jeder Autor sieht das vergangene (oder besser: das als vergangen beschriebene) Geschehen bewusst und unbewusst im Spiegel der eigenen Zeit; auch ein vermeintlich objektiver Erzähler zeichnet nicht ›Geschehenes‹ auf, sondern konstruiert ›Geschichte‹ im Erzählen – ein grundlegendes epistemologisches Problem, vor dem die Grenzen zwischen historischem Erzählen und narrativer Geschichtsschreibung fließend werden.187 Vom eigenen historischen Ort zu abstrahieren ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich, und gerade der Verfasser historischer Romane und Erzählungen, dem es um eine möglichst anschauliche Vergegenwärtigung von ›Geschichte‹ geht, interpretiert seinen Stoff aus der Sicht seiner Gegenwart. Typisch für die konventionellen Ausprägungen des historischen Erzählens ist allerdings, dass diese Zusammenhänge nicht explizit thematisiert werden; erst in den siebziger Jahren entstehen zunehmend Texte, die den Akzent von der fiktionalen Künstlerbiographie verschieben »auf die oft metafiktionale Auseinandersetzung mit epistemologischen, methodischen oder darstellungstechnischen Problemen der Rekonstruktion und narrativen Wiedergabe eines Lebenslaufes«.188 Demgegenüber reproduzieren die deutschsprachigen Künstlernovellen der späten vierziger und der fünfziger Jahre ein weitgehend ungebrochenes Verhältnis zur literarischen und historiographischen Tradition, das von einer Erfassbarkeit der Vergangenheit durch Quellenstudium und psychologische Einfühlung ausgeht und die konstruierende Rolle des Vermittlers hinter einer als ›objektiv‹ und ›neutral‹ behaupteten Erzählerrolle verbirgt. 186 Vgl. generell zu den Merkmalen und Möglichkeiten historischen Erzählens (meist allerdings einge-

schränkt auf das Genre des historischen Romans): Walter Schiffels: Geschichte(n) erzählen. Über Geschichte, Funktionen und Formen historischen Erzählens. Kronberg/Ts. 1975; Hans Vilmar Geppert: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976; Michael Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen Romanen (1820-1890). Frankfurt/M. 1988; Harro Müller: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1988; Hermann J. Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992; Aust: Der historische Roman; Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier 1995; Ulrich Kittstein: »Mit Geschichte will man etwas«. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918-1945). Würzburg 2006. 187 Vgl. z.B. Aust: Der historische Roman, S. 1-21, oder, aus Sicht des Historikers, Hayden White: Auch Klio dichtet. 188 Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres. In: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Beiträge des Bad Homburger Kolloquiums, 21.-23. Juni 1999. Hg. v. Christian von Zimmermann. Tübingen 2000, S. 15-36, hier S. 23.

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Zur typischen Perspektive, aus der bis in die 1960er Jahre hinein bedeutende Künstlerfiguren in belletristischen Werken gestaltet werden, gehört die Nähe zur Hagiographie. Albert Gier hat darauf hingewiesen, dass bereits »im 19. Jahrhundert zum einen die Heiligenverehrung als Folge der Säkularisierung aller Lebensbereiche viel von ihrer früheren Bedeutung verliert, während andererseits das Interesse an Künstlerbiographien deutlich zunimmt«.189 Das Fortleben hagiographischer Erzählstrukturen bis in die autorisierten Biographien berühmter Fußballer hinein hatte zuvor schon Hans Ulrich Gumbrecht fokussiert.190 Wie die Heiligen in der Hagiographie werden die Hauptfiguren der meisten Künstlernovellen als Doppelnatur geschildert: Auf der einen Seite sind sie gewöhnliche Menschen, auf der anderen Seite zeichnen sie sich durch etwas vollkommen Außerordentliches, rational nicht Erklärbares aus; was bei den Heiligen die Heiligkeit, ist für einen erzählten Mozart oder Goethe das Genie, für die Wunder tritt das Werk ein, dessen besonderen Rang die einen früher, die anderen später erkennen. Entsprechend konstruieren die meisten Autoren von Künstlernovellen einen idealen Rezipienten (öfter noch: eine ideale Rezipientin), auf die bereits zu Lebzeiten des Genies die ehrfürchtig-verklärende Rezeptionshaltung einer späteren Zeit projiziert wird. Dass die Künstlernovelle im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einer beliebten Gattung avancierte, hängt mit den gleichen Faktoren zusammen, auf denen die Popularität historischen Erzählens überhaupt beruhte: Der Anspruch auf historischen Realismus in Verbindung mit der Konzentration auf Privates und Anekdotisches kam dem historistischen, auf das Wirken ›großer Persönlichkeiten‹ ausgerichteten Geschichtsbild der Zeit ebenso entgegen wie den speziellen Leseinteressen des Bildungsbürgertums. Historisches Erzählen ist eine anschauliche Form von Wissensvermittlung, deren Ansehen umso höher rangiert, je stärker sich eine bestimmte Schicht über die gemeinsame Wertschätzung von Identifikationsfiguren definiert. Insofern ist es sozial- und mentalitätsgeschichtlich zu erklären, dass gerade in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal eine ganze Reihe historischer Novellen erschien, die schon durch die Wahl von Titel und Untertitel eine belletristische Aufarbeitung kulturgeschichtlicher Wissensbestände verspricht: Das Phänomen läuft parallel zu den Versuchen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR, das Deutungsmuster von ›Bildung‹ und ›Kultur‹ wiederzubeleben. Georg Bollenbeck hat dargestellt, wie sich in der Nachkriegszeit »unter der Kennmarke des Abendländischen eine Reaktivierung des Bildungsideals, eine Aufwertung der ›Persönlichkeit‹ gegen ›Fremdbestimmung‹ und ›Masse‹, ein Rückzug ins Private und Geistige«191 189 Albert Gier: Der Mozart der Dichter. Scherz und tiefere Bedeutung von Mörike bis Peter Shaffer.

In: Mozarts Opernfiguren. Grosse [!] Herren, rasende Weiber – gefährliche Liebschaften. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Bern, Stuttgart, Wien 1991 (= Facetten deutscher Literatur, 3), S. 213-231, hier S. 214. 190 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. v. Christoph Corneau. Stuttgart 1979, S. 37-84. 191 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 303.

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vollzieht. Durch ihre Hinwendung zum ›klassischen Erbe‹ stellte sich auch die Kulturpolitik der jungen DDR in die Tradition bürgerlich-humanistischer Bildungskonzepte192 – es gehört zu den immanenten Widersprüchen der marxistischen Ästhetik, dass eine weitgehend unkritische Klassikerverehrung sehr rasch den kritischen Umgang mit der Tradition überlagerte, wie ihn etwa Bertolt Brecht gefordert hatte.193 Das feierliche Begehen der großen Gedenkjahre – Goethe 1949, Bach 1950, Beethoven 1952, Schiller 1955 – prägte das kulturelle Leben in beiden deutschen Staaten und wurde von affirmativen, die Gedenktraditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fortsetzenden Ritualen dominiert. Entsprechend galt auch das belletristische Bekenntnis zu den ›großen Geistesheroen‹ als weitgehend lagerübergreifend und relativ unpolitisch. Historische Novellen um große Künstlerfiguren empfahlen sich in West und Ost als geeignetes Medium der kulturellen Selbstvergewisserung und der Popularisierung historischen Wissens – und verstärkten damit »das dichte Gewebe zahlreicher Kontinuitätslinien«194, als das sich die von bildungsbürgerlichen Ansichten dominierte literatur- und kulturpolitische Situation der Nachkriegsjahre präsentiert. Dabei unterscheiden sich etwa Albrecht von Heinemanns im Osten erschienene Künstlernovellen sowohl in struktureller als auch in inhaltlich-ideologischer Hinsicht kaum von dem, was das Genre gleichzeitig im Westen hervorbrachte – und ein durch seine Haltung zum Nationalsozialismus immerhin stark kompromittierter Autor wie Hans Franck hatte 1955 offenbar keine Probleme, seine Goethe-Novellen Herbstliches Herz beim Ostberliner Union-Verlag herauszubringen.195

1.1. Traditionsbildend: Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag Die klassisch gewordenen Muster der Künstlernovelle stammen aus dem 19. Jahrhundert. Wackenroders Berglinger-Erzählung, von Ludwig Tieck erweitert und in die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) integriert, kommt entschei192 Vgl. zum sozialistischen Erbe-Konzept Wolfram Schlenker: Das »Kulturelle Erbe« in der DDR.

Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945-1965. Stuttgart 1977; Karl Robert Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. In: Die Literatur der DDR. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. München, Wien 1983 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11), S. 78-119. 193 Das zeigte sich etwa 1949/50, als Thomas Manns offizielles Auftreten bei den GoetheFeierlichkeiten in Ost und West auch in der DDR stark begrüßt wurde und Manns zum Pathos neigende Stilisierung von Klassizität und kosmopolitischer Humanität weitaus positivere Resonanz fand als etwa der kritische Umgang Brechts mit der Klassik im Zusammenhang seiner Bearbeitung von Lenz’ Hofmeister (1950). Vgl. Jörg Wilhelm Joost: Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz. In: Brecht Handbuch. Hg. v. Jan Knopf. Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2001, S. 563-578, bes. S. 564. 194 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5, S. 137. 195 Vgl. Albrecht von Heinemann: Der goldene Käfig. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1957; ders.: Unbändiges Herz. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1958; Hans Franck: Herbstliches Herz. Zwei Goethe-Novellen. Berlin 1955.

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dende Anregungsfunktion zu; der unglückliche Musiker Joseph Berglinger ist zwar eine fiktive Figur, doch inzwischen darf als nachgewiesen gelten, dass sich Wackenroder, was Lebensweg und ästhetische Anschauung seines Protagonisten betrifft, an dem historischen Vorbild Pergolesis orientiert hat.196 Keineswegs eindeutig ist der biographische Bezug auch in E.T.A. Hoffmanns Erzähldebüt Ritter Gluck (1809); zur Handlungszeit der Novelle, in der ›Gluck‹ auftritt, ist der historische Komponist bereits seit über 20 Jahren tot, so dass der Protagonist »bald als Sonderling, bald als Wahnsinniger, als Inbegriff des romantischen Künstlers, als Revenant, Phantasma oder gar Allegorie – der ›Geist‹ des Gluckschen Reformopernwerks – identifiziert wurde«.197 Im Fräulein von Scuderi und in Signor Formica, einem explizit als ›Novelle‹ bezeichneten Text um den barocken Maler und Autor Salvatore Rosa, griff Hoffmann später direkt auf historisch verbürgte Künstlerviten zurück. Insgesamt jedoch und unabhängig vom starken Fortleben romantischer Kunstmetaphysik ist der »Einbruch des Biographischen«198 in die Künstlernovelle erst seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts festzustellen. Als qualitativ herausragend und dauerhaft traditionsprägend für die biographische Künstlernovelle hat sich dabei Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag erwiesen.199 Allerdings hat die Fortführung der hier ausgeprägten Muster vor allem gezeigt, wie stark die Rezeption gerade der Mozart-Novelle vereinfachend, glättend und trivialisierend verlaufen ist. Die traditionsbildenden Elemente von Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag liegen in verschiedenen Bereichen. Schon die Publikationsstrategie wird symptomatisch bleiben für das Genre: Zwar hatte sich der langsam arbeitende Mörike schon jahrelang mit dem Projekt eines belletristischen Mozart-Porträts getragen, aber den eigentlichen Impuls zur Fertigstellung und Publikation gab erst der äußere Anlass von Mozarts hundertstem Geburtstag 1856200; der Erstdruck erfolgte in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände (Juli und August 1855), die Buchausgabe, im November 1855 erschienen, wurde im Hinblick auf das Jubiläumsjahr vordatiert. Mörikes belletristisches »Charaktergemälde«201 Mozarts versteht sich damit als Bestandteil der Gedenk196 Vgl. Claudia Albert: Zwischen Enthusiasmus und Kunstgrammatik: Pergolesi als Modell für

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Wackenroders Berglinger-Erzählung. In: Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur. Hg. v. Gabriele Brandstetter. Bern, Stuttgart, Wien 1995 (= Facetten der Literatur, 5), S. 5-27. Gerhard Neumann: E.T.A. Hoffmann: Ritter Gluck. Die Geburt der Literatur aus dem Geist der Musik. In: Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur. Hg. v. Gabriele Brandstetter. Bern, Stuttgart, Wien 1995 (= Facetten der Literatur, 5), S. 39-70, hier S. 49. Karl Prümm: Berglinger und seine Schüler. Musiknovellen von Wackenroder bis Richard Wagner. In: ZfdPh 105 (1986), S. 186-212, hier S. 210. Vgl. zur Wirkungsgeschichte von Mörikes Novelle auch Sascha Kiefer: Mörike als Novellenheld – von Hermann Hesse bis Peter Härtling. In: Mörike-Rezeption im 20. Jahrhundert. Vorträge des Internationalen Kongresses zur Wirkungsgeschichte in Literatur, Musik und Bildender Kunst, 8.-11. September 2004. Hg. v. Albrecht Bergold und Reiner Wild. Tübingen 2005, S. 57-75. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Raymond Immerwahr: Apokalyptische Posaunen: Die Entstehungsgeschichte von Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. In: Eduard Mörike. Hg. v. Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung, 446), S. 399-425 [engl. Original 1955]. Eduard Mörike an Georg von Cotta, 6. Mai 1855. In: Eduard Mörike: Briefe 1851-1856. Hg. v.

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und Erinnerungskultur.202 Die Ausrichtung auf Gedenkjahre prägt die Produktion und, vor allem im Zusammenhang mit Neuauflagen zu wechselndem Anlass, auch die Distribution und Rezeption von historisch-biographischen Novellen und Romanen bis in die Gegenwart; noch das Goethe-Jahr 1999 hat (neben anderen Fiktionalisierungen) zwei Novellen um Goethe hervorgebracht.203 In formaler Hinsicht hat vor allem die ältere Forschung intensiv diskutiert, inwieweit Mörikes explizit als ›Novelle‹ bezeichneter Text als solche gelten könne. Die schon von der frühen Forschung bemängelte Episodenhaftigkeit und die angeblich undramatische, mit zahlreichen Einschüben und Rückblenden operierende Erzählweise galten vielen als Grund, diese Kategorisierung zurückzuweisen.204 Für Johannes Klein etwa ist Mörike prinzipiell »kein Novellist« – in der ersten Auflage seiner Novellengeschichte kam er deshalb gar nicht vor, und erst auf »vielfache Wünsche und Gespräche« hin lieferte Klein ein entsprechendes Kapitel nach.205 Pongs dagegen bezeichnet Mozart auf der Reise nach Prag als »vollendete Novelle«206; auch Benno von Wiese und Karl Konrad Polheim heben in ihren Interpretationen sehr stark auf den Novellencharakter des Textes ab. Von Wiese setzt bestimmte Textelemente zu den oft genannten, aus der Tradition bekannten Novellenmerkmalen in Beziehung, insbesondere zur ›unerhörten Begebenheit‹ und zum ›Symbol‹207, während Polheim im Hinblick auf Mörikes Text den Begriff der ›Figurennovelle‹ im Unterschied zur üblichen ›Handlungsnovelle‹ prägt.208 Auch wenn sich dieser terminologische Vor-

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Bernhard Thurn. Stuttgart 2000, S. 205-207, hier S. 205 (= Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 16). Kreutzer hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Mozart bereits 1842 – und damit noch vor Bach (1843), Goethe (1844) und Beethoven (1845) – ein Denkmal errichtet wurde. Auch die erste mit historisch-kritischen Methoden arbeitende Mozart-Biographie, Otto Jahns W. A. Mozart (4 Bde, Leipzig 1856-1859), erschien zum 100. Geburtstag: »Das zeitliche Zusammentreffen der beiden gleichermaßen gültigen dichterischen wie wissenschaftlichen Leistungen markiert zugleich den Zeitpunkt, von dem an sich die Wege der Dichter und die der Forscher endgültig und unwiderruflich getrennt haben«. Vgl. Hans Joachim Kreutzer: Der Mozart der Dichter. Über Wechselwirkungen von Literatur und Musik im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste. Würzburg 1994, S. 103-129, hier S.117. – Im Mozart-Jahr 1991 wurde Mörikes Novelle noch einmal in Fortsetzungen abgedruckt, in der Stuttgarter Zeitung – ein schönes Indiz für die erinnerungskulturelle Funktion des Textes (vgl. Birgit Mayer: Antriebskraft Tod. Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag [1855]. In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 145-154, hier S. 145). Vgl. Henning Boëtius: Tod in Weimar. Gifkendorf 1999; Jens Korbus: Goethes Krafft. Eine Goethe-Novelle. Koblenz 1999. Vgl. Birgit Mayer: Eduard Mörike. Stuttgart 1987 (= Sammlung Metzler, 237), S. 92f. Die quantitativ und qualitativ dürftigen Ausführungen zeigen allerdings nur zu deutlich, wie wenig Klein mit Mörike und der Mozart-Novelle anzufangen wusste. Vgl. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 219f. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 274. Vgl. Benno von Wiese: Eduard Mörike. Tübingen und Stuttgart 1950, S. 270-294 (bes. S. 273, 279), und ders.: Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag. In: Ders. (Hg.): Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Bd. 1. Düsseldorf 1956, S. 213-237. Vgl. Karl Konrad Polheim: Der künstlerische Aufbau von Mörikes Mozartnovelle. In: Euphorion

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schlag nicht durchgesetzt hat, ist er doch für das gesamte Genre der Künstlernovelle interessant, da er im Rahmen eines durchaus traditionellen Novellenkonzepts die Möglichkeit bietet, die postulierte Einheitlichkeit auch durch eine zentrale Figur und nicht ausschließlich durch eine zentrale ›Begebenheit‹ oder einen ›Falken‹ gewährleistet zu sehen. Zur subtilen Erzählstrategie Mörikes gehört der häufige Wechsel zwischen Erzählerbericht, Figurenerinnerung und szenischer Darstellung209: Dass Mozart aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird, differenziert sein Charakterbild ebenso wie der weite Zeitraum, der durch Erinnerungen einerseits und Vorausdeutungen andererseits abgedeckt wird. Dabei nutzt Mörike ausgiebig die eigentümliche Kommunikationssituation des historisch-biographischen Schreibens, die aus einem gemeinsamen, fiktionsexternen Wissen von Autor und Leser resultiert: Fast jeder Leser der Mozart-Novelle dürfte wenigstens in groben Zügen über die Lebensgeschichte der Hauptfigur informiert sein, von der angeblich so genialisch-spontanen Kompositionsweise210, der materiellen Not der letzten Jahre und dem frühen Tod wissen. Schließlich hatte die entsprechende »Legendenbildung«211 gleich nach dem Tod des Komponisten eingesetzt und zahlreiche pseudo-biographische, halbliterarische Beiträge inspiriert. Allein der Name ›Mozart‹ oder ein Werktitel wie ›Don Juan‹ sind unabhängig von der Fiktion mit einem semantischen Potential aufgeladen, das der Erzähler aktivieren kann, ohne es explizit machen zu müssen; ebenso rezeptionslenkend wirkt das Wissen darum, dass Mozart »auf der Reise nach Prag« einem der Höhepunkte seiner Laufbahn entgegenfährt, nämlich der triumphalen Uraufführung des Don Giovanni. Die vom Erzähler verwendeten Wir-Formeln – »unser Meister«, »unser Freund«, der »Gegenstand unsrer Bewunderung«212 heißt es etwa – zeigen den hohen Grad, in dem sich Mörike der speziellen Kommunikationssituation bewusst ist. Zum Spiel mit der historischen Authentizität gehört sowohl die Berufung auf eine angebliche Quelle für die geschilderten Vorkommnisse213 als auch der im historischen Erzählen der Folgezeit häufig nachgeahmte Versuch, durch eine »Collage aus 48 (1954), S. 41-70, hier S. 68. 209 Vgl. zur Erzählstruktur besonders Volkmar Sander: Zur Rolle des Erzählers in Mörikes Mozart-

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Novelle. In: German Quarterly 36 (1963), S. 120-130; Angelika Waschinsky: Die literarische Vermittlung von Musik und Malerei in den Künstlernovellen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1988, S. 152-167. Die Vorstellung, Mozart habe alles im Kopf auskomponiert und dann das bereits fertige Werk einfach niedergeschrieben, ist bis in die neuere Zeit hinein gepflegt worden; dass hier Mystifikationen im Spiel sind, belegt die differenzierte Untersuchung von Ulrich Konrad: Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen. Göttingen 1992. Kreutzer: Der Mozart der Dichter, S. 103. Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1954, S. 1012-1070, hier S. 1015 (»unser Meister«), 1025 (»unser Freund«), 1016 (»Gegenstand unserer Bewunderung«). Den »unserer Darstellung zugrunde liegenden Bericht« (ebd., S. 1061), den der Erzähler gegen Ende des Textes erwähnt. Ursprünglich hatte Mörike sogar fingierte Noten beifügen wollen, um den spielerischen Authentizitätsanspruch noch weiter zu treiben.

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Wiener Volksdialekt und höfischem Rokokoton«214 eine Sprachform zu konstruieren, die das Sprechen Mozarts lokal und geschichtlich indizieren soll. Als nachgeborene Mozart-Verehrer haben Autor, Erzähler und intendierte Leser notwendigerweise eine andere Perspektive auf den Erzählgegenstand als die fingierten Personen, die den Komponisten in der Novelle umgeben – ein Problem, das der Text durchaus reflektiert. Denn nachdem Mozart einige Auszüge aus dem noch nicht fertiggestellten Don Giovanni vorgespielt hat, betont der Erzähler die grundsätzlich veränderte Rezeptionssituation: Unsre Gesellschaft aber hatte damit, daß sie ein uns von Jugend auf völlig zu eigen gewordenes Werk jetzt erstmals kennen lernen sollte, einen von unserem Verhältnis unendlich verschiedenen Stand, und, wenn man das beneidenswerte Glück der persönlichen Vermittlung durch den Urheber abrechnet, bei weitem nicht den günstigen wie wir, da eine reine und vollkommene Auffassung eigentlich niemand möglich war […].215

Die authentische Interpretation entschädigt nicht für den Mangel an Vertrautheit. Trotz dieser prinzipiellen Einsicht wird jedoch gleich im Anschluss eine ideale Hörerin imaginiert, die Mozarts Musik schon innerhalb der erzählten Vergangenheit adäquat rezipieren kann: »Genau genommen waren, dem Geist, der Einsicht, dem Geschmacke nach, Eugenie und ihr Verlobter die einzigen Zuhörer, wie der Meister sie sich wünschen mußte, und jene war es sicher ungleich mehr als dieser«.216 Eugenie gehört denn auch der Schluss der Novelle: Von ihr solle »vorzugsweise hier die Rede« sein, »weil sie das unschätzbare Erlebnis tiefer als alle ergriff«217, vermerkt der Erzähler zur Begründung. Intuitiv und empathisch erfasst sie das Genie Mozarts, kann sich in seine Gefühlslage hineinversetzen und seinen frühen Tod erahnen. Auch diese Hierarchisierung von Figuren nach dem Grad, in dem sie der großen, von vielen verkannten Künstlerpersönlichkeit gerecht werden und damit die ehrfürchtige Rezeptionshaltung der Zukunft antizipieren, hat sich auf die Tradition der historisch-biographischen Novelle ausgewirkt. In enger Verbindung damit steht das in der Mozart-Novelle vermittelte Künstlerbild. Genialität und bürgerliche Ökonomie schließen sich gegenseitig aus – eine Konstellation, mit der Mörike den romantischen, im gesamten 19. und frühen 20. Jahrhundert nachwirkenden Künstlermythos fortschreibt.218 Der Zeitschriftenausgabe 214 Günter Blamberger: »Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken/ Zur Pforte meines

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Herzens hergeladen…?« Eduard Mörikes Darstellung des Inspirationsgeschehens in der Novelle Mozart auf der Reise nach Prag. In: Günter Blamberger/Manfred Engel/Monika Ritzer (Hg.): Studien zur Literatur des Frührealismus. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1991, S. 288-305, hier S. 295. Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 1061. Ebd., S. 1062. – Diese Abstufung enthält sicher auch eine Gender-Komponente: In der Rezipientenrolle ist die einfühlsame, sensible, ›passive‹ Frau dem Mann traditionell überlegen – logische Konsequenz aus einem Modell, das ›die Frau‹ als komplementären Gegensatz zum allein produktiven, genialen, ›aktiven‹ Mann entwirft. Ebd., S. 1068. Vgl. Gerhard vom Hofe: Göttlich-menschlicher Amadeus. Literarische Mozart-Bilder im Horizont des romantischen Kunst- und Geniebegriffs. In: Athenäum 4 (1994), S. 189-218, hier S. 214. – Kreutzer hat nachgewiesen, wie sehr Mörikes Darstellung auch von den älteren, in halb biographi-

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seiner Novelle hatte Mörike noch eine (von ihm gekürzte) Passage aus der MozartBiographie des Russen Alexander Oulibicheff vorangestellt, die in der Buchausgabe fehlt: Wenn Mozart, statt stets für seine Freunde offene Tafel und Börse zu haben, sich eine wohl verschlossene Sparbüchse gehalten hätte, wenn er mit seinen Vertrauten im Tone eines Predigers auf der Kanzel gesprochen, wenn er nur Wasser getrunken und keiner Frau außer der seinigen den Hof gemacht hätte, so würde er sich besser befunden haben und die Seinigen ebenfalls. Wer zweifelt daran? allein von diesem Philister hätte man wohl keinen Don Juan verlangen dürfen, ein so vortrefflicher Familienvater er auch gewesen wäre.219

Dieses Motto streicht den Künstler-Bürger-Gegensatz besonders heraus – und damit ein Thema, das für Mörikes eigene Lebensproblematik fast relevanter ist als für die Mozarts. Entsprechend häufig haben vor allem ältere Interpreten die Identität von Autor und Objekt hervorgehoben, den Mozart der Novelle als »vollendete Selbstdarstellung und Selbstdeutung« Mörikes gepriesen oder sogar »Mörikes Dasein« zur »geheimnisvolle[n] Wiederkehr Mozarts als Dichter« stilisiert.220 Horst Steinmetz hat die »Sentimentalität«, von der diese Deutungen meist durchdrungen sind, schon 1969 kritisiert und auf die engen Grenzen, ja Gefahren solcher biographisch orientierten Interpretationen hingewiesen.221 Einem vorschnell auf Idealisierung festgelegten Blick müssen die vielfältigen Ambivalenzen in Mörikes komplexer Novelle entgehen, wenn sie nicht sogar als Schwächen oder Fehler des Autors gedeutet werden. Erst neuere Interpretationen haben gezeigt, wie subtil Mörike etwa die Fragen von Kunst, Künstlertum und Inspiration thematisiert und wie simplifizierend und verfälschend demgegenüber viele ältere Deutungen verfahren.222 Das beginnt bei der Hauptfigur: Mörike begreift Mozart aus dem künstlerischen Produktionsprinzip der Verschwendung heraus; der Komponist verausgabt sich, wird zerrieben zwischen dem Überlebenszwang des Maßhaltens und dem für seine Kreativität unerlässlichen Verschwenden von Geldmitteln, körperlichen Kräften und genialen Einfällen. Mörikes Novelle zeigt keineswegs das grundsätzliche Gelingen dieses Prinzips; eher ist sie eine Art ›Versuch über den geglückten Tag‹, nämlich über die wenigen herausgegriffenen und durch fiktionale Episoden bereicherten Stunden aus Mozarts Leben, die den Handlungsrahmen der Novelle abgeben. Schon der Titel

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scher, halb belletristischer Form kolportierten Legenden um Mozart beeinflusst wurde. Vgl. Kreutzer: Der Mozart der Dichter, bes. S. 118-122. Karl Pörnbacher (Hg.): Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1976 (= RUB 8135), S. 69; vgl. die originale Passage aus Oulibicheffs Mozart’s Leben nebst einer Übersicht der allgemeinen Geschichte der Musik und einer Analyse der Hauptwerke Mozart’s (Stuttgart 1847) ebd., S. 54f. Benno von Wiese: Eduard Mörike. Tübingen und Stuttgart 1950, S. 271f. Horst Steinmetz: Eduard Mörikes Erzählungen. Stuttgart 1969, S. 90. Hier sei insbesondere verwiesen auf die ungemein differenzierte Interpretation von Wolfgang Braungart: Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Ökonomie – Melancholie – Auslegung und Gespräch. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen. Bd. 2. Stuttgart 1990 (= RUB 8414), S. 133-202.

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verrät, wie wenig Bestand die entworfene Glücksutopie hat: Mozart ist auf der Reise, ein zufällig zustande gekommener, notwendig transitorischer Aufenthalt wird zur Voraussetzung des Geschilderten. Umso schneller setzt sich die (Lebens-)Reise danach fort. Die ideale Geselligkeit, die sich beim Aufenthalt der Mozarts auf dem Schloss des Grafen Schinzberg ergibt, markiert eine Ausnahmesituation: Nur die anstehende Festveranstaltung bietet die Möglichkeit, die sozialen Schichten momentan zu versöhnen und zur alltagsüberschreitenden Idealgesellschaft zusammenzubringen; auch unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts ist die Integration der Künstlers in die Gesellschaft kontingent und momentan.223 Dass Mörike keine vorbehaltlose Verklärung weder Mozarts noch des schöpferischen Genies schlechthin noch des Rokoko-Zeitalters betreibt, wird am wichtigsten Symbol des Textes deutlich: der Orangerie. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat die Orangerie inzwischen als ein Objekt ausgemacht, das in vielfältiger Weise geeignet ist, die spezifische Diskursformation des 18. Jahrhunderts zu veranschaulichen – das ist auch eine Bestätigung dafür, wie sehr es Mörike intuitiv gelungen ist, seinen Blick auf das ancien régime in einem besonders charakteristischen Bild zu konzentrieren.224 Dabei bezeichnet der Begriff ›Orangerie‹ im Sprachgebrauch des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl das Gewächshaus als auch die darin oder unter freiem Himmel im Garten befindlichen südlichen Gewächse als auch die entsprechenden Früchte.225 Die zentrale, untrennbar mit der Orangerie verknüpfte Begebenheit der MozartNovelle sei kurz rekapituliert: Mozart, mit seiner Frau Constanze in einem mährischen Dorf angelangt, betritt den der Öffentlichkeit zugänglichen Garten des ortsansässigen Grafen. Dort trifft er auf einen »Pomeranzenbaum von mittlerer Größe«, durch den er »auf eine liebliche Erinnerung aus seiner Knabenzeit geführt« wird. »Zerstreut« greift er nach einer Frucht, »sie geht vom Zweige los und bleibt ihm in der Hand«: ja so weit geht die künstlerische Geistesabwesenheit, daß er, die duftige Frucht beständig unter der Nase hin und her wirbelnd und bald den Anfang, bald die Mitte einer Weise unhörbar zwischen den Lippen bewegend, zuletzt instinktmäßig ein emailliertes Etui aus 223 Vgl. auch Hanne Holesovsky: Der Bereich des Schlosses in Mörikes Mozartnovelle. In: The Ger-

man Quarterly 46 (1973), S. 185-201.

224 Vgl. Jürgen Landwehr (Hg.): Natur hinter Glas. Zur Kulturgeschichte von Orangerien und Ge-

wächshäusern. Beiträge zur Jahrestagung des Gamburger Forums für Kulturforschung im Kloster Bronnbach September 2002. St. Ingbert 2003 (= Kulturlandschaft – Landschaftskultur, 1). – Mit Mörike befasst sich in diesem Band eher knapp Hans-Peter Ecker: Von der Orangerie aufs Treibhaus gekommen. Literarische Reflexe der Entwicklungsgeschichte der Gewächshäuser bei Eduard Mörike und Theodor Fontane, S. 203-219. 225 Vgl. Johannes Birgfeld: Von Adels Lust zu Bürgers Nutz? Orangerien im (literarischen) Diskursfeld des 18. Jahrhunderts. In: Landwehr (Hg.): Natur hinter Glas, S. 139-201, hier S. 142f. (mit ausführlichen Belegen). – Auch in der Mozart-Novelle wird der Orangerie-Begriff als Bezeichnung für im Freien stehende, südliche Pflanzen verwendet: »Das […] Bassin war rings von einer sorgfältig gehaltenen Orangerie in Kübeln, abwechselnd mit Lorbeeren und Oleandern, umstellt […]« (Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 1025).

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der Seitentasche seines Rocks hervorbringt, ein kleines Messer mit silbernem Heft daraus nimmt und die gelbe kugelige Masse von oben nach unten langsam durchschneidet. Es mochte ihn dabei entfernt ein dunkles Durstgefühl geleitet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne mit Einatmung des köstlichen Geruchs. Er starrt minutenlang die beiden innern Flächen an, fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt sie wieder.226

Wenig später stellt sich heraus, dass die Früchte gezählt waren und der Baum als Bezugspunkt eines allegorischen Gedichts im Rahmen der anstehenden Festlichkeit hätte dienen sollen; da sich die Gräfin und vor allem ihre Nichte Eugenie als enthusiastische Mozart-Verehrerinnen herausstellen, sind sie jedoch rasch bereit, die Anwesenheit des Genies als Entschuldigung zu akzeptieren. Im Orangenbaum selbst, der Frucht und Mozarts Erlebnis kreuzen sich die unterschiedlichsten Diskurse. Mörike assoziierte sicher auch Goethes Mignon-Gedicht Kennst du das Land; der Mozart der Novelle fühlt sich ja gleichfalls erinnert an Italien, verstanden als das ideale Land der Schönheit und der Kunst.227 Darüber hinaus jedoch galt die Orangerie schon seit dem 17. Jahrhundert als Ausdruck feudaler Macht: südliche Pflanzen unter den klimatischen Bedingungen des Nordens zu kultivieren, unterstrich den Anspruch der Fürsten auf Gottähnlichkeit und unbegrenzte Potestas. Zitrusfrüchte konnten ewige Jugend symbolisieren (mit Bezug auf die Hesperidenäpfel) wie auch den biblischen Sündenfall; gerade in dieser Verschränkung von absolutem Machtanspruch und der Erinnerung an menschliche Fehlbarkeit sahen die Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts den emblematischen Reiz von Orangerien.228 Auf beide Symbolbereiche wird bei Mörike angespielt: Im Entschuldigungsbillet an die Gräfin vergleicht sich Mozart mit »Adam, nachdem er den Apfel gekostet«, das allegorische Festgedicht zitiert den Hesperiden-Mythos.229 Insofern kann es nicht verwundern, dass das alte, seit Generationen innerhalb der gräflichen Familie gepflegte Pomeranzenbäumchen ausdrücklich als »Symbol« gesehen wird: Es konnte nächst seinem persönlichen Werte zugleich als lebendes Symbol der feingeistigen Reize eines beinahe vergötterten Zeitalters gelten, worin wir heutzutage freilich des wahrhaft Preisenswerten wenig finden können, und das schon eine unheilvolle Zukunft in sich trug, deren welterschütternder Eintritt dem Zeitpunkt unserer harmlosen Erzählung bereits nicht ferne mehr lag.230

Diese Erzählerreflexion wurde in der älteren Forschungsliteratur meist nur in dem Sinne gedeutet, der etwa aus Benno von Wieses Interpretation spricht:

226 Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 1026. 227 Die ausführlichste Interpretation von Mozarts Erinnerung an sein Italien-Erlebnis bietet Hartmut

Kaiser: Betrachtungen zu den neapolitanischen Wasserspielen in Mörikes Mozartnovelle. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1977, S. 364-400. 228 Vgl. Birgfeld: Von Adels Lust zu Bürgers Nutz?, S. 145-147. 229 Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 1027, 1044. 230 Ebd., S. 1043.

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Mit einem Male ist der harmlose Pomeranzenbaum aus einem beliebigen Gegenstand zu einem Wesen geworden, hineingestellt in die Tradition einer geistvollen, aristokratischen Familie, darüber hinaus Gleichnis der geschichtlichen Wende zwischen dem vergötterten Zeitalter des ancien régime und seiner schimmernden Lebenskunst und der im Hintergrund bereits dunkel heraufziehenden furchtbaren Zerstörung durch die Revolution. In dem Pomeranzenbaum verkörpert sich noch einmal der holde und spielerische Glanz einer souveränen Gesellschaft und einer adligen Lebensführung, die bereits von dem Schatten des Untergangs bedroht ist.231

Damit wird der Erzähler festgelegt auf ein vorbehaltloses Bekenntnis zur ›geistvollen‹, ›schimmernden‹, ›holden‹ und ›spielerisch umglänzten‹ Rokoko-Gesellschaft – ohne dass im mindesten Bezug genommen würde auf seinen skeptisch-distanzierenden Einschub über ein Zeitalter, »worin wir heutzutage freilich des wahrhaft Preisenswerten wenig finden können«! Erst in von Wieses schwärmerischer Paraphrase wird Mörike zum restaurativen Nostalgiker, wo der originale Erzählertext den angeblichen ›Glanz‹ des ancien régime deutlich relativiert – freilich ohne sich etwa zur Revolution zu bekennen: »Geschichte wird weder entschieden als Verlust eines idealen Zustandes noch als Prozeß der Höherentwicklung interpretiert«.232 In ähnlicher Weise verfehlt ist die einseitige Interpretation der Mozart-Figur als Ideal und »Wunschbild«.233 Weder der Autor noch der Erzähler widmen sich einer vorbehaltlosen Apologie des autonomen Genies. Ein Satz wie »Genießend oder schaffend, kannte Mozart gleichwenig Maß und Ziel«234 ist auch kritisch gemeint, und wenn der Erzähler Konstanzes Phantasie von einer bürgerlich-saturierten Zukunft Mozarts in Berlin mit den Worten kommentiert, dass dieser Traum »leider niemals, auch nicht im bescheidensten Maße, erfüllt werden sollte«235, so findet sich die von philiströsen Zügen keineswegs freie Vision positiv bewertet. Damit ist Wolfgang Braungart vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er entschieden auf solche Distanzsignale aufmerksam macht: »Gegen eine Kunstkonzeption feudaler Verschwendung, an die die Erzählung erinnert, die sie aber gleichzeitig als unmöglich erweist und mit der Mörikes Mozart zu einer überlebten gesellschaftlichen Formation gehört, welche ihn jedoch nicht mehr wirklich integriert, setzt Mörike eine Poesie der leisen Andeutungen, der versteckten skeptischen Einwände, des Understatements, der Resignation«.236 Auch der Moment der Inspiration, des schöpferischen Aktes erscheint ambivalent. Wieder nutzt Mörike die Symbolträchtigkeit des Pomeranzenbaumes bzw. seiner Frucht: Durch das Pflücken der Frucht ist Mozart ›schuldig‹ geworden; »Sündenfall und Schöpfungsaugenblick erscheinen in traumhaft schwebender Sicherheit auf-

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Von Wiese: Eduard Mörike, S. 280f. Braungart: Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 139. Von Wiese: Eduard Mörike, S. 272. Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 1017. Ebd., S. 1024. Braungart: Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, S. 138.

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einander bezogen und ineinander gespiegelt«.237 Zu Recht ist in neueren Arbeiten auf die vielfältigen Implikationen verwiesen worden, die Mörikes Darstellung des Inspirationsgeschehens beinhaltet und die von der Proust vorwegnehmenden, vom Geruch der Pomeranze ausgelösten mémoire involontaire bis zum diffizilen Verhältnis von Körperlichkeit und Kunst, Sexualität und Tod reichen.238 Auch in Bezug auf diese Thematik ist die ältere Forschungsliteratur vergröbernd mit dem Text umgegangen: Dem idyllisierenden Blick auf das erzählte Rokoko entspricht der dämonisierende auf das Genie.239 Mörike hat seinen Mozart als typisch zyklothymen Charakter angelegt, und wenn es einen Anlass gibt, Parallelen zwischen Autor und Figur zu ziehen, dann auf diesem Gebiet: Phasen euphorischen Überschwangs wechseln bei Mozart wie bei Mörike mit solchen der Melancholie und Depression. Benno von Wiese deutet den Sachverhalt wie folgt: »Die Möglichkeit höchster Lebensbejahung und Lebenskunst wächst auf dem Grunde einer dämonisch widerspruchsvollen Natur, die nur darum das Leben wie ein Fest durchzuspielen versteht, weil sie sich bereits dem Tode verfallen ahnt«.240 Den Begriff des ›Dämonischen‹ wiederum verdankt von Wiese der älteren Interpretation durch Hermann Pongs, die als Musterbeispiel einer problematischen Mörike-Deutung gelten kann. Im Rahmen seines pseudo-philosophischen Literaturkonzepts versteht Pongs unter dem ›Dämonischen‹ den »erschreckende[n] Durchblick von der menschlichen Existenz her zur Unteren Welt und zur Überwelt, als eine zwiespältige Macht, die beides umfaßt, Wunderbares und Grausiges, Helles und Dunkles, Göttliches und Teuflisches«.241 Gerade das Genie stehe in engster Beziehung zu den ebenso schöpferischen wie zerstörerischen ›Dämonen‹; folglich glaubt Pongs, dem Dämonischen »am greifbarsten […] in der Darstellung der Künstlerseele«242 begegnen zu können. In der Folge bezieht er sich auf Büchners Lenz und Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag, da diese exemplarisch »die dunkle und die helle

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schöpferischen Augenblicks: Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag und Shaffers Amadeus. In: Günter Blamberger/Manfred Engel/Monika Ritzer (Hg.): Studien zur Literatur des Frührealismus. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1991, S. 306-337, hier S. 316. Vgl. ebd. sowie Blamberger: »Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken/ Zur Pforte meines Herzens hergeladen…?«. Die immanente Logik dieses Vorgehens liegt daran, dass der Interpret, nachdem er zuerst ein allzu harmloses Bild des Erzählten entworfen hat, ein umso drastischeres Gegengewicht suchen muss, um den ästhetischen Rang der Novelle zu rechtfertigen: In diese Richtung weist zumindest von Wieses Aussage, dass die (zuvor interpretatorisch vereinseitigte!) »Heiterkeit dieser erfüllten Lebensaugenblicke […] doch flach« bliebe, wenn nicht die ›dämonischen‹ Seiten des Genies dazu kontrastierten. Vgl. von Wiese: Eduard Mörike, S. 275. Ebd. Hermann Pongs: Die Novelle und das Dämonische. In: Ders.: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, S. 251-296, zum Folgenden vor allem S. 251-274. Pongs greift für diese Kapitel zurück auf seinen bereits 1935 publizierten Aufsatz: Ein Beitrag zum Dämonischen im Biedermeier. In: Dichtung und Volkstum 36 (1935), S. 241-261. Ebd., S. 254.

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Seite des Dämonischen im Künstler«243 zum Ausdruck brächten: Büchners Künstlerbild entspreche einer »Dämonie der Leere«, Mörikes einer »Dämonie der Fülle«; die Mozart-Novelle wird zum »Gegenausdruck biedermeierlicher Bürgerklassik gegen den weltzersetzenden Pessimismus, mit dem Büchner ringt«.244 Mozarts Maßlosigkeit, seine Anfälle von Schwermut, Todesahnungen sind der Ausdruck des Dämonischen inmitten der »strahlende[n] Lebenswelt«.245 Wo Büchners Lenz-Novelle »im Bereich der Symptome« verbleibe, ohne es »zu einer Symbolmitte« zu bringen246, biete Mörike das positive »Gegenbild«247: »Um Mozart […] ist das eigentümliche Leuchten einer erfüllten Existenz, für die Erinnern ein Zuwachs des Wesens, ein Beschenktwerden ist, und die auch das Wissen um den Tod in sich schließt als unauflösbares Gesetz des Seins«.248 Die polarisierende Abgrenzung, die Pongs vornimmt, macht Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag zum Inbegriff der positiven, das ›Dämonische‹ bewältigenden und auf Synthese ausgerichteten Darstellung eines Künstlerlebens. Damit kann er der differenzierten Erzählweise Mörikes nicht gerecht werden; für ein Erkenntnisinteresse jedoch, das nicht auf die Polyvalenz und ästhetische Qualität des Textes abzielt, sondern darauf, inwieweit Mörikes Mozart die spätere Entwicklung des Genres Künstlernovelle beeinflusst hat, sind die älteren Deutungen eines Hermann Pongs oder Benno von Wiese oder die emphatisch-naive Eloge des Autors und Pfarrers Albrecht Goes249 aussagekräftiger als die neueren, adäquateren Interpretationen. Gerade die Simplifizierungen, Verharmlosungen und Verfälschungen der älteren Forschung erweisen sich als symptomatisch für die Rezeption der Mozart-Novelle in einem bestimmten Zeitraum; wo schon professionelle Leser zu wenig differenzierten Resultaten gelangten, ist fraglos anzunehmen, dass das bürgerliche Lesepublikum noch weitaus eher zu einer einseitig idyllisierenden Aufnahme geneigt war. Oswald Panagl hat anlässlich der zahlreichen Singspiel- und Filmbearbeitungen der Mörike-Novelle vermutet, dass sowohl deren Autoren als auch ein breites Publikum gerade in den Krisenzeiten nach den Weltkriegen »Orientierung an vermeintlichen Lichtgestalten«250 gesucht haben; die trivialisierenden Adaptionen verzerren das Mozartbild ins einseitig Heitere und übertrieben Positive – damit bezeugen sie allerdings eine Rezeptionshaltung, auf die schon Mörikes Original oft getroffen ist. Wie weit die Mozart-Novelle in der frühen Nachkriegszeit verbreitet war und damit auch Ebd. Ebd., S. 264f. Ebd., S. 266. Ebd., S. 264f. Ebd., S. 274. Ebd. Vgl. Albrecht Goes: Musik des Abschieds. Die Mozart-Novelle. In: Ders.: Mit Mörike und Mozart. Studien aus fünfzig Jahren. Frankfurt/M. 1991, S. 43-50 [Erstdruck als Nachwort zu Mozart auf der Reise nach Prag. Stuttgart 1949]. 250 Oswald Panagl: Mozart aus dritter Hand. Mörikes Mozart-Novelle als Singspiel und Film. In: Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert. Wirkung, Verarbeitung und Vermarktung in Literatur, bildender Kunst und in den Medien. Hg. v. Peter Csobádi u.a. Salzburg 1991, S. 275-292, hier S. 292. 243 244 245 246 247 248 249

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die allgemeinen Vorstellungen vom Genre der Künstlernovelle geprägt hat, belegt die Tatsache, dass allein in den ersten fünf Jahren nach 1945 mehr als 20 Einzelausgaben auf den deutschen Buchmarkt kamen: Bei typischen Schulbuchverlagen wie Schöningh, Klett oder Velhagen & Klasing251 ist Mörikes Novelle ebenso vertreten wie in der bildungsbürgerlichen Lieblingsreihe der Insel-Bücherei252; illustrierte Ausgaben für 4,80 DM253 sind Ende der vierziger Jahre ebenso erhältlich wie die ReclamEditionen aus Stuttgart oder Leipzig für 60 Pfennig und weniger.254 Schließlich sind auch Reihentitel wie Die Bücher des Volkes, Neue Bibliothek, Kleine deutsche Sammlung oder Deutsche Meisternovellen auf ihre Art geeignet, die Popularität und den kanonischen Rang von Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag zu bezeugen.255

1.2. Künstlernovellen der Nachkriegszeit Von den über dreißig biographischen Novellen, die zwischen 1946 und 1960 als Einzelausgaben vorgelegt wurden, beschäftigt sich die Mehrzahl mit Autorenviten. Bringt man ihre Themen in eine chronologische Ordnung, so ergibt sich ein beinahe repräsentativer Kursus durch die deutsche Literaturgeschichte zwischen etwa 1780 und 1840. Erwartungsgemäß werden Goethe und Schiller am häufigsten behandelt; der Weimarer Goethe ist beliebter als der junge, dessen Liebesabenteurer etwa mit Friederike Brion vielleicht schon vor 1945 zu oft in sentimentalisierter Form dargestellt worden waren.256 Neben den beiden zentralen Klassikern avancieren jedoch auch Franz Grillparzer, Friedrich Hölderlin, Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann, 251 Vgl. die Ausgaben Paderborn u.a.: Schöningh 1946 (= Schöninghs Textausgaben, 60); Stuttgart:

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Klett 1948 (= Anker-Bücherei, 13); Wiesbaden: Kesselring 1948 (= Kesselrings Schulausgabe in deutscher Kurzschrift, 1); Bielefeld: Velhagen & Klasing 1950 (= Deutsche Ausgaben, 31). Der Band 230 der Insel-Bücherei mit Mörikes Novelle wird 1946 im 161.-165. Tausend vorgelegt und erreicht 1959 das 226.-236. Tausend – auch das ein eindrucksvoller Beleg für die Verbreitung des Textes in den fünfziger Jahren. Vgl. die Ausgabe Berlin: Ganymed-Verlag 1948 (mit Zeichnungen von Eva Schwimmer). Als RUB 4741 Leipzig: Reclam 1946 u.ö., Stuttgart: Reclam 1949 u.ö. Vgl. die Ausgaben Goslar: Deutsche Volksbücherei 1947 (= Die Bücher des Volkes); Hamburg: deutscher Literaturverlag 1948 (= Neue Bibliothek, 23); Hamburg: Phönix-Verlag 1948 (= Kleine deutsche Sammlung); Stuttgart: Der Standpunkt (= Deutsche Meisternovellen, 4). Vgl. Karl Emerich Hirt: Goethe und die polnische Viktusza. Novelle. Innsbruck 1949; Walther Heuer: Ruf der Sterne. Eine Schiller-Goethe-Novelle. Hamburg 1949; Louis Fürnberg: Die Begegnung in Weimar. Berlin 1952; Toni Rothmund: Cornelia. Eine Novelle um Goethe. Lahr 1952; Hans Franck: Herbstliches Herz. Goethe-Novellen. Berlin 1955; Albrecht von Heinemann: Euphrosyne. In: Ders.: Der goldene Käfig. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1957, S. 63-113; Ders.: Frühlicht der Freundschaft. Eine Schiller-Novelle. Rudolstadt 1959; Ders.: Melodie in Moll. Der Ring. 2 Novellen um Goethe. Rudolstadt 1960. – Elisabeth Frenzel bezeichnet Robert Hohlbaums Sonnenspektrum. Ein Goethe-Roman in 16 Abschnitten (Salzburg 1951) als »Novellen-Zyklus« (Stoffe der Weltliteratur, S. 263); da es zu den Vorentscheidungen der vorliegenden Arbeit gehört, die explizite Bezeichnung als ›Novelle‹ zum Kriterium zu nehmen, wird Hohlbaums Text hier nicht berücksichtigt.

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Eduard Mörike, Adalbert Stifter, Annette von Droste-Hülshoff, Christian Dietrich Grabbe, Joseph von Eichendorff, Joseph Victor von Scheffel, Ferdinand Freiligrath und Friedrich Hebbel zu Novellenhelden257; eine Kleist-Novelle folgte 1962.258 Damit sind die Autoren des bürgerlich-konservativen Literaturkanons fast vollständig vertreten; dass Scheffel dabei ist – der 1952 in den Mittelpunkt einer besonders bieder-braven Novelle gestellt wird259 – verwundert ebenso wenig wie etwa das Fehlen Heinrich Heines. Zu den Musikern, deren Viten novellistisch verarbeitet werden, gehören Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Chopin und Smetana260; bildende Künstler sind offenbar weniger attraktiv.261 Kaum eine dieser Novellen ist nach dem ersten Erscheinen noch einmal aufgelegt worden; die geringe Originalität, die matte Sprache, die betulichen Handlungsverläufe der meisten Texte machen das erklärlich. Keinem der Autoren gelingt es, ein auch nur als subjektive Projektion überzeugendes Bild des jeweiligen Gegenstandes zu liefern; bestimmte Züge der Künstlernovelle, die sich bereits bei Mörike andeuten, aber dort noch im Rahmen eines ästhetisch überzeugenden Konzepts bleiben, nehmen überhand bis an die Grenze der unfreiwilligen Komik. Das gilt zum Beispiel für 257 Egid Filek: Novellen um Grillparzer. Linz, Wien 1948; Hans Mielke: Das Lied des Helios. Eine

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Novelle um Friedrich Hölderlin. Rothenburg o.d.T. 1956; Wilhelm Pültz: Licht am Hölderlinsturm. Novelle. Heidelberg 1949; Karl Balser: Die verlorene Wette. Brentanonovelle. Mainz 1948; Erich Schönebeck: Der gefährliche Floh. Eine Novelle um E.T.A. Hoffmanns letzte Tage. Berlin/DDR 1953; Hans-Wilhelm Kulenkampff: Peregrina. Eine Mörike-Novelle. Hamburg 1948; Heinrich Bachmann: Der Hauslehrer. Biographische Novelle um Adalbert Stifter. Mainz 1955; Toni Rothmund: Die Droste. Eine Novelle um Annette von Droste-Hülshoff. Nachwort von Adolf von Grolman. Lahr/Schwarzwald 1954; Hermine Maierheuser: Über dem See. Novelle um Annette von Droste-Hülshoff und die Malerin Maria Ellenrieder. Ludwigsburg 1959; Ludwig Bäte: Der trunkene Tod. Eine Grabbe-Novelle. Goslar 1947; Wilhelm Pültz: Die Wälder von Lubowitz. EichendorffNovelle. Augsburg 1955; Georg Kanzler: Spätsommerleuchten. Eine Scheffel-Novelle. Rothenburg o.d.T. 1952; Heinz Magka: Liebe in Unkel. Eine Freiligrath-Novelle. Bad Godesberg 1952 (Neuauflage Bad Honnef 2002); Albrecht von Heinemann: Der goldene Käfig. In: Ders.: Der goldene Käfig. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1957, S. 115-186. Friedrich Deml: Kleist in Würzburg. Würzburg 1962; Albrecht von Heinemanns Begegnung der Gestirne (In: Ders.: Unbändiges Herz. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1958, S. 7-64) thematisierte bereits die Beziehung zwischen Goethe und Kleist. Der Eindruck des betont Traditionalistischen wird, wie etwa das Beispiel von Georg Kanzlers Spätsommerleuchten. Eine Scheffel-Novelle zeigt, bewusst durch antiquiert wirkende Illustrationen und den Druck in Frakturschrift unterstützt. Vgl. Albrecht von Heinemann: Präludium und Fuge. In: Ders.: Der goldene Käfig. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1957, S. 5-62; Helmuth M. Böttcher: Die Abschiedssymphonie. Eine HaydnNovelle. Berlin 1955; Louis Fürnberg: Mozart-Novelle. Berlin 1947; Wilhelm Pültz: Premiere in Prag. Mozart-Novelle. Rothenburg o.d.T. 1955; Heinrich Bauer: Freude schöner Götterfunken. Eine Beethoven-Novelle. Baden-Baden 1949; Franz Robert Fettinger: Präludium in Wien. Eine biographische Chopin-Novelle. Wien 1951; Maximilian Rosenberg: Das letzte Konzert. Eine Novelle um Smetana. Berlin 1948. – Der Band Gotteskindschaft. Musikernovellen von Matthäus Gerster (Stuttgart 1948) umfasst Novellen um den jungen Mozart und den alten Bach, um Carl Maria von Weber und Joseph Haydn. Vgl. Wilhelm Hendel: Die Anatomie des Dr. Tulp. Eine Rembrandt-Novelle. Bonn 1949; Marta Babillotte: Nanna, Feuerbachs unsterbliche Geliebte. Friedrichhafen 1949.

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die allzu souveräne Selbstsicht, die den behandelten Genies zugemessen wird. Schon Mörikes Mozart erscheint als »nahezu allwissend, überblickt alle Verhältnisse, durchschaut auch sich selbst vollkommen und gibt unablässig durchreflektierte Bekenntnisse zu Welt- und Kunstfragen ab«.262 Für die quantitativ kaum überschaubare belletristische Trivialliteratur über Mozart263 gilt dieser Befund in verschärfter Form. Hundert Jahre nach Mörike etwa schrieb Wilhelm Pültz die Novelle Premiere in Prag – wie der Klappentext behauptet »ein bedeutsamer erzählender Beitrag zum Mozartverständnis unserer Tage« und »eine kleine, kostbare Festgabe zum Mozart-Jahr 1956«. Dort leitet Mozart nicht nur die Don-Giovanni-Proben, als sei er ein Stardirigent der fünfziger Jahre264, sondern erweist sich auch sonst als völliger »Herr und Meister der Gewalten, die er aus Abgründen menschlichen Denkens und Fühlens beschwor«.265 Schließlich weiß er genau: »Dem Genius zu dienen, ist, ohne daß man eins vom andern trennen kann, Lust und Qual, Glück und Not, Arbeit und Erholung«.266 Ähnlich platte Bekenntnisse zum eigenen Genie finden sich in den Künstlernovellen der Nachkriegszeit zuhauf; sie machen verstehbar, dass diese Texte zwar insgesamt eine bestimmte Facette des kulturellen Lebens in dieser Zeit abbilden, aber keine nachhaltige Wirkung entfalteten und rasch wieder aus dem Buchhandel verschwanden. Ausnahmen markieren die beiden Gattungsbeiträge Louis Fürnbergs: Sowohl die Mozart-Novelle (1947) als auch, mit deutlichem Abstand, Die Begegnung in Weimar (1952) haben Neuauflagen erfahren und sind bis heute in den Katalogen lieferbarer Bücher verzeichnet. Die Mozart-Novelle ist der »größte Publikumserfolg«267 Fürnbergs geworden, sein Biograph Henri Poschmann bezeichnete sie 1967 gar als die »meistgelesene Novelle der deutschen Gegenwartsliteratur«.268 Die stolzen Auflagenzahlen können diese Aussage stützen: 1947 erschien der Text zuerst im Wiener GlobusVerlag, dann bei Dietz in Berlin. Diese Ostberliner Edition ging bereits sechs Jahre später in die 7. Auflage (41.-45. Tsd.), 1958 war das 90. Tausend erreicht, die 12. 262 Hans Joachim Kreutzer: Die Zeit und der Tod. Über Eduard Mörikes Mozart-Novelle. In: Ders.:

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Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste. Würzburg 1994, S. 196-216, hier S. 201. Bereits die Arbeiten von E.W. Böhme verzeichnen insgesamt rund 500 literarische Texte über Mozart. Vgl. E.W. Böhme: Mozart in der schönen Literatur (Drama, Roman, Novelle und Lyrik). In: Bericht über die musikwissenschaftliche Tagung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg vom 2. bis 5. August 1931. Hg. v. Erich Schenk. Leipzig 1932, S. 179-297; ders.: Mozart in der schönen Literatur II. Ergänzungen und Fortsetzung. In: Mozart-Jahrbuch (1959), S. 165-187. Vgl. Wilhelm Pültz: Premiere in Prag. Mozart-Novelle. Rothenburg ob der Tauber 1955, S. 13-18. Wenn es etwa von Mozart »am Dirigentenpult des Neuen Prager Opernhauses« heißt, er hole »über das Orchester gebietend, mit Bewegungen seiner Arme und Hände Magisches aus magischem Raum« (S. 13f.), so wird ein Bild des Dirigenten beschworen, das es in dieser Form im 18. Jahrhundert noch nicht gab. Ebd., S. 65. Ebd., S. 72. Hans Richter: Louis Fürnberg und seine Mozart-Novelle. In: Palmbaum 14 (2006), S. 125-139, hier S. 128. Henri Poschmann: Louis Fürnberg. Leben und Werk. Berlin 1967, S. 116.

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Auflage von 1961 brachte es bis zum 125. Tausend – und das, nachdem Reclam Leipzig bereits 1959 eine preiswerte Lizenzausgabe publiziert hatte und noch bevor die Novelle 1964 von Aufbau ins Programm genommen wurde. Schon dieser bemerkenswerte Erfolg ist ein Grund, den Text näher zu betrachten; hinzu kommt die aufschlussreiche intertextuelle Beziehung zu Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Fürnberg wählt den gleichen Lebensabschnitt Mozarts, nämlich die Zeit vor der Prager Uraufführung des Don Giovanni im Herbst 1787; in beiden Fällen umfasst die erzählte Zeit nur einen Tag und die Figur Mozart wird jeweils konturiert, indem sie in einem geselligen Rahmen gezeigt wird. Ein Vergleich zwischen den Mozartnovellen Mörikes und Fürnbergs bietet sich also geradezu an, wenn es darum geht, das Genre der Künstlernovelle und seine Entwicklung genauer zu umreißen.

1.2.1. Louis Fürnberg (1909-1957) Louis Fürnberg, 1909 im mährischen Iglau als Sohn eines Fabrikanten geboren und in Karlsbad aufgewachsen, war überzeugter Kommunist. 1928 trat er der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bei, 1932 gehörte er zu den Begründern der Agit-Prop-Gruppe Echo von links, ab 1936 leitete er zusammen mit Kurt Barthel (Kuba) die Spieltruppe Das neue Leben.269 Zusammen mit F.C. Weiskopf und Hermann Leupold wirkte er seit 1934 in der Redaktion der nach Prag emigrierten Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (A.I.Z.) und unterhielt Kontakte zu zahlreichen deutschen Exilschriftstellern. Nach dem nationalsozialistischen Überfall auf die Tschechoslowakei 1939 wurde Fürnberg inhaftiert, durfte aber dann ausreisen. Nach kurzem Aufenthalt in Italien ging er mit seiner Familie nach Jugoslawien, 1941 schließlich nach Palästina. Nach Arnold Zweig – mit dem er auch befreundet war270 – gehört Fürnberg zu den bedeutenderen der wenigen deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller, die das Exil in Palästina verbrachten. 1946 kehrte er nach Europa zurück; zwischen 1949 und 1952 war er als Erster Botschaftsrat an der Diplomatischen Mission der ČSR in Berlin tätig; nach zwei Jahren in Prag ging er 1954 als Stellvertretender Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur nach Weimar. Zusammen mit H.G. Thalheim gründete er 1955 die Weimarer Beiträge. Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, die zum wichtigsten Publikationsorgan der DDRGermanistik avancieren sollten; auch die Buchreihe Bibliothek deutscher Klassiker wurde von ihm mitbetreut. Als Freund und Ratgeber begleitete er die schriftstellerischen 269 Über diese Tätigkeit informiert am ausführlichsten: Louis Fürnberg – Kuba (Kurt Barthel). Werk

und Wirkung heute. Untersuchungen zur Aktualität. Standpunkte. Bekenntnisse. Berlin 1976 (= Schriftenreihe des Präsidiums der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, Arbeitsheft 20). 270 Vgl. Der Briefwechsel zwischen Louis Fürnberg und Arnold Zweig. Dokumente einer Freundschaft. Hg. v. Rosemarie Poschmann. Berlin, Weimar 1978, sowie Zweigs Nachruf Louis Fürnberg zum Abschied. In: Aufbau 13 (1957), S. 3f.

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Anfänge seines böhmischen Landsmanns Franz Fühmann und ermunterte die junge Kritikerin Christa Wolf zu eigener literarischer Produktion. Im Juni 1957, wenige Monate nach dem Erhalt des Nationalpreises und der Wahl in den Vorstand des Schriftstellerverbandes, starb Fürnberg, erst achtundvierzigjährig, an den Folgen eines Herzinfarkts. Die Mozart-Novelle hat Fürnberg 1945 geschrieben, noch im Exil und um sein »Heimweh nach Prag loszuwerden«.271 Damit benennt der Autor zugleich die Gedenk- und Erinnerungsfunktion, die ihn mit dem Sujet verbindet: Mozart, seine Musik und sein Wirken in Prag markieren Bezugspunkte auch der eigenen kulturellen Identität – die, im Falle des zwischen der deutschen und der tschechischen Nationalliteratur stehenden Fürnberg, als Identität eines »interkulturellen europäischen Dichters«272 zu verstehen ist. Auch Fürnbergs Lyrik (deren Gesamtbild, ähnlich wie im Fall Johannes R. Bechers, durch eine Reihe pathetischer Politgedichte und peinlicher Parteihymnen getrübt ist273) beschwört sowohl die geographische als auch die geistige Heimat, etwa in dem Gedicht Die Ouvertüre von 1944: Da ist kein Baum, kein Hälmchen Gras, kein Körnchen Staub, das ich vergaß, nicht Blüte und nicht Keim. Die Straßen, die im Traum ich seh, die Wege, die ich wachend geh, sie führen alle heim. Wie oft erklang mir im Exil nicht Papagenos Glockenspiel! Gleich war ich wieder froh! Nie hab ich meine Zeit beklagt. Ich weiß, daß er sein Tänzchen wagt, der muntre Figaro!274

Neben der Gedenk- und Erinnerungsfunktion werden hier zwei wesentliche Elemente von Fürnbergs Mozart-Bild deutlich, die sich auch auf seine novellistische Darstellung auswirken: die Betonung des Volkstümlichen (mit der Anspielung auf Papageno) und vor allem des Aufrührerisch-Revolutionären (durch die Bezugnahme auf Figaros berühmte Arie Will der Graf ein Tänzchen wohl wagen?). 271 Louis Fürnberg an Sylvia Henke, 14.2.1957. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Auswahl in zwei Bänden.

Bd. 2. Berlin, Weimar 1986, S. 430-432, hier S. 431.

272 Rüdiger Bernhardt: Einführung. In: Ders. (Hg.): Wanderer in den Morgen. Louis Fürnberg und

Arnold Zweig. München 2005 (= Colloquia Baltica, 4), S. 9-16, hier S. 9. 273 Vgl. z.B. Die Partei (1950) mit den refrainartig wiederkehrenden Zeilen »Die Partei/die Partei/die

hat immer recht«. In: Louis Fürnberg: Gedichte 1946-1957. Hg. v. der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin, Weimar 1964 (= Gesammelte Werke, 2), S. 218-220. 274 Louis Fürnberg: Die Ouvertüre. In: Ders.: Gedichte 1927-1946. Hg. v. der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin, Weimar 21972 (= Gesammelte Werke, 1), S. 306.

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Fürnbergs politisierte Mozart-Auffassung kann sich in gewisser Hinsicht auf Fakten und eine entsprechende Deutungstradition stützen: Nur einmal in seinem Leben hat sich Mozart ohne speziellen Auftrag an die Komposition einer Oper gemacht, und dabei fiel seine Stoffwahl ausgerechnet auf Beaumarchais’ Komödie Le mariage de Figaro ou la folle journée (1783) – ein Stück, dessen Aufführung immer wieder und auch in Wien von der Zensur verboten worden war. Allerdings sieht die neuere Forschung schon das französische Original in viel stärkerer Bindung an das Ancien Régime als das früher oft angenommen wurde: »Die emphatische Stilisierung des Mariage de Figaro zur Revolutionskomödie, ja zum ersten Akt der Revolution selbst ist ein Rezeptionsprodukt, geboren aus der Rückschau des bürgerlichen 19. Jahrhunderts«.275 Mozart, so der heutige Konsens, war an der temporeichen, virtuos motivierten und von subtiler Erotik durchdrungenen Komödienhandlung interessiert, die Beaumarchais erfunden hatte.276 Eine wie auch immer zu gewichtende politische oder sozialkritische Aussage des Stücks dagegen war keinesfalls ein Element, auf das der Komponist besonderen Wert legte oder das er gar in einem Akt der Selbstzensur hätte zurückdrängen müssen. Genau das jedoch wird von Fürnberg suggeriert, wenn er seinen Mozart klagen lässt: »Es waren wieder einmal die äußeren Umständ […]. Sonst hätt ich mich nach meinem eigenen Geschmack lieber an den Beaumarchaisschen [Figaro] gehalten und den Logen eins aufgespielt. Allein da Ponte! – Sie können sich denken, daß er davon nichts hören wollte!«277 Angesichts dieser Zeilen ist es kein Wunder, dass Fürnberg gelegentlich in heftige Diskussionen über sein Mozart-Bild geriet, z.B. im Jerusalemer Exil mit dem österreichischen Literaturwissenschaftler Heinz Politzer, der, einem Brief Fürnbergs zufolge, »auf lächerliche Weise das Aufrührerische der Musik negiert«278 habe. Fürnberg dagegen neigt eher dazu, das politische Element in Mozarts Biographie und Charakter zu übertreiben, wie die Mozart-Novelle sehr deutlich demonstriert. Der Text beginnt am Vorabend der Don Giovanni-Premiere mit einer geselligen Zusammenkunft im Haus des Musikers Duschek und seiner Frau, der gefeierten Sängerin Josepha Duschek. Mozart, sein Librettist Lorenzo da Ponte, Direktor Bondini und einige seiner Sänger sind schon da, als Giacomo Casanova zur Gesellschaft stößt; der berühmte Abenteurer lebte seit 1785 als Bibliothekar auf dem Schloss des Grafen Waldstein in Dux und war (was Fürnberg allerdings unberücksichtigt lässt) schon jahrelang mit da Ponte bekannt – eine Begegnung mit Mozart wäre also historisch durchaus möglich gewesen, ist aber nicht verbürgt. Fürnberg versucht, an Mozart und Casanova verschiedene Lebens-, Geschichts- und Kunstentwürfe zu illust275 Rainer Warning: Komödie und Satire am Beispiel von Beaumarchais’ Mariage de Figaro. In: DVjs 54

(1980), S. 546-563, hier S. 563. 276 Vgl. Stefan Kunze: Mozarts Opern. Stuttgart 1984, S. 232. 277 Louis Fürnberg: Mozart-Novelle. In: Ders.: Prosa I. Hg. v. der Deutschen Akademie der Künste zu

Berlin. Berlin, Weimar 1967 (= Gesammelte Werke, 3), S. 351-386, hier S. 376f. 278 Louis Fürnberg an Fritz Wollin, November 1941. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Auswahl in zwei

Bänden. Bd. 1. Berlin, Weimar 1986, S. 155-157, hier S. 156.

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rieren – ein Strukturmuster, das aus der dramatischen Gegenüberstellung von Protagonist und Antagonist übernommen und in historischen Romanen und Erzählungen oft anzutreffen ist. Von Anfang an erscheinen Casanova und Mozart als Gegensätze. Casanova wird schon auf der ersten Seite als »Antiquität« und »Greis«279 bezeichnet, später auch als »Mumie«280 – das »Motiv des Alters«281 zieht sich durch den ganzen Text. Der zahnlose Mund des über Sechzigjährigen kontrastiert mit den »blitzend weißen Zähne[n]« des halb so alten Komponisten; der »Nimbus«, der Casanova umgibt, steht im Zeichen des »zu spät«.282 Mozart dagegen kann – ein Vorwissen der Leser, das Fürnberg ebenso ausnutzt wie Mörike – einem der größten Triumphe seiner Laufbahn entgegensehen. Bevor es zum großen Kunstgespräch zwischen Mozart und Casanova kommt, sind es jedoch noch andere Figuren, mit denen der Komponist konfrontiert wird. Zunächst versucht Duschek, dem Freund und Kollegen eine Existenz als freischaffender Künstler in Prag schmackhaft zu machen: Auf die Gunst des bürgerlichen Publikums sei eher Verlass als auf die Gnade des Kaisers. Mozart lehnt ab mit dem Hinweis, sein Platz sei die Wiener Residenz: »Man kann nicht auf und davon«.283 Wie wenig Mozart allerdings auf den Adel als Publikum bauen kann, demonstriert die Abendtafel der Duscheks, zu der zwei »unerwartete Gäste« dazukommen, die »nicht in die Künstlergesellschaft« passen: »Der schöne Graf Clam Gallas und sein Freund, ein durchreisender Fremder, der preußische Botschaftsrat von Blaskowitz«.284 An dieser Stelle ist Fürnbergs Novelle geradezu als Gegendarstellung zu Mörike zu lesen. Obwohl immer zu berücksichtigen bleibt, dass Schloss und Schlossgesellschaft in Mozart auf der Reise nach Prag als bewusst neben der gesellschaftlichen Realität entworfener, arkadischer Bezirk erscheinen, ist nicht zu leugnen, dass bei Mörike ein weitgehend positives Licht auf den Adel fällt, zumindest auf den ländlichen, der Hof und Bürgertum gleich fern steht. Die »menschliche Homogenität dieses Aristokratenzirkels, der den Künstler wie selbstverständlich einbezieht«285, widerspricht dabei der sozialhistorischen Wahrscheinlichkeit genauso wie der von Mozart erfahrenen biographischen Realität. Hier wirkt Fürnbergs Darstellung als Korrektiv, indem zwar der historische Gönner Duscheks, Graf Clam Gallas, als geistreicher Mann von Welt erscheint, aber sich damit von der fiktiven Figur des Herrn von Blaskowitz umso stärker abhebt: Von Blaskowitz saß schweigend und steif, mit vibrierenden Nasenflügeln. Er begriff nicht, was den Grafen Clam solche plebejische Gesellschaft suchen ließ, und wo schon, weshalb er ihn dann mitgenommen. […] Der Name Mozart sagte ihm nichts. Die anderen

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Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 353. Ebd., S. 366. Richter: Louis Fürnberg und seine Mozart-Novelle, S. 131. Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 356, 358, 362f. Ebd., S. 361. Ebd., S. 366. Kreutzer: Die Zeit und der Tod, S. 213.

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waren fahrendes Volk. Daß man sich mit ihnen an einen Tisch setzte!? Seltsame Zustände herrschten in Österreich …286

Als er vernimmt, dass Mozart den Figaro vertont habe, wächst sein Zorn: »merkt nun die Gesellschaft, die einer derartig subversiven Mache applaudiert, wirklich nicht, daß sie sich selber ins Gesicht schlägt? […] Bei uns in Preußen ist man in dieser Hinsicht weniger schlapp. Ihr liegt vor diesen albernen Pasquillanten auf dem Bauch und schreit über jede Unverschämtheit Hosianna!«.287 Für Musik hat von Blaskowitz natürlich nichts übrig, auch nicht für die Mozarts. Die Szene, in der Mozart spielt, weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu dem Pendant bei Mörike auf; die Rolle der idealen Zuhörerin nimmt diesmal Josepha Duschek ein. Doch anders als bei Mörike ist hier auch der Gegenpol besetzt: Ein Fauteuil ward lärmend zurückgestoßen. Von Blaskowitz hatte sich erhoben und verließ das Zimmer. Mozart hob ein klein wenig den Kopf, lächelte, – einen Augenblick ruhten seine Finger auf den Tasten, dann spielte er weiter. Die anderen starrten erschreckt und bestürzt von Blaskowitz nach, der mit kräftigen Schritten im Nebenzimmer auf und ab ging.288

Der Botschaftsrat wird zum frühen Repräsentanten eines geist- und kulturlosen, ungehobelten, brutalen und »sporenklirrend[en]«289 Preußentums. Sicher nicht zufällig werden bestimmte Züge des nationalsozialistischen Herrenmenschen antizipiert; Eberhard Hilscher hat auf die möglicherweise intendierte Namensgleichheit mit Johannes Blaskowitz (1883-1948), dem Oberbefehlshaber Ost im Zweiten Weltkrieg, hingewiesen.290 Graf Gallas ist zwar peinlich berührt davon, dass »diese preußischen Vettern niemals um den Skandal herumkönnen«, doch aus politisch-berechnender Rücksichtnahme hält er es für das Beste, »dem Baron auf den Fersen zu folgen und sich für alle Fälle neutral zu stellen«.291 Von dem positiven Adelsbild, das Mörikes Mozart-Novelle vermittelt, bleibt wenig übrig.292 Casanova übrigens nimmt in der geschilderten Situation für Mozart Partei, obwohl ihm weder dessen Person noch dessen Musik besonders zusagen. Doch ihm geht es um die gesellschaftliche Fasson: »Sie sind hier zu Gaste, Baron, und haben jeden Eklat zu vermeiden!«293 Das ändert nichts daran, dass er in der Darstellung der Novelle zu einer obsoleten gesellschaftlichen Formation gehört. Einer Studentin, die über seine Novellen arbeitete, hat Fürnberg noch kurz vor seinem Tod erklärt: Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 366. Ebd., S. 369. Ebd., S. 371. Ebd., S. 372. Vgl. Eberhard Hilscher: Prominente Gäste in Prag und Weimar. Über zwei Erzählungen von Fürnberg. In: Studia Niemcoznawcze 19 (2000), S. 307-319, hier S. 309. 291 Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 372f. 292 Vgl. auch Erika Tunner: Mozart begegnet Casanova in Prag. In: Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur. Hg. v. Gabriele Brandstetter. Bern, Stuttgart, Wien 1995 (= Facetten der Literatur, 5), S. 29-39, hier S. 35. 293 Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 371. 286 287 288 289 290

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Bei der Person Casanovas müssen Sie allerdings nicht an einen Repräsentanten des Feudalismus denken, sondern vielmehr an eine der parasitären Existenzen, die ihm dienstbar waren. Mozart vertritt auf der anderen Seite keineswegs den jungen Kapitalismus, sondern den Geistigen, der vom Atem der bevorstehenden Französischen Revolution bereits berührt wird. […] Er ist aber auch dem jungen Kapitalismus gegenüber äußerst mißtrauisch, als ahne er voraus, daß auch er wieder in die Sackgasse führen müßte.294

Diese Charakterisierung macht bereits das Übermaß deutlich, in dem Fürnbergs Mozart zur Reflexion befähigt ist; wie so viele Verfasser von Künstlernovellen neigt auch Fürnberg dazu, seinen Protagonisten mit einer allzu souveränen Selbst- und Weltsicht auszustatten. Sein Mozart ist ein politisch bewusster und nachdenklicher Komponist, der weder von romantischer Todessehnsucht gekennzeichnet ist noch die übermütig-infantilen Impulse aufweist, die später Peter Shaffer in seinem Erfolgsstück Amadeus (1979) stark herausgestellt hat. Fast ein Drittel des Textes umfasst das abschließende Gespräch zwischen Mozart und Casanova auf den nächtlichen Straßen Prags. Thematisiert werden vor allem Fraugen nach dem Stellenwert und der Funktion der Kunst. Casanova, der sich selbst auch als Künstler versteht, plädiert für gesellschaftliche Rücksichtnahme. Seiner Ansicht nach ist die Gesellschaft nicht auf Künstler angewiesen, denn: »Das Vergnügen, das wir ihr bereiten, ist bei weitem nicht so deliziös wie jenes, das ihren wahren Impulsen entspricht«.295 Als erfahrener Lebemann hat er ein festes Bild der kollektiven Triebstruktur: Kunst habe eine »veredelnde«, aber begrenzte Wirkung. Sobald sie anfange, »das Moralische« in mehr als »in winzigen Dosen« zu verabreichen, werde die kulturelle Überformung abgeschüttelt: »Ein Mächtiger, dem ihre Musik nicht gefällt, Maestro, schafft sich einen Compositeur nach seinem eigenen Geschmacke, und wenn der für Hundspeitsche und vergiftete Dolche schreibt, statt für Viola und Englisch-Horn«.296 Gesellschaftliches Engagement, so Casanovas Credo, ist das Ende des Ästhetischen, »weil es der Sinn der Kunst nicht sein kann, dem Leben zu dienen, sondern nur den Sternen, die darüber scheinen«.297 Damit weist er der Kunst ein »ebenso liebliches wie parasitäres Dasein am Baume der Gesellschaft«298 zu; allenfalls dient sie als tröstend-kompensatorische »Zuflucht der schönen Seelen«.299 Fürnbergs Mozart kann sich mit dieser Kunstauffassung nicht abfinden. Allerdings verläuft die Opposition zwischen Casanova und Mozart nicht ganz so geradlinig, wie sie sozialistische Interpreten der Novelle gelegentlich umschrieben haben – etwa Hans Böhm, der Fürnberg bescheinigt, er habe »künstlerisch einprägsam« verdeutlicht, »daß immer die untergehenden Klassen und Schichten die Kunst zum schönen Aushängeschild erniedrigen, […] während die aufstrebenden, progressiven 294 Louis Fürnberg an Sylvia Henke, 14.2.1957. In: Ders.: Briefe 1932-1957, S. 430f. 295 Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 377. 296 Ebd., S. 377f. 297 Ebd., S. 378. 298 Ebd., S. 379. 299 Ebd., S. 380.

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Schichten und Klassen die Kunst als ihr innerstes Anliegen, als eine menschenverändernde Kraft, als eine der Waffen im Emanzipationskampf verstehen«.300 Klingen schon in Casanovas immerhin durch die Blaskowitz-Episode bestätigte Auffassung, dass die Gesellschaft sich eine unbequem werdende Kunst vom Halse schaffe, durchaus auch Töne mit, die einem ins Exil getriebenem Schriftsteller nicht völlig fremd sein konnten, so ist Mozarts Gegenposition keineswegs so klar, wie Böhms Behauptung suggeriert. Trotz seines politisierten Mozart-Bildes sieht Fürnberg im kritischen Bewusstsein des Komponisten weder die Motivation noch die Erklärung seiner Kunst. Es ist eine existentielle »Unrast«301, die Mozart umtreibt; seine Musik begreift er als einen Weg »ins andere«: »dorthinaus, wo alles eine große Sehnsucht bleibt und sonst nichts. Es ist jeweils die bittere Dissonanz, und die löst man nicht auf«.302 Das »Geheimnis« des Don Giovanni fasst Fürnbergs Mozart in eine beinahe existentialistische Aussage: »Daß alles ein so verlorenes Dasein ist […] So schrecklich – – so schön …«.303 So erscheint Mozart als der Unbehauste auf der vergeblichen Suche »nach einem, der einen verstand«.304 Keineswegs legt der Text hier die Vermutung nahe, dass eine andere Gesellschaftsstruktur diese Empfindungen beheben könne. »Rätsel«305 und »Geheimnis«306 weder der Kunst noch der Künstlerexistenz gehen im Politischen auf. Hier ist Fürnbergs Mozart-Novelle auch als Verarbeitung der Exilerfahrung zu lesen – ein wichtiger Aspekt, der in den DDR-Interpretationen der sechziger und siebziger Jahre vollkommen fehlt. Die sozialistische Deutungstradition wertet den Text lediglich als frühen Beleg dafür, dass die 1951 im Beschluss des SED-Zentralkomitees festgeschriebene Verpflichtung auf »Realismus und klassisches Kulturerbe« berechtigt war. Wörtlich heißt es dort: Es kommt vor allem darauf an, die gewaltige Bedeutung des klassischen Erbes zu erkennen, dieses zu studieren und unter neuen Bedingungen, d.h. vom Standpunkt des Kampfes für den Frieden und die demokratische Einheit Deutschlands, vom Standpunkt der Erfüllung großer Aufgaben im Rahmen des Fünfjahrplans weiterzuentwickeln, wobei eine tiefe und organische Verbundenheit mit dem Volke hergestellt werden muß.307

Henri Poschmanns Ausführungen zur Mozart-Novelle lesen sich wie eine breite Paraphrase dieser Vorstellungen, etwa wenn er behauptet,

300 Hans Böhm: Louis Fürnberg und die deutsche Klassik. Zu Fragen der Traditionswahl. In: Louis 301 302 303 304 305 306 307

Fürnberg – Kuba (Kurt Barthel). Werk und Wirkung heute. Berlin 1976, S. 66-71, hier S. 66. Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 379. Ebd., S. 381. Ebd., S. 383. Ebd., S. 385. Ebd., S. 380. Ebd., S. 383. Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur [1951]. In: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Hg. v. Elimar Schubbe. Stuttgart 1972, S. 178-186, hier S. 183.

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daß Fürnberg das Erbe durch einen gleichermaßen persönlich wie gesellschaftlich bedingten Prozeß schöpferischer Aneignung für sein eigenes Wirken erschließt und damit objektiv hilft, die bürgerlich-humanistischen Überlieferungen als lebendigen Bestandteil der sozialistischen Kultur aufzunehmen.308

Später wird Fürnbergs Mozart-Darstellung als »mit Zurückhaltung und feinem künstlerischem Taktgefühl ausgeführte Selbstdeutung des Dichters« gesehen: »Aus der meisterhaften Verdichtung und Objektivierung ureigener Erfahrungen entstand ein Werk, das die deutsche Novellenliteratur um eine einzigartige Schöpfung bereichert«.309 Damit allerdings sind Auffassungen und Kriterien aufgerufen, die unmittelbar an die bürgerlich-konservative Germanistik der Vorkriegszeit anknüpfen – und es ist eine merkwürdige Analogie, dass Fürnbergs Mozart von der DDR-Germanistik ähnlich simplifizierend auf ein idealisiertes Selbstporträt des Autors festgelegt wurde, wie das im Fall von Mörikes Mozart durch die konservative Deutungstradition geschehen ist. Weitaus eher als die Mozart-Novelle geht Fürnbergs zweite erfolgreiche Künstlernovelle Die Begegnung in Weimar310 in der Erbe-Diskussion auf. Im Mittelpunkt steht hier der Besuch des jungen polnischen Nationaldichters und »revolutionären Romantiker[s]«311 Adam Mickiewicz in Weimar und insbesondere beim achtzigjährigen Goethe: »Der größte Dichter Polens trat dem größten Dichter Deutschlands gegenüber, und wenn es auch keine Sternstunde der Menschheit wurde, so war es doch ein Phosphoreszieren des Geistes zweier Genien«.312 Mickiewicz wird die Rolle des idealen Rezipienten zuteil, was insofern interessant ist, als Goethe damit aus einer polnischen Sicht betrachtet wird – diese Außenperspektive mag den deutschsprachigen, aber aus Mähren stammenden Autor Fürnberg besonders gereizt haben. In seiner Darstellung jedenfalls ist Mickiewicz der einzige, der dem Genie Goethe gerecht werden und ihm – trotz der Distanz, die der alte 308 Poschmann: Louis Fürnberg, S. 107. 309 Ebd., S. 110f. 310 Fürnberg verzichtet in diesem Fall auf die ausdrückliche Benennung des Textes als Novelle – was

insofern verwundert, als etwa Werner Rieck die Begegnung in Weimar als besonders »beachtenswertes Beispiel moderner sozialistischer Novellenliteratur« würdigt und die Bezüge zur Traditionslinie der Künstlernovelle offensichtlich sind – man denke an die Konzeption als ›Begegnung‹ und die besondere Bedeutung programmatischer Kunstgespräche (vgl. Werner Rieck: Zu Louis Fürnbergs Mickiewicz-Novelle Die Begegnung in Weimar. In: Zagadnienia jezykownawcze i literaturoznawcze. Warschau 1989, S. 143-165, hier S. 162). Wegen des naheliegenden Vergleichs mit der Mozart-Novelle wird in diesem Fall ausnahmsweise abgewichen von dem Grundsatz, als ›Novelle‹ nur das zu betrachten, was explizit als ›Novelle‹ bezeichnet wird. 311 Louis Fürnberg an Sylvia Henke, 14.2.1957, S. 431. – Fürnberg hat sich mehrfach euphorisch über den polnischen Autor geäußert, dessen Sonette aus der Krim er schon als Kind kennengelernt habe; vgl. z.B. Louis Fürnberg: Krankengeschichte. Fragment. In: Ders.: Prosa II. Stücke. Berlin, Weimar 1968 (= Gesammelte Werke, 4), S. 153-193, hier S. 159f.; ders.: Rede zur Enthüllung einer Mickiewicz-Büste in Weimar [1956]. In: Ders.: Reden. Aufsätze. Berlin, Weimar 1971 (= Gesammelte Werke, 5), S. 384-387. 312 Louis Fürnberg: Brief für eine Warschauer Anthologie zu Ehren Adam Mickiewicz’. In: Ders.: Reden. Aufsätze. Berlin, Weimar 1971 (= Gesammelte Werke, 5), S. 343-345, hier S. 343.

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Dichter wahrt und im ausdrücklichen Gegensatz zur engstirnig-provinziellen Weimarer Gesellschaft – mit »Wärme des Herzens« begegnen kann: »daß ich dich sah, Genius, daß ich dich liebe, daß ich dich erkannte – trotz alledem, trotz alledem!«, vertraut er am Ende des Textes nicht Goethe direkt, aber (ganz im Geist des Bewunderten) der morgendlichen Natur an.313 Die Novelle entstand, mit Pausen und Unterbrechungen, zwischen 1948 und 1952314, wesentlich befördert durch die Jubiläums-Feiern zum 200. bzw. 150. Geburtstag von Goethe und Mickiewicz 1948/49. »Sie ist im klassisch-humanistischen Geist konzipiert und darüber hinaus ›aufgehoben‹ in der Welt- und Kunstauffassung eines im jahrelangen schweren Klassenkampf erprobten Kommunisten und Internationalisten«315, resümierte die Goethe-Spezialistin Ursula Wertheim in den siebziger Jahren. Hans Mayer hat die Mozart-Novelle und Die Begegnung in Weimar 1953 gemeinsam rezensiert und dabei die erstere qualitativ weit über die letztere gestellt.316 Fürnberg nahm ihm dies übel: Mehrfach erwähnt er in seinen Briefen »das idiotische Gequassel des Hans Mayer«317 und schimpft über den »verdrehte[n] Quatscher« und »Sprachtalmudisten«.318 Das ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Berechtigung von Mayers Kritik – fraglos ist Die Begegnung in Weimar der schwächere der beiden Texte. Hier geht es tatsächlich um eine sozialistische Aneignung des Kulturerbes, um eine, wie Fürnberg selbst schreibt, »revidierte Geschichte«319, die noch im achtzigjährigen Goethe den Progressiven, den Revolutionär entdecken will; nicht zufällig pflegte Fürnberg engen Kontakt zu namhaften Vertretern der sich neu formierenden marxistischen Literaturwissenschaft, etwa zu Gerhard Scholz und Hedwig Voegt, die 1949 bis 1953 am Goethe-Schiller-Archiv in Weimar arbeiteten und den Autor bei seinen Quellenstudien unterstützten.320 Vor allem auch sprachlich – ein Hauptkritikpunkt Hans Mayers – hält Die Begegnung in Weimar dem Vergleich mit der Mozart-Novelle nicht stand. Wo der ältere Text bis in die zahlreichen Austriazismen und Archaisierungen hinein von der Vertrautheit des Autors mit dem Idiom der früheren Habsburgermonarchie profitiert321, 313 Louis Fürnberg: Die Begegnung in Weimar. In: Ders.: Prosa I. Hg. v. der Deutschen Akademie der

Künste zu Berlin. Berlin, Weimar 1967 (= Gesammelte Werke, 3), S. 387-447, hier S. 446f. 314 Die Entstehungsgeschichte dokumentiert das Nachwort von Gerhard Wolf zur posthumen Ausga-

315 316 317 318 319 320 321

be der Erstfassung des Novellenbeginns unter dem Titel Dialog in Weimar; vgl. Louis Fürnberg: Dialog in Weimar. Gedenkausgabe der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1959, S. 31-36. Ursula Wertheim: Der neue Lynkeus. Aspekte der Goethe-Rezeption bei Louis Fürnberg. In: Louis Fürnberg – Kuba (Kurt Barthel). Werk und Wirkung heute. Berlin 1976, S. 71-83, hier S. 71. Vgl. Hans Mayer: Zwei historische Erzählungen von Louis Fürnberg. Mozart-Novelle und Die Begegnung in Weimar. In: Tägliche Rundschau, Berlin (Ost), 7.8.1953, S. 4. Louis Fürnberg an Kuba, 15.8.1953. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Berlin, Weimar 1986. Bd. 1, S. 616-618, hier S. 616. Louis Fürnberg an Fritz Schälicke, Ende August 1953. In: Ebd., S. 623-625, hier S. 624f. Ebd., S. 624. Vgl. Rieck: Zu Louis Fürnbergs Mickiewicz-Novelle Die Begegnung in Weimar, bes. S. 147, 151. Das schließt gewisse Stilbrüche nicht aus, etwa wenn Duschek im Gespräch mit Mozart zuerst

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gleiten die fiktiven Weimarer Kunstdiskussionen von 1829 immer wieder in die Alltagssprache des 20. Jahrhunderts oder sogar in sozialistischen Jargon ab – etwa wenn Fürnberg seinen Mickiewicz siegesgewiss verkünden lässt: »Der Weg unserer Kunst ins Leben, das ist schon der Weg der Wahrheit. Eine solche Entwicklung, wie sie die Verhältnisse unserer Zeit herausforderten, muß unseren Optimismus nähren, denn wir erscheinen ja selbst als eine mächtige Triebkraft in der Richtung des humanen Fortschritts«.322 Die unverhohlen didaktische Tendenz ist eine weitere Gefahr für den Text. Wie viele andere Verfasser historischer Novellen auch neigt Fürnberg dazu, den Figuren der Vergangenheit allzu direkt die erst aus der Distanz möglich werdenden Befunde und Urteile der eigenen Gegenwart in den Mund zu legen; ein Beispiel dafür ist etwa die Souveränität, mit der der Geschichtsprofessor Heinrich Luden – dessen GoetheBild in Fürnbergs Darstellung eindeutige »Züge marxistischer Goethe-Interpretation«323 trägt – die Entwicklung des Dichters umreißt: »Prometheus – damit hat er sich schon ein Gleichnis gesetzt, und die geschichtlich freie Behandlung des Götz einfach als eine Jugendsünde zu werten, konnte er auch nur in einer bestimmten Periode, als er es eben für opportun hielt«.324 Von solchen Schwächen abgesehen, ist es aber vor allem ein Element in Fürnbergs Novelle, das symptomatisch ist sowohl für die Intentionen des speziellen Autors als auch für das Phänomen der Künstlernovelle im Allgemeinen: Fürnberg legt großen Wert darauf, das Erzählte im Raum zu verankern. Der Leser wird nicht nur über Weimar informiert, sondern geradezu auf eine Führung durch Goethes Haus am Frauenplan mitgenommen: Man tritt ein, wird im Flur empfangen, geht »eilig die Treppen empor, deren frische Beize im matten Lampenlicht« schimmert und gelangt »in das Zimmer mit der großen Statue der Juno«, später in den Raum, »wo die Kästen mit den bunten Majoliken standen« und wird von Goethe selbst über seinen Niobiden belehrt.325 In der Mozart-Novelle ist es der Sehnsuchtsort Prag, den Fürnberg aufsucht, hier sind es die Weimarer Gedenkstätten, mit deren Pflege er sich bald nach dem Erscheinen des Textes sogar hauptberuflich beschäftigen wird. Diese Bindung von Künstlernovellen an konkrete geographische Räume und authentische Lokalitäten ist häufig; nicht wenige der Autoren, die in der Nachkriegszeit Künstlernovellen vorgelegt haben, haben im Laufe ihrer Schriftstellerkarriere auch Stadtführer geschrieben oder waren in anderer Weise intensiv mit einer bestimmten

322 323 324 325

einen Satz wie »Nur die Windhund unter uns jagen alleweil nach der Varietät« äußert, um eine Seite später zu vermerken, »daß der Künstler kein Reservat ist, sondern gewissermaßen ein allgemeiner Gegenstand« (Fürnberg: Mozart-Novelle, S. 661f.). Im ersten Beispiel wird durch die Wahl des Vergleichs, die Elision des Schlussvokals, den Dialektanklang und das altertümliche Fremdwort ein historischer Sprachraum eröffnet, demgegenüber der zweite Satz sehr gegenwärtig wirken muss. Fürnberg: Die Begegnung in Weimar, S. 420. Vgl. Rieck: Zu Louis Fürnbergs Mickiewicz-Novelle, S. 155. Fürnberg: Die Begegnung in Weimar, S. 435. Ebd., S. 392, 394, 429f.

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Region, einer bestimmten Stadt befasst.326 Um beim Beispiel Weimar zu bleiben: Albrecht von Heinemanns Weimarer Novellen lesen sich stellenweise wie eine literarisierte Werbung für das Gedenkstättenkonzept. In Der goldene Käfig etwa will der junge Dichter Friedrich Hebbel Goethes Wohnhaus besichtigen und wird zunächst abgewiesen, weil die Herrschaften nicht daheim seien (das Haus war noch im Besitz der Enkel und deren Privatwohnung). Daran schließen sich folgende Überlegungen an: Diese Unzugänglichkeit und Abgeschlossenheit der engsten Umwelt Goethes hatte für Hebbels leicht verletzbares Empfinden etwas Unbefriedigendes, ja Befremdendes. Wie konnte man vom Volke, das ja nicht nur aus Literaten und Universitätsprofessoren bestand, wie konnte man von dem einfachen Mann erwarten, daß er für das Werk seiner Dichter Verständnis oder auch nur tiefere Anteilnahme zeigte, wenn man ihn fern zu halten suchte von dem einzigen Wege, der ihm eine unbekannte Welt erschließen half – wenn man ihm die Anschauung des Gegenständlichen vorenthielt, den Zutritt in den alltäglichen Lebenskreis, in dem die Großen geschaffen hatten und aus dem allein für ihn wenigstens ein Hauch ihres Geistes spürbar werden konnte? Der Mensch will die Ehrfurcht in seinem Herzen nähren durch den Anblick dessen, was ihm verehrungswürdig erscheint – man sollte ihm die Gelegenheit dazu geben, dieser Stimme in seiner Brust zu folgen. Die Welt wurde von Tag zu Tag ärmer an Altären, vor denen zu knien geboten war …327

Später wird Hebbel von Ottilie von Goethe empfangen und erlebt die Führung durch Goethes Gemächer mit »erschüttertem Herzen«.328 Derart emphatische Evokation von Bauwerken, ganzen Städten oder Landschaften, die dem Leser bekannt sind oder noch bekannt werden können, soll die historische Distanz überbrücken und über die Verräumlichung eine umso plastischere Erinnerung an die großen Toten ermöglichen – ob es sich nun um Goethe am Frauenplan, Mozart in Prag, die Droste am Bodensee (»vor der herrlichsten Aussicht in ganz Deutschland«329), Grabbe im »Detmolder Talkessel«330 oder Scheffel »vor der Wallfahrtskirche Gößweinstein in Franken«331 handelt. Dass diese Novellen oft in kleinen regionalen Verlagen erschienen, ist eine naheliegende Konsequenz, die nicht nur auf den begrenzten ästhetischen Wert der Texte und die eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten zurückzuführen ist, sondern auch ihre Funktion im Rahmen von Gedächtnis- und Erinnerungspflege beleuchtet. Die in den letzten Jahren breit geführte MemoriaDiskussion hat immer wieder auf den Raum- und Zeitbezug von Erinnerungsfiguren hingewiesen: »Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung«.332 326 Vgl. z.B. Albrecht von Heinemann: Weimar. Ein Führer durch die Stadt. Berlin, Weimar 41965;

327 328 329 330 331 332

Matthäus Gerster: Ein Führer durch Stuttgart. Stuttgart 1925; Ludwig Bäte: Weimar. Antlitz einer Stadt. Weimar 41970; ders. u.a.: Osnabrück. Bayreuth 1963. Albrecht von Heinemann: Der goldene Käfig. In: Ders.: Der goldene Käfig. Weimarer Novellen. Rudolstadt 1957, S. 115-186, hier S. 121f. Vgl. ebd., S. 155f. Rothmund: Die Droste, S. 9. Bäte: Der trunkene Tod, S. 9. Kanzler: Spätsommerleuchten, S. 5. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen

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Das Genre der Künstlernovelle ist gerade in den späten vierziger und fünfziger Jahren speziell auf ein Lesepublikum mit bestimmten Bildungsinteressen zugeschnitten: Im Westen sind es die Reste des Bildungsbürgertums, die in diesen Texten die Bestätigung und Verklärung ihres Kunstideals suchen, im Osten soll biographische Belletristik als Medium zur Popularisierung des Kulturerbes dienen. Beide Funktionen treffen sich in der Pflege von Andenken und Gedächtnis großer Künstlerpersönlichkeiten, die das traditionelle Kollektivverständnis von Bildung und Kultur bestimmen: Das Schreiben biographischer Novellen ist eine Form des Totengedenkens, die auf die anschauliche Verlebendigung des in den Texten dargestellten Bildungsgedankens abzielt. Die Bindung an konkrete geographische Räume verstärkt die identitätssichernde Funktion dieses Gedenkens; semiotisch besonders aufgeladene Orte wie Weimar konnten etwa das überzeitlich gedachte Humanitätsideal der Klassik verkörpern, die Einheit der deutschen Kultur verbürgen, das Leiden an der deutschen Teilung symbolisieren (durch die zentrale nationalkulturelle Gedächtnisorte dem Einflussbereich des größeren deutschen Staates entzogen waren) oder das Bewusstsein der DDR stärken, im legitimen Besitz des Kulturerbes zu stehen. Die Überlagerung von realem Ort, kultureller Semiotisierung und Texten, die in einer entstehungsgeschichtlichen oder referentiellen Beziehung zu diesem Ort stehen, macht besonders sinnfällig, warum das Konzept des Erinnerungs- oder Gedächtnisortes (lieu de mémoire), wie es der französische Historiker Pierre Nora entwickelt hat, den Begriff des ›Ortes‹ auch im übertragenen Sinn verwendet, ihn nicht nur auf Städte und Gebäude, sondern auch auf nationale Symbole, Texte oder Einzelpersönlichkeiten ausdehnt.333 Dass in der Nachkriegszeit kein neuer ästhetischer Ausdruck für diese Absicht gefunden wurde, ist die Konsequenz daraus, dass ein unkritischer, längst banalisierter und an die Verklärung großer Einzelpersönlichkeiten gebundener Bildungsgedanke nicht mehr dauerhaft wiederzubeleben war; Adornos Skepsis bezüglich eines überlebten Kulturideals, wie er sie 1950 in Auferstehung der Kultur in Deutschland? geäußert hatte, wurde durch die spätere Entwicklung bestätigt. In der Bundesrepublik besiegeln Westorientierung und Wirtschaftswunder die Auflösung des Deutungsmusters von Bildung und Kultur: »Mit der veränderten historischen Situation verschwindet im geistigen Erfahrungskapital auch der Bedarf an ›Weltanschauung‹ und ›Vulgäridealismus‹«334; in der DDR blieb es bei einer rituellen Beschwörung des humanistischen Kulturerbes, der allenfalls systemaffirmative, noch lieber aber unpolitische Wirksamkeit zugemessen wurde. Hochkulturen. München 1997, S. 39. 333 Vgl. zu Begriff und Konzept des ›Erinnerungsortes‹ oder ›Gedächtnisortes‹ Pierre Nora: Zwischen

Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen v. Wolfgang Kayser. Frankfurt/M. 1998, S. 11-42, sowie die Einleitung des deutschen Analogons zum siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire (Paris 1984-1992): Deutsche Erinnerungsorte. Hg. v. Etienne François und Hagen Schulze. 3 Bde. München 2001, S. 9-24. – Bd. 1 der Deutschen Erinnerungsorte enthält einen instruktiven Artikel über Weimar von Georg Bollenbeck (S. 207-224). 334 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 306.

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Fürnbergs Mozart-Novelle darf noch am ehesten als ein Text gelten, der Neuauflagen verdiente und verdient; dass diese mit der Gedenk- und Erinnerungsfunktion der Künstlernovelle verknüpft bleiben, demonstriert eine Rezeptionsgeschichte, in der die Mozart-Jahre eine bedeutende Rolle spielen. Nachdem Fürnberg 1955 von Arnold Zweig in das Mozart-Komitee der DDR berufen wurde, um die Feiern zum 200. Geburtstag Mozarts am 27. Januar 1956 vorzubereiten, schrieb er bezüglich der Mozart-Novelle an seinen Verlag: »Wir können rechnen, daß wir nächstes Jahr mit der Neuauflage einen guten Erfolg haben werden, und ich wäre Dir nur dankbar, wenn du der Werbeabteilung die nötigen Anweisungen geben würdest, das Büchlein bei der Reklame im kommenden Jahr recht in den Vordergrund zu schieben«.335 An Mozarts Geburtstag las Fürnberg ein Kapitel seiner Novelle in Jena, und seine jungen Freunde Christa und Gerhard Wolf – letzterer arbeitete bereits an seinem Buch über Fürnbergs Lyrik336 – hatten schon im Vorfeld einen Textauszug für den Rundfunk arrangiert.337 Dass sich die Funktion der Novelle als Bestandteil von Gedächtnis und Erinnerung auch ohne das direkte Zutun des früh verstorbenen Autors erhalten hat, zeigt die letzte Neuauflage des Textes, die sicher nicht zufällig 1991 erschienen ist – in der gediegenen Reihe der Manesse Bücherei und pünktlich zum 200. Todesjahr Wolfgang Amadeus Mozarts. Die meisten Künstlernovellen der späten vierziger und fünfziger Jahre jedoch spiegeln in Form und Inhalt lediglich die Antiquiertheit des Bildungsgedankens wider, dessen vulgäridealistisch-konservativer Zurichtung sie ihre Entstehung und ihr (schwindendes) Lesepublikum verdanken. Dass das Genre der Künstlernovelle in den sechziger und frühen siebziger Jahren fast verschwand, ist logische Konsequenz dieser betulichen Färbung. In den späten siebziger Jahren etablieren sich nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch und vor allem in anderen Nationalliteraturen neue Formen der fiktionalen Dichterbiographie, die mit der Zeit auch auf das Genre der Künstlernovelle durchschlagen.338 Allerdings verfahren die Autoren zunächst noch vorsichtig mit der expliziten Verwendung des Gattungsbegriffs: So nähern sich etwa Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends oder Das Treffen in Telgte von Günter Grass, beide im Jahr 1979 erschienen, in Umfang und Anlage der Novellentradition an339 – schon indem sie als Ausgangssitu335 Louis Fürnberg an Fritz Schälike, 19.3.1955. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Bd. 2, S. 103-105, hier

S. 104.

336 Gerhard Wolf: Der Dichter Louis Fürnberg. Leben und Wirken. Ein Versuch. Berlin 1961. 337 Vgl. Louis Fürnberg an Christa und Gerhard Wolf, 31.1.1956. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Bd. 2,

S. 208-212.

338 Vgl. hierzu den instruktiven Sammelband: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer

Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Beiträge des Bad Homburger Kolloquiums, 21.-23. Juni 1999. Hg. v. Christian von Zimmermann. Tübingen 2000, sowie den Aufsatz von Mark Gruettner: Die Rezeption historischer Dichterfiguren in der deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre. In: Wirkendes Wort 42 (1992), S. 76-93. 339 In einem knappen Aufsatz von Marga Firle wird Kein Ort. Nirgends konsequent, aber ohne explizite Begründung als ›Novelle‹ bezeichnet. Vgl. Marga Firle: Erzählstrukturen in Christa Wolfs Novelle Kein Ort. Nirgends. In: Hallesche Studien zur Wirkung von Sprache und Literatur 10 (1985), S. 4-15.

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ation die fiktive Begegnung historischer Personen wählen und deren unterschiedliche ästhetische Anschauungen im Dialog entfalten. Doch erst Gert Hofmann sieht in den achtziger Jahren die Möglichkeit, Künstlerschicksale wieder in dezidiert ›Novelle‹ genannten Texten zu behandeln, ohne den Vorwurf des Obsoleten und Epigonalen befürchten zu müssen; die verklärenden Muster der althergebrachten Künstlernovelle scheinen so weit entfernt, dass sie weder die Produktionsseite noch die Lesererwartung mehr dominieren.

2. Novellenbegriff und Konservatismus Die Unterschiedlichkeit der drei Autoren, deren Beiträge zur Novellengattung im Folgenden in Zusammenhang mit ihrer ›konservativen‹ Einstellung gesehen werden, indiziert bereits, dass der Terminus ›Konservatismus‹ hier nur als Sammelbegriff für ein überaus breites Spektrum von Denkweisen und Tendenzen Gültigkeit beanspruchen darf. Führt man jedoch die Vielfalt des westdeutschen Konservatismus in den fünfziger Jahren auf wenige Grundpositionen zurück, so wird evident, wie sehr die jeweilige literarische Schreibweise mit konservativen Überzeugungen korrespondiert – und dies zunächst unabhängig von der ästhetischen Qualität. Zu solchen signifikanten Motivstrukturen im konservativen Selbstverständnis gehören etwa der Wertprimat übergreifender Ganzheiten und die Vorstellung von ›Freiheit‹ als Bindung: Wenn sich die Stellung des Individuums in der Welt nach transsubjektiven Orientierungen wie Tradition, Stand, Staat, Nation, Volk und Gemeinschaft ausrichtet, liegt der Akzent vor allem auf den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit; zugleich werden Staat und Nation »zu sakrosanten Wesenheiten mythologisiert«.340 Ergänzend tritt zu dieser Ansicht in der Regel »eine grundsätzlich negative Bewertung der Modernisierungsfolgen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften im Sinne einer Verfallsgeschichte«.341 Das neuzeitliche rationalistische Denken wird verantwortlich gemacht für die ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) und den ›Verlust der Mitte‹ (Hans Sedlmayr), die Unrast und Oberflächlichkeit der Moderne und die Selbstentfremdung des Individuums. In der einseitig negativen Beurteilung des ›Massenzeitalters‹, in Kulturpessimismus und Antipluralismus zeigen sich besonders deutlich die Traditionslinien zwischen dem Konservatismus der zwanziger Jahre und dem der Nachkriegszeit – wie sich auch in der biographischen und intellektuellen Entwicklung Friedrich Franz von Unruhs, Gerd Gaisers und Gottfried Benns eine vom Wandel der politischen Situation nur partiell beeinflusste Konstanz konservativer Denkmuster feststellen lässt, die sich sowohl auf die literarisch vermittelten Inhalte als auch auf die Verwendung des Novellenbegriffs auswirkt. 340 Kurt Lenk: Zum westdeutschen Konservatismus. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die west-

deutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hg. v. Axel Schildt und Arnold Sywottek. Aktualisierte Studienausgabe. Bonn 1998, S. 636-645, hier S. 637. 341 Ebd., S. 638.

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2.1. Friedrich Franz von Unruh (1893-1986) Mit einem dezidiert konservativen und traditionalistischen Novellenverständnis wurde in den fünfziger und sechziger Jahren kaum ein Autor derart stark identifiziert wie Friedrich Franz von Unruh. Seinem Verlag galt der jüngere Bruder des Expressionisten Fritz von Unruh als »der größte deutsche Novellist der Gegenwart«342; wie sehr er sich mit diesem Gattungsbegriff beschäftigt und identifiziert hat, zeigen mehrere essayistische Abhandlungen (am umfangreichsten: Die unerhörte Begebenheit. Lob der Novelle von 1976) und die Tatsache, dass er seine Autobiographie Wo aber Gefahr ist mit dem Untertitel Lebensdaten eines Novellisten versehen hat. Im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung erschien 2007 eine kommentierte Gesamtausgabe seiner Werke, deren Herausgeber genug kritische Distanz erkennen lassen, um zumindest die weltanschaulichen Schriften Unruhs als »hochproblematisch«343 einzustufen. Von dem intensiven Kontakt zwischen Unruh und Hermann Pongs war bereits die Rede; mit Pongs und Johannes Klein, dessen Novellengeschichte durch ein siebzehnseitiges Unruh-Kapitel beschlossen wird, hatte der Autor die beiden in der deutschen Literaturwissenschaft der fünfziger Jahre am stärksten mit der Novellenforschung assoziierten Germanisten auf seiner Seite – sein von konservativen Wertsetzungen durchdrungenes Novellenverständnis konnte insofern auf akademische Bestätigung verweisen. Die Besetzung des Novellenbegriffs durch die rückwärtsgewandten und antimodernen Literaturideale Unruhs dürfte zugleich mit dafür gesorgt haben, dass jüngere und avanciertere Autoren diese Gattungsbezeichnung eher mieden; die Stilisierung der Novelle zu einer »Kunstform […], deren sich heute nur ganz wenige überhaupt zu bedienen wagen«344, ist nur die euphemistische Umschreibung des Tatbestands, dass das konservativ-traditionalistische Novellenkonzept in der Nachkriegszeit rapide an Anziehungskraft verloren hat. Unruhs Autobiographie weist ihn als typischen Vertreter deutsch-konservativen Denkens aus. Der Offizier erfährt die »Frontkameradschaft« des Ersten Weltkriegs als prägendes Bildungserlebnis, demgegenüber »Weltanschauung, Konfession, Parteizugehörigkeit, Verschiedenheit von Beruf und Rang« an Bedeutung verlieren.345 342 Vgl. den Klappentext zu Friedrich Franz von Unruh: Die unerhörte Begebenheit. Lob der Novelle.

Bodman/Bodensee 1976. 343 Leander Hotaki/Günter Schnitzler: Gesteigertes Dasein und die »Liebe zum Unbedingten«. Der

Dichter Friedrich Franz von Unruh. In: Friedrich Franz von Unruh: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 1. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. XIII-L, hier S. XXIV. 344 Otto Heuschele: Friedrich Franz von Unruh. Zum 80. Geburtstag am 14. April 1973. In: Die Tat, Zürich, 14.4.1973. 345 Friedrich Franz von Unruh: Wo aber Gefahr ist. Lebensdaten eines Novellisten. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 4. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. 115-237, hier S. 124.

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Soldatisch-patriotische Gesinnung, dichotome Geschlechtsrollenvorstellungen, politische Einheitsträume und das immer noch funktionierende, kunstselige Italienerlebnis – »Mir war, wie einem zumute ist, der am Grab seiner Ahnen einen stärkenden Segen erfährt«346 – runden ein Bild Unruhs ab, das in vielem an den von ihm bewunderten347 Rudolf G. Binding erinnert. Unruhs Aussagen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus sind geprägt von Relativismus und Revisionismus, auch von Verdrängung und Verleugnung348; noch in hohem Alter ließ er sich »bereitwillig vor den Karren völkisch-nationaler und rechtsextremer Interessen spannen«349 und verstärkte auf diese Weise nur die eigene Marginalisierung, für die er selbst die angeblichen Machenschaften des Literaturbetriebs verantwortlich machen wollte.350 Wie sehr Unruh eine konservative Semantisierung des Novellenbegriffs fortschreibt, zeigen verschiedene autobiographische Äußerungen, die als typisch für die Novellenform bezeichnete Eigenschaften unmittelbar aus entsprechenden weltanschaulichen Stellungnahmen ableiten; dabei fällt es Unruh leicht, an die novellentheoretischen Überlegungen etwa von Paul Ernst oder Hermann Pongs anzuknüpfen. Ein knappes Selbstporträt, das unter dem Titel Wesen im Werk 1953 in der Zeitschrift Welt und Wort erschien, geht davon aus, dass sich das »Wesen« eines Schriftstellers »nirgends besser erkennen läßt als in seinem Werk«; die seinem eigenen »Wesen« entsprechende Form ist für Unruh die Novelle: Denn hier kamen Form und Gehalt für mich ganz in Einklang. Tiefste Erschütterung und seelische Aufrichtung, die selbst äußerem Untergang standhält, ja ihn unter sich läßt, dies Gesetz der Novelle entsprach genau meinem Ausgangspunkt. […] Schließlich lockte mich auch das Wagnis; denn wer Geschichten dieser Art schreibt, weiß, daß er gegen den Strom schwimmt. Nicht ein Spiegelbild unserer Zeit, nicht das Zwielichtige und Morbide sucht er, nicht in Stoff oder Stil das Chaotische. Nicht die Verschwommenheiten, sondern die Klarheit, nicht die Erotik, sondern die Liebe, nicht die Preisgabe an die Angst, sondern die Überwindung der Angst. Er leugnet nicht die Gegebenheiten, aber er führt sie mit der im Schicksal ringenden Seele zusammen, und indem er, die tragische Gesin346 Ebd., S. 141. 347 Vgl. Friedrich Franz von Unruh: Tagebucheintrag vom 15.3.1922. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag

der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 6. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. 22f. 348 So beharrt Unruh etwa darauf, der Völkermord an den europäischen Juden sei »in tiefster Heimlichkeit« verübt worden: »Selbst zufällige Zeugen waren, wie sich zeigte, erschossen worden, damit nichts durchsickerte. Hitler wußte, daß ihm die Deutschen auf solchen Wegen nicht folgen würden« (Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 185). In seinen weltanschaulichen Schriften hat Unruh solche relativistische Anschauungen mehrfach formuliert, vgl. die kritische Einleitung in ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 5. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. CXXXII-CLXXVII. 349 Hotaki/Schnitzler: Gesteigertes Dasein, S. XXX. 350 So versteigt er sich etwa dazu, die eigene Marginalisierungserfahrung in der Nachkriegszeit mit den Wirkungen der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen zu vergleichen: »Heute, da sich gezeigt hat, wie man auch ohne Feuer mit kaltem Verschweigen, unlauterer Kritik und geheimer Feme Autoren und Werke noch viel grimmiger umbringt, denke ich milder über jene – immerhin offenen – Feuersbrünste« (Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 166).

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nung erneuernd, Erschütterung durch Erhebung auswiegt, sucht er, im Spiegel der Kunst den Zwiespalt, der uns alle bedrängt, zu lösen.351

Die geringe Kontingenztoleranz und die aggressive Ablehnung von Ambivalenzen, die gegenläufige Betonung von Selbstdisziplin und »Überwindung«, das Bekenntnis zu vermeintlich überhistorischen Werten und ein tiefer Kulturpessimismus sind typische Versatzstücke traditionalistischer Literaturkonzepte (nicht nur) der Nachkriegszeit. Die negative Bewertung der Gegenwart und ihrer moralischen wie ästhetischen Maßstäbe wiederum stehen in direkter Relation zu einem Selbstverständnis als poeta vates und Medium ›geistiger Erneuerung‹, an dem Unruh zeitlebens festgehalten hat.352 Unruhs novellentheoretische Überlegungen bewegen sich im Umkreis des Erwartbaren; vor allem mit Boccaccio und Kleist hat sich der Autor intensiv beschäftigt. Heyses ›Falkentheorie‹ wird fortgeführt durch Gedanken, die aus der tatsächlichen Beobachtung der entsprechenden Vögel gewonnen sind. Unruh findet es zunächst einleuchtend, dass die Novelle »einen festen, unverwechselbaren Kern haben muß, der Symbolgewalt hat, der die Handlung durchstrahlt, und um den sie sich wie um den Boccaccioschen Falken ordnet«, bevor sich ihm das Bild »unwillkürlich« ergänzt: »Wenn der Falke am Himmel rüttelte, wie der Blitz niederfuhr, seine Beute schlug und in sicheren Fängen davontrug, schien mir dies unfehlbare, unablenkbare Hinstürmen auf den einen Punkt und der sichere Griff wegweisend für Gang und Stil der Novelle«.353 Man mag den Erkenntniswert dieser Überlegungen kritisch betrachten, doch sie belegen einmal mehr die Suggestivität und das stimulierende Potential, die von Heyses ›Falkentheorie‹ ausgehen und ihre erstaunliche Wirkungsgeschichte erklärbar machen. In seinem literarhistorischen Essay Die unerhörte Begebenheit verkündet Unruh das ›Lob der Novelle‹, wie es im Untertitel heißt. Die »deutschen und deutschsprachigen Meisternovellen« betrachtet er als »Kostbarkeit unserer Literatur«, nicht ohne einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem deutschen Nationalcharakter und seiner Auffassung der Novellenform: Während andere Völker oft im Roman die erzählende Dichtung zum Gipfel führten und weltgültige Werke schufen, sind den Deutschen weniger wahrhaft große Romane gelungen. In der Novelle aber stehn sie keinem Volk nach. Der Hang zum Absoluten und Unbedingten macht ihnen die unerhörte Begebenheit zum willkommenen Prüffeld der Charaktere, und sich zu bewähren, ist ein ihnen eingeborenes, selbst in der Verfallszeit noch nicht abgestorbenes Verlangen.354

Als Gewährsmann für die besondere Qualität der deutschen Novelle erscheint Heinrich von Kleist: »Mit dem Preußen Kleist bricht ein Sturm in die vorher dem Aus351 Friedrich Franz von Unruh: Wesen im Werk. Ein Selbstporträt [1953]. In: Ders.: Werke. Hg. im

Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 4. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. 99-101, hier S. 100. 352 Vgl. Hotaki/Schnitzler: Gesteigertes Dasein, S. XXXI. 353 Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 161f. 354 Unruh: Die unerhörte Begebenheit, S. 420.

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land überlassene Novellistik ein«355, und Michael Kohlhaas avanciert zur »größten deutschen Novelle«356 überhaupt. Kleist bleibt denn auch ein zentraler Bezugspunkt für Unruhs eigenes Novellenwerk; der hochgradig intertextuell bestimmte Versuch einer Kleist-Nachfolge offenbart allerdings in erster Linie die radikalen Vereinseitigungen einer konservativen Kleist-Interpretation, wie sie in einer Formulierung von Unruhs Freund Hermann Pongs besonders anschaulich zur Geltung kommen, wenn dieser von der »Härte, Unbedingtheit, Charakterentschlossenheit der Kleistischen Novelle«357 spricht. Pongs versucht in seinem Unruh-Essay, den befreundeten Autor als den Erben Kleists und beinahe einzigen ›legitimen‹ Novellisten der Nachkriegszeit zu inaugurieren; auf einer allgemeinen Ebene fokussiert er dabei die gemeinsamen Bezugspunkte ›Preußentum‹, ›Soldatentum‹ und ›Adel‹, auf einer spezielleren vor allem die 1952 erschienene Novelle Tresckow. Armin Mohler, der umstrittene Theoretiker der Konservativen Revolution, hat sie als eine Novelle bezeichnet, »die keiner vergißt, der sie einmal gelesen hat«358, andere Rezensenten sprechen vom »Meisterwerk«359 des Autors; zumindest aber ist gerade dieser Text, der im August 1952 zuerst in Velhagens & Klasings Monatsheften veröffentlicht wurde, in vielfacher Weise paradigmatisch für Unruhs novellistisches Œuvre. Tresckow. Eine Preußische Novelle spielt noch vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs: »Vor bald hundert Jahren lebte in Potsdam, der heimlichen Hauptstadt Preußens, ein Mann, dessen Schicksal wie eingemauert in seine Zeit doch auf eine eigene Weise aus ihr herausragt«360, lautet der kleistisierende, bewusst patinierte Einleitungssatz der Novelle. Gleich im zweiten Satz wird der Held vorgestellt, »Michael Tresckow, wie wir den Abkommen eines alten Geschlechtes hier nennen wollen«.361 Er ist Soldat aus preußischem Dienstadel und geradezu die Verkörperung dessen, was der Text als ›preußische Tugenden‹ ohne Einschränkung rühmt: »Mit Geistesgaben nicht überschüttet, hielt er sich an die faßliche Lehre, sein Wohl gering, das Gesamtwohl über alles zu achten. Jene preußische Gleichung, die ein Kleinstmaß von Lohn und ein Höchstmaß von Leistung setzt, löste er durch den freudigen Willen, an Pflichttreue, Ernst und Verläßlichkeit nie und nirgends zurückzustehen«.362 Selbst die scheinbar wenig positive Bemerkung über Tresckows Geistesgaben wird in diesem 355 356 357 358 359 360

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Ebd. Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 195. Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 17. Armin Mohler: Der leisere Bruder. Zu zwei Büchern von Friedrich Franz von Unruh. In: Die Welt, Hamburg, 10.11.1966. Hans-Dietrich Sander: Menschen in der Zeit. Zum Tode des Dichters Friedrich Franz von Unruh. In: Die Welt, Hamburg, 20.5.1986. So der Wortlaut der ersten Buchausgabe München 1952, S. 7. Der Text der Gesamtausgabe, nach der im Folgenden zitiert wird, legt die letzte Fassung von 1979 zugrunde, in der »Vor bald hundert Jahren« zu »Vor Gründung des Kaiserreichs« konkretisiert wird. Friedrich Franz von Unruh: Tresckow. Eine Preußische Novelle. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 1. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. 283-312, hier S. 283. Ebd.

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Kontext zum Lob, gilt sie doch, mit einer impliziten Spitze gegen ›zersetzende‹ Intellektualität, als Voraussetzung einer eindeutigen, moralischen Grundüberzeugung. Tresckow, selbst mit »Riesenwuchs«363 gesegnet, führt eine Eliteeinheit von ›langen Kerls‹. Sein soldatisches Ethos gipfelt in dem »heimlichen Glauben, daß die Waffe nur führen sollte, wer die reinste Gesinnung habe«, und entsprechend tadellos sind sein eigener Einsatz und sein pädagogischer Impetus: »Selber die Rechtschaffenheit in Person, suchte er, seine Riesen zu tüchtigen, ehrenhaften, dem König und dem Herrn aller Heerscharen treuen Männern zu machen«.364 Zur Exposition des Helden gehört auch die Zuordnung eines Leitmotivs: »Wenn halbstündlich vom Glockenturme ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹ lieblich und hallend herübertönte, klang in Mozarts Musik auch die Grundmelodie seines Lebens mit«365; »allstündlich«366 erklingt zudem ›Lobe den Herrn‹. Das Motiv des Glockenspiels, an entscheidenden Punkten der Handlung hervorgehoben, erinnert damit an das der »Bürgerglocke«367 in Theodor Storms Novelle Hans und Heinz Kirch – allerdings mit einem symptomatischen Unterschied: Wo Storm das Ausschließende und Lebensfeindliche der durch die Bürgerglocke symbolisierten, streng geregelten Lebensordnung kritisch beleuchtet, steht das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonskirche affirmativ für die Werte ein, zu denen sich Tresckow bekennt und mit denen er in Einklang stehen will. Verheiratet ist der preußische Protestant mit einer »Tochter katholischer, süddeutscher Eltern«. Die in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts topische Verbindung des Männlichen mit dem Nördlichen, Pflichtbewussten, Protestantischen und des Weiblichen mit dem Südlichen, Sinnlichen, Katholischen – man denke an Thomas Manns Tonio Kröger, aber auch an zahllose andere Beispiele368 – demonstriert Unruh durch einen ausgesprochen bildhaften Vorgang: Zur Wohnungseinrichtung des jungen Paares, die ein Geschenk der Brauteltern ist, gehören »fürs Schlafzimmer« ausersehene Kupferstiche mit mythologisch-galanter Thematik. Tresckow, dem sie sehr »mißfielen«, hat sie »umgedreht und die Rückseite, die nun nach oben kam, mit Bibelsprüchen beschrieben«.369 Nachdem Unruh seinen Protagonisten im »Gleichgewicht«370 zwischen der »heiter gelebten Pflicht« und einer zwar kinderlosen, aber glücklichen Ehe dargestellt hat, kündigt sich in zukunftsgewissen Vorausdeutungen die schwere Krise an. Ursache ist Ebd. Ebd., S. 284. Ebd. Ebd., S. 287. Theodor Storm: Hans und Heinz Kirch. In: Ders.: Novellen 1881-1888. Hg. v. Karl Ernst Laage. Frankfurt/M. 1988 (= Sämtliche Werke, 3), S. 58-130, hier S. 58 u.ö. 368 Dass Unruhs Eltern eine ähnliche Konstellation verkörperten, macht sich eine Verlagsanzeige zunutze, die die biographische Tatsache mit der stereotypen Semantisierung verbindet: »Friedrich Franz von Unruh, Sohn eines preußischen Offiziers und einer badischen Mutter, vereinigt in seinem Werk preußische Überlieferung mit süddeutscher Freiheit«. Vgl. die Anzeigenseite in Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 45. 369 Unruh: Tresckow, S. 285f. 370 Ebd., S. 286. 363 364 365 366 367

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ein Manöverunfall; durch einen Fehler Tresckows kommt ein junger Soldat ums Leben. Seither wird er von Schuldgefühlen und Sühnewillen gequält und fordert vor Gericht schwere Bestrafung für sich ein: Der Offizier […] sei gezwungen, im Krieg ohne Wimpernzucken das Leben seiner Leute zu fordern. Das könne er nur, wenn sie wüßten, daß über dies höchste Gut auch mit höchster Sorgfalt gewacht und es über alles geachtet werde. Trete trotzdem der unglückliche, unerhörte Fall ein, daß durch Schuld eines Vorgesetzten mitten im Frieden dies Gut verletzt, ja vernichtet werde, dann – und es brach wie ein Aufschrei aus seiner Brust – müsse strengste Bestrafung zeigen, wie solch ein Vergehen verurteilt werde.371

Der angeblich »unerhörte« Fall ist ein Wendepunkt in Tresckows Leben; vom »Wandel der Dinge«372 ist ausdrücklich die Rede. Auch ein typisches Dingsymbol wird herangezogen, um Tresckows Lebenssituation zu versinnbildlichen: Am Tag des Unglücks lässt seine Frau eine Porzellanschale fallen, die gekittet wird, ohne doch heil werden zu können.373 Dass Tresckow nur milde bestraft wird, verschlimmert sein Unglück noch: Seiner Weltsicht zufolge fällt die Verletzung des gerechten Maßes im Einzelfall zusammen mit dem Verlust von Ordnung und Gesetz im Großen und Allgemeinen; solange seinem »brennenden Sühnewillen«374 nicht genüge getan wird, solange ist für ihn die Welt in Unordnung. Nur die persönliche Intervention der preußischen Königin kann ihn abhalten, aus Opposition gegen seine zu geringe Bestrafung die Armee zu verlassen. Im Krieg 1870/71 jedoch findet der gebrochene Tresckow schließlich die Gelegenheit zur Sühne, die er »mit feuriger Festigkeit«375 ergreift; bei einem eigentlich aussichtslosen Sturmmanöver reitet er alleine zwischen seinen Kompanien und zieht durch den Überraschungseffekt alle Aufmerksamkeit auf sich. Er fällt, doch der Sturm gelingt. Eine erzählerische Apotheose des Helden beschließt den Text. Schon die bloße Wiedergabe des Inhalts macht es möglich, Unruhs Tresckow als hochproblematisches Amalgam politischer, nationaler, moralischer und ästhetischer Wertungen zu erkennen. Gerade der intertextuellen Dimension kommt dabei wesentliche Bedeutung zu: Durch seine starke Orientierung an der älteren Novellenliteratur, insbesondere durch die forcierte Kleist-Nachfolge, versucht Unruh seine Erzählstrategie zu legitimieren, sich auszuweisen als Erben eben der klassischen Tradition, deren Übereinstimmung mit dem eigenen Wertehorizont er postuliert. Doch die Verwandtschaft zwischen Michael Tresckow und Michael Kohlhaas, zwischen dem Mann, der »die Rechtschaffenheit in Person«376 ist und dem »rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit«377 ist allenfalls oberflächlich. 371 372 373 374 375 376 377

Ebd., S. 296. Ebd., S. 289. Vgl. ebd., S. 289, 305. Ebd., S. 292. Ebd., S. 308. Ebd., S. 284. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas [Phöbus- und Buchfassung]. In: Ders.: Erzählungen/Anekdoten/Gedichte/Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990 (= Sämtliche Werke und

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Kohlhaas versteift sich auf einen individuell-persönlichen Rechtsanspruch: Er will eine Entschädigung für erlittenes Unrecht; wo dies nicht möglich ist, will er nicht bleiben, will er sich nicht mehr arrangieren mit der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«378, auch wenn die ursprüngliche Dimension des Streitfalls in keinem Verhältnis mehr steht zu den Folgen und Kosten seines fundamentalen Rechtsverlangens. Dass Unruh eine vergleichbar rigorose moralische Einstellung nicht an den Protest eines Menschen bindet, der sich in seinem Recht und Besitz geschädigt fühlt, sondern an den »Sühnewillen« eines schuldig gewordenen, nimmt seiner Tresckow-Figur von vornherein die psychologische Plausibilität, auf die Kleist jederzeit Anspruch erheben kann. Anders als Kleist denkt Unruh gerade nicht vom Einzelfall her, sondern von abstrakten und – insbesondere was die Vorstellung von der hohen Verantwortlichkeit der Offiziere betrifft – hochgradig ideologisch besetzten Werten, deren Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Protagonisten seiner Novelle unterstrichen werden soll. Dass es sich dabei um Werte handelt, deren Fragwürdigkeit und mangelnde Konsistenz in zwei Weltkriegen und durch die gesamte historische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewiesen wurde, erklärt die Vehemenz und den Willen zur Überhöhung, mit der Unruh ihre Gültigkeit beweisen will. Gleichgültig, ob seine Novellen wie Tresckow im Deutsch-Französischen Krieg oder, wie viele andere, im Ersten Weltkrieg oder – wie etwa Der gute Lüderitz379 – im Zweiten Weltkrieg spielen: Stets beschwört Unruh »Urbilder männlichen Menschtums«380, um ein »Preußentum« zu verteidigen, das er selbst »von Kind an trotz seiner Schattenseiten als groß und verehrenswert kannte«381, das aber, wenn es je außerhalb der Ebene einer ideologischen Konstruktion bestanden hat, schon nach dem Ersten Weltkrieg hoffnungslos diskreditiert war. In seiner Autobiographie bekennt sich Unruh nachdrücklich zu diesen Intentionen seiner ›Preußischen Novelle‹. Den Ausgangspunkt des Kapitels ›Tresckow‹ in Wo aber Gefahr ist bildet die Kollektivschuld der Deutschen am Holocaust, der streng abgegrenzt wird von der deutschen Kriegsführung: »Hier war, während Millionen für ihr Vaterland kämpften und litten, der Sinn ihres Opfers entwürdigt worden. Hier war es uns angetan, daß unmenschliche Greuel fortan mit dem deutschen Namen verknüpft werden konnten«.382 Obwohl Unruh jede Bereitschaft aufweist, deutsche Schuld zu relativieren, kann er nicht umhin, angesichts des Holocaust eine Irritation des deutschen Selbstbildes zu registrieren; der Anspruch, das »Volk der Dichter und Denker« zu sein, sich auf »Idealismus, […] unbeirrbares Ethos, kantische und goethische Humanität« berufen zu können, sei brüchig geworden: »Das schlimmste, was Briefe, 3), S. 11-142, hier S. 13. 378 Ebd., S. 27. 379 Vgl. Friedrich Franz von Unruh: Der gute Lüderitz. In: Werke. Hg. im Auftrag der Friedrich Franz

von Unruh Gedächtnisstiftung von Leander Hotaki. Bd. 2. Freiburg/Br., Berlin, Wien 2007, S. 171207. Der Band enthält eine ganz Rubrik ›Kriegserzählungen‹ (S. 1-207). 380 Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 192. 381 Ebd., S. 191. 382 Ebd., S. 184.

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den einzelnen wie ein ganzes Volk treffen kann, war geschehen: Wir hatten unser Gesicht verloren. Das tiefe ›Gutsein‹ war angesichts ausgekochter Teufeleien kaum mehr zu behaupten. […] Die Kontinuität des Geschichtsbildes schien vernichtet, ein Verlust, den kein Volk überlebt«.383 Dass Unruh hier so nachdrücklich von ›Schein‹ und ›Anschein‹ spricht, signalisiert bereits den Ausweg, den er für sich und das deutsche Volk bereithält: Viel wurde von Schuld und Scham, Kollektivscham geredet, nie aber die maßlose, unerhörte, kaum vorstellbare Tragödie gesehen. Ein Volk, das als Ganzes bona fide gehandelt, Großes und im Kriege ein Höchstes geleistet hat, muß erkennen, daß es nicht nur geschlagen, sondern mit Freveln beschmutzt ist, die es nicht kannte, nun aber zu verantworten hat. Eine Tragik von mythischem Ausmaß. […] Vielleicht war noch nie in der Weltgeschichte ein Volk so tragisch schuldig geworden.384

Über diese hochgradig problematische, in jeder Voraussetzung anfechtbare Konstruktion gelangt Unruh sehr rasch zur Entlastung von historischer Schuld. »Zur seelischen Klärung« der Situation sieht er keinen Politiker befähigt, sondern »eindeutig« den »Dichter«, der kathartische Vorgänge initiieren könne. Da ein »Tragiker« vom Range eines Aischylos oder Sophokles »dem deutschen Volke« nach 1945 versagt geblieben sei, »mußten der Epiker, Lyriker und Dramatiker jeder in seinem Bereich nach bestem Können zu leisten suchen, was als umfassende große Tragödie fehlte«.385 Damit hat Unruh die historische Konstellation auf die Ebene des Ästhetischen überführt und zugleich die Bedingungen geschaffen, um ohne Missachtung des Bescheidenheitstopos den »eignen geringen Teil« an der Bewältigung des Problems zu thematisieren. Hier nun ist er bei seiner Tresckow-Novelle angekommen: Im Gespräch mit einem Bekannten über die Judenmorde äußerte dieser: »Ach, es waren ja gar nicht sechs Millionen, sondern nur drei«. Nun scheint es auch mir geboten, die Zahl genau zu erforschen, im Augenblick aber, als der Mann sagte: »nur« drei, stand wie der Blitz das Bild eines anderen vor mir, dem die Schuld am Tod eines einzigen Menschen, der ihm anvertraut war, Leben und Schicksal gezeichnet hatte. Es war ein preußischer Hauptmann gewesen, und ich nannte ihn und die Novelle, deren Träger er wurde, Tresckow.386

Tresckow wird auf diesem Weg zum Stellvertreter der Deutschen; wenige Jahre, nachdem die Auflösung Preußens durch ein Gesetz des Alliierten Kontrollrats besiegelt worden war, setzt Unruh dem ›wahren Preußentum‹ ein literarisches Denkmal. Ein Vorbild für seinen Helden will Unruh im Ersten Weltkrieg selbst kennen gelernt haben; da er das Attentat vom 20. Juli 1944 in seiner Autobiographie negativ einschätzt (das Scheitern des Anschlags habe vor allem den Nimbus von Hitlers Unverwundbarkeit bestätigt, während ein Gelingen einen »Bürgerkrieg von undenklichem

383 384 385 386

Ebd., S. 188. Ebd., S. 188f. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190.

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Ausmaß«387 nach sich gezogen hätte), ist auszuschließen, dass der Name des Titelhelden zusätzlich auf den Widerstandskämpfer Henning von Tresckow (1901-1944) anspielen soll oder gar als Hommage an die Männer des 20. Juli zu verstehen wäre. Von tatsächlichen oder stilisierten Vorbildern abgesehen, geht es Unruh jedenfalls vor allem um »die Symbolkraft seiner Gestalt«: Tresckow wird als »verkörpertes Sinnbild in unserer Not« verstanden, hinter dem sich »tausend und aber Tausende anderer« drängten, »die wollten, daß für ihr echtes Charakterbild Zeugnis gegeben werde«.388 Unruhs Novelle vollzieht damit eine Art literarischer Säuberung des deutschen Selbstbildes: »Im Grunde ging es ja bei dem preußischen um den deutschen Menschen, der in einem klaren Verantwortungsernst sein wahres Gesicht zeigt«.389 Die Aufgabe der ›wahren‹ Literatur sieht Unruh folglich darin, »die im Niedergang Ungebrochenen zu ermutigen und durch Zeugenschaft für sie einzutreten«; die Schuld am ›Niedergang‹ jedoch attribuiert er an diejenigen, deren Literatur das »Zwiespältige, Zerspaltene und Absurde, das Niedrige, Häßliche, Sinnverletzende und -zerstörende, die Laschheit des Halb und Halben« fokussiere und, seiner Ansicht nach, affirmiere. Der aggressive Antimodernismus verbindet sich mit dem emphatischen Bekenntnis zur Novelle, die »von Haus aus mit dem Unbedingten zu tun«390 habe und die, wie Unruh an anderer Stelle schreibt, in Krisenzeiten »Beistand anbietet«, indem sie »Sinnbilder tapferer Haltung, kühnen Kämpfertums und des Durchhaltens in Gefahren« errichtet.391 Sämtliche Aussagen Unruhs in diesem Zusammenhang führen den konservativen novellentheoretischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts ungebrochen fort, knüpfen nahtlos an Überlegungen Paul Ernsts und anderer klassizistischer Novellisten der Vorkriegszeit an. Insofern kann es nicht verwundern, dass Unruh nach der Veröffentlichung des Tresckow einen Brief von Emil Strauß erhielt, in dem es heißt: »Ich habe mich lange nicht mehr so gefreut wie über diese Dichtung und über die Tatsache, daß sie in dieser Zeit geschrieben werden konnte«.392 Hermann Pongs zufolge ist es »die Kontinuität der strengen Novellenform, die sich in solcher Zustimmung zwischen den Generationen verbürgt«393; allerdings versteht er diese Aussage essentialistisch, nimmt sie als Beleg für die Konstanz einer novellistischen »Urform« oder gar für die »Erneuerung der Schicksalsnovelle aus dem Geist und der Zeugenschaft Kleists«.394 Tatsächlich ist das Phänomen jedoch zu erklären aus einem bewussten Anknüpfen an die klassizistische Novellentradition des frühen 20. Jahrhunderts, die das angebliche ›Wesen‹ der Gattung an bestimmte, aus der älteren Literatur abgeleitete Merkmale bindet, über deren kalkulierte Imitation sich neugeschriebene Novellen387 388 389 390 391 392 393 394

Unruh: Wo aber Gefahr ist, S. 178. Ebd., S. 191. Ebd. Ebd., S. 193f. Ders.: Die unerhörte Begebenheit, S. 474. Zit. n. Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 21. Ebd. Ebd., S. 6.

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texte den Anschein des ›Wesenhaften‹ geben können. Die enge Allianz von Unruh und Hermann Pongs veranschaulicht exemplarisch das Zirkuläre des Vorgangs: Unruh greift in essayistischen Texten wie auch in der konkreten Novellenproduktion Kategorien und Formulierungen auf, die Pongs zur Bestimmung einer angeblichen ›Urform‹ der Novelle mitgeprägt hat; Pongs wiederum bezieht aus der Interpretation von Unruhs Novellen Belege dafür, dass seine ›Urform‹ der Novelle existiert und weiterhin lebensfähig ist. Was als wechselseitige Bezugnahme, inspirierender Austausch oder auch dialektisches Verhältnis von Theorie und Praxis völlig legitim wäre, wird in dem Moment zum selbstlobenden System und zur Ideologie, wo versucht wird, die Voraussetzungen dieses Prozesses zu verschleiern und die definierte Novellenform nicht als generiertes und konstruiertes Phänomen, sondern als ›natürliches‹ und ontologisch fundiertes auszugeben – und genau das unternehmen sowohl Unruh als auch und vor allem Pongs, bei dem so viel vom »Gesetzhaften der durchbrechenden Urbilder Unruhs«395 die Rede ist oder der den Autor zu einem »zur Novellenform geborenen und vorbestimmten Dichter«396 stilisiert. Damit werden Kategorien aufgerufen, die metaphysisch legitimieren sollen, was sich den wertenden Setzungen einer konservativen Weltsicht verdankt. Die Rückkehr zur »Kunst der klassischen Novelle« erscheint in dieser Optik als der einzige Weg, »sich selber der Grundwerte neu zu versichern, aus denen sich bisher die abendländische Kultur und Kunst aufgebaut hat und um eben damit der Sackgasse zu entgehen, in die die moderne Kunst des Absurden ganz offenbar führt«.397 So findet sich der Novellenbegriff fortdauernd und folgenreich beansprucht als angeblich ›natürlicher‹ Ausdruck eines antimodernen, traditionalistischen Literaturkonzepts, dessen schwindende Anhängerschaft zugleich erklärbar macht, warum der Terminus ›Novelle‹ im Bereich der avancierteren Literatur in der Nachkriegszeit immer seltener anzutreffen ist.

2.2. Gerd Gaiser (1908-1976) Gegen Ende seines Unruh-Essays zieht Hermann Pongs einen Vergleich zwischen Unruhs späten Novellen und dem Text eines Autors der »mittlere[n] Generation«. Es handelt sich um Gerd Gaisers Gianna aus dem Schatten. Pongs wundert sich, dass Gaisers Geschichte, »die in Umfang und Aufbau novellistisches Geschehen einfängt, […] nur Erzählung«398 genannt sei; dies allerdings liegt daran, dass er nur die Veröffentlichung des Textes innerhalb der Sammlung Einmal und oft. Erzählungen von 1956 zu kennen scheint. Dieser Band enthält auf 280 Seiten nicht weniger als 20 Einzeltexte, die im Umfang sehr stark differieren – von der zweiseitigen Kurzgeschichte Revanche bis zur fünfzigseitigen Gianna aus dem Schatten; von daher erschien wohl der 395 396 397 398

Ebd., S. 21. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 33.

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allgemeine Terminus ›Erzählungen‹ der passendste. Die Einzelveröffentlichung der Gianna aus dem Schatten, die nur ein Jahr später ebenfalls im Hanser-Verlag herauskam, trägt dagegen ausdrücklich die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹.399 Pongs’ Ausführungen über Gaiser belegen die schwierige Position dieses Autors zu Beginn der sechziger Jahre. Der reaktionäre Pongs lobt Gaisers Text als partiell »meisterhaft«, tadelt ihn aber zugleich als »manieristisch« und ordnet ihn damit qualitativ den Novellen Unruhs nach: »Unruhs eingeborene Klassik lebt aus dem Glauben an den polar gespannten, in sich gesetzhaften Kern des Charakters. Gaiser ist erschüttert von den Anzeichen durchdringender Bewußtseinsspaltung, bis zur Preisgabe des Begriffs: Persönlichkeit«.400 Aus dieser Sicht ist Gaiser traditionalistisch genug, um überhaupt einen Vergleich mit dem favorisierten Unruh bestehen zu können, aber doch zu sehr affiziert von »illusionsloser Nüchternheit«401 und moderner ›Ambivalenz‹, um vorbehaltloses Lob zu verdienen. Diese Einschränkung durch den für die öffentliche Meinung der frühen sechziger Jahre wenig maßgeblichen Pongs lief zeitlich parallel mit der massiven Kritik von Seiten des ›offiziellen‹ Literaturbetriebs, der sich Gaiser seit 1960 ausgesetzt sah und die seine Laufbahn als anerkannter Schriftsteller so gut wie beendete. Die Gründe, aus denen sich Helmut Kreuzer, Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki »gegen die Überschätzung Gerd Gaisers«402 wandten, sind allerdings konträr zu denen von Pongs: Ihnen war Gaiser entschieden zu wenig »erschüttert« von dem, was Pongs die »Anzeichen durchdringender Bewußtseinsspaltung« nennt; vorgeworfen wurde Gaiser vielmehr, sich nie gelöst zu haben aus dem »Bannkreis provinzieller historischer Strömungen wie etwa der zum Pseudo-Mythischen tendierenden ›Heimatkunst‹ oder der ›bündischen‹ Gruppen, die jeweils in einem Missverhältnis zur Geschichte standen«.403 399 Gerd Gaiser: Gianna aus dem Schatten. In: Ders.: Einmal und oft. Erzählungen. München 1956,

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403

S. 7-56, bzw. Gianna aus dem Schatten. Novelle. München 1957. – In einem Stiefkind Novelle überschriebenen Artikel bezeichnet Georg Hermanowski Einmal und oft als »Novellenband« und rühmt den Autor über alle Maßen: »[…] es ist nicht übertrieben, wenn wir die Feststellung treffen, daß wir nach Thomas Mann wohl einen zweiten suchen müssen, der das Instrument unserer Muttersprache wie er [Gaiser] bespielt – vor allem, wenn wir uns der jüngeren Generation zuwenden. Doch Gerd Gaiser bleibt nicht Virtuose wie jener große Magier, den das Zeitliche gesegnet hat. Er besitzt, was einem Thomas Mann fehlte: ein Herz!« Gaiser habe eine »Harmonie zwischen dichterischer Kraft und sittlicher Stärke« erreicht, durch die er sich in die konservativ-klassizistische Novellentradition einreiht. (Georg Hermanowski: Stiefkind Novelle. In: Begegnung. Zeitschrift für Kultur und Geistesleben 12 [1957], S. 54f., hier S. 55). Pongs: Ist die Novelle heute tot?, S. 35. Ebd., S. 36. Walter Jens: Gegen die Überschätzung Gerd Gaisers: Nicht alles, was zur Klampfe gesungen wird, ist Dichtung. In: Die Zeit, 25.11.1960. Hier zitiert nach dem Neudruck in: Hans Mayer (Hg.): Deutsche Literaturkritik der Gegenwart. Bd. 4. Frankfurt/M. 1983, S. 74-81. Helmut Kreuzer: Auf Gaisers Wegen. Korrektur eines Bildes. In: Frankfurter Hefte 15 (1960), H. 2, S. 128-134. Hier zitiert nach dem Neudruck in: Ders.: Aufklärung über Literatur. Autoren und Texte. Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Drost und Christian W. Thomsen. Heidelberg 1993, S. 213-219, hier S. 216.

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Der polemische Furor, mit dem Gaiser kritisiert wurde, erklärt sich zum Teil daraus, dass der Autor in den fünfziger Jahren außerordentlich stark gelobt worden war: Seine Romane wie Eine Stimme hebt an (1950), Die sterbende Jagd (1953), Das Schiff im Berg (1955) und Schlußball (1958) ebenso wie seine Erzählungssammlungen hatten ihm hohes Lob des Feuilletons, lebhafte Resonanz bei der Leserschaft sowie begehrte Auszeichnungen wie etwa den Fontane- oder Wilhelm-Raabe-Preis, den Immermann-Literaturpreis und den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste eingetragen. Insofern kam der »jähe Umschlag« in der öffentlichen Beurteilung nach 1960 »gänzlich unversehens«.404 Jens übte vor allem Sprachkritik – für ihn ist Gaiser »unter allen Nachkriegsautoren, die zu Ruhm und Ansehen gelangt sind, […] der schlechteste Stilist« und sein Deutsch »miserabel«405 –, Reich-Ranicki wies weltanschauliche Kontinuitäten zwischen Gaisers nationalsozialistischem Gedichtband Reiter am Himmel (1941) und seinem späteren Prosawerk nach. Beider Argumentation überzeugt zum Teil bis heute; trotzdem ist die Schärfe der jeweiligen Kritik schon deshalb zu relativieren, weil ästhetische und politische Kriterien vermischt werden. Insofern müssen beide Rezensionen als historische Rezeptionszeugnisse betrachtet werden, die für die in den sechziger Jahren beginnende und stetig zunehmende Radikalisierung im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stehen und in ihrer überschießenden Polemik zunächst ex negativo das Ansehen bestätigen, das Gaiser bisher genossen hatte und das offenbar so groß war, dass seine Kritiker sich betont aggressiv und apodiktisch zu Wort melden mussten. Mancher Maßstab hat sich seither verschoben: Der moralische Anspruch etwa, der ReichRanickis Verdikt »Sein Werk dient nicht der Wahrheit«406 zugrunde liegt, wirkt heute überzogen, und dass Gaiser eine mythisierende Weltsicht vertrat, ist zwar nicht falsch, aber auch ein typisches Merkmal nicht nur dieses Autors, sondern beinahe einer ganzen Generation, die die Nachkriegsliteratur mitbestimmt hat.407 Gravierender allerdings ist die Tatsache, dass sowohl Jens als auch Reich-Ranicki ihre Urteile oft mit Zitaten belegen, die aus dem Zusammenhang gerissen werden, ohne Rücksicht auf die Perspektive, aus der eine Äußerung fällt, oder auf die Frage, inwieweit sich der Erzähler mit der Aussage identifiziert.408 Einige eindeutige Fehllektüren sind nur als Folge einer voreingenommenen Lesehaltung zu erklären, die bestätigt finden 404 Reinhold Grimm: Gerd Gaisers Reiter am Himmel – Bemerkungen zu seinem Roman Die sterbende

405 406 407 408

Jagd. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Internationale Konferenz vom 01.-04.09.1999 in Berlin. Hg. v. Ursula Heukenkamp. Bd. 1. Amsterdam, Atlanta, GA 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50.1), S. 21-33, hier S. 22. Jens: Gegen die Überschätzung Gerd Gaisers, S. 77f. Reich-Ranicki: Der Fall Gerd Gaiser, S. 76. Vgl. Volker C. Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-) Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952). Berlin 2004. Vgl. Wolfgang Nehring: Verheizte Flieger – Helden oder Opfer? Gerd Gaiser: Die sterbende Jagd (1953). In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta 1997 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 42), S. 213-229, hier S. 215. – Nehrings Aufsatz zählt zu den wenigen differenzierteren Gaiser-Interpretationen.

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will, wovon sie bereits überzeugt ist. Ein Beispiel aus Gianna aus dem Schatten sei angeführt. Im Text heißt es, als der Protagonist Lutz Raumer von der ehemaligen Partisanenkämpferin Gianna erschossen wird: Raumer sah sie zuerst unter der Robinie, er sah ihr Gesicht und den Arm, der den Kolben einzog, er dachte: Also und doch und sonderbar so wie schon einmal gewesen, geradeso, und das hätte ich auch nicht angenommen, daß sie es hinterrücks oder aus dem Versteck tut. Der Lauf blickte jetzt gegen ihn, öde, trocken, ein schwarzer Nichts-Blick […].409

Marcel Reich-Ranicki kommentiert diese Textstelle im Hinblick auf Gaisers erzählerische Ungleichbehandlung von edlen Deutschen und moralisch fragwürdigen NichtDeutschen. Das liest sich wie folgt: Wenn aber der Deutsche der Italienerin vor Jahren ein Unrecht getan hat, so geschah es immerhin während des Krieges, und außerdem war er eindeutig in einer Zwangslage. Sie hingegen schießt auf ihn mitten im Frieden und überdies – wie ausdrücklich betont wird – »hinterrücks«, »aus dem Versteck«.410

Hier handelt es sich um eine entstellende, sinnverkehrende Wiedergabe des Zitats: Im Originaltext wird ja gerade betont, dass Raumer in den Gewehrlauf sieht, sogar das Gesicht der Schießenden genau erkennen kann, und seine Gedanken bringen zum Ausdruck, dass er es genau so erwartet habe, dass Gianna ihn nämlich nicht ›hinterrücks‹ und ›aus dem Versteck‹ töten würde (wozu sie angesichts der Landschaft und der Serpentinenstraße genügend Gelegenheit gehabt hätte), sondern von Angesicht zu Angesicht. Da es Reich-Ranicki und Jens vor allem darum ging, auf rhetorisch wirkungsvolle Art ein etabliertes Werturteil zu widerlegen und durch sein Gegenteil zu ersetzen, stellen sie an keiner Stelle die Frage, warum Gaiser bis in die späten fünfziger Jahre hinein so erfolgreich gewesen ist. Die Antwort liegt zum Teil darin, dass gerade die so heftig attackierten Momente, nämlich die archaisierende und stilisierende Sprache, aber auch die weltanschaulichen Kontinuitäten zwischen Gaisers Werk und dem Nationalsozialismus, der Weltsicht breiter Leserkreise korrespondiert haben dürfte. Gaisers Figuren, ihre Probleme und ihre Denkweise haben eine für die Nachkriegsmentalität paradigmatische Dimension, die es aus heutiger Sicht weniger zu zensieren als vielmehr in ihrer Aussagekraft ernst zu nehmen gilt. Insofern ist Gaisers Novelle Gianna aus dem Schatten in erster Linie die Bestandsaufnahme einer Kriegsehe. Der Protagonist Lutz Raumer hat, nachdem seine Frau bei der Geburt des zweiten Kindes gestorben war, seine Cousine Enna geheiratet – mitten im Krieg: »Es war eine Formsache und konnte ihrer Versorgung, falls er nicht zurückkam, dienlich werden«.411 Nach dem Krieg macht er eine generationstypische Erfahrung412: »Als er eines Tages dastand, traf er seine drei Angehörigen als ein Ge409 410 411 412

Gerd Gaiser: Gianna aus dem Schatten. Novelle. München 1957, S. 56. Reich-Ranicki: Der Fall Gerd Gaiser, S. 64. Gaiser: Gianna aus dem Schatten, S. 14. Vgl. dazu den knappen Abriss von Merith Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den

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meinwesen, dem er nicht mehr angehörte und dem er bloß langsam sich wieder eingewöhnte, denn die Kinder waren mit Enna zusammengewachsen, an ihn aber waren sie nicht mehr gewöhnt«. Die intendierte »Formsache als Nützlichkeit« erweist sich als »anfechtbare Lösung«: »Sie wurde Ennas Versorgung nicht dienlich, eher schon, und das sagte er sich mit Beschämung, seiner eigenen«.413 Nach einigen schwierigen Jahren hat sich Raumer beruflich wieder etabliert. Die erste »Ferienreise« wird möglich, scheint sogar »ärztlich angeraten«, da der frühere Soldat, »nachdem die Verhältnisse sich so gebessert hatten, von gewissen Anfälligkeiten nicht frei blieb, Spätschäden, wie die Ärzte es nannten«.414 Reiseziel ist Italien, die Kinder bleiben daheim. Dass die Reise nicht zuletzt der Linderung kriegsbedingter ›Spätschäden‹ dienen soll, erweist sich als bittere Ironie. Raumer war als Soldat in Italien; schon beim ersten Ausflug melden sich traumatische Erinnerungen: Raumer schloß die Augen und sah nicht mehr zu. Schritte im Gebirg, dachte er, genagelte Schritte. Ein Querschläger, hoch singend. Ich hätte nicht wieder in dieses Land kommen sollen. Enna war es, sie hat sich das in den Kopf gesetzt. Und ich denke nicht, ich mache da einfach mit, gehe hin, als wäre die Welt eine Puppenstube, um darin ein Glück zu suchen, aber da ist kein Punktum; da kann keiner tun, als ob da nichts gewesen wäre, da ist alles noch da und kommt ungerufen, und ich habe es doch gewußt; ich hatte vor, nicht wiederzukehren.415

Das Unbehagen des früheren Soldaten ist nur zu berechtigt; er trifft eine Partisanenkämpferin wieder, die er und seine Kameraden wegen ihres seltsamen Verhaltens und oft unvermittelten Auftauchens ›Gianna aus dem Schatten‹ genannt hatten. Raumer hatte ein Verhältnis mit ihr, spielte aber auch bei einer Strafaktion gegen ihre Partisanengruppe eine entscheidende Rolle. Zweifellos ist das Wiedersehen ein »Zufall«, und kein sehr wahrscheinlicher – insofern ist es als ›unerhörte Begebenheit‹ zu betrachten, die zugleich symbolisch steht für die mangelnde Aufarbeitung der Kriegsschuld: »wir sind mit unserer Vergangenheit nicht fertig geworden«.416 Gianna tritt aus dem Schatten der Vergangenheit hervor und wird von Raumer als Personifikation seiner Schuld und Allegorie des Todes wahrgenommen: Sie kam so leblos heran wie eine Puppe, so mühsam, wie man im Traum oft sich quält, wenn die Glieder nicht gehorchen wollen, aber sie kam. Kein Gedanke, daß es Gianna nicht sein konnte. Es war eine Dummheit gewesen, Verblendung, dieses Land noch einmal zu betreten. Signora La Morte. Grüß Gott, lieber Tod.417

413 414 415 416 417

50er Jahren. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hg. v. Axel Schildt und Arnold Sywottek. Aktualisierte Studienausgabe. Bonn 1998, S. 316-334. Gaiser: Gianna aus dem Schatten, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 22. Ebd., S. 40. Ebd., S. 35. Hervorhebung im Original.

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Nur allmählich kann Raumer die Geschichte Giannas erzählen. Enna wundert sich: Von alledem habe ich nie etwas erfahren. Nein, das ist auch kein Stoff für Feldpostbriefe. Später hast du noch weniger Lust, dich daran zu erinnern, und die wohlmeinenden Menschen sagen: Wozu all das Quälende wieder aufreißen? Wahrscheinlich haben die wohlmeinenden Menschen recht.418

Das lange Gespräch mit Enna wirkt lösend, mindert auch die Distanz, die zwischen den beiden von Anfang an bestand; »das merkwürdige Paar, das sich anschickte, ein Paar zu werden«419, heißt es einmal im Text. Auf dem Höhepunkt des Gesprächs gesteht auch Enna, ihren Mann während des Kriegs betrogen zu haben. Raumer verspürt zwar »eine hämische Männchen-Gekränktheit«420, doch letztlich hilft ihm der Schmerz, sich über seine Gefühle zu Enna klar zu werden und die Chance für einen Neuanfang zu erkennen. In diesen Passagen ist Gaisers Text überzeugend: Die typischen Schwierigkeiten einer ganzen Generation – Kriegstrauma, Angst- und Schuldgefühle, ›Spätschäden‹, Kommunikationslosigkeit – werden auf knappem Raum zur Anschauung gebracht. Mythologische Anspielungen (etwa auf Daphne oder Atropos421) fallen demgegenüber kaum ins Gewicht; auch die von Helmut Kreuzer unterstellte Sentenzhaftigkeit des Dialogs422 nimmt keineswegs überhand. Dass das Auftreten Giannas melodramatische Elemente ins Spiel bringt, rechtfertigt Reich-Ranickis Vergleich der Novelle mit einer »Oper des italienischen Verismus«423, ohne dass aus dieser Analogie ein ästhetisches Verdikt abgeleitet werden muss. Ob Raumer am Ende stirbt, bleibt offen; dominiert wird der Schluss des Textes von Gesten der Versöhnung: Gianna bereut ihre Tat, Enna wird im nahegelegenen Dorf freundlich aufgenommen. Unter den Gattungshistorikern hat bisher nur Winfried Freund die Gianna aus dem Schatten als »wichtigen Beitrag zur Nachkriegsnovelle«424 gewürdigt. Dabei sind die Bezüge zur Gattungstradition klar erkennbar: Die Zusammendrängung der Handlung auf einen einzigen Tag, das begrenzte Personal, das überraschende Wiedersehen als ›unerhörte Begebenheit‹ zählen zu den Kennzeichen, die häufig mit der Novelle verbunden wurden. Hinzu kommt die betonte Durchschnittlichkeit der Charaktere: »Mittlere Leute« seien Enna und Raumer, »mit mittelmäßigen Schicksalen und Möglichkeiten«425; gerade darum aber wirkt das von außen kommende Ereignis so aufwühlend, dass es einen klassischen ›Wendepunkt‹ in der bisher sehr distanzierten Beziehung der Eheleute herbeiführen kann. Auch mit symbolhaften Elementen hat Gaiser nicht gespart: Zentral ist die Schilderung des steilen Weges zum Bergdorf Lostallo, den die Eheleute eigentlich verfolgen – ihr Ziel erreichen sie zwar nicht, 418 419 420 421 422 423 424 425

Ebd., S. 47. Ebd., S. 38. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 9, 56f. Vgl. Kreuzer: Auf Gaisers Wegen, S. 214. Reich-Ranicki: Der Fall Gerd Gaiser, S. 64. Freund: Novelle, S. 293. Gaiser: Gianna aus dem Schatten, S. 18.

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doch der Weg erweist sich in jeder Hinsicht als notwendig. Mit dem klassischen Topos vom Lebensweg spielt Gaiser schon im ersten Satz seiner Novelle, der, ganz an der älteren Novellenliteratur orientiert, auf Wesentliches vorausdeutet und Lesererwartungen schürt: »Der Einfall, nach Lostallo hinaufzusteigen, kam von Enna; sie hatten den Ausflug auf anderthalb oder zwei Stunden geschätzt. Stattdessen wurde ein weiter Weg daraus; und der Weg ging ans Leben«.426 Der Vorstellung schließlich, dass krisenhaftes Geschehen im Mittelpunkt von Novellen zu stehen habe, kommt Gaisers Text gleich in doppelter Hinsicht entgegen: Das Gespräch der Eheleute ist kommunizierter Ausdruck einer durch Kommunikation überwundenen inneren Krise, die durch die Gianna-Handlung befördert wird und schließlich in dem mindestens lebensgefährlichen Anschlag ein äußeres Pendant findet. Die Wurzeln alles krisenhaften Geschehens aber liegen im Krieg und in der verdrängten Vergangenheit. Gaisers modellhafter, an drei Individuen exemplifizierter ›Bewältigungsversuch‹ ist zwar (wie die meisten literarischen Bearbeitungen der Thematik) reduktiv; dass er aber die Bereitschaft, sich mit eigener Schuld auseinanderzusetzen und vor allem die Suche nach Kommunikation und Gespräch in den Mittelpunkt seiner Novelle stellt, ist ein überzeugender Ansatz, um sich den Traumata der Vergangenheit literarisch anzunähern. Dass dieser beinahe analytische, auf die kathartische Wirkung von Begegnung und Gespräch setzende Anspruch dem verbreiteten Bild vom ›mythisierenden‹ Gaiser widerspricht, der statt »zu klären, verklärt […], statt zu verdeutlichen, verschleiert […], statt zu erhellen, verdunkelt«427, sollte zum Überdenken festgefahrener Werturteile animieren: Zumindest mit Teilen seines Werkes ist Gaiser auch ein Opfer der »over-hasty evaluation of post-war literature according to the often simplistic criteria of 1968«428 geworden.

2.3. Gottfried Benn (1886-1956) Im Gegensatz zu Gerd Gaiser und erst recht zu Friedrich Franz von Unruh wird Gottfried Benn allgemein zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gezählt. Zur Faszinationskraft, die von diesem Autor ausgeht, gehört seit den zwanziger Jahren und vor allem seit 1933 das paradoxe Nebeneinander von ästhetischer Avanciertheit und kulturkritisch-›konservativ‹ grundiertem, geradezu anti-modernem Weltbild, das eine zwar vorübergehende, aber sehr bewusste Parteinahme des Autors für den Nationalsozialismus mit einschloss.429 So steht Benn ex426 Ebd., S. 5. 427 Reich-Ranicki: Der Fall Gerd Gaiser, S. 76. 428 Keith Bullivant: Between Chaos and Order: The Work of Gerd Gaiser. Stuttgart 1980 (= Stuttgarter

Arbeiten zur Germanistik, 68), Preface.

429 Eine prägnante Zusammenfassung der Erklärungsversuche für Benns politischen ›Fehltritt‹ gibt

Alexander von Bormann: Widerruf der Moderne. Das Beispiel Gottfried Benn. In: Gottfried Benn. 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. v. Horst Albert Glaser. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 21991, S. 29-46.

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emplarisch für eine »die Moderne vollziehende Verneinung der Moderne«430, wie sie aus dem Ressentiment der ästhetischen Moderne gegen den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hervorgeht. Bezüge zwischen Benn und den zentralen Vorstellungen der Konservativen Revolution sind zunächst leicht zu belegen.431 Benn teilt die kulturpessimistische Perspektive, wie sie etwa in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes entwickelt wurde432, und vertritt eine »bis ins Extrem getriebene Aufklärungsfeindlichkeit«433; die empirisch erfahrbare Wirklichkeit der Moderne hält er für sinnentleert und substanzlos, geprägt von Nützlichkeitswahn und kapitalistischer Verwertungsmentalität. Der als defizient begriffenen Empirie setzt Benn – unter anderem beeinflusst durch Erich Ungers Buch über Wirklichkeit, Mythos und Erkenntnis (1930) – eine ›mythische Wirklichkeit‹ entgegen. Noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit schreibt er an seinen langjährigen Briefpartner Friedrich Wilhelm Oelze: Giebt es nicht zum Mindesten 2 Wirklichkeiten, eine empirische u. eine – sagen wir – mythische, u die Bewegung auf die zweite, ihre Erarbeitung ist sie nicht das Ziel? […] Die Realitätsentscheidung im Sinne der empirischen Wissenschaften war der Fehltritt; die allgemeine Erfahrbarkeit der Verhältnisse als Massstab der Wirklichkeit zu fordern u. zu lehren, war der Schritt vom Wege, durch den sich die primäre mythische Wirklichkeit verlor.434

Die moderne Erfahrungswelt als flach und defizitär zu empfinden, die abendländische Intellektualität als einseitig und steril abzulehnen, sich zu einer ›tieferen‹ Weltsicht zu bekennen, in Dichotomien wie ›Geist‹/›Leben‹, ›Beobachten‹/›Handeln‹, ›Individuum‹/›Masse‹ zu denken und die Geschichte als ewige Wiederkehr des Gleichen aufzufassen, sind zentrale Vorstellungskomplexe, über die sich Benns Weltsicht mit dem Konservatismus der zwanziger und dreißiger Jahre verbinden lässt.435 Allerdings hat Benn nur sehr peripher versucht, Auswege und Umkehrmöglichkeiten zu skizzieren; schon für seine im Expressionismus entstandenen Texte gilt, dass ihnen das zeittypische Verkündigungspathos vollkommen abgeht und keinerlei

430 Lohmeier: Was ist eigentlich modern?, S. 10. Kursivierung im Original. 431 Vgl. dazu Jürgen Schröder: Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz

1978 (= Sprache und Literatur, 103), S. 138-183.

432 In einem Brief an Friedrich Wilhelm Oelze vom 21.11.1946 vermerkt Benn zu Spengler, dabei auch

andere für ihn wichtige Autoren erwähnend: »(Übrigens der interessanteste Denker seit Nietzsche, nicht Keyserling, nicht Klages, nicht Bergson, sondern Spengler […])« (Gottfried Benn: Briefe an F.W. Oelze. Hg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Bd. 2. 1945-1949. Wiesbaden 1979, S. 58-60, hier S. 58). 433 Harald Steinhagen: Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens. Gottfried Benns Rückzug in die Ausdruckswelt. In: Gottfried Benn. 1886-1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. v. Horst Albert Glaser. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 21991, S. 71-94, hier S. 74. 434 Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 22.3.1947. In: Briefe an F.W. Oelze, S. 72f., hier S. 72. 435 Vgl. Isolde Arends: Die späte Prosa Gottfried Benns. Wirklichkeitserfahrung und Textkonstitution. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995 (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, 43), S. 17-123.

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Visionen eines ›neuen Menschen‹ entworfen werden.436 Die vorübergehende Parteinahme für den Nationalsozialismus, der Versuch, dem als negativ empfundenen Gegenwartszustand durch die Bindung an »die neuen Götter: Form und Zucht«437 entgegenzutreten, markiert eine Ausnahme, deren Fehlschlag entscheidend dazu beigetragen haben dürfte, dass Benn rasch wieder den Rückzug des geistigen Menschen aus der historischen Welt proklamierte. Handelnd in die Geschichte eingreifen zu wollen, sieht er von nun an als prinzipiell verfehlten Einsatz; diese grundsätzliche Absage ans Handeln jedoch bedeutet, wie Dieter Wellershoff noch zu Lebzeiten des Autors angemerkt hat, »gleichzeitig die Entwertung aller Ziele, auf die Handlung sich richten kann. Damit fallen alle gemeinschaftsbildenden Zwecke und Ideale«.438 Hier liegt denn auch die zentrale Differenz zwischen Benn und den meisten anderen Vertretern eines konservativen Denkens, mit deren Epochendiagnosen der Autor durchaus übereinstimmt: Vor allem in seiner späten Prosa verkündet Benn weder die notwendige Rückkehr zu traditionellen Werten, noch glaubt er überhaupt an die Möglichkeit von Rückbesinnung und Erneuerung – den Vertretern einer wertkonservativen Haltung wird er damit als Nihilist suspekt. Statt dem ubiquitären Sinnverlust entgegenzusteuern, konzentrieren sich Benns Texte darauf, ihn durch den Rückzug auf die eigene Person und die Herstellung rauschhafter Geisteszustände zu betäuben; der als »Grundschicht«439 der Texte immer wieder erkennbare Narzissmus jedoch läuft jedem konservativen Wertekanon zuwider. Entsprechend glaubte ein konservativer Kritiker des Ptolemäers noch 1991, dem Autor die »Außerachtlassung der der Welt eingeborenen Maße« vorwerfen zu können und stellte die rhetorische Frage, »was außer dem Selbstgenuß überlegener Geistigkeit und schrankenloser emotionaler Entladungen eigentlich übrig bleibe«440 – ein eindrucksvoller Beleg für die langlebige Provokationskraft der späten Prosa! Ob Benn auch durch seine relativ häufige Verwendung der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ vor allem Lesererwartungen irritieren wollte, ist eine in der Forschung immer wieder diskutierte Frage. Offensichtlich ist, dass Benn keine Affinität zur klassizistischen Novellenform empfunden hat; schon Goethes Novelle fand er in ihrem »Abrundungsbedürfnis« fragwürdig und »faul«441, und wenn er sie als eine Art Proto436 Vgl. Gerhard P. Knapp: Die Literatur des deutschen Expressionismus. Einführung – Bestandsauf-

nahme – Kritik. München 1979, S. 90.

437 Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: Ders.: Essays und Reden. Hg. v. Bruno Hillebrand.

438 439 440 441

Frankfurt/M. 1989 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 3), S. 479-490, hier S. 489. Dieter Wellershoff: Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns. Diss. Bonn 1952, S. 142. Vgl. Oskar Sahlberg: Gottfried Benns Phantasiewelt. »Wo Lust und Leiche winkt«. München 1977, S. 203. Rudolph Eilhard Schierenberg: Über Gottfried Benns Der Ptolemäer. Eine Kritik. Reicheneck 1991, S. 14. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 27.1.1936. In: Gottfried Benn: Briefe an F.W. Oelze. Hg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Bd. 1. 1932-1945. Wiesbaden 1977, S. 102-104, hier S. 104.

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typ gewertet hat, so war das nicht anerkennend gemeint.442 Eine im Gegensatz zum ›strengen‹ Novellenkonzept stehende Präzisierung ›seines‹ Gattungsbegriffs hat Benn weder im Hinblick auf die frühen Rönne-Texte – im Wesentlichen zusammengefasst in dem Band Gehirne. Novellen (Leipzig 1916) – noch in Bezug auf den im Untertitel als ›Berliner Novelle, 1947‹ ausgewiesenen Ptolemäer vorgenommen; deutlich übertrieben scheint aber auch die Annahme, Benn habe »durch die Auflösung der Persönlichkeit und ihrer kontinuierlichen Psychologie, durch den Verzicht auf ein zentrales Dingsymbol und eine ›unerhörte Begebenheit‹ und durch die Verschränkung von epischem Bericht, erlebter Rede, innerem Monolog und lyrischen Bilderketten die tradierte Gattungsform der Novelle bewußt destruiert«.443 Gerade im Umkreis des Expressionismus ist – zeitlich parallel zu bewusst klassizistisch konzipierten Gattungsbeiträgen wie etwa Bindings Opfergang, Manns Tod in Venedig oder Emil Strauß’ Der Schleier – »eine Fülle eigenartiger Novellenliteratur«444 entstanden, die den als ›klassisch‹ betrachteten Kriterien der Novellentheorie kaum entspricht und dennoch in einem spannenden Wechselverhältnis zur Tradition steht; verwiesen sei auf Werke Kafkas, Döblins, Edschmids, Sternheims und besonders auf Georg Heyms Sammlung Der Dieb (1911), die öfter mit dem Rönne-Komplex verglichen wurde.445 Abgesehen davon kann eine entsprechend flexible Handhabung der als typisch betrachteten Kriterien durchaus Ansatzpunkte ausmachen: So sind etwa Rönnes »Durchbrüche in eine neue Wirklichkeitserfassung«446 als ›unerhörte Begebenheiten‹ verstanden worden; zumindest der »Keim eines unerhört Neuen«447 bleibt auch für das fragmentierte Individuum Rönne erfahrbar. Noch einleuchtender ist es, die ›Gehirne‹, die der Novellensammlung und dem einleitenden Text den Titel geben, beziehungsweise die Geste, mit der Rönne zwei Gehirnhälften auseinanderbiegt, in der Funktion des Heyseschen ›Falken‹ zu sehen448 – zumal ›Gehirn‹ ein »Schlüsselbegriff des gesamten Bennschen Werkes«449 ist und von daher fast symbolische Qualität für diesen Autor besitzt. Im Fall des Ptolemäers treten Gemeinsamkeiten mit der Novellentradition stärker hervor, wenn man sich zunächst entschließt, den Text nicht als Musterbeispiel für 442 »Und nun wird mir manches klar: die Herkunft ganzer Verlagsgeschlechter von dieser Novelle! 90

443 444 445 446 447 448 449

% des Inselverlags, einschliesslich Herr Carossa u. Ihr Herr Schröder, auch Hofmannsthal kommen von ihr!« (ebd., S. 104). Heidemarie Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus. München 1993, S. 270. Aust: Novelle, S. 153. Vgl. Martin Preiß: »… daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe«. Gottfried Benns Rönne-Novellen als Autonomieprogramm. St. Ingbert 1999, S. 250. Barbara Heather Schulz: Gottfried Benn. Bild und Funktion der Frau in seinem Werk. Bonn 1979 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 251), S. 66. Gottfried Benn: Die Insel. In: Ders.: Prosa und Autobiographie. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1984 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 2), S. 53-61, hier S. 60. Aust: Unterhaltungen deutscher Lehrenden, S. 99. Hanspeter Brode: Studien zu Gottfried Benn I. Mythologie, Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Café- und Inselmotiv, Gehirnbeschreibung und Kulturkreislehre bei Benn. In: DVjs 46 (1972), S. 714-763, hier S. 738.

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Benns Konzeption einer ›absoluten Prosa‹ zu lesen. Die ungemein suggestiven und rezeptionssteuernden Ausführungen, die Benn dem »Problem der absoluten Prosa«450 in seiner Autobiographie Doppelleben (1949) widmet, haben vom ersten Erscheinen an zur affirmativen Paraphrase verleitet451 und damit den Blick auf die traditionellen Elemente verstellt, die auch ein Text wie Der Ptolemäer aufweist. Die Erstveröffentlichung dieser ›Berliner Novelle, 1947‹, gemeinsam mit den bereits 1937 bzw. 1944 entstandenen Prosawerken Weinhaus Wolf und Roman des Phänotyp, markierte als erste Nachkriegspublikation des Autors das von ihm selbst sogenannte und intensiv betriebene »Comeback«452 Gottfried Benns in der literarischen Öffentlichkeit. In der Forschung werden die drei Texte meist als »Zyklus«453 betrachtet. Die Zusammengehörigkeit zeigt sich am deutlichsten in der Ähnlichkeit der Protagonisten; obwohl sie als verschiedene Figuren ausgewiesen sind – als Konsularbeamter, als ›Phänotyp‹ und als Leiter eines Berliner Schönheitsinstituts – unterscheiden sie sich kaum voneinander: »ihre Eindrücke, Empfindungen, Stimmungen, ihre Ansichten und Reflexionen bleiben untereinander austauschbar und decken sich bezeichnenderweise mit expliziten Selbstaussagen Benns«.454 Als weiteres Indiz für die Zusammengehörigkeit der drei Texte kann die chronologische Abfolge gelten: Die jeweilige Entstehungszeit entspricht der Handlungszeit, aktuelle Ereignisse und Erfahrungen der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit fließen in die Texte ein. Allerdings hat Benn lange gezögert, bevor er sich für die endgültige Anordnung Weinhaus Wolf, Roman des Phänotyp, Der Ptolemäer entschloss; im September 1948 hatte er noch die Reihenfolge Der Ptolemäer, Weinhaus Wolf, Roman des Phänotyp, im November Weinhaus Wolf, Der Ptolemäer, Roman des Phänotyp erwogen.455 Der Ptolemäer stellt die Bedeutung der Zeitgenossenschaft schon im Untertitel heraus: Eine deutlichere und frühere Information über Ort und Zeit des Geschehens als sie die Formel Berliner Novelle, 1947 liefert, ist kaum vorstellbar. Die Angaben ergänzen sich insofern, als der Leser nicht nur der damaligen Zeit ein relativ klares Bild davon vor Augen hat, welche Zustände ihn im Berlin des Jahres 1947 erwarten. Der Beginn des Textes präzisiert noch weiter: »Ein bösartiger Winter geht zu Ende […]« 450 Gottfried Benn: Doppelleben. In: Ders.: Prosa und Autobiographie. Hg. v. Bruno Hillebrand.

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Frankfurt/M. 1984 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 2), S. 355-479, hier S. 446; vgl. allgemein zur ›absoluten Prosa‹ Bodo Bleinagel: Absolute Prosa. Ihre Konzeption und Realisierung bei Gottfried Benn. Bonn 1969; Thomas Pauler: Schönheit und Abstraktion. Über Gottfried Benns ›absolute Prosa‹. Würzburg 1992 (= Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft, 77). Vgl. etwa den noch von Benn selbst sehr gelobten Beitrag Fritz Martinis: Gottfried Benn. Der Ptolemäer. In: Ders.: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Brecht. Stuttgart 61970 [zuerst 1954], S. 468-517. Vgl. Klaus-Dieter Hähnel: Das Comeback des Dr. Gottfried Benn nach 1945 (1949) – Wirkung wider Willen? In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 6 (1996), H. 1, S. 100-113. Vgl. u.a. Peter Schünemann: Gottfried Benn. München 1977, S. 128; Mathias Bertram: Literarische Epochendiagnosen der Nachkriegszeit. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945-1960). Berlin 2000, S. 11-99, hier S. 47. Bertram: Literarische Epochendiagnosen, S. 47. Vgl. Pauler: Schönheit und Abstraktion, S. 170f.

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heißt es, mit deutlichem Bezug auf den berüchtigten (und hier anthropomorphisierten) Hunger- und Kältewinter 1946/47; gleich darauf stellt sich der Erzähler als Betreiber eines »Schönheitsinstitut[s] einschließlich Krampfadern«456 vor. Der weitere Verlauf gibt klare Angaben zur erzählten Zeit – der zweite der drei Großabschnitte setzt mit dem Sommer ein, am Ende ist es Herbst und es »wird wieder Winter werden«457; außerdem führt der Erzähler »mit gliedernden Hinweisen durch die ›Novelle‹«.458 Damit entspricht der Text zunächst keineswegs den Idealen einer ›absoluten Prosa‹ als »einer Prosa außerhalb von Raum und Zeit, ins Imaginäre gebaut«, sondern liefert genau die Basisdaten, die ein Leser auch von den Eingangspassagen traditioneller Erzählwerke erwartet.459 Dass die Hauptfigur nichts sehnlicher wünscht, als sich von der Außenwelt abgrenzen zu können, wird gleich im Anschluss durch eine provozierende Handlung bewusst gemacht, über deren Realitätsstatus keine Gewissheit herrscht: Endlich allein! Schließlich wurde mir auch das Geklingel und Geklopfe an der Tür noch lästig, ich richtete ein Maschinengewehr, das ich mir allen Nachforschungen zum Trotz aus dem großen Völkerringen gerettet hatte, verborgen auf die Annäherungsstraße und schoß alle Verdächtigen ab. Die Leichen sahen nicht viel anders aus als die der Erfrorenen und derer, die sich selbst erledigt hatten, sie lagen auf den Trottoirs, und die Vorübergehenden fanden das natürlich – Zahnschmerzen, eine entzündete Pulpa hätte sie vielleicht noch in Bewegung gebracht, aber Buckel im Schnee – das konnten auch Ratten oder Keilkissen sein.460

Zweifellos ist dies eine »die Logik einer realistischen Fiktion strapazierende Handlung des fiktiven Ich-Erzählers«.461 Dass die Tat später noch einmal erwähnt wird462, spricht eher dafür, den Bericht ernst zu nehmen und nicht als Größenphantasie eines gereizten, amoralischen Ich zu betrachten; in jedem Fall wird die ebenso groteske wie anarchische Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die extreme Schilderung besonders anschaulich gemacht. Zugleich erscheint der Rückzug des IchErzählers von der Außenwelt als genau der aktive und gewaltsame Vorgang, der zur Herstellung radikaler Selbstbezogenheit offenbar nötig ist. Die Novelle operiert mit verschiedenen, vieldeutigen Sinnbildern, die die Selbstsicht des Ich-Erzählers veranschaulichen. Die wichtigsten fungieren zugleich als Abschnittsüberschriften: Lotosland, Der Glasbläser und Der Ptolemäer. 456 Gottfried Benn: Der Ptolemäer. In: Ders.: Prosa und Autobiographie. Hg. v. Bruno Hillebrand.

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Frankfurt/M. 1984 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 2), S. 193-234, hier S. 193. Ebd., S. 223. Bleinagel: Absolute Prosa, S. 47. Vgl. Gerwin Marahrens: Geschichte und Ästhetik in Gottfried Benns intellektualer Novelle Der Ptolemäer. In: Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Festschrift für Anthony W. Riley. Hg. v. Friedrich Gaede, Patrick O’Neill, Ulrich Scheck. Tübingen, Basel 1994, S. 177-192, hier S. 191. Benn: Der Ptolemäer, S. 193. Pauler: Schönheit und Abstraktion, S. 175. Vgl. Benn: Der Ptolemäer, S. 203.

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›Lotosland‹ ist vom programmatisch gewählten und ausführlich erläuterten Namen des Schönheitsinstituts abgeleitet: Mein Haus hieß »Lotos« – Appell an den Schönheitssinn, gleichzeitig mythologisch anklingend – Lothophagen, Lotosesser, wer von den Früchten aß, brauchte kein anderes Brot, er konnte hoffen und vergessen. Aber darüber hinaus bedeutete mein Institut schon an sich eine selektive Haltung, eine ideeliche Beschränkung: Körperpflege einschließlich Krampfadern – gut, so weit ging es, das war auch noch kein Handeln, aber Gesamtschau, Totalitätsbetreuung, Lebenseinheit, Harmonie – das lehnte ich ab.463

Schon hier sind wesentliche Elemente des Textes wie auch der Weltsicht des IchErzählers versammelt: Bezüge bestehen zur Mythologie und zum Rausch, zur Vorstellung des ›Doppellebens‹ und zur ästhetischen Existenz, die (nicht ohne ironischen Beiklang) in der Tätigkeit des hochintellektuellen »Coiffeur[s]«464 gespiegelt wird. Der ›Glasbläser‹ erweist sich rasch als Inbegriff des Künstlers – und der »Künstler ist der einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet«.465 Als Glasbläser erschafft er ein ebenso künstliches wie fragiles, künstlerisches und in sich vollendetes Gebilde, das er entschlossen von sich ablösen muss: »Blase die Welt aus Glas, als Hauch aus einem Pfeifenrohr: der Schlag, mit dem du alles löst: Die Vasen, die Urnen, die Lekythen, – dieser Schlag ist deiner und er entscheidet«.466 Der Anspruch auf radikale Kunstautonomie ist damit gestellt; naheliegende Einwände nimmt der ebenso reflexions- wie ironiefähige Erzähler gleich mit voraus: »Wenn dir jemand Ästhetizismus und Formalismus zuruft, betrachte ihn mit Interesse: es ist der Höhlenmensch, aus ihm spricht der Schönheitssinn seiner Keulen und Schürze«.467 Das Bild des ›Ptolemäers‹ schließlich integriert die Bedeutungen, die bereits das ›Lotosland‹ und der ›Glasbläser‹ suggeriert haben. Seine darüber hinausgehende Wertigkeit wird durch die Verwendung des Begriffs auf gleich drei texthierarchischen Ebenen – als Bandtitel der Erstveröffentlichung, als Einzeltexttitel und als Kapitelüberschrift – unterstrichen. Hinzu kommt, dass die Thematisierung des ptolemäischen Weltbilds sowohl am Anfang als auch am Ende der Berliner Novelle erfolgt und damit zu einem zyklischen Gesamteindruck beiträgt. Die Vorstellung des ›Ptolemäers‹ kann insofern als die spezifische ›Silhouette‹ der Novelle betrachtet werden. Dass der ungewöhnliche Begriff auf den griechischen Geographen, Mathematiker und Astronomen Claudius Ptolemäus anspielt, hat Benn mehrfach bestätigt; in einem Brief an Fritz Werner heißt es: Ptolemäus war der Begründer des vorgalileiischen Weltbildes: die Erde eine Scheibe, vom Okeanos umflossen, begrenzt von den Säulen des Herkules. Alles ruhte, lag in sich beschlossen, war dem menschlichen Blick und Gedanken räumlich zugänglich. Dann be463 Ebd., S. 198. – Darüber hinaus ist ›Lotosland‹ auch ein physikalisch-literarischer Topos, der u.a. von 464 465 466 467

Willem de Sitter mitgeprägt wurde, vgl. Pauler: Schönheit und Abstraktion, S. 179. Benn: Der Ptolemäer, S. 234. Ebd., S. 215f. Ebd., S. 214f. Ebd., S. 215.

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gann das Kataklysma: mit der Erde um die Sonne und der ganze physikalische Humbug mit der Milchstraße und der Unendlichkeit. Daher meine Aggressive gegen Kepler und Galilei usw., ich glaube ja an die moderne Physik nicht, sie ist ein Teil des nachantiken dynamischen Weltbildes; auf das das Abendland so stolz ist.468

Der ›Ptolemäer‹ erweist sich damit als eine Chiffre für Benns Ablehnung der Moderne und die Sehnsucht nach überschaubaren, statischen Verhältnissen. Dass Benns Beschreibung offensichtlich Elemente des älteren mythischen Weltbildes (»Scheibe«, »Okeanos«, »Säulen des Herakles«) mit denen des ptolemäischen Systems vermengt (das die Erde als unbewegliche Kugel im Mittelpunkt des Universums annimmt), hat für die Bedeutung der Chiffre keine Konsequenz.469 Die erste Absage an das moderne Weltbild legt der Text dem »Unendliche[n]« in den Mund; im Halbschlaf und in »klaren Träumen« hört der Ich-Erzähler die Stimme Gottes, die ihn in seinen antiphysikalischen und zeitkritischen Ansichten bestärkt: Meinst du, daß Kepler oder Galilei großes Meerleuchten war –, das waren doch lauter alte Tanten. Es war ihr Strickstrumpf, daß sich die Erde um die Sonne dreht. Sicher ganz unruhige extrovertierte Typen. Und nun beachte den Schrumpfungsprozeß dieser Hypothese! Heute dreht sich alles um alles, und wenn sich alles um alles dreht, dreht sich nichts mehr außer um sich selber.470

Sigmund Freud hat die kopernikanische Wende bekanntlich als erste der drei großen narzisstischen Kränkungen benannt, die das neuzeitliche Selbstbewusstsein bzw. die »menschliche Größensucht« hinnehmen musste; dem Verlust des anthropozentrischen Weltbildes folgten die Evolutionslehre, die die Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen beendete, und die Psychoanalyse, die das Ich als unfrei, weil vom Unbewussten gesteuert entlarvt hat.471 Dass die Absage des Ich-Erzählers an die Moderne mit der Ablehnung des physikalischen Weltbildes beginnt, ist damit zum einen historisch schlüssig (da die kopernikanische Wende als Initialzündung des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses gilt472), zum anderen auch psychologisch: Die Geschichte des Ich-Erzählers vermittelt die in und durch Sprache bewerkstelligte Heilung eines narzisstischen Traumas, zu dem die selbstherrliche Korrektur des physikalischen Weltbildes gehört. Ohne die Novelle auf »a psychiatric study in belletristic disguise«473 reduzieren zu wollen, dürfte damit doch ihr Hauptthema benannt sein: 468 Gottfried Benn an Fritz Werner, 17.4.1949. In: Ders.: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort v.

Max Rychner. Wiesbaden 1957, S. 146f. 469 Vgl. Pauler: Schönheit und Abstraktion, S. 174f. 470 Benn: Der Ptolemäer, S. 194. 471 Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Hg. v. Alexander Mitscher-

lich u.a. Frankfurt/M. 1969 (= Studienausgabe, 1), S. 283f. 472 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Gertrud von le Forts Das Tor zum Himmel in der vorliegenden

Arbeit.

473 Oskar N. Sahlberg: »The Jewel in the Lotus«: A Re-Implantation. The Healing of a Narcissist in

Gottfried Benn’s Berlin Novella Der Ptolemäer. In: Mimetic Desire. Essays on Narcissism in German Literature from Romanticism to Post Modernism. Hg. v. Jeffrey Adams und Eric Williams. Columbia, Sc. 1995, S. 142-166, hier S. 142.

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»Der Ptolemäer ist nicht anderes als die Wiedereinsetzung der verlorenen Souveränität des Subjekts in der Sphäre des Ästhetischen, ist die Rückverwandlung der melancholischen Folgen der kopernikanischen Wende und der saturnischen Macht der Geschichte in die abgelöste, ichzentrierte und balancierte Objektwelt der Kunst«.474 In den Verfahrensweisen, die der Ich-Erzähler anwendet, um den »Weg zur artistischen Welt«475 zu finden und eine »autistische Realität«476 zu schaffen, erweist er sich als »Erbe und Nutznießer der Erfahrungen Rönnes«.477 Eindeutiger als der Arzt Rönne jedoch gibt sich der Besitzer des Schönheitsinstituts als Schriftsteller zu erkennen, der die ›Methode seines Niederschreibens‹ von einer ästhetischen Position ableitet, die er jenseits eines zu sehr auf die ›reale‹ Welt bezogenen Optimismus oder Pessimismus verortet: Nein, es bleibt nur der Blick, der Stil zu sehen. Optimismus-Pessimismus –: das setzte die Tatsache von Gegensätzen voraus oder den Wunsch, daß man jemand Bestimmtes wäre. Weit entfernt! […] Pessimismus – das ist der Strandkorb des Unproduktiven, der rückt ihn an den See, ich bin Artist, mich interessieren die Gegenströmungen, ich bin Prismatiker, ich arbeite mit Gläsern. Was zum Beispiel die Methode meines Niederschreibens angeht, sie ist, wie leicht festzustellen, prismatischer Infantilismus. […] Nein, ich bin kein Pessimist – woher ich stamme, wohin ich falle, das ist alles überwunden. Ich drehe eine Scheibe und werde gedreht, ich bin Ptolemäer.478

›Geschichte‹ wird dagegen reduziert auf die ständige »Wiederkehr des Gleichen«479, wird als beeinflussbarer Prozess genauso suspendiert wie die Frage nach historischer und moralischer Verantwortung. In einem ästhetisch-solipsistischen, durch die Kraft künstlerischer Imagination als alternative Realität erzeugten Kosmos dagegen kann das allmächtige Ich noch einmal die zentrale Rolle einnehmen, die es in der als Misere erfahrenen modernen Lebenswelt längst verloren hat. Es bestätigt Benns vielzitierte Auffassung, dass er »in den Prosasachen mehr von [s]einer inneren Lage und auch der Lage der Zeit realisiere, als in den Gedichten«480, wenn man diese Position nicht nur als eine persönlich-individuelle des Autors Gottfried Benn liest, sondern trotz und gerade wegen ihrer Absage an die historische Realität auch als eine sozialhistorisch aufschlussreiche: In der Formel vom ›prismatischen Infantilismus‹ zeigt sich die Berliner Novelle, 1947 als »a mirror in which German history is reflected in the infantile 474 Hartmut Böhme: Ich-Verlust und Melancholische Haltung bei Gottfried Benn. In: Gottfried Benn

475 476 477

478 479 480

zum 100. Geburtstag. Vorträge zu Werk und Persönlichkeit von Medizinern und Philologen in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Hg. v. Will Müller-Jensen u.a. Würzburg 1989, S. 69-81, hier S. 80. Benn: Der Ptolemäer, S. 231. Ebd., S. 207. Dieter Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seiner Werke. Köln 21986, S. 38. – Vgl. auch Benns briefliche Äußerung gegenüber Oelze vom 21.9.1947, die den ›Ptolemäer‹ als ›betagten Rönne‹ versteht (Briefe an Oelze, S. 89f., hier S. 90). Benn: Der Ptolemäer, S. 231-233. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 229. Gottfried Benn an Peter Schifferli, 29.4.1948. In: Dichter über ihre Dichtungen. Gottfried Benn. Hg. v. Edgar Lohner. München 1969, S. 129f., hier S. 130.

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structures of the unconscious, the German psychosis that discharged itself in two World Wars«.481 Benns bewusste Bagatellisierung der historischen Tatsächlichkeit und seine apolitische Haltung signalisieren eben nicht nur ein radikales Bekenntnis zur ästhetischen Autonomie, sondern kamen der Mentalität vieler Intellektueller der unmittelbaren Nachkriegszeit schon deshalb entgegen, weil sie eine Möglichkeit bereitstellten, sich der kritischen und selbstkritischen Reflexion über die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 zu entziehen.482 Der Text, der eine radikale Distanzierung vom Konzept ›historischer Realität‹ postuliert, ist gerade deshalb als »Ausdruck einer bestimmten geschichtlichen Situation«483 zu werten, die nicht zuletzt biographisch grundiert ist – insofern ist Der Ptolemäer zwar nicht ausschließlich, aber doch unter anderem als »mythologisch-wissenschaftlich-intellektualistisch drapierte politische Exkulpation«484 seines Autors zu lesen. Dass Benns Berliner Novelle, 1947 eine sehr spezifische Handhabung der Novellenform darstellt, ist einerseits offensichtlich. Andererseits ist auch die »absolute Dichtung« Benns, wie besonders nachdrücklich Klaus Gerth herausgearbeitet hat485, eine relative Angelegenheit: Sowohl in der lyrischen Produktion wie in der ›absoluten Prosa‹ bleiben als ›Ich‹ erfahrbare Sprecher, vermittelte und vermittelbare Inhalte, kommunikative Absicht und Adressatenbezug, chronologische Abfolgen und lokale Festlegungen erhalten. Insofern ist auch die Distanz zum traditionellen Novellenverständnis zu relativieren: Dem Untertitel Berliner Novelle, 1947 wird durch den Text keineswegs so radikal »widersprochen«486, wie oft behauptet. Was geschieht, ist nur vor der Folie der Berliner Nachkriegssituation, auf die häufig angespielt wird, sinnvoll zu vermitteln, ist ausdrücklich aus dieser Situation heraus entwickelt. Geht man davon aus, dass die explizite Verwendung des Gattungsbegriffs ›Novelle‹ einen hohen Anspruch an literarische Qualität und ›Formstrenge‹ signalisiert, wird man nicht enttäuscht: Der Text bekennt sich nicht nur selbst zur Bedeutung ästhetischer Formgebung, sondern ist mit seinen drei etwa gleich langen Teilen regelmäßig gebaut und bewusst konstruiert, durch den Einsatz des Ptolemäer-Motivs am Anfang und am Ende zyklisch gerundet und überschreitet nicht die von einer Novelle üblicherweise erwartete Länge. Der Bilderreichtum spricht für die von konservativen Gattungshistorikern wie Pongs so oft herausgestellte Affinität der Novelle zum symbolischen Sprechen; das Bild des Ptolemäers dominiert stark genug, um mit der Vorstellung eines ›Falken‹ oder einer ›Silhouette‹ in Verbindung gebracht werden zu können. Die Nähe zum lyrischen Sprechen einerseits und zum Essay andererseits dürfte kein Hindernis sein, den Text als ›Novelle‹ zu begreifen; Gerwin Marahrens Sahlberg: »The Jewel in the Lotus«, S. 160. Vgl. Schünemann: Gottfried Benn, S. 128. Marahrens: Geschichte und Ästhetik, S. 177. Ebd., S. 189. Vgl. Klaus Gerth: Absolute Dichtung? Zu einem Begriff in der Poetik Gottfried Benns. In: Gottfried Benn. Hg. v. Bruno Hillebrand. Darmstadt 1979 (= Wege der Forschung, 316), S. 240260. 486 Schünemann: Gottfried Benn, S. 129. 481 482 483 484 485

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hat, in Analogie zu Helmut Koopmanns vor allem in Hinblick auf Thomas Mann geprägten Begriff des ›intellektualen Romans‹, den Terminus der ›intellektualen Novelle‹ vorgeschlagen, mit dem Benns ins Essayistische ausgreifender Ptolemäer gut zu erfassen ist.487 Ein letzter Aspekt, über den sich Benns Berliner Novelle mit der Novellentradition des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringen lässt, ist ihre Prägung durch binäre Denkmuster. Benn selbst hat den Ich-Erzähler seines Ptolemäers als Beispiel für das Phänomen des Doppellebens angeführt: »Doppelleben in dem von mir theoretisch behaupteten und praktisch durchgeführten Sinne ist ein bewußtes Aufspalten der Persönlichkeit, ein systematisches, tendenziöses. Hören wir dazu den Ptolemäer […]«.488 Es folgt ein längeres Zitat aus dem Text, das unter anderem die Passage enthält: »Gesamtschau, Totalitätsbetreuung, Lebenseinheit, Harmonie – das lehnte ich ab. Wir alle leben etwas anderes, als wir sind. Dort wie hier Bruchstücke, Reflexe; wer Synthese sagt, ist schon gebrochen«.489 Benns Selbstinterpretation zufolge sind im Schönheitsinstitut »Handeln und Denken streng separiert, Leben und Geist zwei völlig verschiedene Dinge«.490 Benns Bestreben, als »Dualist« und »Anti-Synthetiker«491 verstanden zu werden, erinnert an zentrale geistesgeschichtliche Denkmuster, die insbesondere in der Weimarer Republik dominant waren; in seinen theoretischen Ausführungen greift Benn noch viel weiter zurück, um das ›Doppelleben‹ geradezu als entwicklungsgeschichtliche Konsequenz zu rechtfertigen: »Unser Kulturkreis begann mit Doppelgestalten: Sphinxen, Zentauren, hundsköpfigen Göttern und befindet sich mit uns in einer Kulmination von Doppelleben«.492 Fraglich ist allerdings, inwieweit sich Benns ›Ptolemäer‹ tatsächlich einer ›Synthese‹ verweigert: In der Forschung ist immer wieder herausgestellt worden, dass gerade die Sehnsucht nach Regression und Wiederherstellung ursprünglicher Einheit zu den zentralen Punkten des Bennschen Denkens gehört.493 Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, dass Der Ptolemäer keine ›Doppelgestalt‹ vorführt, deren Komponenten gleichberechtigt koexistieren würden; stattdessen stellt der Text von Anfang an klar, dass es innerhalb des ›Doppellebens‹ so etwas wie ein ›eigentliches‹ Leben gibt, das parteinehmend und wertend mit dem einen Pol verbunden wird, nämlich mit dem des Geistes und der ästhetischen Existenz. Im Textverlauf dominiert dieses ›eigentliche‹ Leben mehr und mehr, während die empirisch-kasuistische Realität zunehmend an Bedeutung verliert. Wo der Gegensatz von ›Geist‹ und ›Leben‹ etwa bei Thomas Mann seine Spannung daraus bezieht, dass das ›Leben‹ gerade vom ›geisti487 488 489 490 491 492 493

Marahrens: Geschichte und Ästhetik, S. 192. Benn: Doppelleben, S. 451. Ders.: Der Ptolemäer, S. 198f. Ders.: Doppelleben, S. 451. Ebd., S. 449. Ebd., S. 448. Vgl. in jüngerer Zeit z.B. Regine Anacker: Aspekte einer Anthropologie der Kunst in Gottfried Benns Werk. Würzburg 2004 (= Epistemata, 471), bes. S. 21-86.

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gen‹ Standpunkt her als wertvoll und begehrenswert betrachtet wird, fühlt sich der Ptolemäer durch nichts an die verachtete Realität gebunden (schon gar nicht durch ›Sehnsucht‹). Dass die als Faktum betrachtete Trennung von Geist und Leben »in Wahrheit keineswegs so radikal durchführbar war«494, wie Benns apodiktische Formulierungen suggerieren, ist offensichtlich: Nicht einmal die fingierte Gestalt des Ptolemäers kann die Bindung an die empirisch wahrnehmbare Realität gänzlich aufkündigen und den Ausstieg aus der Geschichte leisten, noch viel weniger die reale Person Gottfried Benn, so sehr diese auch den Doppelberuf als Arzt und Schriftsteller als Ausdruck eines ›Doppellebens‹ begreifen wollte. Wesentlich aber ist das vor allem in der späten Prosa herausgestellte Ungleichgewicht, mit dem das Verhältnis von Geist und Leben dargestellt wird, und das die Vorstellung einer Synthese letztlich weniger negiert als gegenstandslos werden lässt: Denn wo der eine Pol, nämlich der des Geistes und der Kunst, die Benn ganz im Sinne Nietzsches als die »eigentlich metaphysische Tätigkeit dieses Lebens«495 begreift, derart favorisiert und letztlich absolut gesetzt wird, ist eine Synthese gar nicht mehr notwendig, weil sie im Bewusstsein des Ptolemäers mit der reinen Verwirklichung des einen Pols zusammenfallen würde. Damit erweist sich auch Benns Berliner Novelle als ein Text, der deutliche Wertsetzungen vornimmt, in dem die Frage nach Prioritäten nicht etwa ambivalent, sondern sehr entschieden zugunsten einer bestimmten Denkweise beantwortet wird – und aus dieser deutlichen Positionsbestimmung innerhalb eines binären Denkmusters ergibt sich eine letztlich auch als gattungstypisch zu fixierende Analogie zu den Novellentexten der konservativ-klassizistischen Tradition, mit der die ästhetisch überlegene Prosa Benns formal nicht viel gemein hat.

3. Christliche Novellenproduktion In den Jahren 1946/47 fanden zwei genuin christlich geprägte literarische Neuerscheinungen eine überraschend lebhafte Aufnahme: die Romane Das unauslöschliche Siegel von Elisabeth Langgässer und Der Kranz der Engel von Gertrud von le Fort.496 Insgesamt jedoch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg rasch deutlich, dass der christliche Beitrag zur Neuorientierung und Krisenüberwindung geringer ausfiel, als das 494 Steinhagen: Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, S. 84. 495 Friedrich Nietzsche: Vorwort an Richard Wagner: In: Ders.: Die Geburt der Tragödie aus dem

Geiste der Musik. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Bd. 1. Darmstadt 1997, S. 19f., hier S. 20. – Benn hat sich öfter auf diese Stelle berufen, vgl. Theo Meyer: Affinität und Distanz. Gottfried Benns Verhältnis zu Nietzsche. In: Gottfried Benn. 1886-1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. v. Horst Albert Glaser. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 21991, S. 95122. 496 Vgl. Elfriede Deuring: Elisabeth Langgässer – Gertrud von le Fort. Zwei christliche Dichterinnen und ihre Romane Das unauslöschliche Siegel und Das Schweißtuch der Veronika, vergleichend dargestellt und interpretiert. Diss. Innsbruck 1988. – Le Forts Das Schweißtuch der Veronika besteht aus den beiden Teilen Der römische Brunnen (1928) und Der Kranz der Engel (1946).

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nach 1918 der Fall gewesen ist. In der Weimarer Republik hatte eine Vielzahl reformkatholischer Bestrebungen auf die krisenhafte Zeitstimmung reagiert; obwohl mit der Bundesrepublik zum ersten Mal ein deutscher Staat entstanden war, in dem die Katholiken keine Minderheit darstellten, und der politische Einfluss des katholischen Milieus in der Adenauer-Ära nicht unterschätzt werden darf497, ist für die zweite Nachkriegszeit kaum etwas Vergleichbares zu registrieren: »Der Reformkatholizismus der zwanziger Jahre ist zum Bildungskatholizismus der frühen fünfziger Jahre geworden«.498 Die überwiegende Mehrheit der kritischen Intelligenz betrachtet das Christliche wie das Religiöse überhaupt als »Ausdruck für die Kontinuität einer im Zweiten Weltkrieg endgültig zerbrochenen, einer nicht wiederzubelebenden Wertetradition«.499 Zwar gibt es eine ganze Reihe damals prominenter Autoren, die eine religiös engagierte Schreibtradition weit über dem Niveau von Erbauungsliteratur pflegen: genannt seien neben Elisabeth Langgässer und Gertrud von le Fort etwa Stefan Andres, Werner Bergengruen, Reinhold Schneider, Kurt Ihlenfeld und Edzard Schaper. Sie alle jedoch stehen – zum Teil schon aus Altersgründen – weitaus eher in Verbindung mit dem renouveau catholique der zwanziger Jahre als dass sie einen ›neuen‹ christlichen Weg in der Literatur signalisiert hätten; und zudem waren sie, als wesentliche Vertreter dessen, was häufig unter dem Begriff der ›Inneren Emigration‹ subsumiert wird, auf vielfältige Weise verstrickt in die deutsche Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus.500 Dass sich eine dezidiert christliche Weltanschauung zu selten als 497 Vgl. Karl Gabriel: Die Katholiken in den 50er Jahren: Restauration, Modernisierung und beginnen-

de Auflösung eines konfessionellen Milieus. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hg. v. Axel Schildt und Arnold Sywottek. Aktualisierte Studienausgabe. Bonn 1998, S. 418-430. 498 Werner Ross: Christliche Literatur – ein Rückblick. In: Christliche Literatur im Aufbruch. Im Zeichen Gertrud von le Forts. Festschrift für Eugen Biser aus Anlaß seines 70. Geburtstages. Hg. v. Lothar Bossle und Joël Pottier. Würzburg 1988, S. 34-51, hier S. 50. 499 Daniel Hoffmann: Die Wiederkehr des Heiligen. Literatur und Religion zwischen den Weltkriegen. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S. 348. 500 Die wichtigsten Arbeiten zur Erforschung der Inneren Emigration stammen im Wesentlichen aus den siebziger Jahren. Neben der Monographie von Ralf Schnell (Literarische Innere Emigration. Stuttgart 1976) seien hervorgehoben: Charles W. Hoffmann: Opposition und innere Emigration: zwei Aspekte des »anderen Deutschlands«. In: Exil und innere Emigration II. Internationale Tagung in St. Louis. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl und Egon Schwarz. Frankfurt/M. 1973, S. 119-140; Eberhart Lämmert: Beherrschte Prosa. Poetische Lizenzen in Deutschland zwischen 1933 und 1945. In: Neue Rundschau 86 (1975), S. 404-421; Reinhold Grimm: Im Dickicht der inneren Emigration. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 406-426. Unter den neueren Arbeiten sei verwiesen auf die Sammelbände: Aspekte der künstlerischen inneren Emigration 1933-1945 (Hg. v. Claus-Peter Krohn u.a. München 1994) und Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933-1945 (Hg. v. Christiane Caemmerer und Walter Delabar. Opladen 1996) sowie auf die vorzügliche Mischung von Quellentexten und Kommentaren, die Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund vorgelegt haben: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ›verdeckten Schreibweise‹ im »Dritten Reich«. München 1999; problematisch ist dagegen die Arbeit von Friedrich Denk: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. Weilheim i. Ob. 1995.

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eine Position bewährt hat, von der aus Widerstand gegen die Hitler-Diktatur geleistet worden wäre, muss heute als unbestritten gelten, so vorsichtig und differenziert die Fragen von Kollektivschuld und Verantwortung auch zu behandeln sind. Abgewehrt werden können diese Fragen jedenfalls weder dadurch, dass man die christliche Literatur im Dritten Reich zu legitimieren sucht als »Quelle des Trostes und der Ermutigung für zahlreiche Menschen, die unter dem politischen Terror litten«501, noch durch den Anspruch der Betroffenen, ›menschlich intakt‹ geblieben zu sein (wie ihn etwa Elisabeth Langgässer für sich und Gertrud von le Fort erhob502) oder sich als ›Persönlichkeit bewahrt‹ zu haben (wie Frank Thieß in seiner Rechtfertigung der Inneren Emigration behauptet hat).503 Viele literarische Texte freilich gehen in einer rein politisch und ideologiekritisch geführten Diskussion nicht auf; so ungerecht es wäre, die Werke Bergengruens oder Gertrud von le Forts von vornherein unter das Verdikt von Eskapismus und Epigonentum zu stellen, so wenig erfolgreich kann es sein, die christliche Erzähltradition durch Invektiven gegen die ›Moderne‹ oder gegen die ›Linke‹ aufwerten zu wollen.504 Die folgenden Ausführungen gelten Novellen, die schon durch die Wahl des jeweiligen Themas als dezidiert christlich geprägte Erzähltexte verstanden werden wollen. Am Anfang steht die Beschäftigung mit Gertrud von le Fort, einer Autorin, die sich innerhalb der christlichen Erzähltradition schon deshalb als fester Bezugspunkt behauptet hat, weil sie bis ins höchste Alter literarisch tätig blieb und in der jungen Bundesrepublik – ausgezeichnet mit mehreren Staatspreisen, zwei Bundesverdienstkreuzen und einem Ehrendoktorat der Münchner Universität – zu den meistgeehrten Schriftstellerinnen gehörte.

501 Hans Jürgen Baden: Literatur und Bekehrung. Stuttgart 1968, S. 65. 502 Vgl. Elisabeth Langgässer an Karl und Susanne Thieme, 6.4.1946: »Schließlich bin ich doch – zu-

sammen mit Gertrud von Le Fort – eine der ganz wenigen Schriftstellerinnen von Format, die (schon allein meiner rassischen Verfolgung wegen) intakt geblieben sind?!«. In: Dies.: Briefe 19241950. Bd. 1. Hg. v. Elisabeth Hoffmann. Düsseldorf 1990, S. 541-546, hier S. 544. 503 So in seinem für die u.a. mit Thomas Mann geführte Kontroverse um die Innere Emigration wichtigen Artikel in der Münchner Zeitung vom 18.8.1945, wo es etwa heißt: »Ich glaube, es war schwerer, sich hier seine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden, welche die Tauben im Volke ohnedies nicht vernahmen, während wir Wissenden uns ihnen stets um einige Längen voraus fühlten«. In: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hg. v. J.F.G. Grosser. Hamburg 1963, S. 22-25, hier S. 25. 504 Letzteres ist ein Impuls, der in den wenigen wissenschaftlichen Beiträgen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zur christlichen Literatur erschienen sind, immer wieder durchschlägt – offenbar als aggressive Reaktion auf die eigene Marginalisierung. Vgl. z.B. das Vorwort von Joël Pottier zum bereits zitierten Band Christliche Literatur im Aufbruch (S. 9-11, hier S. 10), wo es über den französischen Autor Vladimir Volkoff heißt, dass seine Werke »ihm in einem vom geistigen Terrorismus freien Abendland den Nobelpreis hätten einbringen sollen. (Aber es ist bekannt, daß weder ein Paul Claudel, noch die seinerzeit zusammen mit Sigrid Undset von Hermann Hesse vorgeschlagene Gertrud von le Fort ihn erhalten haben; dafür selbstverständlich François Mauriac und Heinrich Böll)«.

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3.1. Gertrud von le Fort (1876-1971) Vielleicht ist es kein Zufall, dass Thomas Mann ausgerechnet in demjenigen seiner späten Texte, der am deutlichsten auf traditionell ›novellistische‹ Strukturelemente zurückgreift505, ein Porträt Gertrud von le Forts geliefert hat – indem er nämlich das Äußere seiner Heldin Rosalie von Tümmler in Die Betrogene nach einer aus der Zeitung ausgerissenen und zum Arbeitsmaterial gelegten Photographie der Autorin modellierte.506 Gattungsgeschichtliche Relevanz hatte das Werk Gertrud von le Forts jedenfalls längst erlangt, denn ihre erfolgreichste Novelle war bereits 1931 erschienen: Die Letzte am Schafott erzählt von 16 Karmeliterinnen, die 1794 der Guillotine zum Opfer fallen, und geht auf einen authentischen Stoff zurück – nur die Hauptfigur, die junge, von vielfältigen Ängsten und Zweifeln gequälte Novizin und spätere Klosterschwester Blanche de la Force, ist eine Erfindung der Autorin und mit dieser schon durch die Namensverwandtschaft verbunden. Formal orientiert sich Gertrud von le Fort an der Novellentradition des 19. Jahrhunderts, die sie souverän adaptiert. Der Stoff ist spektakulär und kann als ›unerhörte Begebenheit‹ gelten; der Begriff der ›Begebenheit‹ wird denn auch mehrfach im Text verwendet, um das Hauptgeschehen zu kennzeichnen.507 Die Figur des »petit Roi de Gloire«, eine Jesuspuppe aus Wachs, die dem Karmel vom französischen König geschenkt wurde, fungiert als ›Falke‹ im Heyseschen Sinn: Der jeweilige Zustand der Figur spiegelt den Verlauf der Handlung und ihre heilsgeschichtliche Aussage. An große Vorbilder erinnern auch die (rudimentäre) Rahmenhandlung und die Perspektivierung des Geschehens; erzählt wird aus der Sicht des Herrn von Villeroi, der das Geschehen in einem langen Brief an eine adlige Emigrantin schildert. Innerhalb des Textes wechseln erzählender Bericht, szenische Darstellung sowie Passagen, die durchaus einen allwissenden Erzähler suggerieren, miteinander ab – auch dieses Verfahren kann sich auf Muster aus dem 19. Jahrhundert berufen, etwa auf Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff. Auf dem Höhepunkt der Handlung – die Nonnen schreiten singend zum Schafott und Blanche, eigentlich in Sicherheit, führt aus der Menge heraus den Veni creator-Gesang weiter, bis sie gelyncht wird – erzeugt die gewählte Erzählperspektive einen originellen Effekt, wenn Villeroi zwar zum Zeugen, aber nicht zum Augenzeugen des Geschehens wird: Ich stand mitten im Gedränge des johlenden Pöbels […]. Sie wissen, daß ich nicht von großer Statur bin: ich stand buchstäblich bis zur Scheitelhöhe im Chaos, mein Gesicht schon gleichsam in ihm versunken; ich konnte tatsächlich nicht sehen, was vorging, ich 505 Vgl. Hugo Aust: »Wat et nit all jibt!« Thomas Manns Die Betrogene oder: Zur Lage der Novelle in der

Adenauerzeit. In: man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann – Deutscher, Europäer, Weltbürger. Hg. v. Michael Braun und Birgit Lermen. Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2003, S. 225-240. 506 Photographie und literarische Beschreibung finden sich in instruktiver Gegenüberstellung in dem wichtigen Buch: Bild und Text bei Thomas Mann. Eine Dokumentation. Hg. v. Hans Wysling unter Mitarbeit v. Yvonne Schmidlin. Bern, Stuttgart 21989, S. 428f. 507 Vgl. Gertrud von le Fort: Die Letzte am Schafott. Novelle. Stuttgart 1985 (=RUB 7937), S. 30, 32.

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konnte nur noch hören. Verstehen Sie, meine Freundin, daß alle Wahrnehmungskraft, die in mir war, in diesen einen Sinn flüchtend, fast zur übersinnlichen Wahrnehmung werden mußte.508

Eine neuere Interpretin entdeckt in der Verknüpfung des blutigen Handlungshöhepunkts mit der Bemerkung zu Villerois geringer Körpergröße eine »Ironie zum Zweck der möglichen Verarbeitung des Grausamen«509, aber damit trifft sie nur einen Nebenaspekt. Das einprägsame Bild zielt weniger auf die angebliche »Lächerlichkeit von Villerois kleiner Statur«510, als auf die überirdische Klarheit und Heilsgewissheit des Gesangs einerseits und den buchstäblichen Verlust von Sicht und Übersicht andererseits. Die momentane Einbuße des Sehsinns macht die Nähe Gottes erfahrbar, signalisiert aber zugleich auch die Bedrohung des Individuums durch die Masse und das Chaos, von der in diesem Text so oft die Rede ist. »Ah, das Chaos ist eine fürchterliche Parodie auf die Gleichheit aller! Im Chaos hat man kein eigenes Antlitz«, hieß es wenige Seiten zuvor.511 ›Masse‹ ist in dieser Novelle immer negativ konnotiert512 – die Gegenüberstellung von Masse und Individuum markiert die zentrale Dichotomie des Textes. An den Pol der Masse werden alle negativen Eigenschaften – Brutalität, Anarchie, Respektlosigkeit, Gottlosigkeit, Panik und Triebhaftigkeit – gebunden, auf der Seite des Individuums stehen Kultiviertheit, Ehrfurcht, Frömmigkeit, Sicherheitsgefühl und Selbstbeherrschung.513 Schon der Anfang des Textes, noch in vorrevolutionärer Zeit, schildert die verheerenden Folgen eines »plötzlichen Angstausbruchs der Massen«, in dessen Folge die ursprünglich »frohen loyalen Bürger und Bürgerinnen« sich in »ein einziges, wildes, von seiner eigenen Todesangst erdrücktes, massenhaftes menschliches Ungeheuer« verwandeln: »das unter der scheinbar so festen Decke der Gewohnheit hervorgebrochene, ewig im Untergrund der Dinge schlummernde Chaos«.514 Solche Wertungen lassen Gertrud von le Forts Novelle zu einem Text werden, dem die zeittypischen Denkmuster der zwanziger Jahre überdeutlich eingeschrieben sind; diese reichen von der Abneigung gegen die Masse über die Kontingenzerfahrung (»die erschreckende Unübersichtlichkeit des Lebens«515) bis zu den Angstzuständen, unter denen die junge Blanche leidet und die schon in einer frühen Phase der Rezeption existentialontologisch gedeutet 508 Ebd., S. 71f. 509 Sabine Cramer: Gertrud von Le [!] Fort: Die Letzte am Schafott. In: Neues zu Altem. Novellen der

510 511 512 513

514 515

Vergangenheit und der Gegenwart. Hg. v. Sabine Cramer. München 1996 (= Houston German Studies, 10), S. 131-143, hier S. 137. Ebd. Le Fort: Die Letzte am Schafott, S. 66. » […] der Anblick der Masse ist für den einzelnen stets etwas Peinliches«, heißt es einmal, vgl. ebd., S. 9. Auf die große Rolle, die die Gegensätzlichkeit als »ein die gesamte Erzählung prägendes Stilprinzip« spielt, hat Gisbert Kranz schon 1959 hingewiesen – allerdings in durchaus affirmativem Sinn, da er selbst in dichotomen Strukturen denkt. Vgl. Gisbert Kranz: Gertrud von le Fort als Künstlerin. Gezeigt an der Novelle Die Letzte am Schafott. Paderborn 1959, S. 5. Le Fort: Die Letzte am Schafott, S. 8. Ebd., S. 15.

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wurden, als Ausdruck der Existenzangst im Sinne Heideggers.516 Auf solche Aspekte freilich sprachen auch in den fünfziger Jahren noch viele Leser besonders an – die Wirkungsgeschichte von Die Letzte am Schafott ist sehr gut geeignet, mentalitätsgeschichtliche Kontinuitäten von den zwanziger und frühen dreißiger Jahren bis zum Ende der fünfziger zu demonstrieren. Allein der Münchner Ehrenwirth-Verlag druckte zwischen 1949 und 1959 achtzehn Auflagen des Textes, in den Schulen ist die Novelle zu dieser Zeit fester Bestandteil des Kanons, und die internationale Wirkung wird verstärkt durch die Dramatisierung, die George Bernanos 1949 unter dem Titel Dialogues des Carmélites vornimmt (und die Francis Poulenc 1956 vertont). Auch in ihren Nachkriegswerken bevorzugt Gertrud von le Fort historische Stoffe; einer eigenen Aussage zufolge empfand sie »das Historische nie als eine Flucht aus der eigenen Zeit […], sondern als den Abstand, von dem aus man die eigene Zeit schärfer erkennt, so wie man die charakteristischen Linien eines Gebirges nur aus einiger Entfernung wahrnimmt«.517 Dieser Anspruch, die eigene Gegenwart im Medium des historischen Erzählens zu reflektieren, ist im 20. Jahrhundert ein typisches Legitimationsmuster der historischen Prosa, sofern sie nicht rein unterhaltend sein will; auch Heinrich Mann, Stefan Zweig oder Lion Feuchtwanger518 haben den historischen Roman mit ähnlichen Argumenten verteidigt. Meist stützen sich die Autoren dabei auf ein zyklisches Geschichtsbild, das die Wiederholungsstruktur historischer Prozesse voraussetzt und für das »der Mensch als solcher […] sich im wesentlichen immer gleich«519 bleibt; auf der Hand liegt die Gefahr einer »reduktionistischen, psychologisierenden und moralisierenden Grundhaltung, die sich nicht um die vielfältige gesellschaftliche Gebundenheit menschlichen Denkens und Handelns kümmert«.520 Wo sie auf den historischen Stoff verzichtet, thematisiert Gertrud von le Fort in ihren späteren Erzählungen auch den Nationalsozialismus bis hin zu Judenmord und Kriegsverbrechen, etwa in Das fremde Kind (1961). Ihre literarischen Erklärungsversuche decken sich jedoch weitgehend mit den Kernaussagen ihrer 1949 erschienenen Rechtfertigungsschrift Unser Weg durch die Nacht. Worte an meine Schweizer Freunde und bleiben einem konservativ grundierten Denken verhaftet, das sich so oder ähnlich auch bei anderen Vertretern der Inneren Emigration findet521: Der Nationalsozialismus wird als »unbegreifliche[r] Zauber«522 und »aus den Urgründen des Seins« em516 Vgl. z.B. Alfred Focke: Gertrud von le Fort. Gesamtschau und Grundlagen ihrer Dichtung. Graz,

Wien, Köln 1960, bes. S. 191-195. 517 Gertrud von le Fort: Autobiographische Skizzen. In: Woran ich glaube und andere Aufsätze. Zürich

1968, S. 70-81, hier S. 78.

518 Vgl. etwa Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans [1935]. Jetzt in:

Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/M. 1984, S. 494-501. 519 Gertrud von le Fort: Über den historischen Roman. In: Woran ich glaube und andere Aufsätze.

Zürich 1968, S. 99-102, hier S. 101.

520 Kittstein: »Mit Geschichte will man etwas«, S. 247. 521 Vgl. Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte, hier S. 216-220. 522 Gertrud von le Fort: Das fremde Kind. Erzählung. Frankfurt/M. 1961, S. 63.

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porgestiegene Gewalt523 mythisiert oder als »Rausch der Charakterlosigkeit«524 verächtlich gemacht, dem man mit dem »Bekenntnis zu Form und Haltung«525 oder mit ›aufrechter‹ Humanität begegnen könne. Während religiöse Fragen in der Prosa vieler Zeitgenossen eine immer geringere Rolle spielten, stellte Gertrud von le Fort sie zeitlebens in den Mittelpunkt ihrer Werke, oft in Verbindung mit Fragen nach der Rolle der Frau in Kirche und Gesellschaft. Viele Positionen, die die Autorin in diesem Kontext einnimmt, sind heute kaum mehr zu vermitteln. Als Beispiel seien die innerchristlichen Sophismen genannt, die etwa ein zentrales Problem in der Erzählung Die Tochter Farinatas erst beschreibbar machen: Der Florentiner Adlige Farinata ist im Kirchenbann gestorben; nach katholischer Lehre bedeutet das ewige Verdammnis. Unter dieser Vorstellung leidet seine Witwe so sehr, dass sie zu den Patarenern übertritt, die kein Leben nach dem Tode gelten lassen.526 Die beruhigende Wirkung, die sie sich versprochen hat, bleibt allerdings aus. Dafür wird das theologische Problem einer weiteren Scheinlösung zugeführt: Die Seele seiner verstorbenen Mutter, so zumindest die legendenhafte Überlieferung, die der Text fingiert, folgt Farinata in die Hölle und bewacht dort seinen »glühenden Schlaf«: »Dante Alighieri, als er Farinata daselbst erblickte, soll auch sie erblickt haben, er hat nur nicht aufzuschreiben gewagt, daß es eine Seele in der Hölle gibt, die aus Liebe hineingegangen ist«.527 Mutterliebe kann so zumindest symbolisch heilen, was orthodoxe Lehre an Leid verursacht. Solche Verklärungen weiblicher Opfer- und Liebesfähigkeit finden sich in le Forts belletristischen wie theoretischen Schriften zuhauf; zwar unterscheidet sie durchaus zwischen dem biologischen Geschlecht und einer geschlechtlich kodierten Haltung: »Auch der Mann tritt, wenn er betet, gleichsam auf die Linie der Frau: Gott gegenüber steht der Mensch immer in der weiblichen Haltung«528, lautet eine ihrer zentralen, oft wiederholten und variierten Überzeugungen. Doch letztlich bleibt sie an traditionalistische Vorstellungen von ›typisch weiblicher‹ Passivität, Barmherzigkeit, Selbsthingabe und Mütterlichkeit gebunden, die zwar den privilegierten Zugang der Frau zu Gott verbürgen sollen, aber keine gesellschaftlichen Implikationen haben – nicht einmal in Bezug auf weibliches Priestertum, das le Fort ausschließt.529 Ebd., S. 68. Ebd., S. 65. Ebd., S. 70. Vgl. Gertrud von le Fort: Die Tochter Farinatas. In: Diers.: Die Tochter Farinatas. Vier Erzählungen. Wiesbaden 1950, S. 5-78, hier S. 15. 527 Ebd., S. 19. 528 Gertrud von le Fort: Das Gebet der Frauenseele. In: Dies.: Woran ich glaube und andere Aufsätze. Zürich 1968, S. 43-59, hier S. 49. 529 Vgl. zu le Forts Weiblichkeitskonzept Sabine Düren: Die Frau im Spannungsfeld von Emanzipation und Glaube. Eine Untersuchung zu theologisch-anthropologischen Aussagen über das Wesen der Frau in der deutschsprachigen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Edith Stein, Sigrid Undset, Gertrud von le Fort und Ilse von Stach. Regensburg 1998; Joël Pottier: Die »weiblichen Werte« des Christentums. Versuch eines Vergleichs zwischen Paul Claudel, Georges Bernanos und Gertrud von le Fort. In: Wandel und Kontinuum. Festschrift 523 524 525 526

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Allerdings neigen die gängigen Interpretationen auch dazu, Bruchstellen zu überdecken, statt sie als Ausdruck der diskursiven Gewalt zu erkennen, mittels derer Gertrud von le Fort ihre eigene Existenz – als intellektuelle, akademisch gebildete, unverheiratete, berufstätige und kinderlose Frau – zu traditionellen Weiblichkeitsentwürfen in Beziehung zu setzen. Kritische Leser etwa werden in der Novelle Der Turm der Beständigkeit ein geradezu modellhaftes gender crossing erkennen, wenn dem emotionalen, leicht zu rührenden, von Mätressengunst abhängigen und konfliktscheuen Prinzen von Beauvau eine trotz Alter und Krankheit ungebrochene, starke, kompromisslose Häretikerin gegenübergestellt wird (die allerdings nicht zufällig Protestantin sein dürfte). Solche spannungsvollen Konstellationen bleiben bestehen, auch wenn die Novelle am Schluss eine komplizierte Schuld-Sühne-Vorstellung entwickelt, mittels derer die vorangegangenen Konflikte in der »unendlichen Liebe«530 Gottes aufgehoben werden sollen. Unter den vier ausdrücklich als ›Novelle‹ bezeichneten Texten, die Gertrud von le Fort nach 1945 vorgelegt hat – Am Tor des Himmels (1954), Die Frau des Pilatus (1955), Der Turm der Beständigkeit (1957) und Die letzte Begegnung (1959) – ist die zuerst erschienene die zweifellos interessanteste. Die Autorin nutzt traditionelle Elemente der Novellenform, um innerhalb dieser weitgehend konservativ konnotierten Gattung eine umso deutlichere Kritik der ›modernen‹ Entwicklung zu leisten – inhaltliche Aussage und formale Struktur erweisen sich somit als hochgradig adäquat und verstärken sich gegenseitig. Das wird besonders deutlich an dem Verhältnis von Rahmenhandlung und Binnenerzählung. Die Rahmenhandlung beginnt mit der schon in der Novellentradition des 19. Jahrhunderts topisch gewordenen Berufung auf ein authentisches Dokument: In dem Familienarchiv meiner mütterlichen Verwandtschaft befand sich ein merkwürdiges altes Dokument, von dem niemand wußte, wie es eigentlich dorthin gekommen war und in welchem Zusammenhang es mit der Familie stand. Denn aus deren sehr sorgfältig geführten Annalen ergab sich nirgends, daß eines ihrer Mitglieder im siebzehnten Jahrhundert in Italien Astronomie und Naturwissenschaft studiert hatte, und auf jene Zeit, jenes Land und jenes Studium deutete die Entstehung des Dokumentes zurück. Man nannte es in der Familie mit reichlich angestrengter Phantasie das »Galileische Dokument«, obwohl auch nach der Richtung dieses Namens hin keinerlei Anhaltspunkte bestanden. Gewiß war nur, der Inhalt kreiste um ein typisches Gelehrtenschicksal jener Tage.531

Diese Exposition verbürgt sich einerseits für die authentischen Grundlagen des Erzählten, betont – ganz der Tradition der Chroniknovelle entsprechend – das ›Merkwürdige‹ des Dokuments, spielt auf die historische Bezugsgröße Galilei an und stellt doch von vornherein klar, dass es nicht um eine genaue Identifizierung des Geschilderten mit historischen Tatsachen gehen kann. für Walter Falk zum 65. Geburtstag. Hg. v. Helmut Bernsmeier und Hans-Peter Ziegler. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1992, S. 145-163. 530 Gertrud von le Fort: Der Turm der Beständigkeit. Novelle. Wiesbaden 1957, S. 61. 531 Dies.: Am Tor des Himmels. Novelle. Wiesbaden 1954, S. 5.

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Die folgenden Abschnitte führen unmittelbar in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Die Ich-Erzählerin wird von ihrer Cousine beauftragt, »die wichtigsten Urkunden ihres Familienarchivs aus dem alten Stadthaus, wo man sie verwahrte, abzuholen, um sie vor den dort drohenden Gefahren des Krieges in Sicherheit zu bringen«. Sie kommt dieser Bitte trotz der drohenden Fliegerangriffe nach; denn es gehöre »nun einmal zur menschlichen Natur, daß man sich das Unerhörte zwar theoretisch, aber doch nicht wirklich vorstellen kann«.532 Am Tor des Himmels ist auch eine Erzählung vom Luftkrieg; wenn W.G. Sebald in einem vieldiskutierten Essay behaupten konnte, die deutsche Nachkriegsliteratur zeichne sich durch das »nahezu gänzliche Fehlen«533 der Luftkriegsthematik aus, so liegt das nicht zuletzt daran, dass Sebald dezidierte, fast normative Vorstellungen davon vertritt, wie deren literarische Verarbeitung auszusehen habe – und es daher für angemessen hält, den Text einer in ihrer Zeit hoch anerkannten Autorin wie Gertrud von le Fort zu ignorieren.534 In der auf die Bombenangriffe vorbereiteten Stadt angekommen, trifft die IchErzählerin einen entfernten Verwandten. Dieser »hatte den Doktor der Naturwissenschaften mit Auszeichnung gemacht und bisher im Laboratorium eines Rüstungsbetriebes der Stadt Dienst getan, stand aber jetzt unmittelbar vor dem Abtransport an die Front«. Zuvor hat er allerdings schon eine Sichtung der Familiendokumente vorgenommen, um sie der Ich-Erzählerin auszuhändigen. Diese artikuliert im Rückblick deutliche Vorbehalte gegenüber dem jungen Verwandten: Um es gleich vorweg zu sagen: er war mir nicht sympathisch. Schon seine Art sich auszudrücken, dieser reichlich burschikose Jargon einer Jugend, die ihre eigene Sprache noch nicht gefunden hat, fiel mir etwas auf die Nerven. Ich fühlte diesem jungen selbstbewußten Menschen gegenüber eine eigentümliche, mir sonst fremde Befangenheit, so als habe sich da plötzlich das natürliche Verhältnis der Generationen zueinander umgekehrt und ich, die soviel Ältere, sei in Wirklichkeit die Unerfahrene, nicht ganz Urteilsfähige, mit einem Wort, ich kam mir in seiner Gegenwart merkwürdig rückständig und überholt, gleichzeitig aber auch – seltsamer Widerspruch – ein wenig unreif vor, so als stünden zwischen uns Erfahrungen, von denen ich mir nicht das Geringste träumen ließ.535

Das sogenannte Galilei-Dokument weckt die Neugier des jungen Naturwissenschaftlers. Dass die Ich-Erzählerin es selbst nie gelesen hat, initiiert die Binnenerzählung: »Kennen Sie es?« fragte er, immer noch ohne aufzusehen in den Seiten blätternd. Und als ich dies verneinte, meinte er, sichtlich erfreut: »Nun, dann wird es aber höchste Zeit.«

532 Ebd., S. 6f. 533 W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt/M. 32002,

S. 19. 534 Vgl. zur Kritik an Sebalds These z.B. Ursula Heukenkamp: Gestörte Erinnerung. Erzählungen vom

Luftkrieg. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Internationale Konferenz vom 01.-04.09.1999 in Berlin. Hg. v. U.H. Amsterdam, Atlanta, GA 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50). Bd. 2, S. 469-492. 535 Le Fort: Am Tor des Himmels, S. 9.

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Damit schlug er den Anfang des Dokumentes auf und begann mir vorzulesen, was ich hier nacherzähle – denn die Blätter selbst ereilte bald ihr Schicksal.536

In bemerkenswerter Abbreviatur enthalten diese wenigen Seiten der Novelle ein ganzes Bezugs- und Legitimationssystem, das von hoher Signifikanz nicht nur für das Selbstverständnis der Autorin, sondern für die Selbstsicht einer ganzen Generation und eines bestimmten Milieus in den fünfziger Jahren ist. Ein diskursiver Strang fokussiert die Entwicklung der Naturwissenschaften: ›Galilei‹ steht für den Beginn ihrer Emanzipation, der junge Rüstungsforscher für den gegenwärtigen Stand und die destruktiven Folgen ihrer Dominanz. Der zweite ist auf ein Generationenproblem gerichtet: Die ältere Generation steht der jüngeren mit Distanz gegenüber, delegiert letztlich die Verantwortung für fatale Entwicklungen an eine Jugend, die anders denkt, aber in ihrem Selbstbewusstsein die Kraft hat, die Älteren zu verunsichern. Der dritte betrifft die Frage von Geschichte und Überlieferung: Die Familiendokumente, so die zukunftsgewisse Vorausdeutung vor Beginn der Binnenerzählung, werden in der Bombennacht zerstört werden; als oral history überleben sie den Krieg und müssen, was ihre Materialität betrifft, rekonstruiert, also ›wiederaufgebaut‹ werden – innerhalb einer Textgattung, in der simulierte Oralität schon immer eine große Rolle gespielt hat. Die Binnenerzählung illustriert die Auseinanderentwicklung von religiösem und naturwissenschaftlichem Weltbild im Zeitalter Galileis: »Zwei Tore, die bisher einander offen standen, schlossen sich, zwei Geistesräume bebten auseinander«.537 Die junge Diana nimmt das neue Weltbild vor allem unter dem Aspekt des Verlusts wahr: »Wir haben keinen Gott mehr, der sich um uns kümmert, wir haben nur noch uns selbst!«538 Ein junger Anhänger Galileis betont den Gewinn: Und nun stieg beinahe sturmhaft aus dem Zusammenbruch meines bisherigen Lebens ein neuer Mensch in mir auf, für den es keine Bindungen mehr gab, sondern nur noch das Gesetz der freien Forschung, ohne jenseitigen Rückhalt – einzig was die Wissenschaft beweisen konnte, würde für mich gelten. Das geistige Haus, das ich bisher bewohnt hatte, war mir zertrümmert worden, aber ich würde mir und der Menschheit ein neues Haus bauen, ein kühnes herrliches Haus in Freiheit und Wahrheit!539

Es bleibt der Rahmenhandlung überlassen, diese Utopie zu destruieren; die Hausmetapher wird mit den brennenden Häusern der Bombennacht kontrastiert. Die Protagonisten überstehen den Angriff, die Papiere nicht – das ›Galileische Dokument‹, das sie noch an sich gepresst hatte, wirft die Ich-Erzählerin selbst in die Flammen, weil es ihr wertlos erscheint angesichts des Zusammenbruchs von allem, was ihrem Leben »bisher Sinn und Halt« gegeben habe: Ich fühlte mich seltsam arm und bloß, zunichte geworden in dem, was ich als das immer Gültige geglaubt: Menschlichkeit und Christlichkeit, Vornehmheit und Kultur, Stand und 536 537 538 539

Ebd., S. 11. Ebd., S. 69. Ebd., S. 18. Ebd., S. 73.

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Tradition, sie alle waren plötzlich wie nie gewesen, oder wenn sie je gewesen waren, endgültig ihrer Bedeutung entkleidet, vorüber, und mit ihnen Sinn und Aufgabe meines bisher so zuversichtlich gelebten Daseins. Meine eigene Zeit war untergegangen. Wohin gehörte ich nun?540

Die Rückkehr aufs Land zeigt das unterschiedliche Bewusstsein derer, die die Bombennacht erlebt haben, und derer, die verschont blieben: »Meine Cousine Marianne […] hatte kein Verständnis für mich – sie war ja eben nicht durch diese Bombennacht gegangen«. Es ist Marianne, die sowohl »vom Wiederaufbau des Zerstörten und von tausend beglückenden Neuanschaffungen«541 träumt, als auch die Rekonstruktion der verlorenen Dokumente betreibt. Dazu lädt sie umgehend den jungen Verwandten ein: Dieser »war nach dem inzwischen erfolgten Zusammenbruch der deutschen Front zu unserm größten Erstaunen nicht, wie Mariannes Gatte, in Gefangenschaft geraten, sondern hatte ein günstiges Angebot nach Übersee erhalten, das ihm die sofortige Weiterführung seiner wissenschaftlichen Forschungen sicherte«. Rasch wird deutlich, dass es um die Atombombe geht: »Hiroshima wird bald überholt sein«.542 Auch in der Wissenschaft geht es nicht mehr, wie zu Galileis Zeit, um die Wahrheit; der Fortschritt hat eine Eigendynamik entfaltet: »Die Entwicklung geht auf jeden Fall weiter, niemand ist mehr in der Lage, sie aufzuhalten«.543 Der Schluss der Novelle wirft noch einmal die Gottesfrage auf. Sicherlich ist der Text so angelegt, dass die Notwendigkeit Gottes vom Leser bejaht werden soll, möglicherweise – wie Johannes Klein vermutet hat – im Sinne eines katholischen Existentialismus, der den Gläubigen in eine »spezifisch glaubenslose Menschheit« hineinstellt und so in »äußerste Gefährdung« bringt.544 Die am Ende gestellte Frage jedenfalls ist nicht nur rhetorisch, sondern signalisiert auch tatsächliche Ratlosigkeit und Zweifel: »Wir standen im Grunde vor der gleichen Entscheidung. Wie würde sie ausfallen?«545 Mag man die Fokussierung der Gottesfrage als typisch für die Autorin empfinden, so verweist der unmittelbare Kontext auf zwei zentrale Themenkomplexe, die für den intellektuellen Diskurs der fünfziger Jahre insgesamt wichtig sind: auf eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem Modernisierungsprozess und auf den Protest gegen die atomare Rüstung. Letzterer vereinte nicht nur so unterschiedliche Autoren wie Reinhold Schneider und Hans Henny Jahnn, sondern markierte in den fünfziger Jahren generell einen Schnittpunkt divergentester intellektueller Milieus: 1958 etwa unterzeichnete auch Gertrud von le Fort einen Aufruf Gegen die atomare Bewaffnung und firmierte dabei in einer Reihe unter anderem mit Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Erich Kästner, Hans Werner Richter, Peter Rühmkorf und Martin Walser.546 Auch literarische Bezugspunkte lagen nahe: Bertolt Brecht hatte sein 540 541 542 543 544 545 546

Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 611. Le Fort: Am Tor des Himmels, S. 87. Vgl. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 121f.

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1938/39 im dänischen Exil begonnenes Schauspiel vom Leben des Galilei bereits 1945-47 überarbeitet und es 1955/56, fast parallel zu le Forts Novelle, noch einmal vorgenommen; ebenso wie Max Brod in seinem Roman Galilei in Gefangenschaft (Winterthur 1948), Gottfried Benn in Der Ptolemäer und Wolfgang Koeppen in einer Episode von Tauben im Gras547 führte er seine individuelle Auseinandersetzung mit dem Prozess der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung über die Thematisierung des kopernikanischen Weltbildes. Le Fort selbst hat in der Konjunktur des Stoffes einen Beleg für die Berechtigung historischer Dichtung gesehen: Wenn Max Brod, Bert Brecht und meine eigene Novelle Am Tor des Himmels völlig unabhängig voneinander den gleichen Stoff aus der Vergangenheit empor hoben, so heißt dies doch, daß die Wurzeln ganz bestimmter heutiger Schicksale in der Vergangenheit liegen und in der Konsequenz ihrer Bedeutung erst im Blick über die Jahrhunderte hinweg verständlich sind. Von hier aus kann der Dichter den geheimnisvollen Auftrag empfangen, mit einer Vergangenheit fertig zu werden, mit der die eigene Generation seinerzeit nicht fertig wurde.548

Ein direkter Vergleich von le Forts und Brechts Bearbeitung des Galilei-Stoffs kann übrigens erstaunliche Parallelen aufzeigen. Dass beide einen Bogen von Galilei zur Atomphysik schlagen, lässt sich zunächst aus einer gängigen Sicht auf die Entwicklung der Neuzeit erklären; bis heute werden »Modernisierungsprozesse als Kettenreaktionen«549 gedeutet, die sich in Europa von der Revolutionierung des Weltbildes bei Kopernikus, Kepler und Galilei über die Aufklärung bis zur Industriellen Revolution und darüber hinaus fortsetzen und eine beträchtliche Eigendynamik entwickeln. Doch die Übereinstimmung zwischen der Katholikin und dem Kommunisten erstreckt sich auch auf die massive Kritik an einer bindungslos gewordenen Wissenschaft, deren destruktives Potential sich mit beinahe teleologischer Konsequenz entfaltet habe – eine Sicht, in der die Atombombe als »letzte Frucht der Bewegungsgesetze des Galilei«550 erscheint. Le Forts katholischer Existentialismus und Brechts marxistisch geprägtes Wissenschaftsverständnis551 münden in den gleichen ambivalenten Schrei, der in le Forts Binnengeschichte schon beim Blick durchs Teleskop ertönt und in Brechts Leben des Galilei zumindest prognostiziert wird: »Plötzlich 547 Für den schlafsüchtigen Schnakenbach hat die moderne Entwicklung das »Weltbild der klassischen

548 549 550 551

Physik« schon wieder so weit überholt, dass sein Verlust den Schock wiederholt, den einst der des ptolemäischen Weltbildes ausgelöst hat. Vgl. Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/M. 1986, S. 7-219, hier S. 203. Le Fort: Über den historischen Roman, S. 102. Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001, S. 50. Vgl. auch ebd. das Kapitel Die Kettenreaktionen der Revolutionen der Neuzeit, S. 49-115. Bertolt Brecht: Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei. In: Ders.: Schriften 5. Berlin, Weimar, Frankfurt/M 1994 (= GBA, 25), S. 7-69, hier S. 22. Vgl. dazu Ulrich Sautter: »Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über Logik verwandeln möchte.« Der logische Empirismus Bertolt Brechts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 687-709.

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schrie Diana auf – war es ein Schrei des Entzückens oder des Entsetzens?«552 heißt es in der Novelle, und in Galileis Schlussrede wird der »Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft« mit dem »universalen Entsetzensschrei«553 der Menschheit kontrastiert. Brechts Utopie, einen »hippokratischen Eid« für Wissenschaftler zu etablieren, »das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohl der Menschheit anzuwenden«, ist ebenso Ausdruck geringer Kontingenztoleranz wie le Forts Insistieren auf der Gottesfrage – postmodernistisch überspitzt hat ein Theaterkritiker der frühen neunziger Jahre vermerkt, »daß es heute lächerlich wäre, einen hippokratischen Eid der Forschung zu fordern, weil niemand mehr weiß, was ›das Wohl der Menschheit‹ heißen soll«.554 Anders gewendet, könnte man sagen, dass kaum ein Text Bertolt Brechts so sehr die schon 1963 von Kurt Lothar Tank vorgebrachte These von Brecht als einem »verhinderten Christen«555 bestätigen kann wie sein Galilei-Schauspiel, und das insbesondere im Vergleich mit Gertrud von le Forts motivlich verwandter Novelle. Dass es auch erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Texten gibt, liegt auf der Hand. Bei aller literarisch-ästhetischen Überlegenheit Brechts, der mit dem Leben des Galilei ein Musterstück seines epischen Theaters geschaffen hat, kann Gertrud von le Fort allerdings unter bestimmten Gesichtspunkten durchaus bestehen. Überzeugend ist etwa die konzeptionelle Lösung, die sie für den Stoff gefunden hat: Indem sie ihr Thema in Rahmen- und Binnengeschichte auf zwei Zeitebenen angeht und damit das 17. Jahrhundert mit den Anfängen des naturwissenschaftlichen Denkens deutlich abhebt von den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs und der Angst vor dem atomaren Konflikt, braucht sie die beiden Etappen eines keineswegs bruchlos verlaufenden Prozesses nicht so rigoros zusammenzuzwingen wie Brecht – es bleibt den Figuren der Rahmenhandlung und letztlich dem Leser überlassen, Bezüge zwischen beiden Entwicklungsstufen herzustellen, die bei Brecht als eindeutig vorgegeben sind. Eine distanziertere Perspektive auf Galilei kann le Fort schon deshalb entwickeln, weil er bei ihr nicht im Mittelpunkt steht. Brecht hatte zwar ausdrücklich die Intention, seinen Galilei als ambivalente Figur darzustellen und dem Publikum »ein sympathisierendes Sicheinfühlen und Mitgehen« zu verweigern; ihn »als ein Phänomen wie etwa Richard III.« darzustellen ist ihm allerdings nicht gelungen. Die Figur ist zu präsent, zu positiv, fordert letztlich doch zur zumindest partiellen Identifikation auf; das war und ist der Rezeption des Stücks wahrscheinlich sogar förderlich, muss aber als Diskrepanz von Theorie und Praxis des Epischen Theaters benannt werden. Problematisch ist zudem Brechts Ausgangsposition, »aus dem Gelehrten einen Mann zu machen« – im emphatischen Sinn, weil dem Gelehrten »im Mund der Volkes 552 Le Fort: Am Tor des Himmels, S. 16. 553 Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Schauspiel. [Fassung 1955/56]. In: Ders.: Stücke 5. Frankfurt/M.

1988 (= GBA, 5), S. 187-289, hier S. 284.

554 Gerhard Preußer: Ein Mann für alle Fälle. Neuanfang am Schauspiel Dortmund mit Galileo Galilei

und Lysistrata. In: Theater heute 1992, Heft 12, S. 30-32, hier S. 31. 555 Kurt Lothar Tank: Brecht für verrottete Christen? In: Theater heute 1963, Heft 9, S. 1f., hier S. 1.

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etwas Lächerliches« anhafte, er etwas vom »›Abgerichteten‹, etwas Passives« habe und als »impotente, blutleere, verschrobene Figur« gelte556; was Brecht als kritische Korrektur eines allenfalls in der frühen Neuzeit gültigen Gelehrtenklischees versteht, bestätigt in seinem Galilei-Stück allerdings nur die eindeutig ›männliche‹ Codierung des naturwissenschaftlichen Diskurses, wie sie spätestens seit dem 19. Jahrhundert etabliert war. Schließlich kann die Tatsache, dass es »bei Brecht um den Menschen und die Gesellschafts-Ordnung, bei der le Fort um den Menschen und die Beziehung zu Gott geht«557, aus rein stoffgeschichtlicher Perspektive zugunsten von le Fort sprechen: Dass Brecht Fragen von Politik und Herrschaft, Kapitalismus und Moral mit der Galilei-Handlung verknüpft, bewirkt zwar die von vielen Interpreten hervorgehobene »unveränderte Aktualität« seines Stücks558, überfordert aber auch den geschichtlichen Stoff. Demgegenüber ist le Forts viel enger fokussierter Ansatz mit der historischen Konstellation der Galilei-Zeit besser zu vereinbaren, waren es doch die theologischen Implikationen, die den Horizont der Auseinandersetzung im 17. Jahrhundert bestimmten. Galileis Lehre auf ein massenwirksames, protorevolutionäres Handlungsprogramm zuzuspitzen – wie Brecht es etwa in der Jahrmarktszene tut559 – entspricht dagegen zwar dem ideologischen Standort des Autors, aber in keiner Weise der historischen Realität.560 Dadurch werden Einwände gegen den ästhetischen Rang von le Forts Novelle nicht gegenstandslos; auch bei diesem späten Werk der immerhin fast achtzigjährigen Autorin können ihre Neigung zu einem pauschal hohen, altmodisch-pathetischen Ton und ein Übermaß an religiöser, erzählerisch schwach integrierter Reflexion befremden.561 Trotzdem ist Am Tor des Himmels ein Text, der bei allem ästhetischen Traditionalismus und gerade in der vergleichenden Lektüre mit Brechts Leben des Galilei Bestand hat und das intellektuelle Klima der frühen fünfziger Jahre genauso gut erfahrbar macht – gerade dort, wo sich erstaunliche Gemeinsamkeiten jenseits der hergebrachten dichotomischen Unterscheidung von ›links‹ und ›rechts‹ ergeben.

556 Brecht: Aufbau einer Rolle, S. 21. 557 Johannes Klein: Ein Thema – zwei Variationen. Galilei bei Bertolt Brecht und Gertrud von le Fort.

In: Welt und Wort 12 (1957), S. 231-234, hier S. 233.

558 Rainer E. Zimmermann: Leben des Galilei. In: Brecht Handbuch. Bd. 1. Stücke. Hg. v. Jan Knopf.

Stuttgart, Weimar 2001, S. 357-379, hier S. 360. 559 Vgl. Brecht: Leben des Galilei, S. 259-262. 560 Vgl. Richard van Dülmen: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa. 1550-1648. Frankfurt/M.

1982 (= Fischer Weltgeschichte, 24), S. 306. 561 Ein Beispiel für eine wenig überzeugende religiöse Zuspitzung: Kurz vor dem Bombenangriff ruft

der junge Naturwissenschaftler angesichts der charakteristischen Lichtpyramiden aus: »Jetzt aber schnell in den Keller, Christbäume bringen den Tod!« Danach heißt es: »Er ergriff mich bei der Hand und riß mich förmlich ins Haus zurück. ›Christbäume bringen den Tod,‹, wiederholte ich taumelnd, ›Christbäume? Welche Blasphemie!‹« (Le Fort: Am Tor der Himmels, S. 75f.) – die Dramatik des Vorgangs wird der nachgeschoben wirkenden theologischen Implikation geopfert.

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3.2. Werner Bergengruen (1892-1964; II) Unter den zahlreichen Parallelen zwischen Gertrud von le Fort und Werner Bergengruen sind zumindest drei offensichtlich: Beide sind erst spät zum Katholizismus übergetreten (le Fort 1926, Bergengruen 1936), beide wurden von den Nationalsozialisten als politisch unzuverlässig eingestuft, ohne mit einem generellen Publikationsverbot belegt zu werden, und beide gehören zu den meistdekorierten Autoren der jungen Bundesrepublik. Bergengruen allerdings ist der produktivere Novellist und – bei allen auch hier möglichen Einwänden – der bessere, nuancenreichere und anschaulichere Erzähler; von seinen frühen Novellen war bereits die Rede. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat er zahlreiche Gattungsbeiträge vorgelegt, die innerhalb seines insgesamt traditionellen Novellenkonzepts sehr verschieden ausgefallen sind: Das Spektrum reicht – wie schon im Frühwerk – von der humoristisch angelegten Boccaccio-Nachfolge bis zum halb christlichen, halb östlich-heidnischen Mystizismus. Ein Beispiel dafür, wie erstere noch annehmbar gestaltet werden kann, ist die 1953 erschienene Novelle Der Pfauenstrauch, die Bergengruen mit einem »Verzeichnis der vom Autor benutzten Literatur« beginnen lässt. Unter anderem zitiert er aus einem Allgemeinen deutschen Konversationslexikon, das in »St. Goarshausen 1967« erschienen sei, den folgenden Abschnitt: FRANI, unbedeutende Stadt von etwa 3000 Einwohnern in der italienischen Provinz Terrabruna, antiken Ursprungs, bekannt durch Werner Bergengruens einstmals vielgelesene Novelle Der Pfauenstrauch, Schauplatz eines Vorpostengefechts zwischen Franzosen und von Generalleutnant Schmidtlein (siehe diesen) geführten Kaiserlichen am 4. August 1796, vergl. das weitverbreitete österreich. Soldatenlied »Schmidtlein ließ Trompete blasen«. Siehe ferner ibidem die Artikel Absolutismus, Analogia entis, aufgeklärter Despotismus, Pfau, Pfauenstrauch, Signaturenlehre.562

Lexikonparodie, Fiktionsbruch, Selbstironie und intertextuelles Spiel stimmen ein auf den schwankhaften Streit zwischen einem Gastwirt und einem Markgrafen um den sogenannten Pfauenstrauch, dessen magische Kräfte angeblich der Kinderlosigkeit Abhilfe schaffen können. Bergengruens mystizistische Neigung kommt in der Novelle Die Flamme im Säulenholz besonders deutlich zum Ausdruck, deren erster Satz bereits zu einer allegorischen Lektüre auffordert: »Diese Geschichte ist von vergangenen Zeiten her überliefert worden; es ist nicht gewiß, ob alles in ihr wörtlich verstanden werden muß«.563 Ein todbringendes, rätselhaftes Flämmchen kann vorübergehend im Holz einer Säule gebannt werden, die zuvor ein in den Kriegswirren verstecktes Marienbild trug; menschliche Torheit und Eitelkeit setzen es Jahre später wieder frei. 562 Werner Bergengruen: Der Pfauenstrauch. Eine Novelle. Zürich 1953, S. 8. 563 Ders.: Die Flamme im Säulenholz. In: Ders.: Die Flamme im Säulenholz. Novellen. München 1955,

S. 91-115, hier S. 91.

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Als dezidiert christliche Novellen aus Bergengruens Nachkriegswerk können Das Beichtsiegel und Jungfräulichkeit betrachtet werden. In gewisser Weise sind es komplementäre Texte: Beide stellen schon im Titel zentrale Gebote des geistlichen Standes in den Mittelpunkt, an denen zwei Kleriker zu scheitern drohen. In Jungfräulichkeit ist es eine Nonne, die sich durch ein raffiniert inszeniertes Selbstopfer einer Vergewaltigung entzieht, in Das Beichtsiegel ist es ein junger Kaplan, der in der Beichte von einem bevorstehenden Attentat erfährt, aber zum Schweigen verurteilt ist. Beide Texte sind traditionell erzählt, zeichnen sich aber durch einen relativ offenen Schluss aus; letztlich bleibt es dem Leser überlassen, ob er das Überleben oder das Sterben der Protagonisten für wahrscheinlicher hält. Es dürfte nicht verfehlt sein, in diesen Texten auch ein Stück Selbstlegitimation des Autors im Hinblick auf die Innere Emigration zu vermuten: Beide Novellen leben von der Spannung zwischen dem scheinbar so eindeutigen und keinerlei Relativierung zulassenden Postulat ihres Titels und dem tatsächlichen Ringen der Protagonisten um Selbstbewahrung und Integrität; das mag auch dem Konflikt der christlich motivierten Inneren Emigration entsprechen, die auf das kaum abzuweisende Postulat des Widerstandes nur komplex und widerspruchsvoll zu reagieren wusste. Im Hinblick darauf erhält etwa ein Satz wie der folgende auch eine legitimatorische Funktion gegenüber einer jüngeren, kritischen und moralisch rigorosen (Autoren-) Generation: Denn die Jugend, wenn sie es einmal ernsthaft meint, hält es mit jenem lateinischen Wort, wonach im Gesetz kein Buchstabe ist, von dem nicht Berge abhängen; sie weiß noch nicht, daß Fälle gedacht werden, ja sich ereignen können, deren Lösung sich auch der redlichsten Selbststrenge widersetzt, Fälle, die uns auch das Unbedingte herabgewürdigt und in einer dem Augenscheine nach nicht zu entwirrenden Verknüpfung mit den Bedingtheiten und Gebrechen des irdischen Zustandes vor den Blick stellen.564

Weitere Aspekte der im Folgenden erzählten Geschichte zeigen gleichfalls, wie bestimmte Erfahrungen der Inneren Emigration verarbeitet werden in diesem nur an der Oberfläche um ein geistliches Problem zentrierten Text. Nachdem der junge, den eigentlichen Hofgeistlichen während dessen Abwesenheit vertretende Kaplan in der Beichte erfahren hat, dass es Mordpläne gegen die Markgrafentochter gäbe, versucht er auf verschiedenen Wegen, Warnungen anzubringen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, ohne sein Schweigegebot zu verletzen. Die Kommunikationswege, die er einschlägt, entsprechen denen der ›Inneren Emigration‹: »Die Predigt gab ihm die Möglichkeit, sich vor der markgräflichen Familie dergestalt zu äußern, daß ihre Aufmerksamkeit ihm gewiß war. In irgend einer Weise hatte sie seinem Vorhaben zu dienen«.565 Der Kaplan entwickelt eine Schreib- und Redestrategie der Camouflage, des versteckten Hinweises, muss dabei allerdings erfahren, dass sein Engagement zwar bemerkt, aber stets missdeutet wird; beides sind typische Erfahrungen der Inneren 564 Werner Bergengruen: Das Beichtsiegel. Novelle. Freiburg/Br., Berlin, Düsseldorf 1948, S. 6f. 565 Ebd., S. 23.

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Emigration. Die dauernde Anspannung wird zu einem Zustand, an den man sich »gewöhnen«566 kann; das Bedürfnis, »einmal aufatmen [zu] dürfen, aufatmen im Zusammensein mit einem Menschen, der Ähnliches […] zu erleiden hat«567, stellt sich ein, bleibt aber weitgehend unbefriedigt. Das eigene Leben wird fatalistisch einem »Gottesurteil«568 unterstellt, ohne dass sich die verlorene »Sicherheit des Gewissens und des Tuns«569 wiederherstellen ließe: »Ja, es kam nun dahin, daß ihm alles, das ihn bisher selbstverständlich gedünkt hatte, in die zwieschlächtige Dämmernis der gänzlichen Fragwürdigkeit abstürzte«.570 Am Ende des Textes allerdings, nachdem der Kaplan selbst Opfer eines Anschlags geworden und zumindest schwer verletzt ist, scheint er gewiss, dass »jede irdische Unlösbarkeit ihre Lösung in Gott«571 habe – falls er stirbt, dann in dieser beruhigenden, Ambivalenzen und Zweifel suspendierenden Sicherheit. Ob die Parallelen zu Bergengruens Selbstverständnis in der Inneren Emigration hier noch tragen, sei dahingestellt. Dass der Text jedoch in auffälliger Weise um die Probleme von Reden und Verschweigen, Befürchten und Warnen, Anspielen und Nichtverstandenwerden kreist, ist für die Mentalität eines Inneren Emigranten ebenso bezeichnend wie die Form, in der sich diese Auseinandersetzung vollzieht: Die Angst davor, die Dinge zu benennen und in ein absehbares Geschehen einzugreifen, kann nur thematisiert werden unter der Voraussetzung, dass der Grund für das Schweigen externalisiert wird, ja als Erfüllung einer Pflicht erscheint. Als Auseinandersetzung um das Beichtsiegel führt Bergengruen einen Legitimationsdiskurs, der den Repräsentanten der Inneren Emigration gerade nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht erspart bleiben konnte. Auch in Jungfräulichkeit spielt das Thema von Reden und Schweigen eine Rolle – hier ist es allerdings noch stärker an die Selbstvergewisserung der Hauptfigur gebunden Der Text ist, der Erinnerung seines Autors zufolge, 1944 oder 1945 entstanden, erschien aber erst 1947 erstmals im Druck.572 Als Quelle gibt Bergengruen eine märkische Sage an, die ihn lange Zeit beschäftigt habe.573 In seiner literarischen Bearbeitung verlegt Bergengruen die Handlung ins Baltikum; die Novelle setzt ein mit dem lakonischen Bericht einer wenn nicht unerhörten, so doch »ungeheures Aufsehen« erregenden Begebenheit: Ebd., S. 47. Ebd., S. 36. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 72. Ebd., S. 106. Als »Veröffentlichung der Vereinigung Oltner Bücherfreunde«, vgl. zu dieser Ausgabe W.A. Willibrand: On Interpreting Bergengruen’s short story Jungfräulichkeit. In: Monatshefte 44 (1952), S. 65-78, hier S. 66. – Der Wert dieses Beitrags liegt vor allem darin, dass Willibrand den Autor zu einer Reihe von brieflichen Selbstkommentaren veranlasst hat, die er in seiner Interpretation zitieren kann. 573 Vgl. Werner Bergengruen: Dichtergehäuse. Aus den autobiographischen Aufzeichnungen. Nachwort von Emil Staiger. Zürich, München 1966, S. 220f. 566 567 568 569 570 571 572

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Margarethe Kampehl, eine Revaler Patrizierstochter, hatte einen jungen Mann ihres Standes getötet, der ihr trunkenen Mutes hatte zu nahe treten wollen. Dies geschah während einer Gasterei in der Fastnachtszeit in einem Nebenraume des Festsaales, und als Waffe diente ihr der Dolch des Angreifers.574

Vom Gericht freigesprochen, von vielen gerühmt oder getadelt, in jedem Fall aber isoliert von ihrer früheren Existenz, tritt Margarethe anschließend in ein Kloster ein, unter dem Namen Agathe, »nach jener Martyrin Agatha […], die nicht nur ihren Glauben, sondern auch ihre jungfräuliche Reinheit bis in den Tod bewahrt und verherrlicht hat«.575 Über die Tötung des jungen Mannes spricht sie nie »und legte damit auch allen anderen ein Gesetz des Schweigens auf«.576 Im Innern aber bleibt Margarethe an das Geschehene gebunden, das den »Mittelpunkt ihres Schicksals«577 markiert; oft empfindet sie Reue, glaubt den jungen Mann sogar geliebt zu haben, hofft schließlich auf »Sühne für eine Schuld, die nur das äußerste Gericht, nämlich das des eigenen Herzens, und auch dieses erst spät, als Schuld erkannt hatte«.578 Nach einigen Jahren wird Margarethes Kloster durch den Einfall eines russischtatarischen Heeres bedroht; die Angst vor Vergewaltigung und Tod greift um sich und weist Margarethes »Sühnewillen sein Ziel«.579 Sie bleibt bei den Ältesten und Kranken zurück, als alle anderen fliehen; so empfängt sie auch die ersten feindlichen Krieger. Margarethe ist einerseits fest entschlossen, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren; andererseits lehnt sie es ab, sich einer »unbekannten, schrecklichen und süßen Überwältigung durch das elementarische Leben«580 weiter zu entziehen. Jahre zuvor hat sie sich gegen den ersten Vergewaltigungsversuch durch Töten gewehrt, den zweiten will sie, auch als Ausdruck ihrer »Sühnebereitschaft«581 durch Getötetwerden vereiteln; schien ihr Jungfräulichkeitsbegriff ohnehin schon eher heidnisch-amazonisch geprägt als christlich (nicht zufällig ist einmal von der »jungfräulich strahlenden Herrlichkeit der Göttin Diana«582 die Rede), so avanciert das Wort ›virgo‹ am Ende geradezu zur »magic formula«583, durch die Margarethe ihr Selbstbild beschwört. Dieses Selbstbild hat insofern große Bedeutung für sie, als sie der Vorstellung anhängt, »es habe ein jeder von uns seine Verpflichtung gegenüber dem Ruf oder Ruhm, den er sich erworben, seine Verpflichtung gegenüber dem Bilde, das er von sich selber in den Gedanken der Menschen beispielhaft aufgerichtet«584 habe. Mittels Werner Bergengruen: Jungfräulichkeit. Novelle. Zürich 1952, S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 23. Ebd., S. 14. Ebd., S. 24. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 29. Mary Alexander: Virgo-Virago? Werner Bergengruen’s Novelle Jungfräulichkeit. In: German Life & Letters 1969/70, S. 206-216, hier S. 212. 584 Ebd., S. 55. 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583

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dieser Vorstellung wehrt sich Margarethe gegen Zweifel, Bedenken und heimliche Lust; um mit dem ›Bilde‹ identisch zu werden, das sie selbst und andere sich gemacht haben, wird sie den Tod in Kauf nehmen. Im Vergleich zu den vielfältigen Überlegungen, die etwa Max Frisch in den frühen fünfziger Jahren – teils vor, teils nach dem Erscheinen von Jungfräulichkeit585 – zum Thema ›Bildnis‹ und ›Identität‹ angestellt hat, nimmt Bergengruens Text damit eine entschiedene Gegenposition ein: Wo Frisch in der Fixierung auf ein ›Bild‹ eine Versündigung an der Person und ihrer Vielgestaltigkeit ausmacht, stellt Bergengruen die Überwindung von Ambivalenz, die Identifizierung von Bild und Person als moralischen Triumph dar. Dieser Gegensatz ist bezeichnend für die mentalen Unterschiede zwischen der älteren und der neueren Autorengeneration in den fünfziger Jahren und hat nicht zuletzt eine gattungstypologische Konsequenz: Während Frisch sich der relativ offenen, subjektiv geprägten Form des literarischen Tagebuchs bzw. des Tagebuchromans bedient, bleibt Bergengruen nicht zufällig bei der Novelle als dem Genre, das schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts als wertgebunden und formstreng gilt. In seiner programmatischen Notiz Warum schreibe ich? hat Bergengruen 1948 formuliert, was besonders für seine christlich grundierten Texte gilt: […] es lockt und nötigt mich, in der Epik und insbesondere in ihrer strengsten und höchsten Form, in den Novelle, den Menschen in seiner Freiheit und in seiner Notwendigkeit zugleich zu sehen und in der scheinbaren Regellosigkeit, Willkürlichkeit und Zufälligkeit unseres irdischen Geschehens jener Gesetzlichkeit nachzuspüren, die mir als Unterpfand der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Weltgefüges und aller in ihm statthabenden Bewegungen erscheint.586

Am Ende von Bergengruens Jungfräulichkeit steht ein überraschender Einfall Margarethes: Sie behauptet gegenüber ihrem naiven, abergläubischen Feind, über einen Zauber zu verfügen, der sie unverwundbar mache. Zur Probe solle der Soldat versuchen, ihr den Kopf abzuschlagen – es werde ihm nicht gelingen: Eine längere Weile starrte der Mann auf den schlanken, schöngesenkten Nacken, der schneeweiß über der dunklen Kutte leuchtete. Dann plötzlich, stieß er einen kurzen, fast zornigen Laut hervor, riß das Schwert aus der Scheide, hob es und holte aus.587

Mit diesen Sätzen endet die Novelle – wahrscheinlich blutig.

585 Vgl. z.B. den Aufsatz ›Du sollst dir kein Bildnis machen‹. In: Max Frisch: Tagebuch 1946-1949. In:

Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung v. Walter Schmitz. Frankfurt/M. 1976. Bd. 2, S. 347-750, hier S. 369-371, und den ganz auf der Bildnis- und Identitätsproblematik beruhenden Roman Stiller von 1954 (In: Max Frisch: Gesammelte Werke. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung v. Walter Schmitz. Frankfurt/M. 1976. Bd. 3, S. 359-780). 586 Werner Bergengruen: Warum schreibe ich? In: Ders.: Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens. Bücher. Reisen. Begegnungen. Hg. u. mit einleitenden Texten von N. Luise Hackelsberger. Zürich 1992, S. 230f., hier S. 230. 587 Ebd., S. 62.

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3.3. Stefan Andres (1906-1970) Wie Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort gehört auch Stefan Andres zu den bekanntesten Vertretern der Inneren Emigration; mit Bergengruen verbindet ihn darüber hinaus, dass beider Ehefrauen durch die nationalsozialistische Rassenlehre diskriminiert wurden und schon von daher ein prekäres Verhältnis zum Hitler-Reich bestand.588 Seit 1937 lebte Andres mit seiner Familie in Positano, doch den Aufenthalt im faschistischen Italien zu nehmen, war etwas grundlegend anderes, als ins Exil zu gehen.589 Das zeigt sich auch darin, dass Andres bis 1943 relativ breite Veröffentlichungsmöglichkeiten in Deutschland hatte: Die meisten seiner Werke wurden in der Frankfurter Zeitung gedruckt, dem wohl liberalsten Presseorgan, das unter dem Nationalsozialismus noch erscheinen konnte590, manches in der Kölnischen Zeitung und der Deutschen Rundschau, aber auch in der Krakauer Zeitung und dem Völkischen Beobachter.591 Andres’ wichtigste Novellen sind fast ausnahmslos vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden; dass vor allem sein bekanntester Text, die Novelle Wir sind Utopia (1943), erst nach 1945 eine breite Rezeption erfuhr, rechtfertigt jedoch seine Betrachtung im Kontext der fünfziger Jahre. In seinen frühen Gattungsbeiträgen hat Andres mit ähnlicher Entschlossenheit wie Bergengruen und le Fort an erzählerische Traditionen des 19. Jahrhunderts angeknüpft.592 Das gilt etwa für die 1937 erschienene, fünf Texte umfassende Sammlung der Moselländischen Novellen; die längste, von Andres später überarbeitete593 und zeitlebens hochgeschätzte Novelle dieses Bandes, Die Vermummten, erinnert deutlich an die realistische Dorfgeschichte, etwa an Berthold Auerbach oder Marie von Ebner-Eschenbach. Das Geschehen setzt 1888/89 ein, so dass schon von der Handlungszeit her eine gewisse Kontinuität zu diesen großen Vorbildern suggeriert wird; 588 Die ausführlichste und zuverlässigste Biographie liefert Michael Braun: Stefan Andres. Leben und

Werk. Bonn 1997.

589 Vgl. Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933-1945. 2 Bde. Stuttgart 1989, 1993. 590 Vgl. dazu Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich.

Berlin 1986. 591 Vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund: Stefan Andres. In: Dies.: Zwischenreiche und

Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im »Dritten Reich«. München 1999, S. 469-484, hier S. 471, sowie den Beitrag der gleichen Verfasser: Getarnte Regimekritik in Stefan Andres’ Kurzprosa der frühen Vierziger Jahre. In: Stefan Andres. Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Braun, Georg Guntermann, Birgit Lermen. Frankfurt/M. 1999 (= Trierer Studien zur Literatur, 32), S. 105-121. 592 Zu Andres’ traditioneller Erzählweise (und zu Möglichkeiten, diese Bewertung zu relativieren) vgl. Georg Guntermann: Erinnerung als Form. Zur Erzähltechnik im Werk von Stefan Andres. In: Stefan Andres. Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Braun, Georg Guntermann, Birgit Lermen. Frankfurt/M. 1999 (= Trierer Studien zur Literatur, 32), S. 85-104. 593 Zu Art und Ausmaß der Überarbeitung (in deren Zuge Andres vor allem gekürzt und sprachlich modernisiert hat) vgl. Karl-Ludwig Barkhausen: Stefan Andres: Die Vermummten. Ein Vergleich der Fassungen von 1937 und 1962. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 9 (1976), S. 25-36.

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außerdem begegnen typische Motive der Dorfgeschichte, die von der bis zum Mordversuch getriebenen Bruderrivalität über die Animositäten der ländlichen Bevölkerung gegen Zugereiste und Freidenker bis zur Darstellung regionaler Bräuche reichen – der Brauch, sich an Fastnachtsdienstag zu ›vermummen‹ und als »Faoßbocken« die Mädchen zu erschrecken, gibt der Novelle den Titel und bringt die »Begebenheit«594 hervor, aus der sich die über mehrere Jahre verfolgte Geschichte um Schuld und Sühne mit letztlich gutem Ausgang entwickelt. Auch der Versuch, dialektale Elemente zu integrieren, um sich »knorriger Sprachwirklichkeit«595 zumindest anzunähern, verweist ins späte 19. Jahrhundert zurück. Daher war es vielleicht reduktiv, aber auch nicht verwunderlich, dass Andres’ Novellensammlung bei ihrem ersten Erscheinen vor allem als Beitrag zur völkisch-regionalen Literatur rezipiert wurde: Lobend äußerten sich unter anderem Karl A. Kutzbach, Hellmuth Langenbucher und Hermann Pongs.596 Dass letzterer dem »begabten Moselländer« im Rahmen seiner nadlerisierenden Abhandlung über Rheinische Stammesseele in der Dichtung der Gegenwart nicht nur eine »starke bodenständige Heimatliebe« attestierte, sondern auch eine »bohrende Schärfe der Analyse, die so im rheinischen Stamm sonst nicht zuhause ist«, war damals als Einschränkung des Lobes zu verstehen.597 Muster aus dem 19. Jahrhundert, wie sie etwa in den historischen Novellen Conrad Ferdinand Meyers zu finden wären598, kann auch die 1935 entstandene und schon ein Jahr vor den Moselländischen Novellen erschienene »Inquisitionsnovelle«599 El Greco malt den Großinquisitor nicht verleugnen. Gerade dieser Text ist häufig als Beispiel für die Technik der historischen Camouflage gelesen worden, mit Hilfe derer die Autoren der Inneren Emigration kritisch auf die Lebensumstände im HitlerReich reagiert hätten.600 Schwierigkeiten treten dabei immer auf, wenn der Rezipient allzu direkte Botschaften und Handlungsanweisungen erwartet. So thematisiert El Greco malt den Großinquisitor zwar ohne Zweifel die Rolle der Kunst in einem despotischen Regime, wägt die Risiken und Chancen des Exils und des Verbleibens gegeneinander ab, diskutiert Überlebensmodelle in einem totalitären Staat – »Wer noch zu 594 Stefan Andres: Die Vermummten. In: Ders.: Moselländische Novellen. Leipzig 1937, S. 32-148, hier

S. 33. 595 Ders.: Anmerkungen. In: Ebd., S. 299. 596 Vgl. die Nachweise in Ehrke-Rotermund/Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 469. 597 Hermann Pongs: Rheinische Stammesseele in der Dichtung der Gegenwart. In: Dichtung und

Volkstum 39 (1938), S. 85-127, hier S. 123. 598 Konkrete Bezüge der El Greco-Novelle zu den Werken C.F. Meyers weist Klaus Jeziorkowski nach.

Vgl. Klaus Jeziorkowski: El Greco malt den Großinquisitor. In: Interpretationen zu Stefan Andres. Von einem Arbeitskreis. München 1969, S. 51-94, bes. S. 86ff. 599 Stefan Andres an Pierre Elcheroth, 23.4.1935; zit. n. Ehrke-Rotermund/Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 475. – Allerdings verzichtet Andres auf die ausdrückliche Benennung des Textes als ›Novelle‹. 600 Andres selbst betont diese Möglichkeiten in seinem Artikel Zwischen zwei Stühlen. Gedanken zum historischen Roman (Krakauer Zeitung, 1.1.1943), vgl. Ehrke-Rotermund/Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 474f., sowie Michael Braun: »Ein kläglicher Prophet in seinem Fisch«. Stefan Andres und die Probleme der inneren Emigration. In: ZfdPh 115 (1996), S. 262-278, hier S. 276.

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leben gedenkt, der lerne das Lügen!«601 – und hinterfragt die moralische Legitimation der Herrschenden. Doch über das Atmosphärische hinaus ist der politische Gehalt wenig konkret. Dass die nationalsozialistischen Zensurstellen den Text nicht als Kritik am Führerstaat, sondern am autoritären Anspruch der katholischen Kirche lasen und die Novelle 1944 in der 36. Auflage sogar als Feldpostausgabe herauskam602, könnte man noch zu den notwendigen Ambivalenzen rechnen, die das Funktionieren der historischen Camouflage voraussetzt. In eine politisch aktualisierende und regimekritische Lesart schwerer zu integrieren sind jedoch zwei andere Punkte. Der erste betrifft das hohe Maß an Respekt, das der Text dem Großinquisitor entgegenbringt. Nino de Guevara erscheint als Mann, der in vollen Einklang mit seinen Prinzipien lebt. Er ist sich seiner Verantwortung bewusst, lebt ganz für eine Aufgabe, aus der er weder persönlichen Gewinn noch sadistische Befriedigung bezieht, entspricht seinen strengen religiösen Überzeugungen durch eine höchst asketische Lebensweise und beweist persönliche Tapferkeit – letztere vor allem, als er seine ärztliche Behandlung einem Mann anheimstellt, dessen Bruder er auf den Scheiterhaufen gebracht hat und in dessen Anwesenheit er den Befehl gibt: »Don Consales, wenn Wir diese Nacht sterben sollten: Wir sind an Unserer Galle gestorben, an Unserer Krankheit, eines ganz natürlichen Todes. Habt Ihr verstanden?«603 Aus sicherem Abstand stilisiert El Greco seinen Auftraggeber sogar zum »traurige[n] Heiligen« und »heilige[n] Henker«.604 Mit einem Blick auf die vergleichbar schillernde Hauptfigur in Bergengruens Der Großtyrann und das Gericht hat Michael Braun zu Recht konstatiert, dass sich »die fatale Abhängigkeit der Literatur der inneren Emigration vom Nationalsozialismus« nirgends so deutlich zeige wie in der Darstellung dieser zwielichtigen Despoten.605 Der zweite, das konkrete Widerstandspotential des Textes herabsetzende Punkt liegt in einer Gesprächsäußerung El Grecos gegenüber eben diesem Arzt: »Wißt, es ist umsonst, die Inquisitoren zu töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi festzuhalten!«606 Karl Eibl hat die Bedeutung dieser Aussage überzeugend herausgestellt: Wenn es […] ›umsonst‹ ist, die Inquisitoren zu töten, dann sind diese nur die jeweilige Konkretion einer immerwährenden Instanz, dann ist die Inquisition nur der besondere sinnlich-konkrete Ausdruck eines Allgemeinen, in der conditio humana immerwährend Verankerten, Ausdruck also, wie der traditionelle Name dafür lautet, des Übels oder des Bösen in der Welt, das dauern wird, so lange diese Welt dauert.607 601 Stefan Andres: El Greco malt den Großinquisitor. Erzählung. Nachwort von Wilhelm Große. 602 603 604 605 606 607

Stuttgart 1994 (= RUB 8957), S. 16. Vgl. Ehrke-Rotermund/Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 481f. Andres: El Greco malt den Großinquisitor, S. 36. Ebd., S. 43. Michael Braun: »Ein kläglicher Prophet in seinem Fisch«, S. 273. Andres: El Greco malt den Großinquisitor, S. 32. Karl Eibl: Selbstbewahrung im Reiche Luzifers? Zu Stefan Andres’ Novellen El Greco malt den Großinquisitor und Wir sind Utopia. In: Christliches Exil und christlicher Widerstand. Ein Symposium an

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Damit aber ist die Möglichkeit von Widerstand letztlich negiert, zumindest im großen Allgemeinen aufgehoben; zudem wird ›das Böse‹ als Existential, als ontologische Konstante gesehen und letztlich legitimiert. Geschichte erscheint – wie Andres noch in den fünfziger Jahren glaubte – als »das negative Sichtbarwerden Gottes«608; in der Konsequenz heißt das, dass ein Text wie El Greco malt den Großinquisitor gerade dann, wenn er im Sinn einer politisch aktualisierenden Interpretation gelesen wird, letztlich nur die von vielen Konservativen geteilte, fatalistische und aktiven Widerstand sinnlos erscheinen lassende Perspektive auf den Nationalsozialismus bestätigt. Mit El Greco immerhin hat Andres eine historische Figur gefunden, über die sich die Ambivalenz und die politische Fragwürdigkeit des Künstlers besonders überzeugend thematisieren lassen: El Grecos von Cézanne, Picasso und den Expressionisten enthusiastisch betonte Vorläuferschaft zur modernen Malerei steht neben der Tatsache, dass er sich und seine Kunst sehr bewusst in den Dienst der Gegenreformation gestellt hat – auch in den Dienst des Mannes, der Gegenstand seines berühmtesten Porträts wurde. Das bekannteste Werk von Stefan Andres – mit einer Gesamtauflage von über 500 000 Exemplaren – ist die Novelle Wir sind Utopia. Entstanden innerhalb von 14 Tagen im Jahr 1941, erschien der Text zwischen dem 13. und dem 24. Februar 1942 in der Frankfurter Zeitung. Die erste Buchausgabe beim Berliner RiemerschmidtVerlag konnte noch gedruckt werden, wurde aber durch die Zensurbehörden (die bis dahin keine Einwände erhoben hatten) aus dem Verkehr gezogen.609 1948 gab es Neuausgaben bei gleich drei Verlagen – Bagel in Düsseldorf, der Blauen Presse in München und Arche in Zürich; seit 1951 schließlich avancierte der Text zu einem Bestseller des Piper-Verlages, der noch im gleichen Jahr das 119. Tausend, nur acht Jahre später das 217. Tausend und 1965 das 278. Tausend erreichte. Wie El Greco malt den Großinquisitor spielt Wir sind Utopia in Spanien; allerdings ist die Thematik wesentlich zeitnaher – die Handlung vollzieht sich im Spanischen Bürgerkrieg, also 1936/37610 – und ihre politische Dimension liegt viel deutlicher zutage. der Katholischen Universität Eichstätt 1985. Hg. v. Wolfgang Frühwald und Heinz Hürten. Regensburg 1987, S. 21-46, hier S. 29. – Dieser grundlegende Beitrag zur Andres-Forschung wurde in folgenden Sammelbänden nachgedruckt: Mein Thema ist der Mensch. Texte von und über Stefan Andres. Hg. v. Wissenschaftlichen Beirat der Stefan-Andres-Gesellschaft. München, Zürich 1990, S. 214-238; Stefan Andres. Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Braun, Georg Guntermann, Birgit Lermen. Frankfurt/M. 1999 (= Trierer Studien zur Literatur, 32), S. 139-160. 608 Stefan Andres: Der Mensch inmitten der Dämonien dieser Zeit [1958]. In: Stefan Andres. Ein Reader zu Person und Werk. Hg. v. Wilhelm Große. Trier 1980, S. 53-62, hier S. 53. 609 Vgl. zur frühen Rezeption Michael Hadley: Widerstand im Exil: Veröffentlichung, Kontext und Rezeption von Stefan Andres’ Wir sind Utopia (1942). In: Mein Thema ist der Mensch. Texte von und über Stefan Andres. Hg. v. Wissenschaftlichen Beirat der Stefan-Andres-Gesellschaft. München, Zürich 1990, S. 239-261. 610 Diese Konkretion dient offenbar nur dazu, die zeitliche Nähe und Aktualität des Geschehens zu signalisieren; aus seiner Untersuchung über den spanischen Bürgerkrieg im Spiegel der deutschen Literatur klammert Rolf Geißler die Novelle von Andres mit der Begründung aus, hier fungiere »der innerspanische Konflikt nur zur Verdeutlichung einer Grenzsituation, in der die existentielle Problematik kulminier[e]«; dabei bleibe denn auch »die politische Aussage auf der Strecke« (Rolf Geißler:

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Frauenfiguren wird man übrigens in beiden Texten vergeblich suchen: Politik und Moral sind hier als Männersache deklariert. Kleriker, Soldaten, im Fall El Grecos noch (männliche) Künstler sind die zentralen Handlungsträger; Frauen und Kinder sind, wie es in Wir sind Utopia sogar ausdrücklich heißt611, so nah oder so fern wie Gott. Die beiden Protagonisten dieser Männerwelt stehen in Wir sind Utopia auf feindlichen Seiten: Paco, ein früherer Mönch, der vor fast zwanzig Jahren seinen Orden verlassen hat, kehrt als gefangener Soldat in sein ehemaliges Kloster zurück, das die kommunistische Seite blutig geräumt und zum Gefängnis umfunktioniert hat.612 Ihm gegenüber steht der Befehlshaber Leutnant Pedro, der ihn als Geistlichen erkennt und ihn privilegiert behandeln lässt; sein Wunsch ist es, bei ihm die Beichte ablegen zu können, um von seinen Alpträumen befreit zu werden. Die Gespräche zwischen Pedro und Paco machen gewissermaßen das ›äußere‹ Geschehen aus, während die Erinnerungen Pacos an seine Klosterzeit ein ›inneres‹ Geschehen markieren.613 Paco gelangt in den Besitz eines Messers; dadurch hätte er die Möglichkeit, Pedro während der Gespräche niederzustechen und einen Aufstand, eventuell eine erfolgreiche Flucht der rund 200 Gefangenen zu initiieren. Die Entscheidung ist umso dringender, als die Front vorrückt und Paco sicher sein kann, dass man nicht 200 Soldaten dem Feind überlassen wird. Zweifel sind damit eigentlich ausgeschlossen: »Gegen das Verbrechen sich zu wehren ist erlaubt; das Leben der anderen zu verteidigen ist sogar eine sittliche Forderung«.614 Doch Paco zögert so lange, bis Pedro durch Zufall das Messer entdeckt – im Übrigen anlässlich einer durchaus libidinös besetzten Berührung.615 Dadurch ist Paco

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Der spanische Bürgerkrieg im Spiegel der deutschen Literatur, Report und Reflexion. In: literatur für leser 1979, S. 184-200, hier S. 188). Vgl. Stefan Andres: Wir sind Utopia. Novelle. München, Zürich 1999, S. 94f. Wer auf welcher Seite steht, bleibt im Text auffällig vage: Letztlich gibt nur die Aussage Pacos, er gehöre zur »53. Marine-Infanterie« ein deutliches Signal dafür, dass er auf der Seite der ›regulären‹ Einheiten und damit Francos steht. Vgl. dazu auch Eibl: Selbstbewahrung im Reiche Luzifers?, S. 33. Gerhard Storz sieht in dieser Zuordnung Pacos zu den Franco-Truppen eine notwendige Einkleidung, die das Erscheinen der Novelle im Hitler-Reich überhaupt erst möglich gemacht habe, vgl. Gerhard Storz: Ein Buch von 1942. In: Hans Hennecke (Hg.): Stefan Andres. Eine Einführung in sein Werk. München 1962, S. 94-108, bes. S. 100. Vgl. Uwe Klein: Stefan Andres. Innere Emigration in Deutschland und im »Exil«. Diss. Mainz 1991, S. 73. Andres: Wir sind Utopia, S. 44f. Diese libidinöse Färbung gehört möglicherweise zu der im Text entworfenen, reinen Männerwelt. Auffällig ist jedenfalls, dass Pedro »fast liebkosend« über den Schenkel des ehemaligen Priesters fährt und dabei durch das Messer verletzt wird: »Das Blut kam in einem einzigen Tropfen […] Der Tropfen schwoll und fiel schließlich auf Pacos Hose« (S. 88). Paco seinerseits hatte schon zuvor »auf eine seltsam genaue Weise den Körper des jungen Offiziers« (S. 58) betrachtet; sicher auch, um dessen Körperkraft im Hinblick auf den geplanten Angriff abzuschätzen. Dennoch bleibt eine libidinöse Spannung bestehen, die schließlich in dem Kuss der beiden gipfelt (S. 90). Der soldatische Antagonismus behält die Oberhand gegenüber der wechselseitigen erotischen Attraktion, und der Tod ist (jenseits aller sonstigen Umstände, die ihn als unausweichlich darstellen sollen) möglicherweise eher annehmbar als die verbotene Liebe.

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von seiner Entscheidung entbunden. Er empfindet Erleichterung und delegiert die Verantwortung umgehend an eine metaphysische Instanz: »Ich hatte Ihren Tod beschlossen, ich wollte Sie lossprechen und sofort niederstechen, um die Gefangenen zu befreien. Ich wollte es – wie ein Automat! […] Aber da kam ein Engel zwischen uns, und nun brauch’ ich es nicht zu tun!«616 Wenig später schämt er sich für diese Reaktion und macht sich heftige Vorwürfe – eine erzählerische Konstruktion, die die Novelle vor dem ästhetischen Scheitern rettet: Erst Pacos Scham über sein Versagen macht die Problemkonstellation vollständig, macht die Erzählung zu einer poetischen Analyse der Problematik christlichen Wiederstandes. Gäbe es nur die ›Engel‹-Deutung, dann wäre die Novelle nur eine abgeschmackte Märtyrergeschichte. Und gäbe es nur Pacos Scham, dann wäre sie eine simple Thesenparabel. Erst beides zusammen macht die Novelle zu einer komplexen Problemformulierung (keineswegs: -lösung): Des Problems nämlich von innerweltlicher Verantwortung und Heilserwartung. Heilserwartung und Sinnvertrauen können den moralischen Sinn schärfen und die Kraft zum Widerstand geben. Aber sie können von innerweltlicher Verantwortung auch so weit entlasten, daß man am Ende mit dem Henker »sozusagen im Einverständnis« [Wir sind Utopia, S. 94] steht. In diesen Grenzbereich, in dem ›christlicher Widerstand‹ einerseits eine Tautologie und anderseits eine contradictio in adjecto ist, hat Andres seine Paco-Figur gestellt.617

Dieser Befund impliziert allerdings mit großer Deutlichkeit, dass die Qualitäten von Wir sind Utopia nicht in dem Aspekt von ›Widerstandsliteratur‹618 zu suchen sind, sondern in der Tatsache, dass kaum ein Text die Aporien der Inneren Emigration deutlicher widerspiegelt als dieser. Auf struktureller Ebene interessant ist das Ausmaß, in dem Andres seine Novelle durchgeformt hat. Eine dramatische Spannungskurve entsteht schon durch die Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit; letztere umfasst nur wenige Stunden. »Die ›Offenbarung‹ des Messers stellt nach der klassischen Novellentheorie den Wendepunkt dar«.619 Verschiedene Leitmotive verstärken den Eindruck von Dichte und Konzentration, wirken zudem spannungssteigernd, weil sie zentrale Momente verdeutlichen: Zu nennen sind insbesondere das rund zwanzigmal erwähnte Messer Pacos und der mehrfach wiederkehrende Verweis auf den Gefechtslärm (dessen Näherrücken das Schicksal der Gefangenen besiegelt); auch die Formel »Gott ist gnädig« durchzieht leitmotivartig die Novelle. Hinzu kommt die symbolische Aufladung, die Andres gleich mehreren Textelementen angedeihen lässt; schon beschreibende Äußerungen weisen häufig über sich hinaus, etwa wenn Leutnant Pedro sich bereits beim ersten Anblick Pacos »an einen 616 Ebd., S. 89. 617 Eibl: Selbstbewahrung im Reiche Luzifers?, S. 37. 618 Als ›Widerstandsdichtung‹ wollen vor allem Nordstrand und Wagener den Text verstanden wissen,

vgl. Karl O. Nordstrand: Stefan Andres und die »innere Emigration«. In: Moderna Språk 63 (1969), S. 247-264; Hans Wagener: Stefan Andres. Berlin 1974. 619 Wilhelm Große: Stefan Andres: Wir sind Utopia. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Interpretationen. Bd. 2. Stuttgart 1996 (= RUB 9463), S. 7-29, hier S. 23.

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ganz gewissen Holzkopf aus dem Puppentheater seiner Jugend erinnert« fühlt, »den er meist als Harlekin ausstattete, aber auch ebenso gern als Helden einsetzte«620 – die ambivalente Rolle Pacos wird so schon deutend vorweggenommen. Im Text selbst als »Sinnbild«621 und »Symbol«622 bezeichnet wird das angesägte Fenstergitter in Pacos früherer Mönchszelle; ein Mitbruder hatte ihm das Anfeilen empfohlen, damit das Gitter nur mehr für die freiwillige Gefangenschaft stehe und nicht für Fremdbestimmtheit und Zwang. Geradezu als ›Falke‹ fungiert der Rostfleck an der Zellendecke, in den schon der junge Mönch die Umrisse seines erträumten Inselstaats Utopia projiziert hatte.623 Die »fluchtutopische Insel«624 ist ein Topos der modernen Literatur. Pacos Utopia steht für seine Idealvorstellung einer Welt, die den Ausgleich zwischen diesseitig-sinnlichem Heidentum und jenseitig orientiertem Christentum gefunden hat625 – eine Einheitsutopie, die sich nicht zuletzt in die Denktradition der Konservativen Revolution einfügt und in ihrem Wunsch nach einer religiösen Synthese auch Parallelen etwa bei Bergengruen hat, der sich selbst einmal als »christlicher Heide«626 bezeichnete. Pacos Dogmatiklehrer hatte diese Vorstellung einst entschieden abgelehnt und destruiert: »Gott liebt die Welt, weil sie unvollkommen ist. – Wir sind Gottes Utopia, aber eines im Werden!«627 Das Ende der Novelle bestätigt die Unvollkommenheit der Welt; verglichen mit El Greco malt den Großinquisitor entfällt diesmal allerdings die Legitimation des Bösen. Stattdessen richten die letzten Selbstvorwürfe Pacos den Blick auf dessen individuelle Persönlichkeit, die möglicherweise nur zu schwach gewesen ist, um einen Widerstand zu leisten, der eben doch notgetan hätte. Pacos Entscheidungsschwäche und Orientierungslosigkeit sind nicht von der Hand zu weisen; als Mönch hat er weder im Kloster selbst noch durch seine kompensierenden Utopia-Träume seinen Weg finden können, das Verlassen des Klosters machte ihn erst recht zu einem Suchenden und Weltreisenden – nicht zufällig wird er Matrose, ein Beruf, mit dem sich das Ruhelose und Getriebene besonders gut assoziieren lässt. Er habe sich angewöhnt, »jede Art von Zuspitzung, auf welchem Gebiete auch immer, zu vermeiden«628, heißt es einmal, und möglicherweise ist es diese Angewohnheit, die ihn in einer extrem zugespitzten Situation handlungsunfähig macht. 620 621 622 623 624 625

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Andres: Wir sind Utopia, S. 10. Ebd., S. 17. Ebd., S. 32. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Utopia-Konzeption des Thomas Morus erläutert u.a. Klein: Stefan Andres, S. 76-80. Vgl. Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart 1967, bes. S. 212-236. Vgl. Andres: Wir sind Utopia, S. 35f. – Dass der Rückbezug auf antike Traditionen für Andres’ Werk genauso wichtig ist wie der auf christliche Themen, Motive und Denkweisen, belegt Sieghild von Blumenthal: Christentum und Antike im Werk von Stefan Andres. Hamburg 1999. Werner Bergengruen: Das Geheimnis verbleibt. Geleitwort von Ida Friederike Görres. München 1952, S. 126. Andres: Wir sind Utopia, S. 40. Ebd., S. 45.

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El Greco ist aus der Konfrontation mit dem Großinquisitor gestärkt hervorgegangen, weil sie sein Selbstverständnis als Künstler bestätigt hat, der nur zur Wahrhaftigkeit der Darstellung, nicht zur Tötung der Tyrannen verpflichtet sei. Paco dagegen ist kein Künstler und er trägt die unmittelbare Verantwortung für den Tod seiner Mitgefangenen; insofern thematisiert der Text auch das Versagen des zaudernden Paco, ist auch ein Stück Selbstkritik der Inneren Emigration, die sich Andres nicht erspart hat: »Zu einer moralischen Rebellion, so scheint mir, ist eine heldenhafte Veranlagung nötig – oder eine außerordentliche Gnade von oben, ich glaube sogar beides … Und ich weiß nicht, wieweit der Mensch zu diesem allerhöchsten Heldentum verpflichtet werden kann – denn: wir sind Sünder!«629 heißt es in Pacos Resümee, das beide Positionen durchscheinen lässt; die nämlich, nach der der unvollkommene Mensch generell nicht geeignet sei, das Postulat des Widerstands in einer schlechten Welt zu erfüllen und diejenige, die ein Stück weit das individuelle moralische Versagen einräumt, das dieser Haltung eben doch zugrunde liegen kann. Gerade mit der zweiten Position überschreitet Andres implizit die üblichen Exkulpationsdiskurse der Nachkriegszeit; trotzdem wurde Wir sind Utopia schon unmittelbar nach Kriegsende im Zuge der Legitimationsstrategien der im Hitler-Reich verbliebenen Schriftsteller vereinnahmt und in der großen Kontroverse um ›innere‹ und ›äußere‹ Emigration funktionalisiert. Unter den Werken, die der Schriftsteller und Journalist Wilhelm Hausenstein gegen das provozierende Verdikt Thomas Manns über die unter der Diktatur geschriebenen Bücher ins Feld führte, fanden sich die von Andres an prominenter Stelle: Neben seinem Roman Der Mann von Asteri (um 1940) soll einzig, im Sinne phänomenalen Beispiels, die Erzählung (von 1943) Wir sind Utopia hervorgehoben sein, die sich aus einem an Goya gemahnenden Temperament des Geistes vor dem Hintergrunde des spanischen Bürgerkrieges mit den höchsten Gegenständen beschäftigt – mit dem Verhältnis des Menschen zum Tode, zum Sakrament, zu Gott. Ich wage zu zweifeln, ob in der Emigration viel geschrieben worden ist, das dieser Erzählung an Rang gleichkommt.630

Aus heutiger Sicht kann sich dieser emphatische Anspruch nur negativ auf die Rezeption eines durchaus schätzenswerten Textes auswirken. Das gleiche gilt für die wenig überzeugende Variante des Autonomiepostulats, auf die sich Andres in der Nachkriegszeit häufig zurückgezogen hat, wenn er etwa die »Sendung des Dichters« darin begriff, »ein wenig von der kosmischen Ordnung widerzuspiegeln«.631 Gerade solche harmonisierenden Positionen haben allerdings entschieden eingewirkt auf die meisten der literaturwissenschaftlichen und didaktischen Beiträge, die Wir sind Utopia in den fünfziger und sechziger Jahre werkimmanent und im Dienst einer apolitischen Auffassung von ›überzeitlicher Dichtung‹ interpretiert haben.632 Die Qualitäten des 629 Ebd., S. 86f. 630 Wilhelm Hausenstein: Bücher – frei von Blut und Schande. In: Süddeutsche Zeitung, 24.12.1945.

In: Die Große Kontroverse. Hg. v. J.F.G. Grosser. Hamburg, Genf, Paris 1963, S. 61-75, hier S. 69. 631 Vgl. die Zitate in Ehrke-Rotermund/Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 478f. 632 Vgl. z.B. Walter Franke: Stefan Andres: Wir sind Utopia. In: Der Deutschunterricht 4 (1952), H. 6,

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Textes werden dagegen erst deutlich, wenn man von dieser Deutungstradition absieht und ihn, wie es Karl Eibl exemplarisch gelungen ist, einer einfühlsamen, aber auch kritischen Relektüre unterwirft. Eine zusätzliche Möglichkeit, sich des ästhetischen Rangs von Wir sind Utopia zu vergewissern, ist der Vergleich mit ähnlich konzipierten Versuchen, christliches Widerstandspotential literarisch darzustellen. Hierzu bietet sich etwa die Novelle Brandnacht von Eckhard Johannes Heftrich an, die 1948 erschienen ist; obwohl dieser Text nicht mehr unter den Bedingungen des Nationalsozialismus entstand, bleibt die Konfrontation zwischen einem militärischen Befehlshaber und einem Mönch, wie sie hier gestaltet wird, deutlich hinter der Komplexität von Andres’ Novelle zurück, an deren Problemstellung sie sich offensichtlich orientiert. Auch hier gibt es den Kommandanten eines Gefangenenlagers, der sich auf ein langes Gespräch mit einem Mönch einlässt (allerdings keinem entlaufenen); selbst der im Hintergrund vernehmbare Gefechtslärm ist eine Parallele zu Wir sind Utopia: »Mönch und Kommandant wissen, daß die Schlacht in den letzten Stunden drohend näher gekommen ist«.633 Bei Heftrich allerdings bestätigt das Gespräch nur die eindeutige moralische Überlegenheit des Klerikers, die den sonst skrupellosen Soldaten verunsichert und ihm »Qual und Unruhe«634 beschert; die Konsequenz bleibt nicht aus: Am Ende vereitelt der Kommandant die eigentlich befohlene Sprengung des Gefängnisses und stirbt durch eine verirrte Kugel, während er den einrückenden Feindtruppen entgegengeht. Aus einer Konstellation, in der Andres die Fragen nach Schuld und Verantwortung, Gott und Tod ausbalanciert und Widersprüchlichkeiten nebeneinander bestehen lässt, wird so ein Läuterungsprozess abgeleitet, in dem sich »die Schwere aller Trauer zur Süße reiner Traurigkeit wandelt«635 und ein moralisch eindeutiges Handeln triumphiert. Gerade im Vergleich zu dieser ins Unglaubwürdige und Kitschige abgleitenden, aber ansonsten sehr ähnlichen Novelle erweist sich Wir sind Utopia von Stefan Andres als ein Text, der zwar (wie das gesamte Werk des Autors636) den Höhepunkt sowohl seiner Popularität als auch seiner wissenschaftlichen Wertschätzung überschritten haben dürfte, aber ohne Zweifel zu den nach wie vor interessanten Werken der Inneren Emigration und der christlich geprägten Literaturproduktion vor und nach dem zweiten Weltkrieg gehört.

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S. 69-87; Conrad Henke: Stefan Andres, Wir sind Utopia. Ein Unterrichtsgespräch. In: Wirkendes Wort 5 (1954/55), S. 234-241; Albrecht Weber: Stefan Andres, Wir sind Utopia. Interpretation. München 1960 [51971] (Interpretationen zum Deutschunterricht an höheren Schulen). Einen kurzen Überblick über die didaktische Literatur und die schulische Rezeption der Novelle gibt Blumenthal: Christentum und Antike im Werk von Stefan Andres, S. 150-152. Eckhard Johannes Heftrich: Brandnacht. Beuron 1948, S. 43. Ebd., S. 25. Ebd., S. 46. Aufschlussreiche Ausführungen über die Rezeption von Stefan Andres in der Nachkriegszeit aus verlagshistorischer Sicht enthält Edda Ziegler: 100 Jahre Piper. Die Geschichte eines Verlags. München, Zürich 2004, S. 208-217.

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3.4. Albrecht Goes (1908-2000) Möglicherweise liegt es an der Präponderanz der katholischen Autoren auf diesem Gebiet, dass der protestantische Pfarrer Albrecht Goes auf die paratextuelle Bezeichnung als ›Novelle‹ meist verzichtet hat; sein größter Erfolg Unruhige Nacht (1950) kommt gänzlich ohne Gattungsbezeichnung aus, Das Brandopfer (1954) firmiert als ›Erzählung‹. Dass beide Texte Merkmale aufweisen, die als ›novellentypisch‹ betrachtet wurden, motiviert allerdings die häufige Verwendung des Begriffs im weiteren paratextuellen Umfeld – etwa wenn der Hamburger Friedrich Wittig Verlag in einer kleinen Vorbemerkung zur Unruhigen Nacht stolz verkündet: »Von dieser Novelle erschienen Übersetzungen in England, Frankreich, Italien, Dänemark, Schweden, Finnland, Holland, USA, Argentinien und Japan«.637 Interessant schließlich ist, dass ausgerechnet eine DDR-Ausgabe von 1977 die Texte Unruhige Nacht, Das Brandopfer und Das Löffelchen unter dem übergreifenden Titel Novellen subsumiert; diese Tatsache kann durchaus als Indiz dafür gesehen werden, dass Goes in der Bundesrepublik gern auf die Gattungsbezeichnung verzichtet hat, weil sie ihm zu konservativ besetzt erschien. In der DDR dagegen gab es die Tradition der sozialistischen Novelle, die den literarästhetisch-formalen Aspekt mit einer im Sinne der herrschenden Ideologie ›fortschrittlichen‹ Tendenz verband; entsprechend sehen die Wertungen aus, die der Ostberliner Union Verlag im Klappentext vornimmt: Einerseits werden die genannten Texte als »die drei Meisternovellen« von Goes und dessen »entscheidende[r] Beitrag zur Literatur der Nachkriegszeit« gewürdigt, andererseits erscheint Goes »als Anwalt der Menschlichkeit, als Ankläger des unmenschlichen Faschismus, als Warner und Mahner angesichts der Remilitarisierung der BRD« – allzu deutlich ist erkennbar, wie sehr »Persönlichkeit, Werk und humanistische Haltung dieses liebenswerten Dichters« für die sozialistische Republik vereinnahmt werden sollen, und ein Stück weit geschieht das eben auch über den Novellen-Begriff. Konnte der Verzicht auf die ausdrückliche Gattungsbezeichnung in der Bundesrepublik eine gewisse Distanz zur christlich-konservativ semantisierten Novellentradition signalisieren, so ließ sich über die Verwendung des gleichen Begriffs im unterschiedlichen Kontext eine Nähe zur ›humanistischen‹ Tendenz der sozialistischen Novelle herausstellen. Die problematischen Seiten dieser Vereinnahmung zeigen sich im Nachwort der DDRAusgabe: Günter Wirth betont den Rang der Unruhigen Nacht unter anderem dadurch, dass er den zeitgleich entstandenen Texten »des heutigen Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll« eine vergleichbar »befreiende und kämpferische humanistische Tendenz« abspricht.638 637 Albrecht Goes: Unruhige Nacht. Hamburg 1950 [41.-45.Tausend]. Eine vollständige Auflistung der

Übersetzungen und Verfilmungen enthält die Reclam-Ausgabe des Textes, vgl. Albrecht Goes: Unruhige Nacht. Mit einem Nachwort des Autors. Stuttgart 2000 (= RUB 8458), S. 71f. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert, weil sie die am leichtesten zugängliche und noch im Handel erhältliche darstellt. 638 Günter Wirth: »Brot für den Frieden«. Zum 70. Geburtstag von Albrecht Goes. In: Albrecht Goes: Novellen. Berlin 1977, S. 183-199, hier S. 189f.

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Inwieweit dem Text zu Recht eine »kämpferische humanistische Tendenz« zugesprochen werden kann, ist sehr die Frage. Erzählt ist Unruhige Nacht aus der Perspektive eines Feldseelsorgers, der seinen Dienst 1942 an der Ostfront versieht. Auf einen Zeitraum von wenigen Stunden sind die Ereignisse konzentriert, mit denen sich der Geistliche auseinandersetzen muss: Ein junger Deserteur ist auf seine Hinrichtung vorzubereiten, ein junger Hauptmann sucht nach einer Möglichkeit, die letzte Nacht vor dem wahrscheinlich todbringenden Einsatz mit seiner Verlobten zu verbringen, es gibt hitlerhörige und hitlerfeindliche Militärs. »Ein Licht fällt in den grauen Nebel eines verlorenen Soldatentums, dessen Höhen und Tiefen hier mit schonungsloser Wahrhaftigkeit, aber auch in verstehender Güte umrissen werden«639, behauptet der Klappentext einer frühen Ausgabe. Der Anspruch, durch die Wahl eines repräsentativen Ausschnitts ein ›Licht‹ auf ein großes Ganzes zu werfen, die Konzentration des Geschehens auf einen kurzen Zeitabschnitt, die mittlere Länge des Textes und eine Erzählstrategie, die durch Wendungen wie »Was nun folgt, ist ein Zwischenakt« oder »Letzte Szene im Wachlokal«640 die Nähe zum Dramatischen sucht, gehören sicher zu den ›novellentypischen‹ Merkmalen der Unruhigen Nacht. Zeittypisch für die frühe Nachkriegszeit sind die Legitimationsstrategien des Erzählers, die sich an Argumentationsmustern der Inneren Emigration orientieren – »Das ist die einzige Kunst, in der wir in diesen Jahren ungeahnte Fortschritte gemacht haben: wir lernen alle Äußerungen, die uns zu Ohren kommen, schnell auf ihre zweideutigen Untertöne und Anspielungen hin verstehen«641, heißt es einmal im Text. Hinzu kommt das unerschütterliche Vertrauen auf den Wert von ›Bildung‹ und ›Humanität‹, die im Text als Zufluchtsort inmitten von Krieg und Diktatur proklamiert werden. Der zeitgenössische Klappentext preist die »weltoffene, warme Liebe«642, mit der der Protagonist den meisten seiner Mitmenschen begegne; auf den heutigen Leser jedoch wirken viele der Passagen, die aus dem Bewusstsein des IchErzählers heraus geschrieben sind, problematisch und inadäquat. Ähnlich wie in Bruno Franks Politischer Novelle ist hier der Fall zu beobachten, dass ein vermeintlich vorbehaltloses Bekenntnis zu ›Humanität‹ und ›Geist‹ unfreiwillig die Brüchigkeit einer Weltsicht offenlegt, die letztlich auf Denkmustern beruht, die sich zum abgelehnten Faschismus analog verhalten. Gleich am Anfang des Textes etwa, als der Ich-Erzähler nach Proskurow beordert wird, möchte er die Dienstfahrt mit einem bildungstouristischen Abstecher verbinden: Die Türkenburg kam in Sicht. Ich hatte von ihr gehört und gelesen, sie stand hier als mächtige Bastion mittelalterlicher Geschichte, ein erregendes Zeichen jener fremden Welt, der wir als einen Namen der Beschwörung den Namen des Prinzen Eugen entge639 Klappentext der Ausgabe Hamburg 1950, 41.-45. Tausend. 640 Albrecht Goes: Unruhige Nacht. Mit einem Nachwort des Autors. Stuttgart 2000 (= RUB 8458),

S. 17, S. 55. 641 Ebd., S. 11. 642 Klappentext der Ausgabe Hamburg 1950, 41.-45. Tausend.

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genrufen. Nicht unmittelbar am Weg lag sie, doch kaum mehr als fünf Kilometer seitab. Ich schlug vor, einen kurzen Umweg zu machen, um sie zu besichtigen, aber es war offenkundig, daß der Fahrer nicht wollte. Er sah unruhig auf seine Armbanduhr, schwatzte etwas von schlechten Straßen und von seinem Marschbefehl, von dem Auftrag, mich auf schnellstem Weg zur Kommandantur zu bringen. Nun, schade. Da komme ich jetzt wohl nie mehr hin. Später bekommt man dann eine ausführliche Schilderung zu Gesicht und denkt: da bin ich einmal, im Oktober zweiundvierzig, haarscharf dran vorbeigefahren. Das ist der Krieg.643

Solche bildungsbürgerlichen Empfindlichkeiten (und mentalitätstypischen Ressentiments gegen ›fremde Welten‹) prägen den gesamten Text und färben auch auf die regimekritischen Passagen ab. Zwar werden Führungskräfte der Armee wegen ihrer »Hitlerhörigkeit«644 negativ beurteilt und wenn sie »Heil Hitler, Herr Pfarrer« sagen, empfindet der Angesprochene dies als »ein Messer zum Willkomm«.645 Auf der anderen Seite ist es immer wieder verletzter Standes- und Bildungsdünkel, der das Bewusstsein des Erzählers dominiert, etwa wenn es heißt: Dieser Krieg, der eine einzige Haßexplosion war gegen alles, was eines guten, heiter beweglichen Geistes sein mochte, brachte in seiner Truppenauswahl wieder und wieder die närrischsten Dinge zustande. Einen Professor der Anglistik hatte man damit beschäftigt, Schinken zu zählen in einem Armeeverpflegungslager, ein Oberzahlmeister, daheim ein sublimer Kenner des Horaz, verbrachte seine Tage damit, über Stühle, Tische und Putzeimer zu quittieren, und ein Friseur, der zeitig genug aufgestanden war, konnte jetzt Hauptmann sein.646

Die einzige ironische Brechung, die dieses Bewusstsein erfährt, liegt darin, dass das Negativbild Kartuschke von Haus aus ausgerechnet Theologe ist. Ansonsten aber ist das Selbstverständnis des Erzählers als eines gebildeten, aufrichtigen, ›menschlichen‹ Exponenten des deutschen Volkes ungebrochen; zahlreiche Wahrnehmungen werden überdeckt durch Bezüge auf kanonisiertes Bildungsgut: Mit dem Namen ›Fedor Baranowski‹ assoziiert der Erzähler unweigerlich den Namen Dostojewskis647, Mahlzeiten im Lager lassen an »Goethes ›Kampagne in Frankreich‹«648 denken, man liebt Beethovens Fidelio649, im »dunkelernsten Jünglingsantlitz« eines Hauptmanns Brentano sucht man »nach Zügen von Clemens oder Bettina« und findet immerhin »ritterlichen Glanz« und »etwas Loderndes«650; man verabschiedet sich mit dem »Rabenwort

Goes: Unruhige Nacht (= RUB 8458), S. 9f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. Ebd., S. 31f. – Die immerhin zeitkritische Äußerung »Ja, und nun sehen Sie: Deutschland und Fidelio, Deutschland 1942!« wird im Text sogleich enthistorisiert durch den Einwand: »Lieber Herr, der Fidelio gehört keinem Volk. […] Der Fidelio gehört dem ewigen Geist, und der ist ein Fremdling auf dieser Erde« (ebd.). 650 Ebd., S. 34f. 643 644 645 646 647 648 649

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des Edgar Allan Poe«651, spielt Vivaldi, rezitiert »aus romanischen Sprachwerken«652 und wenn der Pfarrer einem jungen Liebespaar für eine Abschiedsnacht sein Zimmer zur Verfügung stellt, denkt er, die Situation sei »wie aus Mozarts Figaro«.653 Entsprechend gibt es auch Militärs wie den Horstkommandanten von Winniza, mit dem sich der Ich-Erzähler einig weiß »in der gemeinsamen Liebe zur Musik und dem ebenso gemeinsamen Haß auf Hitler und die Seinen«: »Es war bewunderungswürdig, wie er – ungleich mehr den Spitzeln ausgesetzt, als ich es war – jenen unfaschistischmenschlichen Raum schuf, den er ›sturmfreie Zone‹ zu nennen pflegte«.654 Problematisch ist dieses Bildungsverständnis nicht dadurch, dass die Figuren in bedrängter Lage Trost in der Kultur suchen; das bildungsideologische Moment liegt vielmehr in der Suggestion, die Fähigkeit zum Kunstgenuss immunisiere gegen den Nationalsozialismus und stelle per se bereits einen Akt des Widerstands dar. Bildungsbürgerliche Kunstpflege scheint auszureichen, um an der Ostfront einen »unfaschistisch-menschlichen Raum« zu installieren – und das unter den höchsten Würdenträgern der Armee. Für den Erfolg der Unruhigen Nacht bei den Bildungsbürgern der Nachkriegszeit mag es immerhin ausschlaggebend gewesen sein, dass »Hitlers Krieg«655 hier offenbar nur von den »Kartuschkes«656 geführt wird. Inseln der Humanität bewähren sich; Hauptmann Brentano, der »Haltung, Leichtigkeit, Morgenlicht in Todesnähe«657 verkörpert, bleibt ein Held, auch wenn sein Soldatentod im Dienst eines Unrechtregimes geschieht, und ein Deserteur muss sich in seine Hinrichtung fügen, auch wenn Verständnis für seine Motive geweckt wird. Am Ende mündet die Handlung in verabsolutierende Gedankengänge: »Wer auf diesem Planeten hinwandert, wird schuldig werden, es ist ein unergründliches Gesetz«.658 Individuelle Verantwortung ist damit (noch stärker als bei Stefan Andres) suspendiert, persönliche Schuld relativiert durch die Vorstellung einer allgemeinen, unhintergehbaren, existentiellen und metaphysischen Schuldhaftigkeit des Menschen. Wahrscheinlich hat es der Rezeption des Textes in Frankreich mehr genützt als geschadet, dass der französische Übersetzer und Hölderlin-Spezialist Pierre Bertaux darauf bestand, die letzten anderthalb Seiten in seiner Übertragung unberücksichtigt zu lassen.659 Goes’ zweiter großer Prosaerfolg Das Brandopfer ist zumindest als früher Versuch bemerkenswert, sich mit dem millionenfachen Judenmord literarisch auseinanderzusetzen – auch wenn diese Auseinandersetzung auf eine stark individualisierende und emotionalisierende Art geschieht. Der Titel spielt einerseits auf die Wortbedeutung 651 652 653 654 655 656 657 658 659

Ebd., S. 64. Ebd., S. 63. Ebd., S. 38. Ebd., S. 61. Ebd., S. 46. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Vgl. Albrecht Goes: Nachwort. In: Ebd., S. 73-79, hier S. 75f.

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von ›Holocaust‹ an, meint aber vor allem die Entscheidung einer von ihrem Wissen über die Judenvernichtung überwältigten Metzgersfrau, sich in einer Bombennacht als ›Brandopfer‹ anzubieten; Gott scheint diese Sühne zurückzuweisen, zum Retter wird ausgerechnet ein Jude, dem der Zugang zum Luftschutzbunker verwehrt wurde. Das »Unerhörte«660 wird komplex erzählt: Der nur indirekt involvierte Bibliotheksassistent Dr. S. rekonstruiert die Ereignisse mehrere Jahre später aus persönlichen Gesprächen und zwei umfangreichen Briefen. Im Vergleich zur Unruhigen Nacht ist es vielleicht gerade dieses distanziertere Erzählverfahren, das zu einem überzeugenderen Ergebnis führt, auch wenn die parabelhaften Elemente und der insgesamt versöhnliche Ton einen Umgang mit dem Thema signalisieren, der wiederum stark von den historischen Umständen der Entstehungszeit geprägt ist.

4. ›Sozialistische‹ Novellen Die Frage, ob es eine ›sozialistische Novelle‹ gibt oder gegeben hat, ist schon gelegentlich angeklungen; beim Genre der Künstlernovelle fiel auf, dass etablierte Strukturmuster nach 1945 sowohl im Westen als auch im Osten gepflegt wurden und sich allenfalls im Versuch, bestimmte ›bürgerliche‹ Deutungen zu revidieren, ein ›sozialistisches‹ Element zeigt – das im Wesentlichen durch die marxistische Perspektive geprägte Goethe-Bild, wie es Louis Fürnbergs Die Begegnung in Weimar vermittelt, kann als Beispiel dienen. Die ausführlichste Arbeit zu den Voraussetzungen und Erscheinungsformen einer dezidiert ›sozialistischen Novelle‹ hat in den sechziger Jahren Werner Baum vorgelegt, ein langjähriger Mitarbeiter des hochrangigen DDR-Funktionärs Alexander Abusch und von 1954 bis zu seinem Tod 1968 Abteilungsleiter für Schöne Literatur im Ministerium für Kultur.661 Baums wichtigste Exempla stammen von Eduard Claudius, Willi Bredel, Anna Seghers – die mit Der Ausflug der toten Mädchen und der von Baum als ›Novelle‹ aufgefassten Geschichte des Ehepaares Riedl aus dem Roman Die Entscheidung vertreten ist – und vor allem von Franz Fühmann. Dessen Frühwerk Kameraden (1955) ist der einzige der Beispieltexte, dessen Erstausgabe explizit als ›Novelle‹ bezeichnet wurde; schon der zweite angesprochene Fühmann-Text Böhmen am Meer (1962) besitzt zwar laut Baum »einen novellistischen Charakter«662, verzichtet aber auf die ausdrückliche Gattungszuordnung. Der literaturideologische Kontext von Baums Arbeit liegt auf der Hand: Gesucht wird in erster Linie der Bezug zum ›sozialistischen Realismus‹.663 Das »Feld der No660 Albrecht Goes: Das Brandopfer. Erzählung. Frankfurt/M. 182001, S. 41. 661 Werner Baum: Bedeutung und Gestalt. Über die sozialistische Novelle. Halle/Saale 1968 [Gekürzte

und veränderte Fassung der Dissertation Untersuchungen zur Bedeutung des novellistischen Schaffens für die deutsche sozialistische Nationalliteratur. Greifswald 1966]. 662 Ebd., S. 93. 663 Eine knappe, aber äußerst prägnante Definition des ›sozialistischen Realismus‹ gibt Gunter Schandera unter dem entsprechenden Stichwort in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg.

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vellentheorie« sei bisher »kampflos der westdeutschen Literaturwissenschaft und Ästhetik überlassen«664 worden. Baums Darstellung verspricht Abhilfe durch eine gezielte Rückbindung ›sozialistischer‹ Novellenproduktion an die realistische Erzählkunst des 19. Jahrhunderts und erteilt zugleich den ›westlichen‹ Arbeiten von Pongs, Lockemann, Klein, von Wiese und Himmel entschiedene Absagen. Den Ausgangspunkt bilden dabei, wenig überraschend, die gängigen Topoi der Novellentheorie von Goethe bis Storm. Allerdings wird der Beitrag Theodor Mundts stärker hervorgehoben, als das in vergleichbaren (westlichen) Abrissen der Fall ist – dem Jungen Deutschland zugehörig und der Auffassung, dass »die Literatur dem demokratischen Verändern dienen solle«665, kann Mundt als wichtiges Bindeglied dienen in einer Traditionslinie, die Baum von Goethe bis zum Sozialismus ziehen will. Formal wird die Novelle damit im Großen und Ganzen auf ein klassizistisches Erscheinungsbild festgelegt; das ›Sozialistische‹ ergibt sich über die Inhaltsebene und die Persönlichkeit des Autors: Die interpretierten Werke lassen, wie mir scheint, sehr deutlich erkennen, daß die sozialistische Novelle zunächst einmal durch die sozialistische Position ihres Autors bestimmt ist. Das schließt von vornherein jeden Unglauben an eine Höherentwicklung des Menschengeschlechts, jedes Kapitulieren vor unerkennbaren Gewalten, jedes Verherrlichen mystischer und schicksalhaft waltender Mächte aus.666

Zweifelsfrei klargestellt wird darüber hinaus, wo die entsprechenden Themen zu finden seien: Das tägliche Leben bei dem Aufbau des Sozialismus ist ein unerschöpfliches Reservoir für die Novelle. Sie kann sehr wohl ihre Themen in dem sozialistischen Alltag finden, also im Bereich der lösbaren, der nicht-antagonistischen Widersprüche. Die Rolle der novellistischen Vertiefung wird nicht geringer. Der Geist des sozialistischen Humanismus, dieser Kollektivgeist, der das Leben jedes einzelnen erst zu einem Besonderen macht, kann gerade durch eine vertiefende Zuspitzung schlagartig sichtbar werden.667

Und schließlich bestimmt Baum mit ähnlicher ideologischer Konsequenz sowohl die Besonderheit als auch die Funktion einer ›sozialistischen Novelle‹: Das qualitativ Neue in der Novelle des sozialistischen Realismus besteht darin, daß die Lösung eines Konflikts, auch die tragische, etwas über die künftige Realität aussagt. Das gibt es zwar schon in den Ansätzen in der klassischen realistischen Novelle, aber in der sozialistischen Novelle gehört es zum Wesen des Werkes.668

Die Novelle, im 19. Jahrhundert bevorzugte Gattung des bürgerlichen Realismus, soll für den sozialistischen Realismus eine ähnlich bedeutende Rolle gewinnen und damit die epochenübergreifende Verbindung von »Humanismus, Realismus und So664 665 666 667 668

v. Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 458-460. Baum: Bedeutung und Gestalt, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 108. Ebd., S. 110. Ebd., S. 112.

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zialismus«669 konstituieren helfen. Hier gewinnt Baums normative Darstellung den Charakter einer Poetik, die nicht nur analysieren will, was vorliegt, sondern die durch Bewertung und Anleitung ausdrücklich rückwirken möchte auf die künftige Produktion ›sozialistischer Novellen‹. Wie sehr sich Baum die rigiden Grenzen des marxistischen Realismus-Konzepts zu Eigen macht, zeigen seine Äußerungen zur Symbolik: Unerwünscht ist die »Mystifizierung durch dunkle oder verdunkelnde Symbole, wie sie in der spätbürgerlichen Novellenliteratur vorkommen«. Demgegenüber dürfe das Symbol in der sozialistischen Novelle nicht zum »kaum entzifferbaren Rätselbild« oder zum »Selbstzweck« werden und damit den »Boden realistischer Gestaltung […] verlassen«.670 In solchen Forderungen nach Eindeutigkeit und Klarheit von Symbolen trifft diese ›sozialistische‹ Novellentheorie implizit mit den wertkonservativen, nichts so sehr wie Mehrdeutigkeit und Ambivalenz perhorreszierenden Vorstellungen eines Hermann Pongs zusammen, die Baum zuvor kritisiert und abgelehnt hat.671 Der Doktrin des sozialistischen Realismus scheint die Novelle auch durch ihre »äußerst objektive Erzählhaltung« und, damit verbunden, ihre »stark verallgemeinernde Wirkung« sowie ihren »unbedingten Wahrheitsanspruch« ideal entgegenzukommen – die vielzitierte und für die orthodoxe marxistische Diskussion grundlegende Definition von Friedrich Engels, Realismus bedeute »die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen«672, steht überdeutlich im Hintergrund. Dass der Wahrheitsanspruch auch politisch gemeint ist, liegt bei der ›sozialistischen Novelle‹ auf der Hand: Überhaupt soll die ›unerhörte Begebenheit‹ über die private Dimension hinaus eine gesellschaftliche erhalten; entsprechend wird das wichtigste Ziel eines sozialistischen Novellisten darin gesehen, »den geschichtlichen Gehalt der Begebenheiten sichtbar zu machen« und auf diese Weise »eine Grenzerweiterung der Gattung Novelle«673 zu bewirken. Im Folgenden werden Novellenwerke von sechs Autorinnen und Autoren untersucht, die aus einer ›sozialistischen‹ Perspektive schreiben, so differenzierungsbedürftig auch die jeweilige weltanschauliche und politische Position der einzelnen, höchst individuellen Persönlichkeiten sein mag. Anna Seghers und Arnold Zweig stehen für diejenigen Autoren, die aus dem Exil bewusst in die DDR zurückgekehrt sind und dort zu zentralen Figuren des Literaturbetriebs avancieren konnten. Theodor Plievier und Leonhard Frank gehörten in der Weimarer Zeit gleichfalls zum ›linken‹ Spektrum, Plievier eher dem Anarchismus, Frank dem Sozialismus und Pazifismus zuneigend; beide – Plievier allerdings erst nach zwei Jahren intensiver Tätigkeit in der Ebd., S. 14. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 117. Marx, Engels, Lenin: Über Kultur, Ästhetik, Literatur. Ausgewählte Texte. Leipzig 1973, S. 435; zit. n. Hugo Aust: Literatur des Realismus. Stuttgart 21981 (= Sammlung Metzler, 157), S. 33. 673 Günter Mieth: Komposition, Erzählerperspektive, Gattungsproblematik. Günter de Bruyn: Renata – Christa Wolf: Moskauer Novelle – Franz Fühmann: Böhmen am Meer. In: Deutschunterricht (Ost) 19 (1966), S. 217-223, hier S. 223. 669 670 671 672

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sowjetisch besetzten Zone – zogen es jedoch vor, ihren Wohnsitz nicht in der späteren DDR zu nehmen. Franz Fühmann und Christa Wolf schließlich repräsentieren eine neue Autorengeneration, die im Wesentlichen erst nach dem Krieg literarisch debütiert und sich bewusst an den Gegebenheiten der DDR orientiert; inwiefern sich dies auch auf den Umgang mit der Novellenform auswirkt, wird an den entsprechenden Textbeispielen zu zeigen sein.

4.1. Anna Seghers (1900-1983) »Ich bin zurückgekommen, weil ich in der Sprache, die ich am besten spreche, für die Menschen, die ich sowohl im Guten als auch im Schlechten am besten kenne, das meiste tun kann«, äußerte Anna Seghers gleich nach ihrer Remigration in einem Interview, und fügte ein klares Bekenntnis zur pädagogisch-didaktischen Zielsetzung ihres Schreibens an: »Ich will durch die Bücher, die hier entstehen werden, verhindern helfen, daß die Fehler der Vergangenheit jemals wiederholt werden«.674 Die international renommierte Autorin – bekannt geworden vor allem durch ihren in den USA verfilmten Roman Das siebte Kreuz (1942) – fühlte sich nach den langen Jahren im Exil verpflichtet, am Aufbau eines anderen Deutschland mitzuarbeiten. Obwohl ihr weder die politische noch die private Neuorientierung in den ersten Jahren nach der Rückkehr so leicht fiel, wie das in der älteren Biographik, aber auch in Seghers’ späteren Selbststilisierungen suggeriert wird675, sah die überzeugte Kommunistin von Anfang an nur in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR die Möglichkeit zu einschneidenden Veränderungen gegeben; bis zu ihrem Tod 1983 blieb sie eine, wenn nicht die zentrale Repräsentantin der DDR-Literatur. Ihren oft bekräftigten Anspruch, durch Schreiben die Welt zu verändern, wollte Seghers in den späten vierziger Jahren vor allem durch Erzählungen einlösen, die historische Analogien zur Umbruchs- und Aufbauzeit in Deutschland aufzeigten. In mehreren Fällen verband sie den Rekurs auf historische Stoffe mit dem bewussten Aufgreifen des traditionsreichen Novellenbegriffs; besonders deutlich fällt dieses Vorgehen bei dem 1949 veröffentlichten Band Die Hochzeit von Haiti. Zwei Novellen ins Auge. Den Bezug zu Heinrich von Kleist hat Anna Seghers, die einst durch den Erhalt des Kleist-Preises schlagartig bekannt geworden war und den in der materialistischen Literaturinterpretation lange Zeit umstrittenen Autor auch gegen die Kritik von Georg Lukács verteidigte676, eindeutig hergestellt: »Ich habe wahrscheinlich bei 674 Lieselotte Thoma: Anna Seghers in Berlin: In: Sonntag, Nr. 17, 27.4.1947, S. 2. 675 Vgl. dazu Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie. Bd. 2. 1947-1983. Berlin 2003,

S. 41-70. 676 Vgl. Dirk Grathoff: Materialistische Kleist-Interpretation. Ihre Vorgeschichte und ihre Entwicklung

bis 1945. In: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists. Hg. v. Klaus Kanzog. Berlin 1979, S. 117-192. Ergänzend und teils korrigierend zu Grathoff verhält sich der Aufsatz von Tadeusz Namowicz: Heinrich von Kleist in der DDR. Ein preußischer Dichter und die sozialistische Literaturgesellschaft. In: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 150-

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dem Titel Die Hochzeit von Haiti an Die Verlobung in St. Domingo von Kleist gedacht«677, schreibt sie 1963 an die Jenaer Germanistik-Studentin Renate Francke. Ihre Novellen führen nicht nur in den gleichen geographischen Raum, sondern auch in die gleiche Zeit wie der Kleistsche Prätext. Anders als Kleist jedoch sollte sich Seghers über Jahrzehnte hinweg mit der karibischen Thematik beschäftigen. So wurden die frühen Novellen Die Hochzeit von Haiti und Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe 1962 durch Das Licht auf dem Galgen zu einem ersten Zyklus unter dem Titel Karibische Geschichten678 erweitert; eine zweite Sammlung, Drei Frauen aus Haiti mit den Einzelerzählungen Das Versteck, Der Schlüssel und Die Trennung erscheint 1980 und führt, zeitlich gesehen, bis in die Ära der Duvalier-Dikatatur. Neben diesem »antillianische[n] Doppelterzett«679 verfolgte Seghers auch das Projekt einer Essaysammlung, in der sie an Große Unbekannte erinnern wollte, lateinamerikanische Freiheitskämpfer, in deren exemplarischen Biographien sich »die Pläne und Träume, die Erfahrungen und Enttäuschungen einer Generation, ja vieler Generationen zusammengeballt«680 hätten; von den geplanten drei Beiträgen schrieb sie allerdings nur zwei, in deren Mittelpunkt der Venezolaner Francisco Miranda und der haitianische Revolutionär Toussaint l’Ouverture stehen. Die wesentlichen Ambitionen, mit denen Seghers an diese vielfältigen Texte heranging, markieren zugleich Konstanten ihrer literarischen Laufbahn: Das intertextuelle Spiel mit dem Kleistschen Prätext ist nur ein Beispiel dafür, wie stark Seghers in allen ihren Werken »ästhetische Traditionen und Verfahren der europäischen und der Weltliteratur aufnimmt, modifiziert und erneuert«681; in inhaltlicher Hinsicht ist die Auseinandersetzung mit dem Zustandekommen und dem Scheitern revolutionärer Situationen ein Fixpunkt ihres Schaffens, der schon in ihrem ersten großen Erfolg Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) greifbar wird. Zugleich allerdings kommen beide Ambitionen auch den vorrangigen Idealen einer marxistisch orientierten Literaturwissenschaft entgegen. Seghers’ Novellen wurden in der DDR gelobt als

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166. Vgl. auch Heinrich Küntzel: Der andere Kleist. Wirkungsgeschichte und Wiederkehr Kleists in der DDR. In: Literatur im geteilten Deutschland. Hg. v. Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1980, S. 105-139 (= Jahrbuch zur Literatur in der DDR, 1). Die ausführlichste Darstellung der produktiven Kleist-Rezeption in der DDR (Kunert, Müller, Wolf u.a.) bietet Theo Honnef: Heinrich von Kleist in der Literatur der DDR. New York, Bern, Frankfurt/M., Paris, 1988 (= DDR-Studien, 4). Dabei werden allerdings nur Texte untersucht, die die Person Kleist thematisieren; nicht gestellt wird die viel weiter ausgreifende Frage, inwieweit künstlerische Verfahrensweisen Kleists adaptiert werden bzw. Kleistsche Novellen als Prätexte gedient haben. Anna Seghers: [Entstehung der Antillen-Novellen]. In: Dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 2: Erlebnis und Gestaltung. Hg. v. Sigrid Bock. Berlin 1971, S. 29-33, hier S. 32. Dass sie durch die Wahl dieses Übertitels auf die explizite Kennzeichnung der Texte als ›Novellen‹ verzichtete, hinderte Seghers nicht daran, auch später noch von ihren »Antillen-Novellen« zu sprechen, vgl. Seghers: [Entstehung der Antillen-Novellen], passim. Der in der Forschung inzwischen etablierte, etwas pompöse Begriff geht zurück auf Fritz Rudolf Fries: Das antillianische Doppel-Terzett. In: Neue Deutsche Literatur 28 (1980), H. 11, S. 137f. Anna Seghers: Große Unbekannte. In: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 3. Für den Frieden der Welt. Bearbeitet und eingeleitet v. Sigrid Bock. Berlin 1971, S. 217-242, hier S. 218. Sonja Hilzinger: Anna Seghers. Stuttgart 2000 (= RUB 17623), S. 80.

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»Beispiel der schöpferischen Auseinandersetzung mit dem nationalen literarischen Erbe«.682 Gemeint war damit die »Reverenz« vor der klassisch-realistischen Tradition in Verbindung mit weltanschaulicher Korrektur – indem etwa »die von Kleist aufgegriffene Problematik des Sklavenaufstandes in Haiti an den richtigen Ort in der historischen Bewertung« gerückt und »die für Kleist undurchsichtige, vom Verhängnis und blinder Leidenschaft regierte Welt für den Leser transparent« gemacht werde.683 Sicher lassen die Antillen-Novellen einen breiteren Interpretationsradius zu: Sie können als Dokument autobiographischer Erfahrungen gelesen werden, als Beitrag zum Geschlechterdiskurs684, als Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten jüdischer Identität (eine Reihe der handelnden Figuren sind Juden) oder auch als selbstreflexive, auf Zeichenprozesse konzentrierte Textreihe.685 Trotzdem zeigen gerade die beiden frühesten Novellen (von denen allein hier die Rede sein soll) sowie der Essay über Toussaint l’Ouverture das Interesse der Autorin an einer »Geschichtsschreibung von unten«.686 So ist der Kleist-Anklang in der Titelformel der Hochzeit von Haiti einerseits evident, andererseits irreführend insofern, als keineswegs eine Heirat im Mittelpunkt steht: Zwar kommt es zu einer Verbindung zwischen einem Weißen und einer Schwarzen und sogar zur Geburt eines gemeinsamen Kindes, aber von einer Eheschließung ist nicht die Rede und das private Geschehen bleibt sekundär. Statt um eine ›Hochzeit‹, die auf Haiti stattgefunden hätte, geht es um die ›Hoch-Zeit‹ von Haiti, die ›hohe Zeit‹ der revolutionären Periode, während der das koloniale Inselreich ein auf Freiheit und Republikanismus beruhender Staat zu werden versprach. Liebe und Erotik treten viel stärker hinter die politischen Ereignisse zurück als in der Verlobung in St. Domingo: »Kleist, den ich sehr bewundere, kann nichts dafür, daß er von der Negerrevolution nicht viel wußte und nicht viel verstand. Für ihn war San Domingo etwas Phantastisches, Exotisches«687 – für Seghers dagegen geht es um eine exemplarische historische Konstellation, zu deren möglichst authentischer Gestaltung sie intensive Quellenstudien betrieben hat.688 682 Siegfried Streller: Geschichte und Aktualität in Anna Seghers’ Erzählung Das Licht auf dem Galgen.

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In: Weimarer Beiträge 8 (1962), S. 740-751, hier S. 750. – Inwieweit sich Seghers in ihrem Spätwerk auch kritisch mit den Konzepten des kulturellen Erbes und den Schreibstrategien des Sozialistischen Realismus auseinandergesetzt hat (ohne sich gänzlich von ihnen zu lösen), zeigt Anette Horn: Kontroverses Erbe und Innovation. Die Novelle Die Reisebegegnung von Anna Seghers im literaturpolitischen Kontext der DDR der siebziger Jahre. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2005 (= Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, 22). Streller: Geschichte und Aktualität, S. 750f. Vgl. z.B. Johan Milfull: Juden, Frauen, Mulatten, Neger. Probleme der Emanzipation in Anna Seghers’ Karibischen Erzählungen. In: Frauenliteratur: Autorinnen. Perspektiven. Konzepte. Hg. v. Manfred Jurgensen. Bern, Frankfurt/M. 1983, S. 45-55. Vgl. Bernhard Greiner: »Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist«: Anna Seghers’ zyklisches Erzählen. In: Argonautenschiff 3 (1994), S. 155-171. Manfred Behn-Liebherz: Der Schriftsteller als Gedächtnis der Revolution. Die Karibischen Geschichten. In: Anna Seghers. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Zweite Auflage: Neufassung. München 1982 (= Text + Kritik, 38), S. 87-95, hier S. 94. Seghers: [Entstehung der Antillen-Novellen], S. 32. Aus eigener Erfahrung kennengelernt hat Seghers die Antillen nur kurz, als sie 1941 auf dem Weg

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Entstanden ist Die Hochzeit von Haiti 1948 in Paris und Berlin; im Zentrum des Geschehens steht nicht Toussaint l'Ouverture, sondern die Figur des jüdischen Edelsteinhändlers Michael Nathan, der von Paris aus nach Haiti aufbricht, wo sein Vater schon seit zwölf Jahren ansässig ist. Haiti erweist sich als genaues Abbild des westlich-oligarchischen Mutterlandes; hinzu kommt die Rassenproblematik in einem Land, in dem »die Hautfarbe eine soziale Substanz ausdrücken kann«.689 Michael Nathan, noch in Frankreich mit den Ideen der Revolution in Berührung gekommen, stellt sich auf die Seite Toussaints, dessen Herrschaft eine von der Autorin idealisierte Blütezeit bewirkt: »Jeder fand Arbeit, jeder wurde gebraucht, die Angebote richteten sich weder nach Hautfarbe noch nach Herkunft«.690 Die Beziehung zwischen dem diplomatisch geschickten, schriftkundigen Juden und dem charismatischen Farbigen kulminiert im gemeinsamen Verfassen eines wichtigen Schriftstücks; Bernhard Greiner hat diesbezüglich sogar von einer »geistigen Hochzeit«691 als dem titelgebenden Zentrum des Textes gesprochen, von der die Verbindung des Protagonisten mit der befreiten Sklavin nur ein Derivat sei. Für diese Deutung spricht das ungleiche Maß an tieferer Bedeutung, mit dem die Autorin das Ende beider Beziehungen versieht: Nathans Geliebte und das gemeinsame Kind sterben am Fieber, was nur beiläufig mitgeteilt wird; Nathan, nach Europa zurückgekehrt, lässt sich widerstandslos auf eine vom Vater arrangierte Konvenienzehe ein. Der Tod von Nathan und Toussaint dagegen – beide sterben ungefähr zur gleichen Zeit, Nathan in London, Toussaint in Frankreich, wo er gefangengehalten wurde – erfährt eine viel stärkere symbolische Aufladung als sie der Beziehung zwischen Nathan und der schwarzen Geliebten je zuteil wird: Bei diesen zwei Toten fallen einem die Bäume ein, die, längs der Heerstraßen quer durch Europa gepflanzt, zusammen krank werden und verkommen. Ihr Tod, gleichzeitig an verschiedenen Enden der Welt, erscheint einem weniger rätselhaft, wenn man weiß, daß sie derselben Aussaat entstammen.692

Bei Kleist gilt der letzte Satz dem Andenken der Liebenden; bei Seghers dagegen wird die nationalitäten- und rassenübergreifende Verbindung zwischen revolutionär denkenden und handelnden Männern hervorgehoben, die trotz ihres Scheiterns Hoffnungszeichen setzen im Hinblick auf eine mögliche Veränderung der Welt. Zu Recht allerdings verweisen jüngere Interpretationen nachdrücklich darauf, wie sich gerade in diesem Schlusssatz eine eurozentrische Perspektive offenbart, die Seghers nicht zu überschreiten vermochte: Zum einen sterben weder die Bäume noch die Protagonisten »an verschiedenen Enden der Welt«, es sei denn, diese Welt würde im-

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ins mexikanische Exil kurz in Martinique und San Domingo Station machen musste. Zu den historischen Arbeiten und sonstigen Quellen, die Seghers heranzog, vgl. Herbert Uerlings: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Tübingen 1997, S. 50f. Seghers: Große Unbekannte, S. 233. Anna Seghers: Die Hochzeit von Haiti. In: Dies.: Die Hochzeit von Haiti. Zwei Novellen. Berlin 1949, S. 5-69, hier S. 54. Greiner: »Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist«, S. 163. Seghers: Die Hochzeit von Haiti, S. 69.

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plizit mit Europa gleichgesetzt, zum anderen liegt der intendierten Aufhebung von Kultur- und Rassenschranken in den übergeordneten Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution ein genuin europäisches Geschichtsmodell zugrunde, das keinerlei Raum für kulturelle Alterität lässt.693 Toussaints explizite Anerkennung der europäischen Hochkultur694, der sexualisierte Blick, den auch Seghers (und nicht nur Kleist) auf schwarze Frauen und Männer wirft, die herausgehobene Rolle weißer Revolutionäre auf der Seite der Schwarzen und die einseitige ideengeschichtliche Ableitung der haitianischen Revolution aus der französischen sind nur die auffälligsten Belege dafür, dass Die Hochzeit von Haiti, »bei aller Offenheit für historisch-soziale Aspekte Haitis, einem monologischen Diskursmodell verpflichtet«695 bleibt. Auch die Folgeerzählung Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe weist in dieselbe Richtung; wieder ist die Schlusspassage auf symbolische Überhöhung ausgerichtet und wieder ist ein intertextueller Bezug zu Kleists Verlobung in St. Domingo festzustellen. Der französische Oberst Boyer erinnert sich an die Niederschlagung des Aufstands – unter anderem auch daran, dass unter der Masse der »toten Neger« eine einzelne weiße Leiche gefunden wurde; unter den Zuhörern des plaudernden Oberst ist ein kleiner Junge: Was aber den größten Eindruck auf den Knaben machte, das waren die letzten paar Sätze: der weiße Mann in dem Haufen von toten Negern. […] Die Ahnung von einer ihm unbekannten Welt machte ihn frösteln. Das war eine Welt, die von seiner eigenen vertrauten wie durch einen Vorhang getrennt war. Es gab also noch eine andere Welt. Dort wurde nach anderen Gesetzen gehandelt. Der fremde Mann hatte sein Leben für etwas geopfert, was nichts mit dem Ruhm zu tun hatte, von dem man hier las und sprach.696

693 Vgl. besonders Gertraud Gutzmann: Eurozentristisches Welt- und Menschenbild in Anna Seghers’

Karibischen Geschichten. In: Frauen. Literatur. Politik. Hg. v. Annegret Pelz, Marianne Schuller, Inge Stephan, Sigrid Weigel, Kerstin Wilhelms. Hamburg 1988 (= Literatur im historischen Prozeß, N.F. 21/22), S. 189-204; Sigrid Weigel: »Ein neues Alphabet schreiben auf andre Leiber«. Fremde Kultur und Weiblichkeit in den Karibischen Geschichten von Anna Seghers, Hans Christoph Buch und Heiner Müller. In: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Hg. v. Eijirō Iwasaki. Bd. 11. München 1991, S. 296-304; Arlene A. Teraoka: Race, Revolution, and Writing: Caribbean Texts by Anna Seghers. In: The Internalized Revolution. German Reactions to the French Revolution, 1789-1989. Hg. v. Ehrhard Bahr und Thomas P. Saine. New York, London 1992, S. 219-237, sowie Uerlings: Poetiken der Interkulturalität, S. 49-74. 694 So heißt es etwa über Toussaints Bildungsweg: »Toussaint fühlte sich nicht nur dem Vater Jusieux verbunden, der ihn lesen und schreiben gelehrt hatte; er fühlte sich tief seinen Lehren verbunden. Die weiße Kultur erschien ihm ein strahlendes, unermeßliches Schloß. In seine armseligen Knabenjahre war davon ein Abglanz gefallen, der ihm das Leben wert gemacht hatte. Man durfte sie nie geringschätzen, weil sie von den Weißen ausgedacht war. In einem besseren Leben mußte man alle Menschen daran teilnehmen lassen. Man mußte denselben Abglanz auf alle Leben fallen lassen« (Seghers: Die Hochzeit von Haiti, S. 40). Diese Zeilen lassen erstaunliche Parallelen erkennen zum kommunistischen Anspruch, auch die Arbeiter die Höhen der bürgerlichen Kultur erstürmen zu lassen – insofern formuliert Toussaint eine antillianische Version der ›Erbe‹-Diskussion. 695 Uerlings: Poetiken der Interkulturalität, S. 60. 696 Anna Seghers: Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe. In: Dies.: Die Hochzeit von Haiti. Zwei Novellen. Berlin 1949, S. 71-141, hier S. 141.

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Der Gedanke der Revolution, so die etwas aufdringlich ins Bild gesetzte Moral, überlebt ihr Scheitern, wie schon die Idee des Aufstands den faktisch erfolglosen Aufstand der Fischer von St. Barbara überdauerte. Der revolutionäre Funke wird indirekt und gegen die Absichten des Sprechers an eine neue Generation weitergegeben – dass dies ausgerechnet »nicht weit von der Schweizer Grenze«697 geschieht (Oberst Boyer erzählt die Geschichte im Landhaus seiner Schwiegereltern), unterstreicht den kontrastierenden Bezug zum Kleistschen Prätext, der für die beiden ersten antillianischen Novellen der Seghers entscheidend ist: Auch der Schluss der Verlobung in St. Domingo spielt in der Schweiz, wo Herr Strömli ein Denkmal zu Ehren von »Gustav, seinem Vetter, und der Verlobten desselben, der treuen Toni«698 setzen lässt – das zum Denkmal geronnene Erinnern aber verkörpert private Beziehungen und traditionelle Werte wie Verwandtschaft und Treue, wo die Erzählung Boyers den Revolutionsgedanken in Fluss hält. Erkennbar bleibt in jedem Fall der interpretierende Rückbezug auf Kleist; die Überlegung, dass sich Seghers durch den bewussten Rückgriff auf traditionelle Erzählmodelle und die genuin europäische Novellentradition mit ihrer Ausrichtung auf ›unerhörte Begebenheiten‹ und große Einzelpersönlichkeiten auch Zugänge zur kulturellen Alterität der emphatisch ergriffenen Thematik verstellt haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen.699 Fragwürdig bleibt die intendierte Kleist-Nachfolge aber auch, wenn man davon absieht, inwieweit das eigenkulturelle Formmodell dem fremdkulturellen Stoff angemessen sein kann, und nur das Segherssche Erzählen mit dem Kleistschen vergleicht. Denn Seghers kann das Vorbild Kleist nur brauchen, indem sie die charakteristischen Ambivalenzen des Kleistschen Erzählens negiert und bereinigt; damit ergibt sich eine überraschende Strukturanalogie zum intentional und ideologisch gegensätzlichen, aber gleichfalls an Kleist anschließenden Novellenkonzept Friedrich Franz von Unruhs. Die Kommunistin und der Reaktionär treffen in einem vereindeutigenden Umgang mit den Kleistschen Prätexten zusammen, schreiben an gegen das fundamentale »Prinzip der Doppeldeutigkeit«700 in Kleists Novellen: Seghers, indem sie die revolutionären und anarchischen Elemente, Unruh, indem er das Traditionsgebundene, Militärische und Preußische herausstreicht. Obwohl die Texte von Seghers denen Unruhs ästhetisch überlegen sind, leidet auch ihr Versuch einer produktiven Kleist-Nachfolge daran, der Klarheit einer ideologischen Aussage genau diejenige Ambivalenz geopfert zu haben, die die bleibende Faszinationskraft der Kleistschen Novellen bis heute garantiert.

697 Ebd., S. 137. 698 Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo. In: Ders.: Erzählungen/Anekdoten/Gedich-

te/Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990 (= Sämtliche Werke und Briefe, 3), S. 222-260, hier S. 260. 699 Vgl. Gutzmann: Eurozentristisches Welt- und Menschenbild, S. 202. 700 Vgl. dazu Klaus Müller-Salget: Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen. In: ZfdPh 92 (1973), S. 185-211.

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4.2. Arnold Zweig (1887-1968) In der Weimarer Republik hatte Arnold Zweig stets die SPD, nicht die Kommunisten gewählt, zuletzt noch am 3. März 1933. Von daher war es keineswegs zwingend, dass er aus dem Exil in den östlichen Teil Deutschlands zurückkehrte; doch während ihm die West-Berliner Behörden auf Anfrage mitteilten, dass er auf sein Haus in Berlin-Eichkamp keinen Anspruch mehr habe, bemühte man sich in der späteren DDR um den sechzigjährigen Schriftsteller. Vor allem Johannes R. Becher brachte ihm große Wertschätzung entgegen und lud ihn schon 1949 ein, neben ihm im ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ tätig zu werden.701 Ebenso wichtig wie die Anerkennung, die ihm zuteil wurde, waren für den in Palästina verarmten Autor auch die relativ großzügige finanzielle Ausstattung, die ihm die junge DDR gewährte, und der rasche Neudruck seiner Werke. In den Folgejahren erhielt er eine Reihe höchster Auszeichnungen, vom Nationalpreis erster Klasse über den Lenin-Friedenspreis bis zur Schiller-Plakette, war zeitweise als Präsident der neu gegründeten Akademie der Künste wie als Volkskammer-Abgeordneter tätig. Zu den Werken Arnold Zweigs, die erstmals in der DDR erschienen sind, gehört die ›Tatra-Novelle‹ Über den Nebeln. Die Erstausgabe enthält eine aufschlussreiche Nachbemerkung des Autors: Die Niederschrift dieser Novelle erfolgte 1936 […]. Sie wurde im Januar 1949 durchgearbeitet und erschien unter dem ursprünglichen Titel: »Abschied vom Frieden« in der Wochenschrift »Sonntag« des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Weit später erfuhr ich, daß ein Buch dieses Titels, Erzählungen des befreundeten Schriftstellers F. C. Weißkopf enthaltend, bereits vor längerer Zeit abgeschlossen und vom Dietz-Verlag, Berlin, angekündigt worden war. Es verstand sich daher von selbst, daß ich meiner Tatra-Novelle einen anderen Titel gab.702

Der ursprüngliche Titel Abschied vom Frieden verweist allerdings deutlicher auf das thematische Zentrum der Novelle, die im Winter 1932 spielt – kurz bevor die Machtübernahme der Nationalsozialisten den ›Frieden‹ beendet und »einen wesentlichen Wendepunkt in Zweigs persönlichem Leben«703 wie auch weit darüber hinaus markiert. Der Ort des Geschehens ist nicht zufällig gewählt: Die hohe »Tatra umgibt aus der neuesten Geschichte wie aus alten Zeiten der Dunst aufregender Begebenheiten und leicht entflammbaren Streites«704, heißt es im Einleitungskapitel. Doch obwohl die Gegend die gefährliche Atmosphäre nationaler Auseinandersetzungen evoziert, erweist sie sich für die Protagonisten vor allem als idyllischer Ort, an dem der jüdische Berliner Kunsthändler Karl Steinitz und seine beiden Söhne einen letzten Winterurlaub verbringen, bevor sie ins Exil getrieben werden; der Aufenthalt, 701 Vgl. Jost Hermand: Engagement als Lebensform. Über Arnold Zweig. Berlin 1992, S. 174. 702 Arnold Zweig: Über den Nebeln. Eine Tatra-Novelle. Halle 1950, S. 135. 703 Günter Wackwitz: Arnold Zweigs Tatra-Novelle. In: Germanistisches Jahrbuch DDR – CSSR

1982/83, S. 319-327, hier S. 324. 704 Zweig: Über den Nebeln, S. 10.

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den Arnold Zweig mit seinen Söhnen Michael und Adam sowie seiner damaligen Sekretärin Lily Offenstadt zwischen dem 21. Dezember 1932 und dem 8. Januar in Tatranska Lomnica genommen hat, schlug sich in zahlreichen Details nieder.705 Insofern ist Über den Nebeln auf der einen Seite ein sehr privater Text, der deutlich an Thomas Manns Unordnung und frühes Leid erinnert; in beiden Fällen spiegelt sich die private Familienkonstellation im literarischen Werk, in beiden Fällen steht ein räsonierendes Alter Ego des Autors im Mittelpunkt, in beiden Fällen ist die momentane Lage der Familie entschieden mitbestimmt von den zeithistorischen Umständen. Dass sich die Familie Steinitz, als der Gesundheitszustand eines Sohnes den Gebirgsaufenthalt erforderlich macht, nicht in die Schweiz begibt wie noch einige Jahre zuvor, wird ausdrücklich mit der angespannten Zeit- und Wirtschaftslage begründet – »fürs Engadin mit seinen Schweizer Franken langte es um jene Zeit dem Kunsthändler Steinitz schon nicht mehr«.706 Damit ist zugleich die zeithistorische und politische Dimension angesprochen, die die andere Seite des Textes ausmacht. Die familiären Urlaubserlebnisse bleiben unspektakulär; wichtiger sind die Reflexionen und Gesprächsäußerungen des Kunsthändlers, die kontrastiert werden mit den vorausdeutenden Kommentaren des allwissenden Erzählers. Während Steinitz – etwa in seiner fatalen Unterschätzung der »Schwatzionalkotzialisten«707 – an den Horizont des Winters 1932 gebunden bleibt, trifft der Erzähler zukunftsgewisse Vorausdeutungen auf Krieg und Holocaust.708 Das zwölfte Kapitel Mittagsschläfchen spielt besonders eindringlich mit dem Kontrast von privater Idylle und sich anbahnender Katastrophe. Der Mittagsschlaf der Familie wird zum Ausgangspunkt einer weitreichenden Betrachtung: Schlafend wie sie, liegt die Ebene am Fuße der Berge, gebettet in den schweren, bösen Nebel, wie in einen Milchsee, und so auch, nur in einem etwas veränderten Sinne die ganze Mitte Europas von den Gebirgen bis zum Meer. Denn in diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, da alles stillzustehen scheint, vollziehen kleine Gruppen hochgeborener Leute Entscheidungen, holen sie Kräfte heran, nehmen sie Partner in ihr Geschäft, an denen sie nützliche Diener zu vaterländischen Zwecken zu haben meinen. Leichtherzig, leichtfüßig laufen ihre Worte, Briefe, Telefonate hin und her, und was sie vorbereiten, ist etwas Handhabbares, genau Bekanntes: man schiebt einen Massenführer in die Macht, um ihn am rechten und linken Arm freundschaftlich zu führen. Aber was die Zukunft enthält, was aus dieser Schiebung entsteht, welch ein neuer Ruck in der Entwicklungsgeschichte des Erdteils damit anhebt, Wellen und Wirkungen überallhin entsendend, das weiß niemand. Wüßten sie’s, keiner der drei Menschen würde hier so friedlich liegenbleiben. Millionen würden mit ihnen aus dem Schlafe fahren und den gellenden Schrei ausstoßen, das Sirenengeheul der Warnung und Verzweiflung, das später erschallen wird. Viel später.709

705 706 707 708 709

Vgl. Wackwitz: Arnold Zweigs Tatra-Novelle, S. 320. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 77. Vgl. z.B. S. 27f. Ebd., S. 99f.

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Ein Stück weit ist der Mittagschlaf auch ein ›Schlaf der Vernunft‹ im Sinne Goyas; die Nebel der Ebene sind symbolisch für den umnebelten Kontinent, die Friedensperiode geht zuende, denn Hitler beginnt den Krieg schon 1933 im eigenen Land, zunächst gegen Regimegegner und Juden. Die Novellenfassung von 1936 endet mit diesem knappen zwölften Kapitel: Die Protagonisten werden entlassen ins »neue Jahr«, in »eine neue Ära, neue Meinungen und ein neues, schweres Dasein«.710 1949, als Zweig die Novelle nochmals vornahm und zur Publikation vorbereitete, hat er vier Kapitel ergänzt, die fast ein Viertel des gesamten Textumfangs ausmachen und das bisherige Schlusskapitel Mittagsschläfchen zu einer Art ›Wendepunkt‹-Kapitel werden lassen. Erst im Nachhinein, aus der Position des Rückblicks auf Krieg und Exil kann Zweig der im 12. Kapitel angedeuteten Entwicklung etwas entgegensetzen – nämlich ein vorbehaltloses Bekenntnis zur Aufklärung und zur Französischen Revolution. Zweigs Protagonist postuliert beides als »lebenswichtig«711 und belehrt damit seine Sekretärin und Geliebte, die ihn herausgefordert hatte mit der Überlegung, ob die Französische Revolution nicht lediglich eine Komplizierung der Lebensbedingungen erbracht hätte. Vom pädagogischen Impetus der Hauptfigur wie des Autors getragen – »Wir sind doch Oberlehrer, wir Männer, und bleiben es in Leiden und Lieben«712 – nehmen essayistische Passagen, in denen schon in früheren Kapiteln künstlerische, literarische, politische und historische Entwicklungen kommentiert wurden, nun beinahe überhand. Steinitz verlangt Übereinstimmung im geistig-politischen Bekenntnis: »Versteh mich recht«, bat er, »über gewisse Materien kann es zwischen Liebesleuten nicht klar genug zugehen. Früher fragte sich Gretchen, wie es ihr Heinrich mit der Religion halte, heute frag’ ich meine Ellen, was sie vom Befreiungskrieg der Menschheit hält, in den sie doch auch verwickelt ist[«].713

Wie für viele andere jüdische Intellektueller von Heinrich Heine bis Walter Benjamin markiert die Französische Revolution im Denken von Steinitz schon deshalb einen zentralen Punkt, weil sie die erstmalige politische Gleichstellung der Juden mit den christlichen Mitbürgern bewirkt hat. Tatsächlich bewusst geworden ist Steinitz die epochale Bedeutung der Aufklärung und der »Ideen von 1789« erst nach dem Ersten Weltkrieg, als er sich in Toulon mit einem senegalesischen Sergeanten unterhielt – was Ellen zunächst überrascht: »Ein Schwarzer?« fragte sie und rückte ein kleines bißchen von ihm weg. »Ein Neger«, bestätigte er […]. Er hatte Bücher gelesen, […] besonders solche, die von Schicksalsgenossen geschrieben waren, von gebildeten Negern aus Trinidad und den USA, und weißt du, was ich von ihm erfuhr, als ich auf die Trikolore zu sprechen kam, und wie sie seit 1789 geschaffen worden war? Ohne uns wäre sie gar nicht zustande gekommen, die große Revolution, sagte er. Durch den Handel mit unseren Vorfahren, den 710 711 712 713

Ebd., S. 101. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd.

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Sklaven aus Afrika, nach San Domingo, hatten die Handelshäuser von Marseille und Nîmes das Geld verdient, um Abgeordnete aus der Gironde nach Paris schicken zu können, Vertreter des dritten Standes, Mitschöpfer der Verfassung. Verkaufte Menschen, Schwarzarbeiter in den Plantagen im wahren Sinn des Wortes halfen so in der Nachtsitzung vom 4. August die Menschenrechte zu gebären. Nur recht und billig, daß sie auch etwas davon profitieren, meine ebenholzfarbigen Kameraden! – Und siehst du, Ellen, das war mir neu, es gab mir zu denken für gestern, heute und morgen. Und das verbindet dich, schöne blonde Prinzessin, mit unseren Weltkriegsgegnern von Fort La Malgue.«714

Den Sklavenhandel als Voraussetzung der Revolution zu begreifen, mutet zunächst überraschend an, doch wichtiger ist die Darstellung der Revolution als universaler Erscheinung von menschheitsveränderndem Anspruch. Hier trifft sich die Perspektive von Zweig mit der von Anna Seghers; die Erwähnung San Domingos kann durchaus als intertextueller Bezug zu Seghers’ antillianischen Novellen gelesen werden. Das nachdrückliche Bekenntnis zu den ›Ideen von 1789‹, von Zweig auch in Sachtexten wie der Bilanz der deutschen Judenheit abgelegt715, gibt der ›Tatra-Novelle‹ Über den Nebeln eine geschichtsphilosophische Dimension, die Zweigs Zukunftshoffnungen Ausdruck verleiht: Bedenkt man, dass die Figur Steinitz in vorangegangenen Ausführungen einen Bogen schlägt von der Aufklärung über das deutsche Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik, so lässt sich die ›Tatra-Novelle‹ auch als eine Art von ›deutscher Novelle‹ lesen in dem Sinn, dass die deutsche Geschichte in ihrer Entwicklung und Fehlentwicklung bis hin zu den Nationalsozialisten zum Gegenstand des Textes avanciert und aus einer bewusst ›linken‹ Perspektive gedeutet wird – nicht zufällig hatte Zweig geplant, die Tatra-Novelle zum Beginn eines Romans mit dem Titel Rechts und links werden zu lassen, ein nicht realisiertes Projekt, mit dem er schlüssig nachweisen wollte, »daß die Stellung des aufgeklärten Intellektuellen links zu sein habe«.716 Als ›linke‹ Geschichtsdeutung in novellistischer Form wiederum weist Über den Nebeln auch Affinitäten auf zu den beiden Novellentexten Theodor Plieviers und Leonhard Franks, die im Folgenden untersucht werden.

4.3. Theodor Plievier (1892-1955) Im Abstand von wenigen Jahren legten Theodor Plievier und Leonhard Frank Novellen vor, deren Titelformeln sich nur marginal unterscheiden: Plieviers Eine Deutsche Novelle erschien 1947 bei Gustav Kiepenheuer in Weimar, Franks Deutsche Novelle erst 1954 in München, obwohl der Text, wie eine Vorbemerkung im Erstdruck betont, bereits »1944 in Hollywood« entstanden war. 714 Ebd., S. 116f. 715 Vgl. Albrecht Betz: Arnold Zweig und die ›Ideen von 1789‹. Zu seiner Tatra-Novelle Über den Ne-

beln. In: Arnold Zweig – Poetik, Judentum und Politik. Akten des Internationalen Arnold ZweigSymposiums aus Anlaß des 100. Geburtstags. Cambridge 1987. Hg. v. David Midgley, Hans-Harald Müller, Geoffrey Davis. Bern, Frankfurt/M., New York, Paris 1989, S. 144-154. 716 Ebd., S. 153.

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Plieviers Novelle kam nur kurz nach seinem Kriegsroman Stalingrad heraus, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit »in Ost und West zum Bestseller wurde«.717 An diesen Erfolg vermochte Eine Deutsche Novelle nicht anzuknüpfen, obwohl sie in mancher Hinsicht ähnlich konstruiert ist – etwa was die Einbeziehung dokumentarischen Materials angeht, das im Fall der Novelle zum Beispiel auch die Aussage des ehemaligen Auschwitz-Kommandanten Rudolf Hoeß vom »15. April des Jahres 1946 vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg«718 umfasst. Eine deutsche Novelle wird aus der Ich-Perspektive erzählt: Am 28. Februar 1933 – dem Tag des Reichstagsbrands und insofern an einem historischen ›Wendepunkt‹ – erhält der Ich-Erzähler Besuch in seiner Berliner Wohnung. Ein Unbekannter spricht ihn auf sein Buch über den Kieler Matrosenaufstand von 1918 an – sicher auch ein intertextueller Verweis auf Plieviers 1932 erschienenen Revolutionsroman Der Kaiser ging, die Generäle blieben.719 Der Besucher stellt sich als Zeitzeuge vor: Als achtzehnjähriger Marinesoldat habe er einen aufständischen Matrosen erschossen, dessen Bild ihm, nachdem er das Buch des Ich-Erzählers gelesen habe, wieder umso deutlicher vor Augen stehe. Darüber hinaus sei seine Erinnerung – »Das Gedächtnis, ja, das ist eine furchtbare Sache«720 – vor allem »aufgerührt«721 worden durch den Januaraufmarsch der Nationalsozialisten. Im Folgenden werden Bezüge hergestellt zwischen der zu erzählenden »Begebenheit aus dem Jahre 1918«722 und den politischen Ereignissen von 1933, die rasch erkennen lassen, welches Geschichtsbild Plievier vermitteln möchte: Der Erfolg der Nationalsozialisten wird in erster Linie auf die Machenschaften einer vom Großkapital unterstützten, vielfältig vernetzten und freikorpsartig strukturierten Geheimorganisation zurückgeführt. Der unbekannte Besucher, später mit dem Namen Lommer vorgestellt, gehört nicht nur seit Jahren der NSDAP, sondern auch der Organisation »Hafendienst« an, seit dem Vortag sogar in einer »leitenden Position«.723 Allerdings ist es ein reichlich »phantastischer«724 Plan, den er nach vielen Umschweifen an den Ich-Erzähler heranträgt: Lommer, seit seiner Jugend von Schuldgefühlen wegen der Kieler Ereignisse gequält, sucht über den Ich-Erzähler Anschluss an kommunistische Organisationen. Offenbar will er »einen Hafendienst oder vielmehr einen Überhafendienst, ein geheimes Überwachungs- und Nachrichtennetz innerhalb dieser über die Erde ausgebreiteten Institution aufbauen und zu717 Michael Rohrwasser: Theodor Plieviers Kriegsbilder. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und

718 719

720 721 722 723 724

Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Internationale Konferenz vom 01.-04.09.1999 in Berlin. Hg. v. Ursula Heukenkamp. Bd. 1. Amsterdam, Atlanta, GA 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50.1), S. 139-153, hier S. 140. Theodor Plievier: Eine deutsche Novelle. Weimar 1947, S. 100. Vgl. zu diesem zweiten Romanerfolg Plieviers nach Des Kaisers Kulis (1929) Ulrich Kittstein: Die Novemberrevolution in Romanen der Weimarer Republik. Kellermann – Plievier – Hermann. In: Jahrbuch zur Literatur und Kultur der Weimarer Republik 8 (2003), S. 119-151, bes. S. 129-138. Plievier: Eine deutsche Novelle, S. 5. Ebd., S. 78. Ebd., S. 13. Ebd., S. 79. Ebd., S. 81.

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gleich die entsprechenden Gegenaktionspunkte organisieren«.725 Der Ich-Erzähler lehnt entschlossen ab und Lommer verabschiedet sich; abends ruft er noch einmal an, um den Ich-Erzähler in verschlüsselter, aber sehr deutlicher Form zur sofortigen Flucht zu raten. Spätere Informationen, die der Ich-Erzähler zufällig erhält, bestätigen die eigenartigen Verhaltensweisen Lommers unter dem Nationalsozialismus: Einerseits im Dienst des Regimes, gibt er linken Organisationen doch immer wieder »Tipps«.726 Schon bald verliert er allerdings an Einfluss gegenüber dem »eisernen Bestande der Henker«727, deren rigorose Gewaltausübung über Land und Volk hinweggeht. Irgendwann muss Lommers doppeltes Spiel aufgefallen sein, denn der Ich-Erzähler begegnet ihm ein letztes Mal im Januar 1945 in Auschwitz, wo der Häftling Lommer unmittelbar nach der Befreiung stirbt; seine letzten Wort lauten: »Wir haben Deutschland erschlagen!« – eine Diagnose, auf die der Ich-Erzähler nur noch eine appellhafte Aufforderung zu »gemeinsame[m] Tun«728 folgen lässt. Lommer steht im Text offenbar für einen gewissen Typus des Deutschen: Als Angehöriger einer Generation, die durch den Kriegseinsatz und die Unmoral der Herrschenden schon in früher Jugend »mißbraucht«729 worden ist, findet er nicht zu einem verantwortungsbewussten Handeln und bereitet nur den noch brutaleren Schlächtern den Weg. Die Zusammenstellung von Episoden aus den historisch so bedeutsamen Jahren 1918, 1933 und 1945 soll auch beim Leser die Reaktion hervorrufen, die der Ich-Erzähler gegenüber Lommers Bericht zeigt: »eine außergewöhnliche Geschichte und die Fäden laufen alle zusammen«.730 Die Überdeutlichkeit, mit der Plieviers Geschichtsdeutung ›die Fäden zusammenlaufen‹ lässt und den Erfolg des Nationalsozialismus auf die Machenschaften des Großkapitals reduziert, widerspricht jedoch nicht nur dem weitaus komplexeren historischen Verlauf, sondern steht auch einem ästhetischen Gelingen der Novelle erheblich im Weg. Die erkennbaren Affinitäten zu einer sozialistischen Geschichtsdeutung konnten die Rezeption des Textes in der späteren DDR nicht mehr positiv beeinflussen: Noch im selben Jahr 1947, in dem Eine deutsche Novelle erschien, floh Plievier aus der sowjetischen in die amerikanische Besatzungszone – nachdem er die Kriegsjahre im sowjetischen Exil verbracht hatte und seit 1945 unter anderem als Vorsitzender des ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ und Freund Johannes R. Bechers am Aufbau des Sozialismus mitgearbeitet hatte. In der DDR galt er daher als Renegat, was kaum ein Dokument so nachdrücklich belegt wie der Nachruf, der im April 1955 in Neue deutsche Literatur, dem offiziellen Organ des DDR-Schriftstellerverbandes, unter der Überschrift De mortuis nihil nisi vere veröffentlicht wurde:

725 726 727 728 729 730

Ebd., S. 84f. Ebd., S. 90. Ebd., S. 88. Ebd., S. 108. Ebd., S. 21. Ebd., S. 65.

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Theodor Plievier, Verfasser zweier Bücher, die von den Feinden des Friedens als ideologische Waffen freudig begrüßt wurden, ist am 12. März in der Schweiz verstorben. Der Schriftsteller gleichen Namens hatte schon mehrere Jahre zuvor aufgehört zu leben.731

4.4. Leonhard Frank (1882-1961) Als sich die Neue deutsche Literatur 1961 zum Tod von Leonhard Frank äußerte, klang das sehr viel freundlicher als im Falle Plieviers. Zwar war Frank 1950 aus dem kalifornischen Exil nach München zurückgekehrt und nicht in die DDR, doch als »guter Freund und häufiger Gast«732 wurde der bekennende Pazifist und Sozialist dort hoch geschätzt – 1955 erhielt er den Nationalpreis erster Klasse, 1957 ein Ehrendoktorat der Humboldt-Universität und 1960 die Tolstoi-Medaille des sozialistischen Bruderstaats UdSSR.733 Novellen haben in Franks literarischem Werk von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt; als ihn Heinrich Mann 1918 für den Kleist-Preis vorschlug, tat er das vor allem im Hinblick auf die Erzählung Die Ursache und den pazifistisch engagierten Novellenzyklus Der Mensch ist gut, der 1917 in der Schweiz erschien und in Deutschland sofort verboten wurde734; für den jungen Marcel Reich-Ranicki war Frank ein »exemplarischer Novellist«, seine Novellen »Musterbeispiele vollendeter Kompositionskunst« (während er Franks Romanen jede »deutlich sichtbare Faktur« absprach).735 Franks Deutsche Novelle ist kurz vor Plieviers fast gleichnamigem Text entstanden, aber deutlich später veröffentlicht worden. Zu den ersten, die den Text schon zur Entstehungszeit 1944 kennenlernen konnten, zählte der Mit-Exilant Thomas Mann, der dem weitaus weniger berühmten Schriftstellerkollegen auch aus dem eigenen Arbeitsprojekt, dem Doktor Faustus, vorlas.736 731 N.N.: De mortuis nihil nisi vere. In: Neue deutsche Literatur 3 (1955), H.4, S. 164. 732 Vgl. den Nachruf des DDR-Schriftstellerverbandes in: Neue Deutsche Literatur 9 (1961), H. 10,

S. 3.

733 Zur Rezeption Franks nach 1945 vgl. Erwin Rotermund: Zwischen Ost und West: Leonhard Frank

im Nachkriegsdeutschland (1950-1961). In: Ders.: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur. Hg. v. Bernhard Spies. Würzburg 1994, S. 200-213. 734 Vgl. Ralph Grobmann: Gefühlssozialist im 20. Jahrhundert. Leonhard Frank 1882-1961. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2004, S. 46-65. 735 Marceli Ranicki: Ein exemplarischer Novellist. Bemerkungen zur Epik Leonhard Franks. In: Neue deutsche Literatur 5 (1957), H. 1, S. 119-126, hier S. 124. - Auf die Deutsche Novelle geht ReichRanicki dabei nicht ein. 736 Dass Thomas Mann in seinem Arbeitsbericht Die Entstehung des Doktor Faustus die Deutsche Novelle zwar als »kleines Meisterwerk« lobt, aber zugleich die Bemerkung fallen lässt, man spüre den Einfluss des eigenen Deutschland-Romans, hat Leonhard Frank mit Verärgerung quittiert, vgl. Leonhard Frank: Links wo das Herz ist (München 1952, S. 291-293). Einen überzeugenden Vergleich beider Werke, der zudem betont, dass die Einflussnahme nicht nur eine einseitige gewesen sein dürfte, liefert Peter Cersowsky: »Nicht ohne Verwandtschaft mit Faust«. Leonhard Franks Deutsche Novelle und Thomas Manns Doktor Faustus. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34 (1990),

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Frank geht viel weniger direkt auf historische Ereignisse ein als Plievier; die Handlung scheint zunächst rein privater Natur. Ihr Ausgangspunkt ist ein Gemälde, das ein nacktes Paar unmittelbar nach seinem Tod durch Revolverschüsse zeigt; das provozierende Kunstwerk und seine Beschreibung verleihen dem Text von Anfang an eine »echt novellistische Silhouette«.737 Gemalt und ausgestellt wurde es 1944 von einem deutschen Emigranten in New York; wie in mehreren seiner Romane und auch in seiner romanhaften Autobiographie Links wo das Herz ist (1952) stilisiert Frank die eigene Person zur Kunst- und Künstlerfigur des Michael Vierkant. Als Zweiundzwanzigjähriger war Michael Zeuge der dem Bild zugrundeliegenden Tragödie geworden, die als Binnenerzählung berichtet wird und ins Jahr 1904 zurückführt. Schauplätze der Handlung sind Würzburg (die Heimatstadt Leonhard Franks) und vor allem Rothenburg ob der Tauber. Beide Orte dürften nicht zufällig gewählt sein: Sowohl das katholische Würzburg, die »Stadt des Barock und der Gotik«738, als auch das überwiegend protestantische, deutsch-mittelalterlich geprägte und fast museale Rothenburg repräsentieren eine als typisch deutsch dargestellte Provinzialität. Im Mittelpunkt steht die zweiunddreißigjährige, verwaiste und ledige Josepha von Uffendorf, die zunehmend von erotischen Träumen gequält wird; Objekt der Begierde ist ihr Kammerdiener, der planmäßig versucht, die Herrin zu verführen. Zur Tragödie führt die Konstellation, weil die rigoros sexualfeindliche Einstellung Josephas sie anfällig macht für die sadistischen Neigungen des Dieners, der an seiner Zimmerwand einen »Farbdruck« hängen hat »mit einer nackten dicken Frau und einem Herrn im Frack, der mit der Hundepeitsche zum Schlag ausholte«.739 Josepha war zeitlebens von der »Unvereinbarkeit«740 von Seele und Körper, idealer Liebe und gelebter Sexualität überzeugt; die fortgesetzte Triebunterdrückung lässt sie jedoch zur Masochistin werden, die schließlich – wie zuvor schon in ihren Träumen – mit dem verachteten Diener schläft, sich lustvoll demütigen und auspeitschen lässt. Das starke sexualpathologische Interesse, das Frank schon in früheren Werken bewiesen hat, schlägt auch hier durch.741 Als unbewusstes Komplement der voyeuristischen Perspektive muss wohl der moralistische Schluss gelten: Josepha erschießt den Diener und sich selbst, eine Tat, die auch vom Erzähler als »Triumph über die seelische Verwüstung«742 affirmiert wird. Deutet man die politische Allegorie, als die die Deutsche Novelle ähnlich wie der Text Plieviers schon durch ihren Titel gelesen werden will, so ist Josepha »eindeutig S. 349-363. 737 Grimm: Drei bis vier politische Novellen, S. 119. 738 Leonhard Frank: Deutsche Novelle. München 1954, S. 102. 739 Ebd., S. 24. Glaubt man Franks romanhafter Autobiographie, so zählte dieser pornographische

Farbdruck zu den authentischen Erinnerungen, die in der Deutschen Novelle verarbeitet werden, vgl. Links wo das Herz ist, S. 289. 740 Frank: Deutsche Novelle, S. 133. 741 Vgl. Walter Münz: Die verwandelte Rotenburg. Zur Motivschichtung in Leonhard Franks Deutscher Novelle. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 350-364. 742 Frank: Deutsche Novelle, S. 8; vgl. auch ebd., S. 162, 165.

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als eine Art Germania-Figur konzipiert«743; sie steht für Deutschland, das deutsche Volk bzw. den deutschen Nationalcharakter. Wer sich, so Franks Diagnose, ein Übermaß von Selbstkontrolle und Lustfeindlichkeit auferlegt, versäumt nicht nur humane Lebensentwürfe, sondern entwickelt »Selbsthaß«744 und Todessehnsucht, die zur Unterwerfung unter subalterne »Schleicher«745 prädestinieren. In Analogie zu Josephas Körper erscheint Deutschland ausdrücklich als das im Jahr 1933 »vergewaltigte Land«, das schließlich »bis ins Herz zerstört«746 wird; Deutschland bzw. die Masse des deutschen Volkes als weiblich konnotiertes, aristokratisches und überwiegend unschuldiges Opfer eines aggressiv-männlichen, der sozialen Unterschicht entstammenden (Ver-)Führers zu zeigen, entspricht den typischen massenpsychologischen Denkweisen der zwanziger und dreißiger Jahre, deren Einfluss hier – ähnlich wie in der Politischen Novelle des Namensvetters Bruno Frank – unverkennbar ist.747 Die Diagnose vom todessüchtigen deutschen Nationalcharakter stellt Frank auf eine soziologisch erweiterte Basis, indem er verschiedene Nebenfiguren einführt; ausdrücklich wollte er »auch den deutschen Handwerker zeigen«748, der der adligen Josepha zumindest in manchen psychologischen Dispositionen nicht unähnlich ist. Als die Leiche eines Schusters gefunden wird, der Selbstmord begangen hat, vernimmt Michael aus der umstehenden Menge die Bemerkung »Er hat’s hinter sich« – »offensichtlich dachten auch die andern, daß der Tod dem Leben vorzuziehen sei«.749 Ein Zeitsprung über mehr als vierzig Jahre illustriert den Wahrheitsanspruch dieser Beobachtung: Als Michael nach dem zweiten Weltkrieg zurückkehrt »in ein bis ins Herz zerstörtes Deutschland, stellte er sich wieder die unbeantwortbare Frage, warum für den Deutschen das Leben nur eine Gelegenheit sei, den Tod zu suchen«.750 Michaels Rolle im Rahmen einer allegorischen Ausdeutung ist übrigens genauso eindeutig wie die Josephas und des Kammerdieners: Als Künstler kann er zur Situation Deutschlands Stellung nehmen und steht in seinem frühen, anteilnehmendem Verhältnis zu Josepha für die potentiell »erlösende Kraft der Kunst«751, die Josepha allerdings nicht wahrzunehmen vermag. So bleibt dem (von Deutschland zurückgewiesenen) Künstler nur der Weg ins Ausland. Die beiden ›deutschen Novellen‹ Theodor Plieviers wie Leonhard Franks versuchen, im Medium einer Gattung, die für die exemplarische Darstellung typischer Charaktere bekannt ist, ein Erklärungsmodell für die deutsche Katastrophe zu fin743 744 745 746 747

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Grimm: Drei bis vier politische Novellen, S. 119. Frank: Deutsche Novelle, S. 76. Ebd., S. 26. Ebd., S. 170. Vgl. das Kapitel zu Bruno Franks Politischer Novelle und die dort angegebene Literatur. Dass Grimm die beiden Novellen von Bruno und Leonhard Frank gemeinsam betrachtet, ist daher ungemein plausibel. Vgl. Grimm: Drei bis vier politische Novellen. Frank: Links wo das Herz ist, S. 290. Frank: Deutsche Novelle, S. 98. Ebd., S. 98f. Nina Sylvester: »Ich hätte sie geliebt«: Probleme der allegorischen Darstellung in Leonhard Franks Deutsche Novelle. In: New German Review 20 (2004-2005), S. 145-159, hier S. 149.

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den. Plievier wählt die Form des historischen Abrisses und versucht, die Konflikte des Zeitalters in der Figur Lommers zu konzentrieren; Ergebnis ist eine stark komplexitätsreduzierte Geschichtskonstruktion, die weder inhaltlich noch ästhetisch überzeugt. Frank versucht, aus einem psychologisch-sexualpathologischen Einzelfall eine für ein ganzes Volk charakteristische Disposition abzuleiten.752 Seine Erzählkonstruktion leidet jedoch an einer »problematischen Aufbereitung der Allegorie«753, in deren starrem Rahmen ›Deutschland‹ exkulpiert, ›die Nazis‹ personalisiert und ›der Künstler‹ zum potentiellen Erlöser stilisiert werden. Ob überhaupt eine Novelle vorstellbar wäre, die den durch die jeweilige Titelwahl signalisierten Ambitionen gerecht werden könnte, muss allerdings fraglich bleiben.

4.5. Franz Fühmann (1922-1984) Über viele Jahre hinweg waren Franz Fühmann und Christa Wolf miteinander bekannt und befreundet.754 Zwei der erfolgreichsten Autoren, die die DDR-Literatur hervorgebracht hat, sind schon durch das überaus ambivalente Verhältnis zum eigenen Staat verbunden, dem sie trotz aller politischen Fehlleistungen und persönlichen Enttäuschungen die Treue hielten. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie ihre Prosaproduktion mit Texten begonnen haben, die die ausdrückliche Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ tragen und die von der Literaturkritik wie von der Literaturwissenschaft in der DDR als Musterbeispiele dessen begriffen wurden, was man unter einer ›sozialistischen Novelle‹ verstand. Kameraden (1955) Fühmanns erste Novelle beginnt nachgerade ›klassisch‹, mit der genauen Benennung von Zeit, Ort und Protagonisten aus der Perspektive eines ›objektiven‹, auktorialen Erzählers: Im Juni des Jahres 1941, an der Memel, geschah es, daß drei Soldaten, der Obergefreite Karl W. und die Oberschützen Josef L. und Thomas P., gemeinsam ihren großen Tag 752 Vor allem in der DDR, wo die Deutsche Novelle kritischer rezipiert wurde als die meisten anderen

Texte des Autors, herrschte die Ansicht, Frank habe die »gesellschaftliche[…] Seite des Problems« über der sexualpathologischen vernachlässigt (Günter Caspar: Zum Spätwerk Leonhard Franks. In: Aufbau 12 [1956], H. 5, S. 589-607, hier S. 600). Dem wäre zwar argumentativ entgegenzuhalten, dass die Analyse und literarische Verarbeitung sexualpathologischer Phänomene einen geradezu privilegierten Zugang zu den gesellschaftlich dominierenden Strukturen bereithalten können (vgl. Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus. In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt/M. 1980, S. 163-281); doch Frank verstellt sich diese Möglichkeit weitgehend durch die allegorische Konstruktion, in die er den sexualpathologischen Fall hineinzwingt. 753 Sylvester: »Ich hätte sie geliebt«, S. 145. 754 Vgl. Christa Wolf/Franz Fühmann: Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968-1984. Hg. v. Angela Drescher. Berlin 1995.

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hatten. Es war ihnen gelungen, bei einem Übungsschießen mit je drei Schuß fünfunddreißig Ringe zu treffen.755

Vergleiche mit Kleist wurden früh gezogen; Fühmann selbst, später auf Vorbilder angesprochen, sah aber im Fall von Kameraden noch keinen besonderen Einfluss dieses Autors: Als ich Kameraden geschrieben hatte, rechnete mir die Kritik hoch an, daß ich Kleist gut studiert hätte, aber ich hatte, schwer zu gestehen, von Kleist nichts gelesen, außer einmal in der Schule ganz früh und ohne Erinnerung den Kohlhaas. Dann wurde Kleist Vorbild, freilich nicht in dem Sinne, ihn zu imitieren, sondern Vorbild des Möglichen, was Sprache hergeben kann.756

Tatsächlich lässt sich Fühmanns Orientierung an Kleist in späteren Texten noch klarer nachweisen: Das reicht von einem bewusst archaisierenden Tonfall über die Vorliebe für die indirekte Rede und komplizierte Hypotaxen bis zur gelegentlichen Verwendung der schon von Thomas Mann als kleisttypisch erkannten ›dergestalt, daß‹-Konstruktionen.757 Da Kleist bereits im 19. Jahrhundert als der eigentliche Schöpfer der deutschen Novelle gerühmt und vielfach nachgeahmt wurde, ist allerdings denkbar, dass ein mittelbarer Einfluss dieses Autors sich schon in Kameraden ausgewirkt hat. In Analogie zur Novellentradition ist auch die Geschwindigkeit zu sehen, mit der das Geschehen eskaliert. Die Rekordschützen bekommen drei Tage Sonderurlaub. Beim Spaziergang ins nächste Dorf entdecken sie einen seltenen Vogel. Fühmann spart nicht mit unheilvoller Symbolik, um das Schicksalhafte der Situation zu vermitteln: Da plötzlich schwang sich, wohl von den Schritten der Wandernden aufgeschreckt, ein wunderbarer Vogel in den Himmel auf. Der Vogel ähnelte einem Reiher, aber sein Gefieder war von einem stechenden harten Schwarz, und die Brust war mit roten Rauten gezeichnet. Der Vogel schwamm schnell durch die Luft, schraubte sich hoch und stand dann, flügelschlagend, ein unheimliches schwarzes Zeichen, im kristallenen Himmel.758

Die Plötzlichkeit des Geschehens, das Außergewöhnliche des Vogels, seine explizit gemachte Zeichenhaftigkeit – »statt des ›Falken‹ bei Boccaccio, dem klassischen Modell der Novelle, hier ein Reiher«759 – wecken böse Vorahnungen des Lesers, die sich rasch bestätigen: »Die Soldaten hatten sofort den Wunsch, den Vogel zu schießen« – 755 Franz Fühmann: Kameraden. Novelle. Berlin 1955, S. 7. 756 Franz Fühmann an »Kollegin Groß«, 15.4.1971. In: Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern,

Dokumenten und Briefen. Hg. v. Barbara Heinze. Geleitwort von Sigrid Damm. Rostock 1998, S. 63. 757 Vgl. zu Kleists bevorzugter konsekutiver Konjunktion Fritz Rüdiger Sammern-Frankenegg: Dergestalt, daß – Beobachtungen zu einem Satzmodell in Kleists Erzählkunst. In: Sprachkunst 6 (1975), S. 37-52. Fühmann verwendet die Floskel u.a. in Die Schöpfung und König Ödipus, vgl. Franz Fühmann: Erzählungen 1955-1975. Rostock 41990, S. 130, 148, 172. 758 Ebd., S. 8f. 759 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 133.

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gerade wegen seiner Schönheit und Seltenheit.760 Es fällt ein verhängnisvoller Doppelschuss auf den Reiher, der sich inzwischen im Weidengebüsch niedergelassen hat; tot ist nicht nur der Vogel, sondern auch die Tochter des Majors, die unter der Weide verborgen saß. Beide Opfer werden im Sumpfland begraben. Was der erzählerischen Konstruktion an Wahrscheinlichkeit fehlt, macht sie durch ihr Konfliktpotential wett. Der erste Konflikt erwächst aus der Tatsache, dass nur zwei der Soldaten geschossen haben; der achtzehnjährige Thomas will »nichts […] als fortlaufen«, doch seine Kameraden Karl und Josef nehmen sogleich an, er wolle sie »verpfeifen«.761 Thomas muss ebenfalls eine Patrone einbüßen, damit er seine Unschuld nicht mehr beweisen kann. Die drei schwören sich Treue und Kameradschaft. Damit ist das zweite Konfliktfeld angesprochen: Obwohl oder gerade weil sich die Soldaten auf den »Rütlischwur«762 berufen, wird dem Leser deutlich, dass dieses Konzept von ›Kameradschaft‹ eine aus Angst, Schuld und Misstrauen geborene Zweckbindung kaschieren soll. Wie sehr hier das ethische Fundament fehlt, zeigt sich daran, dass Karl und Joseph wenig später doch erwägen, Thomas zu töten und nur durch das zufällige Dazwischenkommen des Majors daran gehindert werden. Dass ausgerechnet der Major immer wieder martialische Lobeshymnen auf seine »Teufelskerls«763 ausbringt, die Mörder seiner Tochter für ihre »vorzügliche Leistung im Scharfschießen« rühmt und die drei als Vorbilder empfiehlt – »So müssen Soldaten, Kameraden sein! Solche Kerls braucht jetzt der Führer, um seine gigantischen Pläne zu verwirklichen!«764 – wirkt auf den Leser als bittere, makabre Ironie, mittels derer die angeblichen Tugenden als verderbliche, inhumane Eigenschaften entlarvt werden.765 In den folgenden Abschnitten der Novelle dominieren innere Monologe der drei Soldaten, die einerseits ihre Emotionen zum Ausdruck bringen, andererseits die jeweilige Biographie und soziale Prägung rekonstruieren. Von Thomas, dem jüngsten und skrupulösesten der drei, werden vor allem Erfahrungen aus dem HJ-Lager berichtet, wo er den letzten Sommer vor der Einberufung verbracht hat und ideologisch indoktriniert wurde. Der ältere und brutalere Karl, früheres Freikorpsmitglied und beteiligt daran, »die Kommune in Berlin zu erledigen«, sieht gewissenloses Töten als Zeichen von Männlichkeit: »Wer noch nie einen umgelegt hat, der ist kein richtiger Kerl«.766 Josef dagegen verkörpert den Typus des Rechtsintellektuellen, der nicht zuletzt über seine Lieblingslektüre charakterisiert wird: »Er hatte mehrere Bücher im 760 Wenig später heißt es von Seiten des Erzählers sogar über den toten Reiher: »Mit ihm war eine

761 762 763 764 765 766

Vogelrasse ausgestorben, die der Mensch nicht gekannt hatte. Nur die drei Soldaten hatten das letzte Exemplar gesehen; aber für sie war diese Rasse Reiher nichts wert gewesen, nur die zwei Schüsse, und daß sie ihn verscharrten« (Fühmann: Kameraden, S. 18f.). Ebd., S. 13. Ebd., S. 29. Ebd., S. 36. Ebd., S. 48. Vgl. Uwe Wittstock: Über die Fähigkeit zu trauern. Das Bild der Wandlung im Prosawerk von Christa Wolf und Franz Fühmann. Frankfurt/M. 1987, S. 26. Fühmann: Kameraden, S. 31f.

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Tornister: Bücher von Nietzsche, von George, von Binding und einen Band deutscher Romantiker: Tieck, Brentano, Novalis«.767 Seine zynischen und nihilistischen Anschauungen gehen einher mit Egozentrik und Asozialität: »Er fühlte sich allen überlegen. […] ›was wissen denn die da!‹ Er haßte sie, sie alle […]«.768 Josefs Vater allerdings ist »ein mächtiger Mann, der in der nächsten Nähe Himmlers«769 sitzt – er wird, vom Sohn antelegraphiert, dafür sorgen, dass die Leiche der Majorstochter gefunden wird, ihr Tod aber als Tat ›russischer Untermenschen‹ erscheint: »Es ist eine nationalsozialistische Lösung«, sagte Josef. »Darin ist er groß. Das versteht er. Er löst alles im Sinne des Nationalsozialismus; so wird aus Unsinn Sinn und aus Plage noch eine Wohltat. […] Er hat mir gesagt: ›Es ist nun mal geschehen, und ihr könnt nichts dafür. Ihr habt es nicht gewollt. Es ist undenkbar, daß ihr so etwas wolltet. Ein Deutscher ist kein Mörder. Aber bei den Bolschewiken ist das gar nicht undenkbar. Für die ist das Regel. Die hätten das getan, wenn sie nur gekonnt hätten. Wir lügen gar nicht, wenn wir sagen, daß sie es waren. Ein Deutscher lügt nicht […]‹ […].«770

Das ins Gegenteil verkehrte Faust-Zitat771 unterstreicht noch die Schamlosigkeit, mit der hier pervertierte Sehweisen entwickelt werden. Thomas allerdings wird mit dem Geschehen so nicht fertig; als der Major bei der Zerstörung eines russischen Dorfes zwei junge Mädchen »zur Vergeltung für den Tod seiner Tochter«772 aufhängen lässt, will er einschreiten, wird jedoch für verrückt erklärt und zusammengeschlagen. Nachts desertiert er: Er wurde bemerkt, und sie schossen hinter ihm her. Er hörte die Kugeln pfeifen, und dann fuhr ihm ein Feuer durch die Lunge. Er wurde ohnmächtig und blieb liegen, in einer Lache Blut. Litauische Bauern fanden ihn.773

Mit diesen Sätzen endet die Novelle. Fühmann erinnerte sich rückblickend an eine andere, frühere Version: »Die drei werden in die Wehrmacht integriert und Thomas wird zu einem Helden im Sinne der Wehrmacht«. Der offene Schluss der Neufassung ist auf die Intervention seines böhmischen Landsmannes Louis Fürnberg zurückzuführen, den Fühmann seit 1951 kannte: »Fürnberg beschwor mich beinah kniefällig, den Schluß umzuschreiben. Ich gab ihm nach; heute finde ich, daß die erste Fassung […] die bessere war«.774 Fürnberg, auch Widmungsträger der Erstausgabe, rechnete den Text in der von ihm inspirierten Form immerhin zu den »besten Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 62f. Vgl. Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Weimarer Klassik I. Hg. v. Victor Lange. München 1986 (= MA, 6.1), S. 535-673, hier S. 588 (V. 1976f): »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage«. 772 Fühmann: Kameraden, S. 65. 773 Ebd., S. 70. 774 Franz Fühmann an »Kollegin Groß«, 15.4.1971. In: Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen. Hg. v. Barbara Heinze. Geleitwort von Sigrid Damm. Rostock 1998, S. 63. 767 768 769 770 771

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Novellen in deutscher Sprache«.775 Wenn aber Werner Baum versucht, Fühmanns Kameraden als Musterbeispiel einer ›sozialistischen Novelle‹ zu interpretieren, ist es gerade dieser zweite, nicht unmittelbar vom Autor erdachte Schluss, auf den sich seine Argumentation vorrangig stützt: Fühmann läßt offen, ob der Schuß auf Thomas tödlich war: »Litauische Bauern fanden ihn.« Seine Rettung ist möglich. Er fällt in die Hände sowjetischer Menschen, bei denen seine geistige und moralische Neugeburt beginnen und ein Einklang zwischen seinem Wollen und den Maximen des gesellschaftlichen Lebens hergestellt werden kann. […] Der offene Schluß bei Fühmann ist symbolisch für die Möglichkeit des Neubeginns bei konsequenter und tätiger Abrechnung mit der Vergangenheit.776

Wie wenig Baum eigentlich mit dem offenen Schluss zufrieden ist, zeigt sein interpretatorisches Bemühen, gerade diese Offenheit zu korrigieren; am Ende seiner Betrachtungen suggeriert er sogar, Thomas gehe »inmitten der brutalsten Klassenschlacht zwischen Imperialismus und Sozialismus auf die Seite der Zukunft über«.777 Hier wird als feststehende Aussage behauptet, was im Text allenfalls als Möglichkeit angelegt ist. Ebenso einseitig ist die massive Betonung der überindividuellen Dimension des geschilderten Konflikts: Zur novellistischen Kompositionsweise bei der Kennzeichnung der Konfliktsituation in den Kameraden ist noch zu bemerken, daß die Situation nicht durch den Doppelschuß auf den Reiher und die Majorstochter geschaffen wird. Der Novellenkonflikt ist der Ausdruck des welthistorischen Widerspruchs zwischen den Ideen und der friedlichen Politik der sozialistischen Sowjetunion und der verbrecherischen Ideologie des imperialistischen deutschen Faschismus und seiner aggressiven und wortbrüchigen Politik.778

Fühmanns Text wird zu einer exemplarischen ›sozialistischen Novelle‹, weil die ›sich ereignete unerhörte Begebenheit‹ »durch ihre objektive Gestaltung schlagartig historische Gesetzmäßigkeiten« enthülle und damit »tiefe Einsicht in die historischen Zusammenhänge der treibenden Kräfte« beweise.779 Obwohl sich Fühmann in der Zeit, als er Kameraden schrieb, als überzeugter Sozialist verstand – seine frühe Lyrik und zahlreiche publizistische Arbeiten der fünfziger Jahre sind eindeutige Zeugnisse780 – und seiner Darstellung des Nationalsozialismus etwas Plakatives anhaftet, verfehlen solche planen, ideologisch überfrachteten Deutungen den Text. Gerade die heilsgewisse und zukunftsgerichtete Perspektive, die Baum ihr unter allen Umständen zuschreiben will, weist Fühmanns Novelle nur bedingt auf. Zentrale Zielsetzung von Kameraden ist die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch die Darstellung der Werteperversion, die sich im 775 Louis Fürnberg an Ludvik Kundera, 9.1.1956. In: Ders.: Briefe 1932-1957. Auswahl in zwei Bän776 777 778 779 780

den. Bd. 2. Berlin, Weimar 1986, S. 196-198, hier S. 198. Baum: Bedeutung und Gestalt, S. 36. Ebd., S. 120. Ebd., S. 36f. Ebd., S. 38. Vgl. Hans Richter: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Berlin, Weimar 1992, S. 121-134.

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Verhalten der Soldaten zeigt: der Begriff ›Kameradschaft‹ wird als Ideologem entlarvt und destruiert. In diesem Sinn hat sich der Autor auch rückblickend geäußert. Als Schreibanlass hat er seinen Zorn über »die damals aus dem Boden schießende Generalsliteratur« benannt, der sich auch sein Pamphlet Die Literatur der Kesselrings781 verdankt: Da schrieben die ehemaligen Generäle ihre Memoiren, Berichte von Kameradschaftsabenden, über Treffen von Traditionsverbänden. Ich habe eines nicht verstanden, nämlich daß man diese Leute nicht einfach totgeschlagen hat. Wie kann man, dachte ich, wenn man so etwas durchgemacht hat, solchen Leuten zujubeln. Ich überlegte, was die Beweggründe dafür sein könnten und stieß auf einige Begriffe, wie zum Beispiel auf diese sagenumwobene Kriegskameradschaft. Ich wußte, daß es das so nicht gegeben hat. Natürlich existierte eine Versicherung auf Gegenseitigkeit, weil man im gleichen Schlamassel steckte.782

Mehr aber, so Fühmanns Sicht, existierte nicht, und entsprechend energisch tritt er Verklärungsversuchen entgegen. Gerade wegen der Klarheit dieser Aussage hat sich Fühmann später kritisch über seine frühe Novelle geäußert; so versuchte er 1971, seine aktuelle Schaffensweise positiv abzuheben von der früheren: Früher: Ich will eine für wichtig und richtig gehaltene, ziemlich genau begrenzte gesellschaftliche Aussage machen, z. Bsp.: Die Kameradschaft bei der Wehrmacht war die Kameradschaft eines Gangs. Diese Aussage steht fest, sie ist prinzipiell inmodifizierbar. Zu dieser Aussage konstruiere ich, unter Zurückgreifen auf geeignete Elemente von Selbsterlebtem, eine Geschichte, spiele sie im Kopf durch und fange dann an, sie aufs Papier zu bringen, wenn ich ihren Verlauf inhaltlich ganz und kompositorisch ziemlich genau festgelegt habe. Im Einzelnen kann sich dann noch manches ändern, in der Komposition schon nicht mehr, oder wenn, dann nur noch zum Nachteil des Ganzen, wie eben in den Kameraden, wo ich auf Fürnbergs Drängen hin einen anderen, schlechteren Schluß schrieb. Ich bin also von Anfang an klüger als meine Figuren, führe sie zum vorbestimmten Ende und habe nach diesem Ende, abgesehen von Handwerklich-Technischem, nicht mehr erfahren, als ich vordem schon wußte.783

Doch hier geht der Autor mit seiner Novelle härter ins Gericht, als diese es verdient. Gerade die frühen Prosawerke belegen, dass Fühmann »in beiden ehemaligen deutschen Staaten am hartnäckigsten die Frage nach den Prägungen des Subjekts durch den Nationalsozialismus gestellt«784 hat. Zu Recht werden seine Kriegserzählungen 781 Ausgangspunkt des Essays sind die Memoiren des früheren Generalfeldmarschalls Albert Kessel-

ring. Dieser war im Mai 1947 zunächst von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt, dann zu lebenslänglicher Haft begnadigt und schließlich 1952 freigelassen worden. Dass er gleich darauf ein Erinnerungsbuch unter dem Titel Soldat bis zum letzten Tag (Frankfurt/M. 1953) vorlegen konnte, galt Fühmann als klares Indiz für die zunehmende Remilitarisierung Westdeutschlands. 782 Franz Fühmann: Butzbacher Interview. In: Ders.: Briefe 1950-1984, S. 572-595, hier S. 586f. 783 Ders. an Kurt Batt [Februar 1971]. In: Ders.: Briefe 1950-1984. Eine Auswahl. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Rostock 21994, S. 92-98, hier S. 95f. 784 Wilfried F. Schoeller: Wandlung als Konzept. Franz Fühmann im monologischen Gespräch. In: Jeder hat seinen Fühmann. Herkunft – Prägung – Habitus. Zugänge zu Poetologie und Werk Franz Fühmanns. Hg. v. Brigitte Krüger, Margrid Bircken, Helmut John. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New

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heute mit den frühen Kurzgeschichten Heinrich Bölls verglichen und beider Werke als »komplementär« erkannt.785 An einigen Klischees, auch an der »fast holzschnittartige[n] Einteilung in Gut und Böse, Tat und Untat«786 und der Offensichtlichkeit der aufklärerisch-didaktischen Intention mag man Anstoß nehmen, wie es der Autor selbst rückblickend getan hat; trotzdem machen Fühmanns Novellen, von Kameraden angefangen, die vom Nationalsozialismus betriebene Verkehrung des Bewusstseins, die ideologisierende Indienstnahme des Menschen evident und übertreffen in dieser spezifischen Qualität – wie Ursula Heukenkamp in einem umfassenden Vergleich verschiedener Genrebeiträge gezeigt hat787 – die meisten anderen Kriegserzählungen der fünfziger Jahre. Die unverkennbare Neigung zu typisierten Figuren unterstützt dabei den exemplarischen – und, wenn man so will: novellistischen – Charakter dieser Texte. ›Sozialistisch‹ ist Fühmanns Perspektive nur insoweit, als er das ideologiekritische Potential nutzt, das die marxistische Denkweise (aller blinden Flecken gegenüber der eigenen Position ungeachtet) bereitstellt und das zumindest in der Aufbauphase der DDR als Korrektiv bundesdeutscher Sehweisen ernst genommen werden muss. Insofern überzeugt auch die didaktische Aufarbeitung der Kameraden, die Dieter Wuckel bereits drei Jahre nach dem Erscheinen des Textes in der Ostausgabe der Zeitschrift Deutschunterricht vorgelegt hat, durch einen kritischen Impuls, wie ihn die meisten Beiträge zum westlichen Deutschunterricht in dieser Zeit vermissen lassen – auch wenn Wuckel am Ende nicht versäumt, auf das zum faschistischen »Spießgesellentum« grundsätzlich konträre Wesen der »wahren proletarischen Kameradschaft«788 zu verweisen und damit die kritische Perspektive wieder durch eine affirmative ausbalanciert. Stürzende Schatten (1959) Mit Kameraden hatte Fühmann ein nicht nur in der DDR erfolgreiches Erzähldebüt vorgelegt, dessen Verbreitung durch eine 1957 uraufgeführte DEFA-Verfilmung York, Paris, Wien 1998, S. 25-40, hier S. 25. 785 Vgl. Jaroslav Kovár: Antikriegsprosa in Ost und West: Heinrich Bölls Kurzgeschichte Wanderer,

kommst du nach Spa … und Franz Fühmanns Novelle Kameraden im Vergleich. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Internationale Konferenz vom 01.-04.09.1999 in Berlin. Hg. v. Ursula Heukenkamp. Bd. 1. Amsterdam, Atlanta, GA 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50.1), S. 45-55, hier S. 55. 786 Wittstock: Über die Fähigkeit zu trauern, S. 24. 787 Vgl. Ursula Heukenkamp: Der Zweite Weltkrieg in der Prosa der Nachkriegsjahre (1945-1960). In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945-1960). Hg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 2000, S. 295-372, zu Fühmann bes. S. 336-341 und 357-359. 788 Dieter Wuckel: Fühmanns Kameraden. Erfahrungen bei der Behandlung der Novelle in einer 9. Klasse der Mittelschule. In: Deutschunterricht (Ost) 11 (1958), S. 597-603, hier S. 602. – Vgl. auch Hartmut Jonas: Zur Fühmann-Rezeption im Deutschunterricht in Ost und West. In: Jeder hat seinen Fühmann. Herkunft – Prägung – Habitus. Zugänge zu Poetologie und Werk Franz Fühmanns. Hg. v. Brigitte Krüger, Margrid Bircken, Helmut John. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998, S. 317-325.

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(unter dem Titel Betrogen bis zum jüngsten Tag) noch gefördert wurde. Als vier Jahre später ein weiterer eigenständiger Prosaband erschien, lag die Zeit, in der Fühmann am engagiertesten für den DDR-Sozialismus eingetreten war, bereits hinter ihm: Der Band kam, in großem Format und mit Originalillustrationen von Hans und Lea Grundig, zwar noch im Verlag der NDPD heraus, doch sein Autor war – auch infolge der blutigen Ereignisse in Ungarn 1956 – schon nicht mehr Mitglied des Parteivorstands und aus dem Apparat seiner Partei ausgeschieden.789 Der Überlieferung eines Freundes zufolge hat Fühmann später gemutmaßt, sein Leben verlaufe in Zwölf-Jahres-Rhythmen: »die ersten zwölf sei er Katholik gewesen, die folgenden Nazi, dann Kommunist. Auf diese folgten zwölf Jahre der Suche, des Zweifels, der vagen Gewißheit, jetzt lebe er in den zwölf Jahren, in denen er sich fähig zur Literatur fand, und die letzten […] ›werde er‹, wie er wörtlich sagte, ›mit Gewißheit in Straflagern zubringen‹«.790 So weit ist es nicht gekommen; doch obwohl Fühmann sich bis zu seinem Tod 1984 bewusst für ein Verbleiben in der DDR ausgesprochen hat, so spiegelt sein literarisches Werk – nicht nur darin dem Christa Wolfs vergleichbar – zunehmend kritische Distanz und schmerzhafte Enttäuschung gegenüber Entwicklungen, die den Hoffnungen der fünfziger Jahre immer weniger entsprachen. Stürzende Schatten vereint die drei zum Teil schon in Zeitschriften vorabgedruckten Novellen Das Gottesgericht, Kapitulation und Das Erinnern.791 Für den gesamten Band gilt, dass Fühmann, gerade im Vergleich mit seinem ersten Gattungsbeitrag, neue und kühnere erzählerische Möglichkeiten ausprobiert, die den Orientierungsrahmen eines ›sozialistischen Realismus‹ bereits überschreiten. Wie sehr sich Fühmann dieser Tatsache bewusst ist, zeigen zwei »Anmerkungen des Autors« am Ende des Bandes: Die erste informiert über die keineswegs selbstverständliche Rezeption eines amerikanischen Schriftstellers – »Partien dieser Arbeit«, nämlich von Kapitulation, seien »durch die Novelle Es gibt kein Entrinnen von Ambroce Bierce angeregt« –, die zweite hat den Charakter einer prophylaktischen Verteidigung: Im Traum 1958 [ein Unterkapitel von Das Erinnern, S.K.] versuchte ich die Bildlogik des Traums als Gestaltungsmittel auszunutzen. Hinter scheinbar phantastisch-sinnlosen Bildern steckt, nimmt man die Bilder wörtlich, die furchtbare Realität. Wenn unser Held beispielsweise sieht, wie der Mann im Ledermantel und die Generäle die Bunkertür gewaltig hinter sich zuschlagen, dann drängt sich ihm das einmal vernommene und dann lange vergessene Nazi-Wort: »Wir werden einmal die Tür hinter uns zuschlagen, daß die Erde aus den Angeln fällt« ins Erinnern. Wenn der Hinkende die Brust aufklappt und ein stillstehendes Herz zeigt, dann erinnert sich unser Held an das von ihm vergessene Wort ei-

789 Vgl. Richter: Franz Fühmann, S. 147. 790 Wieland Förster: Franz Fühmann zu Ehren. In: Franz Fühmann 1922-1984. Es bleibt nichts ande-

res als das Werk. Ausstellung der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Berlin 1993, S. 5.

791 Das Gottesgericht war 1957 in Neue deutsche Literatur erschienen, Kapitulation ein Jahr später in Die

Nation; vgl. die Angaben in Henk de Wild: Bibliographie der Sekundärliteratur zu Franz Fühmann. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2003, S. 19-21.

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nes Hinkenden: »Mir blieb das Herz stillstehen, als ich die Wunderwaffen des Führers sah!« Jedes der Traumbilder ist auf diese Art zu verstehen und auch verständlich.792

Hier sind zum einen die psychologischen Interessen eines Autors erkennbar, der noch kurz vor seinem Tod den ersten Band mit ausgewählten Schriften Sigmund Freuds in der DDR mitherausgeben sollte793; zum anderen ist offensichtlich, dass Fühmann die Notwendigkeit sieht, die Verwendung bestimmter künstlerischer Mittel zu legitimieren. Vielleicht war ihm ein Brief des befreundeten Ludwig Renn noch im Gedächtnis, der ihn schon anlässlich von Kameraden gewarnt hatte: Bei uns herrscht vielfach eine Kunstauffassung, die ich mit der elementaren Mathematik vergleichen möchte, in der es nichts Irreales, Imaginäres gibt. Die höhere Mathematik aber geht durch nicht völlig anschauliche Erscheinungen durch, um zum Realen zu kommen. Kunst entspricht der höheren Mathematik. Ich begrüße Dich im Reich der Kunst. Aber, lieber Franz, wappne dich! Die Theoretiker, die Dir sicher Deine Dinge versuchen werden auszureden, sind falsche Theoretiker. Man wird sie einmal als Scheinmarxisten und Scheinmaterialisten entlarven.794

Obwohl Letzteres nicht eintreffen sollte, hat Fühmann sich in seinem Werk zunehmend mit Einflüssen auseinandergesetzt, die der kulturpolitischen Orthodoxie der DDR widerstreben mussten.795 Der am traditionellsten erzählte Text aus Stürzende Schatten ist Das Gottesgericht – von dem Schriftstellerkollegen Stephan Hermlin796 wie von dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki gleichermaßen gewürdigt als »eine strenge, kunstvoll komponierte Novelle, der man die klassischen Vorbilder anmerkt«.797 Bemerkenswert ist die Konzentration des Textes auf einen sehr knappen Zeitausschnitt und das daraus resultierende zeitdehnende Erzählen: »Der größte Teil dessen, was der Erzähler mit erheblichem Aufwand beschreibt, spielt sich in einigen Minuten ab«.798 Die Protagonisten sind noch stärker typisierend benannt als in Kameraden: Trugen die Soldaten dort Allerweltsvornamen und abgekürzte Familiennamen – Karl W., Josef L., Thomas P. 792 Anmerkungen des Autors. In: Franz Fühmann: Stürzende Schatten. Novellen. Berlin 1959,

[Schluss].

793 Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. Essays. Hg. v. Franz Fühmann und Dietrich Simon.

Mit Aufzeichnungen eines Gesprächs zwischen den Herausgebern. Berlin: Volk und Welt 1982. 794 Ludwig Renn an Franz Fühmann, 14.11.1955. Abgedruckt in: Franz Fühmann. Eine Biographie in

Bildern, Dokumenten und Briefen, S. 62.

795 Das reicht bis zur indirekten, aber nachweisbaren Joyce-Rezeption, vgl. Dennis Tate: Fühmanns

heimliche Odyssee: Die Rezeption von James Joyce in seinem Werk. In: Jeder hat seinen Fühmann. Herkunft – Prägung – Habitus. Zugänge zu Poetologie und Werk Franz Fühmanns. Hg. v. Brigitte Krüger, Margrid Bircken, Helmut John. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998, S. 185-196. 796 Vgl. Stephan Hermlin: Franz Fühmann [1968]. In: Zwischen Erzählen und Schweigen. Ein Buch des Erinnerns und Gedenkens. Franz Fühmann zum 65. Hg. v. Horst Simon unter Mitarbeit v. Barbara Richter. Rostock 1987, S. 45-50, hier S. 47. 797 Marcel Reich-Ranicki: Der treue Dichter seiner Herrn. In: Ders.: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart 1991, S. 102-112, hier S.109 [zuerst 1963]. 798 Richter: Franz Fühmann, S. 141.

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– so wird das Personal im Gottesgericht geradezu durchbuchstabiert: »Feldwebel D., Unteroffizier C., Obergefreiter B. und Funker A.« bilden »im Mai 1943 […] an der Südküste des Golfes von Korinth«799 ein Kommando, das, in einer Höhle versteckt, einen Signalplatz griechischer Partisanen überwachen soll. Der einzige Verdächtige, den sie sehen, ist Agamemnon, der griechische Koch ihrer Kompanie. Dieser wäscht sich am Strand, obwohl ihm das Betreten dieses Gebiets verboten ist; da man ihm in der Station peinliche Sauberkeit abverlangt, ohne dass genügend Waschwasser zur Verfügung stünde, ist diese Übertretung der Vorschriften seine einzige Möglichkeit, der Hygieneforderung gerecht zu werden. Die enttäuschten Soldaten wollen der Konstellation etwas Spannendes abgewinnen: Feldwebel D., »im Zivilberuf Oberschullehrer«800 mit besonderem Interesse für das frühe Mittelalter, schlägt »eine Art Gottesgericht nach altem Brauche«801 vor. Die jeweils denkbaren Verhaltensweisen des Kochs nach einem Anruf durch die Soldaten – Stehenbleiben, Annäherung, Flucht – sollen entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen: Straflosigkeit oder Erschießen. Der blutgierige Unteroffizier verschärft die Bedingungen, die dann doch nicht zum Tragen kommen. Zwei Schüsse, einer davon tödlich, werden auf Agamemnon abgegeben, bevor sich das eigentliche ›Gottesgericht‹ vollzieht: Eine Maschinengewehrsalve der Partisanen mäht die vier Soldaten nieder. Was der Feldwebel als »Experiment eines modernen Gottesgerichts«802 arrangieren will, gestaltet der Autor als Erzählexperiment: In den wenigen Minuten, die sich die Soldaten und Agamemnon gegenüberstehen, werden, nacheinander und ineinander greifend, die Gedankengänge der Beteiligten in erlebter Rede geschildert. Agamemnon ist noch in seiner Todesangst Kollaborateur und Mitläufer: Er sieht in den Deutschen fremde »Götter«, die er verehrt; aus seiner Sicht haben sie seinen sozialen Aufstieg bewirkt. Seine Wahrnehmung der Soldaten ist, in den Kriegserzählungen der fünfziger Jahre ein seltener Fall, sogar homoerotisch geprägt. Der neunzehnjährige Funker A. ist für Agamemnon »der Schöne, Lächelnde, Gelockte«, den er »nicht ansehen konnte, ohne gerührt zu sein«: Wie stand er vor ihm! Die hohe Gestalt gelockert, sonnenvergoldet das Haar, und aus der grauen Uniform wuchs das gesunde gebräunte Fleisch wie strotzendes Leben aus dem tauben Felsen! […] Dieser kühne, harte Mund unter diesen träumenden Augen! […] Agamemnon liebte […] diese kräftigen, gesunden, sauberen Jünglinge […]. Er dachte, während er auf die Hand des Funkers sah, wie sie an die Hüfte gepreßt lag, daß er einmal, im Kantinengedränge, es gewagt hatte, mit seiner Hand diese Stelle an der Hüfte des blonden Gottes zu berühren. Er spürte in seiner Handhöhle wieder wie damals dies erregende Gefühl, als stieße eine stahlfedernde harte Halbkugel aus der Luft gegen seine Haut […].803 799 800 801 802 803

Franz Fühmann: Das Gottesgericht. In: Ders.: Stürzende Schatten, S. 5-30, hier S. 5. Ebd., S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17f.

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Die Gottgleichheit, die ihnen Agamemnon zugesteht, empfinden die Soldaten auch selbst: »Was ist denn das überhaupt für ein Gottesgericht?«, denkt der Funker A., »Welcher Gott soll denn da richten? […] Wir sind die Götter! […] Der Führer hat uns zu Göttern gemacht!«804 Wenn A. seine zivilen Perspektiven mit dem momentanen Kriegserlebnis vergleicht, ist die Bilanz für ihn eindeutig: Gäbe es keinen ›Führer‹, würde er wohl studieren, »Rechtswissenschaft wie sein Vater, und er würde Richter werden oder Staatsanwalt und zu den Honoratioren seiner kleinen sächsischen Heimatstadt gehören« und ein langweiliges, bürgerliches Leben führen: › […] Aber es gab ja einen Führer, Gott sei Dank, und so stand er jetzt hier, er, der Neunzehnjährige, auf griechischem Boden, ein Waffenträger, ein Held in den Träumen der Mädchen, und er war noch nicht ein Jahr Soldat, und er hatte schon Ragusa gesehen und Split, das zauberhafte Split, und die Rosentäler Bulgariens hatte er gesehen und den Olymp, die Thermophylen und die Akropolis, und nun stand er in Pelops Land, er, Euphorion, und vor seinem Gewehrlauf hatte er einen Menschen, über dessen Leben und Tod er die Würfel warf. Jetzt erst geht mir der Sinn dieses Krieges auf!‹ dachte er, und sein Finger zuckte wieder am Abzug.805

Entlarvt Fühmann auf der einen Seite Machtrausch, Sadismus und narzisstische Selbstvergottung als wichtiges Element soldatischer Mentalität, so ist es auf der anderen Seite der Konkurrenzdruck und die Sorge um die Aufrechterhaltung der eigenen Autorität, die wesentlich wirksam werden; alle beteiligten Soldaten sind besorgt über ihr »Vorwärtskommen«806, wägen ständig ab, ob ihr Verhalten den Erwartungen der (anwesenden oder abwesenden) Vorgesetzten entspricht, sind im Handeln blockiert, wenn sie diesbezüglich zu keinem Ergebnis kommen. Am begrenzten Exempel, im Rahmen eines ›Experiments‹ versucht Fühmann damit »die Widerwärtigkeit des Krieges nicht in großen Schlachten darzustellen, sondern an der fürchterlichen Alltagsbanalität des Krieges«.807 Seine Soldaten, allesamt den niederen Dienstgraden zugehörig, sind als Durchschnittsfiguren angelegt, fungieren als Stellvertreter einer ganzen unwissenden und trotzdem schuldbeladenen Generation, der sich der Autor zugehörig weiß und mit der er umso schonungsloser ins Gericht geht. Ebenso wie der Grieche sterben die Soldaten in absoluter Ignoranz, in Verkennung ihrer Position, ihres Handlungsspielraums und ihrer Identität. »Um Gottes willen, was ist denn das, was ist denn, was ist …« lautet der letzte Satz der Novelle, der, aus dem Bewusstsein des Funkers heraus gesprochen, noch einmal das völlige Nicht-Verstehen der Situation verdeutlicht, dem allerdings jede Tragik abgeht. Denn Das Gottesgericht endet zwar mit einer symbolhaften Katastrophe, kennt aber diesbezüglich kein Bedauern; zu Recht hat Ursula Heukenkamp betont: »Das Einverständnis des Erzählers mit diesem Untergang hebt die Erzählung Gottesgericht vom

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Ebd., S. 19. Ebd., S. 19f. Ebd., S. 25. Fühmann: Butzbacher Interview, S. 57.

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Gros der Kriegserzählungen ab«.808 Durch die Konzentration der Handlung, die wenigen, aber exemplarischen Figuren und die symbolhafte, auf mehreren Ebenen tragende Vorstellung vom ›Gottesgericht‹ ist zudem auf struktureller Ebene gewährleistet, dass der Rezipient wenig Mühe hat, Fühmanns vom ersten Erscheinen an erfolgreichen Text mit traditionellen Novellenvorstellungen in Einklang zu bringen. Solche gattungstypologischen Vorstellungen kommuniziert auch Kapitulation schon mit der ersten, unverkennbar an den Anfang von Kleists Erdbeben in Chili erinnernden Hypotaxe: Sieben Stunden nach der bedingungslosen Kapitulation des OKW, am frühen Morgen des neunten Mai des Jahres Neunzehnhundertfünfundvierzig, schickten sich, auf einem Hügel tief im böhmischen Wald, wenige Schritte abseits einer Straße, über die sich, wie über alle Straßen Böhmens zu dieser Stunde, der brüllende Knäuel der westwärts fliehenden Wehrmacht wälzte, zwei Männer der Feldgendarmerie, von einem SS-Leutnant kommandiert, an, einen verzweifelt sich wehrenden, gefesselten jungen Soldaten, der ein kleines, eilig geschriebenes Schild auf der Brust trug: »Ich war zu feige, Deutschland vor den Barbaren zu schützen!«, am Ast einer Eiche zu henken.809

Wie im Erbeben in Chili bleibt der Protagonist, der neunzehnjährige Kunststudent Anton Schelz810, für eine kurze Frist vom Tod verschont: Das Auftauchen russischer Soldaten verhindert die Hinrichtung, Henker und Opfer fliehen, »vor Grauen stolpernd«, in den Wald. Der böhmische Wald wird im Folgenden zum Erlebnisraum, in dem sich Angst, Hoffnung, Erleichterung und erneute Panik spiegeln. Die Russen werden nur am Rande, aber dennoch recht klischeehaft geschildert: »Maschinenpistolen schwingend«, »Kamrad« rufend, »groß«, »breit«, schenkelschlagend und herzhaft lachend.811 Sich ihnen zu stellen, bringt Schelz nicht über sich – zu stark wirkt nach, was er, nationalsozialistisch indoktriniert, »über die russischen Soldaten gehört hatte: daß sie jeden, der ihnen in die Hände fiel, folterten, verbrannten, mit Panzern zermalmten, ja daß sie Menschenfleisch in Kesseln gar kochten und aßen«.812 Durch die fortbestehende Verblendung versäumt Schelz seine einzige Rettungschance. Auf der Flucht vor den Russen und den eigenen Landsleuten tötet er sich schließlich selbst, ein Akt der persönlichen Kapitulation nach der allgemeinen; er stirbt gequält von Visionen der Menschen, die er selbst im Krieg getötet hat, und nicht zuletzt unter dem Druck dieser Schuld, mit der er sich nun, nach dem Zusammenbruch des Regimes, auseinandersetzen müsste. Überleben wird in dieser Novelle nur der Skrupelloseste: Der SS-Leutnant, der noch einen Feldgendarmen ermordet, damit niemand bezeugen kann, wie er sich die Papiere und die Identität des toten Anton Schelz aneignet – voll Verachtung für das Opfer, das hier ein letztes Mal 808 Heukenkamp: Der Zweite Weltkrieg in der Prosa der Nachkriegsjahre, S. 359. 809 Franz Fühmann: Kapitulation. In: Ders.: Stürzende Schatten, S. 31-60, hier S. 31. 810 Den Namen des Protagonisten erfährt der Leser erst im Augenblick seines Todes, als seine Papiere

geraubt werden. Trotzdem ist es falsch, wenn Jaroslav Kovár gerade im Hinblick auf Kapitulation behauptet, die Opfer blieben »namenlos« (vgl. Kovár: Antikriegsprosa in Ost und West, S. 49). 811 Fühmann: Kapitulation, S. 33, 38. 812 Ebd., S. 38.

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missbraucht wird: »Beruf: Kunststudent! […] Na, da hat es ja keinen Falschen getroffen. Um solche Trottel ist es wahrhaftig nicht schade!«813 Der Novellenband Stürzende Schatten endet mit dem dreiteiligen Text Das Erinnern; die einzelnen, separat betitelten Abschnitte sind nicht durch Handlungselemente oder personelle Kontinuitäten verbunden, sondern stehen unvermittelt nebeneinander. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie in der unmittelbaren zeitgenössischen Gegenwart der fünfziger Jahre spielen, so dass sich, vom Ende her betrachtet, eine chronologische Komposition des Novellenbandes Stürzende Schatten herausstellt. Schon Traum 1958 macht deutlich, wie wenig die Vergangenheit tatsächlich ›vergangen‹ ist: Hans K., »ein achtundzwanzigjähriger, aus Schlesien stammender, aber schon dreizehn Jahre im Berliner Westen lebender Bäcker«, wird nach wie vor von Angstträumen gequält. Als Fünfzehnjähriger war er noch zum Volkssturm eingezogen worden, und weil ihm die Zerstörung eines sowjetischen Panzers gelungen war, gehörte er zu den Letzten, die noch »von Hitler zum Leutnant befördert und mit dem Eisernen Kreuz dekoriert«814 wurden. Geschildert wird einer der Albträume um die letzten Kämpfe in Berlin, wie sie den jungen Bäcker immer dann heimsuchen, »wenn am Abend zuvor von Krieg und Kriegsgefahr die Rede gewesen« ist; dieser fällt besonders schlimm aus, weil er »von der Nachricht über die Atombewaffnung der Bundeswehr ausgelöst«815 wird. Fühmanns bereits zitierte Schlusserklärung, er habe »die Bildlogik des Traums als Gestaltungsmittel« nutzen wollen, umfasst auch eine Identifizierung westdeutscher Atomraketen mit Hitlers angeblicher ›Wunderwaffe‹ und eine sehr starke äußerliche und ideologische Annäherung von Hitler und Goebbels auf der einen, Adenauer und Franz-Josef Strauß auf der anderen Seite. So hält etwa ein »sehr hagerer, ständig lächelnder Achtzigjähriger« eine Rede, die der Träumer dreizehn Jahre zuvor schon einmal gehört zu haben glaubt – »nur klang sie diesmal plätschernd statt polternd und schmirgelnd statt schmetternd«.816 Damit wird die angebliche »Bildlogik des Traums« allerdings dominiert von einer nur zu klar erkennbaren Logik der politischen Ideologie. Prompt wird Hans K. durch die geträumte Schreckensvision zu einer neuen Bewusstseinsebene geführt – hatte er bisher seinen besten Selbstschutz darin gesehen, sich als »Bäckermeister ums Brotbacken und nicht um die Politik zu kümmern«, fühlt er nach dieser Nacht »ein bisher nicht bekanntes Gefühl der Verantwortung«.817 Insofern hätte Fühmann in seiner rechtfertigenden Schlussbemerkung noch direkter darauf beharren können, das zentrale Ziel des ›sozialistischen Realismus‹ – nämlich die zum identifizierenden Lesen einladende Darstellung politischer Bewusstwerdung – hier gerade durch die Erweiterung der literarischen Mittel erreicht zu haben. 813 814 815 816 817

Ebd., S. 59. Franz Fühmann: Das Erinnern. In: Ders.: Stürzende Schatten, S. 63-81, hier S. 73. Ebd. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 74.

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Der nur dreiseitige Text Grenzstation skizziert die Opferperspektive; Dr. L., ein tschechischer Intellektueller, für den Ludvík Kundera das Vorbild gewesen sein soll818, reist in die DDR. »Damals, vor zwölf Jahren, als L., zweiundzwanzigjährig, schon einmal aus Böhmen nach Deutschland gefahren war, hatte der Zug gerast, und der Zug hatte aus Viehwaggons bestanden; Viehwaggons, deren Fensterluken vernagelt gewesen waren«.819 Der Anblick einer grauen Uniform genügt, um bei Dr. L. eine posttraumatische Belastungsreaktion auszulösen, die er jedoch in der Hoffnung auf den neuen deutschen Staat überwinden kann. Die Täterseite kommt abschließend noch einmal in Über den Waldsee zu Wort; auch dieser Text umfasst nur wenige Seiten. Ein Vater versucht seiner kleinen Tochter zu erklären, warum es russische Soldaten in ihrer Heimat gibt: »Du weißt doch […], daß bei uns die bösen Menschen einen Krieg gegen die guten Menschen gemacht hatten, und da sind die Russen unseren guten Menschen zu Hilfe gekommen und haben die bösen Menschen weggejagt. Jetzt helfen sie uns aufpassen, daß kein Krieg mehr kommt!« Die Frage, ob die Russen gut sind, kann der Vater rasch beantworten; die nächste Frage des Kindes jedoch lautet: »Pappi – wie Krieg war, warst du da auch Soldat?« »Ja«, murmelte der Mann im Boot. »Ein guter oder ein böser?« »Was?« wollte der Mann, fast schon schlafend, noch fragen, da verschlug es ihm Atem und Schlaf. Er hatte die Frage verstanden. Er fuhr auf; […] »Du warst ein guter Soldat, Pappi?« fragte das Kind. »Ja«, sagte der Mann tonlos. Er schluckte. […] ›Mußte ich lügen?‹ dachte der Mann voll Bitterkeit. […] ›Wie lange noch schleifen die verfluchten Jahre ihre Schatten durch unser Leben?‹820

So werden die ›stürzenden Schatten‹, die dem Band den Titel geben, noch einmal explizit genannt – sie prägen ›das Erinnern‹, dessen verschiedenen Möglichkeiten Fühmann in den drei Skizzen nachzuspüren versuchte, und wirken damit unmittelbar und bestimmend in die Gegenwart hinein. Gerade mit dieser Perspektive mochten sich manche DDR-Rezensenten kaum abfinden. Symptomatisch ist die Besprechung Rosemarie Heises in Neue Deutsche Literatur; nach durchaus lobenden Worten für Fühmanns literarische Fähigkeiten und sein »humanistisches Anliegen« werden hier vor allem Bedenken ausgesprochen: Es fehlt den Erzählungen Fühmanns etwas für den Leser der Gegenwart schlechthin Unentbehrliches: Die Orientierung im Jetzt und Hier, die Anleitung zum Handeln, durch das allein die faschistische Vergangenheit wirklich überwunden werden könnte. Dazu aber bedürfte es eben mehr als nur der bloßen Entlarvung: Nur durch die Gestaltung ihrer tätigen Überwindung in unserer sozialistischen Gegenwart wird die faschistische Vergangenheit für den Leser als überwindbar erkannt, aber auch – angesichts der Situation in Westdeutschland – als noch zu überwinden bewußt. 818 Vgl. Richter: Franz Fühmann, S. 146. 819 Fühmann: Das Erinnern, S. 74. 820 Ebd., S. 80f.

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Hier läßt der Autor ein Bedürfnis suchender Leser unerfüllt, die wichtige Erkenntnis der im Wortsinn »notwendigen« Entscheidung für den Sozialismus bleibt unausgesprochen.821

Insbesondere fehle es an positiven Helden, an Gegenfiguren zu den Schuldigen und Verführten: Weder der desertierte Soldat in Kapitulation noch der griechische Koch im Gottesgericht repräsentierten »die positiven gesellschaftlichen Kräfte, die trotz des subjektiven Untergangs historisch triumphieren im Sieg der Roten Armee und der Widerstandskämpfer«; noch zugespitzt wird diese Kritik im Hinblick auf Das Erinnern, also auf den Text, der in der unmittelbaren Gegenwart spielt: Leider nutzt Fühmann nicht die Gelegenheit, in diesen Skizzen unsere sozialistische Gegenwart wirklich lebendig werden zu lassen und so das, was wir an den in der Zeit des Faschismus spielenden Erzählungen vermißten, hier wirksam nachzuholen. Ja, das Episodisch-Unabgeschlossene und Genrehaft-Vorläufige, das gerade diese Skizzen kennzeichnet, läßt beinahe die Besorgnis aufkommen, das den Autor offenbar immer wieder bedrängende Thema der Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit verstelle ihm noch zu sehr den Blick, als daß er ihre machtvolle tätige Überwindung schon zu gestalten vermöchte. Vielleicht jedoch erweist sich diese Besorgnis schon durch Fühmanns nächstes Buch als unbegründet.822

Eine rügende Schärfe des Tons ist nicht zu überhören; nebenbei wird der ›skizzenhaften‹ Erzählweise von Das Erinnern auch der Novellenstatus abgesprochen, den »am ehesten« Das Gottesgericht und Kapitulation »verdienen«.823 Insgesamt gerät die Rezension so zur Ermahnung und ideologischen Belehrung – und sie macht deutlich, wie sehr die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch in der DDR eine heikle Angelegenheit blieb. Fühmann wiederum mag mit manchen späteren Texten bewusst auf diese Art von Kritik reagiert haben, etwa durch seinen Versuch, mit Kabelkran und Blauer Peter (1961) den ›Bitterfelder Weg‹ zu beschreiten und Literatur aus der sozialistischen Arbeitswelt zu liefern, oder durch das spürbare und nicht gänzlich erfolgreiche Bemühen, in Böhmen am Meer (1962) den Akzent von den Kriegsopfern weg auf die junge, tatkräftige und optimistische Generation zu verlagern. Doch letztlich hat sich der Satz bestätigt, den er 1973 in seinem poetischen Tagebuch 22 Tage oder die Hälfte des Lebens formuliert hat: »Ich werde der Vergangenheit nicht mehr entrinnen, nicht einmal in der Utopie«824 – und gerade in diesem radikalen, manchmal zum Moralistischen, manchmal zum übertrieben Didaktischen neigenden, aber subjektiv authentischen Bedürfnis, sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, liegt eine entscheidende Qualität von Franz Fühmanns Erzählwerken.

821 Rosemarie Heise: Die Bürde der Vergangenheit. In: Neue Deutsche Literatur 7 (1959), H. 8, S. 132-

134, hier S. 133.

822 Ebd., S. 134. 823 Ebd., S. 132. 824 Franz Fühmann: 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens. Frankfurt/M. 1973, S. 211.

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4.6. Christa Wolf (geb. 1929) Gemischte Reaktionen, wie sie Fühmanns Kriegsnovellen bei aller grundsätzlichen Wertschätzung des Autors in der DDR entgegengebracht wurden, blieben Christa Wolf zunächst erspart. Erst Ende der sechziger Jahre, im Zusammenhang mit den zermürbenden Debatten um Nachdenken über Christa T., sollte sie das Repressionspotential ihres Staates kennenlernen825; ihr Erzähldebüt, die Moskauer Novelle, gab dagegen noch keinen Anlass zu ideologisch dominierter Kritik – im Gegenteil. Gerade die Rezension in Neue Deutsche Literatur, also der Zeitschrift, in der Fühmanns Stürzende Schatten so ambivalent besprochen worden war, ist eine überaus freundliche und für die Aufnahme des Textes in der DDR repräsentative Ermunterung der rund dreißigjährigen Autorin.826 Der gegen Fühmann geäußerte Vorwurf, über der Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit die Darstellung der sozialistischen Gegenwart zu versäumen, konnte gegen die Moskauer Novelle jedenfalls kaum erhoben werden. Das im Titel exponierte ›Moskau‹ steht nicht nur für das konkrete Zentrum des internationalen Sozialismus, sondern auch als »Metapher für antizipatorische Zukunftsentwürfe«827; die Stadtschilderungen der Novelle evozieren eine ideale Metropole, »summend vor Lebensfreude und Schaffensdrang«828, mit großer historischer Vergangenheit829, idyllischen Parks830 und Menschen voll »Gelassenheit, gepaart mit Energie«.831 Hier ereignet sich das überraschende Wiedersehen der dreißigjährigen deutschen Kinderärztin Vera Brauer mit dem zehn Jahre älteren, ehemaligen Leutnant der Sowjetarmee Pawel Koschkin. Unmittelbar nach dem Krieg hatten sie sich in einem mecklenburgischen Dorf kennengelernt, Pawel als Besatzungssoldat, Vera als Schreibhilfe des Bürgermeisters. Fünfzehn Jahre später ist Pawel Dolmetscher. Seinen Wunschberuf als Chirurg, das stellt sich im Lauf der Handlung heraus, konnte er nicht erlernen, weil er bei einem Einsatz während der Besatzungszeit eine Augenverletzung erlitt; Vera, damals noch mit alten Nationalsozialisten sympathisierend, hätte den Unfall durch eine rechtzeitige Warnung vielleicht verhindern können. Sowohl Pawel als auch Vera sind verheiratet; trotz wiedererwachender Liebe kommt es nicht zum Ehebruch. Aufbrechende Emotionen werden in Reflexionen 825 Vgl. dazu Angela Drescher (Hg.): Dokumentation zu Christa Wolf Nachdenken über Christa T. Ham-

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burg, Zürich 1991; Manfred Behn (Hg.): Wirkungsgeschichte von Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. Königstein/Ts. 1978. Vgl. Gerda Schultz: Ein überraschender Erstling. In: Neue Deutsche Literatur 9 (1961), H. 7, S. 128-131. Weitere Rezensionen sind verzeichnet in: Henk de Wild: Bibliographie der Sekundärliteratur zu Christa Wolf. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995, S. 138f. Therese Hörnigk: Christa Wolf. Göttingen 1989, S. 69. Christa Wolf: Moskauer Novelle. In: Dies.: Erzählungen 1960-1980. Hg. v. Sonja Hilzinger. München 1999 (= Werke, 3), S. 7-86, hier S. 18. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 18.

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aufgehoben und durch rationales Handeln sublimiert. Vera ist zudem gewarnt durch ihre Schuldgefühle: »eine alte Schuld begleicht man nicht durch eine neue«.832 Die gemeinsame Zeit von Pawel und Vera bleibt eine kurze Idylle mit melancholischer Eintrübung, die aber zugleich »zum Symbol der Heilung von Feindschaft und der Aufhebung von Schuld in sozialistischer Solidarität« avanciert.833 Am Ende wenden sich beide wieder ihren Ehepartnern zu, Vera fliegt nach Berlin zurück. Mehr als nur den Hintergrund zu dieser Liebesgeschichte liefert die Darstellung einer »voluntaristisch überhöhten und spürbar konstruiert wirkenden Alltagswelt, in der sich die gesellschaftlich antizipierten Ideale ausnehmen wie aus dem Bilderbuch entnommen«834: Die UdSSR ist der Staat der idealen Ärzte, der vorbildlichen Forscher und der glücklichen Kolchosebauern. Einem polemischen Zugriff hat der Text wenig entgegenzusetzen. Christa Wolf selbst gefiel sich in einer radikalen Selbstkritik, als sie die Moskauer Novelle vierzehn Jahre nach ihrer Entstehung noch einmal las und die Lektüreerfahrung in ihrem Essay Über Sinn und Unsinn von Naivität protokollierte. Als Autorin, die längst experimentellere Erzählverfahren erprobt hatte und weiter suchte, »bestürzte« sie vor allem »ein Zug zu Geschlossenheit und Perfektion in der formalen Grundstruktur, in der Verquickung der Charaktere mit einem Handlungsablauf, der an das Abschnurren eines aufgezogenen Uhrwerks erinnert«835; vorgefertigte »Bauteile«836 habe sie benutzt, um etwas »Traktathaftes« zu schreiben, »Traktat im Sinne der Verbreitung frommer Ansichten, denn allerdings läßt sich dieser Liebesgeschichte zwischen einer Deutschen und einem Russen, wie sie da säuberlich in Grenzen gehalten […] wird, eine gewisse fromme Naivität nicht absprechen«.837 Hinzu komme die SchwarzWeiß-Zeichnung, die »fast völlige Abwesenheit gemischter Gefühle«, die allzu offensichtliche »Parteilichkeit«838 im handfesten politischen Sinn. Die Vorstellung von ›Naivität‹, die Christa Wolf in ihrer Selbstkritik so sehr fokussiert, ist allerdings ungeeignet, um den Entstehungsprozess der Moskauer Novelle zu charakterisieren. Auf keinen Fall handelt es sich um einen ›naiv‹ heruntergeschriebenen Text; jahrelang hat sich die Autorin mit dem Stoff beschäftigt, zum erhaltenen Material gehören mehrere, teils stark differierende Vorstufen und Typoskripte, zahlreiche handschriftliche Skizzen und Notizen sowie verschiedene, gemeinsam mit dem Ehemann Gerhard Wolf verfasste Filmexposés.839 Schon diese intensiven Vorarbeiten zeigen das hochgradig Erarbeitete und Kalkulierte dieses 832 Ebd., S. 72. 833 Herbert Lehnert: Novellentradition und neueste deutsche Geschichte. Christa Wolfs Was bleibt als

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»Gegennovelle« zu ihrer Moskauer Novelle. In: Neues zu Altem. Novellen der Vergangenheit und der Gegenwart. Hg. v. Sabine Cramer. München 1996, S. 185-206, hier S. 189. Hörnigk: Christa Wolf, S. 72. Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität. In: Dies.: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1959-1974. Hg. v. Sonja Hilzinger. München 1999 (= Werke, 4), S. 438-450, hier S. 443. Ebd., S. 444. Ebd., S. 443. Ebd., S. 445. Vgl. Sonja Hilzinger: Nachwort. In: Christa Wolf: Werke. Bd. 4, S. 545-597, hier S. 554-558.

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Erzähldebüts. Es gibt keinen Grund, Christa Wolfs Aussage »Natürlich glaubte ich, was ich schrieb«840 in Zweifel zu ziehen; zugleich aber dürfte kaum einer ihrer Texte so direkt auf die Erwartungen eines intendierten Lesers hin konzipiert worden sein wie die Moskauer Novelle – und dieser intendierte Leser entsprach zweifellos dem Typus des offiziellen Repräsentanten und Entscheidungsträgers im DDR-Kulturbetrieb der späten fünfziger Jahre, mit dem die Literaturkritikerin und Verlagslektorin Christa Wolf gut vertraut war. Das Kalkül (das auch die scheiternde Hoffnung auf eine Verfilmung einschloss) ging zumindest auf, was die Distribution des Textes in der DDR betraf: Auf den Vorabdruck in der Zeitschrift Junge Kunst folgten in den Jahren 1961 und 1962 gleich zwei verschieden illustrierte Einzelausgaben sowie die Aufnahme in die Anthologie An den Tag gebracht; hinzu kamen Nachdrucke in sieben Tageszeitungen und eine Rundfunksendung.841 Die ideologische Seite der Moskauer Novelle war für den Erfolg sicher mitverantwortlich. Die westdeutsche Literaturwissenschaft hat diesen Aspekt stark herausgestellt und scharf kritisiert; Manfred Jurgensen etwa stellte Wolfs Erzähldebüt 1984 als »Musterbeispiel einer Erzählfiktion als Propagandatext«, ja eines »ideologischen Schulungstexts« dar.842 Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus dürfte eine sachlichere Bewertung leichterfallen, die nicht nur nach der »ideologisch bekenntnishaften Ausdrucksform«843 fragt, sondern verstärkt auch nach literarhistorischen und gattungstypologischen Gesichtspunkten. Literarhistorisch ist zunächst festzuhalten, dass Christa Wolfs Erzähldebüt nicht zu trennen ist von einer bestimmten Phase der DDR-Literatur, in der sich erstmals Angehörige derjenigen Generation zu Wort meldeten, die den Nationalsozialismus und den Weltkrieg zwar in jungen Jahren erlebt hatten, aber doch alt genug waren, um entscheidende Bewusstseinsprägungen davonzutragen und die Schuld zumindest des Mitläufertums auf sich geladen zu haben. Unverkennbar zeigen sich bereits in der Moskauer Novelle Überlegungen, deren Konsequenzen später in Kindheitsmuster gezogen werden. Vera sieht sich als Repräsentantin einer ›mittleren‹ Generation: Wer nur acht oder zehn Jahre jünger sei, bilde schon die »neue Generation«844, der die bewusste Erfahrung des Nationalsozialismus fehle; die ältere Generation der antifaschistischen Widerstandskämpfer wiederum habe die Möglichkeit gehabt, dem ›Dritten Reich‹ auf der Basis eines fest entwickelten politischen Bewusstseins entgegenzutreten. Was es heißt, »in einem Leben vom Faschismus in den Sozialismus hinüberzuwechseln«845, wird dagegen als die spezifische Erfahrung der »heute Dreißigjährigen« formuliert. Damit ist die Vorstellung der ›Wandlung‹ angesprochen, die schon in vielen Exilromanen eine Rolle spielte, aber erst um 1960 zu einem stereotypen 840 Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität, S. 447. 841 Vgl. Hilzinger: Nachwort, S. 558. 842 Manfred Jurgensen: Christa Wolf: Moskauer Novelle. In: Ders. (Hg.): Wolf. Darstellung – Deutung

– Diskussion. Bern, München 1984, S. 11-22, hier S. 22 und S. 18.

843 Ebd., S. 11. 844 Wolf: Moskauer Novelle, S. 43. 845 Ebd., S. 44.

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»Handlungsmuster in der Prosaliteratur der DDR«846 avancierte. Was das Hauptthema der ›Wandlungs-Epen‹847 ausmacht, spielt auch in der ›Ankunftsliteratur‹ eine Rolle; zur letzteren, benannt nach Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1961), ist die Moskauer Novelle wohl noch stärker zu rechnen, denn auch, wenn die Wandlung des überzeugten BDM-Mitglieds Vera Brauer zur ebenso überzeugten Sozialistin noch ein Thema ist, so überwiegt doch bereits die relativ breite Darstellung der sozialistischen Alltagswelt (oder dessen, was die Autorin dafür halten wollte). Nur so erklärt sich auch, warum die Rezensentin der Neuen Deutschen Literatur gerade die inhaltlichthematische Neuheit der Moskauer Novelle hervorhebt848: Das Genre der ›Ankunftsliteratur‹ war als solches noch kaum erkennbar, sondern erst in der Konstituierung begriffen. Dass sowohl die ›Wandlung‹ wie auch die ›Ankunft‹ in den entsprechenden Texten meist nur als vollzogen behauptet statt als komplexer, auf Grenzen und Widerstände stoßender Prozess reflektiert worden ist, zählt freilich zu den Tatsachen, die gerade Christa Wolf in späteren Jahren immer wieder ins Bewusstsein rücken sollte.849 Strukturell gesehen gibt es vielfältige Möglichkeiten, den Text mit der Novellentradition in Beziehung zu setzen. Die überraschende Wiederbegegnung kann als ›unerhörte Begebenheit‹ gedeutet werden, die Zeitstruktur lässt die Unterscheidung einer Binnen- und einer Rahmenerzählung zu, auch wenn Christa Wolf schon hier auf ein relativ kompliziertes Gefüge von Vorausdeutungen und Rückwendungen statt auf eine deutliche Trennung der Zeit- und Bewusstseinsebenen setzt – ein Verfahren, das sie in späteren Romanen ausdifferenzieren sollte. Der idealisierte gesellschaftliche Hintergrund erinnert daran, dass Novellen sich seit Boccaccio und Goethe oft »auf Geselligkeit beziehen und Beispiele für neue soziale Orientierungen mit national-integrierender Wirkung geben wollen«.850 Ein ›Wendepunkt‹ wäre im 8. Kapitel zu verorten, wenn Vera ihre Haltung zu Pawels Ehefrau verändert, was zudem im Bild der Kette symbolisiert wird, von der Vera zunächst Pawel eine Perle gibt, bevor sie seiner Frau die gesamte Kette schenkt – die »Kette einer internationalen sozialistischen Brüderschaft«851 wird so etwas aufdringlich ins Bild gesetzt. Zugleich kann die Kette als intertextuelle Bezugnahme auf Kleists Verlobung in St. Domingo gesehen werden852, wie auch der Besuch eines Marionettentheaters auf einen berühm846 Wittstock: Über die Fähigkeit zu trauern, S. 13. 847 Vgl. zu Begriff und Genre Heinrich Küntzel: Der Faschismus, seine Theorie, seine Darstellung in

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der Literatur. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Literatur der DDR. München 1983 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11), S. 435-367, hier S. 454. Vgl. Schultz: Ein überraschender Erstling, S. 128. Vgl. z.B. Christa Wolf: Erfahrungsmuster. Diskussion zu Kindheitsmuster [1976]. In: Dies.: Essays/ Gespräche/Reden/Briefe 1975-1986. Hg. v. Sonja Hilzinger. München 2000 (= Werke, 8), S. 31-72, bes. S. 32. Lehnert: Novellentradition und neueste deutsche Geschichte, S. 187. Gizela Kurpanik-Malinowska: Der vergessene Erstling. Zu Christa Wolfs Moskauer Novelle. In: Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Bearbeitet v. Zygmunt Mielczarek. Katowice 1991, S. 48-58, hier S. 55. Vgl. Rath: Die Novelle, S. 305f.

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ten Kleist-Text verweist. Eine Fülle von weiteren, teils markierten, teils nicht markierten Bezügen zeigt die Moskauer Novelle als einen hochgradig intertextuell bestimmten Text: Direkt erwähnt werden unter anderem »die blaue Blume des Märchens« und der Romantik, Goethes Faust und Shakespeares Othello, Am Brunnen vor dem Tore und Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! 853, und der romantische Sehnsuchts-Topos lebt auch im Sozialismus weiter.854 Eine wohl aus guten Gründen nicht markierte Bezugnahme auf einen Klassiker der Novellenliteratur findet sich am Schluss des Textes, als Vera sich nochmals zurückerinnert an ihre frühe gemeinsame Zeit mit Pawel. Als sie an einer Seuche erkrankt, kommt er die Patientin jeden Tag besuchen: Da man ihn natürlich nicht hereinließ, ritt er an mein Fenster, in das er vom Pferd aus hineinsehen konnte. […] Übrigens konnten wir nicht miteinander sprechen, ich lag zu weit vom Fenster entfernt. Er legte irgendwelche Sachen für mich aufs Fensterbrett – manchmal sogar Äpfel, die ich mir reiben lassen konnte und auf die ich einen Heißhunger hatte.855

Auch wenn es sich bei Vera nicht um Cholera handelt, sondern um Typhus: Die Nähe dieses Bildes zu Bindings Opfergang ist nicht zu verkennen und ein deutlicher Beleg dafür, dass frühe Lektüreeindrücke auch dann noch produktiv wirken, wenn sich die Leserin von damals auf der Ebene des Bewusstseins längst distanziert hat von den Idealen eines Autors, den Christa Wolf zur Entstehungszeit der Moskauer Novelle als Kitschier und Präfaschisten abgelehnt haben dürfte. Zur positiven Rezeptionsgeschichte der Moskauer Novelle in der DDR gehören auch die Bemerkungen Werner Baums, der die frühen Werke Fühmanns und Wolfs als Musterbeispiele einer ›sozialistischen Novelle‹ wertet: »Der neue Mensch, dessen Schönheit von neuen moralischen Wertbegriffen mitgeprägt ist, tritt uns in diesen Novellen entgegen. In ihnen ist, die Tradition der Klassik fortführend, das Ethische eine ästhetische Kategorie«.856 Und, noch deutlicher: »Die sozialistische Novelle, die in der DDR oder in einem anderen sozialistischen Land spielt, wie Christa Wolfs Moskauer Novelle, wird exemplarisch sein müssen für die Gesamttendenz der bewußten Gestaltung der Zukunft durch das Volk«.857 So wird die literarische Gattung in eins gesetzt mit ihrer literaturideologischen Funktionsbestimmung – und aus der postulierten Gegnerschaft zur »westdeutschen Literaturwissenschaft und Ästhetik« erwächst eine strukturelle Analogie ausgerechnet zu den konservativsten novellentheoretischen Positionen der fünfziger und sechziger Jahre. Wie im Westen wird die Novelle zur Gattung der »klaren Wertentscheidungen«858; ›Ambivalenz‹ wird von Hermann Pongs als »Wertezweifel« und »Seelen-

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Vgl. Wolf: Moskauer Novelle, S. 24, 47, 55, 56f. Vgl. z.B. ebd., S. 77. Ebd., S. 85. Baum: Bedeutung und Gestalt, S. 111. Ebd., S. 122. Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 3. Marburg 1969, Vorwort.

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schwäche«859, von Werner Baum als Ausdruck falschen Bewusstseins denunziert, und beide sind sich einig in der Ablehnung pluralistischer Deutungsmodelle. Entsprechend gilt eine ›Novelle‹ dann als ästhetisch geglückt, wenn ihre als typisch beschriebenen Merkmale von der Symbolik bis zum Wendepunkt mit der Eindeutigkeit umgesetzt werden, die ein weltanschaulich grundierter Interpretationsansatz fordert, und die in diametralem Gegensatz steht zu allem, was im 20. Jahrhundert als Charakteristikum moderner und ästhetisch avancierter Literaturproduktion beschrieben wurde. Dass Franz Fühmann und Christa Wolf nur für ihre frühen Werke auf eine in diesem Sinn konnotierte Gattungsbezeichnung zurückgegriffen haben, ist insofern kaum überraschend: Zum einen konnten die jungen Autoren durch die Orientierung an älteren Mustern Selbstzweifeln und Hemmungen entgegensteuern, zum anderen ließ sich über die explizite Verwendung des Begriffs ›Novelle‹ die Bereitschaft kommunizieren, das eigene Werk in die realistische Tradition zu stellen und so zu einer schöpferischen Aneignung des ›Kulturerbes‹ beizutragen. Seit den späten sechziger Jahren verloren sowohl die Erbe-Auffassung als auch die Doktrin des sozialistischen Realismus an Verbindlichkeit und normierender Kraft.860 Da Autoren wie Fühmann und Wolf zudem an Renommee und Erfahrung wesentlich hinzugewonnen hatten, ist es eine naheliegende Konsequenz, dass sie für ihre jüngeren Texte auf den Novellenbegriff verzichtet haben: Denn durch diese paratextuelle Zuschreibung hätten sie sich erneut in eine Tradition gestellt, die ihren Vorstellungen eines ›offeneren‹ Schreibens zu diesem Zeitpunkt nicht entsprechen konnte und die ihnen in ästhetischer und politischer Hinsicht zunehmend suspekt geworden war.

5. Ende und Anfang – Katz und Maus von Günter Grass (geb. 1927) »Katz und Maus setzt uns der Autor als Novelle vor. Das ist nach der wuchernden epischen Breite und gelegentlichen Zügellosigkeit der Blechtrommel eine Überraschung. Eine Novelle ist ja nicht nur kürzer als ein Roman, sie ist anders gebaut, kunstvoller im Gewebe, literarisch artistischer«, schrieb Karl Korn am 7. Oktober 1961 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.861 Mit diesem Zitat ist der Erwartungshorizont der Zeitgenossen treffend umrissen: Grass war durch den spektakulären Erfolg der Blechtrommel zu einem Autor avanciert, auf dessen nächstes Prosawerk die Öffentlichkeit gespannt sein konnte; dass es sich dabei um einen relativ kurzen Text handelte, überraschte offenbar weniger als die explizite Bezeichnung als ›Novelle‹.862 Fast 859 Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 2, Vorwort (unpaginiert). 860 Vgl. Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß. Köln 1982. S. 45-48. 861 Karl Korn: Epitaph für Mahlke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.1961. Wieder in: Gert

Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied, Berlin 1968, S. 28-31, hier S. 29. – Eine (nicht ganz fehlerfreie) Bibliographie der journalistischen Rezeption enthält Alexander Ritter: Günter Grass: Katz und Maus. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1977, bibliographisch ergänzte Auflage 2001 (= RUB 8137), S. 187-191. 862 Dass Grass nicht den üblichen paratextuellen Zusatz ›Novelle‹ verwendet, sondern sowohl hier als

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jeder zeitgenössische Kritiker ging auf den Terminus ein und ließ dabei sein Vorverständnis der Gattung einfließen; wie so oft widerspricht die Vagheit des jeweiligen Novellenbegriffs in auffälliger Weise der Entschiedenheit, mit der die Rezensenten es akzeptieren oder ablehnen, Katz und Maus als eine Novelle zu bezeichnen. Korn hält den Begriff für passend: »die Maus« des »vorstehenden Kehlkopfs« sei »das Falkenmotiv«, der Text sei »sehr genau gebaut«, die »Wiederholungen der Leitmotive sitzen an den richtigen Stellen«, der »novellistische Stil« sei insgesamt »straff« und »zupackend«.863 Jost Nolte in Die Welt dagegen misst den Autor Grass an einem weitaus normativeren Novellenbegriff: Grass hat, laut Untertitel, eine Novelle schreiben wollen, die Darstellung einer »unerhörten Begebenheit«, wie Goethe diese Form genannt hat, und soweit der Verlag die Definition im Klappentext anführt, trifft sie auf Katz und Maus auch zu; eine Novelle ist trotzdem nicht entstanden, denn dazu gehört noch anderes: ein geschlossener Bau und ein nahezu objektiver Berichtstil, aus dem sich der Erzähler heraushält. Gerade darum hat sich Grass nicht gekümmert. Seine Geschichte verläuft ziemlich atektonisch, und der Ich-Erzähler ist nicht nur am Vorgang unmittelbar beteiligt, er erteilt seinem Helden immerfort Zensuren und redet ihn darüber hinaus nicht nur als Mitspieler, sondern auch als Erzähler immer wieder unvermittelt an – was natürlich dem Wert der Erzählung keinen Abbruch tut und auch häufig beste Effekte bringt, was aber in einer Novelle, wenn sie wirklich eine sein soll, nun einmal nicht erlaubt ist. Kurz: Günter Grass ist bei seinem Leisten geblieben, er hat einen schmalen, aber nichtsdestoweniger wildwuchernden Roman geschrieben.864

Die Passage ist aufschlussreich insofern, als sie auch den rezeptionssteuernden Klappentext berücksichtigt und zumindest einige Kriterien benennt, die Nolte zufolge eine ›Novelle‹ ausmachen – freilich ist eine Legitimation für die Festlegung dessen, was »in einer Novelle […] nun einmal nicht erlaubt« sei, kaum zu erbringen. Offensichtlich legt Nolte gern auf bestimmte »Leisten« fest, auch in Fällen, in denen das nur wenig sinnvoll sein kann – etwa wenn einem immer noch jungen Autor anlässlich seines zweiten Prosawerks das Muster des ersten vorgehalten wird. Für Nolte jedenfalls bleibt, wie er am Schluss seiner umfangreichen Rezension noch einmal betont, »die Firmierung als Novelle […] eine zweifelhafte Angelegenheit«.865 Über Zweifel in dieser Hinsicht ist Marcel Reich-Ranicki schon hinaus – so sehr, dass er Begründungen für überflüssig hält: auch bei seinem viel späteren Gattungsbeitrag Im Krebsgang die um den unbestimmten Artikel erweiterte Formel ›Eine Novelle‹ wählt, wird von den meisten zeitgenössischen Kritikern ignoriert und bleibt auch in den bibliographischen Angaben der Rezensionen oft unberücksichtigt. 863 Korn: Epitaph für Mahlke, S. 30. – Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen bemüht sich Korn immerhin, an Beispielen zu illustrieren, was er unter ›straffem‹ und ›zupackenden‹ Stil versteht: »›Als aber der Sommer mit Stachelbeeren, Sondermeldungen und Badewetter kam…‹, so beginnt ein Kapitel mit einem Satz, der eine Jahreszeit, eine Landschaft und eine Epoche in drei Substantiven enthält.« (ebd.). 864 Jost Nolte: »Ich schreibe, denn das muß weg«. In: Die Welt, Hamburg, 19.10.1961. Wieder in: Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch, S. 31-34, hier S. 32. 865 Ebd., S. 34.

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Für die Bezeichnung »Novelle« auf der Titelseite kann man beim besten Willen keine Rechtfertigung finden. Graß soll uns nichts vormachen: er hat den Stoff in einer längeren Erzählung behandelt, deren Konstruktionsachse eine biographische Fabel ist. […] Während die Blechtrommel an einen riesigen Sack erinnerte, in den Graß einige Kostbarkeiten und sehr viel Tand hineingestopft hatte, ist jetzt eine sinnvolle (freilich keineswegs novellistische) Komposition sichtbar.866

Walter Höllerer kommt dagegen im Rahmen eines 1962 veröffentlichten Essays über Kurzformen der Prosa zu dem klaren Ergebnis, es handle sich bei Katz und Maus um eine »Novelle mit linearer Handlung, einem Wendepunkt und einem Falken«867, und auch Hellmuth Karasek findet sowohl die ›unerhörte Begebenheit‹, »wie Goethe und der Klappentext es für die Novelle fordern«, als auch einen ›Falken‹.868 Einen differenzierteren Rückbezug auf die Novellentradition leistet die Besprechung von Wolfgang Maier in Sprache im technischen Zeitalter: Schon der Titel Moderne Novelle verweist auf den offenen Gattungsbegriff, den Maier zugrunde legt; dabei ist sich der Rezensent sehr wohl des theoretisch kaum aufzulösenden Widerspruchs bewusst, dass mit einer generellen Ablehnung von Textsortenbezeichnungen kaum etwas gewonnen wäre: »Eine Novelle überspielt die Kennzeichen der anderen und entwickelt oft genug gerade aus dem Gegensatz ihre besonderen Reize, ihre Qualität. Und doch löst der Begriff sofort bestimmte Vorstellungen aus, die ohne Anspruch zwar bleiben, die aber in einer gewissen Spontaneität sich absetzen von der Erzählung oder gar vom Roman«.869 Angesichts dieser Formulierung ist allerdings überraschend, dass Maier nicht auf den genauen Untertitel »Eine Novelle« eingeht, den er von seinen Prämissen her als Argument dafür heranziehen könnte, dass Grass eben nur »einen möglichen Weg zur Novelle«870 gesucht und nicht ›die Nachkriegsnovelle‹ schlechthin habe schreiben wollen. Bemerkenswert ist dagegen Maiers Erkenntnis, dass in Katz und Maus der Versuch unternommen worden sei, das novellentypische »Symbol seiner metaphysischen Verkleidung zu entledigen, den transzendierenden Funktionscharakter des Symbols abzuwerfen und es zurückzugewinnen als empirisch-praktisches Mittel der Intensivierung von Sprache«.871 Hier wird positiv formuliert, was in den Äußerungen der reaktionären Novellentheoretiker Hermann Pongs und Friedrich Franz von Unruh vom Sachverhalt her ähnlich beobachtet, aber aus weltanschaulichen Gründen gegensätzlich bewertet wird: Pongs attestiert Grass, dass er »die Technik der Novelle virtuos zu handhaben« verstehe, sie aber durch die Entwertung des Symbolischen so weit travestiere, dass letztlich nur ein »technisch gut

866 Marcel Reich-Ranicki: Die Geschichte des Ritterkreuzträgers. In: Die Zeit, 10.11.1961. 867 Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: Akzente 9 (1962), S. 226-245, hier S. 231. 868 Hellmuth Karasek: Der Knorpel im Hals. In: Stuttgarter Zeitung, 11.11.1961. Wieder in: Loschütz

(Hg.): Von Buch zu Buch, S. 27f., hier S. 28.

869 Wolfgang Maier: Moderne Novelle. In: Sprache im technischen Zeitalter 1(1961), S. 68-71, hier

S. 68; Hervorhebungen im Original. 870 Ebd., S. 69. 871 Ebd.

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funktionierendes Novellengetriebe […] um eine leere Mitte« entstanden sei872; Unruh behauptet, in der »Novelle genannten Erzählung« Katz und Maus sei »zwar die Struktur der Novelle gewahrt, der Inhalt aber verblaßt und verödet zu seelenloser, pornographisch verbrämter Leere«.873 Dass die ältere Novellenforschung ein hochproblematisches Amalgam formaler und weltanschaulich-ideologischer Faktoren darstellt, wird kaum je so deutlich wie an diesem Beispiel. Insgesamt wird der Novellenstatus des Textes zur Zeit seines Erscheinens sehr unterschiedlich beurteilt – und das teils ohne argumentative Begründung, teils unter Verwendung der gleichen Argumente, die jeweils Gegensätzliches belegen sollen. Ein Beispiel für Letzteres bieten die Rezensionen von Humbert Fink in der Deutschen Zeitung und von Dr. F.M. in der Westfälischen Rundschau: Fink kommt zu dem Fazit, Katz und Maus sei »eine moderne Novelle, […] die im Sinne der Goetheschen Definition eine unerhörte Begebenheit beschreibt, wobei Grass freilich einen kleinen Schritt weitergegangen ist und von der einen ›unerhörten Begebenheit‹ eine Reihe gleichwertiger abgeleitet hat«874; F.M. behauptet gleich eingangs: »An Graß’ neuem Buch stimmt nur eines nicht, der Untertitel. Es ist keineswegs eine Novelle, wie es dort heißt, sondern eine ausgeweitete Erzählung. Die Novelle stellt, wie sie Goethe definiert hat, eine ›sich ereignete unerhörte Begebenheit‹ dar«.875 Goethes Formel, vom Klappentext der Erstausgabe noch besonders ins Blickfeld gerückt, muss für die Ablehnung wie für die Rechtfertigung der Gattungsbezeichnung herhalten und beweist so einmal mehr ihre fast unbegrenzte diskursive Verwendbarkeit. Ähnlich widersprüchliche Urteile wie in den zeitgenössischen Rezensionen finden sich auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung: Während etwa Benno von Wiese behauptet, Katz und Maus fehle »zur Novelle […] eigentlich alles, was diese bisher ausmachte«876, befindet Ulrich Karthaus, der Text zeige »alle Merkmale dieser Gattung geradezu plakativ«.877 Die neuere Forschung teilt überwiegend die zweite Position878 – auch aus der Erkenntnis heraus, dass ein wie auch immer definierter Gattungsbegriff sich selbst ad absurdum führte, wenn er einen der berühmtesten, explizit als ›Novelle‹ gekennzeichneten Text dauerhaft ausschlösse und damit zugleich den normativen Anspruch erhöbe, einen der bedeutendsten deutschen Autoren über das angebliche ›Wesen‹ der 872 Hermann Pongs: Romanschaffen im Umbruch der Zeit. Eine Chronik von 1952 bis 1962. Tübin-

gen 41963, S. 482f.

873 Friedrich Franz von Unruh: Die unerhörte Begebenheit, S. 384. 874 Humbert Fink: Gut, besser, fast am besten. In: Deutsche Zeitung [Literatur-Rundschau],

25./26.11.1961.

875 Dr. F.M.: Das Ritterkreuz am Adamsapfel. Eine zeitkritische Erzählung von Günther [!] Graß [!]

aus dem Danzig des 2. Krieges. In: Westfälische Rundschau, 22./23.11.1961. 876 Benno von Wiese: Novelle. Stuttgart 41969, S. 83. 877 Ulrich Karthaus: Günter Grass: Katz und Maus – das Ende einer Gattung? In: Über Grenzen. Pol-

nisch-deutsche Beiträge zur deutschen Literatur nach 1945. Hg. v. Wolfgang Braungart. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1989 (= Gießener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, 10), S. 46-58, hier S. 46. 878 Vgl. z.B. Sabine Moser: Günter Grass. Romane und Erzählungen. Berlin 2000, S. 54.

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Novelle zu belehren. Grass selbst hat zwar keine detaillierteren gattungsgeschichtlichen Reflexionen veröffentlicht; daraus abzuleiten, ihm seien die Gattungsgeschichte und der Stand der Novelle in seiner Zeit »nicht bewußt«879 gewesen, dürfte jedoch verfehlt sein. Grass hat Katz und Maus »einen in sich geschlossenen, strengen Bau«880 bescheinigt und die Novelle in dieser Hinsicht deutlich abgesetzt von der Blechtrommel und den Hundejahren. Im gleichen Zusammenhang kommt er auch auf »die deutsche Art und Unart« zurück, »alles in Form und Inhalt zu teilen« und betont, dass es diesen Gegensatz für ihn nicht gebe: »Es entwickelt sich eins aus dem anderen: Jede Form produziert ihren Inhalt und umgekehrt«.881 Die naheliegende Frage ist, welche Intentionen Grass mit dem Aufgreifen einer Gattungstradition verbunden haben könnte, die in seiner Gegenwart konservativ und bildungsideologisch besetzt war und damit im Widerspruch stand zu dem (mediengenerierten und falschen) Bild vom »Wilden Mann unserer Literatur«882 und »literarischen Holzfäller«883, das in der frühen Grass-Rezeption dominierte. Um sich dieser Frage zu nähern, ist es nicht nur unerlässlich, den diskurshistorischen Kontext des Gattungsbegriffs um 1960 zu präzisieren, sondern vor allem auch, die komplexe Erzählstruktur von Katz und Maus möglichst genau zu analysieren. Bezüge zur Novellentradition Grass kommuniziert sein Gattungsverständnis zunächst über die Verwendung von typischen Schlüsselwörtern, am deutlichsten in der Rede des Schuldirektors nach dem Ritterkreuz-Diebstahl: »über unsere Köpfe hinweg tönte Klohse mit kühlem Atem, Unerhörtes habe sich zugetragen, und das in schicksalhaften Zeiten, da alle zusammenhalten müßten«.884 Der Bezug auf Goethes Gattungsdefinition ist unverkennbar, zumal der Klappentext von der Erstausgabe an den Verweis auf Goethes Formel enthielt und die Rezeption entsprechend gesteuert hat. Schon die oben zitierten zeitgenössischen Kritiken belegen, wie stark die Leser auf solche Vorgaben eingehen und auch die übrigen Schlüsselwörter der Novellentheorie – Wendepunkt, Falke, Dingsymbol – prompt in ihre Wahrnehmung des Textes einbeziehen.885 879 Manfred Durzak: Entzauberung des Helden. Günter Grass: Katz und Maus (1961). In: Deutsche

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884 885

Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 265-277, hier S. 267. Günter Grass: Die Ambivalenz der Wahrheit zeigen. Gespräch mit Ekkehart Rudolph [1975]. In: Gespräche mit Günter Grass. Hg. v. Klaus Stallbaum. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 10), S. 180-189, hier S. 185. Ebd., S. 184. Hans Magnus Enzensberger hat bereits in seinen frühen Rezensionen nachdrücklich das Verfehlte dieser Vorstellung betont, vgl. Hans Magnus Enzensberger: Trommelt weiter. In: Frankfurter Hefte 16 (1961), H. 12, S. 860-862, hier S. 861. Franz Josef Görtz: Günter Grass – Zur Pathogenese eines Markenbilds. Die Literaturkritik der Massenmedien 1959-1969. Eine Untersuchung mit Hilfe datenverarbeitender Methoden. Meisenheim am Glan 1978, S. 77. Grass: Katz und Maus, S. 86. Besonders konzentriert versammelt sind die einzelnen Novellenmerkmale bei Volker Neuhaus:

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Ein ›Wendepunkt‹ lässt sich im siebten Kapitel und damit genau in der Mitte der Novelle finden: Gleich zu Beginn des Kapitels ist die Rede vom »Auftreten des Kapitänleutnant zur See«, das »allen Gesprächen über Mahlke eine neue, wenn auch nicht grundsätzlich neue Richtung«886 gegeben habe; der Diebstahl des Ritterkreuzes wird weitreichende Folgen für Mahlkes weitere Entwicklung zeitigen. Als ›Falke‹ ist schon in den ersten Rezensionen und dann immer wieder Mahlkes Adamsapfel gesehen worden. Das Motiv zieht sich von Anfang bis Ende durch den Text: »Die Maus treibt Mahlke und mit ihm die Ereignisse der Novelle voran, fast wie die Rappen Michael Kohlhaas und seine Geschichte antreiben«.887 Aus der ›Maus‹ entwickelt Grass zudem ganze »Motivketten«888, die in Zusammenhang stehen mit Mahlkes Versuchen, den stark empfundenen Makel zu kompensieren: Die körperliche Abnormität ist nicht nur Anreiz zu herausragenden sportlichen, sexuellen oder militärischen Leistungen, sondern produziert auch »Entsprechungen« und »Gegengewichte«.889 Insofern ist Hans Magnus Enzensberger zuzustimmen, der schon bei Erscheinen der Erstausgabe anmerkte, dass Grass die »Technik der Leitmotive […] nicht einfach übernommen«, sondern »auf die Spitze getrieben und qualitativ verändert« habe.890 Das heißt aber nicht unbedingt, dass »schlechterdings alles zum Leitmotiv werden kann«891: es entsteht keine Motivkonkurrenz, sondern ein Ensemble kunstvoll aufeinander bezogener und auseinander entwickelter Motive, »die Grass mit einer seit Thomas Mann nicht mehr erlebten leitmotivtechnischen Virtuosität ineinanderkomponiert«.892 Zu Mahlkes kaschierendem Halsschmuck zählen der Schraubenzieher und das Marienmedaillon, der Büchsenöffner und die Wollpuscheln, die Leuchtplaketten und die Grammophonkurbel, schließlich auch die nicht mehr jugendlich-originellen, sondern erwachsen-konventionellen Accessoires Krawatte und Ritterkreuz – erstere als typisches Signum des erfolgreichen männlichen Zivilisten, zweiteres als besondere Auszeichnung des noch erfolgreicheren Soldaten. Für das Ritterkreuz, das im Text nur ein einziges Mal beim Namen genannt wird, bietet sich der Begriff des ›Dingsymbols‹ an; wie jeder Orden hat auch dieser eine hauptsächlich symbolische Bedeutung. Im speziellen Fall überlagern sich (selbst wenn man vom möglichen Bezug dieses ›Kreuzes‹ auf die karikierte Christus-Nachfolge Mahlkes absieht) verschiedene

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»Von Katz und Maus und mea culpa«. Nachwort zu Katz und Maus. In: Günter Grass: Katz und Maus. Eine Novelle. Hundejahre. Roman. Hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 3), S. 840-848, bes. S. 840-842, sowie bei Karthaus: Günter Grass: Katz und Maus – das Ende einer Gattung?, S. 47-50. Grass: Katz und Maus, S. 64. Karthaus: Günter Grass: Katz und Maus, S. 49. Ingrid Hasselbach: Günter Grass: Katz und Maus. München 1990 (= Oldenbourg Interpretationen, 36), S. 20. Grass: Katz und Maus, S. 31. – Wohl nicht zufällig schwingt in beiden Begriffen der Wortsinn des lateinischen Verbs ›compensare‹ (= gegeneinander abwiegen, aufwiegen, gegenüberstellen) mit. Hans Magnus Enzensberger: Trommelt weiter, S. 862. Ebd. Hanspeter Brode: Günter Grass. München 1979, S. 88.

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Bedeutungsebenen: Die Auszeichnung verweist zum einen auf das von Schinkel entworfene ›Eiserne Kreuz‹ und damit auf den preußisch-deutschen Heldenbegriff des 19. Jahrhunderts; durch die 1939 erfolgte Neubegründung als von Hitler persönlich verliehenes ›Ritterkreuz‹ wurde sie darüber hinaus zu einem wichtigen »Funktionsträger nationalsozialistischer Ideologie«.893 Schließlich sind das Ritterkreuz und seine Träger auch geeignet, den Fortbestand eines fragwürdigen Heldenideals über 1945 hinaus zu illustrieren – textintern durch das von Pilenz aufgesuchte Nachkriegstreffen der Ritterkreuzträger, textextern und im Nachhinein durch ein berühmtes Rezeptionszeugnis: den Protest gegen das angeblich »nur mit der Zange« anzufassende Werk von Günter Grass, der in der Zeitschrift Das Ritterkreuz veröffentlicht wurde.894 Über das Spiel mit traditionell ›novellistischen‹ Formelementen hinaus betont der Erzähler zudem die Einsträngigkeit der Handlung: So wird die »dunkle verzweigte Geschichte«895 um den Studienrat Brunies und seine Tochter ausdrücklich ausgeklammert und in einen anderen Kontext verwiesen (den späteren, komplex gebauten Roman Hundejahre), und Details aus dem »Alltag eines Luftwaffenhelfers« bleiben ausgespart mit der Begründung, es dürfe »hier nur von Dir«, also von Mahlke, die Rede sein, der im Unterschied zu Pilenz, Hotten Sonntag oder Schilling »nie Luftwaffenhelfer« gewesen ist.896 Diese Hinweise des Erzählers korrespondieren auf der Autorebene mit Aussagen, die Grass zum Entstehungsprozess des Textes getroffen hat: Die ursprüngliche Konzeption der späteren Hundejahre – noch unter dem Arbeitstitel Kartoffelschalen – sei »in der Mitte des Buches durch ein Kapitel, das eigentlich ›Katz und Maus‹ enthielt, zerschlagen« worden: »es stellte sich heraus, daß darin eine Novelle war, die den Roman kaputt machte. Dann hab’ ich zuerst die Novelle geschrieben und durch die Arbeit an der Novelle die Erzählpositionen für Hundejahre gefunden«.897 Hier wird ›die Novelle‹, durchaus in Bezug auf traditionelle Gattungsvorstellungen, imaginiert als etwas in sich Konsistentes und Abgeschlossenes, das sich durch seine kompakte Einsträngigkeit leicht aus einem größeren Kontext isolieren lässt bzw. sogar isoliert werden muss, um die Zerstörung einer übergeordneten Erzählkonzeption zu verhindern. Zu den weiteren Aspekten, in denen Katz und Maus auf die ältere Novellenliteratur Bezug nimmt, zählt die zentrale Bedeutung des ›großen Einzelnen‹898; die gründerzeitlichen Novellen eines C.F. Meyer oder Paul Heyse, aber auch Theodor Storms

893 Frank F. Plagwitz: Die Crux des Heldentums: Zur Deutung des Ritterkreuzes in Günter Grass’ Katz

und Maus. In: Seminar 32 (1996), S. 1-14, hier S. 3f.

894 N.N.: Nur mit der Zange anzufassen! In: Das Ritterkreuz, Wiesbaden, April 1962. Wieder in:

Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch, S. 48-50. 895 Grass: Katz und Maus, S. 40. 896 Ebd., S. 99. 897 Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Günter Grass. In: Günter Grass. Text + Kritik Heft 1/1a.

Fünfte Auflage 1978, S. 1-39, hier S. 18. 898 Vgl. Durzak: Entzauberung des Helden, S. 268-270.

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Der Schimmelreiter 899 haben überragende, geschichtsmächtige Individuen in den Mittelpunkt gestellt, und in diese Tradition ließe sich auch (in ironischer Brechung und ideologiekritisch motivierter Hinterfragung) die Figur des ›Großen Mahlke‹900 einordnen. In rudimentärer Form ist in der Grassschen Novelle sogar eine Art Rahmenhandlung angelegt, wenn man die Gespräche von Pilenz mit Pater Alban und die retrospektive Erzählhaltung bedenkt; auch Bezüge zur sogenannten ›Chroniknovelle‹ sind entdeckt worden insofern, als Pilenz letztlich eine Art ›Chronik‹ von Mahlkes Leben bietet.901 Dass Katz und Maus auf der makrostrukturellen Ebene als ein sehr bewusst und kunstvoll konstruierter Text erscheint, wird durch zahlreiche Interpretationen bestätigt. Alexander Ritter zufolge bildet sich im Handlungsverlauf die typische Spannungskurve des klassizistischen Dramas ab: Das erste Kapitel entspreche der Exposition, die steigende Handlung werde in den Kapiteln II bis VI entfaltet, das VII. bringe mit Mahlkes Diebstahl des Ritterkreuzes die Peripetie, in den Kapiteln VIII bis XII falle die Handlung, um in XIII in die (unbestätigte) Katastrophe zu münden.902 Einen originelleren Deutungsansatz verfolgt John Reddick, der die 13 Kapitel der Novelle in Analogie setzt zu den 14 Zeilen eines Sonetts. Insofern hätte sich Grass in Katz und Maus nicht nur mit der Novellentradition auseinandergesetzt, sondern implizit auch auf die zweite ›strenge‹ Form Bezug genommen, die in der literarischen Produktion der Nachkriegszeit eine besondere Rolle gespielt hat.903 Reddick sieht das erste Kapitelquartett (Kapitel I-IV) als Schilderung von Mahlkes Jugend und seiner »first attempts to secure freedom«, das zweite (Kapitel V bis VIII) als »first Knight’s Cross phase«. Daran schließe sich eine »second Knight’s Cross phase« an, die die drei Kapitel IX bis XI umfasse sowie »Mahlke’s downfall«, dem sich die letzten beiden Kapiteln widmeten.904 Das unvollständige Schlussterzett wäre damit als formales Äquivalent zum offenen, ergänzungsbedürftigen Schluss zu deuten, der keine Klarheit über Mahlkes Leben oder Tod geben kann. Ob man den formalen Bezugspunkt nun im klassizistischen Drama oder im Sonett sieht, bleibt aber letztlich nachrangig gegenüber der durch beide Thesen bestätigten Klarheit und »delicate balance«905 des Grassschen Novellentextes.

899 Vgl. Jost Hermand: Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründerzeitlichen Übermenschen? In: Wir-

kendes Wort 15 (1965), S. 40-50. 900 Vgl. Grass: Katz und Maus, S. 77f. 901 Vgl. Durzak: Entzauberung des Helden, S. 268. 902 Vgl. Alexander Ritter: Günter Grass: Katz und Maus. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Interpre-

tationen. Bd. 2. Stuttgart 1996 (= RUB 9463), S. 117-133, hier S. 121. 903 Vgl. zur Bedeutung des Sonetts in der Lyrik der Nachkriegszeit – z.B. bei Rudolf Hagelstange – An-

dreas Böhn: Das zeitgenössische deutschsprachige Sonett. Vielfalt und Aktualität einer literarischen Form. Stuttgart, Weimar 1999, bes. S. 15. 904 John Reddick: The ›Danzig Trilogy‹ of Günter Grass. A Study of The Tin Drum, Cat and Mouse and Dog Years. London 1975, S. 131f. 905 Ebd., S. 131.

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Pilenz als ›unreliable narrator‹ Kaum ein Schriftsteller der Nachkriegszeit hat so intensiv mit den Möglichkeiten fokalisierten Erzählens gearbeitet wie Günter Grass. Gerade im Hinblick auf die 1974 als Danziger Trilogie zusammengefassten Werke ist es zwingend, das in der neueren Erzähltheorie intensiv aufgefächerte Modell der ›unreliable narration‹ bzw. des ›unreliable narrators‹ interpretatorisch nutzbar zu machen.906 In der Blechtrommel hat Grass schon mit dem berühmten ersten Satz geradezu ein Muster für das Konzept erzählerischer Unzuverlässigkeit geliefert: Indem Oskar Matzerath gleich zu Beginn ›zugibt‹, er sei »Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt«907, weist er sich von vornherein als eine Erzählinstanz aus, »deren Perspektive im Widerspruch zum Werte- und Normensystem«908 der sie umgebenden Gesellschaft steht; typisch ist darüber hinaus »die Diskrepanz, die zwischen seinen expliziten Äußerungen über sich und andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung besteht«, und die nicht wenige Leser darin bestärkt, Oskar Matzerath den »redselige[n] und verrückte[n] Monologisten« zuzuschlagen, »die meistens unreliable narrators sind«.909 Auch Pilenz, der Erzähler von Katz und Maus, dessen Vorname Heinrich bzw. Heini nur aus Hundejahre bekannt ist910, erweist sich von Anfang an als unzuverlässiger Erzähler. Katz und Maus beginnt mit einer Passage, die schon oft als »Kabinettstück Grassscher Prosakunst«911 gerühmt wurde. Der Erzähleinsatz medias in res mit dem später noch öfter begegnenden »… und einmal« gehört zu den typischen syntaktischen Auffälligkeiten, die den hohen Grad signalisieren, in dem der Erzähler 906 Dass sie auf diese Möglichkeit verzichtet, obwohl der Begriff des ›unreliable narrators‹ bereits 1961

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von W.C. Booth geprägt wurde, zählt zu den Schwächen der Arbeit von Susanne Schröder: Erzählerfiguren und Erzählperspektive in Günter Grass’ Danziger Trilogie. Frankfurt/M., Bern, New York 1986. – Auch der Aufsatz von Jochen Rohlfs bietet keine theoretische Fundierung der ›unreliable narration‹, obwohl er schon im Titel auf das Phänomen anspielt (vgl. Jochen Rohlfs: Erzählen aus unzuverlässiger Sicht. Zur Erzählstruktur bei Günter Grass. In: Günter Grass. Text + Kritik Heft 1/1a. Fünfte Auflage 1978, S. 51-59). Vor allem die Schwierigkeiten, die bei einer direkten Übertragung von Booths mittlerweile ausdifferenziertem Konzept auf die Interpretation von Katz und Maus auftreten können, reflektiert Roger Hillman: Erzähltechnische Probleme in Günter Grass’ Katz und Maus. In: Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Hg. v. Rolf Kloepfer und Gisela Janetzke-Dillner. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981, S. 319-325. Günter Grass: Die Blechtrommel. Roman. Hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 2), S. 6. Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hg. v. A.N. unter Mitwirkung v. Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier 1998, S. 3-39, hier S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. Günter Grass: Hundejahre. In: Ders.: Katz und Maus. Eine Novelle. Hundejahre. Roman. Hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 3), S. 141-835, hier S. 293. Daniela Hermes: »Was mit Katz und Maus begann« – ein Kabinettstück Grassscher Prosakunst. In: Die »Danziger Trilogie« von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Frankfurt/M. 1991, S. 170-180.

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emotional involviert ist.912 Pilenz berichtet eine Jugendepisode: Im Sommer 1940 hält eine junge Katze den hervorstechenden Adamsapfel des im Gras liegenden, fünfzehnjährigen Gymnasiasten Joachim Mahlke für eine Maus. Allerdings bietet der Ich-Erzähler »dem Leser gleich im ersten Absatz drei einander widersprechende Versionen dessen an, was er zu erzählen hat«913: Entweder sprang die Katze von selbst, »oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals«, oder Pilenz selbst war es.914 Erst später im Text, nachdem zwischenzeitlich die Mitschüler Schilling und Kupka als mögliche Schuldige genannt wurden, gibt Pilenz zu, dass er derjenige gewesen sei, der Mahlkes Maus »einer und allen Katzen in den Blick« gebracht habe.915 Auch in Bezug auf andere Situationen bietet Pilenz immer wieder konkurrierende Versionen an, korrigiert sich unvermittelt, verweist auf tatsächliche oder vorgebliche Erinnerungslücken: Gesten der Anteilnahme an Mahlke werden ebenso unscharf erinnert wie der Katzenvorfall916, vieles fällt dem Erzähler verspätet ein917, immer wieder beruft er sich auf ein vages ›Glauben‹ und auf ›Wahrscheinlichkeiten‹, manchmal unterbricht er sich selbst mit einem ausdrücklichen »Falsch!«918 Zusätzliche Distanz wird dadurch erzeugt, dass die Figur Pilenz sogar auf den hinter ihr stehenden Autor durchsichtig gehalten wird: »Der uns erfand, von berufswegen«919, zwinge Pilenz zum Schreiben920 – die neuere Narratologie hat eine solche erzähllogische Grenzüberschreitung im Anschluss an Gérard Genette als ›Metalepse‹ kategorisiert.921 Geradezu inszeniert wird die Unzuverlässigkeit des Erzählers darüber hinaus, wenn sich Erinnerungslücken auch auf Fälle erstrecken, in denen sie wenig glaubwürdig sind: Zu Beginn des zweiten Kapitels etwa schreibt Pilenz zunächst, Mahlke 912 Vgl. zu den typischen linguistischen Indikatoren für unreliable narration Gaby Allrath: »But why will

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you say that I am mad?« Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hg. v. Ansgar Nünning unter Mitwirkung v. Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier 1998, S. 59-79. Detlef Krumme: Der suspekte Erzähler und sein suspekter Held. Überlegungen zur Novelle Katz und Maus. In: Zu Günter Grass. Geschichte auf dem poetischen Prüfstand. Hg. v. Manfred Durzak. Stuttgart 1985 (= LGW-Interpretationen), S. 65-79, hier S. 65. Vgl. Günter Grass: Katz und Maus, S. 6. Ebd., S. 7. – Vgl. das klare Bekenntnis von Pilenz im neunten Kapitel: »jene unruhige Maus, die er an Stelle eines Kehlkopfes unter der Haut beherbergte, die einst die Katze angelockt und mich verlockt hatte, ihm die Katze an den Hals zu setzen« (ebd., S. 91). Vgl. z.B., nachdem Mahlke völlig unterkühlt aus dem Wasser aufgetaucht ist: »Hotten Sonntag – oder war ich es? – rieb Mahlke ab« (ebd., S. 10). Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 17. Ebd., S. 7. Wie bewusst sich Grass der Widerständigkeit von Erzählerfiguren ist, die ein Eigenleben zu führen beginnen, zeigt sich auch in der Blechtrommel. Vgl. auch seinen Verweis auf den Roman Nebel von Miguel de Unamuno im Gespräch mit Detlef Krumme, in: Krumme: Der suspekte Erzähler, S. 66f. Vgl. Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 79f.

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habe »in der Westerzeile« gelebt; gleich darauf korrigiert er sich: »Euer Haus stand in der Osterzeile«.922 Der Irrtum wirkt aber nur so lange plausibel, bis Pilenz nachträgt, er selbst habe »in der Westerzeile« gewohnt. Erst im achten Kapitel gibt Pilenz schließlich zu, dass er Mahlke »nachlief, ihn, obgleich das ein Umweg war, in der Osterzeile abholte«, um »an seiner Seite zur Schule gehen« zu dürfen.923 Als unzuverlässiger Erzähler lenkt Pilenz (entgegen seiner expliziten Aussage, es solle nicht von ihm »die Rede sein, sondern von Mahlke«924) die Aufmerksamkeit auf seine Person, da die Leser aufgefordert werden, dem Ich-Erzähler nicht vorbehaltlos zu glauben, sondern ihn als jemanden zu analysieren, der bewusst oder unbewusst das Erzählte manipuliert, weil es in zu engem Zusammenhang mit der eigenen Person und dem Selbstbild steht, das Pilenz vermitteln möchte.925 Dieses Muster tritt am schärfsten hervor, wenn es um die Umstände von Mahlkes tatsächlichem oder metaphorischem ›Untertauchen‹ geht. Wie alle Ich-Erzähler der Danziger Trilogie schreibt Pilenz »aus Schuld heraus«926, aus einer verdrängten Schuld, die er teils verharmlost, teils überbewertet, die ihn aber vor allem nicht loslässt. Im Rückblick auf die eigene Biographie zur Zeit des Nationalsozialismus erhält der Erzählvorgang dadurch eine zeit- und generationstypische »Dimension der versuchten Vergangenheitsbewältigung«.927 Zur Besänftigung der Schuldgefühle taugen jedoch weder Floskeln wie »Mahlke konnte niemand helfen«928 oder das gegenüber Mahlke geäußerte »Ich will damit nichts zu tun haben«929, noch die Insinuierung einer ›Kollektivschuld‹ am einleitend erzählten Katzenvorfall, bei dem ein Einzelner nur das ausgeführt haben soll, was alle im Sinn hatten. Pilenz bleibt in einer pathologischen Art und Weise auf Mahlke fixiert, fühlt sich zur beständigen Wiederholung seiner Geschichte verpflichtet – ein hochgradig ambivalenter Vorgang, da damit nicht nur Schuldgefühle verarbeitet, sondern, psychoanalytisch gesehen, auch die Tötungshandlung an Mahlke wiederholt und perpetuiert wird: »the narration also repeats the story in the sense of doing again what it narrates, and since what it narrates are acts of persecution and murder, the narration can be seen […] as killing Mahlke again rather than as evoking an expiating past crimes«.930 922 923 924 925

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Grass: Katz und Maus, S. 20. Ebd., S. 81. Ebd., S. 21. Die in der Literatur angebotenen Erklärungsversuche beruhen meist auf psychologischer Einfühlung, etwa wenn James C. Bruce die irritierenden Informationen zur Wohnsituation zurückführt auf den »subconscious wish that he and Mahlke really had lived on the same street and hence even closer together that causes the momentary confusion« (James C. Bruce: The Equivocating Narrator in Günter Grass’ Katz und Maus. In: Monatshefte 58 [1966], S. 139-149, hier S. 148). Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Günter Grass. In: Günter Grass. Text + Kritik Heft 1/1a. Fünfte Auflage 1978, S. 1-39, hier S. 10. – Vgl. zum Schuldbewusstsein der verschiedenen IchErzähler auch Klaus von Schilling: Schuldmotoren. Artistisches Erzählen in Günter Grass’ Danziger Trilogie. Bielefeld 2002. Rohlfs: Erzählen aus unzuverlässiger Sicht, S. 53. Grass: Katz und Maus, S. 118. Ebd., S. 126. Vgl. Shlomith Rimmon-Kenan: Narration as repetition: the case of Günter Grass’s Cat and mouse.

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Entsprechend scharf ist die Figur des Pilenz in der Forschungsliteratur beurteilt worden, etwa von Alexander Ritter, der ihn, auf Mahlke bezogen, in der »Judasrolle des Mitläufers« sieht – ein »schäbiger Charakter«931, ein »feige[r] Gegner, der aus der Distanz den anderen unaufhörlich in Niederlagen hineindirigiert« und ein »heuchlerische[r] Freund, der zum Schein ihm behilflich ist«.932 Mag man solche Urteile auch moralistisch finden, so sind sie doch durch den Text gedeckt – und gerade das Problematische der Figur lässt Pilenz in zahlreichen Deutungen zum heimlichen Protagonisten werden, der gerade in seinem Wunsch, möglichst wenig über den eigenen Charakter mitzuteilen, viel von sich preisgibt.933 Während die Bereitschaft der Interpreten groß ist, Pilenz’ Aussagen über Mahlke und über die eigene Person kritisch zu hinterfragen, wird das titelgebende Motiv von Katz und Maus meist als eine objektiv zutreffende, durch die Handlung bestätigte Metapher für Mahlkes Schicksal und den Lauf der Welt betrachtet. Dass die dualistische Denkfigur wie jede andere Äußerung der Novelle ebenfalls an den Horizont der Erzählerfigur rückzubinden ist, wird dabei in der Regel übersehen. Am eklatantesten hat Johanna E. Behrendt das von Pilenz vorgebrachte und auf das Erzählte projizierte Deutungsmuster als allgemein gültige Wahrheit (miss-)verstanden: Für sie hat Grass »ein Universalbild des Menschen« gezeichnet, das »des Menschen zwiespältige Natur von Trieb und Geist zum Ausdruck« bringe und letztlich die »Entwicklung des abendländischen Geistes« zum Inhalt habe.934 In vergleichbar hohem Grad haben sich nicht viele der späteren Interpretationen mit dem Welt- und Menschenbild des Erzählers Pilenz identifiziert; doch immerhin neigt sogar der Grass-Spezialist Volker Neuhaus dazu, in Joachim Mahlke und seinem Adamsapfel das »grundsätzliche Fatum des Menschen« verkörpert und in der Katz-und-Maus-Metapher die »uranfängliche Disharmonie der Welt«935 symbolisiert zu sehen, ohne diese Perspektive als diejenige eines ›unreliable narrators‹ ernst zu nehmen. Hier ist zu fragen, ob die von Pilenz als verständnisstrukturierendes Muster an den Beginn seiner Erzählung gestellte Katz-und-Maus-Metapher in ihrer Berechtigung nicht wesentlich radikaler angezweifelt werden muss, als das in den vorliegenden Interpretationen getan wird. Wie überlegt Grass die Titelformel eingesetzt hat, ist schon daraus zu ersehen, dass der ursprüngliche Titel einfach ›Der Ritterkreuzträ-

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In: Dies.: Discourse in Psychoanalysis and Literature. London, New York 1987, S. 176-187, hier S. 183. Ritter: Günter Grass: Katz und Maus, S. 130. Ritter: Günter Grass: Katz und Maus. Erläuterungen und Dokumente, S. 71. Vgl. z.B. Johanna E. Behrendt: Auf der Suche nach dem Adamsapfel. Der Erzähler Pilenz in Günter Grass’ Novelle Katz und Maus. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 19 (1969), S. 313-326; Manfred Sera: Der Erzähler als Verfolger und Verfolgter in der Novelle Katz und Maus von Günter Grass. In: ZdfPh 96 (1977), S. 586-604; Krumme: Der suspekte Erzähler; Bruce: The Equivocating Narrator. Johanna E. Behrendt: Die Ausweglosigkeit der menschlichen Natur. Eine Interpretation von Günter Grass’ Katz und Maus. In: ZfdPh 87 (1968), S. 546-562. Hier zit. n. dem Wiederabdruck in: Günter Grass. Ein Materialienbuch. Hg. v. Rolf Geißler. Darmstadt 1976, S. 115-135, hier S. 115, 127. Vgl. Neuhaus: »Von Katz und Maus und mea culpa«, S. 844, 848.

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ger‹ hatte lauten sollen. Rein sprachlogisch steht die einprägsame Wendung von Katz und Maus sicherlich »in der Tradition paarweiser Kurztitel wie Gustav Freytags Soll und Haben (1855) oder Leo Tolstois Krieg und Frieden (1869)« genauso wie sie »des Lesers Vorwissen von Tiermetaphorik und redensartlichem Katz-und-Maus-Spiel«936 stimuliert. Ob sie »miteinander verbundene Qualitäten des Zusammenlebens«937 benennt, sollte allerdings ausschließlich im Hinblick darauf analysiert werden, dass die Formel das zentrale Weltdeutungsmuster einer mit allem Nachdruck als ›unreliable narrator‹ charakterisierten Figur darstellt. Erzähltheoretisch ist hier darauf hinzuweisen, dass Pilenz als ›erinnerndes Ich‹ um 1960 aufschreibt, was er als ›erinnertes Ich‹ zwischen 1940 und 1945 erlebt hat; als homodiegetischer Erzähler ist er mit einer Figur der erzählten Welt personal identisch und in das erzählte Geschehen involviert. Ernst genommen wurde seine erzählerische Unzuverlässigkeit bisher vor allem in Bezug darauf, wie Pilenz bewusst versucht, seine eigene Schuld und seine Rolle bei der (Fehl-)Entwicklung Joachim Mahlkes zu verharmlosen. Zu unterstellen wäre in diesem Fall, dass Pilenz auf der einen Seite sehr wohl weiß, wie groß diese Schuld ist und es an bestimmten Textstellen sogar zugibt, auf der anderen Seite aber immer wieder nach Ausflüchten und Beschönigungsmöglichkeiten sucht; die Unzuverlässigkeit seines Erzählens wäre Folge einer Manipulation der eigenen Erinnerung mit dem Ziel, das ›erinnerte Ich‹, das ›past self‹, besser dastehen zu lassen, als es ›der Wahrheit‹ entspricht. In dieser Konstruktion gibt es eine Ebene des ›tatsächlichen‹ Erlebens in der Vergangenheit, die auf der aktuellen Ebene des Erzählvorgangs nur gegen innere Widerstände oder sogar in manipulatorischer Absicht mitgeteilt wird. Wird das Konzept der ›unreliable narration‹ jedoch in Bezug auf das Katz-undMaus-Muster ernst genommen und ausdifferenziert, so gerät eine andere Dimension in den Blick: Hier ist keine intentionale Manipulation des ›past self‹ anzunehmen, sondern eine Erzählerperspektive zu rekonstruieren, die schon im Moment des Erlebens gefiltert wird durch ein problematisches Wirklichkeitsmodell, das die Wahrnehmung von Pilenz gefärbt hat und auch im Nachhinein nicht korrigiert wird. Anders gesagt: Im Kontext homodiegetischen unzuverlässigen Erzählens geht es um die Frage, »ob der Erzähler seine Darstellung in der Retrospektive verzerrt oder ob schon seine frühere Wahrnehmung inakzeptabel war«.938 Im ersten Fall ist eine ex936 Ritter: Günter Grass: Katz und Maus, S. 120. – Reddick verweist in diesem Zusammenhang nicht nur

auf die allgemeine Redensart vom ›Katz und Maus‹-Spielen, sondern auch auf ein konkretes Kinderspiel dieses Namens: »[T]he title […] echoes the German game-cum-song of the same name (a game which, though apparently little known by German children today, was popular before the Second World War, and was, I am told, a hot favourite among the children of Danzig): the children stand in a circle, with one of then inside the circle as the mouse, another outside as the cat; they sing the traditional song, and the ›cat‹ then goes for the ›mouse‹ – whose capture is a necessary part of the game, which otherwise cannot carry on« (Reddick: The ›Danzig Trilogy‹, S. 104f.). 937 Ritter: Günter Grass: Katz und Maus, S. 120. 938 Dagmar Busch: Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hg. v. Ansgar Nünning unter Mitwirkung v. Caro-

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terne Fokalisierung des Erzählens festzustellen, denn in der Position des ›erinnernden Ichs‹ weiß der Erzähler auf der Ebene der Vermittlung mehr, als er in der Position des erinnerten Ich gewusst hat; im zweiten Fall liegt eine interne Fokalisierung vor, bei der der Ich-Erzähler sich in die Vergangenheit versetzt, in die er noch sehr involviert ist, keine Korrekturen gegenüber seiner früheren Sehweise vornimmt und daher nicht mehr erkennt oder weiß als zur Zeit des Erlebens. Auf Pilenz bezogen heißt das: Wo es um seine Mitverantwortung für Mahlkes Schicksal geht, liegt externe Fokalisierung vor, weil der Ich-Erzähler in dieser Hinsicht von Anfang an darauf aus ist, das Vergangene in einer für ihn selbst erträglichen Form darzustellen und das Geschilderte entsprechend stilisiert. Wo er seine Darstellung von Mahlkes Leben aber in das Deutungsmuster von Katz und Maus spannt, liegt interne Fokalisierung vor, weil Pilenz hier ein dualistisches Weltbild reproduziert, das sich mit der Erlebniswelt seiner Jugend deckt und mit den historischen Umständen seiner Sozialisation aufs engste verbunden ist. Hier erweist sich Pilenz als Erzähler, der nicht in der Lage ist, ein einmal internalisiertes Wahrnehmungsmuster zu verabschieden oder zumindest zu modifizieren. Hier wäre einmal mehr der Bogen zu schlagen zu der konservativen Besetzung des Novellenbegriffs, die sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts abzeichnet und in verstärkter Form auch gilt für das Erscheinungsbild der deutschen Novelle zur Zeit der Entstehung des Grassschen Gattungsbeitrags. Die dualistische Metapher von Katz und Maus legt eine dichotome Sortierung aller Phänomene nahe, die sich nahtlos einfügt in die Auffassungen, die die klassizistische Novellentheorie und die konservative Novellenproduktion geprägt haben. Pilenz teilt die Welt ein in Jäger und Gejagte; die biologistische Metapher suggeriert die ›Natürlichkeit‹ des Musters genauso wie seine Unaufhebbarkeit: Katzen hören nicht auf, Mäuse zu jagen, und in analoger Determinierung vollzieht sich in dieser Sicht der Lauf der Welt, der Geschichte und des Einzelnen – das Deutungsmuster hat eine geschichtsfatalistische Dimension. Das in der Exposition gleichfalls bedeutsame Schlagballspiel böte sich als konstruktivistische und vielleicht »konsistentere«939 Variante eines Welterklärungsmodells an mit dem entscheidenden Vorteil, dass die Parteien hier die Seiten wechseln können und in der Regel gleiche Chancen haben – im Textverlauf wird auch dieses Modell noch mehrfach aufgerufen (vor allem in der breit ausgeführten Parallelisierung von sportlichen und militärischen Leistungen940), doch Pilenz bevorzugt die biologistische Metapher, die die Determiniertheit seiner Weltsicht treffender zum Ausdruck bringt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das Spiel der »ewige[n] Katze« mit der »ewigen Maus«941 verweist auf scheinbare Naturgesetze, denen indivila Surkamp und Bruno Zerweck. Trier 1998, S. 41-58, hier S. 47. 939 Rainer Scherf: Katz und Maus von Günter Grass. Literarische Ironie nach Auschwitz und der unaus-

gesprochene Appell zu politischem Engagement. Marburg 1995, S. 21.

940 Vgl. etwa die Analogisierung von Kampfeinsatz und Schulwettkampf in der Rede des ersten Ritter-

kreuzträgers: »das verlief beinahe wie früher, wenn wir hier auf unserem guten alten Pausenhof […] Handball spielten« (Grass: Katz und Maus, S. 50). 941 Ebd., S. 22.

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duelle Verantwortung und Schuldgefühle nachgeordnet sind – der Einzelfall Mahlke illustriert aus dieser Perspektive nur »das überindividuelle ewige Gesetz«.942 Allerdings macht der Textverlauf auch deutlich, wie wenig das dualistische Wahrnehmungsmuster geeignet ist, die Welt und den Menschen adäquat zu erfassen: Beide Hauptfiguren sind sowohl Jäger als auch Gejagte, Verfolger und Verfolgte, Täter und Opfer; die dualistische Katz-und-Maus-Metapher mit ihrer klaren Rollenzuweisung »wird psychischen Verhältnissen nicht mehr gerecht, die Verinnerlichungsformen dieses Wechselspiels sind«.943 Gerade der Nationalsozialismus jedoch hat, damit zum Teil Gedanken der Konservativen Revolution aufgreifend oder banalisierend, dualistische, ausgrenzende Denkmuster und »starres Schwarz-Weiß-Denken«944 gefordert und gefördert; dass Pilenz im Deutungsmodell von Katz und Maus verbleibt, besagt wenig über die Geschichte Mahlkes, viel jedoch über das Fortbestehen bestimmter Wahrnehmungsweisen über die historische Zäsur von 1945 hinaus. Die Aufforderung an den Leser liegt nicht darin, das Bild von Katz und Maus als das angeblich universale Deutungsmuster nachzuvollziehen, als das Pilenz es anbietet, sondern auf einer anderen Ebene: Mit dem unzuverlässigen Erzähler Pilenz wird ein Angehöriger der Generation dargestellt, deren Denken von dualistischen Mustern vollständig durchdrungen ist und die deshalb an eine unzulängliche Weltsicht gebunden bleibt – gerade in dieser Hinsicht erweist sich der Ich-Erzähler als »Demonstrationsobjekt mangelhaft vollzogener Lernprozesse«.945 Damit werden zugleich Wertsetzungen zurückgewiesen, die die traditionalistische Novellenproduktion des 20. Jahrhunderts in hohem Maße bestimmt haben. Man hat Katz und Maus gelegentlich eine ›ironische Novelle‹946 genannt; erst das Spannungsverhältnis zwischen dem Text und der konservativen Novellentradition kann aber zeigen, wie berechtigt diese Bezeichnung ist. Grass greift ein dualistisches Deutungsmuster auf – und zeigt, wie wenig es zutrifft. Er rekurriert in erstaunlich starkem Ausmaß auf die katholische Tradition, die ja auch in der christlichen Novellenliteratur des Nachkriegszeit eine große Rolle spielt – und weist zentrale Implikationen der christlichen Lehre derart drastisch zurück, dass er nicht selten als »Meister der Blasphemie«947 bezeichnet wurde. Er schildert einen soldatischen Helden – und destruiert zugleich jede Form soldatischen Heldentums, indem er es auf seine Voraussetzungen hin durchleuchtet.948 Er wählt das semantisch aufgeladene Ritterkreuz 942 Volker Neuhaus: Günter Grass. Stuttgart, Weimar 21992 (= Sammlung Metzler, 179), S. 69. 943 Scherf: Katz und Maus von Günter Grass, S. 22. 944 Dieses rechnet z.B. auch Franz Fühmann zu den zentralen Merkmalen ›faschistischen‹ Denkens,

vgl. Fühmann: 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens, S. 102.

945 Rohlfs: Erzählen aus unzuverlässiger Sicht, S. 52. 946 Vgl. Kaiser: Günter Grass Katz und Maus, S. 38; Hasselbach: Günter Grass Katz und Maus, S. 39. 947 Hans-Gernot Jung: Lästerungen bei Günter Grass. In: Grass. Kritik – Thesen – Analysen. Hg. v.

Manfred Jurgensen. Bern, München 1973, S. 75-85, hier S. 77; vgl. auch Volker Neuhaus: Das christliche Erbe bei Günter Grass. In: Günter Grass. Text + Kritik. Heft 1. Sechste Auflage: Neufassung. November 1988, S. 108-119. 948 Den Aspekt des fehlgeleiteten Heldentums fokussieren besonders David Roberts: The Cult of the Hero. An Interpretation of Katz und Maus. In: German Life and Letters 29 (1976), S. 307-322, sowie

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zum ›Dingsymbol‹, um es jeder positiven symbolischen Qualität zu entkleiden. Er zeigt, wie sich Geschlechtsidentitäten innerhalb einer jugendlichen Gruppe verfestigen949, wie Schuljungen zu Männern heranwachsen – führt aber als Ergebnis das dichotome Frauenbild Mahlkes vor, das nur Madonnen und Huren kennt, oder die in jeder Hinsicht unentschlossene Haltung von Pilenz, der erkennbar homophile Neigungen hat, aber weder zu Frauen noch zu Männern Beziehungen unterhalten kann. In allen Fällen werden traditionelle gesellschaftliche Wahrnehmungen und Wertsetzungen mindestens ironisiert, wenn nicht einer Fundamentalkritik unterzogen; nirgends bewährt sich eine dichotome Perspektive, weil die Realität zu komplex ist, um solchen Mustern dauerhaft eingepasst zu werden. Die Perspektive des ›unreliable narrators‹ sorgt dafür, dass sowohl Mahlke als auch Pilenz hochgradig ambivalente Charaktere bleiben, auf die Leserinnen und Leser sehr unterschiedlich reagieren können. Gerade Mahlke wurde sowohl als eine Art Widerstandskämpfer als auch als eine Art Verkörperung des nationalsozialistischen Irrwegs gesehen950; da er bereits als Schüler wie auch später als Soldat »Gruppenbeherrscher und Gruppenflüchter«951 zugleich ist, zwischen Imponiergehabe und Rückzugstendenz schwankt, sich einmal als Mustersoldat, dann als Deserteur definiert, versagen dualistische Deutungsmuster – und gerade darin beweist sich die oft gelobte psychologische Plausibilität der Grassschen Figurenkonzeption. Mit Ironie betrachtet wird auch die »schriftstellerisch ambitionierte KolpinghausExistenz«952 des Ich-Erzählers. Pater Alban hat Pilenz dazu ermuntert, sich »frei« zu schreiben, nicht ohne hinzuzufügen, wie »kafkaesk« sich dessen erste poetische Versuche und »Kurzgeschichten« gelesen hätten.953 Die Bemerkung zeugt vom Bemühen des Ich-Erzählers um ›zeitgemäße‹ literarische Produktion; Kafka war, meist in existentialistischer Interpretation, eine Leitfigur der Nachkriegsliteratur.954 Bekannt ist etwa die Anekdote, der zufolge schon 1951 bei einer Tagung der Gruppe 47 ein Diskussionsteilnehmer ausgerufen hat: »Bei der nächsten Erwähnung Kafkas bekomme ich einen Schreikampf«.955 Der junge Grass dagegen sah sein Schreiben bewusst Durzak: Entzauberung des Helden.

949 Pilenz spricht einmal von einer frühen Phase, in der »alle nie genau [wussten], ob wir Männchen

oder Weibchen waren«, vgl. Grass: Katz und Maus, S. 36. 950 In die Nähe des Widerstands wird Mahlke etwa durch Judith Ryan gerückt (Resistance and Resignation:

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A Re-Interpretation of Günter Grass’ ›Katz und Maus‹. In: Germanic Review 52 [1977], H. 2, S. 148-165; dies.: The Uncompleted Past. Postwar German Novels and the Third Reich. Detroit 1983, S. 95111), während Gerhard Kaiser ihn eher als »signifikante Gestalt der Zeit« deutet (Günter Grass ›Katz und Maus‹, S. 34). Emil Ottinger: Zur mehrdimensionalen Erklärung von Straftaten Jugendlicher am Beispiel der Novelle Katz und Maus von Günter Grass. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Köln, Mai/Juni 1962. Wieder in: Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch, S. 38-48, hier S. 44. Klaus Stallbaum: Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass. Köln 1989, S. 117. Grass: Katz und Maus, S. 99. Aus dem konservativen Novellenverständnis dagegen wurde Kafka in der Regel ausdrücklich ausgegrenzt, vgl. Aust: Novelle, S. 156f. Vgl. Die Gruppe 47. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Text + Kritik Sonderband. Dritte, gründlich überarbeitete Auflage München 2004, S. 95.

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gerichtet »gegen eine Tendenz der unmittelbaren Nachkriegsliteratur […], die sich ortlos verstand, zeitlos verstand in einer teils epigonalen, teils unbewußten Kafkanachfolge«.956 Pilenz, der Leser Léon Bloys und der Gnostiker, Heinrich Bölls und Friedrich Heers957, versucht sich in genau der pseudo-existentialistischen Kafkanachfolge, die Grass den »modischen Erscheinungen«958 des Literaturbetriebs zurechnet; doch der Autor, der hinter ihm steht, lässt ausdrücklich ›Eine Novelle‹ entstehen – einen Beitrag zu der Gattung also, die Pilenz wahrscheinlich als ›altmodisch‹ und ›unzeitgemäß‹ ablehnen würde. Das künstlerische Raffinement von Grass zeigt sich darin, dass über die Bezeichnung als ›Novelle‹ einerseits offengelegt wird, wie sehr der Ich-Erzähler Pilenz gegen seinen Willen auf Deutungsmuster fixiert bleibt, die in die Vergangenheit zurückweisen, andererseits aber durch die Anlage von Pilenz als ›unreliable narrator‹ zugleich die mit dem konservativen Gattungsverständnis amalgamierten Wertsetzungen unterlaufen und aufgebrochen werden; so entsteht eine ›ironische Novelle‹, die als solche nicht epigonal ist, sondern eine neue und ›moderne‹ Qualität erlangt. Insofern markiert Katz und Maus von Günter Grass einen entscheidenden Einschnitt in der neueren deutschen Novellengeschichte: Grass kann wichtige Elemente der konservativen Gattungstradition sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht aufgreifen und umdeuten, wo die wenigen seiner Autorenkollegen, die in den sechziger Jahren ›Novellen‹ vorgelegt haben, sich von der einseitig konservativen Prägung der Gattung nicht lösen konnten. So zeigt sich die singuläre Qualität von Katz und Maus etwa auch im direkten Vergleich mit Rolf Hochhuths als ›Novelle‹ titulierter Berliner Antigone. Hochhuth schlägt in diesem Text, der »im unmittelbaren Umkreis«959 seines aufsehenerregenden Dramas Der Stellvertreter entstanden und, gattungstypisch, zum ersten Mal in einer Zeitung erschienen ist960, den Ton Kleists an und rückt ein dokumentiertes Verbrechen der Nationalsozialisten in die Nähe der griechischen Tragödie. Doch er belegt gerade dadurch, dass solche ›klassizistischen‹ Mittel einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht adäquat sein können: Opfer und Täter werden in schiefe Analogien zu den Labdakiden gesetzt, die das von Hochhuth verarbeitete dokumentarische Material in seiner Wirkung eher behindern als befördern, und die Bezugnahme auf klassische Gattungen wie Tragödie und Novelle erscheint letztlich nur als Mittel unangebrachter Stilisierung und Überfrachtung, wo Grass eine von innen heraus innovierte Novelle gelungen ist.

956 Arnold: Gespräche mit Günter Grass, S. 5. 957 Vgl. Grass: Katz und Maus, S. 80. 958 Günter Grass: Kafka und seine Vollstrecker. In: Ders.: Essays, Reden, Briefe. Hg. v. Daniela Her-

mes. Darmstadt, Neuwied 1987 (= Werkausgabe in zehn Bänden, 9), S. 737-754, hier S. 753.

959 Ute Druvins: Die Berliner Antigone. In: Rolf Hochhuth – Eingriff in die Zeitgeschichte. Essays zum

Werk. Hg. v. Walter Hinck. Reinbek 1981, S. 217-230, hier S. 226. 960 Die Erstveröffentlichung besorgte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 20.4.1963;

die erste Buchausgabe erschien ein Jahr später bei Rowohlt.

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Allerdings ist die besondere Qualität, die Katz und Maus gerade unter dem Aspekt der Gattungszugehörigkeit auszeichnet, zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung weitgehend unbemerkt geblieben (sieht man von Rezensenten wie etwa Wolfgang Maier und Hans Magnus Enzensberger ab); zumindest wurde sie nicht als Ausgangspunkt und produktive Basis für weitere ›moderne‹ Novellen genutzt: Die Zahl der explizit als ›Novelle‹ gekennzeichneten Texte ging in den sechziger Jahren immer weiter zurück und die Gattung trat in quantitativer wie qualitativer Hinsicht immer mehr in den Hintergrund. 1967 widmete der Publizist Georg Schwarz der Novelle und ihren Autoren einen halb ironischen, halb »elegischen Nachruf«961 und konstatierte das Aussterben des ›Novellisten‹, den er als eine unzeitgemäße Lebensform darstellt: »Er hielt sich bis zu jenem Zeitpunkt, da der Einzelmensch noch etwas galt; und es ist möglich, daß der letzte Einzelmensch erst verschwand oder untertauchte, als dieser Abgang auch dem letzten Novellisten gelang«.962 Die Auffassung, die moderne Massengesellschaft sei verantwortlich für einen Niedergang der Novelle, ist nicht besonders originell, sondern wurde schon in der ersten Nachkriegszeit mehrfach artikuliert.963 Aber es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Schwarz sich ausgerechnet der Metaphorik des ›Untertauchens‹ bedient, die für das Ende von Katz und Maus so charakteristisch ist. So mag Katz und Maus aus der Perspektive der späten sechziger und frühen siebziger Jahre tatsächlich eher das »Ende einer Gattung«964 repräsentieren als den Beginn von etwas Neuem indizieren; spätestens seit den ausgehenden siebziger Jahren jedoch, als literarisch ambitionierte Autoren wieder beginnen, den Begriff ›Novelle‹ zu verwenden, wird allmählich deutlich, wie sehr Grass mit seiner ›modernen‹ Novelle Katz und Maus der Entwicklung voraus gewesen ist. Nachbemerkung Auch in seinem zweiten, vierzig Jahre nach Katz und Maus erschienenen Gattungsbeitrag Im Krebsgang erweist sich Grass als souveräner Autor, der drei Erzählebenen konstruiert und kunstvoll aufeinander bezieht.965 In mancher Hinsicht ist Im Krebsgang als Ergänzung der frühen Werke zu lesen, so dass die ›Danziger Trilogie‹ inzwischen zum »Danzig Quintet«966 erweitert scheint: Auch hier stehen Danziger Ereignisse und die Folgen von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust bis in die unmittelbare Gegenwart hinein im Mittelpunkt, und nach wie vor haben sie »das Zeug zu [Redaktionelle Zwischenbemerkung]. In: Welt und Wort 22 (1967), S. 225. Georg Schwarz: Als es noch Novellisten gab. In. Welt und Wort 22 (1967), S. 224f, hier S. 224. Vgl. das Kapitel ›Novellentheoretische Beiträge in Zeitschriften und Anthologien‹ in dieser Arbeit. Vgl. Karthaus: Günter Grass: Katz und Maus – das Ende einer Gattung? Dabei durchbricht Grass ähnlich wie in Katz und Maus die Erzählfiktion und bringt explizit fiktionale Figuren in direkten Kontakt mit ihrem eindeutig identifizierten, im Text mehrfach als der »Alte« der »Arbeitgeber« bezeichneten Autor (vgl. Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen 2002, S. 136 u.ö.). 966 Katharina Hall: Günter Grass’s ›Danzig Quintet‹. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from Die Blechtrommel to Im Krebsgang. Oxford, Bern, Berlin u.a. 2007. – Bindeglied ist »örtlich betäubt« von 1969. 961 962 963 964 965

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einer Novelle«.967 Manche Figurenschicksale, wie das von Tulla Pokriefke, werden fortgeschrieben; nachdem schon Pilenz als traumatisierter Überlebender geschildert wurde, zeigt Im Krebsgang in seinen stärksten Momenten, wie die Nachgeborenen die unaufgelösten Traumata ihrer Eltern übernehmen und so gebunden bleiben an die unbewältigte, oft kaum versprachlichte Vergangenheit.968 Die Tiermetaphorik des Titels – im Text verwendet für die Schwierigkeit des Erzählprozesses969 und vom Autor für die Einbandgestaltung graphisch konkretisiert – setzt die novellistische Vorliebe für biologische Bezugnahmen fort, die von Boccaccios Falkennovelle über Kafkas Die Verwandlung bis hin zu Grass’ eigener Novelle Katz und Maus und Martin Walsers Ein fliehendes Pferd produktiv gewirkt hat. Dass Grass die Versenkung des ehemaligen ›Kraft durch Freude‹-Dampfers Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 fokussiert und damit die Frage nach den deutschen Opfern des von Deutschen begonnenen Krieges aufwirft (ungefähr 9300 Menschen, überwiegend deutsche Zivilisten, kamen bei dieser größten bisher bekannten Schiffskatastrophe ums Leben) hat dem Text bei seinem Erscheinen große Aufmerksamkeit gesichert970 und ließ ihn zum »Jahresbestseller 2002«971 avancieren. Die um politische Ausgewogenheit bemühte Konstruktion, innerhalb derer Grass diese Frage behandelt und zugleich vor rechtsradikalen Strömungen im wiedervereinigten Deutschland zu warnen versucht, wirkt trotzdem (und gerade im Vergleich zu Katz und Maus) etwas blass, gelegentlich wie »Geschichtsunterricht mit poetischen Mitteln«.972 Grass’ Schriftstellerkollege Bodo Kirchhoff hat den Erfolg von Im Krebsgang paradigmatisch gesehen für den Zustand des Literaturbetriebs: »Wenn sich ein deutschsprachiges Buch heutzutage verkauft, ist es eher mittelmäßig, allenfalls gut geschrieben, gut gebaut, gut gemeint, siehe Im Krebsgang; keine einzige Seite darin reicht an eine einzige 967 Grass: Im Krebsgang, S. 123. 968 Vgl. Hannes Fricke: Günter Grass: Im Krebsgang. Der Zwang, Zeugnis abzulegen, und die virtuelle

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Realität. In: Romane des 20. Jahrhunderts. Interpretationen. Bd. 3. Stuttgart 2003 (= RUB 17522), S. 351-368, bes. S. 360-366, sowie ders.: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen 2004. Grass: Im Krebsgang, S. 8f. Auch die Zahl der Forschungsbeiträge ist schon jetzt beachtlich, vgl. z.B. Ruth Florack: Köpfchen in das Wasser, Beinchen in die Höh’. Anmerkungen zum Verhältnis von Opfern, Tätern und Trauma in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. In: Täter als Opfer? Deutschsprachige Literatur zu Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Hg. v. Stefan Hermes und Amir Muhić. Hamburg 2007 (= Schriftenreihe Poetica, 100), S. 41-55; Frank Brunssen: Tabubruch? Deutsche als Opfer des Zweiten Weltkriegs in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. In: Oxford German Studies 35 (2006), H. 2, S. 115-130. – Außerdem wurde der Text unmittelbar nach seinem Erscheinen in den Deutschunterricht aufgenommen, vgl. z.B. Rüdiger Bernhardt: Günter Grass, Im Krebsgang. Hollfeld 2006 [= Königs Erläuterungen und Materialien, 416]; Olaf Hildebrand: Günter Grass, Im Krebsgang. Unterrichtsmodell. Paderborn 2006; Theodor Pelster: Günter Grass, Im Krebsgang. Stuttgart 2004 [= RUB 15338; Lektüreschlüssel für Schüler]). Hermann Beyersdorf: Günter Grass’ Im Krebsgang und die Vertreibungsdebatte im Spiegel der Presse. In: Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006, S. 157-167, hier S. 157. Stolz: Günter Grass, S. 179.

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Seite in Katz und Maus heran (und am Ende wird im Übrigen ein vermeintlicher Jude getötet, mit letzter Correctness, muss man sagen); riskante Bücher, die sich verkaufen, kommen aus dem Ausland, hurra«.973 Diese Einschätzung mag überspitzt sein, doch fraglos zählen die pädagogisch-didaktische Ambition und die Neigung zu ›objektiver‹, vielleicht ›altersweiser‹ Ausgewogenheit zu den Gefahren der späten GrassWerke, die den frühen nie gedroht haben.974

973 Bodo Kirchhoff: Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. In: Der Spiegel 24/2002, S. 206-210, hier

S. 208f.

974 Vgl. dazu ausführlicher Sascha Kiefer: Frühe Polemik und späte Differenzierung. Das Heidegger-

Bild von Günter Grass in Hundejahre (1963) und Mein Jahrhundert (1999). In: Weimarer Beiträge 48 (2002), S. 242-259.

IV. Deutsche Novellen seit den späten siebziger Jahren

A. Der Gattungsbegriff ›Novelle‹ um 1978 Die Entscheidung […] für die Bezeichnung Novelle für Walsers Erzählung Ein fliehendes Pferd, bei der viele Literaturwissenschaftler, nicht etwa nur Schulgermanisten, allen Ernstes alle Kennzeichen der strengen Novellenform nachzuweisen versuchten, soll beim Verlag in geradezu aberwitziger Weise gefallen sein. Wie mir Martin Walser in einem persönlichen Gespräch heiter-ironisch berichtete, habe eine für den Verkaufserfolg zuständige Person des Verlags vorgeschlagen, doch einfach die Benennung Novelle zu verwenden. Damit sei gesichert, daß sich Dutzende von Schulgermanisten auf dieses kleine Werk stürzen würden, um in zahllosen Klassenlektüren nachzuweisen, daß es sich um eine klassisch gebaute Novelle handle – was offenbar auch geschehen ist.1

So berichtet es der Germanist Adolf Höfer, eine launige Bemerkung des promovierten Germanisten Martin Walser kolportierend. Der Sachverhalt verdient genauere Betrachtung. Ebenso wie viele andere Autoren – von Hans Magnus Enzensberger bis Günter Grass, von F. C. Delius bis Peter Rühmkorf2 – nutzt Martin Walser gerne die Gelegenheit, sich abschätzig über die Universitätsdisziplin Germanistik zu äußern, nicht zuletzt wohl, weil sich damit auch die häufig von Literaturwissenschaftlern betriebene Tageskritik herabsetzen lässt. Insofern liegt die Aussageabsicht der obigen Anekdote auf der Hand: Die (Schul-)Germanisten sollen als deutungswütige Kleingeister dargestellt werden, die einer banalen Verkaufsstrategie auf den Leim gehen. Implizit werden dabei allerdings Fragen aufgeworfen, die diese Intention unterlaufen. Denn wie mag die »für den Verkaufserfolg zuständige Person« auf die Idee gekommen sein, den Text als ›Novelle‹ auszuweisen? Über lange Jahre hinweg hatte keine Neuerscheinung des Suhrkamp-Verlags diesen Titelzusatz getragen; auf rezente Erfahrung konnte sich die Verkaufsstrategie also kaum berufen. Im Gegenteil: Offenbar war erst in den späten siebziger Jahren wieder ein Punkt erreicht, an dem die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ auch für einen Verlag, der sich als Repräsentant der anspruchsvollen Gegenwartsliteratur definierte, wieder brauchbar erschien, und Wal1

2

Adolf Höfer: Die Entdeckung der deutschen Kriegsopfer in der Gegenwartsliteratur. Eine Studie zu der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass und ihrer Vorgeschichte. In: literatur für leser 2003, S. 182-197, hier S.194. Vgl. dazu Gerhard Sauder: Über die Feindschaft zwischen Germanisten und Schriftstellern. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 28 (1981), H. 3, S. 19-25.

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Deutsche Novellen seit den späten siebziger Jahren

sers Ein fliehendes Pferd nimmt dabei eine Pionierrolle ein.3 So hieß es etwa in einer Rezension des Textes im Erscheinungsjahr 1978: »Heute eine Novelle zu schreiben, ist an sich schon eine unerhörte Begebenheit, wo jeder Halbwegsschriftsteller auch das dünnste Produkt immer gleich als Roman verkauft«4 – abgesehen von der Polemik gegen die zeitgenössische Romanproduktion wird hier zumindest klargestellt, dass die Entscheidung, überhaupt auf den Novellenbegriff zurückzugreifen, keineswegs so naheliegend war, wie Höfers Anekdote suggeriert. Als nächste Frage wäre zu stellen, warum auf der Basis dieser Überlegung gerade Walsers neuestes Prosawerk entsprechend etikettiert werden sollte. Wäre die Gattungsbezeichnung so beliebig und austauschbar gewesen, hätte der Verlag schließlich auch einen anderen oder weitere Texte als ›Novellen‹ auf den Markt bringen können. Das hat er nicht getan, denn letztlich wies eben nur Ein fliehendes Pferd Signale auf, die eine Rezeption unter gattungsstrukturellen Gesichtspunkten ermöglichten – und diese Signale sind erkennbar im Text angelegt. Indem Walser ein Motto aus Kierkegaards Entweder/Oder vorangestellt hat, wird der Leser von Ein fliehendes Pferd schon im ersten Satz auf die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ verwiesen: »Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen bestimmte Personen entgegengesetzte Lebensanschauungen vortragen. Das endet dann gerne damit, daß der eine den andern überzeugt. Anstatt daß also die Anschauung für sich sprechen muß, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, daß der andre überzeugt worden ist. Ich sehe es für ein Glück an, daß in solcher Hinsicht diese Papiere eine Aufklärung nicht gewähren.«5

Selbst wenn Ein fliehendes Pferd also nicht den Untertitel ›Novelle‹ tragen würde, wäre der gattungshistorische Kontext durch diesen Paratext aufgerufen. Hinzu kommt der für Walser untypische Umfang des Textes, der, in einem großzügigen Druckbild, nur rund 150 Seiten beträgt. Wäre die »für den Verkaufserfolg zuständige Person« auf die Novellenbezeichnung verfallen, wenn Ein fliehendes Pferd 300, 400 oder 500 Seiten umfasst hätte? Dann der Titel: Sollte es Walser nicht bewusst gewesen sein, dass er sich durch das semantisch aufgeladene, auf eine Schlüsselstelle des Textes verweisende Tiersymbol in eine literarische Tradition stellte, die aufs engste mit dem Novellenbegriff verbunden ist? Dem Autor Walser mag es wichtiger sein, seine Texte in ihrer Individualität wahrgenommen zu wissen, als sie in strukturelle oder literarhisto3

4 5

Wassmann deutet Ein fliehendes Pferd im Rahmen ihrer strikt intertextuell verfahrenden Analyse sogar als den »Prätext einer neuen Reihe« (Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 40). Den Text jedoch in diesem Sinn als »Folie« (ebd., S. 284) späterer Gattungsbeiträge zu strapazieren, bleibt trotz Walsers unbestrittener Pionierrolle problematisch: Denn selbst wenn der Erfolg des Fliehenden Pferdes andere Autoren inspiriert haben sollte, müssen ihre Rückgriffe auf die Tradition ja nicht direkt oder gar ausschließlich durch Walsers Text vermittelt worden sein – strukturelle Analogien können auch darauf basieren, dass, unabhängig vom konkreten Text Ein fliehendes Pferd, auf die gleichen Prätexte rekurriert wurde, also eher Parallen als Abhängigkeiten vorliegen. Sigrid Herzog: Über den grünen Klee gelobt. Walsers ›Das fliehende Pferd[‹] [!] und die Kritik. In: Neue Rundschau 89 (1978), S. 492-495, hier S. 492. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. In: Ders.: Seelenarbeit/Ein fliehendes Pferd/Brandung/Dorle und Wolf. Hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung v. Frank Barsch. Frankfurt/M. 1997 (= Werke in zwölf Bänden, 5), S. 269-357, hier S. 273.

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rische Kontexte gestellt zu sehen – der semantischen Relevanz von Merkmalen, die als gattungstypische kommuniziert werden, tut das jedoch keinen Abbruch. Dass Walser gelegentlich selbst auf die Gattungszugehörigkeit von Ein fliehendes Pferd rekurriert hat, sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt. In einem Gespräch über den Text etwa rechtfertigte er die polare Anlage seiner Hauptfiguren damit, dass es sich nicht um »Romanfiguren« handele, von denen man allenfalls noch erwarten können, dass sie Äquivalente in der Wirklichkeit aufwiesen: »Aber hier handelt es sich um eine Novelle, um etwas eher Dramatisches, um ein Schachbrett; auf diesem Schachbrett werden zwei Existenzarten gegeneinander gehetzt in einer bewußten Konfrontation«.6 Hier zeigt sich paradigmatisch, wie sehr Walser bestimmte Eigenschaften seines Textes eben doch aus einem bestimmten Gattungsverständnis ableitet, das der Novelle etwa einen dramatischeren, formal strengeren und artifizielleren Duktus zuweist als dem Roman. Dem Fliehenden Pferd geradezu »formparodistische Züge«7 zu unterstellen oder von einer »plakative[n] Übererfüllung der stereotypen Gattungsmerkmale«8 zu sprechen, ist freilich eine Übertreibung, die, am anderen Ende des Meinungsspektrums, genauso wenig überzeugt wie die von Höfer behauptete Zufälligkeit der Gattungsbezeichnung. In novellengeschichtlicher Hinsicht relevant ist Walsers Fliehendes Pferd jedenfalls dadurch, dass der Text tatsächlich den Beginn einer Phase markiert, in der die dezidierte paratextuelle Bezeichnung als ›Novelle‹ wieder verstärkt und von ernst zu nehmenden Autoren verwendet wird – und das in einem Ausmaß, das neuere Überblicksdarstellungen für die achtziger und neunziger Jahre sogar von einem »Novellenboom«9 sprechen lässt, nachdem die Gattungsbezeichnung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren im Zusammenhang mit Neuerscheinungen schon zu verschwinden schien. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele zu einer anderen ›strengen‹ bzw. – dank der konstitutiven Grundaspekte Vierzehnzeiligkeit und Reimwechselmuster – noch präziser definierten und damit noch ›strengeren‹ Form: dem Sonett. Andreas Böhn hat die »deutlichen konjunkturellen Schwankungen«10 der Sonettproduktion nach 1945 nachgewiesen; sie verhalten sich analog zur Novellenproduktion, die gleichfalls im Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg noch einmal beachtlich hoch ausfiel, um dann rapide abzufallen und erst Ende der siebziger Jahre wieder zuzunehmen. Der Versuch, beide Phänomene an übergreifende literarhistorische Entwicklungen rückzubinden, verweist zunächst auf die schlagwortartigen Bezeichnungen, die sich für die dominierenden Tendenzen der 1960er und 1970er Jahre eingebürgert Diskussionsbeitrag von Martin Walser in der Sendung Literatrubel (Aufzeichnung einer literarischen Talkshow am 2.7.1978). Transkribiert von Volker Bohn. Zit. n. Volker Bohn: Ein genau geschlagener Zirkel. Über Ein fliehendes Pferd. In: Martin Walser. Hg. v. Klaus Siblewski. Frankfurt/M. 1981, S. 150-168, hier S. 151. 7 Voss: Die Novelle in der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 15. 8 Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 133. 9 Rath: Die Novelle, S. 302. 10 Böhn: Das zeitgenössische deutschsprachige Sonett, S. 15. 6

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haben. Zu nennen wäre für die sechziger Jahre die Politisierung der Literatur, die um 1968 einen Höhepunkt erreicht: Verkürzt gesagt, wurde die Bedeutung von Texten im Zuge dieser Entwicklung an ihrer gesellschaftlichen Relevanz und ihrem dokumentarischen Gehalt gemessen; die Vorbehalte gegenüber der Fiktionalität und dem Kunstcharakter belletristischer Texte steigerten sich bis zu der kontrovers diskutierten und häufig missverstandenen These vom ›Tod der Literatur‹.11 Um eine wesentliche Tendenz der siebziger Jahre zu bezeichnen, hat sich der Begriff der ›Neuen Subjektivität‹ durchgesetzt gegen eine ganze Reihe anderer Termini, die zunächst mit ihm konkurriert hatten, wie »Authentizität, Sensibilität, Glaubwürdigkeit, Spontaneität, Betroffenheit, aber auch Innerlichkeit, Nostalgie und Romantik«12; das Textkorpus der ›Neuen Subjektivität‹ wird vor allem durch eine Fülle von Texten autobiographischen Charakters bestimmt.13 Von einer oberflächlichen Evidenz abgesehen ist es jedoch wenig überzeugend, die ›Neue Subjektivität‹ als Gegenbewegung zu der Politisierung der sechziger Jahre erklären zu wollen. Vielmehr beziehen sich beide Schreibweisen, sowohl die ›objektive‹, an Vorstellungen gesellschaftspolitischer Wirksamkeit orientierte der sechziger Jahre als auch die durch ›private‹ Emotionalität gekennzeichnete der siebziger »auf ein modernistisches Verlangen nach Authentizität«14: Sie markieren in komplementärer Art zwei Tendenzen, die man als Spielarten dokumentarischer Literatur begreifen kann insofern, als der Zugang zu einer Unmittelbarkeit des Daseins, zu einer unverstellten Eigentlichkeit gesucht wird – dieser Drang zur Authentizität ist eng verbunden mit der Entstehung des neuzeitlichen Subjektbegriffs15, wie er zugleich auch eine typische Abwehrreaktion der ästhetisch-kulturellen Modernebewegungen gegen die als bedrohlich empfundene Kontingenzerfahrung markiert. Das ausgehende 20. Jahrhundert allerdings steht dem Authentizitätsbegriff zunehmend skeptisch gegenüber.16 Man muss nicht gleich, wie Karl Heinz Bohrer das schon 1980 getan hat, einen Zusammenhang zwischen »Authentizität und Terror«17 11 Vgl. vor allem die Beiträge Hans Magnus Enzensbergers, Yaak Karsunkes, Karl Markus Michels

und Waler Boehlichs zum berühmten Kursbuch 15 (1968).

12 Hermann Schlösser: Subjektivität und Autobiographie. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v.

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Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 12), S. 404-423, hier S. 410; vgl. auch Helmut Kreuzer: Neue Subjektivität. Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. In: Manfred Durzak (Hg.): Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen. Stuttgart 1981, S. 77-106. Das Spektrum reicht dabei von Peter Handkes Wunschloses Unglück (1972), Peter Schneiders Lenz (1973) und Bernward Vespers Die Reise (1977) über Verena Stefans Häutungen (1975) und Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) bis hin zur groß angelegten Autobiographie Elias Canettis (3 Bände, 1977-1985). Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 5. Vgl. Klaus Michael Wetzel: Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstitution und Konfiguration von Subjektivität. Frankfurt/M., Bern, New York 1985. Vgl. Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur- und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996 (= rowohlts enzyklopädie, 575), S. 205-231. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Authentizität und Terror. In. Kursbuch 60 (1980), S. 143-150. – Ein Zu-

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herstellen, um die problematischen Seiten des Authentizitätsbegriffes zu realisieren. Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Individualität, von Identität und Subjektautonomie wurden in den letzten Jahrzehnten weitgehend destruiert und als Konstruktionen zurückgewiesen; stattdessen wird die Diskussion innerhalb der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen dominiert von Begriffen wie Rolle, Spiel, Inszenierung, Maskerade oder Intertextualität (im ursprünglichen poststrukturalistischen Verständnis).18 Dieser epistemische Paradigmenwechsel, der in seiner Dimension und Komplexität hier nur angedeutet werden kann, spiegelt sich auch im Umgang mit traditionellen literarischen Gattungen und Formen. Der Authentizitätsanspruch der ästhetischen Moderne, ihr »Postulat der Lebensunmittelbarkeit«19 war ein wesentlicher Motor der Avantgarde-Bewegungen: Überkommene Darstellungsweisen und Formen wurden als inadäquat zurückgewiesen, da sie keinen ›authentischen‹ Ausdruck mehr zu ermöglichen schienen. Misstrauen gegenüber der Tradition, Abkehr von der ›klassischen‹ Ästhetik, Selbstverpflichtung auf beständige künstlerische Innovation – man denke etwa an Ezra Pounds Maxime ›Make it new‹ – zählen zu den zentralen Merkmalen der ästhetischen Moderne, die, wie in anderem Zusammenhang bereits erläutert, häufig einhergehen mit radikal gesellschaftskritischen Positionen und einer Frontstellung gegen die gesellschaftliche Modernisierung. Die kunstphilosophischen Anschauungen Theodor W. Adornos, in der posthum erschienenen Ästhetischen Theorie (1970) am ausführlichsten entwickelt, können hier als Paradigma für eine Moderne herangezogen werden, die der Tradition grundsätzlich skeptisch gegenübersteht und als Kunst nur gelten lässt, was sich auf dem jeweils avancierten Materialstand einer historischen Entwicklungsstufe bewegt.20 Folge ist die strikte Abgrenzung zwischen einer ›affirmativen‹, ästhetisch wertlosen »Kulturindustrie« und einer avancierten, autonomen Kunst »oberster Dignität«, deren metaphysischer »Wahrheitsgehalt«21 jede Begrifflichkeit transzendiert. Der facettenreiche, in vielfältiger und teils widersprüchlicher Weise verwendete Begriff der ›Postmoderne‹ überzeugt am ehesten, wo er zur Bezeichnung von Positionen eingesetzt wird, die sich von diesem elitären Kunstverständnis der ›Moderne‹ distanzieren. Während die ›Moderne‹ im Namen einer Utopie, eines ästhetischen oder gesellschaftlichen Ziels, eines neuen oder revolutionären Stils aggressiv auf die Delegitimierung und Ersetzung des Althergebrachten hingearbeitet hat, gibt sich die ›Postmoderne‹ pluralistischer, verzichtet auf die Etablierung fester Wertungshierar-

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sammenhang zwischen ›Authentizität‹ und Extremismus war zuvor besonders von Lionel Trilling herausgearbeitet worden, vgl. Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit. München 1980 [amerikan. Original 1972]. Vgl. Lethen: Versionen des Authentischen, S. 209. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (= Studien zur deutschen Literatur, 103), S. 431. Vgl. die Adorno-Kritik in Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 46-50. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M 131993, S. 193.

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chien, lässt die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur verschwimmen. ›Postmoderne‹ Positionen »machen zeitverschiedene Formen gleichzeitig verfügbar, abstrahieren also von der im Historismus betonten Sequentialität und der Periodeneinteilung der Geschichte, nutzen aber trotzdem die Vergangenheit als Autorisierung der Formen − gleichsam als Quelle für Autorität ohne Verbot des Gegenteils«22; Kunstformen der Vergangenheit sind in dieser Optik nicht an ihren Entstehungskontext gebunden, sondern stehen, »weil vergangen, für beliebige, kontextfreie Kombinationen zur Verfügung«.23 Entsprechend bedeutsam werden »das Phänomen der Intertextualität, das Zitat und die Imitation von Kunst in Kunst, sodann die Simultanität heterogener Materialien und Stillagen und die kalkulierte Oberflächlichkeit künstlerischer Formensprache«.24 Dabei ist die ›Postmoderne‹ keineswegs frei von »performativen Selbstwidersprüchen«25: Sie kritisiert die ›Moderne‹ mit einem intellektuellen Instrumentarium, das gerade durch die Moderne hervorgebracht wurde, sie kann sich dem System der binären Schematisierung längst nicht in dem Maß entziehen, wie sie es theoretisch intendiert26, errichtet letztlich auch ihrerseits ›große Erzählungen‹ (Jean-François Lyotard), deren Legitimation sie doch bestreitet. Immerhin kann die ›Postmoderne‹ diese Problematik nicht nur selbst reflektieren, sondern durch Kompromisse, Hybridisierung und Vielfachkodierungen zumindest entschiedene Versuche unternehmen, um Vorstellungen von ›authentischem‹ Subjekt, von Ethnozentrismus, Identitätsdenken und normativer Ästhetik zu destruieren. Auf literarischem Gebiet gehört prinzipiell auch das Gattungszitat, das bewusste Wiederaufgreifen und explizite Kommunizieren traditioneller Formmodelle, zu den signifikanten Stileigentümlichkeiten von ›Postmoderne‹. Wenn die meisten Autoren der sechziger und siebziger Jahre wenig Interesse für Gattungsfragen aufgebracht haben, entsprach das ihrem Verlangen nach Authentizität und demonstrierte ihre gewollte Distanz zur Überlieferung – erst recht im Hinblick auf eine Gattung, die durch die klassizistische Novellenproduktion des (frühen) 20. Jahrhunderts geradezu zum Inbegriff einer anti-modernen Literatur geworden. Insofern ist es nur konsequent, dass die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ seit den mittleren sechziger Jahren beinahe zu verschwinden scheint bzw. bis zum Ende der siebziger Jahre überwiegend von konservativen Autoren wie Friedrich Franz von Unruh, Nino Erné und Frank Thiess oder späten Vertretern eines ›sozialistischen Realismus‹ gepflegt wird. Wenn eine Wiederentdeckung der Novellenform durch bedeutendere Autoren für die späten siebziger und frühen achtziger Jahre zu konstatieren ist, so hängt das Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 501. Kursivierung im Original. Ebd., S. 501f. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 447. Utz Riese, Karl Heinz Magister: Postmoderne/postmodern. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Bd. 5. Postmoderne-Synästhesie. Stuttgart, Weimar 2003, S. 1-39, hier S. 5. 26 Das wird besonders deutlich, wenn etwa Hal Foster schon 1983 versucht, einen »post modernism of resistance« von einem »postmodernism of reaction« zu unterscheiden und damit genau in das Denken in binären Oppositionen zurückfällt, dessen Überwindung üblicherweise zu den zentralen Zielen der ›Postmoderne‹ gezählt wird. Vgl. Riese, Magister: Postmoderne/postmodern, S. 38. 22 23 24 25

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nicht zuletzt mit den geschilderten ›postmodernen‹ Entwicklungen zusammen, die auch eine neue »Lust am Erzählen«27 initiiert haben. Die von Nikolaus Förster untersuchte »Wiederkehr des Erzählens«28 führte zur Abkehr vom Authentizitätsanspruch der sechziger und siebziger Jahre zugunsten einer Neuentdeckung bewusst gestalteter Fiktionalität und eines artistisch gehandhabten Spiels mit der Tradition, zu dem auch der explizite Rekurs auf überlieferte Gattungsvorstellungen gehört. Eine ›Novelle‹ zu schreiben, wurde unter diesen Voraussetzungen nicht mehr als selbstrestriktive Einordnung in eine literarische Reihe verstanden oder gar als bloß imitierender Rückgriff auf Altes, sondern als eine Möglichkeit, den eigenen Erzählraum zu erweitern um eine Dimension des bewussten und kalkulierten, autoreflexiven und ironischen Traditionsbezugs. Jede Wiederverwendung des vermeintlich obsoleten Erzählmodells ›Novelle‹ seit den späten siebziger Jahren nun pauschal als ›postmodern‹ zu kennzeichnen, würde freilich der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. Auf der einen Seite mag der Rückgriff auf traditionelle Muster gelegentlich auch Züge einer konservativen Regression tragen; Klaus Briegleb und Keith Bullivant haben in diesem Sinn für die ausgehenden siebziger Jahre von einem ›neuen bürgerlichen Realismus‹ und einer »Flucht ins deutsche Familien-Museum«29 gesprochen. Auf der anderen Seite bleibt die sogenannte ›Postmoderne‹ in vielfältiger Weise an genuine Errungenschaften der ›Moderne‹ gebunden, die sie fortentwickelt oder auch nur adaptiert: Nikolaus Förster verweist hier besonders auf die Reflexion über den Schreibprozess, die schon in der zweiten Hälfte des siebziger Jahre in vielen Texten immer mehr Raum einnimmt und zunächst als Strategie erkennbar wird, die die Authentizität des Geschriebenen verbürgen soll; doch »gerade die Inflation der Selbstreflexivität in den 80er Jahren hat deutlich gemacht, daß es sich auch bei dieser Erzählstrategie um einen Kunstgriff handelt, um ein künstliches und damit fiktives Produkt […]. Was zunächst als Rettungsstrategie gedacht war, um der Literatur Authentizität zu verleihen, enthüllt seinen eigenen inszenatorischen Charakter«.30 Ein originär ›modernes‹ Textmerkmal fungiert damit zugleich als signifikantes Kennzeichen ›postmodernen‹ Erzählens – das ist nur eines von vielen denkbaren Beispielen, das den Konstruktcharakter auch und gerade des Begriffs ›Postmoderne‹ plastisch vor Augen führt.

27 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. Stuttgart, Weimar 31993,

S. 483. 28 Förster bezieht sich in der Titelwahl ausdrücklich auf Volker Hages Buch Die Wiederkehr des Erzäh-

lers. Neue deutsche Literatur der 70er Jahre (Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982), betont aber, dass es gerade nicht die Wiederkehr des Erzählers gewesen sei, die eine Zäsur bewirkt habe, sondern die spätere »Wiederkehr des Erzählens, das in seiner scheinbaren Naivität jeglichen Anspruch auf Authentizität von vornherein zurückweist und statt dessen seinen Konstruktcharakter deutlich zur Schau stellt« (Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 5). 29 Keith Bullivant, Klaus Briegleb: Die Krise des Erzählens – ›1968‹ und danach. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 12), S. 302-339, hier S. 333. 30 Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 53.

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Zweifellos muss die Funktion des Gattungszitats jeweils kontextabhängig untersucht werden; dennoch kann für die meisten der im Folgenden analysierten Novellentexte konstatiert werden, dass sie sich keinem naiv-epigonalen Rückgriff auf traditionelle Formvorstellungen verdanken, sondern hochgradig reflektierte Versuche darstellen, spielerisch mit den überlieferten Ausdrucksmöglichkeiten umzugehen. Dass diese Möglichkeit für viele Autoren erst seit den ausgehenden siebziger Jahren reizvoll und legitim geworden zu sein scheint, zeigt den historischen Zusammenhang des Phänomens mit der literarischen ›Postmoderne‹ und der ›Wiederkehr des Erzählens‹, die auch einen derart vorgeprägten Begriff wie den der ›Novelle‹ wieder verfügbar werden ließen, ohne ihn automatisch und mit den Maßstäben etwa von Adornos Ästhetik einem überholten ›Materialstand‹ zuzuordnen. Die erzählerischen Techniken, durch die ›das Gattungshafte‹ der jeweiligen Texte auf allen Kommunikationsniveaus31 vermittelt wird, sind gerade an Beispielen aus den achtziger und neunziger Jahren leicht zu illustrieren. Auf der Ebene des Autorbewusstseins (N3) ist festzuhalten, dass das Kriterium der ›mittleren Länge‹ fast ausnahmslos beachtet wird; die allermeisten als ›Novelle‹ bezeichneten Texte erscheinen als Einzelausgaben mit einem Umfang von etwa 120 bis 160 Druckseiten. Gelegentlich wird die Bedeutung des Novellenbegriffs dadurch unterstrichen, dass er nicht als paratextueller Zusatz, sondern als Haupttitel in Verbindung mit einem erläuternden Beiwort verwendet wird – Bodo Kirchhoffs Mexikanische Novelle (1984), Eva Zellers Heidelberger Novelle (1988), Horst Sterns Jagdnovelle (1989), Hanna Johansens Kurnovelle (1994) oder Helmut Kraussers Schmerznovelle (2001) seien als Beispiele genannt. Hinzu kommen erkennbare Orientierungen an den etablierten, ›novellentypischen‹ Vorstellungen (etwa des ›Falken‹) oder intertextuelle Verweise auf kanonisierte Novellen der Vergangenheit – letzteres geschieht manchmal gleichfalls schon durch die Titelformel wie im Fall von Dieter Eues Ein Mann namens Kohlhaas (1983). Auf den Ebenen der fiktiven Figurenwelt (N1) und des fiktiven Erzählers (N2) zitieren viele Autoren den novellentypischen Wortschatz; in Hanna Johansens Kurnovelle etwa wird Goethes Standarddefinition dreigeteilt, um in direkt aufeinander folgenden Sätzen sowohl in der Äußerung einer beteiligten Figur als auch im Kommentar der Erzählerfigur aufzuscheinen: »Mein Mann fand das unerhört. Was hat sich ereignet? Hier die Begebenheiten […]«.32 Einige Seiten später findet sich auch Tiecks Vorstellung vom Wendepunkt paraphrasiert, als »Augenblick, in dem man noch hätte umkehren können«33, und mit den vielfach reflektierten Schmetterlingen weist der Text auch ein »Leitmotiv und Novellensymbol«34 auf. Was den bewussten Rekurs auf traditionsreiche gattungstheoretische Formeln betrifft, hat wohl Ludwig Harig in Der kleine 31 Hier wird wieder rekurriert auf das bereits in der Einleitung adaptierte Modell literarischer Kom-

munikation, vgl. Kahrmann/Reiß/Schluchter: Erzähltextanalyse. 32 Johansen: Kurnovelle, S. 81. 33 Ebd., S. 85. 34 Dietmar Jacobsen: Renaissance der strengen Form. Drei neuere Novellen aus der deutschsprachi-

gen Schweiz. In: Germanistisches Jahrbuch Ostrava/Erfurt 5 (1999), S. 67-83, hier S. 75. – Jacobsen bietet eine ebenso komprimierte wie überzeugende Interpretation der Kurnovelle (ebd., S. 74-77).

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Brixius (1980) einen inoffiziellen Rekord aufgestellt, wenn er den Erzähler nicht weniger als fünfmal von der »unerhörten Begebenheit« und einmal von »unerhörte[n] Begebenheiten« sprechen lässt.35 Über solche intertextuellen Anspielungen hinaus stellen die Erzählerfiguren mancher Novellen sogar poetologische Überlegungen an, etwa in Erik Neutschs Zwei leere Stühle: Hier behautet der homodiegetische Erzähler ausdrücklich, »keine Novelle« zu schreiben, »nicht einmal etwas Ähnliches, sondern einen Tatsachenbericht«36 – was der ausdrücklichen Gattungsbezeichnung des Textes natürlich widerspricht. Die Tatsache, dass sich die meisten Autoren der Gegenwart allenfalls noch in beiläufigen Interviewäußerungen über den Novellenbegriff äußern – selbst ein so produktiver Novellist wie Hartmut Lange hat bisher keine ausführlichere theoretische Reflexion ›seines‹ Gattungsbegriffs vorgelegt – dürfte auch mit der Direktheit zusammenhängen, in der der Gattungsbezug auf der paratextuellen Ebene schon in den Erstausgaben hergestellt wird. Der Klappentext von Dieter Wellershoffs Die Sirene etwa steuert von vornherein die Rezeption im Hinblick auf gattungstypische Momente: »Dieter Wellershoff hat das Buch eine Novelle genannt, nicht nur weil es entsprechend einer klassischen Definition von einer ›unerhörten Begebenheit‹ handelt, sondern auch wegen der Geschlossenheit seiner Handlung, die ein einziger, unaufhaltsam fortschreitender Prozeß ist – Abenteuer der Erfahrung und Analyse zugleich«.37 Damit ist auch auf den textexternen Kommunikationsniveaus sichergestellt, dass die Gattungszugehörigkeit und die mit ihr verbundenen bzw. aus ihr abgeleiteten Texteigenschaften kommuniziert werden und als Bedeutungsträger fungieren. Im Folgenden wird das Gesamtbild der deutschen Novelle in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch paradigmatische Einzeltextanalysen stärker konturiert, als das im Rahmen der bisher vorliegenden, allzu pauschalen Gattungsgeschichten möglich gewesen ist. Ein erstes Kapitel verfolgt die ›Wiederkehr des Erzählens‹, wie sie auch und gerade im Zusammenhang mit der Gattung ›Novelle‹ zu beobachten ist – als Rekurs auf ein traditionsreiches Erzählmodell, das der viel beschworenen Krise des Erzählens entgegengesetzt wird; als ›Novellen‹ gekennzeichnete Texte von Martin Walser, Bodo Kirchhoff, Dieter Wellershoff, Hartmut Lange und Uwe Timm belegen paradigmatisch die literarischen Möglichkeiten des bewussten Rekurses und zugleich die Öffnungen gegenüber einer reinen, epigonalen Traditionsverbundenheit. Dass sich mit dem Novellenbegriff auch experimentelle Ansätze vermitteln lassen, demonstriert ein zweites Kapitel, das Gattungsbeiträge von Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig, Friedrich Dürrenmatt und Thomas Lehr analysiert. Wie der schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beliebten Untergattung der biographischen Künstlernovelle neue Aspekte abgewonnen werden können, untersucht ein Kapitel, das sich besonders mit entsprechenden Texten von Gert Hof35 Vgl. Ludwig Harig: Der kleine Brixius. Eine Novelle. München, Wien 1980, S. 8, 19, 37, 45, 81, 99. 36 Erik Neutsch: Zwei leere Stühle. Novelle. Halle, Leipzig 1979, S. 6f. 37 Dieter Wellershoff: Die Sirene. Eine Novelle. Köln 1980, Klappentext.

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mann, Jochen Beyse, Thomas Hürlimann und Henning Boëtius befasst. Abschließend werden mit Erik Neutschs Zwei leere Stühle, Werner Heiduczeks Reise nach Beirut und Die Verfehlung sowie Christoph Heins Drachenblut/Der fremde Freund Novellen aus der Spätphase der DDR-Literatur dargestellt.

B. Exemplarische Texte und Autoren 1. Auch eine ›Wiederkehr des Erzählens‹ 1.1. Martin Walser (geb. 1927) Ein fliehendes Pferd (1978) Die Publikation der Novelle Ein fliehendes Pferd war von einer kommerziellen Kampagne begleitet, die das Maß des damals Üblichen bei weitem überstieg; ein Rezensent der Erstausgabe schlug denn auch vor, »das ganze Drumherum ihres Erscheinens« vor allem »unter dem Gesichtspunkt verlegerischer Werbestrategie zu würdigen«.38 Bemerkenswert ist insbesondere, dass mit Ein fliehendes Pferd die über viele Jahre hinweg erfolgreiche Praxis einsetzte, Walsersche Prosawerke zuerst als Fortsetzungsreihe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an die Öffentlichkeit zu bringen39; dass es ausgerechnet eine ›Novelle‹ war, die am Anfang dieser Zusammenarbeit von Autor, Verlag und Presseorgan stand, schlägt einen Bogen zurück zur medialen Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als ›Novellen‹ fast regulärer Weise zuerst in Presseorganen erschienen. Der Vorabdruck in der F.A.Z. erfolgte zudem nicht kommentarlos, sondern wurde rezeptionssteuernd eingeleitet durch eine Eloge Marcel ReichRanickis. Dieser hatte nur zwei Jahre zuvor Walsers Roman Jenseits der Liebe spektakulär verrissen40; nun trat er als Lobredner hervor, der sich außerdem zugute hielt, 38 Günter Zehm: Der Oberstudienrat im Clinch mit einem Fliegengewicht. In: Die Welt, 21.3.1978.

Jetzt in: Hans-Erich Struck: Martin Walser, Ein fliehendes Pferd. München 1988 (= Oldenbourg Interpretationen, 27), S. 108f. 39 Diese Praxis nahm im Frühjahr 2002 ein vorläufiges und aufsehenerregendes Ende mit Frank Schirrmachers Weigerung, den Roman Tod eines Kritikers (dem er die Verwendung antisemitischer Klischees unterstellte), zum Vorabdruck anzunehmen (vgl. dazu Dieter Borchmeyer, Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers. Hamburg 2003). Während Walsers jahrzehntelange Verbindung zum Suhrkamp-Verlag 2004 endete, gab es mit der Frankfurter Allgemeinen offenbar eine Aussöhnung: Walsers später Goethe-Roman Ein liebender Mann wurde 2008 wieder zum Vorabdruck gebracht. 40 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Jenseits der Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.3.1976. Jetzt unter dem Titel Sein Tiefpunkt in: Ders.: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stuttgart 1979, S. 158-162. Vgl. dazu auch Ursula Bessen: Martin Walser – Jenseits der Liebe. Anmerkungen zur Aufnahme des Romans bei der literarischen Kritik. In: Martin Walser. Hg. v.

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durch seine harte und beharrliche Kritik dazu beigetragen zu haben, dass Walser nach einem »Tiefpunkt« seiner literarischen Produktion nicht nur sein »reifstes, sein schönstes und bedeutendstes Buch«, sondern sogar ein »Glanzstück deutscher Prosa«41 gelungen sei – Worte, die, auf eine Buchbinde gedruckt, schon die am 21.2. ausgelieferte Erstauflage schmückten und seither zum festen Bestandteil des Klappentextes geworden sind.42 Von Februar bis August 1978 erschienen in der deutschsprachigen Presse über 130 Rezensionen des Textes, die Verkaufszahlen gingen in die Hunderttausende43, und dass insgesamt ein Lesepublikum erreicht werden konnte, das »über den Bezirk der eingeübten Interessenten, über das Ghetto der spezialisierten Liebhaber, der Suhrkamp-Getreuen, der Kollegen und Literaten«44 weit hinausging, wurde bereitwillig zugestanden. Ein fliehendes Pferd ist bis heute derjenige Text Walsers geblieben, dem sowohl bei der Kritik als auch beim Lesepublikum der größte Erfolg zuteil wurde; zwei Verfilmungen – 1985 fürs Fernsehen, 2007 für die Kinoleinwand45 – fanden geteilte Aufnahme, dokumentieren aber das ungebrochene Interesse an Walsers erster Novelle. Wenn in zahlreichen Rezensionen von ›Reife‹ und ›Meisterschaft‹, von erzählerischer Ökonomie und stilistischer ›Klassizität‹ die Rede ist46, so sind dies Kriterien, die nicht nur individuelle Texteigenschaften reflektieren, sondern die auch auf einen entsprechend präfigurierten Gattungsdiskurs verweisen, dem sie zum Teil direkt entnommen sind. Eine Überschrift wie »Martin Walsers Meisternovelle« amalgamiert die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ und die Vorstellung von ›Meisterschaft‹ in einer Art, wie sie spätestens seit Paul Ernst typisch geworden war für eine bestimmte Tradition der deutschen Novellistik. Angesichts der Tatsache, dass Walser bisher noch überhaupt keine ›Novelle‹ vorgelegt hatte, konnte die Formel ja nicht in dem Sinne verstanden werden, dass Ein fliehendes Pferd andere Gattungsbeiträge des Autors übertreffe; stattdessen wurde suggeriert, dass eine bestimmte Form von ›Meisterschaft‹ nur oder zumindest vorrangig in »der klassischen Form der Novelle« zu erreichen Klaus Siblewski. Frankfurt/M. 1981, S. 214-233.

41 Marcel Reich-Ranicki: Walsers Glanzstück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.1978. Jetzt

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unter dem Titel Sein Glanzstück in: Ders.: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stuttgart 1979, S. 162-165, hier S. 165. Vgl. Struck: Martin Walser, Ein fliehendes Pferd, S. 79. Vgl. Angelika Charlotte Jansen: Walsers Ein fliehendes Pferd. Rezeption und Standortbestimmung in der bundesdeutschen Wirklichkeit. Diss. Univ. New York 1982, bes. S. 16-18 (zu den Verkaufszahlen) und S. 31-73 (zur journalistischen Rezeption mit ausführlicher Bibliographie). Joachim Kaiser: Martin Walsers blindes Glanzstück. Funktion und Funktionieren der Novelle Ein fliehendes Pferd. In: Merkur 32 (1978), S. 828-838. 1985 führte Peter Beauvais die Regie in einer WDR-Produktion (mit den Darstellern Vadim Glowna, Rosel Zech, Dietmar Mues, Marita Marshall), 2007 Rainer Kaufmann (mit den Darstellern Ulrich Nöthen, Katja Riemann, Ulrich Tukur, Petra Schmidt Schaller); vgl. die Literaturhinweise in Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 178. Vgl. die Auswertung von Rezensionen durch Heike Doane: Martin Walsers Novellen. Ein Beitrag zu zeitgenössischen Gattungsfragen. In: Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten. Hg. v. Heike Doane und Gertrud Bauer-Pickar. München 1995, S. 88-106.

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sei.47 Prompt trat auch die Gegenreaktion ein, die ebenfalls literarhistorisch vorgeprägt ist: Nicht nur anti-klassizistische Literaturkonzepte, sondern auch das klassizistisch orientierte Novellenverständnis des frühen 20. Jahrhunderts ging ja einher mit einer Idiosynkrasie gegen das ›Gemachte‹, ›Glatte‹, ›Kalkulierte‹, das man zum Beispiel der Novellistik Paul Heyses unterstellte; analog dazu wurde neben dem ausgiebigen und überwiegenden Lob für Walsers neue Formstrenge auch eine Art Formalismus-Vorwurf vorgebracht – beispielsweise von Joachim Kaiser, der schon mit der Überschrift »Martin Walsers blindes Glanzstück« das vielzitierte Urteil Reich-Ranickis zu konterkarieren sucht. Kaiser bestätigt dem Text zwar, dass er eine »dramatische Konzentration auf die Figuren« zeige, »wie sie auch für Kleistsche Novellen typisch« sei, und dass er ein beeindruckendes »Geflecht von Leitmotiven«48 aufweise – doch die Neigung »zur festen schönen Konstruktion« wird vor allem verdächtig gemacht als Ausdruck »cleverer Klassizität«, das Resultat als lediglich »schlaues Virtuosenstück«49 abgewertet: »Wünschen wir Walser und uns, daß er wieder in seinen tausendmal anfechtbareren, tausendmal herrlicheren Seelen- und WortDschungel zurückfindet«.50 Direkter und mit reduzierterem intellektuellem Anspruch, aber im Prinzip gleichgerichtet und umso paradigmatischer für den Bewertungshorizont der späten siebziger Jahre, fällt Sigrid Herzogs kritische Position zu Ein fliehendes Pferd aus: Es ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Alles wurde handwerklich hervorragend geglättet und zu Ende verarbeitet. No lose ends. Genaugenommen stört mich an der Novelle ihre Klassizität, die mir unzeitgemäß, zu einfach und eigentlich unerlaubt vorkommt. Geschlossene Systeme können wir uns, wenn wir ehrlich sind, heute nicht mal mehr als Kunststücke leisten.51

Die literaturwissenschaftliche Erforschung des Textes seit den frühen achtziger Jahren konzentrierte sich zunächst auf seine intertextuelle Dimension. Ein fliehendes Pferd ist sicher keine »Inszenierung von Kristevas Intertextualitätskonzept«52 und erst recht kein »Metatext auf intertextuelle Theoriebildung«53; doch unbestreitbar ist Walsers Novelle reich an intertextuellen Implikationen, wobei viele der Prätexte auch eine gattungspoetische Komponente aufweisen. Eindeutiger und ergiebiger als das in der Forschung gleichfalls untersuchte Verhältnis zu Goethes Novelle54 sind die Bezugnah47 Werner Helwig: Martin Walsers Meisternovelle. In: Frankfurter Hefte 33 (1978), H. 7, S. 75-77, hier

S. 76. Kaiser: Martin Walsers blindes Glanzstück, S. 832. Ebd., S. 835. Ebd., S. 838. Sigrid Herzog: Über den grünen Klee gelobt, S. 495. Wassmann: Die Novelle als Gegenwartliteratur, S. 143. Ebd., S. 145. − In diesem Zusammenhang ist auch auf Walsers »Theoriefeindlichkeit« zu verweisen, vgl. z.B. Martin Walser: Über den Umgang mit Literatur. In: Martin Walser. International Perspectives. Hg. v. Jürgen E. Schlunk und Armand E. Singer. New York, Bern, Frankfurt/M., Paris 1987 (= American University Studies, Series I, 64), S. 195-214, bes. S. 207. 54 Vgl. dazu Herbert Knorr: Gezähmter Löwe – fliehendes Pferd. Zu Novellen von Goethe und Martin Walser. In: literatur für leser 1979, S. 139-157. 48 49 50 51 52 53

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men auf Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, die schon in der Figurenkonstellation des Fliehenden Pferdes zu erkennen sind. Die beiden Paare, Helmut und Sabine Halm bzw. Klaus und Helene, genannt Hel Buch, sind vorgeprägt in den vier Figuren, mit denen Goethe in den Wahlverwandtschaften sein psychologisch-erotisches Experiment unternimmt. Wie die Männerfiguren bei Goethe sind Helmut Halm und Klaus Buch Jugendfreunde, die dem Leser nun »im besten Mannesalter«55 begegnen; wenn die Namen ›Helmut‹ und ›Hel‹ dem Protagonisten Halm vorkommen »wie zwei Werkstücke, die dafür gemacht sind, zusammengekuppelt zu werden«56, wird ein Bezug hergestellt zu den Namens- und Letternspielen, die die Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften gravitieren lassen um die Chiffre ›Otto‹, die bei Goethe nicht nur den Vornamen des Hauptmanns und den eigentlichen Namen Eduards markiert, sondern auch in den Frauennamen ›Charlotte‹ und ›Ottilie‹ anklingt. Dass das Ehepaar Halm einen Spaniel hat, der ausgerechnet den Namen ›Otto‹ trägt (obwohl es sich, eine zusätzliche ironische Brechung, um eine »Hündin«57 handelt!), hat Waltraud Wiethölter schon 1983 zu der Frage veranlasst, ob hier Goethes Wahlverwandtschaften »auf den Hund gekommen« seien.58 Sogar auf den berühmten ›Ehebruch im Ehebett‹ wird angespielt: Angesichts ihrer beider Attraktion durch das Buchsche Paar lehnt Helmut den Beischlaf mit Sabine ab – »Wenn sie einander heute nahekämen, dann dächte sie an Klaus und er an Helene, und das sei für ihn eine Vorstellung, die ihn abrüste«.59 Bei Goethe führt die vergleichbare Konstellation dazu, dass ein eheliches Kind (der Sohn ›Otto‹!) geboren wird, das jedoch die Züge derer trägt, an die das Ehepaar während der Zeugung gedacht hatte. Die gattungspoetische Komponente dieser Bezugnahme auf Goethes Wahlverwandtschaften liegt darin, dass dieser Text zwar als Roman bezeichnet ist, aber innerhalb des novellentheoretischen Diskurses seit je eine Rolle gespielt hat: Zum einen durch die in den Roman eingeflochtene Novelle von den Wunderlichen Nachbarskindern (die Goethe im unmittelbaren Kontext seiner gegenüber Eckermann geäußerten Novellendefinition hervorhebt als einen Text im »ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit«60), zum anderen durch namhafte Autoren und Theoretiker wie Theodor Mundt, Heinrich Laube, Friedrich Theodor Vischer, Paul Heyse oder Friedrich Spielhagen, die die Wahlverwandtschaften insgesamt als »novellenartig«61 be55 Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. In: Ders.: Epoche der Wahl-

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verwandtschaften 1807-1814. Hg. v. Christoph Siegrist u.a. München 1987 (= MA, 9), S. 283-529, hier S. 286. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 321. Ebd., S. 342. Waltraud Wiethölter: ›Otto‹ – oder sind Goethes Wahlverwandtschaften auf den Hund gekommen? Anmerkungen zu Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd. In: ZfdPh 102 (1983), S. 240-259. − Martin Walser hat Wiethölters Interpretation übrigens als »grotesk« zurückgewiesen, zumindest insofern sie eine bewusste, detaillierte und absichtliche Bezugnahme auf Goethes Wahlverwandtschaften unterstellt, vgl. Walser: Über den Umgang mit Literatur, S. 199f. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 329. Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 203. Theodor Mundt: Über Novellenpoesie. In: Ders.: Kritische Wälder. Blätter zur Beurtheilung der

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zeichnet haben, ihnen »den Charakter einer Novelle«62 bescheinigten, sie als eine »gegen den Roman hin erweiterte Novelle«63 betrachteten, Goethe dafür belobigten, dass er »in seinen Wahlverwandtschaften ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich [habe] auswachsen lassen«64 oder ihn dafür tadelten, mit diesem Buch »nicht mehr und nicht weniger, als eine über ihre natürlichen Grenzen hinaus getriebene, ja stellenweis aufgebauschte Novelle«65 vorgelegt zu haben. Der Bezug auf Goethes Wahlverwandtschaften ist damit nicht nur von inhaltlich-struktureller Relevanz für Walsers Ein fliehendes Pferd, sondern gehört auch zu den Momenten des Textes, über den seine Gattungszugehörigkeit kommuniziert wird. Mit Thomas Manns Tonio Kröger hat Manfred Dierks einen weiteren Prätext benannt, der für Walsers Novelle von Bedeutung ist und auf den schon Marcel ReichRanicki in seiner Rezension des Fliehenden Pferdes verwiesen hatte.66 Vom ambivalenten Verhältnis Walsers zu Thomas Mann und insbesondere zu dessen Jugendnovelle Tonio Kröger zeugen, in zeitlicher Nachbarschaft zum Fliehenden Pferd entstanden, die 1980 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen über Selbstbewußtsein und Ironie.67 Dierks interpretiert Ein fliehendes Pferd als poetischen Kommentar und Parodie des Tonio Kröger: In der Gegenüberstellung von Helmut Halm und Klaus Buch wiederhole sich der plakative Antagonismus zwischen Tonio Kröger und Hans Hansen, »natürlich in kleinbürgerlichem Maßstab«68 und angepasst an den veränderten soziohistorischen Kontext. Zugleich stehen Tonio Kröger und die Mannsche Ästhetik insgesamt in vielfältiger Wechselbeziehung zu geistigen Autoritäten wie Friedrich Nietzsche, Richard Wagner oder auch Sören Kierkegaard, auf die Ein fliehendes Pferd gleichfalls anspielt (man denke an Helmuts und Sabines Lektüre).69 So können die Gegenüberstellung von Tonio Kröger und Hans Hansen und damit die von Helmut Halm und Klaus Buch sowohl in Analogie gesetzt werden zu Nietzsches Polarisierung der

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Literatur, Kunst und Wissenschaft unserer Zeit. Leipzig 1833. Zit. n. Polheim: Theorie und Kritik, S. 65-69, hier S. 67. Heinrich Laube: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3. Stuttgart 1840, S. 407. Zit. n. Polheim: Theorie und Kritik, S. 91. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, S. 1319. Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz, S. XVIII. Friedrich Spielhagen: Novelle oder Roman? [1876]. Zit. n. Polheim: Theorie und Kritik, S. 160-162, hier S. 162. Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Walsers Rückkehr zu sich selbst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.3.1978. Jetzt unter dem Titel Seine Rückkehr zu sich selbst in: Ders.: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stuttgart 1979, S. 165-172, hier S. 169f. Vgl. Martin Walser: Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1981, bes. S. 82-107. Dierks: »Nur durch Zustimmung kommst du weg«, S. 47. Helmut, der schon mit 14 Jahren Also sprach Zarathustra gelesen hat (vgl. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 281), nimmt sich Kierkegaards Tagebücher als Ferienlektüre mit, Sabine liest Wagner – Mein Leben (vgl. ebd., S. 305), eine Wahl, über die sie mit dem Lieblingsbuch von Klaus Buchs erster, geschiedener Frau Richard Wagner an Mathilde Wesendonck verbunden wird (vgl. ebd., S. 296). Vgl. zur Bedeutung Kierkegaards und Nietzsches ausführlich Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 158-178.

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Kunstgottheiten Dionysos und Apoll70 als auch zu den Positionen des Ethikers und des Ästhetikers (mit den Prototypen Faust und Don Juan), die Kierkegaard in seiner Abhandlung Entweder/Oder entwirft (der Walser wiederum das Motto seiner Novelle entnommen hat).71 Thomas Mann allerdings hat die Gegensätze in die Figur des Künstlers und Ironikers Tonio Kröger verlegt: Indem Tonio den in Hans Hansen personifizierten »Wonnen der Gewöhnlichkeit« zwar entsagt, aber die »Sehnsucht« und »Bürgerliebe« zum Movens seiner literarischen Produktion erklärt72, findet er für sich selbst zu einer Vermittlung der Gegensätze. Bei Walser dagegen bleiben die Gegensätze ihren jeweiligen Trägern zugeordnet, die, wie es das Kierkegaard-Motto andeutet, »entgegengesetzte Lebensanschauungen«73 vertreten; die Frauen passen sich dem Konzept des jeweiligen Partners an und übernehmen die Rolle, die er ihnen darin zuweist. Die Buchs demonstrieren einen Lebensstil, der den zeitgenössischen Normen folgt: Klaus braucht die bedeutend jüngere Frau, um selbst jünger zu erscheinen und um das Bild vom leistungsorientierten, sportlichen, gesundheitsbewussten, polyglotten und potenten Mann aufrechtzuerhalten, das er von sich verbreitet. Die systematische Abhärtung und strenge Kontrolle, der er seinen Körper unterwirft, täuschen darüber hinweg, dass er in beruflicher und finanzieller Hinsicht in keiner Weise die Autonomie erreicht hat, von der er träumt – dies allerdings offenbart erst seine Frau Helene, als sie ihn tot glaubt. Helmut Halm und seine Frau bieten das Bild eines gesetzten Ehepaares; im Einklang mit sich selbst fühlt sich jedoch auch Helmut nicht. Im Schuldienst hat er resigniert; seine größte Angst ist es, von anderen »erfaßt, durchschaut und bezeichnet«74 und dadurch zugleich festgelegt, dominiert, verletzt zu werden. »Inkognito« zu sein ist dagegen »seine Lieblingsvorstellung«75; innerlich arbeitet er an einer stoizistischen Lebenshaltung, die freiwillige sexuelle Askese und die »Selbstgenügsamkeit des Negativen«76 umfassen soll: »Sein Ziel war es, schon die eigene Gegenwart in einen Zustand zu überführen, der der Vernichtetheit des Vergangenen so ähnlich als möglich war. Schon jetzt wollte er vergangen sein. Das war seine Richtung«.77 Wo Klaus Buch alles tut, um die Vergangenheit zu konservieren und lebendig zu erhalten (weshalb ihn auch das Wiedersehen mit dem alten Schulfreund so animiert), 70 Nach der Segelpartie der beiden Paare ist vom »Masseur Apoll« in Bezug auf Klaus Buch die Rede.

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Der Weintrinker Helmut fügt an: »Auch er fühle sich durchgearbeitet. Er wisse nur noch nicht, von wem oder was. Apoll sei bei ihm sicher nicht tätig gewesen. Aber ein Gott könne es schon gewesen sein«. (Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 300). Vgl. besonders Maria Behre: Erzählen zwischen Kierkegaard- und Nietzsche-Lektüre in Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 23 (1990), S. 3-18. Vgl. Thomas Mann: Tonio Kröger. In: Ders.: Frühe Erzählungen 1893-1912. Hg. v. Terence J. Reed unter Mitarbeit v. Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004, S. 243-318 (= GKFA, 2.1), hier S. 317f. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 273. Ebd., S. 275. Ebd. Ebd., S. 290. Ebd., S. 285.

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will Helmut schon die eigene Gegenwart hinter sich lassen und erst recht nicht an die Vergangenheit rühren.78 Die Fassade, die beide Männer aufgebaut haben, wirkt auf den jeweils anderen zunächst überzeugend: Helmut glaubt, Klaus sei »im Einvernehmen mit der Epoche«79 und empfindet durchaus auch Neid auf dessen Vitalität; als er sich allmählich an den Jugendfreund erinnert, heißt es einmal verräterisch, »ein Kläuschen, das immer alles kriegte, hatte es gegeben«80 – hier erscheint Klaus Buch sogar als eine Art jugendliches Ich-Ideal des immer schon introvertierten und intellektuellen Helmut, und der Bezug zu Tonio Kröger und Hans Hansen tritt besonders deutlich hervor. Klaus Buch seinerseits ist angezogen von der nach außen demonstrierten »ruhigen, festen Art« Helmuts, seiner vermeintlichen »Vernunft«, »Ausgeglichenheit« und »innere[n] Ruhe«.81 Beide nehmen die schützende Fassade des jeweils anderen für den authentischen Ausdruck der Persönlichkeit; wie sehr sie sich täuschen, bringt der Segelunfall an den Tag. Als er während des Sturms halb durch Zufall, halb durch Absicht daran schuldig wird, dass Klaus Buch über Bord geht und zunächst verschollen bleibt, ist Helmut seinem auf Verneinung der Vitalfunktionen ausgerichteten Lebenskonzept untreu geworden – ein existentieller Augenblick der Todesangst und Entschlossenheit zerstört die stoizistische Attitüde: »du hast eben gelebt in diesem Augenblick, du bist aus dir herausgegangen, […] eine Sekunde lang hast du den Schein nicht geschafft, an dieser Sekunde klebst du jetzt, wirst du kleben, wenn sich der Riß dieser Sekunde nicht mehr schließen läßt«.82 Die sexuellen Konnotierungen, die die Szene enthält – Waine hat darauf hingewiesen, dass das Entreißen der Pinne durch Klaus Buch auch als symbolische Entmannung Helmut Halms gelesen werden kann83 – tragen sowohl dazu bei, Helmuts Aggressivität und Gegenwehr zu motivieren als auch seine späteren Schuldgefühle zu verstärken. So lange Klaus noch für ertrunken gilt, scheint Helmut nun das Buchsche Lebensmodell für überlegen zu halten und versucht sich in einer Imitatio: Fahrräder, Trainingsanzüge, Turnschuhe werden angeschafft. Nachdem Helenes Lebensbeichte die Brüchigkeit von Buchs Existenz enthüllt hat und dieser wieder auftaucht, ist die Episode beendet; Helmut bleibt zurück mit dem Gefühl, noch von niemandem so sehr »durchschaut« worden zu sein wie von Klaus in dem »Augenblick«, als er ihn über Bord gehen ließ.84 Beide haben erkennen müssen, dass auch der jeweils andere keine tragfähige, ›Unmittelbarkeit‹ und ›Authentizität‹ ermöglichende Lebensstrategie 78 Dass Helmuts Abneigung gegen das Erinnern und gegen die eigene Vergangenheit auch als symbo-

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lischer Ausdruck für die Schwierigkeiten der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit interpretiert wurden, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt; vgl. dazu Johnathan Clark: A Subjective Confrontation with the German Past in Ein fliehendes Pferd. In: Martin Walser. International Perspectives. Hg. v. Jürgen E. Schlunk und Armand E. Singer. New York, Bern, Frankfurt/M., Paris 1987 (= American University Studies, Series I, 64), S. 47-58. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 306. Ebd., S. 283 Ebd., S. 352. Ebd., S. 344. Vgl. Anthony Waine: Martin Walser. München 1980, S. 116. Walser: Ein fliehendes Pferd., S. 354.

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gefunden hat; das ist durchaus mit dem Kierkegaard-Motto zu vereinen, zielt doch auch die Abhandlung Entweder/Oder letztlich weniger auf die Darstellung oppositioneller Lebensanschauungen, als auf die Analyse der ihnen zugrunde liegenden, existentiellen Unvollkommenheit.85 Identität und Identitätsbedrohung treten einmal mehr als wesentliche Motive Walsers hervor86: Martin Reinhold Engler hat die »Suche eines kleinbürgerlichen Protagonisten nach Garanten einer stabilen Identität und deren Verhinderung durch gesellschaftliche Zwänge«87 als einen strukturgebenden Hauptimpuls des Walserschen Schreibens benannt. So fügt sich Ein fliehendes Pferd nahtlos ein in die zahlreichen Literarisierungen von Identitätskrisen, die Walser seit seinem Romandebüt Ehen in Philippsburg (1957) vorgelegt hat. Dass die Krise der beiden egozentrischen Hauptfiguren auch mit ihrem Lebensalter in Verbindung steht, dürfte zum Erfolg der Novelle beim zeitgenössischen Lesepublikum erheblich beigetragen haben – gehörte doch der Diskurs über sogenannte Bilanzkrisen, populär zugespitzt im Schlagwort von der ›Midlife Crisis‹, zu den Themen, die auch die populäre Ratgeberliteratur der späten siebziger Jahre besonders beschäftigte.88 Als Sinnbild für die krisenhafte Lebenssituation und die Bewältigungsstrategien sowohl Helmut Halms als auch Klaus Buchs ist das fliehende Pferd zu betrachten – »natürlich ein geradezu klassisches Dingsymbol«89 und als solches häufig im Mittelpunkt gattungstypologischer Diskussionen um Walsers Novelle. Symbolisiert wird die Flucht vor der Wirklichkeit, wie sie sowohl Helmut als auch Klaus praktizieren; denn beider Existenz- und Identitätskonzepte sind eskapistisch, wenn sie sich auch in der Fluchtrichtung unterscheiden. Insofern ist es einsehbar, wenn beide Männer glauben, sich in das fliehende Pferd hineindenken zu können90, und ebenso wenig ist es verwunderlich, dass Helmut sich in seinen Fluchtphantasien mehrfach eines Vokabulars bedient, das mit dem Motiv des fliehenden Pferdes in Verbindung steht – schon in seinen ersten Reflexionen, die der Leser kennenlernt, ist etwa von »Flucht«, von »Dressur« und vom »Traben« die Rede.91 In der Deutung des fliehenden Pferdes als ›Dingsymbol‹ oder ›Falke‹ – beide Begriffe werden, wie so oft in der interpretatorischen Praxis, synonym verwandt – be85 Vgl. Behre: Erzählen zwischen Kierkegaard- und Nietzsche-Lektüre, S. 6. 86 Vgl. Silvio Vietta: Identität und Schreiben. Laudatio auf Martin Walser. In: Ders. (Hg.): Ehrenpro-

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motion Martin Walser. Reden, Schreiben, Vertonen. Hildesheim 1996 (= Hildesheimer Universitätsreden 4), S. 8-23. Martin Reinhold Engler: Identitäts- und Rollenproblematik in Martin Walsers Romanen und Novellen. München 2001 (= Cursus, 16), S. 11. Vgl. Struck: Martin Walser, Ein fliehendes Pferd, S. 59-64. Hans Wagener: Die Sekunde durchschauten Scheins. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978). In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 279-289, hier S. 284; vgl. ähnlich Winfried Freund (Martin Walser: ›Ein fliehendes Pferd‹. Altern als novellistisches Ereignis. In: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1996 (= RUB 9463), S. 205-223, hier S. 215), der das fliehende Pferd als »novellistisches Symbol par exellence« bezeichnet, oder Hans-Erich Struck (Martin Walser, Ein fliehendes Pferd, S. 30), der es als »Dingsymbol« im Sinn von Hermann Pongs charakterisiert. Vgl. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 321f. Vgl. ebd., S. 275f.

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steht sowohl in der Literaturkritik als auch in der Literaturwissenschaft weitgehend Einigkeit. Neben diesen klassischen Topoi der Novellentheorie wurden auch andere typische Begriffe auf Ein fliehendes Pferd appliziert – Heike Doane hat die verschiedenen Rezensionen dahingehend ausgewertet und neben der unerhörten Begebenheit, der dramatischen Zuspitzung und der Verwendung des Rahmens vor allem die Einsträngigkeit der Handlung, den Wendepunkt sowie die zeitliche und räumliche Begrenzung (auf eine erzählte Zeit von fünf Tagen bzw. auf die Bodenseeregion) hervorgehoben.92 Sowohl in der Kritik als auch in der Wissenschaft jedoch werden die gleichen Begriffe oft mit unterschiedlichen Textelementen verbunden – etwa was die ›unerhörte Begebenheit‹ betrifft. So deutet Winfried Freund Ein fliehendes Pferd als »Novelle vom Altern«: »Das Altern selbst wird für den, der es erleidet, zur sich ›ereignenden unerhörten Begebenheit‹ […]«.93 Einen langsamen Prozess wie das Altern ausgerechnet mit dem auf punktuelles Geschehen zielenden Begriff der ›Begebenheit‹ zu assoziieren, scheint aber wenig überzeugend, so wichtig das Thema des Alterns auch für Ein fliehendes Pferd sein mag. Andere Interpreten versuchen, gleich zwei ›unerhörte Begebenheiten‹ zu fixieren, zum einen die Episode mit dem fliehenden Pferd, zum anderen die unmittelbare Konfrontation der beiden Hauptfiguren auf dem Bodensee; Hans Wagener möchte beide Situationen zugleich als »Wendepunkte«94 deklariert wissen. Damit werden die novellentheoretischen Topoi allerdings überfordert. Wenn überhaupt, dann ist nur die Streitsituation während des Segelturns sinnvoll als ›unerhörte Begebenheit‹ aufzufassen; denn in der von manchen Kritikern und Interpreten sogar als »Mordversuch«95 aufgefassten Tat Helmuts kulminiert die Auseinandersetzung der einstigen Freunde und damit die gesamte Handlung der Novelle. Dass Walser in Ein fliehendes Pferd sehr stark auf augenblickshaft zugespitzte Situationen hin erzählt, zeigt sich übrigens schon in der Wortwahl: Das erste und das zweite Kapitel beginnen mit dem Wort »plötzlich«, das auch später im Text immer wieder auftaucht96; auffällig oft ist zudem von der »Sekunde«97 die Rede, vom »Augenblick«98 oder sogar von einer »hageldichte[n] Folge von gravierenden Momenten«99; hier wäre daran zu erinnern, dass die Vorstellung vom ›Augenblick‹ und von der ›Plötzlichkeit‹ nicht nur in Robert Musils Ausführungen zur Novelle eine wichtige Rolle spielen100, sondern dass kurz vor der Entstehung des Fliehenden Pferdes auch der erste und grundlegende Essay aus Karl Heinz Bohrers späterem Band Plötzlichkeit vorgelegen hat.101 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

Vgl. Doane: Martin Walsers Novellen, S. 90. Freund: Martin Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 205. Wagener: Die Sekunde durchschauten Scheins, S. 283. Ebd., S. 282; vgl. dazu auch Struck: Martin Walser, Ein fliehendes Pferd, S. 33-36. Vgl. Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 273, 279, 296, 343 (gleich zweimal), 357. Z.B. ebd., S. 290, 344. Ebd., S. 344, 354. Ebd., S. 290. Vgl. Musil: Literarische Chronik [August 1914], S. 1465. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Ausfälle gegen die kulturelle Norm. Literarische Erkenntnis und Subjektivität. Zuerst in: Literaturmagazin 6. Reinbek 1976, S. 15-28. Jetzt in: Ders.: Plötzlichkeit. Zum Au-

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Gattungshistorisch gesehen, wäre zum einen anzumerken, dass sich Walsers Ein fliehendes Pferd einfügt in eine kleine Reihe von Novellentexten, die ambivalente, männliche Jugendfreundschaften thematisieren und die sich, ausgehend von Thomas Manns Tonio Kröger über Katz und Maus von Günter Grass102 und Walsers erste Novelle bis hin zu neueren Gattungsbeiträgen wie etwa Dirk Kurbjuweits Zweier ohne verlängern ließe.103 Auf einer zweiten Ebene stellt Walser sich in novellistische Erzähltraditionen durch die zunächst so scharfe Kontrastierung seiner beiden Hauptfiguren; Helmut Halm und Klaus Buch erscheinen als Verkörperungen dichotomer Gegensätze, wie sie in der klassizistischen Novellenproduktion des frühen 20. Jahrhunderts, etwa bei Emil Strauß und Rudolf G. Binding, bei Werner Bergengruen oder auch bei Thomas Mann so häufig anzutreffen sind. Dass die Gegensätze aus einer insgeheim wertenden Perspektive dargestellt werden, passt ebenfalls zu dieser Tradition – viele Interpreten des Fliehenden Pferdes von den ersten Rezensionen an bis zu den wissenschaftlichen Forschungsbeiträgen verweisen auf das Ungleichgewicht zwischen Klaus und Helmut, das Walser schon in erzähltechnischer Hinsicht erzeugt, indem fast das gesamte Geschehen aus der personalen Perspektive Helmuts geschildert wird; selbst wenn man Klaus Buch nicht von vornherein als »Fliegengewicht«104 oder als »Karikatur«105 beurteilen möchte, bewirkt diese Fokalisierung eine klare Lenkung der Lesersympathien.106 Wenn Walser mit Ein fliehendes Pferd an typische Elemente der deutschen Novellentradition anknüpft, aber diese keineswegs nur fortsetzt, so manifestiert sich dieses Verfahren weniger in dem Verhältnis des Textes zur »Novellentheorie Goethescher bzw. romantischer Provenienz«107 (die nie so konsistent war, wie sie in Darstellungen, die auf ihre Destruktion in der Moderne zielen, gerne präsentiert wird); vielmehr sind es die Bezüge zur klassizistischen Novellentradition des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie vor allem in der textstrukturierenden Dichotomisierung von Helmut Halm und Klaus Buch einerseits nachgeahmt, durch den überraschenden Zusammenbruch dieser Dichotomisierung aber auch demonstrativ unterlaufen werden. Die genblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M. 1981, S. 13-28. 102 Die von Klaus Buch erinnerten Onanieszenen mögen auf vergleichbare Sozialisationserfahrungen

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der Jahrgangsgenossen Walser und Grass verweisen, aber in jedem Fall auch auf die in Katz und Maus geschilderte ›Onanier-Olympiade‹; ähnlich wie bei Mahlke beruht auch Klaus Buchs Ansehen bei den Mit-Jugendlichen wenigstens partiell darauf, »daß sein Geschlechtsteil es mit jedem anderen aufnehmen konnte« (Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 297). Vgl. Dirk Kurbjuweit: Zweier ohne. Novelle. Zürich 2001. Zehm: Der Oberstudienrat im Clinch mit einem Fliegengewicht, S. 108. Freund: Martin Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 214; Wagener: Die Sekunde durchschauten Scheins, S. 285. Dies wird besonders nachdrücklich von Joachim Kaiser als Mangel des Textes beurteilt, vgl. Kaiser: Martin Walsers blindes Glanzstück, S. 831-835. So konstruiert etwa Schote aus argumentationsstrategischen Gründen einen allzu fest gefügten klassisch-romantischen Novellenbegriff, um nachzuweisen, wie bei Walser »der Begriff der Novelle ad absurdum geführt« werde, vgl. Joachim Schote: Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd. In: Orbis Litterarum 46 (1991), S. 52-63, hier S. 61f.

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novellentypische und dramatisch zugespitzte ›Krise‹, die Walser mit seinem Figurenarsenal inszeniert, entwickelt sich auf eine Art und Weise, die jede Erwartung an Schicksalhaftigkeit und Tragik, aber auch an »Krisenbewältigung und Heldengebaren«108, wie sie sich aus der klassizistischen Novellentradition ableiten ließen, enttäuscht. In diesem Sinn ist auch der Ausgang von Walsers Novelle zu lesen: Wenn Helmut verspricht, seiner Frau alles zu erzählen »von diesem Helmut, dieser Sabine« und der darauffolgende letzte Satz der Novelle sich als identisch mit dem ersten erweist, so scheint der Text nicht nur extrem abgerundet, sondern knüpft mit der Suggestion mündlichen Erzählens ebenso an die Novellentradition an wie mit der Bildung eines rudimentären, für den Leser erst nachträglich erkennbaren Rahmens. Doch obwohl demonstrativ ein Kreis geschlossen wird, bleibt das Ende »völlig offen«.109 Aus Sabines Ankündigung, nicht alles zu glauben, was Helmut erzählt, und Helmuts Zusicherung, gerade darin so etwas wie eine »Lösung« zu sehen, folgern manche Interpreten, dass sich »eine neue Beziehung zwischen beiden«110 abzeichne: »Helmut is clearly on his way to himself, to Sabine and to a new life«111; er entschließe sich zu »tiefgreifenden Änderungen«, kehre der »Männerfreundschaft den Rücken und geh[e] eine Freundschaft zwischen den Geschlechtern ein, die weibliche Eigenschaften wie Kommunikation und Emotion« mitumfasse.112 Solchen optimistischen Einschätzungen stehen allerdings skeptischere gegenüber: Für Waltraud Wiethölter etwa ist »die Geschichte, die Helmut zu erzählen sich anschickt, obwohl eine Potenzierung, immer dieselbe, […] eine rotierende Spirale, die um ihre eigene unsichtbare Achse gleichzeitig vor- und zurückläuft«113, und auch Joachim Schote beobachtet nur, dass ein »Teufelskreis« sich schließt.114 Helmuts Erzählung kann also ebenso gut auf einen bloßen Akt der Selbstlegitimation oder sogar der narzisstischen Selbstumarmung hinauslaufen wie auf einen gelingenden Dialog mit Sabine. Ein Seitenblick auf Walsers 1985 erschienenen Roman Brandung, der die Geschichte Helmut Halms fortführt115, gibt eher den Skepti108 Rath: Die Novelle, S. 319. – Wegen verschiedener Detailfehler in der ersten Auflage (so wird dort

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z.B. konsequent vom Ehepaar ›Harms‹ gesprochen statt vom Ehepaar Halm und der falsche Name auch noch figurenpsychologisch gedeutet, vgl. ebd. S. 316) ist hier besonders nachdrücklich auf die zweite Auflage von Raths Überblicksdarstellung zu verweisen, in der diese Mängel behoben sind. Dierks: »Nur durch Zustimmung kommst du weg«, S. 53. Friedrich K. Blocher: Identitätserfahrung. Literarische Beiträge von Goethe bis zu Walser. Köln 1984, S. 95. Siegfried Weing: Kierkegaardian Reflections in Martin Walser’s Ein fliehendes Pferd. In: Colloquia Germanica 25 (1992), S. 275-288, hier S. 286. Rachel Freudenburg: Männliche Freundschaftsbilder in der neueren Literatur. In: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Hg. v. Walter Erhart und Britta Herrmann. Stuttgart, Weimar 1997, S. 271-291, hier S. 283. Wiethölter: ›Otto‹, S. 258. Schote: Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd, S. 60. Vgl. Martin Walser: Brandung. Roman. In: Ders.: Seelenarbeit/Ein fliehendes Pferd/Brandung/ Dorle und Wolf. Hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung v. Frank Barsch. Frankfurt/M. 1997 (= Werke in zwölf Bänden, 5), S. 359-665.

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kern Recht – das ambivalente Verhältnis der Ehepartner scheint sich kaum verändert zu haben, und Halm bleibt seinen eskapistischen Lebensstrategien im Wesentlichen treu.116 Dorle und Wolf (1987) Knapp zehn Jahre nach Ein fliehendes Pferd legte Martin Walser mit Dorle und Wolf einen zweiten Text vor, der ausdrücklich als ›Novelle‹ – diesmal als Eine Novelle – bezeichnet wurde; die Erfahrungen, die er nun mit Presse und Kritik machte, waren jedoch vollständig andere. Während sich die meist positiven Rezensionen der ersten Walser-Novelle ausführlich mit der Gattungszugehörigkeit des Textes beschäftigt hatten, spielte diese in den überwiegend negativen Kritiken von Dorle und Wolf kaum eine Rolle.117 Das hängt zum Teil damit zusammen, dass Dorle und Wolf in der Bundesrepublik sehr stark nach inhaltlich-politischen Kriterien, weniger nach ästhetischstrukturellen beurteilt wurde; sich mit der traditionsgesättigten Gattungsbezeichnung in Bezug auf eine unmittelbar politische Thematik auseinanderzusetzen, schien vielen Rezensenten fast ebenso suspekt wie Ende der zwanziger Jahre, als Bruno Frank mit seiner Politischen Novelle ähnliche Irritationen hervorgerufen hatte. Mehrfach hat die Forschung darauf hingewiesen, wie viel freundlicher die amerikanische Rezeption des Textes ausgefallen ist: Jenseits des Atlantik stand man dem Thema der deutschen Teilung offenbar vorbehaltloser gegenüber und verzichtete weitgehend darauf, die Bewertung des literarischen Werks ausschließlich aus der Frage abzuleiten, wie glaubwürdig, realistisch und politisch korrekt sich Walser mit dem schwierigen Sujet auseinandergesetzt habe.118 Die bundesdeutsche Rezeption von Dorle und Wolf dagegen illustriert in erster Linie, wie sehr das Sprechen von der Wiedervereinigung gegen Ende der achtziger Jahre als »anrüchig, geschichtsvergessen und revanchistisch«119 galt; die geringe Bereitschaft, sich auf das literarisch verarbeitete Leiden an der deutschen Teilung einzulassen, bestätigt den in der Novelle geäußerten Befund, man habe sich »in den beiden deutschen Fragmenten komfortabel eingerichtet«120, lebe »in einem Teil, als wäre es das Ganze«121, pflege allenfalls noch das »offizielle Lippengebet« und die »Verfassungsheuchelei«, ohne dass es eine »Vorstellbarkeit« oder auch nur ein »bißchen Bedürfnis«122 nach einer deutschen Vereinigung gebe. 116 Vgl. Engler: Identitäts- und Rollenproblematik, bes. S. 187-190 und 208-213. 117 Vgl. Doane: Martin Walsers Novellen, S. 92. 118 Vgl. dazu am ausführlichsten Alexander Mathäs: Dorle und Wolf diesseits und jenseits des Atlantik.

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Zur Rezeption der deutsch-deutschen Novelle in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik. In: Colloquia Germanica 26 (1993), S. 337-355. Engler: Identitäts- und Rollenproblematik, S. 227. Martin Walser: Dorle und Wolf. Eine Novelle. In: Ders.: Seelenarbeit/Ein fliehendes Pferd/Brandung/Dorle und Wolf. Hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung v. Frank Barsch. Frankfurt/M. 1997 (= Werke in zwölf Bänden, 5), S. 667-788, hier S. 778. Ebd., S. 788. Ebd., S. 769.

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Gegen das realpolitische und pragmatische Arrangement mit dem Status quo setzt Walser einen Protagonisten, den das Leiden an der politischen Situation bis in körperliche Reaktionen hinein umtreibt: Wolf Zieger spioniert seit 15 Jahren für die DDR – nach eigener Aussage, »um an der Verminderung des Vorsprungs westlicher Militärtechnik mitzuarbeiten«123 und in gewisser Weise zur Überbrückung der deutschen Teilung beizutragen. Verheiratet ist er mit Dorle, einer Sekretärin im Verteidigungsministerium, die ihn aus Liebe unterstützt. Wie sehr sich der Zustand der Teilung in Wolfs Wahrnehmung spiegelt, zeigt sich etwa, wenn er in Bonn aus dem Zug steigt: Die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in ihrer Kompaktheit, Adrettheit, Gepflegtheit, Zielgerichtetheit kamen ihm plötzlich vor wie halbe Menschen. Lauter Halbierte strebten da hin und her. Die anderen Hälften liefen in Leipzig hin und her. […] Alle leuchteten vor Gelungenheit, aber keiner schien zufrieden zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde, fragte man ihn, sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdener Teil, seine mecklenburgische Erstreckung, seine thüringische Tiefe. Aber sie sind wie verloren in ein Extrem. Und die drüben sind verrannt ins andere Extrem.124

Was er an seinen Mitmenschen zu erkennen glaubt, gilt erst recht für Wolfs Selbstsicht: Er fühlt sich innerlich geteilt und reiht sich so, trotz der politisch spezifischeren Motivierung, in die Reihe der zerrissenen Walserschen Helden ein. »Der, der er ist, darf er nicht sein und der, der er sein darf, ist er nicht. Also ist er niemand«125; die Gefahr der Identitätsdiffusion und Persönlichkeitsspaltung droht. Am eigenen Körper erlebt er sie in seinem Klavierspiel; der begabte Pianist spielt »immer nur mit einer Hand«, »zuerst die linke, dann die rechte Hand der Noveletten von Schumann«126 – das einhändige Klavierspiel zieht sich als Leitmotiv durch den Text127 und symbolisiert das leib-haftig empfundene Gefühl der Teilung. Hinzu kommt seine Position zwischen der geliebten und überhöhten Ehefrau einerseits und der vor allem körperlich begehrten, aber verachteten Geliebten Sylvia Wellershoff andererseits; es ist nicht zuletzt eine auffällige Sexual- und Ehemetaphorik, über die Walsers Novelle den Kurzschluß zwischen Privatem und Öffentlichem«128 zu leisten versucht. Die Spionagetätigkeit, als Möglichkeit des Ausgleichs intendiert, verstärkt letztlich Wolfs Zerrissenheit; am Ende stellt sich Wolf den Behörden (die ihn allerdings längst im Visier hatten) und wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ähnlich wie in Ein fliehendes Pferd verspürt der Protagonist ein finales Mitteilungsbedürfnis gegenüber der Partnerin; Wolf wird seine Geschichte nicht mündlich erzählen können, aber er will ihr schreiben: »Er würde ihr sein Leben erzählen. Zum ersten Mal. […] Er muß123 124 125 126 127 128

Ebd., S. 763. Ebd., S. 703. Ebd., S. 701. Ebd., S. 685. Vgl. ebd., S. 685, 689, 723, 743. Helmut Peitsch: Vom Preis nationaler Identität. Dorle und Wolf. In: Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten. Hg. v. Heike Doane und Gertrud Bauer-Pickar. München 1995, S. 171-188, hier S. 179.

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te sofort an Dorle schreiben. Jetzt. Liebes Dorle, schrieb er, und schon bei dieser einfachen Anrede hatte er das Gefühl, als starte er, als hebe er ab und werde lange nicht mehr landen«.129 Das narzisstische Element dieser Lebensbeschreibung tritt hier stärker hervor als bei Helmut Halm und impliziert auch eine Größenphantasie, in die Dorle mit hineingezwungen wird: »Dorle und Wolf, das soll eine Beziehung werden, wie sie zwischen Menschen noch nicht dagewesen ist. So hoch muß er zielen«.130 Indem es Walser jedoch gelingt, die Persönlichkeitsstruktur seines Helden überzeugend mit der Thematik von Teilung und Trennung zu verbinden, legt er einen Text vor, dessen Dichte und Konzentriertheit es keineswegs überraschend erscheinen lassen, dass er die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ trägt, von der Martin Walser danach erst wieder in seinem Spätwerk Gebrauch machen sollte.131

1.2. Bodo Kirchhoff (geb. 1948) Mehr als zwanzig Jahre ist Bodo Kirchhoff jünger als Martin Walser – eine Begegnung zwischen beiden hat trotzdem schon früh stattgefunden. Als Walser und Kirchhoff im Jahr 2002 fast gleichzeitig ein Buch vorlegten, in dem es um die (tatsächliche oder vermeintliche) Tötung eines Kritikers geht132, erinnerte sich der Jüngere an dieses erste Treffen – nicht ohne sich vom Repräsentanten einer anderen Generation deutlich abzusetzen: Ich bin Walser zum ersten Mal mit 16 begegnet. Damals gab ich in einem Internat am Bodensee die Schülerzeitung heraus und interviewte den Autor mit einem Freund in Friedrichshafen. Unsere frühen Helden hießen Sartre, Camus und Malcolm X, Trotzki und Joseph Roth, aber Benn fanden wir auch gut; und Martin Walser zählte für mich zur Speerspitze der jungen deutschen Literatur, zu denen, die mir die Augen geöffnet hatten über die Zeit unserer Väter, für mich war er ebenso Antifaschist wie Peter Weiss oder Hochhuth. […] Walser empfing uns auf einer Art Malerleiter, auf den unteren Sprossen die Fahnen eines Buchs; er hockte dort oben und erklärte die Welt, ein Mann mit betörender Aussprache, an der Grenze zum Sprechgesang, immer irgendwie vortragend, schon damals – viel jünger, als ich es heute bin – ein Staatsschauspieler und Gelehrter der Schriftstellerei, mit Ende 30 schon älter, als ich es je sein werde.133

Ob sich diese frühe Begegnung auf Kirchhoffs Schreiben ausgewirkt hat, sei dahingestellt. Wenn es aber tatsächlich so gewesen sein sollte, dass der Suhrkamp-Verlag Ende der siebziger Jahre die Werbewirksamkeit des Gattungsbegriffs ›Novelle‹ neu entdeckt hat, dann wäre Bodo Kirchhoff zumindest der erste gewesen, der nach WalWalser: Dorle und Wolf, S. 785, 788. Ebd., S. 788. Vgl. Marin Walser: Mein Jenseits. Novelle. Berlin 2010. Vgl. Martin Walser: Tod eines Kritikers. Frankfurt/M. 2002; Bodo Kirchhoff: Schundroman. Frankfurt/M. 2002. 133 Bodo Kirchhoff: Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. In: Der Spiegel, Nr. 24/2002, S. 206-210, hier S. 206. 129 130 131 132

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sers Ein fliehendes Pferd in den Genuss dieser Entwicklung gekommen wäre. Sein Debüt bei dem Verlag, »aus dem die neue Literatur hervorging«134, erfolgte 1979 mit der Novelle Ohne Eifer, ohne Zorn. Ohne Eifer, ohne Zorn (1979) Im Mittelpunkt dieses Textes steht eine Figur, die unter dem Pseudonym ›Branzger‹ »blasse, psychologische Artikel«135 für verschiedene Fachzeitschriften verfasst; den tatsächlichen Namen des Protagonisten erfährt der Leser nicht.136 Branzger lebt in Frankfurt weitgehend isoliert, sein Tagesablauf ist wenig spektakulär: »Wenn doch etwas Bahnbrechendes geschähe –«137, wünscht er sich einmal. Kurz darauf entdeckt er die Leiche eines alten Nachbarn; statt gleich die Polizei zu informieren, beobachtet er über Tage hinweg den Verwesungsprozess durch die Balkontür der Nachbarswohnung. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung hat Kirchhoff rund 15 Jahre später von dem realen Erlebnis berichtet, das diesem Motiv zugrunde lag. Es gab ein Vorbild für den Nachbarn, der Autor hat dessen »Kadaver« gesehen, den Anblick als »unvergeßlich« empfunden: Und mit diesem Bild, mit dieser Idee, schrieb ich in den folgenden Wochen, den Tod anerkennend und verleugnend zugleich, eine Novelle, ›Ohne Eifer ohne Zorn‹; kein besonders heiteres Buch, das ein beherzter Verleger in sein Programm nahm. Knapp tausend Exemplare wurden verkauft, in ›Der Zeit‹ hieß es, wenigstens der Tag, an dem man die Novelle gelesen habe, sei einem verdorben, ein Debüt zum Fürchten nannte es der Rezensent, und vielleicht ist es das auch; ich selbst habe mich beim Schreiben gefürchtet […].138

Der verstorbene »Wandnachbar Zoltan Fodor, achtzigjähriger Ungar im Exil«, ist damit jedenfalls zum wichtigsten »Geburtshelfer«139 des Schriftstellers Bodo Kirchhoff geworden. Der tote Körper bildet, um einen traditionellen Topos der Novellentheorie zu verwenden, die ›Silhouette‹ eines Textes, der immer wieder um die möglichst emotionslose Protokollierung körperlicher Vorgänge kreist. Damit verfolgt Kirchhoff schon in seiner ersten Novelle sein Ideal eines »körperbezogenen Schrei134 Ders.: Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1995, S. 33. 135 Bodo Kirchhoff: Ohne Eifer, ohne Zorn. Novelle. Frankfurt/M. 1979, S. 9. 136 Eine Figur mit dem Namen ›Branzger‹, der in der frühkindlichen Erinnerung des Autors eine Rolle

spielt (vgl. Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper, S. 16 und S. 39), taucht in fast allen Texten Kirchhoffs auf, u.a. in Der Sandmann (Frankfurt /M. 1992), in Parlando (Frankfurt/M. 2001) im Schundroman und ganz am Rande auch in der Mexikanischen Novelle (Bodo Kirchhoff: Mexikanische Novelle. Frankfurt/M. 1984, S. 135). Nicole Masanek hat die Figur in ihrer lacanistisch inspirierten Interpretation als »symbolisches Gegenüber« des Autors Bodo Kirchhoff gedeutet, vgl. Nicole Masanek: Männliches und weibliches Schreiben? Zur Konstruktion und Subversion in der Literatur. Würzburg 2005 (= Epistemata, 521), S. 244. 137 Kirchhoff: Ohne Eifer, ohne Zorn, S. 37. 138 Ders.: Legenden um den eigenen Körper, S. 39f. – Die zitierte Rezension stammt von Benjamin Henrichs: Die Reise von Frankfurt nach Sodom. In: Die Zeit, 12.10.1979. 139 Ebd., S. 39.

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ben[s]«140: Intendiert ist ein Beobachterstandpunkt »am Rande des Geschehens«141, von dem aus sich auch tabuisierte und abstoßende Themen ›ohne Eifer, ohne Zorn‹142 ansprechen lassen – Verwesungs- und Verdauungsvorgänge, sexuelle Obsessionen und polymorphe Perversionen mit eingeschlossen. Die exakte Beobachtung des Körpers erweist sich, ähnlich wie in den Texten Jean Genets oder Hubert Fichtes, als »Versuch, die Geschichte einer Realität, in der Lust und Schmerz eine Rolle spielen, in ihrer Verborgenheit zu erfassen«.143 (Vermeintliche) Redundanzen nimmt Kirchhoff dabei ebenso in Kauf wie die Tatsache, dass seine Protagonisten nur sehr bedingt als Identifikationsfiguren fungieren. Offenbar um entsprechenden Leseerwartungen vorzubeugen, heißt es im Klappentext des Debütwerks, Ohne Eifer, ohne Zorn umschreibe »bedeutungslose Vorgänge« aus dem Leben eines »nichtangenehmen Zeitgenossen«; dass der Text trotzdem als Provokation empfunden wurde, belegt etwa eine Spiegel-Rezension, in der Kirchhoff als »Fäkal-Autor« bezeichnet wird, der »eine Welt aus Kot, Ekel und Selbstverliebtheit« beschwöre.144 Bei alledem enthält Kirchhoffs erste Novelle – neben Spuren intensiver LacanRezeption145 – zahlreiche »Motive, Gegenstände, ja ganze Sätze«146, die auch in seinen früheren und in seinen späteren Texten auftauchen. Zu den schon im Prosadebüt versammelten Lieblingsmotiven gehören etwa »das Asoziale des Sexuellen«147, das Scheitern von Kommunikation, der Aufbruchsimpuls und die Autoreflexion des Reiseschriftstellers sowie die narzisstisch motivierte Selbstbeobachtung des Bodybuilders (den Kirchhoff wohl als erster literaturfähig gemacht hat).148 In späteren Texten werden diese Motive allerdings oft überzeugender miteinander verbunden, als das in Ohne Eifer, ohne Zorn der Fall ist.

140 Ebd., S. 64. 141 Ebd. 142 Der Titel rekurriert auf die zum geflügelten Wort gewordene Formel »sine ira et studio« aus den

Annales des römischen Historikers Tacitus. 143 Claude Foucart: Körper und Literatur. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen

1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern, Stuttgart, Wien 1997, S. 655-671, hier S. 656.

144 Anonym: Narziß und Onan. In: Der Spiegel Nr. 45/1979, S. 232-235, hier S. 235, 232. 145 Auf Lacan beruht Kirchhoffs Dissertation: Vom Wider-Stand zur Wider-Rede. Ergänzungen zu

psychoanalytischen Theorien zur Kategorie des ›Widerstandes‹ am Beispiel teilnehmender Beobachtung eines auf heilpädagogische Praxis mit sozial Benachteiligten bezogenen, psychoanalytischen Gruppenverfahrens. Hamburg 1978; vgl. dazu besonders Masanek: Männliches und weibliches Schreiben?, S. 233-276. 146 Siegfried Steinmann: Bodo Kirchhoff. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), 74. Nlg., S. 2. 147 Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper, S. 81. 148 Vor allem in seinem zweiten Drama Body-Building, das Kirchhoff 1980 zusammen mit einem gleichnamigen Essay über Körper und Schrift veröffentlichte. Vgl. ders.: Body-Building. Erzählung, Schauspiel, Essay. Frankfurt/M. 1980 (= edition suhrkamp, 1005).

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Mexikanische Novelle (1984) Im Vergleich zum ersten Gattungsbeitrag ihres Autors weist die 1984 veröffentlichte Mexikanische Novelle ein deutlich größeres Maß an äußerer Handlung auf. Die Bezeichnung ›Novelle‹, im Erzähldebüt nur paratextueller Zusatz, steht nun schon im Haupttitel; das Adjektiv ›mexikanisch‹ verweist einerseits auf den Handlungsort, darüber hinaus aber auch auf den »Modus« der Handlung: »Was dem Icherzähler aus dem fernen Breisgau zustößt, geschieht auf eine Weise, die eben ›mexikanisch‹ ist. Mexikanisch wird der Code der Novelle sein, ein Code, den nicht zu kennen oder nicht zu befolgen gleichermaßen tödliche Folgen haben kann«.149 Wenn dem Genre der Novelle gelegentlich eine besondere Nähe zum Reisebericht, eine Affinität zum Exotischen und zur Schilderung spektakulärer Ereignisse in der Fremde attestiert worden ist150, so kann Kirchhoffs Mexikanische Novelle das nur bestätigen. Armin, der vierunddreißigjährige Ich-Erzähler der Mexikanischen Novelle, hat als freier Mitarbeiter einer Breisgauer Provinzzeitung deutsche Luftwaffeneinheiten in Arizona besucht. Danach reist er ins nahe Mexiko, um den zehn Jahre jüngeren Leutnant Ritzi als typischen modernen Soldaten zu porträtieren. Während der Arbeit beginnt er eine Affäre mit einer Mexikanerin, die ›Baby Ophelia‹ genannt wird und deren Bruder Emiliano das Hotel besitzt, in dem der Ich-Erzähler wohnt. Emiliano schickt Baby Ophelia fort, Armin folgt ihr in die Küstenstadt Acatlán. Emiliano will Rache an dem heiratsunwilligen Verführer nehmen. »Aus Zufälligkeiten, die alles in Gang gebracht haben, werden jetzt Zwangsläufigkeiten«, heißt es im Klappentext: »Sie führen zu einer Katastrophe, aus der der Erzähler lebend hervorgeht«. Denn Emilios Mordanschlag fällt versehentlich Leutnant Ritzi zum Opfer, der seinerseits, von Armin auch erotisch fasziniert, dessen Nähe gesucht hatte. Zu Unrecht des Mordes an Ritzi angeklagt und verurteilt, findet sich Armin in einer mexikanischen Gefängniszelle wieder; dort trifft er auf den vierzehnjährigen Einheimischen Raoul, der ihm zuvor schon mehrfach über den Weg gelaufen war. Mit einem Sexualakt und dem zeitenthobenen Gefühl, »in ein anderes Leben«151 zu gleiten, endet die Novelle. Wie stark die von Kirchhoff in den Haupttitel aufgenommene Gattungsbezeichnung die literaturkritische Rezeption des Textes bei seinem ersten Erscheinen geprägt hat, ist an nahezu allen Rezensionen der Mexikanischen Novelle nachzuweisen; wie stereotyp diese Bezugnahmen ausfallen können, ist gleichfalls offensichtlich. Am relativ präzisesten versucht noch Klara Obermüller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das ›Novellistische‹ des Textes zu erfassen: »Die Bezeichnung ›Novelle‹ im Titel ist kein Zufall. Was Kirchhoff interessiert, ist die unerhörte Begebenheit: die Geschichte aus 149 Raimar Zons: Lieben und Schreiben. Bodo Kirchhoff: Mexikanische Novelle (1984). In: Winfried

Freund (Hg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 301-312, hier S. 301. 150 Vgl. Goyet: La nouvelle, bes. S. 91-130, sowie die ausführliche Rezension des Buchs von Peter Por: Über den »exotischen« Charakter der Novelle. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 45 (1995), S. 233-238. 151 Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 175.

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blindem Zufall und eherner Notwendigkeit, in deren Verlauf ein Menschenleben vernichtet und ein anderes aus der Bahn geworfen wird«.152 Die meisten anderen Rezensionen belassen es beim Zitat der ›unerhörten Begebenheit‹, ohne das kaum ein Kritiker auskommt. So wendet sich die Frankfurter Rundschau zwar gegen Kirchhoffs angeblich »glücklose Liebe zur Vollkommenheit der Form«, stellt aber umso deutlicher den Bezug zur »Gattungstradition der Novelle« und deren »goethischer Definition« her153; die Neue Zürcher Zeitung hebt positiv hervor, die Novelle sei um ihre ›unerhörte Begebenheit‹ herum »mit eindrucksvoller, nahezu klassischer formaler Strenge komponiert«.154 Der Berliner Tagesspiegel präsentiert den Autor als »Freund unerhörter Begebenheiten«155, Der Landbote sieht den Text »getreu nach Goethes Gattungsdefinition« verfasst.156 Im Wiesbadener Kurier heißt es, die Mexikanische Novelle werde »allemal […] der klassischen Forderung für dieses Genre, eine ›unerhörte Begebenheit‹ zu schildern, gerecht«157, und der Tages-Anzeiger bestätigt, dass hier »tatsächlich ›Unerhörtes‹ berichtet werde, »wie es das Gesetz der Gattung verlangt«.158 Wo der eine Kritiker fragt: »Erzählt die Novelle, als die sich der Text im Titel zu erkennen gibt, jene ›unerhörte Begebenheit‹, die nicht nur Goethe einmal von dieser literarischen Gattung verlangte?«159, postuliert der andere von vornherein: »Natürlich gehört zu einer richtigen Novelle die ›unerhörte Begebenheit‹ und auch Kirchhoff enthält sie seinen Lesern nicht vor«.160 Gemeint sind jeweils die auf einem Irrtum beruhende Ermordung Ritzis und die fälschliche Verurteilung Armins; wenn gegen Ende des Textes vom »Tragische[n]«161 die Rede ist, vom »Verhängnis«162 und vom »Schicksal«163, werden weitere traditionelle Kategorien der klassischen Novellistik aufgerufen. Darüber hinaus sehen sich viele Kritiker durch das Spektakuläre der geschilderten Vorgänge motiviert, Kirchhoffs Text nicht nur den »wohlkonstruiertesten Kriminalnovellen der deutschen Gegenwartsliteratur«164 zuzurechnen, sondern auch Bezüge zu anderen Gattungen herzustellen, in denen das Spannungsmoment eine zentrale Rolle spielt – das Spektrum 152 Klara Obermüller: Da macht sich einer aus dem Staub. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,

31.8.1984.

153 Klaus-Michael Hinz: Der Muskelmann hüstelt. In: Frankfurter Rundschau, 27.10.1984. 154 Gunhild Kübler: Kaltblütig unter stechender Sonne. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.11.1984. 155 Jan Schulz-Ojala: Hier gibt es kein Entrinnen. Ein neues Bravourstück des Erzählers Bodo Kirch-

hoff. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 30.9.1984.

156 Heinz Stierli: Selber leben statt Leuten beim Leben zuschauen. Bodo Kirchhoffs Mexikanische Novel-

le: Wiedergeburt im Gefängnis. In: Der Landbote, 9.2.1985. 157 Anton J. Weinberger: Zuschauer des Lebens. ›Krisenmanagement‹ des Individuums. In: Wiesbade158 159 160 161 162 163 164

ner Kurier, 3.1.1985. Peter Meier: Wie ein Voyeur zum Betroffenen wird. In: Tages-Anzeiger, 22.10.1984. Schulz-Ojala: Hier gibt es kein Entrinnen. Lutz Tantow: Gefährlicher Urlaub. In: Saarbrücker Zeitung, 2./3.11.1984. Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 134. Ebd., S. 143. Ebd., S. 170. Lutz Tantow: Deutsche Flieger in Texas. Bodo Kirchhoffs Mexiko-Novelle: Fast ein Thriller. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 22.6.1985.

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reicht vom attestierten »Drehbuch-Charakter«165 über den »Thriller«166 oder »Shortthriller«167, die »Kolportage« und das »Melodram«168 bis hin zum »Jerry-CottonHeft«.169 Das Gestaltungsprinzip, mit Versatzstücken der Trivialliteratur ein bewusstes Spiel zu treiben, hat Kirchhoff sehr viel später in seinem Schundroman auf die Spitze getrieben, doch schon in der Mexikanischen Novelle ist es durchaus präsent. Der Ich-Erzähler ist die am stärksten profilierte Figur der Mexikanischen Novelle; trotzdem haben die übrigen Figuren mehr Gewicht, als etwa in dem zwar in ErPerspektive erzählten, aber ganz auf Branzger konzentrierten Debütwerk Ohne Eifer, ohne Zorn. Das mag wenigstens partiell zusammenhängen mit der beruflichen Spezialität des Ich-Erzählers, den sein Chefredakteur vor allem schätzt für seine Beiträge zur Rubrik ›Porträt der Woche‹: »Er fand sie psychologisch, aber klar«.170 Es passt allerdings zu der tiefen Ironie, mit der das provinzielle Zeitungsmilieu samt Chefredakteur Übelacker betrachtet wird, dass Armin diesem Lob nicht gerecht werden kann: Obwohl er seinen Ehrgeiz ins Beobachten und ›Porträtieren‹ setzt, führen ihm die mexikanischen Erlebnisse in drastischer Weise vor Augen, dass Beobachten keineswegs gleichbedeutend ist mit Verstehen.171 Die Reflexion des Schreibprozesses zieht sich durch den gesamten Text. Im vierten Kapitel, als Armin noch weitgehend im Einklang mit sich ist, bekennt er, den Leuten schon immer »gern beim Leben zugesehen« zu haben: »Ich hatte mich dann oft gefragt, was mich von ihnen unterschied, und war so in Kontakt geblieben mit mir; meine Porträts waren auch ein Weg, um mich von Zeit zu Zeit ins Spiel zu bringen«.172 Beobachtung und Selbstbeobachtung, Porträt und Selbstporträt sind miteinander verzahnt, über das Leben anderer zu schreiben, wird zum Surrogat eigenen Erlebens. Ritzi bezeichnet Armin einmal als »Verwender«173, der alles und alle im Schreibprozess verdingliche, aber letztlich »dumm«174 bleibe; Armin scheint diese Ansicht zu bestätigen, wenn er beispielsweise den »wunden Punkt« Ritzis nicht aus Interesse oder Empathie erfahren will, sondern nur, um ihn »zum Titel«175 seines Porträts machen zu können. Ritzis letzte Worte, an Armin gerichtet, lauten »Schreib 165 Roland Groß: Spannend und anregend widersprüchlich. Bodo Kirchhoffs neues Buch Mexikanische

Novelle. In: General-Anzeiger, 1.11.1984. 166 Simone Guski: Aus dem Frankfurter Milieu nach Mexiko. In: Die Welt, 21.07.1984. 167 Günther Schloz: Juchten und Moschus. Bodo Kirchhoff: Mexikanische Novelle. In: Süddeutsche 168 169 170 171

172 173 174 175

Zeitung, 14.12.1984. Meier: Wie ein Voyeur zum Betroffenen wird. Hinz: Der Muskelmann hüstelt. Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 8. Auf Berührungspunkte zwischen Armins literarischer Arbeit und tatsächlichen Artikeln des Autors Bodo Kirchhoff hat Lutz Tantow aufmerksam gemacht: So schrieb Kirchhoff Anfang der achtziger Jahre einige Reisefeuilletons für die Zeitschrift TransAtlantik, darunter auch eines unter dem Titel Bundeswehr über Texas (vgl. Tantow: Deutsche Flieger in Texas). Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 42. Ebd., S. 117. Ebd., S. 121. Ebd., S. 120.

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schön« und »Bleib leben«176, doch nur einer dieser Aufforderungen kann der IchErzähler nachkommen – er wird überleben, aber im Gefängnis nur Erleichterung darüber verspüren, »nicht mehr schreiben zu können«.177 Die Abscheu vor dem Schreiben resultiert dabei nicht nur aus Schuldgefühlen gegenüber Ritzi, sondern vor allem aus der Erfahrung des juristischen Vernommen-Werdens; Armin erkennt eine Analogie zwischen seiner eigenen Schreibtechnik und der Hypothesenbildung seiner Ankläger: »Ich kannte die Ordnung des Inhalts, ich kannte das Gedankengerippe. Es war genau die Art, in der ich selber vorging. Ich ging so zu Werke wie er […]. Ich war Major Greve, ich sah mich da sitzen; neben seinen Blättern lag mein Notizbuch. Es lag im Kreise der Verwender«.178 Die selbstkritische Einsicht in die eigene Verwendermentalität umfasst zugleich die skeptische Erkenntnis, dass über diese Form der Informationsverarbeitung keinerlei Annäherung an ›die Wahrheit‹ erfolgt, sondern allenfalls ein in sich widerspruchsarmes, den Intentionen des ›Verwenders‹, aber nicht dem Gegenstand der Beobachtung gerecht werdendes Sprachgebäude entsteht. Auf der letzten Seite des Textes fühlt der Ich-Erzähler in den Armen Raouls sein »lebenslanges formloses Selbstgespräch«179 zu Ende gehen; die innere Lösung von allen Schreib-Ambitionen wird parallel geführt mit dem »Ausstieg aus der heterosexuellen Matrix«.180 Damit unterstreicht die Schlussszene zugleich die Bedeutung des GenderDiskurses, wie er in der Mexikanischen Novelle von Anfang an und in engster Verknüpfung mit der Reflexion des Schreibprozesses geführt wird. Dieser Gender-Diskurs verläuft auf zwei Ebenen: Auf der ersten wird in geradezu plakativer Art und Weise traditionelle ›Männlichkeit‹ inszeniert – die betont selbstverständlich eingegangene Affäre mit der als Sexobjekt gesehenen Mexikanerin, alle Szenen mit dem klischeehaften Macho Emiliano und die sich nüchtern-analytisch gebende, ›männlich‹ konnotierte Beobachtungshaltung Armins gehören auf diese Ebene. Wer Kirchhoff in die Tradition Hemingways und anderer »Männerheldendarsteller« stellen und ihm die Produktion von »Männerkitsch«181 vorwerfen will, muss die zweite Ebene des Textes ignorieren; auf dieser wird der dichotome, auf einer strikten und naturalisierten Trennung von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ basierende Geschlechterdiskurs beständig irritiert und unterlaufen. So erhält Armin etwa von einem Offizierskollegen Ritzis die Empfehlung, ein bestimmtes Haus aufzusuchen, wenn er »was Schönes«182 sehen wolle; er tut es und trifft auf einen Transvestiten. Wenig später begegnet Armin zum ersten Mal Raoul, durch dessen Mund er sich »an die Lippen der unechten Ebd., S. 131. Ebd., S. 172. Ebd., S. 165f. Ebd., S. 175. Raliza Ivanova: Der Ausstieg aus der heterosexuellen Matrix – ein neuer kultureller Mythos? In: Mythos – Geschlechterbeziehungen – Literatur. Hg. v. Pavel Pitkov. Sofia 2000 (= Germanica, 7), S. 255-262. 181 Schloz: Juchten und Moschus. 182 Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 29. 176 177 178 179 180

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Frau«183 erinnert fühlt. Ritzi, von dem der Ich-Erzähler (ohne die tiefere Wahrheit der Analogie zu realisieren) annimmt, er sei ihm »in einer Laune nachgereist, so wie ich Baby Ophelia ohne zu überlegen gefolgt war«184, weckt Erinnerungen an eine frühere Lebenspartnerin: »In der Art, wie er dalag und schlief, glich er einer Frau wie Marlies«.185 Geradezu sinnbildhaft inszeniert wird der ›Gender trouble‹ in einer Szene, in der Baby Ophelia den beiden Männern die Wimpern richtet: Schon kam die geöffnete Zange, schon verschwamm vor meinem Auge ihr Gestänge […]. Die Scheren schlossen sich, mir war, als werde das Auge geschält; mein anderes Auge war auf Ritzi gerichtet. […] Baby Ophelia wechselte hinüber und setzte wieder zügig an. Ich spürte das Zupfen, ich trommelte mit den Hacken aufs Bett, sie entließ mich. Auf meinen Lidern lag ein Kitzel. Ritzi sah mir in die Augen. Da ich annahm, daß er lachen würde, lachte ich vor ihm; und als er nicht einfiel, bog ich es ab in Geschnaufe. Baby Ophelia kniete sich jetzt zwischen uns hin. Sie spannte seine Wimpern ein, und er verdrehte das Auge, mehr nicht. Als sie dann fertig war mit ihm, hockte sie sich, und wir richteten uns schwerfällig auf. Sie sagte, daß wir uns nun beide anschauen sollten. Wir zögerten. Darauf legte sie uns je einen Arm um die Schulter und verdrehte uns, bis wir einander zugewandt waren. […] Seine hochgestellten Wimpern sahen so aus, als seien sie unecht. Ich dachte an die unechte Frau in Socorro. Und ich zwang mich, nicht zu klimpern, er offenbar auch.186

Die Wimpernzange ist das wichtigste Leitmotiv des Textes187 – wenn man so will: ihr ›Falke‹ – und durch ihre geschlechtsspezifische Konnotierung besonders geeignet, das inszenatorische Moment von Geschlechtsidentität bewusst zu machen. Zudem verbindet sich das kosmetische Instrument mit dem Thema des Auges, des Sehens, des Blicks. In seinen Poetikvorlesungen spricht Kirchhoff von der ›Ödipus-Arbeit‹ des Schriftstellers, dessen Erkenntnisprozess »das gegen sich selber rücksichtslose Enthüllen, bis zur Schälung des Augapfels« erfordere188 – Armins Gefühl, das Auge werde »geschält«, verweist damit auf die Subversion gewohnter Sehweisen, die aus der Irritation traditioneller Geschlechterrollen resultiert, und die Chance, auf diesem Weg einen literarischen Standpunkt »über dem Kleinlichen des eigenen Geschlechts«189 zu finden. Auch das zweite wichtige Leitmotiv der Mexikanischen Novelle ist vieldeutig, hat mit Körper und Schrift zu tun: Von draußen fiel das Licht einer Leuchtschrift ins Zimmer, ich hatte das noch gar nicht bemerkt. Vor allem war es der Buchstabe O, dessen Schein auf dem gekachelten Fußbo-

183 184 185 186 187 188 189

Ebd., S. 44. Ebd., S. 48. Ebd., S. 56. Ebd., S. 84f. Vgl. ebd., S. 18, 39, 65, 83, 87, 88. Ders.: Legenden um den eigenen Körper, S. 145. Ebd., S. 62.

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den lag; die leere Mitte des O wiederholte sich als dunkle Partie auf dem Bett. Ich sah, wie Ritzi sich auszog, bis auf eine helle, kurze Hose.190

Die Wahrnehmung des Leuchtbuchstabens erfolgt so in direkter Beziehung zu der von Ritzis Körper; später schreibt Armin »im Schein des O ein paar Stichworte«191 für sein Porträt auf. Der aus Literatur und Film bekannte Topos der widerscheinenden Leuchtschrift192 ist durch den gewählten Buchstaben in mehrerlei Hinsicht semantisch aufgeladen. Intratextuelle Bezüge zu Kirchhoffs übrigem Werk wären anzuführen; die biographische Bedeutung hat der Autor selbst referiert, wenn er sich daran erinnert, »als ersten, ordentlichen Buchstaben das O« kennen gelernt zu haben, das im kurzen Vornamen des Kindes gleich zweimal vorkam: »ein Buchstabe in Form eines leeren Versprechens, gleichgeformt wie das Zeichen für Nichts«.193 In Ohne Eifer, ohne Zorn ist der Buchstabe O insofern bedeutsam, als Branzger sich allein durch die zufällige Wahrnehmung des Ortsnamens Salò fast gezwungen sieht, an den Gardasee zu reisen, nur um dort zu erfahren, dass das Zeichen, das ihn so fasziniert hat, keinem Laut entspricht – »das O spielt keine Rolle«194, der Name wird ›Salau‹ ausgesprochen.195 Anhand solcher Beispiele ist unmittelbar nachzuvollziehen, dass Kirchhoff »die Spannungen zwischen Soma und Sema«196, zwischen Körper und Schrift, als das zentrale Thema seiner literarischen Arbeit betrachtet. Zu den intratextuellen Bezügen treten die intertextuellen; in der Kleist-Forschung etwa wurde intensiv diskutiert, warum die Marquise von O… gerade mit diesem Buchstaben bezeichnet ist und nicht zuletzt Susan Sontag hat darüber nachgedacht, welche Implikationen das ›O‹ in dem pornographischen Roman Histoire d’O von Pauline Reage (d.i. Anne Desclos) haben kann197 – bei einem lacanistisch versierten Autor wie Kirchhoff ist anzunehmen, dass solche Diskussionen in die literarische Arbeit mit einfließen. 190 Ders.: Mexikanische Novelle, S. 54. 191 Ebd., S. 72. 192 Um nur ein Beispiel zu nennen, das die Lebendigkeit des Topos auch nach der Mexikanischen Novelle

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belegt: In Paul Austers Moon Palace (New York 1989, dt. Übersetzung Mond über Manhattan. Reinbek 1990) spielen die beiden O in der Leuchtreklame des Hotels Moon Palace eine gar nicht zu überschätzende Rolle. Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper, S. 16. Ders.: Ohne Eifer, ohne Zorn, S. 74. Im Schundroman (dessen Showdown ebenfalls am Gardasee stattfindet) ist von dem früh verstorbenen Schriftsteller Branzger und seiner »Novelle von neunzehnhundertneunundsiebzig mit dem Titel Salò« die Rede (Kirchhoff: Schundroman, S. 67) – eine der zahlreichen Selbstreferenzen, die gerade dieses Werk aufweist. Ein Bezug zu Pier Paolo Pasolinis umstrittener de-Sade-Verfilmung Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975) ist darüber hinaus anzunehmen. – Zur Rolle des ›o‹ in Kirchhoffs Prosa vgl. auch Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Köln 1988, S. 98-112, bes. S. 106-109. Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper, S. 13. Vgl. die Zusammenfassung dieser Diskussionen bei Dirk Grathoff: Die Zeichen der Marquise: Das Schweigen, die Sprache und die Schriften. Drei Annäherungsversuche an eine komplexe Textstruktur. In: Ders. (Hg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1988, S. 204-229. – Im Schundroman wird die Geschichte der O. kurz erwähnt (vgl. Kirchhoff: Schundroman, S. 233).

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Als drittes und letztes Leitmotiv neben der Wimpernzange und der Leuchtschrift wären die regelmäßig von der Straße hereindringenden »Atia! Atia!«-Rufe zu benennen.198 Alle drei Motive untermalen insbesondere die sich anbahnende Beziehung zwischen Ritzi und Armin, die allerdings – trotz der unverkennbaren und beiderseitigen erotischen Attraktion199 – auf Gedanken, Andeutungen und wenige Berührungen beschränkt bleibt. Erst mit Raoul wird Armin aus der heterosexuellen Matrix aussteigen; wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass in die Schilderung Raouls eine ganze Reihe von Diskurselementen und Zuschreibungen einfließt, über die schon in Thomas Manns Der Tod in Venedig homoerotische Faszination gestaltet wurde200: Raoul ist im gleichen jugendlichen Alter wie Thomas Manns Tadzio, auch er spricht wenig, trägt einen klangvollen, vokalreichen Namen, fällt einem emotional verarmten, allein reisenden Deutschen durch seine Schönheit auf und verkörpert eine als fremd empfundene Kultur. Wenn in Bezug auf Thomas Manns Novelle gesagt wurde, dass Aschenbach »seine homoerotische Sehnsucht als eine koloniale Machtphantasie über den halbwüchsigen Knaben«201 manipuliere, so lässt sich dieser Befund mutatis mutandis auf die Mexikanische Novelle übertragen; auch die Verbindung von Reisesituation, (Homo-)Erotik und Tod, wie sie Thomas Mann in seiner »Lieblingsgottheit«202 Hermes und deren verschiedenen mythologischen Funktionen vom Schutzpatron der Reisenden bis zum Geleiter der Seelen in den Hades symbolisiert fand, ist bei Kirchhoff allgegenwärtig.203 Der 1996 angedeutete Plan des Autors, den Stoff der Mexikanischen Novelle für ein Drehbuch zu bearbeiten, aber dann einen älteren Helden 198 Vgl. Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 40, 73, 109, 130, 164. 199 Wie problematisch das Thema noch 1984 wirkte, bezeugen einige Rezensionen: Im Berliner Tages-

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spiegel heißt es, Ritzi reise Armin »einer jugendlichen Laune folgend, hinterher und die beiden Männer teilen sich kameradschaftlich ein Hotelzimmer« (Jan Schulz-Ojala: Hier gibt es kein Entrinnen); der Merkur betont, »das Verhältnis zwischen Leutnant Ritzi und dem Erzähler« sei »keineswegs sonderlich erotisch« (Willi Winkler: Die Erfahrung des unheimlich Anderen. In: Merkur 39 (1985), H. 6, S. 522-525, hier S. 523), und die Süddeutsche Zeitung nimmt, um nicht Befangenheit zu verraten, zur Flapsigkeit Zuflucht: »Der kecke Flieger fliegt auf Männer« (Günther Schloz: Juchten und Moschus). Im Folgenden greife ich Überlegungen aus einem eigenen Aufsatz auf, vgl. Sascha Kiefer: Konstruierte Männlichkeit und externalisierte Homosexualität in Reiseerzählungen von Thomas Mann (Der Tod in Venedig, 1912), Bodo Kirchhoff (Mexikanische Novelle, 1984) und Hans-Christoph Buch (Kain und Abel in Afrika, 2001). In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Bd. 10. Bern, Berlin, Bruxelles u.a. 2007 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 86), S. 37-42. Erhard Bahr: Imperialismuskritik und Orientalismus in Thomas Manns Tod in Venedig. In: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Wirklichkeit, Dichtung, Mythos. Hg. v. Frank Baron und Gert Sautermeister. Lübeck 2003, S. 1-16, hier S. 4. Thomas Mann an Karl Kerényi, 24.3.1934. In: Ders.: Reden und Aufsätze, 3. Frankfurt/M. 31974 (= Gesammelte Werke, 11), S. 632-635, hier S. 635. Zahlreiche Arbeiten Kirchhoffs bewegen sich an der Grenze zwischen Belletristik und Reiseliteratur, viele seiner Protagonisten sind unterwegs, oft in exotischen Ländern oder Krisenregionen. »Reisen macht empfindlich«, äußerte Kirchhoff in einem Interview und fügte hinzu, dass jede Reisegeschichte eine »verkappte Liebesgeschichte« sei (Ulrich Struve: Gespräch mit Bodo Kirchhoff. In: Deutsche Bücher 1996, H.1, S. 1-16, hier S. 7).

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»um die fünfzig«204 in den Mittelpunkt zu stellen, streicht die Analogie zum Tod in Venedig noch stärker heraus. Die Isolation im fremden Land – zuvor ist Armin »noch nie allein verreist«205 – ermöglicht das Aufkommen sexueller Neigungen, die Armin in der heimatlichen Umgebung nie verspürt zu haben scheint und die er auf den fremdartig-exotischen Raoul projiziert; die geographische Grenzüberschreitung wird zur Voraussetzung der erotischen. Ritzi dagegen erinnert an genau die Heimat, in deren Zeichen die heterosexuelle Matrix internalisiert worden ist: Beide Männer stammen nicht nur aus demselben Kulturkreis, sondern sogar aus »derselben Ecke«, dem Dreisamtal. Bei ihrer ersten Begegnung sprechen sie »über Wege […], die wir beide gut kannten«206, darunter den »Schulweg«207; sie haben »denselben Dialekt« und »beim Englischsprechen praktisch den gleichen Akzent«: »Ich hatte mich sprechen gehört, es war zum Verwechseln gewesen«.208 Gemeinsame kulturelle Prägungen, mit denen auch das Tabu der Homosexualität verbunden ist, lassen eine homosexuelle Beziehung zwischen Armin und Ritzi nicht zu; dass beide Männer sich während der gemeinsamen Zeit in Acatlán körperlich unwohl fühlen und hohes Fieber bekommen, entspricht der diskursiven Amalgamierung von Homosexualität und Krankheit, wie sie auch Thomas Mann im Tod in Venedig vorgenommen hat.209 Hinzu kommt das Täter-Opfer-Verhältnis, das sich zwischen Armin und Ritzi allein dadurch herausbildet, dass der Journalist den Offizier zum Gegenstand eines Porträts machen wollte. Im Anschluss an postmoderne und gendertheoretische Überlegungen etwa von Julia Kristeva und Elisabeth Bronfen210 ließe sich formulieren, dass Ritzis Körper in die Schrift Armins überführt wird; Ritzi erschiene damit als das traditionell ›weiblich‹ konnotierte Opfer ›männlicher‹ Selbstvertextung. Am Ende ist Armin zwar ein »Überlebender«, wie schon der Klappentext betont; doch was er als Übergang in »ein anderes Leben« empfindet, ist zumindest ambivalent zu beurteilen. Zwar spielen Sprache und Schrift in der Beziehung zu Raoul keine Rolle; zugleich aber ist die regressive, ins Körperliche verlegte Einheitsutopie der Schlussszene nur eine Variante des Ich-Verlusts, wie ihn der Apolliniker Gustav von Aschenbach als zerstörerisch-dionysische Verführung zum Tode wahrgenommen Ebd., S. 12. Ältere Pläne zur Verfilmung des Stoffs wurden nicht realisiert, vgl. ebd. S. 5. Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 48. Ebd., S. 17f. An der Parallelführung von Homosexualität und Krankheit im Tod in Venedig hat schon Kurt Hiller Anstoß genommen: »Thomas Mann, seine Technik in Ehren, gibt in diesem Stück ein Beispiel moralischer Enge […]. Die ungewohnte Liebe zu einem Knaben, die in einem Alternden seltsam aufspringt, wird da als Verfallssymptom diagnostiziert und wird geschildert fast wie die Cholera« (Kurt Hiller: Wo bleibt der homoerotische Roman? In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 14 [1914]; hier zit. nach Erhard Bahr: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1991 [= RUB 8188], S. 149f.) 210 Vgl. z.B. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Darmstadt 1994. 204 205 206 207 208 209

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hat. Auf seine Art ist Raoul, kaum weniger als Tadzio, ein Psychopompos. Armins »anderes Leben«, das um den Preis des Bewusstseins gewonnen wurde, kann man »auch ›Tod‹ nennen«.211 Wenn es die höhere Ironie von Manns Tod in Venedig ausmacht, dass die Botschaft von Krise und Untergang eines apollinischen Lebensentwurfs ausgerechnet in einer literarischen Form vermittelt wird, die stärker als bei den meisten anderen Texten Thomas Manns apollinisch-klassizistischen Stilidealen verpflichtet bleibt212, so ist ein ähnliches Paradox auch für den Schluss der Mexikanischen Novelle festzustellen: Die unio-mystische Körpererfahrung bleibt auf literarische Vermittlung angewiesen und wird aus der Perspektive eines ›Ich‹ geschildert, das der logisch-diskursiven Mitteilung abgeschworen zu haben behauptet. In seinen Poetikvorlesungen unterschiedet Kirchhoff zwischen den ›numerischen‹, in Sachbüchern zusammengefassten, ›männlichen‹ Wahrheiten und den fiktiven, fließenden, ›weiblichen‹ Wahrheiten der Literatur; Armins Übergang ›in ein anderes Leben‹ zählt zu denjenigen »kulturellen Repräsentationen, die nur übersetzbar sind in einer Performanz, eben der Performanz der Literatur, einem Doppelereignis: stattfindend einmal im Akt des Schreibens, des Ausschöpfens einer bestimmten inneren oder äußeren Szene, und zum anderen in dem des Lesens, des Ausschöpfens der fertigen, davon erzählenden Sätze«.213 Die »Spannungen zwischen Soma und Sema«214 bleiben unauflösbar; sie hartnäckig zu umkreisen, ist der zentrale Impuls von Bodo Kirchhoffs Schreiben. *** Verglichen mit der herausragenden Mexikanischen Novelle sind die jüngeren Gattungsbeiträge Kirchhoffs, Gegen die Laufrichtung (1993) und Der Prinzipal (2007), eher als Nebenwerke des Autors zu betrachten. Bezüge zur Gattungstradition sind freilich zu erkennen, etwa wenn die aktuelle wie die vergangene Situation des Protagonisten Jonas gleich im ersten, komplex strukturierten Satz von Gegen die Laufrichtung fokussiert werden: Der Entlassene, ein nicht mehr junger Mann von Anfang dreißig, begibt sich vom Gefängnis am Rande der Stadt zu einem Café im Zentrum, dem Ort, an dem sein Verbrechen geschah, als er nämlich einen Mann erstach, den die Frau, an die der Entlassene immer noch denkt, eine Ärztin, ihm, der ein bekannter Tennisspieler war, plötzlich vorgezogen hat.215

211 Zons: Lieben und Schreiben, S. 312. 212 Bruno Frank hat diese besondere Ironie des Textes wohl als erster erkannt, vgl. Bruno Frank:

Thomas Mann. Eine Betrachtung nach dem Tod in Venedig. In: Die neue Rundschau 24 (1913), S. 656-669, bes. S. 659. 213 Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper, S. 60f. 214 Ebd., S. 13. 215 Bodo Kirchhoff: Gegen die Laufrichtung. Frankfurt/M. 1993. Hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1995, S. 7.

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Das »Verbrechen aus Leidenschaft«216 reizt zur Literarisierung: Ein erfolgloser Autor bietet Jonas an, seine Geschichte in eine »Novelle« zu überführen.217 Diesem ist damit freilich nicht gedient; er bleibt auch nach der vorzeitigen Entlassung »ein Mensch, der aus der Bahn geworfen wurde«218, und der schließlich im Drogenmilieu endet. Der im Werbetext der Taschenbuchausgabe zitierte Kritiker Klaus Podak greift hoch, wenn er von einer Novelle spricht, »die mit kleistischer Unerbittlichkeit einen Kreis der Selbstzerstörung eröffnet und umschreibt«219; er trifft aber damit zumindest die kontrollierte und abgerundete Form, in der Kirchhoff hier das Ende eines Mannes schildert, über den »selbst die Geschichte des Tennis« (von allem anderen nicht zu reden) »wie eine Walze über ein Steinchen […] hinweggerollt«220 ist. Kirchhoffs vierte und bisher letzte ›Novelle‹ Der Prinzipal schließlich schildert einen Spätsommertag am Gardasee. Im Zentrum steht ein bekannter Wirtschaftsmanager und Politikberater, der an einen Wendepunkt seiner Karriere gelangt scheint: Über mehrere Jahre hinweg war sein Name mit einer Reformpolitik der »Kostendämpfung«221 verbunden. In Folge der »sogenannten Salsa-Affäre«222 werden ihm nun Bestechung und Untreue vorgeworfen, von schwarzen Kassen und einem Prostitutionsskandal ist die Rede; die Regierung rückt von ihm ab, ein Prozess steht zu erwarten. Die Figur dieses ›Principale‹ ist deutlich der realen Person Peter Hartz nachempfunden; sogar »Empfänger nach römisch vier«223 werden, in Anspielung auf dessen folgenreichste Reformen, erwähnt, um den Bezug klar herauszustellen. Am Tag seines 64. Geburtstags unternimmt der Prinzipal mit seinem achtzehnjährigen Enkel Viktor eine Fahrt im Motorboot. Er redet viel, denn Viktor hat einen Camcorder dabei, um sich mit einer Art Interview bei der Filmhochschule zu bewerben. Aussagekräftiger als alle Reflexionen und Selbstreflexionen des Managers ist aber sein Verhalten, als der Enkel eine verunglückte Kite-Surferin rettet; rasch und übersachlich arrangiert er, dass die halb bewusstlose junge Frau auf einer kleinen Insel vor Assenza abgesetzt wird, während Großvater und Enkel »telefonieren und verschwinden«.224 Die vorhersehbaren Schwierigkeiten mit den Behörden werden so vermieden, und der Prinzipal bleibt, wie gewohnt, durch Manipulation der Tatsachen »Herr der Lage«.225 So trägt der Vorfall dazu bei, die Mentalität des Machers und 216 217 218 219

220 221 222 223 224 225

Ebd. Ebd., S. 74. Ebd., S. 40. Klaus Podak in: Süddeutsche Zeitung, 31.07./01.08.1993. Hier zitiert nach dem Werbetext der Taschenbuchausgabe. – Das andere Extrem der journalistischen Rezeption bildet Urs Allemann: Unerhört: Bodo Kirchhoffs neues Novellenmodell. In: Basler Zeitung, 26.11.1993. Wer sich hier Aufschluss über Textstrukturen oder Gattungskonzepte erhofft, bleibt ratlos zurück angesichts einer Polemik, die sich in der überzogen häufigen Verwendung des Beiworts ›unerhört‹ erschöpft. Kirchhoff: Gegen die Laufrichtung, S. 9. Bodo Kirchhoff: Der Prinzipal. Novelle. Frankfurt/M. 2007, S. 14. Ebd., S. 54. Ebd., S. 68. Ebd., S. 99. Ebd.

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Krisenmanagers zu beleuchten, von deren Ambivalenz sich Kirchhoff in dieser Novelle fasziniert zeigt. Wie Walsers Ein fliehendes Pferd endet Der Prinzipal mit der Wiederholung des Anfangssatzes (bzw. der ersten syntaktischen Einheit, in diesem Fall »Ein Tag im Spätsommer«) – und überhaupt würde sich für einen Vergleich von Bodo Kirchhoff mit Martin Walser kein anderer Text in Bezug auf Thematik, Charaktere, Handlungsanlage und Erzählstil besser eignen, als diese ›italienische‹ Novelle.

1.3. Dieter Wellershoff (geb. 1925) Thomas Manns Der Tod in Venedig oder auch Bodo Kirchhoffs Mexikanische Novelle gehören zu denjenigen Novellentexten, die, bei aller Unterschiedlichkeit der Mittel und Ziele, die regressiven Lüste der Entgrenzung und des Ich-Verlusts thematisieren. Das tut auch Dieter Wellershoff in seiner Novelle Die Sirene; im Gegensatz zu Mann und Kirchhoff allerdings führt er seinen Protagonisten im letzten Augenblick zurück in die Welt der Normalität. Gerade darin – nachdem er während des Arbeitsprozesses lange Zeit selbst an einen tödlichen Ausgang der Novelle geglaubt und eine entsprechende Schlussversion verfasst hatte – sieht Wellershoff rückblickend die eigentliche Provokation seines Textes.226 Die Sirene (1980) Generell hat es sich auf die Aufnahme seiner belletristischen Arbeiten ambivalent ausgewirkt, dass der promovierte Germanist Wellershoff zuerst mit kritischen und theoretischen Essays zur Literatur berühmt geworden ist.227 Man muss die häufig negative Presseresonanz auf seine Prosawerke nicht gleich als »unterschwellig kompensatorisch motivierte[ ] Bestrafungsaktion«228 minderbegabter Kritiker deuten; doch zumindest lässt sich nachweisen, dass der Literaturbetrieb auf Wellershoffs Doppelrolle mit der »frühen Herausbildung eines inkonsistenten Rezeptionsmusters« reagiert hat, nach dessen Maßgabe der Autor »abwechselnd der bloßen Illustration seiner eigenen Theorie oder des Bruches mit derselben überführt werden«229 sollte. Gerade im Fall der Sirene wurde Wellershoff in aggressiver und polemischer Art vorgeworfen, als Erzähler hinter der Avanciertheit der eigenen theoretischen Position 226 Vgl. die Zusammenfassung entsprechender Interviewäußerungen Wellershoffs in Tschierske: Das

Glück, der Tod und der »Augenblick«, S. 69. 227 Die wichtigsten Literatur-Essays Wellershoffs liegen in den Sammelbänden Literatur und Veränderung

(Köln 1969), Literatur und Lustprinzip (Köln 1973), Das Verschwinden im Bild (Köln 1980) und Das geordnete Chaos (Köln 1992) bzw. in Bd. 4 der Werkausgabe vor (vgl. Dieter Wellershoff: Werke. Hg. v. Keith Bullivant und Manfred Durzak. Bd. 4: Essays, Aufsätze, Marginalien. Köln 1997). 228 Einleitung der Herausgeber: Dieter Wellershoff oder Die Irritationen des Literaturbetriebs. In: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke, Keith Bullivant (Hg.): Dieter Wellershoff. Studien zu seinem Werk. Köln 1990, S. 11-18, hier S. 12. 229 Bernd Happekotte: Dieter Wellershoff – rezipiert und isoliert: Studien zur Wirkungsgeschichte. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995, S. 312.

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zurückzubleiben.230 Titel und Untertitel des Werkes lieferten willkommene Vorgaben: Das Aufgreifen eines mythologischen Sujets und einer konservativ-klassizistisch besetzten Form schien vielen Kritikern unvereinbar mit den Auffassungen von ›Neuem Realismus‹231 oder Literatur als ›Simulationstechnik‹232, die Wellershoff mehr als zehn Jahre zuvor propagiert hatte. Oberflächliche Belege für diese Ansicht sind rasch zu finden; 1969 etwa hatte Wellershoff seine Vorstellungen von Literatur zu umreißen versucht durch die Abgrenzung einer ›konservativen‹ und einer ›zeitgemäßen‹ Schreibhaltung. Als den Inbegriff des Traditionellen begreift er dabei die Tendenz, die Realität durch Abstraktion und Stilisierung radikal zu vereinfachen und zu ordnen zu einem Bild aus wenigen sinnvoll ausgewählten, sinnvoll aufeinander bezogenen und deshalb bedeutend wirkenden Elementen, zu unterstellen, das sei der ideale, vom Unwesentlichen gereinigte Bauplan der nur scheinbar so verwirrenden, undurchschaubaren und deshalb bedrängenden Wirklichkeit, die nun im Sinnbild gebannt und geklärt, durch eine Form distanziert und verfügbar gemacht sei.233

Erstrebenswert sei dagegen ein ›neuer Realismus‹: Realismus ist für mich die Gegentendenz, nämlich der immer neue Versuch, etablierte Begriffe und Ordnungsgestalten aufzulösen, um neue, bisher verbannte Erfahrungen zu ermöglichen, das Gegenteil also einer Wiederholung und Bestätigung des Bekannten. Die Modelle, mythischen Muster, an die auch ihr ironisches Zitat und die Persiflage gefesselt bleiben, werden in realistischer Schreibweise entweder verlassen oder durch Konkretheit von innen her überwachsen. Neue Aufmerksamkeitsgrade und -richtungen werden entwickelt für das, was bisher unbewußt war oder gesperrt wurde mit Tabuworten wie banal, privat, pathologisch, aber vor allem auch für das nur scheinbar Bekannte, das unter diesem Schein sich verflüchtigt hat. […] Realistisches Schreiben wäre […] der Versuch, der Welt die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen, den Wirklichkeitsdruck wieder zu verstärken, anstatt von ihm zu entlasten.234

Die Sirene als ein Text, der ein ›mythisches Muster‹ aufruft und sich einer traditionell mit Strenge und Stilisierung verbundenen Gattungsbezeichnung bedient, scheint, nach Maßgabe dieser Definitionsversuche, eher der ›konservativen‹, ›traditionellen‹ Schreibweise zugehörig. Dieser Befund wirft aber mehr Fragen auf, als er beantwortet. Fraglich ist zunächst, ob gegen einen Text des Jahres 1980 mit Kriterien argumentiert werden kann, die zehn bis fünfzehn Jahre zuvor entwickelt wurden. In einem Brief an Rolf Michaelis, dessen in der Zeit publizierter Verriss der Sirene ihn 230 Eine ausführliche Liste der Rezensionen enthält Happekotte: Dieter Wellershoff, S. 325. – Beson-

231 232 233 234

ders polemisch fiel die Kritik in den tonangebenden Feuilletons aus, vgl. v. a. Rolf Michaelis: Tränen aus dem Telefon. Novelle – schick mythisch. In: Die Zeit, 28.3.1980; Hanspeter Brode: Dem Gesang der Sirene entronnen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.1980; Sibylle Cramer: Papiertiger. In: Frankfurter Rundschau, 25.8.1980. Vgl. Dieter Wellershoff: Neuer Realismus [1965]. In: Ders.: Werke. Bd. 4, S. 843f. Vgl. ders.: Fiktion und Praxis [1969]. In: Ebd., S. 202-217, bes. S. 210f. Ders.: Wiederherstellung der Fremdheit [1969]. In: Ders.: Werke. Bd. 4, S. 231-240, hier S. 234. Ebd., S. 234f.

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besonders getroffen hat235, wehrt sich Wellershoff (nicht zum ersten Mal) dagegen, an selektiv verfahrenden und normativ zugespitzten Interpretationen der eigenen Essays gemessen zu werden: Ich denke im Augenblick sehr skeptisch über die Möglichkeit von Aufklärung, denn ich sehe mich von zu vielen Vorurteilen umstellt. Zum Beispiel von der stereotypen Behauptung, in meinen literaturtheoretischen Arbeiten läge ein Maßstab zur Beurteilung meiner fiktionalen Texte, wo doch ein Basisargument der Aufsätze lautet: Es gibt keine normative Ästhetik, jedes literarische Werk ist ein besonderer, eigener Erfahrungsraum, der vom Kritiker, vom Leser erst einmal nachgeschaffen werden muß, bevor er heraustreten und darüber urteilen kann. Aber schon allein die Tatsache, daß sich mit diesem rhetorischen Versatzstück wie von selbst Einstieg, Resumée und pädagogisches Pathos einer Kritik ergeben, erzeugt immer wieder denselben Argumentationsweg. Und wenn man erst auf dieser Bahn durch die Zeilen rutscht, bekommt man auch nichts anderes mehr zu Gesicht.236

Nimmt man die Irritation eingefahrener Wahrnehmungsmuster als zentrales Moment von Wellershoffs Realismus-Konzept ernst, so ist zu ergänzen, dass eine ›Novelle‹ mit mythologisch inspiriertem Sujet die Lesererwartungen des Jahres 1980 vielleicht stärker zu irritieren geeignet war als etwa die Fortführung experimenteller Schreibweisen der sechziger Jahre, die inzwischen selbst schon wieder einem bestimmten Erwartungshorizont entsprachen und ihre ursprüngliche Provokationskraft verloren hatten.237 Gerade ein antinormativer Ansatz muss beständig aktualisiert werden gegen die normative Tendenz, mit der viele Interpreten aus Wellershoffs Essays Maßstäbe bezogen haben, um Literatur erneut auf einen einmal erreichten Status quo festzulegen. Eine Lesart, die diese historische Indizierung theoretischer Aussagen mit einbezieht, kann durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bei Wellershoff keineswegs so groß ist, wie viele Rezensenten seiner belletristischen Texte und insbesondere der Sirene behauptet haben. 235 Michaelis behauptet in seiner Rezension etwa, Die Sirene habe »zwei Verfasser, einmal den ins Unge-

fähr verliebten Pfaidler (= Hemdenmacher) Knöpfel, der durch Nestroys Posse Das Mädel aus der Vorstadt schlurft, zum anderen die für’s poetische Gefühl zuständige Hedwig Courths-Mahler« – auf diese Weise werden Wellershoff Ungenauigkeit und Kitsch vorgeworfen und zugleich eine Verbindung zu ›niederen‹ ästhetischen Traditionen des 19. Jahrhunderts suggeriert, wie sie dann nochmals in der Formel »›Gartenlaube‹ - mit Telephonanschluß« kuliminieren. Auf die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ geht Michaelis nur am Rande ein, etwa mit der Bemerkung: »Besonders qualvoll: der literarische Routinier Wellershoff behängt seine sauber montierte Novelle mit den Mode-Perlen von Innerlichkeits-Schmus und mythischem Schnickschnack […]«. Vgl. Michaelis: Tränen aus dem Telefon. 236 Dieter Wellershoff an Rolf Michaelis, zit. n. Werner Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Dieter Wellershoff – Erzähler, Medienautor, Essayist. Berlin 2000, S. 255. 237 Als einer der wenigen Rezensenten hat Franz Norbert Mennemeier genau diese Möglichkeit eingeräumt: »Es dürfte nicht ganz abwegig sein zu mutmaßen, daß Wellershoff mit dem selten gewordenen Gattungstitel ›Novelle‹ einen Hinweis nicht nur auf die ›unerhörte Begebenheit‹, die er hier schildert, hat geben wollen, sondern auch auf einen gewissen, zu Verfremdungseffekten inzwischen geeigneten Hautgout von akademischem Klassizismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Begriff der Novelle verbindet« (Franz Norbert Mennemeier: Mythologisches Monstrum gezähmt. In: neues rheinland, Mai 1980. Zit n. Happekotte: Dieter Wellershoff, S. 168).

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Die Interpretation dieser Novelle im Kontext des essayistischen Werks lag und liegt freilich im speziellen Fall noch näher als bei Wellershoffs vorangegangenen Prosatexten: Denn Die Sirene lässt sich nicht nur an Wellershoffs allgemeinen Essays zu Literatur und Ästhetik spiegeln, sondern vor allem auch an seinem inhaltlich verwandten Aufsatz Der Gesang der Sirenen, der 1973 den Band Literatur und Lustprinzip programmatisch beschloss. An den Anfang dieses Essays stellt Wellershoff ein Zitat aus Maurice Blanchots gleichnamiger Abhandlung von 1959, aus der er später auch ein Motto für Die Sirene entnehmen sollte: Der Gesang der Sirenen, meint Maurice Blanchot, war leise, er befriedigte nicht, er war unvollkommen. Aber sein Mangel verlieh ihm seine abgründige Macht. Es war ein nichtmenschlicher Gesang, aber dem Gesang der Menschen nachgebildet und gerade dieser unbestimmte Unterschied, diese Verrückung machte ihn außerordentlich. Von seiner Fremdheit und Unvollkommenheit ging sein Sog aus, denn entstellt war etwas Bekanntes in ihm, das rief, aber sich nicht zu erkennen gab. […] Er erzeugte eine Lust, sich fallen zu lassen, es war ein »Sang des Abgrundes, der, wenn man ihn nur einmal vernommen hatte, in jedem Wort einen Abgrund auftat und sehr dazu verlockte, in ihm zu verschwinden.«238

Im Folgenden deutet Wellershoff den Sirenengesang als »Begegnung mit dem Imaginären«, zieht psychoanalytisch untermauerte Analogien zum Traum und anderen Zuständen, in denen die Kontrolle des Bewusstseins gelockert ist und »verdrängte Wünsche, Impulse, Ängste«239 sich bemerkbar machen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem medialen Aspekt: Es ist die rationale, benennende und analysierende Sprache, die die Ausdruckskraft sowohl des Sirenengesangs als auch des Traumbildes kulturell unterdrückt, beherrschbar macht und letztlich zerstört; literarische Sprache dagegen versucht, sich zu öffnen für das Unbewusste und dem Gesang der Sirenen nachzustreben: »Je stärker das Unbewußte beteiligt ist, um so imaginärer und komplexer ist der Text«240 – im Idealfall erreicht er »bildhafte Evidenz«241 und erzeugt »Epiphanien der unwillkürlichen Erinnerung«.242 Zum wesentlichen Schreibimpuls avanciert der Wunsch, »neue empfindliche Grenzwerte der Erfahrung zu erreichen«; »entstabilisierte Momente«, die das ermöglichen sollen, sind nur durch eine Schwächung des Realitätsprinzips herzustellen, auf die die ästhetische Moderne hinarbeitet. Abschließend fokussiert Wellershoff die thematische Vorliebe vieler Autoren für »Bilder der Todesnähe und der Einsamkeit«, auch und gerade in Bezug auf die eigene Person bzw. die Figur des Schriftstellers: Sich so isoliert zu sehen, wird geradezu die Ausgangslage der Inspiration. Wahrscheinlich stellen diese Bilder einen Schutz dar gegen die Forderung der Gesellschaft, sich den Positivitäten ihres Realitätsprinzips zu fügen. Mit der äußersten Grenzvorstellung, der des na238 Dieter Wellershoff: Der Gesang der Sirenen [1973]. In: Ders.: Werke. Bd. 4, S. 398-410, hier S. 398. 239 Ebd., S. 400. 240 Ebd., S. 402. 241 Ebd., S. 405. 242 Ebd., S. 406.

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hen Todes, entläßt man sich aus allen Zwängen, um dort, an den dunklen Rändern des Bewußtseins, der Lust zu folgen, die im Gesang der Sirenen versprochen wird.243

Auf Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung, die im listigen Odysseus gerade der Sirenen-Episode das Urbild des zweckgerichteten, die Natur und das Natürliche in sich selbst unterwerfenden bürgerlichen Individuums gesehen hat244, rekurriert Wellershoff in seinem Essay ebenso wenig wie auf Franz Kafkas berühmte Parabel vom Schweigen der Sirenen245 – doch auch wenn die explizite Bezugnahme fehlt, ist evident, dass diese motivgeschichtlich zentralen Stationen zum kulturellen Horizont von Wellershoffs Novelle Die Sirene nicht weniger gehören, als die Abhandlung Blanchots oder die im Essay zitierten psychoanalytischen Theorien.246 Wellershoff erzählerische Neudeutung des Mythos kreist um ein typisches Kommunikationsmittel des 20. Jahrhunderts247 und um einen intellektuellen Protagonisten mittleren Alters. Der Text ist in drei große Kapitel unterteilt, die Das Rufen, Die Entrückung und Der Kampf überschrieben sind; die Überschrift Das Rufen färbt auf den ersten Satz der Novelle »Der Anruf kam vormittags« ab – das profane Telefongespräch erscheint als ein mythischer ›Anruf‹, den der Pädagogikprofessor Elsheimer durch eine ihm unbekannte Frauenstimme erfährt. Vom ersten Moment an fühlt sich Elsheimer »in eine unüberschaubare Intimität«248 verstrickt; die Frau – ihr Name wird dem Leser ebenso wenig mitgeteilt wie der Vorname des Professors – signalisiert Hilfsbedürftigkeit, Sehnsucht, zunehmend auch erotisches Interesse; sie kennt Elsheimer nur von einem kurzen Fernsehauftritt, der ihr das Gefühl gegeben habe, bei ihm Verständnis zu finden. Über Wochen entwickelt sich ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit; zu einem verabredeten Treffen in Hamburg erscheint die Anruferin nicht. Elsheimer, der schon völlig auf die Unbekannte fixiert schien, Familie 243 Ebd., S. 409f. 244 Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.

Frankfurt/M. 1988, bes. S. 50-87. 245 Vgl. Franz Kafka: [Das Schweigen der Sirenen]. In: Ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente

II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/M. 1992, S. 40-42.

246 Entsprechend beziehen die meisten Interpreten der Sirene auch Horkheimer/Adorno bzw. Kafka

mit ein in ihre Überlegungen, vgl. z.B. Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks, S. 241-244; Alo Allkemper: »An den Rändern des Bewußtseins«. Zu Dieter Wellershoffs Sirene. In: Dieter Wellershoff. Studien zu seinem Werk. Hg. v. Manfred Durzak, Hartmut Steinecke, Keith Bullivant. Köln 1990, S. 129-144, bes. S. 129-133; Hans-Gerd Winter: »Ergib dich mir; und ich werde dir alles geben.« Dieter Wellershoffs Aktualisierung des Mythos in seiner Novelle Die Sirene. In: Deutsche Literatur im Umbruch der Geschichte. Hg. v. Nadeshda Dakova und Hans-Gerd Winter. Sofia 1997, S. 95-107, bes. S. 99f.; Gérard Laudin: »La vérité de la littérature«. Intertextualités littéraires et mythiques chez Dieter Wellershoff. In: Le travail de réécriture dans la littérature de langue allemande au XXe siècle. Textes réunis par Bernard Bach. Lille 2002 (= Germanica 31), S. 159-173, bes. S. 165173. 247 Insbesondere Werner Jung geht in seiner Interpretation auch auf medienästhetische bzw. kommunikationstechnische Aspekte ein, die Die Sirene fraglos aufweist bzw. reflektiert, vgl. Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks, bes. S. 251-253. 248 Dieter Wellershoff: Die Sirene. Novelle [im Erstdruck: Eine Novelle]. In: Ders.: Werke. Hg. v. Keith Bullivant und Manfred Durzak. Bd. 2. Köln 1996, S. 579-710, hier S. 580.

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und Beruf vernachlässigte und zeitweise an den Rand schizoider Ich-Dissoziation geraten war249, bricht schließlich die Beziehung ab und kehrt zurück in einen Alltag, den er allerdings mehr denn je als »fade« und »leer« empfindet.250 Entscheidend für das Verständnis des Textes ist die Situation, in der Elsheimer sich zu Beginn befindet. Ein Forschungsfreisemester gibt dem anerkannten Akademiker einerseits mehr Freiraum als gewohnt, nimmt ihm aber andererseits die Halt gebende Alltagsroutine und setzt ihn unter Leistungsdruck. Er will ein Buch schreiben »über Selbsterkenntnis oder über die Entstehung des Ichs« – nicht nur aus Interesse am Thema, sondern auch weil er »eine Beweispflicht« verspürt: »Er mußte etwas schreiben, das seinen Ruf festigte. Man erwartete es von ihm nicht unbedingt, aber er schuldete es sich selbst«.251 Rasch stellt sich allerdings heraus, dass ihm mehr als nur »Ruhe«252 und Inspiration fehlen. Elsheimer ist deshalb so empfänglich für den Reiz der unbekannten Anruferin, weil er sich seit langem in einer latenten Krisensituation befindet und zunehmend »von einem Gefühl der Stagnation beschlichen wird«.253 Wie auf die Protagonisten von Walsers Ein fliehendes Pferd lässt sich auch auf Elsheimer der damals populäre Begriff der ›Midlife-Crisis‹ anwenden. Beruflich bedrängen ihn Konkurrenz- und Marginalisierungsängste254 sowie die Furcht, nichts Neues mehr schreiben zu können; privat ist er »in der letzten Zeit zu viel allein«255 gewesen – wie so viele Protagonisten Wellershoffs leidet auch Elsheimer daran, dass das kommunikative Verhältnis zur Umwelt, insbesondere zu Ehefrau und Kindern, gestört ist.256 Da er seine Innenwelt nicht einmal ansatzweise kommuniziert, neigt Elsheimer dazu, den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren und sich in Mutmaßungen und üppig wuchernden Phantasien zu verstricken. Diesem Umstand entspricht der gewählte Darstellungsmodus: Wie in fast allen seinen Prosawerken bevorzugt Wellershoff auch hier die personale Perspektive; weite Passagen sind in erlebter Rede formuliert, immer wieder wird durch Formulierungen wie ›dachte er‹, ›fühlte er‹, ›glaubte er‹, ›kam es ihm vor‹ betont, dass es subjektive Wahrnehmungen sind, die mitgeteilt werden und keine objektiven, durch einen auktorialen Erzähler verbürgten Gewissheiten. Dem Autor Wellershoff vorzuwerfen, er setze in seinem Werk das »schwankende Bild der Frau zwischen Hure und Heiliger«257 aus dem 19. Jahrhundert fort, ist von 249 250 251 252 253

254 255 256 257

Vgl. ebd., S. 637-640. Ebd., S. 709f. Ebd., S. 586. Ebd., S. 585. So die Selbstinterpretation des Autors, vgl. Dieter Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut. Existentielle und formale Aspekte des literarischen Textes. Frankfurter Vorlesungen. [1996]. In: Ders.: Werke. Bd. 5, S. 785-892, bes. S. 855-857, hier S. 856. Zum Beispiel in Bezug auf seinen Kollegen Strasser, vgl. Wellershoff: Die Sirene, S. 611f. Ebd., S. 614. Vgl. Klaus Torsy: Unser alltäglicher Wahnsinn. Zum Begriff der Kommunikation bei Dieter Wellershoff. Marburg 1999, zu Die Sirene bes. S. 118-130. Sibylle Cramer: Erotischer Dämon oder Frau ohne Unterleib. Zum Frauenbild des Erzählers Dieter Wellershoff. In: Text und Kritik. Dieter Wellershoff. H. 88, 1995, S. 46-54, hier S. 52.

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daher verfehlt; durch den Kunstgriff der fokalisierten Wahrnehmung führt der Autor vielmehr vor, wie gefährlich es sein kann, sich ausschließlich den eigenen subjektiven, nie nach außen vermittelten und niemals hinterfragten Projektionen zu überlassen – nicht zufällig hat er die »phantasiegeleitete Wirklichkeitsverkennung«258 als ein wesentliches Thema seiner Bücher benannt. Dass die rationale Sicht der Dinge an die Nebenfiguren delegiert wird und vom Leser erschlossen werden kann, führt zu einem »Changieren der Lesarten«, das Wellershoff in die Metapher vom »Schimmern der Schlangenhaut«259 gefasst hat und von dem die innere Spannung des Textes ausgeht. Entsprechend ist es keinesfalls der Autor, der Elsheimers Ehefrau Brita260 als »Frau ohne erotische Eigenschaften« darstellt oder die Anruferin zum »dämonischen Naturwesen«261 stilisiert – es ist die Figur Elsheimer, der sich alle »Begriffe […] wie von selbst zu bekannten Zusammenhängen«262 zusammenfügen und die deshalb ihren stereotypisierten Wahrnehmungsmustern und Projektionen ausgeliefert bleibt. Was seine wissenschaftliche Arbeit »über die Grenzen des Ichs« intellektuell zu durchdringen versucht, erlebt der Professor am eigenen Leib: Elsheimer verlor sich immer mehr in den vertrackten Beziehungen, die wie Spiegelungen von Spiegelbildern waren, und allmählich wurde er wieder unsicher, was er überhaupt sagen konnte und wo in dem dauernden Hin und Her der Reaktionen und Hypothesen, auf Grund derer die Menschen miteinander umgingen, überhaupt ein fester Punkt war.263

Wie wenig sich das eigene, gefährdete Ich in dieser Hinsicht als ›fester Punkt‹ bewährt, führt die Novelle eindrucksvoll vor: Seinen »Kampf« gegen die Anruferin kann Elsheimer nur bestehen, indem er eine vorgeprägte Rolle usurpiert und einen Teil seiner Wünsche und Triebe rigoros abspaltet. Der Anlauf, den er nimmt, ist lang: Am Anfang steht ein kurzer Familienurlaub im Rothaargebirge. Einige Wochen zuvor, allein in Cuxhaven, schien Elsheimer von Ich-Verlust und Dissoziation besonders bedroht; das liquide Element, der Blick aufs Meer und das Rauschen der Wellen verstärkten die Sehnsucht nach Entgrenzung. Im Gebirge dagegen gelingt, einer typisierten kulturgeographischen Semantik entsprechend, die Festigung des Ich. Zugleich mit Elsheimers Rückkehr setzt »Tauwetter« ein, nachdem es fast über den gesamten Textverlauf hin immer wieder das Bild des Schnees und des Ein-

258 Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 788. 259 Ebd., S. 885. 260 Meist ist im Text nur von »seiner Frau« die Rede; trotzdem ist Hans-Gerd Winters Behauptung,

man erfahre »bezeichnenderweise […] nicht einmal ihren Namen« (Winter: »Ergib dich mir […]«, S. 105) ebenso falsch (vgl. nämlich Wellershoff: Die Sirene, S. 616) wie die im gleichen Aufsatz vorgenommene Umbenennung von Elsheimers Kollegen Goldscheider in »Goldstücker« (Winter: »Ergib dich mir […]«, S. 102). 261 Cramer: Erotischer Dämon, S. 52f. 262 Wellershoff: Die Sirene, S. 587. 263 Ebd., S. 595f.

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schneiens gewesen ist, das eine geradezu »leitmotivische Funktion«264 übernommen und als ›Realsymbol‹265 die Gefühlslage Elsheimers reflektiert hat. Ebenso »plötzlich« wie der Wetterwechsel erfolgt Elsheimers Umschlag von Passivität in Aktivität: »Er hatte die Telefongespräche wieder aufgenommen. Aber jetzt war er es, der sie führte«266 – ein Satz, in dem man eine Art ›Wendepunkt‹ der Novelle erkennen kann.267 Die Wende beginnt mit einem Bordellbesuch, den die Unbekannte Elsheimer nahegelegt hatte – wohl in der Vorstellung, die erotische Phantasie lasse sich über den Körper der Prostituierten stellvertretend materialisieren. Doch Elsheimer wird lediglich ernüchtert. Die desillusionierende Wirklichkeit bricht die Macht der Imagination – psychoanalytisch ausgedrückt: »Das frei vagierende libidinöse Begehren wird zurückgenommen zur genitalen, überdies entfremdeten Sexualität«.268 Wie von der als reizlos und dümmlich beschriebenen »Kindnutte«269 distanziert sich Elsheimer nun auch von der Unbekannten als einer kranken und moralisch verwerflichen Frau: Sie hatte Angst vor dem Sex, aber in der Phantasie war sie eine Hure. Vielleicht war ihre Mutter eine Hure gewesen, hatte sie in einem Heim abgegeben. Und dort hatte sie angefangen zu träumen von Liebe oder Rache. Sie war nie aus diesen Träumen aufgewacht. Ja, das war es, er sah es jetzt, es war eine Krankheit. Ein Grund, sich zu schütteln, es von sich wegzustoßen. Donnerstag. Der Tag der Heilung und der Drachentötung.270

Was Elsheimer vor sich selbst als sachlich-objektive Diagnose behauptet, verdankt sich einer nach wie vor hemmungslosen Phantasietätigkeit, die nun allerdings eine aggressive Richtung nimmt. Der Begriff der »Drachentötung« beinhaltet eine klare Rollenzuweisung: Elsheimer reklamiert für sich das mythische Muster vom Germanenhelden Siegfried, die Unbekannte wird moralisch deklassiert und mit dem gefährlichen Drachen identifiziert. In der Siegfried-Sage ist der Tod des Drachen die Voraussetzung dafür, dass Siegfried seine schützende Hornhaut erwirbt; Elsheimer erhofft sich eine dauerhafte »Heilung« und Stabilisierung seiner Identität. Allerdings erringt er nur, wie Wellershoff es selbst interpretiert hat, einen »Pyrrhussieg«.271 Wenn Elsheimer nach der symbolischen Tötung der Anruferin »völlig erschöpft« 264 Allkemper: »An den Rändern des Bewußtseins«, S. 139. 265 Vgl. dazu Torsy: Unser alltäglicher Wahnsinn, S. 127f. – Wellershoffs Essay Erkenntnisglück und

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Egotrip, 1978/79 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Sirene entstanden, betont, dass eine weiße Fläche – sei es eine Schneelandschaft oder ein unbeschriebenes Blatt Papier – sehr unterschiedliche Wahrnehmungsmöglichkeiten erlaubt: »einen furchterregenden leeren Raum, in dem man sich verlieren und umkommen kann, oder eine lockende, freundliche Weite, die einlädt zu einem Abenteuer der Selbsterfahrung« (Wellershoff: Erkenntnisglück und Egotrip. Über die Erfahrung des Schreibens. In: Ders.: Werke. Bd. 4, S. 529-565, hier S. 551). Wellershoff: Die Sirene, S. 691. Vgl. Gerd K. Schneider: Dieter Wellershoff’s Novella Die Sirene. Calling Hours from Anywhere, at Anytime, for Anyone. In: Neues zu Altem. Novellen der Vergangenheit und der Gegenwart. Hg. v. Sabine Cramer. München 1996, S. 235-250, hier S. 245. Allkemper: »An den Rändern des Bewußtseins«, S. 142. Wellershoff: Die Sirene, S. 705. Ebd., S. 706f. Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 857.

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zurückbleibt, findet er keine Antwort auf die entscheidende Frage, die den Text beschließt: »Warum fühlte er sich so leer?«272 Ulrich Tschierske gibt eine Antwort aus psychoanalytischer Sicht: Elsheimer bleibe bis zum Schluss verborgen, dass seine Erkenntnis über die krankhafte Disposition der Anruferin »im Grunde nicht der Sirene, sondern weit mehr den verdrängten und abgespaltenen Ich-Anteilen des eigenen Selbst entspricht, die nur in der schützenden Hülle der täuschenden Projektion an die Oberfläche des Bewußtseins treten können«.273 Damit hätte Elsheimer zwar sein einseitiges Selbstbild als Intellektueller und Universitätsprofessor, als Ehemann und Familienvater bewahrt, aber keineswegs an Selbsterkenntnis gewonnen; lediglich die Stagnation des Anfangs wäre wiederhergestellt. Das ist eine plausible Deutung, die jedoch an der prinzipiellen Offenheit des Schlusses nichts ändert. Wellershoff selbst hat darauf hingewiesen, dass es dem Leser anheim gestellt bleibe, nach Maßgabe seiner eigenen Lebensorientierungen, Elsheimers Phantasieabenteuer und dessen abrupten Schluß zu beurteilen. Hat er etwas gewonnen? Hat er alles verspielt? War es richtig oder falsch, sich aus dem Bann der fremden Anruferin so gewaltsam zu befreien? Hätte es einen anderen, besseren Weg gegeben oder nicht? Gehört nicht das Nachholen versäumter Träume ebenso zu den notwendigen Erfahrungen wie deren entschlossene Beendigung? Aus Gesprächen mit Lesern weiß ich, wie verschieden sie diesen Schluß deuten. Meistens ist die Mehrdeutigkeit der Situation nicht ganz zu beseitigen, weil der Schluß unbefriedigend und widersprüchlich bleibt und nicht als Vorbild und Resümee taugt […].274

Damit reflektiert der Autor zugleich, warum er diesen Schluss gewählt hat, der Die Sirene von Texten mit ähnlich angelegtem Handlungsverlauf auffällig unterscheidet. Literarische Muster vor allem des 19. Jahrhunderts lassen Liebe und sexuelles Begehren »in eine meist tödliche Selbsterfahrung«275 münden – entsprechend vorgeprägte Lesererwartungen wären auf Elsheimers Tod gerichtet. Dieser Tod ließe sich entweder rauschhaft-verklärend inszenieren – wie noch bei Thomas Mann, dessen Tod in Venedig für Wellershoff wenig mehr ist als eine »von romantischer Todessehnsucht erfüllte Novelle«276; oder er hätte – bei einer entsprechend geänderten Dramaturgie, die dem Helden die Schuld beispielsweise am Tod der Ehefrau oder einer Tochter aufladen würde – als legitim erscheinende ›Strafe‹ für moralische Verfehlungen oder auch als Selbstmord gestaltet werden können. Dass Elsheimer jedoch weder die rauschhafte Selbstaufgabe noch die moralisch motivierte physische Vernichtung zuteil werden, bedeutet nicht, dass der Text ›gut‹ ausginge – denn bei aller Intensität, mit der es geschildert wurde, bleibt Elsheimers Erlebnis eigentümlich folgenlos. Weder mündet es (wie etwa in Kirchhoffs MexikaniDers.: Die Sirene, S. 709f. Tschierske: Das Glück, der Tod und der »Augenblick«, S. 70. Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 857. Dieter Wellershoff: Fesselung und Entfesselung. Über Liebesroman und Pornographie. [1970]. In: Ders.: Werke. Bd. 4, S. 271-283, hier S. 271. 276 Ders.: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Essener und Paderborner Vorlesungen [1988]. In: Ders.: Werke. Bd. 5, S. 251-719, hier S. 496. 272 273 274 275

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scher Novelle) in ein ›anderes Leben‹, noch führt es zu einem zweifelsfreien Zuwachs an Reife und Erfahrung, der das Sirenen-Abenteuer in die Nähe einer Bildungs- und Erziehungsnovelle rücken könnte. Keinerlei belebende Auswirkungen (etwa auf Elsheimers Ehe) werden angedeutet, durch die die Krise rückblickend einen ›Sinn‹ erhalten würde; weder Elsheimer selbst noch seine Frau bieten in irgendeiner Weise einen Anlass zur Verklärung von Überwindung und Opferbereitschaft, auf die eine analoge Situation etwa in der konservativ-klassizistischen Novellentradition, bei Binding oder Emil Strauß, hinausgelaufen ist. Alles in allem kann man sich, wie Wellershoff in seiner Selbstinterpretation schreibt, »darüber streiten, ob Elsheimers Illusionslosigkeit nicht ein unbarmherzigerer Schluß ist als der Selbstmord von Klaus Jung«277, des Protagonisten aus Wellershoffs Roman Die Schönheit des Schimpansen (1977). Auf diese Weise gelingt es Wellershoff, einerseits einen Novellentext vorzulegen, der in vielem der Tradition entspricht und damit zu Recht auf die explizite Gattungsbezeichnung zurückgreift: Die einst von Friedrich Theodor Vischer als novellentypisch benannte ›Krise‹ in einem geordnet erscheinenden Lebenslauf wird exemplarisch gestaltet, ein ›Wendepunkt‹ ist festzumachen, als Elsheimer sich entschließt, in die Offensive zu gehen, eine ›unerhörte Begebenheit‹ mag es wohl auch sein, wenn ein renommierter Pädagogikprofessor einer unbekannten Anruferin verfällt; auch die dichotom entfaltete Gegenüberstellung von Geist und Leben, bürgerlicher Existenz und selbstzerstörerischer Hingabe sowie die mythologische Grundierung stehen in Einklang mit der Gattungstradition, erst recht die ›mittlere Länge‹ der Erzählung, die einsträngige Handlungsführung, die Zuspitzung auf dramatische ›Augenblicke‹278 und der weitgehend einheitliche, ›klassisch‹ disziplinierte und mit Leitmotiven operierende Sprachduktus. Andererseits entspricht der Text durch die starke Subjektivierung des meist an Elsheimers Perspektive gebundenen Erzählens und den überraschenden, die Lesererwartung irritierenden und offenen Schluss auch den Anforderungen, die an eine ›moderne‹ Literatur und einen ›neuen Realismus‹ gestellt werden können und wie sie Dieter Wellershoff in seinem essayistischen Werk immer wieder formuliert hat. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die bei ihrem ersten Erscheinen überwiegend negativ beurteilte Novelle Die Sirene inzwischen längst rehabilitiert ist und in neueren literarhistorischen Darstellungen zu den wichtigsten Texten der 1980er Jahre gerechnet wird.279

277 Ders.: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 857. 278 Ähnlich wie in Walsers Ein fliehendes Pferd fällt die Vokabel ›plötzlich‹ mit all den Implikationen, die

sowohl durch Wellershoffs eigene als auch durch Karl Heinz Bohrer etwa gleichzeitig publizierte Überlegungen zu den Phänomenen der ›Plötzlichkeit‹ und des ›Augenblicks‹ gegeben sind, bemerkenswert häufig, vgl. z.B. Wellershoff: Die Sirene, S. 607, 631, 670. 279 Vgl. Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. v. Wilfried Barner. München 1994, S. 426f.

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Zikadengeschrei (1995) Dass Wellershoff, obwohl er sich in theoretischer Hinsicht kaum mit dem Gattungsbegriff der Novelle beschäftigt zu haben scheint, in der Praxis sehr konkrete Vorstellungen mit diesem Genre verbindet, belegt die Tatsache, dass sein zweiter, explizit als ›Novelle‹ bezeichneter Text deutliche und dem Autor sehr wohl bewusste Ähnlichkeiten mit Die Sirene aufweist.280 Auch in Zikadengeschrei (1995) gerät ein Familienvater mittleren Alters in eine Krise, die durch die Begegnung mit einer mythisierten »fremden Frau«281 ausgelöst wird; wieder ist es die Suspendierung von der Alltagsroutine, die den Protagonisten anfällig macht – befand sich Professor Elsheimer im Freisemester, so macht der Architekt Böhring Urlaub in einem spanischen Bungalowpark, und genau wie Elsheimer hegt auch Böhring berufliche Marginalisierungsängste: Im Plan seines Partners, einen jüngeren Architekten in die gemeinsame Firma aufzunehmen, sieht er eine Spitze gegen sich selbst.282 Wo Wellershoff in Die Sirene vor allem auf das Bild des Schnees zurückgriff, um die innere Lage Elsheimers leitmotivisch zu veranschaulichen, ist es nun das titelgebende Zikadengeschrei, das immer wieder erwähnt wird und in dem Ludwig Harig sogar »das ominöse Dingsymbol mit Verweisungscharakter«, den ›Falken‹ dieser Novelle283, gesehen hat. Schließlich weist die Ehe der Böhrings starke Ähnlichkeiten mit der der Elsheimers auf: Beide sind jeweils »ein eingespieltes Ehepaar«284, doch die nach außen hin funktionierende und von Kompromissfähigkeit geprägte Gemeinschaft bildet nur den Rahmen für eine innere Isolation der Partner und einen »Zustand der Kommunikationslosigkeit«285 – mit der Folge, dass sowohl Elsheimer als auch Böhring einer zunehmend unkontrollierten, von den als ›rätselhaft‹ wahrgenommenen Frauen stimulierten Phantasietätigkeit anheimfallen. Entsprechend wird auch hier ganz überwiegend personal, aus Böhrings Perspektive erzählt. Die innerliche Entfernung Böhrings von seiner Familie setzt sich im Urlaub unaufhaltsam fort; dass die Fahrt mit einer Missstimmung begann, weil Böhring die volljährige Tochter zum »Urlaub zu dritt« genötigt hat, während sich seine Frau »vielleicht gewünscht hatte, nach so vielen Jahren wieder einmal mit ihm allein zu verreisen«286, ist eine ungünstige Ausgangssituation, da Böhring sich damit beiden gegenüber in der Defensive sieht. Zudem sind Frau und Tochter »ausgezeichnete Schwimmerinnen«, während der Architekt, seit er zwei Jahre zuvor »beinahe in einem österreichischen See ertrunken«287 war, beim Schwimmen leicht in Panik gerät – und seit 280 »Ich hatte diese Ausgangssituation schon einmal in der Novelle Die Sirene dargestellt« (Wellershoff:

Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 884).

281 Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei. Novelle. In: Ders.: Werke. Hg. v. Keith Bullivant und Man282 283 284 285 286 287

fred Durzak. Bd. 2. Köln 1996, S.1024-1072, hier S. 1055. Vgl. ebd., S. 1035. Ludwig Harig: Eine unerhörte Begebenheit. In: Die Zeit, 13.10.1995. Wellershoff: Die Sirene, S. 591. Torsy: Unser alltäglicher Wahnsinn, S. 132. Wellershoff: Zikadengeschrei, S. 1025. Ebd., S. 1032f.

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»jenen Minuten der Todesangst […] war etwas anders geworden. Ein feiner Riß lief durch seine Fundamente, den er vor den anderen verbergen mußte«.288 Bei einem Spaziergang im nahegelegenen Dorf trifft Böhring auf eine fremde Frau, die sich als Bewohnerin des Nachbarbungalows erweist; ihr Gesicht ist entstellt. Vom Ehemann der Unbekannten erfährt Ina Böhring später, dass die frühere Schauspielerin infolge eines ärztlichen Kunstfehlers an einer »halbseitigen[n] Gesichtslähmung« leide, »begleitet von Artikulationsschwierigkeiten und Sensibilitätsausfällen«289 und sich daher scheue, unter Menschen zu gehen. Dieses nachträglich erworbene Wissen mindert jedoch nicht die Wucht der ersten Begegnung Böhrings mit der Fremden »in dem Augenblick, als er im Menschengedränge des Marktes der Frau plötzlich gegenüberstand, mit ihr vollkommen allein gewesen war, wie in einem hellen Schlaglicht vor erloschenem Hintergrund«.290 Ähnlich wie Elsheimer nach dem ersten Anruf gerät auch Böhring sofort in einen »Sog«291, der seine Phantasie beflügelt; jedes Geräusch aus der Nachbarwohnung bezieht er auf sie und sich.292 Das mythische Muster, das Böhrings Wahrnehmung unterlegt ist, verweist hier nicht auf den Sirenengesang, sondern auf die Medusa-Gestalt – »an die Stelle der Stimme und des Hörens sind das Bild und der Blick getreten«.293 Das Medusengesicht mit dem »schwarzen geringelten«294 Schlangenhaar gehört zur ikonographischen Tradition des Abendlandes. Böhring ist von der Fremden fasziniert und bleibt, dem Mythos gemäß, »wie versteinert«295 zurück; in der Faszination durch das Schreckliche erfährt er zugleich das eigene Alter und die eigene Sterblichkeit. Im Folgenden wird eine »Retterphantasie« inzeniert auf der Basis der Vorstellung, dass, wer »dem Schock des zerstörten Gesichtes« standhielte, auch »die verborgene Emotionalität dieser Frau erreichen« und »reich belohnt« werden würde.296 Den Anlass bietet ein »Zufall«297: Allein im Hinterland unterwegs, trifft Böhring auf die Fremde, die sich im Olivenhain den Knöchel gebrochen hat. Auf ihn gestützt, kann sie den Rückweg bewältigen – im »humpelnden Gang« eines »dreibeinigen Wesens«, das aus »zwei aneinandergefesselten Körpern« besteht.298 In der Schilderung dieses Gangs besteht der literarische Höhepunkt der Novelle, wenn man so will, die »unerhörte Begebenheit«, die Wellershoffs Schriftstellerkollege und langjähriger Freund Ludwig Harig in seiner Besprechung von Zikadengeschrei schon im Titel hervorhebt.299 Zurück in der Bungalowsiedlung, stellt sich der alte Abstand wieder her; Böhring fühlt sich leer und 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Ebd., S. 1036. Ebd., S. 1053. Ebd., S. 1051. Ebd., S. 1055. Vgl. ebd., S. 1051. Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks, S. 257. Wellershoff: Zikadengeschrei, S. 1071. Ebd., S. 1049; vgl. auch ebd., S. 1071. Ders.: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 884. Ders.: Zikadengeschrei, S. 1064. Ebd., S. 1066. Vgl. Ludwig Harig: Eine unerhörte Begebenheit.

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lustlos, will aber dem »Verlangen, für das es in seinem Leben keinen Platz und keine Hoffnung gab«300, nicht nachgeben. Als er die Nachbarin dann doch aufsucht, sieht er die Schlafende nackt – doch er zieht sich zurück; wenig später reist die Fremde ab, und mehr noch als in Die Sirene bleibt das Ende offen. Abschließend sei bemerkt, dass die Entstehungsgeschichte von Zikadengeschrei, wie Wellershoff sie in Das Schimmern der Schlangenhaut berichtet, auf frappierende Art und Weise an die von Thomas Manns Mario und der Zauberer erinnert. Hier wie dort ist ein Großteil des Erzählten im authentischen Urlaubserlebnis präfiguriert. Beide Autoren könnten jeweils konstatieren: »Es ging eben im Leben weniger leidenschaftlich zu, als nachher bei mir«.301 Beide Schriftsteller haben eine gewisse Latenzzeit gebraucht, bis sich das Urlaubserlebnis zum literarischen Text verdichtete – Thomas Mann über drei Jahre, Wellershoff sogar zwölf. Für beide brachte erst eine Aktualisierung des Erlebten im Gespräch die entscheidende Inspiration; Thomas Mann zufolge hat Erikas Einwurf »Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen hätte« dafür gesorgt, dass die erlebte Zauberer-Episode »von diesem Augenblick« an zur »Novelle«302 wurde. Bei Dieter Wellershoff bewirkte eine allgemeine »Bemerkung über körperliche Verunstaltungen«, dass ihm die entstellte Frau wieder einfiel und »mit ihr blitzartig der Grundgedanke der Novelle«.303 Sowohl Manns italienische Novellen Der Tod in Venedig und Mario und der Zauberer als auch Wellershoffs Die Sirene und Zikadengeschrei thematisieren darüber hinaus implizit die Rolle und die Möglichkeiten der Kunst, können jeweils als »Kunst-Gleichnis«304 gelesen werden. Für beide Autoren ist es spontan und unmittelbar der Novellenbegriff, der sich einstellt, wo es um die Überführung der Urlaubsepisode in die literarische Form geht; dazu mag auch beigetragen haben, dass ihnen das jeweilige Erlebnis gerade in den beiden Ländern widerfuhr, in denen die Novellengattung zuerst auf weltliterarischem Niveau gepflegt wurde. Wichtiger jedoch dürfte gewesen sein, dass sich der Novellenbegriff für die Wiedergabe einer konzentrierten, dramatisch zugespitzten, krisenhaft kulminierenden, symbolisch überhöhten und sprachlich elaborierten Episode im Rahmen eines Textes von allenfalls mittlerer Länge seit eh und je angeboten hat. So positionieren sich sowohl Thomas Mann als auch Dieter Wellershoff bewusst innerhalb der literarischen Tradition – und dass es stärkere Parallelen zwischen diesen beiden Autoren gibt, als sie das kühl-distanzierte, allenfalls von Respekt gegenüber »großmeisterliche[r] Schriftstellerkunst«305 geprägte Thomas-Mann-Kapitel aus Wellershoffs Roman-Geschichte vermuten lässt, demonstrieren gerade die beiden Novellen des Jüngeren in bemerkenswerter Weise. 300 Wellershoff: Zikadengeschrei, S. 1068. 301 Thomas Mann an Otto Hoerth, 12.6.1930. In: Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. Hg. v.

Hans Wysling unter Mitarbeit v. Marianne Fischer. Bd. 2. München 1979, S. 367f., hier S. 368. 302 Ebd. 303 Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut, S. 884. 304 So Allkemper: »An den Rändern des Bewußtseins«, S. 137 (in Bezug auf Die Sirene) und Jung: Im

Dunkel des gelebten Augenblicks, S. 258 (in Bezug auf Die Sirene und Zikadengeschrei). 305 Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt, S. 522.

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1.4. Hartmut Lange (geb. 1937) Hartmut Lange hat die Freiheit und Autonomie der Künstlerschaft radikal gelebt und gegen alle Versuche ideologischer Vereinnahmung verteidigt. Seine künstlerische Leistung und der poetische Rang seines epischen Werkes bestehen in der Rückeroberung der Novelle als moderner literarischer Gattung, in der Grunderfahrungen und Bewußtseinskrisen des Menschen von heute Ausdruck finden.306

Mit diesen Worten wurde 1998 die Verleihung des Literaturpreises der KonradAdenauer-Stiftung an Hartmut Lange begründet. Die erste Aussage spielt an auf Langes politische Biographie: Der 1937 in Berlin-Spandau geborene Autor hatte als junger Dramatiker in der DDR begonnen und war von Peter Hacks entdeckt und gerühmt worden; schon 1965 jedoch kehrte er von einer Jugoslawienreise nicht mehr in die DDR zurück. Auch im Westen blieb Lange zunächst marxistisch orientiert und arbeitete überwiegend in der linken Theaterszene; Anfang der achtziger Jahre jedoch zeichnete sich ein grundsätzlicher Wandel sowohl in der Denkweise als auch in der literarischen Produktion Langes ab. Schon sein Tagebuch eines Melancholikers, 1983 beim konservativen Verlag Severin & Siedler unter dem später getilgten Haupttitel Deutsche Empfindungen veröffentlicht, gilt als »Resultat einer fundamentalen Erkenntniskrise, die seinen Glauben an das marxistische Fortschrittsdenken nachhaltig erschüttert hatte, die metaphysischen Grundbedürfnisse des eigenen Ichs dort ausgespart sah und die damit verbundenen Erkenntnisdefizite nun in der Philosophie Schopenhauers, Nietzsches und Heideggers beantwortet finden wollte«.307 Im Zuge dieser Umorientierung entdeckte Lange die Novellenform: 1984 erschien die erste Sammlung unter dem Titel Die Waldsteinsonate. Fünf Novellen. Es folgten als Einzelveröffentlichungen Das Konzert (1986) und Die Stechpalme (1993) sowie die in der Forschung des Öfteren als ›Berliner Novellentrilogie‹308 zusammengefassten Texte Die Ermüdung (1988), Die Wattwanderung (1990) und Die Reise nach Triest (1991). Kleine Novellensammlungen erschienen 1995 unter dem Titel Schnitzlers Würgeengel und 1998 unter der besonders traditionsgesättigten Bezeichnung Italienische Novellen. Zwischen 1999 und 2001 kamen Eine andere Form des Glücks, Die Bildungsreise und Das Streichquartett heraus; 2002 hat der Diogenes-Verlag diese schon bei der jeweiligen Erstveröffentlichung explizit als ›Novellen‹ gekennzeichneten Texte in einer repräsentativen Ausgabe unter dem Titel Gesammelte Novellen in zwei Bänden neu vorgelegt und dabei auch die Texte aus der Sammlung Der Herr im Café. Drei Erzählungen 306 Text der Urkunde zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Hartmut

Lange. In: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. an Hartmut Lange, Weimar, 10. Mai 1998. Dokumentation. Hg. v. Günther Rüther. Wesseling 1998, S. 21. 307 Manfred Durzak: Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. In: Ders. (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 7-11, hier S. 8. 308 Vgl. Ralf Hertling: Das literarische Werk Hartmut Langes. Hoffnung auf Geschichte und Glaube an die Kunst – Dramatik und Prosa zwischen 1960 und 1992. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994 (= Bochumer Schriften zu deutschen Literatur, 41), S. 193-212.

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(2001) miteinbezogen. Schon durch die insgesamt 24 Gattungsbeiträge der Gesammelten Novellen dürfte sich Hartmut Lange als der produktivste Novellenautor der Gegenwart profiliert haben; dass die Sammelausgabe allenfalls eine Zwischenbilanz, aber keinen Einschnitt in Langes Prosawerk darstellt, verdeutlicht die Tatsache, dass schon ab 2003 weitere Novellenbände folgten, die das bisherige novellistische Œuvre Langes sowohl formal als auch inhaltlich bruchlos fortführen.309 Langes Verständnis von ›Novelle‹ ist an der literarischen Tradition orientiert: Die novellentypische Konzentration auf Einzelschicksale sieht er, von Heidegger und dem Existentialismus beeinflusst, als »Konsequenz der Selbstentdeckung« und Selbsterfahrung als »absolutes Subjekt« in der »totale[n] Vereinzelung«.310 Eine episch-breite und »enzyklopädische Ausfaltung des Themas«311 stehe im Widerspruch zu seinem geistigen Naturell, während die »strenge Novellenform« seiner Mentalität entspreche: »Ich komme ja vom Theater, und die Novelle ist typisch für die Prosa eines Dramatikers, der auf strikte Logik und Ökonomie, aufs Weglassen aus ist«312 und »ohne große Umwege zum Höhepunkt drängt«.313 Als Inbegriff eines Novellisten verehrt er Heinrich von Kleist, mit dem er sich auch in eigenen Arbeiten auseinandergesetzt hat: So variiert schon sein Stück Die Gräfin von Rathenow (1969) das Thema der Marquise von O… (und bildet damit vielleicht Langes »Brücke zur Novelle«314), und später hat er den unglücklichen Autor sogar zum Gegenstand der eigenen Novelle Im November315 gemacht. In der sprachlichen Gestaltung sieht sich Lange allerdings weniger durch Kleist als durch Tschechow, den frühen Thomas Mann und Kafka beeinflusst.316 Bei vielen Lesern wecken die »betonte Förmlichkeit«317, die »stilistische Eleganz«318, die »sorgsame Wortwahl« und die »ziselierten

309 Vgl. Hartmut Lange: Leptis magna. Zwei Novellen. Zürich 2003; ders.: Der Therapeut. Drei Novel-

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len. Zürich 2007; ders.: Der Abgrund des Endlichen. Drei Novellen. Zürich 2009. – Die folgenden Ausführungen bleiben auf das Corpus der Gesammelten Novellen beschränkt. Lucie und Joachim Feldmann: Die Erkenntnis rettet niemanden. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Hartmut Lange. In: Am Erker 22 (1999), Heft 38, S. 30-37, hier S. 32. Vgl. zu den philosophischen Einflüssen auch Langes Äußerung: »In der alltäglichen Seinsvergessenheit können Sie sich immer einer Klasse, eine Clique, einem Kulturbetrieb oder zu einer Strömung zugehörig fühlen, aber so kommen Sie nie zur Wahrheit. Denn die Wahrheit besteht daraus, daß Sie allein sind und die Welt allein annehmen müssen« (ebd.). Ralph Schock: Gespräch mit Hartmut Lange. In: Sinn und Form 60 (2008), S. 329-338, hier S. 336. Feldmann: Die Erkenntnis rettet niemanden, S. 32. Schock: Gespräch mit Hartmut Lange, S. 336. Walter Hinck: Montags Tod in Venedig. Hartmut Lange beherrscht die altmeisterliche Kunst der Novelle. [Rezension zu Die Reise nach Triest]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.1991. Vgl. Hartmut Lange: Im November. In: Ders.: Gesammelte Novellen in zwei Bänden. Bd. 1. Zürich 2002, S. 43-60 [zuerst in dem Band Die Waldsteinsonate. Fünf Novellen. Zürich 1984]. Vgl. Schock: Gespräch mit Hartmut Lange, S. 338. Hinck: Montags Tod in Venedig. Manfred Jurgensen: Wahrnehmung und Erscheinung: Hartmut Langes Prosawerk. In: Manfred Durzak, Beate Laudenberg (Hg.): Literatur im interkulturellen Dialog. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Christoph Graf v. Nayhauss. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt/M., New York, Oxford, Wien 2000, S. 186-205, hier S. 196.

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Sätze«319, die »aristokratisch-gewählt[e]«320, »distinguierte« oder gar »altmodisch[e]«321 Sprache von Langes Novellen auch Erinnerungen an Paul Heyse oder Paul Ernst.322 Dass Lange in seinen Novellen immer wieder auf einen begrenzten Vorrat an Themen und Motiven zurückgreift, hat bisher am ausführlichsten Manfred Jurgensen herausgearbeitet; er sieht die »Kohärenz leitmotivischer Chiffrierungen in so zahlreichen, scheinbar unterschiedlichen Erzähltexten« als Indiz »für das Konzept eines bewußt durchkomponierten Gesamtwerks«.323 Zu diesen typischen Motiven rechnet Jurgensen Vereinsamung, Tod oder Selbstmord der Protagonisten, das »Einsetzen einer allumfassend radikalen Wahrnehmungsveränderung«324 infolge einer ›unerhörten Begebenheit‹, die symbolisch aufgeladene Grenzsituation, in die die Hauptfiguren geraten325 und durch die sie sich zunehmend ihrer gewohnten Alltagswelt entfremden, sowie die häufig verwendete Gegenüberstellung von Licht und Dunkelheit. Die Waldsteinsonate (1984) Qualitative Schwankungen sind allerdings nicht zu leugnen: Schon der erste Novellenband Die Waldsteinsonate vereint ausgesprochen konventionelle Gattungsbeiträge mit solchen, die bereits die spannendste Konstellation aufweisen, die in Langes Novellen anzutreffen ist. Es sind besonders die historischen Novellen der Sammlung, die weniger überzeugen: Über die Alpen thematisiert den geistigen Zusammenbruch Friedrich Nietzsches von 1889, Im November den Tod Heinrich von Kleists und Henriette Vogels, Seidel den Selbstmord des nihilistischen Philosophen Alfred Seidel. Doch vor allem die Novellen um Nietzsche und Kleist gelangen kaum über eine belletristische Nacherzählung der dokumentierten Vorgänge hinaus. In der titelgebenden Novelle Die Waldsteinsonate und in dem nur wenige Seiten umfassenden Abschlusstext Die Heiterkeit des Todes dagegen geht es bereits um das Leben und Fortleben der Toten – eine Vorstellung, die in Langes Texten immer wieder auftauchen wird. Der Philosoph Odo Marquard greift auf Heideggers Terminologie zurück, um diese spezifische Eigenschaft von Langes Novellen zu beschreiben: »Sie erzählen das Sein zum Tode – real oder surreal – als Sein vor dem Tode, als Sein im Tode und als Sein nach dem Tode. […] Sie sind – könnte ein philosophischer Phänomenologe in der Phänomenologensprache Husserls und Heideggers 319 Werner Fuld: Die hohe Schule der Melancholie. Hartmut Langes Novelle Das Konzert. In: Frankfur-

ter Allgemeine Zeitung. 26.4.1986. 320 Joachim Kaiser: Das ungenaue Totenreich. Hartmut Langes Novelle Das Konzert. In: Süddeutsche

Zeitung, 30.4./1.5.1986.

321 Ralf Hertling: Das literarische Werk Hartmut Langes, S. 155. 322 (Sehr allgemeine) Analogien zwischen Lange und Paul Ernst sieht vor allem Christian Schwinger:

Schicksalslinien. Aufsätze. Göttingen 1990 (= Jahresgabe der Paul-Ernst-Gesellschaft 1991). 323 Jurgensen: Wahrnehmung und Erscheinung, S. 202. 324 Ebd., S. 187. 325 Vgl. hierzu auch Michel-François Demet: Die Themen der Flucht und der Grenze als wiederkeh-

rende Motive in den Prosawerken von Monika Maron und Hartmut Lange. In: Nicole Bary, Carine Kleiber, Erika Tunner (Hg.): Grenze und Entgrenzung. Lille 1990 (= Germanica, 7), S. 123-133.

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sagen – eidetische Abwandlungen des Seins zum Tode«.326 Terminologisch reduzierter spricht Manfred Jurgensen vom »korrelativen Konzept eines toten Lebens und fortlebenden Todes«.327 Was darunter zu verstehen ist, wird in seiner Irritationskraft und Suggestivität schon in den Anfangspassagen der Waldsteinsonate erfahrbar: Franz Liszt starb am 31. Juli des Jahres 1886, an die näheren Umstände hierzu konnte er sich nicht erinnern. Er fand sich allerdings im Vollbesitz seiner Sinne und geistigen Gaben auf einer Straße wieder und ging zielstrebig – wohin, dies bedeutete ihm eine Einladung, die er in der Tasche hielt, eine Einladung mit der lapidaren Bemerkung: »Frau Magda G. bittet um Ihren Besuch im Bunker der Reichskanzlei, und zwar für den 1. Mai 1945.«328

Im ersten Satz vollzieht sich der Einbruch des Surrealen: Vor dem Komma steht eine sachlich-lexikalisch formulierte Tatsache, nach dem Komma die Beschreibung eines nur metaphysisch vorstellbaren Bewusstseinszustands. Die folgende Ortsangabe und das historisch signifikante Datum stellen einen weiteren Kontext her und verschränken zwei Zeitebenen. Dass der Name ›Goebbels‹ im ganzen Text nicht ausgeschrieben wird, hindert den Leser nicht daran, ihn und seine Frau Magda eindeutig zu identifizieren. Dem verstorbenen und doch lebendigen Franz Liszt allerdings ist das Ehepaar G. nicht bekannt; er weiß ebenso wenig über Josef und Magda G. Bescheid wie über die Umstände des Krieges oder die Tatsache, dass er in »Räumlichkeiten unter der Erde«329 bestellt wurde. Dort trifft er Magda G., die ihn bittet, mit ihrem Mann zu sprechen: »Er will, daß ich meine Kinder umbringe«.330 Josef G. dagegen sieht Liszts Funktion anders: »Ich bin sicher, der unsterbliche Franz Liszt wird dir genügend Kraft geben, das Unvermeidliche zu tun«.331 Magda G. bittet den Komponisten, sich ihrer Kinder anzunehmen, »wenn sie gestorben sind«.332 Mit den Mitteln seiner Kunst versucht er, »das seltsame Paar« aufzuhalten: »Sie werden nicht so unhöflich sein, den Raum zu verlassen, solange ich auf dem Pianoforte spiele. Dies wäre mir in meinem Leben nie begegnet«, fügte er hinzu, und: ›Wenn dieser Krieg in wenigen Stunden beendet sein soll‹, dachte er, ›muß die Musik sie bezaubern. Beethoven! Beethoven wird die Kinder retten. Er ist mächtiger als alles andere‹, dachte er, und: ›Der müßte erst geboren werden, der der Waldsteinsonate widerstehen kann.‹333

326 Odo Marquard: Novellist der Melancholie. Laudatio auf Hartmut Lange [1998]. In: Manfred

Durzak (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 12-15, hier S. 14. 327 Manfred Jurgensen: Die Metaphysik des Geschehens: Wahrnehmung und Erscheinung in Hartmut

328 329 330 331 332 333

Langes Prosa. In: Manfred Durzak (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003. S. 115-148, hier S. 120. Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate. In: Ders.: Gesammelte Novellen in zwei Bänden. Bd. 1. Zürich 2002, S. 27-42, hier S. 27. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33f.

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Wie nicht anders zu erwarten, irrt sich Franz Liszt. Der hinzutretende Arzt, unempfänglich für die Musik, holt Josef G. zu den Kindern. Liszts Fluch – »Wer seine Kinder mordet, der soll in Ewigkeit weder leben noch sterben, weder Vater noch Mutter genannt werden!«334 – bleibt so wirkungslos wie sein Spiel: Er habe, resigniert er schließlich, »der Waldsteinsonate zuviel, ja das Unmögliche zugemutet«.335 Anhand der surrealen Konstellation schreibt Lange eine Novelle über die Grenzen der Kunst: Es ist Selbsttäuschung und Überheblichkeit des Künstlers, wenn er glaubt, mit seinen Mitteln in den historischen Ablauf eingreifen, Mord und Barbarei aufhalten zu können. Im Gegenteil: Nichts schützt seine Kunst davor, zu Durchhaltezwecken missbraucht zu werden – Josef G. sieht ja die Aufgabe der Kunst darin, »Kraft [zu] geben« für das, was zum »Unvermeidliche[n]« mythologisiert wird. Der Ort, an dem Liszt auf die Familie G. trifft, ist der sogenannte Führerbunker. Schon in seinem Theaterstück Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei (1975) hatte Lange die Bunkeranlage unter der neuen Reichskanzlei als eine Art ›Zwischenreich‹ gedeutet, in dem sich verschiedene Zeit- und Existenzebenen überlagern. Anlässlich der Hochzeit von Hitler und Eva Braun wird zu einem ›letzten Abendmahl‹ geladen; als Ehrengäste figurieren in diesem Heterochronotop Friedrich Nietzsche, Franz Liszt und Richard Wagner (der allerdings nicht erscheint): Das Treffen findet also in einem Totenreich statt, in einem Totenreich, das in der theatralen Vergegenwärtigung auch die Nazis umschließt. […] Die Toten, die Nazis wie ihre Gäste, erscheinen hier als Metaphern der Existenz, weil sie unabhängig von zeitgebundenen Problemen in besonderer Eindrücklichkeit demonstrieren, was den Lebenden zukommt. Ihr Denken und Handeln offenbart vermeintliche oder tatsächlich ewige Strukturen, die das menschliche Leiden festschreiben.336

Die Nationalsozialisten erwarten von den Gästen eine Bestätigung ihrer Ideologie, die aber verweigert wird; schon in diesem Theaterstück spielt Liszt Beethovens Waldsteinsonate statt seiner von den Nazis missbrauchten Tondichtung Les Préludes (prägnant-pathetische Takte aus diesem Werk pflegten die Rundfunkmeldungen über den Russlandfeldzug einzuleiten). Sowohl für die Dramen- als auch für die Novellenfigur Liszt gilt allerdings, dass hier eine ambivalente Künstlerfigur gewählt wird, um die Grenzen der Kunst zu demonstrieren: Als Virtuose, der hier nicht mit einer seiner zahlreichen eigenen Kompositionen, sondern nur als Interpret wirken möchte, hat er nicht ganz die künstlerische Autorität, die etwa Beethoven selbst ins Feld führen könnte. Neben seiner Virtuosenaura war es auch die späte Bekehrung Liszts zum geistlichen Stand (nach einem überaus weltlichen und skandalumwitterten Leben), die immer wieder spöttische Äußerungen provoziert hat. Als Künstler wie als Geistlicher schon zu 334 Ebd., S. 41. 335 Ebd., S. 42. 336 Ralf Hertling: Die Hölle unter Berlin, Spiel mit dem Ende: Zu Hartmut Langes Stück Jenseits von Gut

und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei. In: Manfred Durzak (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 67-89, hier S. 70f.

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Lebzeiten umstritten, repräsentiert Liszt dennoch mit der Kunst und der Religion zwei zentrale sinngenerierende Systeme, deren Fähigkeit, gegen Terror und Barbarei vorgehen zu können, sowohl im Drama Jenseits von Gut und Böse als auch in der Novelle Die Waldsteinsonate resignativ verneint wird. So bleibt Liszts Gang in die ›Unterwelt‹ des Führerbunkers wirkungslos. Anders als dem mythologischen Sänger Orpheus (dem der historische Liszt 1854 eine seiner Tondichtungen gewidmet hat) gelingt es ihm nicht einmal phasenweise, den Tod aufzuhalten oder umzukehren; so wird er zum »Anti-Orpheus«337, dessen Spiel kein Leben schenken, sondern allenfalls und wider Willen den Tod ästhetisieren kann. Ebenso wenig kann Liszt als Geistlicher bewirken: Im Drama versagt der christlichmoralische Protest, den Liszt gegen den mörderischen Nihilismus vorbringt, in der Novelle erteilt er Magda G. fast so etwas wie eine Absolution, »als sie nochmals und nun mit aller Eindringlichkeit von ihm wissen wollte, ob auch er glaube, daß sie nicht schuldig seien«: »Madame, ich weiß es nicht. Aber da Sie es sagen, will ich es glauben«.338 Auffällig zurückhaltend bleibt der Text in seiner Beurteilung der nationalsozialistischen Herrschaftsträger. Magda G. erscheint in erster Linie als leidende Mutter unter dem Druck übermächtiger Verhältnisse; aber auch Josef G. präsentiert sich überwiegend so, wie es seinem idealisierten Selbstbild entsprochen haben mag: pathetisch, aristokratisch, konsequent. Da der Liszt der Novelle nicht mehr über die Familie G. weiß, als er während der erzählten Zeit zu sehen bekommt, kann nur das textexterne Vorwissen der Leser eine kritischere und distanziertere Sehweise der G.s ermöglichen. Ralf Hertling hat in Bezug auf den Goebbels aus Jenseits von Gut und Böse Bedenken geäußert dahingehend, dass die Figur in ihrer Stilisierung »als intellektueller Magier eine möglicherweise verlockend wirkende Erscheinung des Dämonischen« verkörpern und so zur »Verklärung des Terrorsystems« beitragen könne339; obwohl der Josef G. der Waldsteinsonate weniger stark konturiert wird, ist diese Gefahr auch hier gegeben. Generell aber gehört die zurückhaltend-behutsame Perspektive auf die Täter zu den Spezifika von Langes Blick auf Nationalsozialismus und Holocaust; ermöglicht wird sie durch die surrealen Konstruktionen, innerhalb derer Täter und Opfer miteinander konfrontiert werden. Der nur siebenseitige Text Die Heiterkeit des Todes treibt eine solche Konstellation auf die Spitze: Hier sind sich der Mörder und sein Opfer postmortal in Liebe zugetan und weisen das selbstgerechte moralische Urteil der Nachwelt zurück. Allerdings federt Lange die Provokation dieser Vorstellung ab, indem er sie am Ende als Vision des Ich-Erzählers deklariert: »›Es war eine Erscheinung‹, denke ich und bin erleichtert. Denn wäre, was ich gesehen und gehört habe, wahr, dann gäbe es die Heiterkeit des Todes, und ich wünschte, keine Minute länger

337 Schwinger: Schicksalslinien, S. 13. 338 Lange: Die Waldsteinsonate, S. 37. 339 Hertling: Das literarische Werk Hartmut Langes, S. 129.

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zu leben.«340 Zu den verführerischen Aussagen, die der Ich-Erzähler von der toten Jüdin und dem hingerichteten Angehörigen der Totenkopf-SS gehört hat, zählen etwa »Auch der Mörder wird erlöst« und »Die Schuldigen sind die Schwachen«341; der Mörder fragt auf die Vorwürfe des Ich-Erzählers hin: »Und wann, mein Herr, wenn nicht im Tod, soll die Schuld, die wir im Leben haben, endlich einmal beglichen sein?«, die Ermordete sekundiert: »Da uns das Leben unglücklich macht, geschehen im Tod die Zeichen und Wunder!«342 Der Ich-Erzähler erscheint als derjenige, der die Toten nicht »in Ruhe lassen«343 kann und keine Sühnemöglichkeit zugesteht; die Toten sind darüber längst hinaus und scheinen »ihre Jugend, um die man sie gebracht hat, im Tode nachholen«344 zu wollen (und zu können). Das Konzert (1986) In seiner bekanntesten Novelle Das Konzert (1986) knüpft Lange an die surrealen Vorstellungen an, die er bereits im Theaterstück Jenseits von Gut und Böse sowie in den älteren Novellen Die Waldsteinsonate und Die Heiterkeit des Todes entfaltet hat. Der Autor selbst beurteilt seinen Text rückblickend als unbegriffene Provokation: Ich halte Das Konzert auch 14 Jahre nach seinem Erscheinen für ein kühnes Buch, das wahrscheinlich wegen dieser Kühnheit vom Literaturbetrieb, von wenigen Ausnahmen abgesehen, totgeschwiegen wurde. Weil nämlich viele Kritiker den Faschismus immer nur aus der moralinsauren naturalistischen Perspektive sehen können. Sie können sich mit dem Problem von Schuld und Sühne so gar nicht beschäftigen.345

Die Handlung spielt ausschließlich unter Toten, in einer Art Parallelwelt, deren literarische Ausformung strukturelle Ähnlichkeiten mit motivverwandten Texten etwa von Samuel Beckett und Jean-Paul Sartre, aber auch von Vertretern des ›Magischen Realismus‹ der Nachkriegszeit aufweist.346 Lange hat großen Wert darauf gelegt, die »Struktur der Transzendenz« zu wahren: »Wenn ich nur einen Lebenden auftreten lassen würde, wäre das Buch metaphysische Kolportageliteratur«.347 So bleibt alles, was im Text geschildert wird, »für die Blicke der Lebenden unsichtbar«.348 Die Toten gehen in Berlin spazieren, bewohnen Villen, die es nicht mehr 340 Hartmut Lange: Die Heiterkeit des Todes. In: Ders.: Gesammelte Novellen. Bd. 1, S. 75-81, hier

S. 81. – Wie nah sich der Autor selbst seinem Erzähler fühlt, hat Lange in seinen Poetikvorlesungen formuliert, vgl. Hartmut Lange: Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller. In: Irrtum als Erkenntnis. Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller. Zürich 2002, S. 7-55, hier S. 45f. 341 Lange: Die Heiterkeit des Todes, S. 78. 342 Ebd., S. 80. 343 Ebd. 344 Ebd., S. 79. 345 Feldmann: Die Erkenntnis rettet niemanden, S. 35. 346 Vgl. dazu Manfred Durzak: Opfer und Täter. Hartmut Langes Beitrag zur Holocaust-Literatur in seiner Novelle Das Konzert. In: Ders. (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003, S. 178-190, bes. S. 179-182. 347 Feldmann: Die Erkenntnis rettet niemanden, S. 35. 348 Hartmut Lange: Das Konzert. In: Ders.: Gesammelte Novellen. Bd. 1, S. 83-183, hier S. 87.

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gibt, wechseln ihre Garderobe, können »Pfannkuchen mit Pflaumenmus«349 essen oder Zigaretten rauchen, »übernächtigt«350 sein und Kopfschmerzen haben; nur ihr Alter bleibt ewig gleich. Berlin wird ihnen auf eine Art und Weise zum ›Gedächtnisort‹, die in vielerlei Hinsicht der großen Metapher entspricht, die Sigmund Freud gewählt hat, um in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur die These zu illustrieren, dass nichts im Seelenleben untergehen kann. Freud entwickelt die »phantastische Annahme«, dass jede historische Entwicklungsstufe Roms gleichzeitig präsent sein könne, also »neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen« würden: [A]n der Stelle des Palazzo Caffarelli stünde wieder, ohne daß man dieses Gebäude abzutragen brauchte, der Tempel des Kapitolinischen Jupiter, […] derselbe Boden trüge die Kirche Maria sopra Minerva und den alten Tempel, über dem sie gebaut ist. Und dabei brauchte es vielleicht nur eine Änderung der Blickrichtung oder des Standpunktes von seiten des Beobachters, um den einen oder den anderen Anblick hervorzurufen. Es hat offenbar keinen Sinn, diese Phantasie weiter auszuspinnen, sie führt zu Unvorstellbarem, ja zu Absurdem. Wenn wir das historische Nacheinander räumlich darstellen wollen, kann es nur durch ein Nebeneinander im Raum geschehen; derselbe Raum verträgt nicht zweierlei Ausfüllung. Unser Versuch scheint eine müßige Spielerei zu sein; er hat nur eine Rechtfertigung: er zeigt uns, wie weit wir davon entfernt sind, die Eigentümlichkeiten des seelischen Lebens durch anschauliche Darstellung zu bewältigen.351

Die Toten in Langes Novelle vermögen genau das, was Freud hier imaginiert – etwa wenn Max Liebermann einen Spaziergang zum gesprengten Berliner Schloß unternimmt (wo er zur Entstehungszeit des Konzerts noch den Palast der Republik vorfinden konnte): Für ihn war die Gegend, die man Unter den Linden nannte, noch in dem Zustand, den er vor Augen gehabt hatte, bevor er gestorben war. Aber er hatte auch, und dies ist das Geheimnis der Toten, den Blick für das Gegenwärtige, und so sah er gleichzeitig, daß es dieses Schloß nicht mehr gab und daß man an ebenjenem Platz, auf den er sich zubewegte, eine Monströsität aus Glas und Beton errichtet hatte.352

Bemerkenswert ist das rege gesellschaftliche Leben der Parallelwelt: »Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen«353 hat, bemüht sich, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, die als »elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin«354 und Freundin Max Liebermanns beschrieben wird. Frau Altenschul veranstaltet ihre kulturell ambitionierten Soireen,

349 Ebd., S. 113. 350 Ebd., S. 172. 351 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. (1930 [1929]). In: Ders.: Fragen der Gesellschaft/

Ursprünge der Religion. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt/M. 1974 (= Studienausgabe, 9), S. 191-270, hier S. 202f. 352 Lange: Das Konzert, S. 84. 353 Ebd., S. 83. 354 Ebd.

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um für sich selbst und für andere, die dies ebenfalls wünschten, das Erlebnis eines schrecklichen Todes vergessen zu machen. Denn wer, wie sie, dazu verdammt gewesen sei, in einer überfüllten Grube, mit verdrehtem Kopf und verrenkten Gliedmaßen bis in alle Ewigkeit daliegen zu müssen, für den sei es doch selbstverständlich, daß er sich darum bemühe, die schönen Dinge des Lebens wieder vor Augen zu haben.355

Ihrem sprechenden Namen gemäß erweist sie sich als Gesellschaftsdame ›alter Schule‹; dass sie aus Fontanes Geburtsort Neuruppin stammt356, mag diesen Rückverweis auf vergangene Zeiten noch verstärken. Die Brutalität des nationalsozialistischen Judenmords wird durch die surreale Konstruktion, dass sich Frau Altenschul von der eigenen Ermordung distanziert, als sei sie ein kompromittierendes Malheur, eher gesteigert als verharmlost. Wenn die Gesellschaften Frau Altenschuls den Rahmen für die in der Novelle geschilderten Unterhaltungen bilden, ist dies auch eine klar erkennbare Reverenz vor der älteren Novellentradition; Frau Altenschul erscheint als bürgerliche Nachfahrin von Goethes Baronesse von C., die in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten kultivierten Umgang und ›gesellige Bildung‹ einfordert357, und hinter diesem ersten großen Novellenzyklus der deutschen Literatur steht wiederum das gattungsprägende Vorbild von Boccaccios Decamerone. Auch Goethes vielzitierte Novellendefinition greift Lange auf: »Nach dieser unerhörten Begebenheit blieb Lewanski unauffindbar«358, lautet der erste Satz des vorletzten Kapitels. Innerhalb der an sich schon ›unerhörten‹ Konstellation gibt es also eine nochmals besonders hervorgehobene ›Begebenheit‹: Sie besteht darin, dass der Pianist Rudolf Lewanski359, der achtundzwanzigjährig von den Nationalsozialisten ermordet wurde, sein lange erwartetes Berliner Konzert letztlich doch nicht in der (1944 zerstörten) Alten Philharmonie vor ermordeten Juden, sondern im sogenannten Führerbunker vor den toten nationalsozialistischen Mördern gibt – als Geste der Versöhnung, die allerdings fehlschlägt. Lewanski muss das Konzert abbrechen, weil ihm die Reife, die er für die Interpretation von Beethovens Sonate op. 109 bräuchte, unerreichbar erscheint: »Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen«.360 Der »Riß«361 (ein Lieblingswort des Existentialismus) zwischen der Welt der Opfer und der Welt der Täter ist nicht zu heilen. 355 Ebd., S. 174. 356 Ebd., S. 128. 357 Vgl. Sascha Kiefer: »Gesellige Bildung«. Ein Ideal des Rokoko und seine Fortschreibung in Goethes

358 359

360 361

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795). In: Literatur und Kultur des Rokoko. Hg. v. Matthias Luserke, Reiner Marx, Reiner Wild. Göttingen 2001, S. 235-249. Lange: Das Konzert, S. 170. Lewanski ist keine historische Figur, aber dem Vorbild des unter ähnlichen Umständen ermordeten Pianisten Karlrobert Kreiten angenähert, dem Lange 1987 ein Theaterstück gewidmet hat. Vgl. Friedrich Lambart (Hg.): Tod eines Pianisten – Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer. Mit den Theaterstücken von Hartmut Lange und Heinrich Riemenschneider. Berlin 1988. Lange: Das Konzert, S. 170. Ebd., S. 169.

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Damit ist wohl auch das eigenwillige Erlösungskonzept gescheitert, das vor allem der gleichfalls ermordete, als zwielichtig und zynisch beschriebene »Novellist«362 Schulze-Bethmann vertreten hatte: Als einziger unterhält er so etwas wie freundschaftliche Beziehungen zu seinem reuigen Mörder; eine Vorstellung, die Frau Altenschul und ihr Kreis rigoros ablehnen. Frau Altenschul hofft, durch schöngeistige Veranstaltungen die Vergangenheit vergessen zu machen und über die verachteten Mörder zu triumphieren; durch seine Rückkehr aufs Konzertpodium könne sich Lewanski »seinem Schicksal widersetzen und die Laufbahn eines Pianisten, um die man ihn gebracht hatte, im Tode nachholen«.363 Schulze-Bethmann dagegen gibt zumindest vor, den Kreislauf von Hass und Demütigung postmortal durchbrechen zu wollen. Ein Konzert, in dem der Ermordete seinen »Mörder zu Tränen rühren«364 würde, sieht er als Chance der »Versöhnung«365 mit den toten Nationalsozialisten, die im unterirdischen Führerbunker »auf ihre Erlösung warten und also in bußfertiger Weise versammelt sind«.366 Indem Lewanski zu seinem Konzert in der Philharmonie nicht erscheint, werden Frau Altenschuls Intentionen zunichte; ihr Salon verödet in der Folge. Der Abbruch des Konzerts im Führerbunker lässt aber zugleich auch Schulze-Bethmanns Versöhnungshoffnung scheitern: »Die Erinnerung an die Ermordung ist stärker als die Bereitschaft zum Verzeihen«.367 So bleibt das SchuldSühne-Problem auch postmortal ungelöst – wenn man so will, ist der auktoriale Erzähler der Novelle Das Konzert nicht nur »die einzige Verbindung zwischen den Toten und den Lebendigen, den Lesern«, sondern auch der einzige, der »durch das Erzählen jene Erlösung gefunden [hat], die er für die anderen sucht«.368 Ein Selbstgespräch Max Liebermanns und ein Dialog Schulze-Bethmanns mit seinem Mörder lassen das Ende der Novelle trotzdem offen erscheinen; wie so oft in seinen Prosawerken hält Lange den Ausgang in der Schwebe. Ungelöst bleibt etwa die Frage, ob Lewanski in seiner postmortalen Existenz weiterhin gebunden bleiben wird an die Ausdrucksmöglichkeiten des Achtundzwanzigjährigen – denn während er diese Frage beim Konzert im Führerbunker bejaht, hatte er sie in Bezug auf vorangegangene Proben verneint. Damit ist auch nicht entschieden, ob die Kunst generell nicht ausreicht, um das Leid der Welt zu transzendieren und ›Erlösung‹ zu gewähren, oder ob es sich um ein akzidentelles Versagen gehandelt hat; da SchulzeBethmann als problematische Figur geschildert wird, steht die Lauterkeit seiner Versöhnungsvorstellung ebenso in Frage wie die von Lewanskis Motiven: immerhin

362 Ebd., S. 140. 363 Ebd., S. 158. 364 Ebd., S. 112. 365 Ebd., S. 160. 366 Ebd., S. 142. 367 Rüdiger Bernhardt: Die Sühne nach dem Tod. Hartmut Lange: Das Konzert (1986). In: Deutsche

Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 313-322, hier S. 320. 368 Ebd., S. 315.

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scheint es vor allem dessen künstlerische »Eitelkeit«369 zu sein, die ihn vor das Publikum des Führerbunkers treten lässt. Obwohl die Idee des Erlösungskonzerts in der Novelle scheitert, signalisiert der Text letztlich doch ein starkes Vertrauen auf die Möglichkeiten der Kunst und auf die bürgerlichen Rituale ihrer Pflege. Lange macht keinen Hehl daraus, dass er die im 20. Jahrhundert so häufige politische »Stigmatisierung des Bürgertums« für einen Fehler mit irreparablen Folgen hält und im »Bekenntnis zur Bürgerlichkeit« den Versuch sieht, »auf das letzte goldene Zeitalter der Zivilisation zu verweisen«370; sowohl Frau Altenschuls Salongeselligkeit als auch Schulze-Bethmanns kathartisches Versöhnungskonzept sind fest im Kulturverständnis des späten 19. Jahrhunderts verankert. Die Kunst und die Bereitschaft, sich von ihr bewegen zu lassen, erscheinen noch im Totenreich als die einzigen Instanzen, die sogar eine Transzendierung der Täter-Opfer-Konstellation und damit ›Erlösung‹ ermöglichen könnten. Nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Das Konzert hat Lange in seiner Rede Zeichen der Kunst. Streben nach Transzendenz, die er 1988 zur Eröffnung der Guardini-Stiftung in Berlin hielt, sein im Wesentlichen antiaufklärerisches, auf Transzendenz bezogenes Konzept einer Sinngebung durch Kunst theoretisch entfaltet; Ralf Hertling hat diese Rede überzeugend interpretiert und in ihrer Funktion für Langes intellektuelle Biographie bestimmt: »Die Genese der kunstreligiösen Weltanschauung wird offensichtlich durch das Bemühen des Autors vorangetrieben, die Sicherheit, die Hegel und Marx ihrem Anhänge boten, auf anderem Wege wiederherzustellen«.371 Zwar betont Lange in seiner Rede (ganz im Sinn des im Konzert relativierten Erlösungskonzepts), dass die Kunst »alles, was unter gegenseitiger Ausgrenzung aneinander leidet«, wie etwa die Religion und die moderne Wissenschaft, lediglich »trösten« könne: »Ich sage ausdrücklich trösten, nicht erlösen!«372 Doch selbst diesen Trost kann die Kunst nur spenden, wenn sie transzendiert wird; hier bewegt sich Lange in deutlicher Nähe etwa zu dem Literaturwissenschaftler George Steiner oder dem Autorenkollegen Botho Strauß, die gleichfalls Ende der achtziger Jahre nachdrücklich für eine Reauratisierung und Remythisierung der Kunst eingetreten sind. Steiner in seinem Buch Real Presences, Strauß in seinem Nachwort zu dessen deutscher Ausgabe Von realer Gegenwart373 sowie in weiteren Essays knüpfen an kunstreligiöse Anschauungen an, die in Deutschland von Klopstock über die Romantik bis hin zum Stefan George und der Konservativen Revolution in verschiedener Ausprägung vertreten wurden und die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dem Kunstwerk und dem Künstler einen sakralen Status zuzumessen: Im Kunstwerk wird ihrer Ansicht nach eine Präsenzerfahrung von Sinn möglich, die durch nichts anderes erreichbar sei, der Lange: Das Konzert, S. 153. Ders.: Reflexionen. In: Ders.: Irrtum als Erkenntnis, S. 57-143, hier S. 90. Hertling: Das literarische Werk Hartmut Langes, S. 233. Hartmut Lange: Zeichen der Kunst. Streben nach Transzendenz. In: Ders.: Irrtum als Erkenntnis, S. 145-162, hier S. 154. 373 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, München, Wien 1990. 369 370 371 372

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Künstler vertritt das ›Andere‹, das ›Fremde‹, das ›Wahre‹ inmitten einer nivellierten, vom ›Gerede‹ dominierten Gegenwart.374 Ähnliche kunstreligiöse Implikationen sind auch bei Hartmut Lange nicht zu übersehen, und der insgesamt traditionalistische Gestus seiner literarischen Produktion mag auch im Zusammenhang mit dieser Auffassung von Kunst und Kultur stehen. Das Bedürfnis, sich ausdrücklich des Novellenbegriffs zu bedienen, charakteristische Wendungen wie die von der ›unerhörten Begebenheit‹ zu integrieren, eine gehobene und dadurch Distanz schaffende Sprache zu verwenden, entspringt auch dem Wunsch, sich zu einer bürgerlich-konservativen Tradition zu bekennen. Indem Lange auf dieser Basis das schwierige und unbewältigte Thema der nationalsozialistischen Verbrechen aufgreift, gelingt es ihm immerhin auch, Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen, die über die notwendig stagnative Täter-Opfer-Dichotomie der sogenannten Holocaust-Literatur hinausgehen.375 Insofern mag man Hugo Aust zustimmen, wenn er Das Konzert unter den gegenwartsnahen Novellen besonders hervorhebt: »Meiner Ansicht nach erreicht hier die Novellenform an einem unbewältigten Thema den Gipfel ihrer Ausdruckskraft und bewährt sich als phantastischkonstruktive Struktur für utopisches Denken«.376 Tod und Transzendenz spielen auch in vielen späteren Novellen Langes eine entscheidende Rolle; anders als Das Konzert aber sind diese Texte nicht mehr in einem imaginierten Totenreich angesiedelt. Thematisiert werden vielmehr Grenz- und Krisensituationen: In den Alltag der Protagonisten – meist handelt es sich um gesetzte Bürger mittleren Alters, die Berufe wie Arzt, Professor oder Verleger ausüben – bricht etwas herein, das sie rational nicht integrieren können; die Außenwelt kann weder den Anlass der plötzlichen Veränderung nachvollziehen noch die Heftigkeit, mit der sich der Betroffene auf einmal von vertrauten Handlungsmustern abwendet. Isolierung und Vereinsamung sind die logische Folge; wieder ist die existentialphilosophische Tendenz von Langes Werk unverkennbar: »Die Figuren erfahren etwas, das sie gar nicht erkennen können, aber als wirklich wahrnehmen, und ich finde, daß das Leben so ist«.377 Begegnungen mit dem Wahnsinn oder dem Tod – aus Langes Novellen ließen sich eine Galerie von Todesboten und eine Sammlung von Todessymbolen zusammenstellen –, mit dem Sterben oder auch mit Verstorbenen werden gestaltet und variiert; der Zusammenhang mit der älteren Novellentradition ist offensichtlich: Jede dieser ›Begegnungen‹ impliziert eine ›Begebenheit‹ mit weitreichenden Folgen; der Protagonist wird immer in der passiven Lage dessen gezeigt, dem etwas geschieht, und, »gerade Geschehnisse, die nicht als selbstverantwortet erscheinen, sondern ›begegnen‹, stellen das Substrat eines Lebenssinnes dar, in dem Zufall und 374 Vgl. dazu prägnant zusammenfassend Wolfgang Braungart: »Theophane Herrlichkeit«. Utopie,

Utopiekritik und Ästhetik der Präsenz bei Botho Strauß. In: Rolf Jucker (Hg.): Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft. Zur Kontroverse seit den 80er Jahren. Amsterdam, Atlanta 1997, S. 295-311. 375 Vgl. dazu vor allem Durzak: Opfer und Täter, S. 182f., 190. 376 Aust: Zur Entwicklung der Novelle in der Gegenwart, S. 87. 377 Feldmann: Die Erkenntnis rettet niemanden, S. 33.

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Schicksal, Einbruch und Wende, Bestimmung und Notwendigkeit ihren charakteristischen Ort einnehmen«.378 Langes Prosawerk führt insofern auch eine poetologische und literaturwissenschaftliche Tradition fort, die die Novellenform semantisiert, indem sie sie mit einer dezidiert weltanschaulichen Perspektive verbindet; sowohl der von Hermann Pongs favorisierte Begriff des ›Dämonischen‹ als auch die auf Transzendenz ausgerichtete Novellenproduktion einer Gertrud von le Fort oder eines Werner Bergengruen bieten Möglichkeiten, Langes Prosawerk in größere literarhistorische Zusammenhänge zu stellen. Das hat ihm die Sympathie kulturkonservativer Interpreten von Odo Marquard bis Botho Strauß gesichert. Von letzterem stammt ein Interpretationsabriss der Novelle Schnitzlers Würgeengel, der die Qualitäten wie auch die Gefahren von Langes Schreibweise umreißt: Strauß bescheinigt dem Text, der Arthur Schnitzlers ›Würgeengel‹ und Todesboten als wissend-unwissenden Ich-Erzähler einführt, eine »wunderliche Atmosphäre« und eine Wirkung von »stiller Eindringlichkeit«; seine Ausführungen münden in das Fazit: Der Erzählung mangelt es an der schöneren Kennzeichnung, dem sinnlichen Detail, etwas den Personen Eigentümliches wird nicht geschildert. Allzu leicht könnte ein beredsamer Stil sich verräterisch auswirken, die Geschichte lebt von ihrer inszenierten Verschwiegenheit. Nur vermittels der entzogenen Farbe erreicht sie ihre verfängliche Wirkung – und wenn diese nur jenes irrende Lesen, jenes Verlesen auslöste, das ich gern auf mich nehme, insofern es das Unheimliche in Schnitzlers Haus noch einmal bezeugt.379

Indirekt greift Strauß hier Einwände auf, die gegen Hartmut Langes Novellen durchaus vorgebracht werden können, die sich gegen den eklektizistischen Duktus richten und dem Autor nicht nur Konventionalität, sondern auch Blässe und Unsinnlichkeit vorwerfen. Strauß widerlegt eine solche Kritik nicht, sondern bindet sie in seine Interpretation ein: Nicht als Vorwurf gegen den Autor, sondern als Voraussetzung für eine bewusst gepflegte Ästhetik der Leerstelle, für eine »Aussparungstechnik«380, die Lücken und Offenheiten belässt, um den Leser in einem Zustand der Irritation zu erhalten – und damit eine im Wesentlichen klassizistisch ausgerichtete Novellentradition in einer letztlich doch spezifischen Form in die Gegenwart fortführt.

1.5. Uwe Timm (geb. 1940) Im Kontext einer »Wiederkehr des Erzählens« in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist auch das Werk des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zu betrachten. Seine 1993 veröffentlichten Poetikvorlesungen Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags dokumentieren schon durch Titel und Untertitel 378 Aust: Novelle, S. 9. 379 Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. München, Wien 1997, S. 142f. 380 Manfred Durzak: Vorwort. In: Ders.: Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange, S. 7-11, hier

S. 9.

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zentrale Überzeugungen ihres Autors: Timm begreift das Erzählen als ein anthropologisches Grundbedürfnis, das daher auch in der Moderne nicht obsolet werden kann. Die unter anderem von Adorno381 vertretene, vielfach aufgegriffene und variierte Auffassung, »die heutige Wirklichkeit ließe sich nicht mehr erzählend darstellen, weil sie zu kompliziert sei«, sieht er als Resultat eines verfehlten Literaturverständnisses, »das der Literatur Erkenntnisse abverlangt, die sie gar nicht geben kann«382 – um den Preis, dass zugleich das verspielt wird, was Literatur zu leisten vermag, wenn sie weder »auf einen metaphysischen Fluchtpunkt«, noch »auf die Weltrevolution«, sondern »auf die Realisierbarkeit von Freiheit und Glück des einzelnen« gerichtet ist, »ohne das Unglück und die Unfreiheit der anderen aus dem Blick zu verlieren«.383 Für Timm ist das Alltagserzählen existentiell, das literarische Erzählen eher »der schöne Überfluß«384 – doch als privilegierter Sonderfall des alltäglichen Erzählens besitzt auch dieser »identitätsbildende«385 und damit sinnstiftende Funktion. Eng verbunden mit dem Primat des Erzählens ist das im Untertitel der Poetikvorlesungen angesprochene Interesse an einer »Ästhetik des Alltags«.386 Literatur kann und soll in Timms Verständnis die Wahrnehmung schärfen für Alltagsphänomene, die im Leben zahlreicher Menschen einer Rolle spielen, ohne tatsächlich registriert oder gar auf ihre Herkunft hin befragt zu werden. In seinen Poetikvorlesungen nennt Timm zwei Beispiele aus seinem damals aktuellen Schreibprojekt: Wann und wo ist die Currywurst entstanden? Und wer hat sie erfunden? Haben mehrere an diesem Rezept gearbeitet? Oder gibt es einen Entdecker der Currywurst? Mich beschäftigen diese Fragen schon seit Jahren. Jetzt schreibe ich eine Novelle darüber. Die Entdeckung der Currywurst. […] Die Entdeckerin heißt Frau Brücker und sagt – das steht in keinem Zusammenhang zur Currywurst – zu ihrem wesentlich jüngeren Geliebten »O.K.«. Sie sagt es zum ersten Mal.387

Die beiden Alltagsphänomene, denen die angekündigte Novelle nachzugehen verspricht, sind also zum einen ein Schnellgericht, das sich in der Nachkriegszeit vor allem in Norddeutschland durchsetzte, zum anderen eine anglo-amerikanische Sprachfloskel, die heute zum festen Wortschatz der Deutschen gehört, sich aber gleichfalls erst in der Nachkriegszeit etabliert haben kann. Timm hat in beiden Fragen Nachforschungen angestellt; Journalisten und Kritiker bestätigen ihm häufig, dass er – in dieser Hinsicht ganz ›realistischer‹ Autor – für seine Bücher »recher-

381 Vgl. z.B. Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Ders.: Noten

zur Literatur I. Frankfurt/M. 1971, S. 61-72. Uwe Timm: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln 1993, S. 84. Ebd., S. 87. Ebd., S. 90. Ebd., S. 101. Vgl. dazu auch Keith Bullivant: Uwe Timm und die Ästhetik des Alltags. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. v. Manfred Durzak und Hartmut Steinecke in Zusammenarbeit mit Keith Bullivant. Köln 1995, S. 231-243. 387 Timm: Erzählen und kein Ende, S. 34. 382 383 384 385 386

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chiert«, »und zwar lange und gründlich«.388 Wie so oft bei Alltagsphänomenen ist allerdings recht schnell der Punkt erreicht, an dem sich die Überlieferungsgeschichte im Kollektiven verliert, nicht mehr festzustellen ist, wer zu welchem Zeitpunkt als erster oder erste ein bestimmtes Rezept erfunden, einen bestimmten Handgriff ausgeführt oder einen bestimmten Ausdruck gebraucht hat. Wo alltagshistorische Recherchemöglichkeiten an ihre Grenzen geraten, entspringt – zumindest im Fall von Timms Novelle über Die Entdeckung der Currywurst – das literarische Erzählen. Die Entdeckung der Currywurst (1993) Entstehungsgeschichtlich ist der inzwischen auch verfilmte389 Text schon in Timms 1991 erschienenem Roman Kopfjäger angelegt, wo die Protagonistin der Novelle, Lena Brücker, zu den Nebenfiguren gehört. Schon hier wird sie als »Erfinderin der Currywurst«390 apostrophiert, mit dem Zusatz, dass nur noch der Ich-Erzähler ihre genaue Geschichte kenne, nach der auch sein Onkel, ein bekannter Autor, giere. In diesem Spiel mit der Fiktion und der Autorinstanz zeigt sich ebenso wie in der erzählerischen Ausgliederung des Handlungsstrangs eine Analogie zu Günter Grass: Grass hatte Mahlkes Geschichte ja ursprünglich auch in die späteren Hundejahre integrieren wollen; erst das starke, die Gesamtkonzeption beeinträchtigende Eigengewicht dieses Erzählstrangs brachte ihn dazu, die isolierte Ausarbeitung des Stoffes in Form der Novelle Katz und Maus vorzuziehen.391 Der ungewöhnliche, vielleicht befremdlich wirkende Titel392 Die Entdeckung der Currywurst wird durch den literarischen 388 Ulrich Greiner: Der Geschichtensammler. Weshalb Uwe Timms Bücher die Kritik nicht wirklich

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benötigen. In: Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Hg. v. Helge Malchow. Köln 2005, S. 25-31, hier S. 26. Die gut besetzte Produktion (Deutschland 2007, Regie: Ulla Wagner, Darsteller: Barbara Sukowa, Alexander Khuon) verzichtet leider auf eine filmische Umsetzung der Rahmenerzählung. Uwe Timm: Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes. Roman. Köln 1991, S. 50. Weitere Parallelen zwischen Timm und Grass sind im Übrigen leicht zu ziehen – das von Timm in Johannisnacht ausgeführte Thema einer ›Kulturgeschichte der Kartoffel‹ wie überhaupt der vielfach variierte Zusammenhang von Essen, Erzählen und Erotik verweisen auf entsprechende Interessen von Grass, die sich in Kartoffelschalen, dem ursprünglichen Titel der Hundejahre, genauso niederschlagen wie in Der Butt, der sich mit Fragen des Kochens und der Kulturgeschichte der Ernährung auseinandersetzt; dass einzelne Figuren in verschiedenen Werken wiederauftauchen, erinnert ebenfalls an Grass, zumal das Hamburg der unmittelbaren Nachkriegszeit für Timm zumindest partiell und mutatis mutandis eine ähnliche Funktion auszuüben scheint wie das Vorkriegs-Danzig für Grass – als in der erinnerten Form nicht mehr existenter Ort einer Kindheit und Jugend, der nur erzählerisch wiedergewonnen werden kann; auch Timm betrachtet den Nationalsozialismus aus einer Perspektive ›von unten‹ (die kulinarischen Sabotageakte des Kochs Holzinger z.B. wären so ähnlich auch bei Grass vorstellbar, vgl. Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst. Novelle. Köln 1993, S. 61-68), und dass der Kopfjäger den Vergleich mit der Blechtrommel aushalten kann, ist erst jüngst in einer einleuchtenden Analyse gezeigt worden (vgl. Olaf Petersenn: Ein Schelm in der modernen Wirtschaftswelt. Uwe Timms Kopfjäger. In: Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Hg. v. Helge Malchow. Köln 2005, S. 121-130). Irritationen zeitigt zunächst der Begriff ›Entdeckung‹, wo man eher ›Erfindung‹ erwarten würde; dass das Thema in Gegenden, in denen die Currywurst nicht zum alltäglichen Nahrungsangebot gehört, eher auf Reserve stößt, belegen etwa die schweizerischen Rezensionen: »Was kümmert uns,

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Text insofern eingelöst, als tatsächlich eine fiktionale Antwort darauf gegeben wird, unter welchen Umständen es zur ›Entdeckung‹ der Currywurst gekommen sein könnte. Im Mittelpunkt steht zunächst jedoch eine Liebesgeschichte. Hauptfigur ist – erstmals bei Timm393 – eine Frau, die 1902 geborene Hamburgerin Lena Brücker; ihr Mann ist im Krieg, sie selbst in einer Kantine dienstverpflichtet. Im April 1945 lernt sie den erst vierundzwanzigjährigen Bootsmann Hermann Bremer kennen; sie versteckt ihn in ihrer Wohnung und ermöglicht ihm so die Desertion. Lena Brücker genießt diese Liebe so sehr, dass sie Bremer das Kriegsende verschweigt, um den verheirateten jungen Mann länger bei sich zu behalten; Ende Mai 1945 jedoch durchschaut Bremer das Spiel und verlässt die Wohnung, ohne noch einmal mit Lena gesprochen zu haben. Die Entdeckung der Currywurst ist mit dieser Liebesgeschichte verknüpft – aber eher indirekt, durch Zufälle, Erinnerungen, halbbewusste Assoziationen. Während seiner Zeit mit Lena verlor Bremer seinen Geschmackssinn; außerdem hat er einmal eine Geschichte erzählt, »wie der Curry die Schwermütigen rettet«.394 Als Lena Brücker sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit der Eröffnung einer Imbissbude selbständig macht, erwirbt sie in Erinnerung an diese Episode und »gegen jeden ökonomischen Sinn und Verstand«395 eine Kilodose Currypowder – durch eine Ungeschicklichkeit wird der Curry mit Ketchup vermischt, und die Currywurst ist ›entdeckt‹, die Lena Brücker von nun an bis zu ihrer Übersiedlung ins Altersheim an der eigenen Imbissbude servieren wird. Dass es eine solche Currywurst ist, die Bremer seinen Geschmackssinn wiedergibt, ist ein märchenhaftes Element, mit dem die Geschichte zwischen dem ehemaligen Soldaten und Frau Brücker ihren versöhnlichen Abschluss findet.396 Angesichts der Tatsache, dass Timm sich nachdrücklich zu den Möglichkeiten eines ›traditionellen‹ Erzählens bekennt, ist sein Rückgriff auf die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ nicht überraschend. Keineswegs jedoch verwendet er den Terminus unreflektiert, oder, wie eine der wenigen negativen Rezensionen des Textes ganz im Sinne eines überlebten Gattungsverständnisses mutmaßte, um »das Buch mit der

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die wir Olma-Bratwürste und Cervelats mampfen, wer wann und warum die in Ketchup gebettete Currywurst erfunden hat?«, fragte etwa die Züricher Sonntagszeitung, um hinter dieser »deutsche[n] Frage« dann doch noch »die schönste Liebesgeschichte« des literarischen Herbstes ausfindig zu machen (Gery Nievergelt: Am Anfang steht die Wurst, doch am Ende siegt die Liebe. Warum Uwe Timms Novelle Die Entdeckung der Currywurst auch hierzulande Beachtung verdient. In: Sonntagszeitung (Zürich), 24.10.1993); und auch für die Rezensentin der Neuen Zürcher Zeitung entpuppt sich das »mit viel Skepsis aufgeschlagene Buch über die Entdeckung einer Wurst« eher unerwartet als lesenswerter Text (Gerda Wurzenberger: Wurstnovelle. Die Entdeckung der Currywurst von Uwe Timm. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.10.1993). Vgl. Mechthild Borries: Frauenbilder in Uwe Timms Romanen. Beobachtungen einer weiblichen Leserin. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. v. Manfred Durzak und Hartmut Steinecke in Zusammenarbeit mit Keith Bullivant. Köln 1995, S. 291-310, bes. S. 308f. Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 210. Ebd. Vgl. ebd., S. 218.

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Bezeichnung Novelle zu überhöhen«.397 Stattdessen gelingt es Timm, Elemente der Gattungstradition mit einer Reflexion des Erzählprozesses zu verknüpfen, ohne der seiner Ansicht nach unproduktiven »Forderung der sechziger Jahre, man müsse das Erzählen erzählen«398, plakativ nachzukommen; Die Entdeckung der Currywurst ist, bei allem poetischen Einfallsreichtum, auch »ein Buch über das Erzählen«.399 Ein gattungsgeschichtlich signifikantes Strukturmoment, das zugleich einer Reflexion des Erzählens dient, ist die sorgfältig ausgearbeitete Rahmenkonstruktion. Der homodiegetische Ich-Erzähler sucht die ihm seit Kindheitstagen bekannte Frau Brücker um 1989 im Altersheim auf; er will endlich eine Antwort finden auf die Frage, wer die Currywurst erfunden hat. Lena Brücker berichtet ihre Geschichte selbst, aber nicht als kohärente Binnenerzählung, sondern »stückchenweise, das Ende hinausschiebend, in kühnen Vor- und Rückgriffen«, so dass der Erzähler sich genötigt fühlt, »auswählen, begradigen, verknüpfen und kürzen«400 zu müssen. Schon Eberhard Lämmert hat darauf hingewiesen, dass die Funktion einer Binnenerzählung vor allem darin besteht, durch ihre fingierte Gegenwärtigkeit, ihre durch Unterbrechungen, Pausen und Dialektanklänge noch glaubhafter gemachte Imitation mündlichen Erzählens eine Art Wiederbelebung des Vergangenen zu bewirken401 – wiederbelebt wird in der Entdeckung der Currywurst in der Tat nicht nur eine alte Liebesgeschichte, sondern mit den letzten Kriegswochen und der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ganze Epoche und mit dem zerstörten Hamburg ein besonderer, so nicht mehr existenter Ort.402 Der Ich-Erzähler fungiert dabei als rationale Vermittlerinstanz, der die mündliche Erzählung in die schriftliche überführt; mit Frau Brücker dagegen werden so vielfältige mythische und literarische Muster verbunden, dass sie fast zu einer allegorischen Verkörperung des Erzählens selbst gerät. Eine neue Kirke oder Kalypso (beide Namen werden im Text genannt403), nutzt die vereinsamte Frau Brücker ihre Fabulier397 Arno Surminski: Als Deserteur in Liebeshaft bei Mutter Courage. Wenn die Helden ans Überleben

denken – Kriegsende für einen Marinesoldaten. In: Welt am Sonntag, 3.10.1993 (Messebeilage). 398 Timm: Erzählen und kein Ende, S. 115. 399 Manfred Durzak: Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm. In: Die Archäo-

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logie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. v. Manfred Durzak und Hartmut Steinecke in Zusammenarbeit mit Keith Bullivant. Köln 1995, S. 311-354, hier S. 347. – Vgl. zu diesem Aspekt weiterführend Elin Nesje Vestli: Über Erinnern, Vergessen, Erzählen und Lügen in Jurek Beckers Jakob der Lügner und Uwe Timms Die Entdeckung der Currywurst. In: Erinnern und Vergessen als Denkprinzipien. Hg. v. Herbert Arlt. St. Ingbert 2002 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse, 15), S. 141-153. Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 20. Vgl. Lämmert: Bauformen des Erzählens, S. 209f. Dass Die Entdeckung der Currywurst und andere Texte der neunziger Jahre eine verharmlosende Fortsetzung der einstigen ›Trümmerliteratur‹ darstellten, behauptet Hajo Steinert: Falscher Hase. In: Die Zeit, 12.11.1993 (als Antwort auf die in der gleichen Ausgabe veröffentlichte positive Rezension von Fritz Gesing: Gewürzte Wurst). Als literarische Gestaltung der sogenannten ›Stunde Null‹ fand ein Auszug aus Timms Novelle Aufnahme in die Anthologie: Die Stunde Null in der deutschen Literatur. Ausgewählte Texte. Hg. v. Jürgen Schröder u.a. Stuttgart 1995 (= RUB 9380), S. 112-119. Der Name ›Kirke‹ ergibt sich als Akronym aus den am Ende des Textes genannten Lösungswörtern

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kunst, um einen Mann von zuhause fernzuhalten. Schon für Bremer ließ sie sich immer neue Geschichten einfallen, um seinen Fortgang aufzuschieben, und auch den Erzähler kann sie lange hinhalten: »Siebenmal«404 muss er, der längst in München lebt, nach Hamburg reisen, um das zu erfahren, was sie auch an einem Nachmittag hätte berichten können – »die Märchenzahl deutet an, daß hier ein märchenhafter Raum des Erzählens geöffnet wird«.405 Wie Homer, der archaische Inbegriff abendländischer Epik, ist sie erblindet, wie Scheherezade406, die berühmteste Erzählerin des Orients, erlangt sie Aufschub und Macht durch ihre Kunst. Dass sie nebenbei trotz ihrer Blindheit ein »Strickkunstwerk«407 in Form eines motivreichen Kinderpullovers vollenden kann, evoziert die traditionsreiche Vorstellung vom Erzählen als ›Fädenspinnen‹ und die etymologische Verwandtschaft von ›Text‹ und ›Textil‹.408 Dem Strickkunstwerk entspricht das Erzählkunstwerk, das, von Lena Brücker und dem Ich-Erzähler komponiert, unterschiedliche Perspektiven und verschiedene Zeitebenen verbindet (so in der Rahmenerzählung Kindheitserinnerungen des Ich-Erzählers, die Zeit der Gespräche mit Lena 1989 und den Erhalt ihres Nachlasses ein halbes Jahr später, in der Binnenerzählung die Vorgeschichten Lenas und Bremers, die gemeinsamen Wochen und die Nachkriegsjahre). Der fertige Text markiert für den Ich-Erzähler ein Stück wiedergefundene Kindheit, wie das Erzählen für Lena Brücker ein Stück Vergangenheitsbewältigung und Vermächtnis symbolisiert hat. Beinahe durchbrochen wird die Fiktion, wenn der Ich-Erzähler am Schluss des Textes die Wörter aufzählt, die in dem alten Kreuzworträtsel Bremers noch lesbar sind: »Kapriole, Ingwer, Rose, Kalypso, Eichkatz und etwas eingerissen – auch wenn es mir niemand glauben wird – Novelle«.409 Die paratextuelle Gattungsbezeichnung wird auf diese Weise spielerisch in den Text implementiert und bildet das Schlusswort, in der Parenthese scheint der Autor hinter seinem Ich-Erzähler auf und »zwinkert dem Leser zu, an den er sich erzähllogisch eigentlich gar nicht wenden kann«.410

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in Bremers Kreuzworträtsel »Kapriole, Ingwer, Rose, Kalypso, Eichkatz« als Akronym liest; die Nymphe Kalypso hielt den Helden Odysseus 7 Jahre lang auf der Insel Ogygia fest – dem 7jährigen Aufenthalt des Ithakers entsprechen die 7 Nachmittage, die der Erzähler im Altenheim verbringt und die in den sieben Kapiteln des Buches wiedergegeben werden genauso wie die 27 Tage, die Bremers Aufenthalt bei Lena umfasst. Vgl. Hartmut Steinecke: Die Entdeckung der Currywurst oder die Madeleine der Alltagsästhetik. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Hg. v. Manfred Durzak und Hartmut Steinecke in Zusammenarbeit mit Keith Bullivant. Köln 1995, S. 217-230, hier S. 229f., sowie Klaus Meyer-Minnemann: Die Anatomie des Erzählens und das Eintauchen in die Erinnerung. Lesen in Die Entdeckung der Currywurst. In: Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Hg. v. Helge Malchow. Köln 2005, S. 50-63, hier S. 57. Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 18. Steinecke: Die Entdeckung der Currywurst oder die Madeleine der Alltagsästhetik, S. 218. Vgl. Monika Jäger: Scheherezade in Hamburg. Uwe Timms wunderschöne Novelle Die Entdeckung der Currywurst. In: Mindener Tageblatt, 9.12.1993. Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 19. Vgl. Steinecke: Die Entdeckung der Currywurst, S. 218f. Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 221. Meyer-Minnemann: Die Anatomie des Erzählens, S. 55. – Als Kindheits- und Jugendfreund Timms

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Wie gut Timm die zentralen Versatzstücke der Novellentradition und die gattungstheoretischen Probleme kennt, verdeutlichen verschiedene Interviewäußerungen wie etwa die folgende: Ich muß hier gar nicht betonen, die Novelle hat eine lange Tradition, und ich kann mich an meine Studienzeit entsinnen, eigentlich konnte niemand so recht sagen, was denn eine »Novelle« sei. Kurz soll sie sein, eine, wie Goethe gesagt hat, unerhörte Begebenheit, Motive soll sie haben, Dingsymbolik, einen Falken und was weiß ich. Totgesagt wurde sie wie der Roman, aber sie ist sonderbarerweise putzmunter […]. Mich interessierte zunächst einmal das, was die Gattungsbezeichnung ursprünglich meinte, Novelle im Sinn von einer kleinen Neuigkeit. Also gerade das beiläufig Alltägliche. Die Currywurst ist ja etwas sehr Alltägliches, wie die gesamte Situation, in der sie gegessen wird. Der Stehimbiß. Aber ihre Entdeckung ist eine unerhörte Begebenheit gewesen. Und zwar im doppelten Sinn des Wortes als »unglaublich« wie auch als »noch nie gehört«. […] Na ja, und die Dingsymbolik gibt es auch, unauffällig, hoffe ich, und auch den Falken, das Essen spielt in vielen Novellen ja eine wichtige Rolle, der Leser kann da auf eine literaturhistorische Entdeckungsreise gehen.411

Dass sich auch bei Timm die für die moderne Novellistik nicht ungewöhnliche »Tendenz zur Vervielfältigung der Novellenspitze zeigt«412, kann man daran ersehen, dass der Autor selbst zwar eindeutig die titelgebende Entdeckung der Currywurst als ›unerhörte Begebenheit‹ klassifiziert, der Begriff aber mit gleichem Recht auch für den Umstand geltend gemacht werden kann, dass eine Frau einem Deserteur das Kriegsende verschweigt, um mitten in der zerbombten Großstadt ihr Liebesidyll zu erhalten – das eigentliche »Skandalon der Geschichte«413. Dieses Verschweigen der Kapitulation kann zugleich als ›Wendepunkt‹ der Geschichte gesehen werden. Mitgeprägt durch die novellentheoretischen Studien von Hermann Pongs differenziert Timm zwischen ›Dingsymbolik‹ und ›Falken‹; als ›Dingsymbol‹ wurde in der Forschung das kleine Reiterabzeichen ausgemacht414, das der Marinesoldat Bremer komischerweise trägt und das er Lena zurücklässt – mit diesem Abzeichen kann sie auf dem Schwarzmarkt die Tauschkette eröffnen, an deren Ende der Erwerb des Currypulvers steht. Die Wahl einer solchen Auszeichnung mag sogar einen ironischen Reflex darstellen auf die Rolle des Ritterkreuzes in Grass’ Katz und Maus. Die Rolle des ›Falken‹ fiele damit der Currywurst zu – mit dem traditionsbildenden Vorbild bei Boccaccio hat sie sowohl gemein, dass sie mit einer Liebesgeschichte

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erteilt Meyer-Minnemann übrigens allen Spekulationen, die Erinnerungen des Ich-Erzählers an frühe Hamburger Currywurst-Genüsse seien autobiographisch und damit die Geschichte vom Hamburger Ursprung der Currywurst historisch plausibel, eine entschiedene Absage (vgl. ebd., S. 52f.). Manfred Durzak: Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm, S. 347f. Rath: Die Novelle, S. 297. Dieter Heimböckel: Das Unerhörte der Erinnerung des Unerhörten. Zur ästhetischen Produktivität der memoria in der Nach-Wende-Novellistik. In: Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Hg. v. Arne de Winde und Anke Gilleir. Amsterdam, New York 2008 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 64), S. 199-214, hier S. 205. Vgl. Steinecke: Die Entdeckung der Currywurst oder die Madeleine der Alltagsästhetik, S. 223.

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in Verbindung steht als auch, dass sie verspeist wird. Der Vorstellung Paul Heyses jedenfalls, der ›Falke‹ markiere »das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet«415, wird die Currywurst bei Uwe Timm ohne weiteres gerecht. Was der Text allerdings preist, geht über durchschnittliche kulinarische Erfahrungen weit hinaus: Für Frau Brücker und für den Ich-Erzähler, für die ersten Kunden der Imbissbude und für den seinen Geschmackssinn wiedergewinnenden Bremer ist sie fast so etwas wie eine Zauberspeise, ein »Geschmack auf der Zunge, wie die Zeit damals war, aus der die Currywurst kam: Trümmer und Neubeginn, süßlichscharfe Anarchie«.416 Diese Verbindung von Geschmack und Erinnerung, von Essen und Epik417 hat schon Christian Kracht in seiner Kurzrezension von Timms Novelle zu dem überzeugenden Fazit verleitet: »Was Proust seine Madeleine, ist ihm die Currywurst«.418 Der intertextuelle Bezug zur berühmten Madeleine-Szene, in der »Geruch und Geschmack« eines in Lindenblütentee getunkten Sandtörtchens »mit einem Male«419 die vergessen geglaubte Kindheitswelt wieder aufsteigen lassen, nobilitiert auch die Currywurst und weist ihr einen hohen Rang zu unter den literarisch wirksam gewordenen Medien der Erinnerung.

2. Lust am Experiment Die Schlusspassagen aus Uwe Timms Die Entdeckung der Currywurst, in denen der Terminus ›Novelle‹ bewusst und in ironischer Brechung ans Ende gerückt wird, belegen, wie sehr sich die Texte der ›Wiederkehr des Erzählens‹ an ein spielerisches Literaturverständnis annähern können, ohne ihr grundsätzliches Bekenntnis zur Erzählbarkeit der Welt, zur relativ traditionellen, scheinbar naiv gehandhabten Narration, zur durchgängigen Handlung mit fiktionalen Helden und typischen belletristischen Sujets wie Liebe und Ehe zu gefährden. Was die Novelle betrifft, geht hier wohl nur Robert Gernhardt noch einen Schritt weiter, wenn er den Terminus ›Novelle‹ im Zusammenhang mit seinem knappen, 1986 in dem Band Kippfigur veröffentlichten Zyklus Die Florestan-Fragmente zwar vermeidet, aber ihn dem Leser quasi in den Mund legt, indem er die Antwort auf im Text gegebene Signale bildet. Gernhardt imitiert spielerisch die Erzählsituation des Decamerone. Der Beginn der Florestan-Fragmente informiert in kursiv gesetzten Zeilen und ebenso knapp wie intertextuell pointiert über die Rahmensituation: 415 Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz, S. XX. 416 Timm: Die Entdeckung der Currywurst, S. 216. 417 »Mich interessiere der Zusammenhang zwischen Schmecken und Erzählen, beides habe ja mit der

Zunge zu tun«, sagt der Ich-Erzähler in Timms wenig später erschienenem Roman Johannisnacht, vgl. Uwe Timm: Johannisnacht. Roman. Köln 1996, S. 12. 418 Christian Kracht: Die Entdeckung der Currywurst. In: Tempo 9 (September 1993); vgl. auch Steinecke: Die Entdeckung der Currywurst oder die Madeleine der Alltagsästhetik, S. 224. 419 Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt. Deutsch von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt/M. 1967, S. 66f.

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Was bisher geschah: Da in Frankfurt Smog-Alarm ausgelöst worden ist, sind Phyllis, Chloë, Anselmus, Sir Pit und Florestan in ein toscanisches Landhaus geflohen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie einander Geschichten.420

An die Stelle der Pest in Florenz ist der Smog-Alarm in Frankfurt getreten, das toskanische Landhaus ist im 20. Jahrhundert vom Main aus fast genauso rasch zu erreichen wie im 14. Jahrhundert vom Arno her; die Zahl der Binnenerzähler wird gegenüber dem Decamerone halbiert, die der zum Besten gegebenen Novellen sogar von 100 auf 8 reduziert und damit eher an die Dimension von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten angenähert – doch das Strukturmuster bleibt trotzdem unverkennbar und wird von Gernhardt bis in die virtuose Verknüpfung von Rahmen- und Binnenerzählungen hinein adaptiert. Auch was die Vielfalt der Erzählformen und die Buntheit der Zusammenstellung betrifft, folgt Gernhardt den klassisch gewordenen Vorbildern: Sein »Mini-Decamerone«421 beginnt mit einer im Geist Boccaccios erfundenen, derb-erotischen Erzählung um die schöne Schäferin Beatrice, den buckligen Armbrustspanner Gino und den genarrten Conte Ugo, thematisiert kleine Ereignisse aus dem modernen Alltag, variiert Muster und Themen der romantischen Erzähltradition (wenn es etwa, an die Begeisterung der Romantiker für Automaten anknüpfend, um eine täuschend echte Spielzeugmaus geht, die Anselmus in den Palast einer schönen Genueser Duchessa führen soll) und gipfelt schließlich in einer Parodie von Boccaccios ›Falkennovelle‹. Diese Schlussposition bedeutet keine Analogie zum originalen Decamerone (wo diese Novelle bekanntlich als die 9. Novelle des 5. Tages fungiert und damit eher in der Mitte platziert ist), sehr wohl aber eine Reverenz an die außergewöhnliche Wirkungsgeschichte, die gerade diesen Text zum Inbegriff und angeblich klassischen Muster einer Novelle hat werden lassen. Sir Pit erzählt die Geschichte eines einst reichen jungen Mannes, der verarmt und schließlich nur noch einen sprechenden Papagei besitzt, mit dem er auf Berliner Volksfesten und Jahrmärkten hausieren geht. Verliebt ist er in »Giovanna, die italienische Frau eines Romanistikdozenten an der FU«422, deren kleiner Sohn sich mit »irgend so ein[r] teuflisch tückische[n] Krankheit«423 infiziert; Gernhardt ironisiert nicht nur die rein dramaturgisch motivierten und keineswegs realistisch wirkenden Wendungen und Todesfälle in Boccaccios Prätext, sondern stellt dem literarhistorisch kundigen Erzähler Sir Pit den wissenden Zuhörer Anselmus gegenüber, der sich in den Erzählfluss einschaltet, nachdem von Schlachtung und Verspeisung des Papageis die Rede war:

420 Robert Gernhardt: Die Florestan-Fragmente. In: Ders.: Kippfigur. Erzählungen. Zürich 1986,

S. 112-172, hier S. 112.

421 Gustav Seibt: Falke in Sauce Decamerone. Robert Gernhardt als Papagei des Giovanni Boccaccio.

In: Text & Kritik, H. 136. Robert Gernhardt. Oktober 1997, S. 42-47, hier S. 42. 422 Gernhardt: Die Florestan-Fragmente, S. 165. 423 Ebd., S. 168.

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»Kann man Papageien denn überhaupt essen?« unterbrach Phyllis. »Na klar«, erwiderte Anselmus, ohne Sir Pits Antwort abzuwarten, »nur eine Frage der Zubereitung. Schlechter als Falken schmecken sie auf gar keinen Fall.« »Wieso denn Falken?« wunderte sich Chloë. »Falke in Sauce Decamerone«, erläuterte Anselmus, »eine Spezialität gerade dieser Gegend hier«.424

Sir Pits erzählerischer Ehrgeiz erlahmt und ist durch die Mahnung des Anselmus »Wer B sagt, muß auch Occaccio sagen!«425 nicht wiederzubeleben – er bringt seine Geschichte genauso rasch und, legt man die Maßstäbe eines psychologisch-realistischen Erzählens an, »holterdipolter«426 zu Ende wie Boccaccio die seine; die Zuhörer geben sich zufrieden, ob die Erzählung, wie ursprünglich verlangt, eine ›wahre‹ gewesen ist, bleibt marginal, denn alle sind sich einig, »eine der schönsten Geschichten überhaupt«427 (wieder) gehört zu haben. Der Begriff der ›Novelle‹ fällt nicht; trotzdem setzt Gernhardt voraus, dass sein Text den Gattungsbegriff kommuniziert und nur aufgehen kann, wenn der Leser ein entsprechendes literarhistorisches Vorwissen mitbringt. Während Sir Pit noch seine Papageien-Geschichte erzählt, prophezeit der Boccaccio-Kenner Anselmus bereits, dass das Kind sterben werde und antwortet auf die erstaunte Frage von Phyllis, woher er das wisse: »Sowas weiß man eben«428 – ein Satz, der die Notwendigkeit literarhistorischen Vorwissens ironisch pointiert, den wissenden mit dem naiven Leser kontrastiert und somit auf den gattungstheoretischen Kommunikationsprozess übertragen werden kann, den Gernhardt durch seinen Text fortführt. Wo die meisten anderen Autoren moderner ›Novellen‹ deduktiv verfahren, indem sie die paratextuelle Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt notieren und damit den entsprechend ausgerichteten, gattungstheoretisch grundierten Kommunikationskontext aufrufen, arbeitet Gernhardt gewissermaßen induktiv: Er verzichtet auf den ausdrücklichen Terminus, legt aber seinen kleinen Novellenzyklus zugleich so an, dass die spielerisch-ironische Fortschreibung der Tradition mit einer Eindeutigkeit als solche ausgewiesen wird, wie sie sonst beim Verzicht auf die explizite Gattungsbezeichnung kaum zu erreichen ist. Robert Gernhardts Florestan-Fragmente können somit zwischen Novellentexten angesiedelt werden, die den Gattungsrahmen vor allem nutzen, um eine ›Wiederkehr des Erzählens‹ auch formal zu reflektieren, und solchen, die, etwa zeitgleich, den Terminus ›Novelle‹ auf Texte anwenden, deren experimenteller Charakter sich gegenläufig zu den traditionellerweise mit dem Gattungsbegriff verbundenen Eigenschaften verhält. Dass Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig, Friedrich Dürrenmatt oder Thomas Lehr in ihren entsprechenden ›Novellen‹-Texten zwar eindeutig experimentelle Intentionen verfolgen und etablierte narrative Strukturen 424 425 426 427 428

Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171. Ebd., S. 170.

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überschreiten, aber zugleich auch zumindest kontrastiv zurückverweisen wollen auf dem Leser vertraute gattungstypologische Vorstellungen, zeigt eine wohl erst im ausgehenden 20. Jahrhundert verstärkt auftretende Bereitschaft der ›Avantgarde‹, die Tradition nicht rigoros zu destruieren, sondern einen Dialog mit ihr (und den Rezipienten) zu führen.

2.1. Helmut Heißenbüttel (1921-1996) Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte (1979) Ein Jahr nach Martin Walser greift mit Helmut Heißenbüttel einer der profiliertesten Autoren der bundesdeutschen Avantgarde auf die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ zurück. Allerdings ist der Band Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte mit dem Untertitel Historische Novellen und wahre Begebenheiten in einem größeren und weiter zurückreichenden intratextuellen Zusammenhang zu sehen. Heißenbüttel hatte, um die Prozesshaftigkeit und den Versuchscharakter des eigenen Werkes zu unterstreichen, schon mit den seit 1960 erschienenen Textbüchern 1-6 zu einer abstrakten Reihenbezeichnung und dem Mittel der Durchnummerierung gegriffen; im Jahr 1970 begann er eine neue Publikationsreihe mit dem ›Quasi-Roman‹ D’Alemberts Ende, der als Projekt 1 figurierte. Die damit in Angriff genommene »kritisch-experimentelle Erkundung von Gattungsformen«429 fand eine erste Fortsetzung in dem Band Das Durchhauen des Kohlhaupts, der sich als Projekt 2 mit dem Lehrgedicht auseinandersetzte und mündete in die drei als Projekt 3/1-3 zwischen 1978 und 1980 veröffentlichten Bände Eichendorffs Untergang und andere Märchen, Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte und Das Ende der Alternative. Einfache Geschichten. Vor allem in Bezug auf die Syntax, die radikal aufzubrechen Heißenbüttel in seinen theoretischen Texten der frühen sechziger Jahre immer gefordert hatte430, sind die Bände der Projekt-Reihe traditioneller verfasst als die meisten Passagen der Textbücher. Das mag auch an dem expliziten Bezug auf die Gattungsbezeichnungen liegen, wie er durch die jeweiligen Untertitel hergestellt wird. Gerade weil Heißenbüttels Texte als »parodistische Gegensetzung«431 zu den Genres des Märchens, der Novelle, der ›Geschichte‹ konzipiert sind, müssen sie ältere Muster zitieren, da die parodistische Intention sonst gar nicht erkennbar würde. Alle drei Bände des Projekts 3/1-3 bestehen aus jeweils 13 Einzeltexten von unterschiedlicher Länge und Kon429 Horst Ohde: Artikel ›Helmut Heißenbüttel‹. In: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dich-

ter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Bernd Lutz. Stuttgart, Weimar 21994, S. 340-342, hier S. 341. 430 Vgl. z.B. Helmut Heißenbüttel: Über den Einfall. In: Ders.: Über Literatur. Freiburg/Br. 1966, S. 224-227, bes. S. 225f. 431 Karl Riha: Kürzestgeschichten… am Beispiel von Helmut Heißenbüttel und Ror Wolf. In: Dominique Iehl, Horst Hombourg (Hg.): Von der Novelle zur Kurzgeschichte. Beiträge zur Geschichte der deutschen Erzählliteratur. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1990, S. 113-124, hier S. 115.

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zeption. Auch die Art, in der Elemente des traditionellen Erzählens aufgegriffen werden, differiert sehr stark. Gegenüber dem ›Märchen‹-Band Eichendorffs Untergang zeichnet sich Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte generell durch eine »stärkere Orientierung am Faktischen«432 aus, die mit dem gattungstypologischen Untertitel ›Historische Novellen und wahre Begebenheiten‹ unverkennbar in Zusammenhang steht. An der Titelnovelle des Bandes ist zunächst bemerkenswert, dass sie auf einen experimentellen Erzählgestus verzichtet. Die Negation im Titel ist eine provokante Pointe, doch sie bezeichnet die Ausgangsposition des Textes völlig zutreffend: Ein Ich-Erzähler, »Jahrgang 21 und jetzt Mitte 80«433, berichtet vom Standpunkt des Jahres 2005 darüber, wie sich die Weltgeschichte nach einer kriegsentscheidenden Verbrüderung zwischen Hitler und Stalin 1945 entwickelt habe. In der phantasierten Zukunft ist der Potentialis »Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte« genauso zu »Redenart [!]«434 und Gedankenspiel geworden, wie das Gegenteil des Satzes in der Realgeschichte. Der Text passt, wie der Kritiker Reinhard Baumgart zu Recht angemerkt hat, ganz »ins geläufige Muster negativer Utopien […], für das er, ohne eine Spur von Genre- und Erzählproblemen, eine weitere Variation liefert«.435 Ein konkreterer Bezug auf das relativ fest zu umreißende Gattungsmuster der historischen Novelle tritt erst im letzten Drittel des Bandes deutlich hervor; nachdem am Anfang die zeitkritischen Szenarien überwiegen (besonders deutlich etwa in Axel Cäsar Springer Syndrom), gefolgt von einigen autobiographisch grundierten Geschichten, stehen im Zentrum der letzten fünf Texte historische Figuren des 19. und 20. Jahrhunderts, unter ihnen die Autoren Gustav Freytag und Bertolt Brecht, die Philosophen Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin sowie der Maler und NonsensDichter Edward Lear. Dabei reflektieren Heißenbüttels ›Novellen‹ ihre eigenen Voraussetzungen, indem sie Situationen und Verfahrensweisen traditionellen historischen Erzählens aufgreifen und sie zugleich im Text kommentieren. Eine Handvoll Gedichte eine Handvoll Fotos. Fragmentarisch etwa spürt der Bedeutung nach, die das Liebesleben des notorisch polygamen Bertolt Brecht für die Gesamtpersönlichkeit und das Werk gehabt haben könnte.436 Heißenbüttel fragt zum einen, ob sich die Frauenbeziehungen, »wie so vieles im Leben, einfach summiert«437 haben, 432 Ebd. 433 Helmut Heißenbüttel: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte. Eine Phantasie. In:

434 435 436

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Ders.: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte. Historische Novellen und wahre Begebenheiten. Projekt 3/2. Stuttgart 1979, S. 7-17, hier S. 8. Ebd., S. 7. Reinhard Baumgart: Ein pedantischer Anarchist. Helmut Heißenbüttels neue Prosa-Puzzles. In: Die Zeit, 22.2.1980. Das Thema ist, da es auch mit dem Anteil zu tun hat, der den Mitarbeiterinnen an Brechts Werk zuzumessen ist, bis in die neuere Brecht-Biographik hinein kontrovers diskutiert worden, vgl. z.B. Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann? Brecht und die Frauen. Berlin 32002 [11989] oder die wegen ihrer moralistischen Bewertungen umstrittene Arbeit des amerikanischen Literaturwissenschaftlers John Fuegi: Brecht & Co. Biographie. Hamburg 1997. Helmut Heißenbüttel: Eine Handvoll Gedichte eine Handvoll Fotos. Fragmentarisch. In: Ders.:

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oder ob sie in ihrer Häufung für Brecht existentiell notwendig waren; die fünf einmontierten Brecht-Gedichte überwiegend erotischen Inhalts legen eine Spiegelung im Werk nahe. Zugleich wird der projektive Anteil des ›Biographen‹ bewusst gemacht, der sich durch Imagination und »Träumerei«438, gestützt auf »eine Handvoll Gedichte« und eine »Handvoll Fotos«439 an den Gegenstand seines Schreibens anzunähern versucht: »Ich dünste in die Auflösung der Fragen soetwas wie die eigene emotionale Vernebelung hinein, versacke darin, wickle mich darin ein, ohne doch die Decke zu lupfen, einen Hinweis zu geben auf das, was mich verbindet«.440 Wenn letztlich doch ein Bild des Biographierten entsteht, soll dieses zumindest »flüchtig« bleiben, »transitorisch« und »im Durchgang«441, sich nicht verfestigen zu starren Konturen: »Will ich mit dem, was ich hier zusammentrage, soetwas wie eine Geschichte zusammensetzen? Ich will hier eigentlich überhaupt keine Geschichte erzählen. Stichworte zu einem mehr oder weniger bekannten Thema aufgereiht an einem mehr oder weniger bekannten Sachverhalt«.442 Stimulieren schon »eine Handvoll Gedichte« und »eine Handvoll Fotos« die Phantasie des historischen Belletristen, so gilt das genauso für Situationen und Orte, deren Suggestivität so groß sind, dass der Autor kaum der Versuchung widerstehen kann, dieses semantische Potential auszureizen; Heißenbüttel führt dies in seiner Benjamin-Novelle Die Nacht in den Pyrenäen exemplarisch vor. Der Text wird eingespannt zwischen zwei Motti. »Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben/ Hast, du, heißt es, eine überschreitbare überschritten« aus Brechts Gedicht Zum Freitod des Flüchtlings W.B. steht am Anfang, eine Bemerkung Jacques Derridas am Ende: »Wenn dieser Selbstmord an einer Grenze, der französisch-spanischen Grenze, geschah, darf gerade dies jedoch nicht Anlaß für symbolistische Spekulationen sein, sondern Aufforderung zur Analyse eines unerbittlichen historisch-politischen Apparats«. Zwischen diesen Zitaten steht ein Text, der sowohl Brecht als auch Derrida gerecht werden will: Brechts symbolische Aufladung der Grenzsituation, die die politische Grenze zur Lebensgrenze werden lässt, übernimmt und übersteigert Heißenbüttel, indem er den »Tod als Zone« gestaltet; die Umstände von Benjamins Tod werden in engste Beziehung gesetzt zum Ort des Geschehens. Dazu gehört, dass die gebirgige Grenzlandschaft stark semantisiert wird: Schon in Benjamins Denken spielt die Orientierung an Orten, die immer auch für Erinnerungen und Erfahrungen stehen, eine wichtige Rolle443; Heißenbüttel jedoch greift eher auf literarische Muster zurück, die spätestens im 19. Jahrhundert voll etabliert waren und denen zufolge die Natur im Sinne eines Inside-out vor allem dazu dient, die

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Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte, S. 119-128, hier S. 120. Ebd., S. 122. Ebd., S. 119 und S. 127. Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Ebd., S. 125. Vgl. dazu den Essay von Susan Sontag: Im Zeichen des Saturn. In: Dies.: Im Zeichen des Saturn. Essays. München 1981, S. 125-146.

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Gefühlslage des Protagonisten widerzuspiegeln und damit für den Leser anschaulich zu machen. Zugleich werden über die Schilderung klimatischer Verhältnisse gewisse Stimmungs- und Handlungserwartungen aufgebaut. Indem er die Natursemantisierung und die »Wetter-Parallelismen«444 in plakativ übersteigerter Form einsetzt, macht Heißenbüttel die traditionelle, gerade von historischen Belletristen häufig benutzte Darstellungsweise als solche bewusst. Reinhard Baumgart, sonst ein subtiler Leser Heißenbüttels, hat nur den Effekt erkannt – dass nämlich »Wind und Wetter, Räume und Landschaften sich zu einer fast opernhaften Szenerie verdichten«445 – nicht aber die Funktion, die Sätzen wie den folgenden zukommt: Der ausgezackte Rand der schwarzen Mauer des Gebirges schnitt scharf in den Himmel, der voll von funkelnden und glitzernden Sternen war. Der hochgewölbte blaue Nachthimmel war wie gegen den ausgezackten Rand des Gebirges gedrängt, wobei der Blick, der das Dunkel und das Unbekannte des Dunkels, das das Dunkel der Zukunft darstellte, zu durchdringen versuchte, nach einer Weile, die unmittelbare Finsternis der umgebenden Gegend erkennend und differenzierend, den Eindruck bekam, als drängte der Himmel die Sterne gegen den ausgezackten Rand des Gebirgskamms nur umso dichter, größer und glitzernder. Schräge dünne Wolkenschleier standen hinter dem Kamm hervor, schwach illuminiert von den Trauben der Sterne. Schwärzere und weniger schwarze Schwärzen ließen sich auf dem Panorama der nächtlichen Gebirgslandschaft, die unter normalen Umständen als erhebend, heroisch, aber auch menschenabweisend zu bezeichnen gewesen wäre, unterscheiden, wenn man überhaupt noch ins Dunkel blicken mochte. Hier und da ein leuchtender Punkt, aber alle Leuchtpunkte wie in Bewegung begriffen, so als könnten sie nicht stillstehn und wollten die Flucht auf dem Plan der weit ausgerollten Gegend ein weiteres Mal, noch einmal, illustrieren.446

Die gehäuften Vergleiche, die Redundanzen, die aufdringlich herausgestellten Bezüge zwischen der Fluchtsituation und dem Naturbild sind Kunstmittel ironisierender Übersteigerung; die komplexe Syntax, die konjunktivischen Konstruktionen, die pseudo-genauen, wortspielhaften Differenzierungen (»schwärzere und weniger schwarze Schwärzen«) wollen den Anschein genauer und realistischer Beschreibung erwecken, wo sie eine Naturkulisse inszenieren, die eine reine Funktion der Figurenund Situationscharakteristik bleibt. In einer derart semantisierten Landschaft erscheint denn auch der »Grenzposten […] in seiner dunklen Uniform, in der gelbhäutigen, schwarzhaarigen, schnauzbärtigen, wortarmen, finsteren, mißtrauischen und wie jenseitigen Abweisung eher als ein Posten am Hadeseingang«447 – wieder ist es die Häufung von Adjektiven, durch die das in der Novellenliteratur zwischen der Romantik und Thomas Mann (und darüber hinaus) so beliebte Spiel mit Todessymbolik und Todesboten auf die Spitze getrieben und damit als rein artifizielles und längst typisiertes Darstellungsmittel ausgestellt wird. 444 Vgl. Lämmert: Bauformen des Erzählens, S. 185. 445 Baumgart: Ein pedantischer Anarchist. 446 Helmut Heißenbüttel: Die Nacht in den Pyrenäen. Eine Paraphrase. In: Ders.: Wenn Adolf Hitler

den Krieg nicht gewonnen hätte, S. 129-142, hier S. 129f. 447 Ebd., S. 138.

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Die poetische oder pseudo-poetische Aufladung von Natur und Situation kontrastiert Heißenbüttel mit einmontierten Quellenzeugnissen – späte Briefe Benjamins werden ebenso zitiert wie einige seiner Denkprotokolle aus den zwanziger Jahren und zeitgenössische oder spätere Aussagen zum Beispiel Hans Sahls und Hannah Arendts. In diesen Passagen tritt der Erzähler hinter die Dokumente zurück und wird nur durch deren Auswahl und Zusammenstellung spürbar. Indem die genaue Datierung jeweils in einem zum Seitenrand hin offenen Kästchen vermerkt wird, signalisiert schon das Druckbild einen chronikalisch-dokumentarischen Anspruch, der dem poetisierenden Umgang mit der Geschichte und der fingierten Innensicht ergänzend gegenübergestellt wird. Die Kontrastierung traditioneller Kunstgriffe der historischen Belletristik mit der unkommentierten Wiedergabe authentischer Dokumente setzt Heißenbüttel in einer Nietzsche-Novelle fort, die beide Aspekte noch einmal explizit in Titel und Untertitel zusammenführt: 1882. Eine historische Novelle. Die nicht weiter erläuterte Jahreszahl und die ausdrückliche Bezugnahme auf das literarische Genre stehen jeweils für die chronikalische Rekonstruktion und für die selbstreflexiv gehandhabte, ihrer eigenen Problematik bewusste, erzählerische Geschichtsdeutung; wie in Die Nacht in den Pyrenäen werden die Datierungen einmontierter Dokumente drucktechnisch hervorgehoben und entfalten dabei eine eigene Suggestivität.448 Thema des Textes ist die Begegnung Nietzsches mit dem Privatgelehrten Paul Rée und der einundzwanzigjährigen Lou von Salomé, im Frühjahr 1882 in Rom. Diese Konstellation beinhaltet ein typisches Muster der historischen Novelle: Ein an sich schon bedeutungsträchtiger Ort wird zum Treffpunkt dreier individueller historischer Persönlichkeiten, es kommt zu einer »Begegnung in Rom«449, wie sie typischer Gegenstand historischer Belletristik ist; der Erzähler spricht sogar, im Hinblick auf eine angebliche »offizielle Version« der Geschehnisse, von einer »Sternstunde«450, vielleicht in unmittelbarer Anspielung auf Stefan Zweigs populär gewordene historische Miniaturen Sternstunden der Menschheit. Zudem ist 1882 für Nietzsche ein Jahr der »Crisis«451, womit ein weiterer genretypischer Begriff ins Spiel gebracht ist. Noch mehr als in Die Nacht in den Pyrenäen reflektiert der Erzähler seine Hervorbringungen und macht vorgeprägte Wahrnehmungsmuster bewusst, indem er ihre 448 Dass sich konkrete Daten und Akte als Grundlage eines ›modernen‹ Erzählens besser eignen als

fingierte Emotionen, hat Heißenbüttel schon in seinen Poetikvorlesungen von 1963 betont: »Es ist, wie Max Bense zu sagen pflegt, uninteressant geworden, wie der Hans die Grete kriegt und, wie Georges Simenon beteuert, interessant, was danach passiert, […] weil in der Eheschließung ein simpler Akt der Registratur vorliegt, an den die Erzählung besser anknüpfen kann als an die Schilderung von Gefühlen. […] [I]ch kann nur erzählen vom Menschen in den Bezugsfeldern seiner sozialen Erfaßbarkeit. Sozialität, Gesellschaftlichkeit des Menschen aber besteht in einer nachsubjektiven Epoche in den Abbreviaturen der Registratur.« (Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963. In: Ders.: Über Literatur. Freiburg/Br. 1966, S. 123-205, hier S. 179f.). 449 Ders.: 1882. Eine historische Novelle. In: Ders.: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte, S.143-162, hier S. 155. 450 Ebd. 451 Ebd., S. 153.

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Voraussetzungen und ihre Herkunft thematisiert. Wenn etwa die Protagonisten gleich zu Beginn im Petersdom zusammengeführt werden, fühlt sich der Erzähler selbst an eine Szene »aus einem historischen Film« erinnert – »Visconti zum Beispiel« – und muss sich fragen: »Denke ich, wenn ich auf diese Weise improvisiere, allzu unkontrolliert in der Bildvorstellung einer Kinophantasie von heute, knapp hundert Jahre später?«452 Die »geläufig gewordenen Vorstellungen« werden eingesetzt, um, »wie man sagt, etwas anschaulich zu machen«453; ähnlich stimulierend auf die Imagination wirken literarische Muster: So beschreibt der Erzähler den Juni in Stettin, der sich an die römische Begegnung anschließt, ebenso knapp wie literaturgesättigt als »Dorfsoziologie Fritz Reuters eingetaucht in das Licht Keyserlingscher Sommer«.454 Die Hinterfragung erzählerischer Imaginationen, Projektionen und sonstigen Phantasien ist diesmal sogar an ein »erzählerisches Gewissen«455 delegiert, das sich kommentierend oder provozierend zu Wort meldet: »Mußt du es denn so kompliziert machen? fragt die Stimme hinter mir, und mir bleibt nichts anderes, als ungeduldig zu antworten: Warte ab, was daraus wird«.456 Zu den Thesen, die der Erzähler aufstellt, um sie sogleich selbstkritisch abzuschwächen, gehört bezeichnenderweise auch eine biographisch orientierte Lesart von Nietzsches Werk: Also sprach Zarathustra kann seinen Ursprung in diesen waldig-verträumten Augustwochen gehabt haben. Ich könnte eine extreme Position einnehmen und behaupten, dieses heute nicht mehr ganz so ernst zu nehmende Epos bestünde im Grunde aus einer Reihe von Varianten über ein Thema von Lou von Salomé: Hymnus an das Leben, vertont von Friedrich Nietzsche, später, in der Zeit seiner Umnachtung, immer wieder von ihm wiederholt. Aber was gewinne ich mit einer solchen Behauptung?457

Indem die belletristisch hergestellte Verbindung von Leben und Werk erprobt, aber auch wieder zurückgenommen wird, destruiert Heißenbüttel einen weiteren typischen Aspekt, den die traditionelle historische Novelle gerne verfolgt. Gerade wegen der beständigen Hinterfragung der eigenen Thesen wie der eigenen Voraussetzungen jedoch gelingt dem Autor dieser hochgradig reflektierten ›historischen Novelle‹ ein plastischeres und ambivalenteres Nietzsche-Porträt, als es etwa die traditionell gebaute Nietzsche-Novelle Über die Alpen von Hartmut Lange zu bieten vermag. Auf 1882 folgt eine unterhaltsame Einlage, die auf einer durch den Titel vollständig umrissenen Idee beruht: Gustav Freytag verirrt sich im Wald und begegnet Ingo und Ingraban. Es handelt sich um eine besondere Spielart von Intertextualität: Der Autor des historisch-patriotischen Romanzyklus Die Ahnen (1872-1880) fällt vorübergehend aus seiner Zeit heraus und trifft auf die brutalen Urbilder der beiden Germanenfürsten, die er im ersten Teil seines Zyklus idealisiert dargestellt hat. 452 453 454 455 456 457

Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 152. Ebd., S. 160. Ebd., S. 147. Ebd., S. 156.

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Spannender jedoch ist die Schlussnovelle von Heißenbüttels Band, in der noch einmal die Frage nach der Funktion intertextueller Verweise in fiktionalen Texten, aber auch in der historischen Belletristik und sogar in der narrativen Geschichtsschreibung gestellt wird. Lear auf Corfu demonstriert die sinnstiftende, aber gerade dadurch auch irreführende Verwendung vorgeprägter, aus Literatur und Mythologie gewonnener Deutungsmuster und ihre Funktion bei der Nachzeichnung authentischer Lebensgeschichten. Gottfried Keller hat im analog gebauten Titel seiner bekannten Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) auf das weltliterarische Vorbild Shakespeare verwiesen, »zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede der schönen Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet ist«458 – die Autorintention, einen Zusammenhang herzustellen und das Erzählte zu objektivieren, ist unmissverständlich. Bei Heißenbüttel dient die vergleichbare Konstruktion lediglich dazu, den Leser zu irritieren: Die Gewohnheit, intertextuelle Bezüge unmittelbar in den Rezeptionsvorgang und damit in die eigenen Konstruktionen von Sinn und Bedeutung eines Textes zu integrieren, wird als irreführend entlarvt. Sowohl der Titel als auch das als Motto vorangestellte Zitat aus Shakespeares King Lear wecken falsche Erwartungen: Im Mittelpunkt der Handlung steht weder Shakespeares zorniger König noch eine Figur, die in irgendeiner Weise an dem entsprechenden Prätext orientiert wäre, sondern der englische Zeichner und Dichter Edward Lear (1812-1888), der vor allem mit seinen Books of Nonsense berühmt geworden ist. Doch obwohl der Erzähler explizit betont, dass die literarische Figur Lear und die authentische Person gleichen Namens nichts miteinander zu tun haben, erliegt er der »Versuchung, mit mythischen Namen und Symbolen zu spielen«459: Die Lear-Figur bleibt noch da als Bezugspunkt präsent, wo ein Zusammenhang mit dem Dichter des 19. Jahrhunderts explizit verneint wird – und in vergleichbarer Weise erscheint die biographisch belegte Reise nach Corfu, die der dreiundvierzigjährige Edward Lear mit seinem Freund Frank Lushington 1855 unternimmt, auch dann noch vor dem mythologischen Hintergrund der Odyssee, wenn nur die Unterschiede zwischen den jeweiligen Reisenden betont werden können: Corfu erreichten sie am 3. Dezember. Aber sie landeten nicht wie Odysseus, als dessen Insel Scheria Corfu von altersher gilt, nackt und sonnenverbrannt, von der Bösartigkeit des Poseidons an den Felsen geschleudert und von der schützenden Hand Athenes in ein schützendes Gebüsch getragen, sondern gesittet, wenn auch nicht ganz unzweideutig, als zwei englische Gentlemen, die mit Mythologie nichts zu tun hatten und auf die Mythologie vorderhand auch nicht anzuwenden war. Oder wäre es dennoch möglich gewesen, Lear einen Odysseus zu nennen, da er doch viel gereist war und immer noch weiter reisen würde? Lushington Nausikaa, deren und derer Mägde Geschrei Odysseus weckte? Es fehlt ja der Bezug zur Situation und zur Rolle. Wo wollte ich in dem möglicherweise 458 Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Tho-

mas Böning. Frankfurt/M. 1989, S. 69-144, hier S. 69. 459 Helmut Heißenbüttel: Lear auf Corfu. In: Ders.: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen

hätte, S. 172-187, hier S. 177.

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komplexen und weitverzweigten Motivgeflecht Lears so etwas wie Athene unterbringen? […] Mehr noch als der mit dem Sagenkönig und seiner Wut läuft dieser Vergleich ins Leere.460

Dass legitimierende Bezüge fehlen, steht der assoziativen Semantisierung nicht im Weg – Text- und Sinnzusammenhänge entziehen sich, wie es auch poststrukturalistisch orientierten Intertextualitätstheorien entsprechen würde, weitgehend der Steuerung durch einen individuellen Autor. Das intertextuelle Bezugssystem verweist nicht auf eine Tiefenschicht des Verstehens, sondern bringt den Sinn erst hervor, den der Interpret aufzudecken vermeint: Indem ich diesem liebenswürdigen, schwachen und zugleich so unglaublich und unversehens gewappneten Menschen folge, der nicht der König ist, sondern einfach nur Edward Lear, entdecke ich sowohl die Verlockung der Anknüpfung, der, wie man so sagt, Vertiefung ins Mythische, und wenn ich Shakespeare zitiere, mache ich ja auch nichts Besseres, als auch die Dürre des Bezugs. Der Symbolcharakter, der uns noch bildungsmäßig, will ich einmal sagen, überliefert ist, erweist sich tatsächlich als unaufweckbar verdorrt.461

Der zweifelnde und selbstkritische Erzähler zieht daraus die Konsequenz, seine Erzählung nicht aus dem vermeintlichen ›Sinn‹ von Mythologie und Höhenkammliteratur zu destillieren, sondern aus den einmontierten Unsinnsgedichten seines berühmten Vorgängers. Zusammen mit den anderen vier Texten, die am Ende des Bandes Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte stehen, leistet das Schlussstück Lear auf Corfu damit eine Selbstreflexion historischen Erzählens, die nahezu alle wesentlichen Aspekte betrifft, mit denen sich ein ambitionierter Autor historischer Novellen konfrontiert sieht. Heißenbüttels Gattungsbeiträge liefern die immanente Poetik einer historischen Novelle auf der Höhe der literarischen Gegenwart. Dabei verfährt er radikaler als die anderen Autoren, die seit den siebziger Jahren historisch-biographisch orientierte Prosa mit selbstreflexivem Anspruch geschrieben und sich damit in eine ähnliche Richtung bewegt haben (wie beispielsweise Peter Härtling in Hölderlin und anderen Projekten). Mit aller Deutlichkeit führt Heißenbüttel etwa vor, dass »eine Handvoll Gedichte« und »eine Handvoll Fotos« allenfalls Indizien abgeben können über das Privatleben bekannter Persönlichkeiten und dass die wenigen ›objektiven‹ Informationen unwillkürlich ergänzt und bewertet werden durch die Projektionen derer, die sie aufgreifen und arrangieren. Die Integration chronikalischer Raster kann, wie Heißenbüttel zeigt, auf eine objektivierende Art suggestiv wirken, erreicht aber gleichfalls rasch die Grenzen ihrer Aussagefähigkeit. Erzähltechnische Kunstgriffe wie die symbolische Aufladung von Orten und Landschaften werden durch Übertreibung und Hinterfragung als typische Mittel traditioneller historischer Belletristik geradezu entlarvt – am deutlichsten in der Benjamin-Novelle. Das Gleiche gilt für die novellistische Gewohnheit, im Interesse einer zugespitzten, konzentrierten Handlungsführung auf bestimmte ›Begegnungen‹ abzuheben und sie zur schicksalsgesättig460 Ebd., S. 176f. 461 Ebd., S. 177f.

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ten ›Sternstunde‹ zu stilisieren; und schließlich thematisiert Heißenbüttel die durch Autor und Leser vorgenommene intertextuelle Verknüpfung von authentischen Personen und deren Handlungen mit bewusstseinssteuernden Deutungsmustern, die in historischer Belletristik häufig dazu führt, dass literarische und mythologische Assoziationen eigene Wirklichkeiten hervorrufen und den ursprünglichen Anspruch auf ›authentische‹ Darstellung unterlaufen. Der hohe Grad an Selbstreflexion, den Heißenbüttels ›historische Novellen‹ aufweisen, macht es verständlich, dass die Motti, die er den Texten seines Bandes in reicher Zahl voranstellt, unter anderem von den bekanntesten und radikalsten französischen Theoretikern stammen, so von Georges Battaille und Jean-François Lyotard.462 Insbesondere zu Lyotard, dessen erste programmatische Übertragung des Postmoderne-Begriffs von der Architektur auf Philosophie und Gesellschaftstheorie etwa zeitgleich mit Heißenbüttels Projekt-Bänden entstanden sein dürfte, ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte; Lyotards Gedanken über den »Zerfall der großen Erzählungen«463, der sinngebenden ›grand récits‹ der Moderne, entsprechen den Vorbehalten Heißenbüttels gegen die überkommenen Traditionen des literarischen Erzählens, die zum Movens seines Schreibens seit den ersten experimentellen Anfängen geworden sind. Zugleich können Heißenbüttels ›historische Novellen‹ als Musterbeispiele für selbstreflexive Texte gelten, die die Möglichkeiten des eigenen Genres wie die ihm zugrunde liegenden Konstrukte kritisch hinterfragen und ihre eigene Delegitimierung ironisch reflektieren – und damit, ein auch von der postmodernen Theoriebildung nie völlig aufzulösendes Paradoxon, letztlich die Gattung fortsetzen, deren Grundlagen sie destruieren.

2.2. Ludwig Harig (geb. 1927) »Alle haben wir so gerne strenge Form und Postmoderne«.464

Neben Helmut Heißenbüttel, Reinhard Döhl, Eugen Gomringer und Franz Mon gehört Ludwig Harig zu den prominentesten Autoren, die sich der ›Stuttgarter Schule‹ um den Philosophen, Mathematiker, Physiker und Schriftsteller Max Bense (19101990) zurechneten. Von daher ergeben sich auch viele Parallelen zu Heißenbüttel, mit dem Harig eine lange Freundschaft verband465: Beide begannen in den fünfziger und sechziger Jahren mit experimentellen Texten, in denen die Sprache nicht als 462 Vgl. Heißenbüttel: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte, S. 5f. 463 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1986

[zuerst 1979], S. 54. 464 Ludwig Harig: 19 Grazer Doppelzeiler. In: Ders.: Hundert Gedichte. Alexandrinische Sonette,

Terzinen, Couplets und andere Verse in strenger Form. München, Wien 1988, S. 67f., hier S. 67.

465 Vgl. ders.: »Ich bin eine Geschichte von jemand«. Helmut Heißenbüttel als Erzähler. In: Schrift

écriture geschrieben gelesen. Für Helmut Heißenbüttel zum siebzigsten Geburtstag. Hg. v. Christina Weiss. Stuttgart 1991, S. 70-82.

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Informations- und Kommunikationsinstrument, sondern vor allem als Material behandelt wird; Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre gingen beide dazu über, die experimentellen Schreibweisen nicht mehr als Zentrum ihrer schriftstellerischen Produktion, sondern verstärkt als Ausdrucksmittel im Dienst inhaltlich-thematischer Aussageabsichten zu sehen – eine Wiederannäherung an literarische Traditionen, die sich auch in der Neuentdeckung herkömmlicher Gattungsbezeichnungen wie etwa ›Novelle‹ niedergeschlagen hat. Harigs erste größere Prosaveröffentlichungen bestanden, in Orientierung an Benses Materialästhetik, aus reinen Permutations- und Anakoluthreihen466; 1978 leistete er mit seinem Rousseau-Roman einen Beitrag zu der um selbstreflexive Elemente und eine bewusst mitgestaltete Gegenwartsebene bereicherten Form historisch-biographischer Prosa, wie sie sich im Laufe der siebziger Jahre herausgebildet hatte – und konnte damit auch wissenschaftliche Kenner des 18. Jahrhunderts überzeugen.467 Schließlich eröffnete Ordnung ist das ganze Leben. Roman meines Vaters 1986 eine Reihe von vier autobiographisch grundierten Prosawerken, mit denen sich Harig am weitesten von seinen experimentellen Anfängen entfernt, aber zugleich auch die größte Resonanz bei Lesepublikum und Kritik gefunden hat. Die ausdrückliche Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ hat Harig zweimal verwendet: 1980 für Der kleine Brixius und zwölf Jahre später für Die Hortensien der Frau von Roselius. In beiden Texten wird der Anspruch, ›Novellen‹ zu erzählen mit einer ausgiebigen Metareflexion der Sprache und des Erzählens selbst verbunden oder sogar von dieser überlagert – Der kleine Brixius enthält zahlreiche sprachphilosophische Implikationen, Die Hortensien der Frau von Roselius sind aus den Poetikvorlesungen des Autors hervorgegangen, die dieser 1992 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Universität Würzburg gehalten hat. Beide Texte zeichnen sich durch eine Fülle von intertextuellen Bezugnahmen aus – allein durch die als solche ausgewiesenen Zitate werden Autoren von Äsop bis Agatha Christie, Wissenschaftler und Philosophen von Nikolaus Cusanus bis Stephen Hawking zum imaginären Geisterchor vereinigt. Auch das Aufgreifen novellentypischer Begriffe und Textstrategien gehört zu dieser bewusst geformten Intertextualität; so wird etwa Goethes berühmte Novellenformel von der »unerhörten Begebenheit« in Der kleine Brixius nicht weniger als sechsmal zitiert468, während sich die leitmotivisch eingesetzten Hortensienbüsche der Frau von Roselius als virtuos gehandhabtes, auf verschiedenen Erzählebenen funktionierendes ›Dingsymbol‹ bewähren.

466 Vgl. Werner Jung: »Du fragst, was Wahrheit sei?« Ludwig Harigs Spiel mit Möglichkeiten. Bielefeld

2002, S. 19-42, sowie die kommentierte Neuausgabe der Frühwerke: Ludwig Harig: Familienähnlichkeiten. Hg. v. Gerhard Sauder. München, Wien 2005 (= Gesammelte Werke, 1). 467 Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsame Aufklärung. Der Rousseau-Roman. In: Sprache fürs Leben – Wörter gegen den Tod. Ein Buch über Ludwig Harig. Hg. v. Benno Rech. Blieskastel 1997, S. 6975. 468 Vgl. Harig: Der kleine Brixius, S. 8, 19, 37, 45, 81, 99.

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Der kleine Brixius (1980) Der Titelheld in Harigs erster Novelle ist ein fünfjähriger Junge, der eines Tages in die Luft springt und laut »Ja, ja!« ausruft – selbst der Plan eines Zahnarztbesuchs wird affirmiert. Im Laufe der Erzählung streicht der kleine Brixius alle negativen, verneinenden Wörter aus seinem Sprachschatz und selbst »gewisse unentschiedene Wörter«469 wie ›nett‹, ›grau‹, ›halb‹ oder ›bald‹ bringt er nicht mehr über die Lippen. Diese Lust an der Affirmation wirkt ansteckend, zumindest im saarländischen Dorf Liebergallshaus470, in dem der kleine Brixius lebt: Sein »Ja, ja!« avanciert zur Grundlage einer »neuen Sprache«, sein Hüpfen wird zur »Erhebung«471, der scheinbar skurrile Einzelfall gewinnt als »unerhörte Begebenheit« eine »allesentscheidende Dimension«.472 Dieses Szenario ist vor einem sprachphilosophischen und einem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund zu betrachten. In der Nachfolge Wittgensteins und anderer moderner Sprachphilosophen473 geht Harig zunächst davon aus, dass das Bewusstsein des Menschen aufs engste mit seinen sprachlichen Bedingungen verbunden ist, der Mensch also auch »nur mit Hilfe der Sprache von der Wurzel her zu ändern«474 sei; »zu einem neuen Menschen zu gelangen« ist möglich allenfalls mit Hilfe einer neuen Sprache, »einer neuen Grammatik«.475 Der kleine Brixius wird als »dieser neue Mensch, das zukünftige Individuum«476 vorgestellt; dass er zugleich in Analogie zu Hans Christian Andersens Märchenfigur Ole Luk-Oie gesetzt wird – »womöglich war er Ole Luk-Oie in einer verwandelten Form des zwanzigsten Jahrhunderts«477 – verweist den Leser auf den Spielcharakter dieser »Melange aus Novelle, Märchen und Satire«.478 Andersens Ole Luk-Oie ist eine Art Sandmann, der zwei Regenschirme mit sich trägt – »einen mit Bildern darauf, und den stellt er über die guten Kinder, und dann träumen sie die ganze Nacht die schönsten Geschichten, und einen anderen hat er, auf dem ist gar nichts darauf, und den stellt er über die unartigen Kinder, dann schlafen sie ganz komisch, und morgens, wenn sie erwachen, haben sie nicht das kleinste bißchen geträumt«.479 Ole Luk-Oie kann leblosen Bildern

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Ebd., S. 59. ›Liebergallshaus‹ heißt auch ein (früherer) Ortsteil von Harigs Heimatstadt Sulzbach/Saar. Harig: Der kleine Brixius, S. 112. Ebd., S. 29. Zur Einordnung Harigs in den sprachphilosophischen und sprachskeptischen Kontext der Moderne vgl. Petra Lanzendörfer-Schmidt: Die Sprache als Thema im Werk Ludwig Harigs. Eine sprachwissenschaftliche Analyse literarischer Schreibtechniken. Tübingen 1990, S. 5-30. Harig: Der kleine Brixius, S. 120. Ebd., S. 99. Ebd., S. 117. Ebd., S. 5. Jung: »Du fragst, was Wahrheit sei?«, S. 116. Hans Christian Andersen: Ole Luköie. In: Ders.: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel hg. v. Heinrich Detering. Düsseldorf, Zürich 2005. Bd. 1, S. 238-253, hier S. 238f.

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Leben einhauchen und er kann vor allem »wahrhaftig erzählen«480 wie kein anderer. Der kleine Brixius sieht auf dem bunten Schirm seiner Mutter pittoreske Chinoiserien; und am Ende wachsen ihm mit Hilfe der Sprache sogar Flügel, mit denen er sich über die unzulängliche Welt erhebt. Eine zentrale Pointe von Harigs Novelle besteht darin, dass die ›neue‹ Sprache des kleinen Brixius und deren »morphologische und syntaktische Dispositionen«481 keineswegs frei erfunden sind. Harig überträgt vielmehr typische Formen und Strukturen seines heimatlichen Dialekts in die Hochsprache; losgelöst vom mundartlichen Umfeld erscheinen sie verfremdet und vielseitig interpretierbar. Dazu gehören etwa die im Saarländischen mögliche und übliche Wendung »Komm bei mich« statt »Komm zu mir«, die Ersetzungen von ›werden‹ durch ›geben‹ (»Es gibt schon hell«), von ›nehmen‹ durch ›holen‹ (»Ich hole mir das Leben«) oder von »auf einmal« durch »über einmal«482 sowie die Austauschbarkeit von »lehren« und »lernen«483; hinzu kommen Abweichungen von der Standardsprache in Bezug auf die Zeitenfolge und die Stellung der Wörter im Satz. Für den Erzähler zeichnen sich in diesen sprachlichen Besonderheiten die Eigenschaften und die Mentalität des ›neuen Menschen‹ ab, der emotionaler und sozialer sein soll als der gegenwärtige und über »schwebende Leichtigkeit« und »luftige Beschwingtheit«484 verfüge. Indem die Besonderheiten aus dem Dialekt abgeleitet werden, erweist sich Harig einerseits als der Verfechter regionaler Identität, als der er immer wieder hervorgetreten ist485; andererseits macht er die Differenz zwischen dem realen Dialekt und der ›neuen Sprache‹ durch die Übertragung ins Hochdeutsche deutlich und rettet damit den bei aller ironischen Brechung doch vorhandenen utopischen Aspekt seines Textes. Während den Kindern und (implizit) den Dichtern das Potential attestiert wird, eine ›neue Sprache‹ und damit einen ›neuen Menschen‹ herbeizuführen, erscheint ein anderer Menschenschlag als Inbegriff von Weltblindheit und starrer Beharrung auf dem schlechten Alten: die Wissenschaftler verschiedener Provenienz. Mediziner wie der Zahnarzt Zangl oder der Laryngologe Dr. Kropf (schon durch die sprechenden Namen karikiert), Erziehungswissenschaftler wie der Landauer Professor Geißenreither, Psychologen wie Professor Suitbert oder Grammatiker wie der Akademische Oberrat Buchecker versagen vor der Affirmationslust des kleinen Brixius, »ignorieren den Appellcharakter der kindlichen Zustimmung zum Leben und ziehen sich in die Bastionen ihrer Methodologie wie in ein Schneckenhaus zurück«.486 Die WissenEbd., S. 238. Harig: Der kleine Brixius, S. 99. Vgl. ebd., S. 73-81. Vgl. ebd., S. 120. Ebd. S. 80. Vgl. dazu z.B. Ludwig Harig: Die saarländische Freude. Ein Lesebuch über die gute Art zu leben und zu denken. München 1977. 486 Alois Wierlacher: Kritische Affirmation. Ludwig Harigs Der kleine Brixius. In: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1991, S. 172-185, hier S. 176. 480 481 482 483 484 485

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schaftssatire nimmt breiten Raum in Harigs Novelle ein, einige der Figuren sind kaum verschlüsselt als reale Personen zu erkennen, wie beispielsweise der Regensburger Germanistikprofessor G. A. Jeck (Gajek).487 Mit der satirischen Darstellung der akademischen Welt einher geht die bewusste und deutliche Absage an die bis in die achtziger Jahre und darüber hinaus vorherrschende »Normvorstellung theoretischer und diskurspraktischer ›Negativität‹«.488 Hier liegt die mentalitätsgeschichtliche Aussagekraft von Harigs Novelle. Der kleine Brixius ist eine ironische Gegenfigur zum kritisch-negativistischen Intellektuellen, der sich, geprägt unter anderem von einer vulgarisierten Kritischen Theorie, jeder Affirmation enthalten zu müssen glaubte und damit insbesondere den geisteswissenschaftlich-intellektuellen Stil der Bundesrepublik lange dominiert hat; insofern kann Harigs Novelle »als parodistische Kritik der traditionellen Form europäischer und negativer Kulturkritik gelesen werden«.489 Selbst die Bezugnahme auf die traditionsreiche Gattung ist aus dieser Perspektive aufschlussreich: Obwohl ein durch und durch intellektueller Text eines poeta doctus, bekennt sich die Novelle vom kleinen Brixius zu einem anti-intellektuellen Helden, der seine ›Modernität‹ nicht über die kritische Verneinung beweist, sondern (darin eher ›postmodern‹ gesonnen) über die heitere Affirmation – diesem Helden entspricht die reflektierte Wiederaufnahme älterer Erzähl- und Gattungsmodelle weitaus eher als die ›moderne‹, verneinende Absage an die epische Tradition. Die märchenhaften Elemente des Textes wiederum machen dem Leser bewusst, dass es keineswegs darum geht, die reale Welt so zu nehmen, wie sie ist, sondern dass diese Affirmation nur Zuständen gelten kann, die wert sind, affirmiert zu werden; die kindliche Phantasie des kleinen Brixius – der wohl zu Recht als eine Art Anti-Oskar, als Gegenentwurf zum berühmten Blechtrommler gesehen worden ist490 – markiert ein Stadium, in das selbst der dazu am ehesten berufene Dichter nicht zurückkehren kann. Aber er kann an diese Entwicklungsstufe erinnern und sie als Leitbild seiner Zukunftsvorstellungen formulieren – eine Aussageabsicht, für deren ideales Medium schon die Romantiker das (zur Novelle hin unscharf abgegrenzte) Kunstmärchen gehalten haben. Insofern wäre Der kleine Brixius auch so etwas wie eine Fortführung der romantischen Tradition des ›Novellenmärchens‹ oder der ›Märchennovelle‹491 mit den Mitteln eines durch die moderne Sprachkritik gegangenen Erzählens.

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Vgl. Harig: Der kleine Brixius, S. 33 und Wierlacher: Kritische Affirmation, S. 176. Wierlacher: Kritische Affirmation, S. 173. Ebd., S. 174. Vgl. Jung: »Du fragst, was Wahrheit sei?«, S. 118. Vgl. zu solchen Termini – die der Tatsache gerecht werden wollen, dass Tiecks Frühwerke sowohl als Anfänge der romantischen Novelle als auch des romantischen Kunstmärchens gelten können – z.B. Heinz Schlaffer: Roman und Märchen. Ein formtheoretischer Versuch über Tiecks Blonden Eckbert. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Schriften (Fritz Martini zum 60. Geburtstag). In Zusammenarbeit mit Käthe Hamburger hg. v. Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 224-241.

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Die Hortensien der Frau von Roselius (1992) Harigs zweiter Novellentext Die Hortensien der Frau von Roselius kann ebenfalls rückbezogen werden auf die romantische Erzähltradition. Auffällig ist vor allem die extensive erzählerische Selbstreflexion – das frühromantische Postulat einer Transzendentalpoesie, die immer zugleich die Bedingungen ihres eigenen Zustandekommens mitbedenkt, findet eine engagierte Umsetzung in Harigs Novelle, die ganz im Sinn Friedrich Schlegels als Vereinigung »einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung«492 angelegt scheint. Über die Genese des Textes im Rahmen von Harigs Poetikvorlesungen Bescheid zu wissen, schärft das Leserverständnis für dieses autoreflexive Moment beträchtlich – vielleicht waren es verkaufsstrategische Überlegungen, die den HanserVerlag davon abgehalten haben, über den entsprechenden Zusammenhang im Klappentext der Novellenveröffentlichung aufzuklären. Die häufige Leseransprache und Selbstkommentare wie etwa »Sie wollen über die Geschichten hinaus wissen, wie sie erzählt worden sind, und mich beschäftigt über meine Anstrengungen hinaus Ihr Interesse an diesem Wie«493 jedenfalls verweisen deutlich auf den Entstehungskontext der Novelle. Im Ergebnis schickt Harig, wie Werner Jung resümiert hat, »seinen Erzähler, sein Ich, als multiple Persönlichkeit ins Rennen, nämlich als Beobachter zum einen, als Beobachter des Beobachters zum anderen und schließlich noch als Beobachter des Beobachters des Beobachters«.494 Für den Leser bedeutet dies, dass sich ›Text‹ und ›Theorie‹ ebenso wenig wie ›Dichtung‹ und ›Wahrheit‹ trennscharf auseinander halten lassen. Der Erzähler gibt vor, einige spektakuläre Vorfälle aus der Vergangenheit zu rekonstruieren – so den Fall eines Mädchens, das den Tod eines Jungen verursacht hat, indem es ihn ins Wasser des Blaubachs gestoßen hat, oder die mit dem Selbstmord des Liebhabers endende Affäre einer Fabrikantengattin. Ausgiebig reflektiert werden die Zusammenhänge zwischen »Erinnern und Schreiben«, »Nachforschen und Schreiben«, »Lesen und Schreiben« sowie »Reisen und Schreiben«.495 Jede der genannten Tätigkeiten trägt zur Entstehung und Fortführung einer Geschichte bei, die auch dort, wo sie sich nicht auf nachweisbare Fakten stützt, den Anspruch auf Authentizität und ›Wahrheit‹ erhebt. Ausgangspunkt ist zunächst die eigene Erinnerung des Erzählers. »Schreiben über Erinnertes ist, als schlage man sich mit dem Hammer auf den Daumen: Aus dem nachlassenden Schmerz steigt eine unbändige Lust auf, die ich auskoste und genieße«.496 Zu den Kindheitserinnerungen des Erzählers gehört die schmerzhafte Erfahrung, aus dem Park der reichen Fabrikantenfamilie Rossell ausgeschlossen zu blei492 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment 238. In: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. 493 494 495 496

und eingel. v. Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1967 (= Kritische Ausgabe, 2), S. 204. Ludwig Harig: Die Hortensien der Frau von Roselius. Eine Novelle. München, Wien 1992, S. 145. Jung: »Du fragst, was Wahrheit sei?«, S. 124. Harig: Die Hortensien der Frau von Roselius, S. 9, 39, 105, 127. Ebd., S. 17.

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ben497 ebenso wie die – eingebildete? – Erinnerung an die Szene, wie der Junge in den Blaubach gestoßen wurde. Der Leser wird jedoch frühzeitig gewarnt: »Erinnerte Personen werden sich als Romanfiguren entpuppen«, deren Schicksale die »kümmerliche Erinnerung« übersteigen.498 Ohnehin verunsichert dahingehend, inwieweit er seinem »Gedächtnis überhaupt trauen«499 kann, hat der Erzähler überhaupt nicht vor, sich zum Sklaven nachweisbarer Faktizität zu machen, statt der Eigendynamik des Stoffes und seiner Phantasie zu vertrauen. Die Konsequenz dieser Ansicht wird im dritten Kapitel gezogen, das nicht zufällig die Überschrift »Auch wenn es nicht wahr ist«500 trägt. Dem Erzähler liegt ein Gedichtband der erinnerten Carla Rossell vor, der seine Phantasie zusätzlich belebt: Die Wörter sind taktvoll, doch je weniger sie ausplaudern, um so neugieriger werde ich, und ich weiß auf einmal: Wenn sie mir die Geschichte, auf die ich lüstern bin, nicht erzählen, dann muß ich mir diese Geschichte erfinden. Mit meinen eigenen Wörtern werde ich den stumpf gewordenen Spiegel blank reiben; das Schönste wäre, wenn es dem, der danach hineinschaute, vorkäme, als blickte er auf den Grund eines lange Zeit trüb gewesenen Wassers, das nun klar geworden ist und doch voller Geheimnisse bleibt. Ich erfinde die Liebesaffäre von Frau Rossell, ich schreibe eine Geschichte, die meiner Phantasie entspringt. Darf ich diese Geschichte Frau Rossell zuschreiben, auch wenn sie nicht wahr ist?501

Um die eigene Neugier zu befriedigen schafft der Erzähler – ein beinahe autoerotischer Akt – eine Geschichte; um die Differenz seiner Figuren zu den historischen Personen zu unterstreichen, tauft er diese »auf den Namen Roselius« und adelt sie. Im Folgenden glaubt er nun, sich kraft seiner »Phantasie für diese Geschichte verbürgen« zu können, die er als die »wahre Geschichte« der Carla Rossell »im üppigeren Leib einer Frau von Roselius« begreift. Wie heikel das Verhältnis von Realität und Fiktion hier geworden ist, wird besonders deutlich, sobald man berücksichtigt, dass der fingierte Name ›Roselius‹ deutlicher noch als der angeblich reale Name ›Rossell‹ an den tatsächlich authentischen Namen der Sulzbacher Fabrikantenfamilie ›Vopelius‹ anklingt, an deren Geschichte sich Harig in zahlreichen Details orientiert.502 Zwischen die Versatzstücke einer Liebesgeschichte aus dem Jahre 1906, die hochgradig literarisch vermittelt ist – Vergleiche etwa zu »Romanfigur[en] von Fontane«503 oder zu Thomas Manns Zauberberg werden explizit gezogen – schieben sich 497 Dieser Aspekt wird in der Rezension Werner Creuzigers stark hervorgehoben, vgl. Werner

Creuziger: Preußischblau. In: Neue deutsche Literatur 40 (1992), H. 12, S. 141-143. 498 Harig: Die Hortensien der Frau von Roselius, S. 19. 499 Ebd., S. 21. 500 Ebd., S. 55; vgl. auch die Äußerung: »Ich wollte nichts anderes als Ihnen diese Geschichte erzählen,

die, auch wenn sie nicht wahr ist, so doch hoffentlich gut erfunden und mit einer hilfreichen Moral versehen ist« (ebd., S. 79). 501 Ebd., S. 66. 502 Vgl. dazu Fred Oberhauser: Die Korrektur der Wirklichkeit im Märchen. Sulzbacher Topographien. In: Sprache fürs Leben – Wörter gegen den Tod. Ein Buch über Ludwig Harig. Hg. v. Benno Rech. Blieskastel 1997, S. 239-246. 503 Harig: Die Hortensien der Frau von Roselius, S. 77.

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auch immer wieder Kindheitserinnerungen des Erzählers, die scheinbar vage mit der Handlung verbunden sind. Doch der Erzähler ist sich stets bewusst, in seiner Geschichte »zwei Leben« und »zweierlei Leben«504 zusammenzuführen, nämlich das der Frau von Roselius und das eigene, und so sind auch die Erinnerungen an seine Familie oder an die frühe Lektüre von Andersens Märchen505 Faktoren, die auf seine Geschichte und die Art ihres Zustandekommens Einfluss haben. Wenn der Erzähler am Ende resümiert, er sei »durch die Zeit gesprungen« und es sei »ein fröhliches, ein gewagtes Springen«506 gewesen, so darf sich der Leser zurückerinnern an das Hüpfen und Springen des kleinen Brixius in Harigs erster Novelle: Wo der kleine Brixius über eine neue Sprache eine neue Weltsicht eröffnen konnte, hat der Erzähler mit seinen »Kapriolen«507 eine neue Wirklichkeit geschaffen. Um die Fülle von Motiven und Versatzstücken strukturell zu integrieren, greift Harig auf ein Mittel zurück, das besonders stark mit der Novellentradition verbunden ist: in den Hortensien der Frau von Roselius findet er eine Art von ›Dingsymbol‹, das vieles repräsentiert, was im Text entfaltet wird. Wie Paul Heyse mit dem Begriff der ›Silhouette‹ greift auch Ludwig Harig zu einem Vergleich aus der bildenden Kunst, um die integrierende Funktion dieses erzählerischen Mittels verständlich zu machen: Was für Cézannes Bild der Apfel, ist für meine Geschichte die Hortensie. Auch in der Hortensie gibt es den Kulminationspunkt wie in Cézannes Apfel. Die Hortensie ist Ihrem Auge am nächsten, und so wie die Ränder aller anderen Gegenstände und auch der Personen meiner Geschichte in Richtung auf einen Mittelpunkt fliehen, fassen Sie zuerst die Hortensie auf, und danach erst alles andere.508

Die Lieblingsblumen der Frau von Roselius dominieren nicht nur den Titel; sie spielen auch in den Kindheitserinnerungen des Erzählers eine wichtige Rolle, als erinnerte wie als gegenwärtige werden sie im Text immer wieder erwähnt. Die Hortensien verbinden sich mit Liebe und Tod, mit Jugend und Alter, illustrieren sogar das soziale Gefälle zwischen den Figuren, indem das, was bei der vornehmen Dame ›Hortensie‹ heißt, dem Erzähler zunächst nur als ›Ballenstock‹ geläufig ist.509 Ihr Farbenspektrum zwischen rot und blau lässt sie sowohl das Leben als auch die Literatur repräsentieren. Vor allem die Farbe Blau gehört zu den durch das ›Dingsymbol‹ gebündelten Leitmotiven des Textes, tritt sie doch zum einen in Verbindung mit den Hortensien hervor, aber auch als Produkt der Sulzbacher Blaufabrik (und Farbe der verunreinigten Abwässer), als adliges »blaues Blut«510, als politische Couleur (»Preu-

504 Ebd., S. 120. 505 Wie in Der kleine Brixius wird auch hier die Geschichte von Ole Luk-Oie besonders hervorgehoben, 506 507 508 509 510

vgl. ebd., S. 87-89. Ebd., S. 135. Ebd. Ebd., S. 140. Ebd., S. 108. Ebd., S. 85.

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ßischblau«511) und nicht zuletzt in Form der »blauen Spur meiner Phantasie«512 und vor allem der »blaue[n] Tinte«513 des Schreibers, der diese vielschichtige »Novelle vom Schreiben von Novellen«514 zu verdanken ist.

2.3. Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) Die späten Prosawerke Friedrich Dürrenmatts – darunter der umfangreiche Komplex der Stoffe und viele Tausend noch unedierte Typoskriptseiten aus dem Nachlass – werden von der Literaturwissenschaft unterschiedlich beurteilt: Mit Gerhard P. Knapp und Jan Knopf zeigen sich die Verfasser der gängigsten Werkmonographien überaus skeptisch, wo die Rede auf Texte aus Dürrenmatts letztem Lebensjahrzehnt kommt515; andere Kenner wie etwa Peter Rusterholz dagegen betonen nachdrücklich die Wichtigkeit dieser Schaffensphase für das Verständnis des Gesamtwerks.516 Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter (1986) Als ein »Höhepunkt in Dürrenmatts erzählerischem Spätwerk«517 gilt immerhin das schmale Prosastück, das Dürrenmatt 1986 unter einem seiner kompliziertesten Titel veröffentlicht hat: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. Nach der im Jahr zuvor erschienenen (Prosa-) ›Ballade‹ Minotaurus wählte der Schweizer Autor damit erneut »ein klassisches Genre als Mitteilungsrahmen«518; dass es sich um einen außerordentlich vielschichtigen Text handelt, bestätigt nahezu jeder Interpret: »Er ist zugleich hochartifizielle Novelle, Detektivroman, Liebesroman und ein Konglomerat von Versatzstücken phantastischer Literatur mit Doppel-, resp. Tripelgängerin, mit Science-Fiction-Elementen, mit Heilshoffnungen, persischer Mystik, mit apokalyptischen Ängsten vor dem drohenden 511 512 513 514

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Ebd., S. 13. Ebd., S. 39. Ebd., S. 53. Vgl. Jörg Drews: Hinabtauchen, um nachzuschauen. Ludwig Harigs Novelle vom Schreiben von Novellen. In: Süddeutsche Zeitung, 7./8.11.1992. – Alle Rezensionen zu den Hortensien der Frau von Roselius sind verzeichnet in: Werner Jung/Marianne Sitter: Bibliographie Ludwig Harig (1950-2001). Bielefeld 2002, S. 63-65. Vgl. Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 21993; Jan Knopf: Friedrich Dürrenmatt. München 41988. Vgl. Peter Rusterholz: Werkgenese – Auflösung oder Illumination der Texte? In: Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hg. v. Peter Rusterholz und Irmgard Wirtz. Berlin 2000, S. 13-22; neben diesem Sammelband bemüht sich auch die Neufassung des Text+Kritik-Bandes um eine Aufwertung des Prosa-Autors Dürrenmatt, vgl. Friedrich Dürrenmatt. Text+Kritik Heft 50/51. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Dritte Auflage: Neufassung. Dezember 2003. G. E. Grimm: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In: Reclams Romanlexikon. Hg. v. Frank Rainer Max und Christine Ruhrberg. Stuttgart 2000, S. 218. Jacobsen: Renaissance der strengen Form, S. 70.

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Untergang, eingeleitet und verbunden mit einem Kierkegaardschen Denkbild«.519 Indem der lebenslange Kierkegaard-Leser Dürrenmatt seiner Novelle ein Motto aus Entweder/Oder voranstellt, stiftet er im Übrigen einen intertextuellen Bezug zu einem anderen modernen Gattungsbeitrag: zu Martin Walsers Ein fliehendes Pferd, das durch ein Zitat aus der gleichen Quelle eingeleitet wird.520 Die von Walser zitierte Passage hebt mit der Betonung »entgegengesetzte[r] Lebensanschauungen«, die so häufig das Grundgerüst von Novellen bilden würden, auf strukturelle Eigenschaften des eigenen Textes wie der gesamten Gattung ab, während das von Dürrenmatt gewählte Motto eher die Weltsicht des delokalisierten und orientierungslosen, modernen bzw. postmodernen Individuums auszudrücken scheint: Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.521

Über die gemeinsame Motto-Quelle hinaus sind Parallelen zwischen dem Gattungsverständnis Walsers und Dürrenmatts unverkennbar: Walser verbindet die Novelle mit der Vorstellung von ›Dramatik‹, und vergleicht sie in ihrem Funktionalismus und ihrer Ökonomie mit einem »Schachbrett«522; Dürrenmatt stattet seine Protagonistin sogar explizit mit dem Gefühl aus, »wie eine Schachfigur […] hin- und hergeschoben«523 zu werden. Dürrenmatts Erzählkonstruktion legt gar keinen Wert darauf, vor dem Leser als ›natürlich‹ und ›authentisch‹ zu gelten. Genauso wenig sind seine Figuren Individuen mit individuellen Handlungs- und Gefühlsweisen; sie sind tatsächlich eher Schachfiguren, mittels derer der Autor ein Spiel inszeniert, das die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit bereits fiktionsimmanent verwischt – ohne dass dabei, erzähltechnisch gesehen, auf eine übergeordnete Perspektive oder auf eine symbolische Überhöhung des geschilderten Geschehens verzichtet würde. 519 Peter Rusterholz: Aktualität und Geschichtlichkeit des Phantastischen am Beispiel von Friedrich

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Dürrenmatts Novelle Der Auftrag. In: Phantastik in Literatur und Film. Hg. v. Wolfram Buddecke und Jörg Hienger. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1987 (= Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur, 17), S. 163-186, hier S. 165. Es sind nur etwa zehn Seiten, durch die die beiden Zitate in Kierkegaards Hauptwerk voneinander getrennt sind: Das von Walser gewählte Motto findet sich bereits im Vorwort des fingierten Herausgebers, das der Dürrenmatt-Novelle im ersten Hauptabschnitt Diapsalmata. Vgl. Sören Kierkegaard: Entweder/Oder. Erster Teil. Düsseldorf 1956, S. 15 bzw. S. 25. Friedrich Dürrenmatt: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. Zürich 1986, S. 7. – Diese philosophische Aussage wurde gelegentlich sogar als ›Falke‹ der Novelle begriffen, vgl. zusammenfassend Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 222-230. Diskussionsbeitrag von Martin Walser in der Sendung Literatrubel (Aufzeichnung einer literarischen Talkshow am 2.7.1978). Transkribiert von Volker Bohn. Zit. n. Bohn: Ein genau geschlagener Zirkel, S. 151. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 86.

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Betont artifiziell und stilisierend wirkt schon die Anlage des Textes als »Novelle in vierundzwanzig Sätzen«. Dürrenmatts Witwe Charlotte Kerr berichtet, er habe diese Form für die schon länger virulente Geschichte nach dem gemeinsamen Anhören von Bachs Wohltemperiertem Klavier I (in der Aufnahme von Glenn Gould) gewählt.524 Inwieweit das aus 24 Präludien und Fugen bestehende Werk sich in einer über die bloße Zahl der Einzelsätze hinausgehenden Art und Weise als »formalistic source of inspiration«525 bewährt haben mag, sei dahingestellt; dass sich Dürrenmatt jedoch sehr dezidiert um die mit der Novelle so oft verbundene ›Formstrenge‹ bemüht, ist offensichtlich. Mit großformatigen Hypotaxen hatte der Autor schon in seinen erzählerischen Anfängen experimentiert; die von der expressionistischen Prosa eines Kasimir Edschmid oder Carl Einstein beeinflusste Erzählung Der Sohn (1943) etwa besteht »aus einem einzigen, atemlosen Satzgebilde, das runde zwei Druckseiten füllt«.526 In Der Auftrag umfasst jedes der 24 Kapitel nur jeweils einen Satz, der sich bis zum Umfang von zehn oder elf der großzügig gesetzten Druckseiten ausdehnen kann. Zur daraus resultierenden »Hochkonjunktur des Kommas«527 trägt auch die konsequente Verwendung der indirekten Rede bei, die nur den letzten Teilsatz der Novelle als direkte Äußerung einer Figur stehenlässt (und ihn genau dadurch relativiert). Die vor allem mit Heinrich von Kleist verbundene Tradition des novellistischen Erzählens, gleich mit dem ersten Satz ein Spannungsverhältnis aufzubauen und eine dramatische Begebenheit zu berichten, setzt Dürrenmatt jedenfalls in beeindruckender Weise fort: Als Otto von Lambert von der Polizei benachrichtigt worden war, am Fuße der AlHakim-Ruine sei seine Frau Tina vergewaltigt und tot aufgefunden worden, ohne daß es gelungen sei, das Verbrechen aufzuklären, ließ der Psychiater, bekannt durch sein Buch über den Terrorismus, die Leiche mit einem Helikopter über das Mittelmeer transportieren, wobei der Sarg, worin sie lag, mit einem Tragseil unter der Flugmaschine befestigt, dieser nachschwebend, bald über sonnenbeschienene unermeßliche Flächen, bald durch Wolkenfetzen flog, dazu noch über den Alpen in einen Schneesturm, später in Regengüsse geriet, bis er sich sanft ins offene von der Trauerversammlung umstellte Grab hinunterspulen ließ, das alsobald zugeschaufelt wurde, worauf von Lambert, der bemerkt hatte, daß auch die F. den Vorgang filmte, seinen Schirm trotz des Regens schließend, sie

524 Charlotte Kerr: Die Frau im roten Mantel. München, Zürich 41993 [11992], S. 172f. – Darüber

hinaus wurde in der Forschung auf mögliche Analogien zu den 24 Gesängen von Ilias und Odyssee sowie zu den 24 Auftritten von Kleists Penthesilea verwiesen, allesamt Texte, die inhaltliche Zusammenhänge mit Dürrenmatts Novelle aufweisen; vgl. Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 219. 525 Robert E. Helbling: »I am a Camera«: Friedrich Dürrenmatt’s Der Auftrag. In: Seminar 24 (1988), S. 178-181, hier S. 178. 526 Knapp: Friedrich Dürrenmatt, S. 154. 527 Reinhardt Stumm: Die anderen ›Stoffe‹. Justiz – Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters des Beobachters – Durcheinandertal. In: Text+Kritik. Heft 50/51. Friedrich Dürrenmatt. Dezember 2003, S. 87-97, hier S. 92.

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kurz musterte und sie aufforderte, ihn noch diesen Abend mit ihrem Team zu besuchen, er habe einen Auftrag für sie, der keinen Aufschub dulde.528

Was weder flugtechnisch noch zollprotokollarisch durchführbar sein dürfte – den Sarg am Helikopter schwebend über hunderte von Kilometern zu transportieren und unmittelbar in das offene Grab abzusenken – fasziniert als surreales Bild. Der titelgebende Auftrag besteht in einer filmischen Aufklärung des mysteriösen Todesfalls; die F., »bekannt durch ihre Filmporträts«529, nimmt ihn an. Die unter Depressionen leidende Tina war vor der beständigen, professionell »kühlen Beobachtung«530 durch ihren Mann in die Wüste geflohen; die F. liest ihr Tagebuch, das wiederum die Beobachtungen enthält, die Tina über ihren Mann angestellt hat, und ist fasziniert von der Möglichkeit, als Beobachterin zweiter Ordnung diese Beziehung zu rekonstruieren. Den philosophischen Unterbau des Beobachtungsthemas liefert der mit der Filmemacherin befreundete Logiker D. im 5. Kapitel; D., von vielen Interpreten als Alter Ego Dürrenmatts erkannt531, entwickelt »eine interaktionalistische Phänomenologie des wissenschaftlichen Beobachtens der Welt und des Menschen«532, deren destruktive Auswirkungen durch den weiteren Handlungsverlauf illustriert werden. In Afrika (wahrscheinlich Marokko) angekommen, wird die F. in die Überwachungsmechanismen eines politisch instabilen Polizeistaats verwickelt. Nach wie vor glaubt sie sich auf den Spuren Tina von Lamberts. Deren Identität jedoch verschwimmt zusehends; auf einem Basar kauft die F. den »roten Pelzmantel«533, in dem die Frau des Psychiaters die Schweiz verlassen hatte. Rasch stellt sich heraus, dass sie bereits die dritte Frau ist, die mit dem auffälligen und scheinbar Individualität verbürgenden Kleidungsstück gesehen wurde: Neben Tina von Lambert und der F. selbst trug auch die dänische Kamerafrau Jytte Sörensen diesen (oder einen identischen) Mantel, und Jytte Sörensen war es, die darin ermordet wurde, nicht die tot und begraben geglaubte Gattin des Psychiaters. Das Bild der Frau im roten Mantel wird damit zum auffälligsten Zeichen dafür, wie problematisch die traditionellen Vorstellungen von Subjektidentität und Individualität im Zeitalter universeller Beobachtung geworden sind; eine Konstellation wird durchgespielt, die im Fall Jytte Sörensens mit Vergewaltigung und Tod, im Fall Tina von Lamberts mit einer glücklichen Heimkehr und der Geburt eines Kindes, im Fall der F. (die in letzter Minute dem Schicksal Jyttes entgeht) mit der Entdeckung eines neuen, ursprünglichen Le-

Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11f. Die Buchstaben F. und D. ergeben zusammengenommen die Initialen des Autors, zudem tragen die beiden Figuren Züge von Dürrenmatt auf der einen Seite, von seiner damaligen Frau, der Filmemacherin Charlotte Kerr, auf der anderen Seite. Vgl. schon Lutz Tantow: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In: Über Friedrich Dürrenmatt. Hg. v. Daniel Keel. 6., verb. und erw. Auflage Zürich 1998, S. 347-351[zuerst in: Süddeutsche Zeitung, 1.10.1986]. 532 Rusterholz: Aktualität und Geschichtlichkeit, S. 166. 533 Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 11. 528 529 530 531

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benswillens endet.534 Hintergrund dieser dramatischen Entwicklungen ist ein surrealphantastisches Kriegs-Szenario in der afrikanischen Wüste: Dort testen die »waffenexportierenden Länder« ihre Produkte, schüren einen politisch sinnlosen »Scheinkrieg«535, der zwar echte Opfer fordert, aber in erster Linie »die Waffenindustrie und damit die Weltwirtschaft auf Touren«536 halten soll. Das zerstörerische Tun wird von labyrinthartigen Bunkeranlagen aus gesteuert und von riesigen Computer-, Kameraund Satellitenanlagen dokumentiert – das zentrale Thema der Beobachtung wird ausgeweitet von der zwischenmenschlich-privaten Ebene auf weltpolitische Zusammenhänge. In der Wüste angekommen, lernt die F. zwei Männer mit mythologischen Übernamen kennen: Polyphem und Achilles. Aus dem einäugigen Zyklopen ist ein Pressephotograph und Kameramann geworden, aus dem homerischen Kriegshelden ein psychisch kranker Vietnam-Veteran, der bereits mehrfach »Frauen vergewaltigt und umgebracht«537 hat – wie zuletzt Jytte Sörensen und beinahe die F. selbst.538 Für den Menschen scheint sich nur noch die Alternative zu stellen, »eine seelenlose Maschine, eine Kamera, ein Computer« zu werden oder ein dumpfes und triebhaftes »Tier«.539 Im ersten Fall droht ihm zudem die Ersetzung durch die reine Technik, die die »Beobachterfunktion«540 immer noch gründlicher, noch mechanischer erfüllen könne. So ist Polyphem der letzte Photograph in seinem riesigen »Sciencefictionhorrorbunker«541, der noch nicht durch »automatische Videokameras«542 abgelöst wurde. Sein Selbstbild als absoluter, gottähnlicher Beobachter ist spätestens zerstört, seit über ihm zwei Satelliten schweben, die den Prozess der Beobachtung weiter potenzieren: »er, Polyphem, sei ein gestürzter Gott, seine Stelle hätte nun ein Computer eingenommen, den ein zweiter Computer beobachte, ein Gott beobachte den andern, die Welt drehe sich ihrem Ursprung entgegen«.543 Die allgegenwärtige Be534 Dabei lässt der Text letztlich offen, ob dieses Erleben der F. im 23. Kapitel als gelingender »Durch-

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bruch zur Authentizität« (Knapp: Friedrich Dürrenmatt, S. 155) zu werten ist oder nur als momenthafter Akt der »radikalen, körperlich mystischen Selbsterhellung« (so Beatrice von Matt: Friedrich Dürrenmatt: Der Auftrag. In: Dies. [Hg.]: Antworten. Die Literatur der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991, S. 145-150, hier S. 149), vgl. dazu auch Rusterholz: Aktualität und Geschichtlichkeit, S. 167. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 98. Ebd., S. 107. Ebd., S. 119. Wennn sie im entscheidenden Kampf mit ›Achilles‹ zum »Raubtier« (ebd., S. 130) wird, das die Zähne in seinen Hals schlagen will, avanciert die F. zu einer neuen Penthesilea; vgl. zu diesem Kleist-Bezug auch Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 211f. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 118. Ebd. Kerr: Die Frau im roten Mantel, S. 228. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 108. Ebd., S. 113. – Jochen Hörisch deutet es als besondere Qualität des Textes und Ausdruck einer »medialen Geistesgegenwart«, dass Dürrenmatt sein hochtechnisiertes, mediales Horrorszenario im ›antiquierten‹ Medium eines Novellentextes gestaltet habe; durch das Eingeständnis seiner »mediale[n] Unterlegenheit« gerate der Text zur »Option für den antiquierten Menschen« und bewahre

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obachtung ist das Stigma der modernen Welt, und wirkt zugleich doch als einzige »Daseinsbestätigung«544 – dass die meisten Menschen »sich selber unbeobachtet nicht aushielten«545, hat der Logiker D. schon zu Beginn des Textes festgestellt. Es gehört zu Dürrenmatts konstruktivistischer Wirklichkeitsauffassung, dass »die Produzenten der Realität, die sie vorzufinden meinen, begierig danach [sind], sie von einer höheren Instanz bestätigt zu sehen«546 – wer nicht beobachtet wird, existiert nicht. Das Phänomen der Beobachtung und der Beobachterposition behandelt Dürrenmatt in Auseinandersetzung mit damals aktuellen epistemologischen, quantenmechanischen, system- und medientheoretischen Erkenntnissen – die selektive »Aneignung und Umsetzung naturwissenschaftlicher Denkmuster und Sprachspiele«547, das lebhafte Interesse für Physik, Astronomie, Wissenschaftstheorie und Mathematik gehören sei den Anfängen zu den Charakteristika seiner literarischen Arbeit, ebenso wie die Absage an jeden ideologischen oder religiösen Sinn. Doch Der Auftrag ist keine naturwissenschaftliche Abhandlung, sondern ein poetischer Text, der in besonderem Maße von der Eigenschaft des literarischen Diskurses Gebrauch macht, interdiskursiv, also diskursübergreifend zu wirken548: Elemente des naturwissenschaftlichen Diskurses werden nicht begrifflich abgehandelt, sondern in eine komplexe Dramaturgie übersetzt und mit Elementen anderer Diskurse überkreuzt. Eine Fülle von professionellen Beobachtern wird vorgeführt: Die Filmemacherin F., der Photograph und Kameramann Polyphem, der Psychiater von Lambert, der Logiker D., die unter der Beobachtung durch ihren Mann leidende und doch selbst beobachtende Tina – ihrer aller Tun wird dargestellt, aneinander gespiegelt, in den Tod oder ins Überleben überführt, ohne dass sich der Autor auf die erkenntnistheoretisch exakte Reflexion der jeweiligen Beobachterposition beschränken würde. Schon die Verwendung der Übernamen Polyphem und Achilles etwa eröffnet neben der naturwissenschaftlichen oder kapitalismuskritischen Dimension auch eine mythologische, stiftet Beziehungen zwischen dem apokalyptischen Wüstenkrieg und den ältesten Kriegsepen der abendländischen Kultur, zwischen sagenhaftem Ungeheuer und technozentriertem Neuzeitmenschen.549

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damit ein Stück Humanität, das in den aktuelleren Medien bereits verloren gegangen sei; vgl. Jochen Hörisch: Verdienst und Vergehen der Gegenwartsliteratur. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt/M. 1995, S. 30-48, hier S. 46f. Stumm: Die anderen ›Stoffe‹, S. 94. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 25. Franz Hebel: Technikentwicklung und Technikfolgen in der Literatur. Timm, Der Schlangenbaum/ Eisfeld, Das Genie/ Dürrenmatt: Der Auftrag/ Wolf: Störfall. In: Der Deutschunterricht 41 (1989), H. 5, S. 35-45, hier S. 43. Rudolf Käser: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge«. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: Text+Kritik. Heft 50/51. Friedrich Dürrenmatt. Dezember 2003, S. 167-182, hier S. 169. Vgl. dazu Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1988, S. 284-307. Berücksichtigt man, dass ›Polyphem‹ in den Vorfassungen noch ›Galilei‹ hieß, erweitert sich die

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Dass Dürrenmatts Auftrag auch in anderer Hinsicht vielfältig intertextuell vernetzt ist, versteht sich fast von selbst: Charlotte Kerr, Widmungsträgerin des Textes und Witwe des Autors, hat einen von Stilisierungen sicher nicht freien, aber ohne Zweifel instruktiven Bericht über die Entstehung der Novelle vorgelegt. Kerr zufolge stand ihre eigene Beschäftigung mit Ingeborg Bachmanns Roman-Fragment Der Fall Franza am Anfang; sie plante, den Stoff zu verfilmen und bezog auch Dürrenmatt in dieses Projekt mit ein. In diesem Zusammenhang entstanden der spätere erste Satz von Der Auftrag, aber auch das Ausgangsbild der Frau im roten Mantel, die, wie die Bachmannsche Protagonistin, aus der gescheiterten Beziehung mit einem Psychoanalytiker in die Wüste flieht.550 Der rote Pelzmantel wiederum, der in der Novelle leitmotivartig wiederauftaucht, ist ein konkretes Geschenk des Autors an seine Frau – Dürrenmatt hat Charlotte Kerr mit diesem Mantel porträtiert, und das Motiv verband sich mit den Plänen zum Fall Franza.551 Der fertige Text hat zwar Kerr zufolge »nichts mehr mit Franza zu tun (außer daß eine Frau in die Wüste geht)«552, aber der entstehungsgeschichtliche Impuls ist klar auf den Bachmann-Text zurückzuführen; hinzu kommen die biographischen Bezüge, die durch die Annäherung der Filmemacherin F. an Charlotte Kerr oder die Inspiration für die Figur Polyphem durch Kerrs Kameramann Igor553 konstitutiv in den Text miteingegangen sind. Dürrenmatt selbst bringt sich als Logiker D. in seine Novelle ein und liefert in dieser Funktion den Schlusskommentar. Bemerkenswerterweise gilt es, ein positives Ende zu kommentieren: Wo Dürrenmatts Komödien so häufig die programmatische »schlimmstmögliche Wendung« genommen haben, wird das apokalyptische Wüstenabenteuer anscheinend »mit einer bestmöglichen Umkehr versehen«.554 Die F. gelangt heil in die Schweiz zurück und beim Frühstück mit D. kann dieser ihr aus der Zeitung vorlesen: »Otto und Tina von Lambert sei ein langgehegter Wunsch in Erfüllung gegangen, indem die schon Totgeglaubte und Beerdigte einem gesunden Knaben das Leben geschenkt habe, so daß D., die Zeitung zusammenfaltend, zu der F. sagte: Donnerwetter, hast du aber Glück gehabt«.555 Die Umschreibung einer musterhaften ›unerhörten Begebenheit‹ – dass nämlich eine »Totgeglaubte und Beerdigte« ein Kind zur Welt bringt – lässt an die Novellentradition insgesamt, die Betonung des überraschend eingetretenen Familienglücks

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Fülle der durch die Novelle gestifteten Bezüge zwischen mythologischem, historischem und naturwissenschaftlichem Diskurs noch einmal, vgl. Käser: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge«, S. 175. Einen Vergleich zwischen Dürrenmatts Auftrag und Bachmanns Fall Franza unternimmt Florentine Strzelczyk: Im Labyrinth: Zum Verhältnis von Macht und Raum bei Bachmann und Dürrenmatt. In: Seminar 32 (1996), H. 2, S. 15-29; merkwürdigerweise allerdings wird die entstehungsgeschichtliche Verbindung zwischen dem Dürrenmattschen und dem Bachmannschen Text in den theoretisch hoch reflektierten Aufsatz nicht einbezogen. Kerr: Die Frau im roten Mantel, S. 142f. Ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 64. Tantow: Der Auftrag, S. 350. Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 132f.

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zudem an die Schlusspassagen von Kleists Das Erdbeben in Chili oder auch der Marquise von O… denken. Zumindest im Hinblick auf Tina von Lambert und die F. scheint die »Erlösung aus einem gedanklich konstruierten Alptraum […] durch die Rückführung in die Normalität des Alltags«556 gelungen, und in gewisser Weise erfüllt Dürrenmatt damit zugleich ein Handlungsmuster der älteren Novellistik, das auf die ›positive‹ Bewältigung chaotischer und identitätsbedrohender Lebenskrisen abzielt. Ähnlich wie bei Kleist jedoch ändert das relativ glückliche Einzelschicksal nichts an der grundsätzlich »gebrechlichen Einrichtung der Welt«557; die immanenten Spannungen eines Textes, der sich mit der globalen Verflechtung disziplinärer Machtverhältnisse, mit apokalyptischen Ängsten, psychotischen Störungen und multiplen Spaltungen, Medien- und Technologiekritik sowie dem philosophisch weitreichenden Thema der allumfassenden Beobachtung beschäftigt und durch ein ausgesprochen pessimistisches Kierkegaard-Zitat eingeleitet wird, können durch die Komplettierung einer Kleinfamilie und ein idyllisches Intellektuellen-Frühstück kaum aufgelöst werden. Insofern bleiben die Zitate der Tradition – und nicht zuletzt der Novellentradition – auch als solche erkennbar und sorgen dafür, dass die gedankliche Auseinandersetzung mit Dürrenmatts »Novelle in vierundzwanzig Sätzen« durch den vorgeblich glücklichen Schluss nicht beendet, sondern im Gegenteil weiter stimuliert wird.

2.4. Thomas Lehr (geb. 1957) Frühling (2001) Unter den Texten, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts um einen experimentellen Stil bemühen und zugleich die Verbindung zur traditionsreichen Novellengattung suchen, verdient Thomas Lehrs 2001 publizierte Novelle Frühling besondere Beachtung. Es handelt sich um die vierte Buchveröffentlichung des 1957 in Speyer geborenen Autors – nach den Romanen Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade (1993), Die Erhörung (1994) und Nabokovs Katze (1999) – und zugleich um seinen ersten, ausdrücklich als ›Novelle‹ gekennzeichneten Gattungsbeitrag. Thematisch kann Lehr bis zu einem gewissen Grad an Ilse Aichingers rund fünfzig Jahre zuvor entstandene Spiegelgeschichte anknüpfen: In beiden Fällen ist der Text als Gedanken- und Bewusstseinsstrom der sterbenden Hauptfigur konzipiert. Aichingers Protagonistin stirbt an den Folgen einer illegalen Abtreibung; auf wenigen Seiten wird der Lebenslauf der Sterbenden rekapituliert. Es sind vor allem zwei Kunstgriffe der Autorin, die aus der Spiegelgeschichte ein »ebenso virtuoses wie sperri556 Christa Grimm: Gedankenexperimente: Die Brücke und Der Auftrag. In: Die Verwandlung der Stoffe

als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hg. v. Peter Rusterholz und Irmgard Wirtz. Berlin 2000, S. 197-207, hier S. 206. 557 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O … . In: Ders.: Erzählungen/Anekdoten/Gedichte/ Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990 (= Sämtliche Werke und Briefe, 3), S. 143186, hier S. 186.

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ges Sprachexperiment«558 machen: Zum einen ist der Text zwar als eine Art Selbstgespräch angelegt, aber in der zweiten Person Singular formuliert: es entsteht »sozusagen eine neue Variante des inneren Monologs«.559 Zum anderen wird »stufenweise rückwärts« erzählt. Als die Ärzte und Schwestern konstatieren: »sie ist tot!«, ist der Bewusstseinstrom der Patientin, der zunächst die eigene Beerdigung vorwegnahm, beim »Tag der Geburt«560 angelangt; die ›innere‹ Handlung mit den Gedanken und Erinnerungen der Sterbenden und das ›äußere‹, lediglich durch die Kommentare des Krankenhauspersonals konstituierte Geschehen treffen sich im Zusammenfall von Todes- und Geburtsstunde. Sowohl Aichinger, die immerhin fünf Semester Medizin studierte, als auch Lehr, der 1983 ein Studium der Biochemie abgeschlossen hat, verfügen über eine naturwissenschaftliche Vorbildung, die ihr Interesse an den letzten Momenten eines menschlichen Lebens mitbeeinflusst haben dürfte. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sich typische Elemente sogenannter Nahtoderfahrungen in ihren Texten wiederfinden. Das in der Wissenschaft zwiespältig beurteilte Phänomen561 war vor allem zur Entstehungszeit der Spiegelgeschichte noch wenig erforscht. Trotzdem scheint es kein Zufall, dass schon Aichingers Erzählweise eine »Ähnlichkeit mit filmischen Techniken«562 aufweist; die Vorstellung vom ›Lebensfilm‹, der entweder vorwärts oder rückwärts im Zeitraffer vor dem inneren Auge abläuft, taucht in den Berichten von Menschen, die dem Tod nur knapp entkommen sind, immer wieder auf und hat offenbar ähnlich archetypischen Charakter wie der Blick durch einen Tunnel, an dessen Ende ein helles Licht leuchtet, das Gefühl, den eigenen Körper zu verlassen und von außen zu betrachten, die Begegnung mit Verstorbenen oder der Eintritt in paradiesische Landschaften. Ob die sogenannten Nahtoderfahrungen religiösmetaphysisch gedeutet werden oder neurobiologisch (etwa als Folge eines Sauerstoffmangels im Gehirn), ist für ihre Präsenz im literarischen Text letztlich wenig relevant. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Schilderung des Sterbevorgangs sowohl bei Aichinger als auch bei Lehr im Umkreis solcher dokumentierten Vorstellungen bewegt; so spricht auch Lehr von dem »rückwärts laufenden göttlichen 558 Wilfried Barner: Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte. In: Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpreta-

tionen. Hg. v. Werner Bellmann. Stuttgart 2004 [= RUB 17525], S. 76-88, hier S. 76. 559 U. Henry Gerlach: Ilse Aichingers Spiegelgeschichte: Eine einzigartige Erzählung. In: Ders.: Einwände

und Einsichten. Revidierte Deutungen deutschsprachiger Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 2002, S. 283-298, hier S. 288. – Andere Deutungen dieser besonderen Erzählperspektive (etwa als surrealistischer Monolog einer Toten oder als Text eines transzendenten Subjekts bzw. eines Engels) erscheinen wenig plausibel, vgl. dazu ebd., S. 284-289. 560 Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte. In: Dies.: Der Gefesselte. Erzählungen. Frankfurt/M. 1989, S. 6374. 561 Vgl. z.B. das bezüglich der Erkenntnismöglichkeiten der Nahtoderfahrungen sehr emphatische Interviewbuch von Evelyn Elsaesser-Valarino: Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Wissenschaftler äußern sich zur Nahtodeserfahrung. Genf, München 1995. 562 Barner: Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte, S. 82. – Aichinger hat sich von Jugend auf intensiv für den Film interessiert und war zeitlebens eine begeisterte Kinogängerin, vgl. Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. 2001.

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Film«563, an den die Struktur von Aichingers Spiegelgeschichte erinnert, und verwendet Begriffe wie »Film«, »Schwarzweißfilm« oder »großes Kino«564, um die Bewusstseinslage seines Protagonisten zu veranschaulichen. Vor allem aber sieht Lehr ebenso wie Aichinger die Notwendigkeit, der für jedes Individuum naturgemäß einmaligen, neuen und ›unerhörten‹ Erfahrung des Sterbens durch eine experimentelle Anlage des jeweiligen Textes gerecht zu werden. Aichinger konzentriert sich auf die Anordnung des Erzählten und die Verfremdung der Perspektive (durch die Verwendung der 2. Person Singular). Lehr setzt nicht nur die Chronologie von Zeit und Raum außer Kraft, sondern experimentiert darüber hinaus mit der Sprache selbst: Die Regeln von Syntax, Orthographie und Interpunktion werden äußerst individuell gehandhabt, um eine Sprachform hervorzubringen, die der extremen Erfahrung des Protagonisten Christian Rauch adäquat ist. Erreicht wird damit nicht nur eine permanente Beunruhigung und Verunsicherung des Lesers, sondern auch eine irritierende Polyvalenz einzelner Aussagen: Sätze wie »Es geht mir aus: gezeichnet« oder »Alles wird mir. Ein: Leuchten«565 sind auf verschiedene Weise deutbar und offen für Assoziationen – die Signifikanten geraten ins Gleiten. Den Konventionen entzieht sich auch die Benennung der einzelnen Kapitel, die nicht fortschreitend durchnummeriert werden, sondern die verstreichende Lebenszeit dokumentieren: Das erste Kapitel ist mit »: 39«, das letzte mit »: 1« überschrieben, und am Ende erfährt der Leser auch explizit, dass hier die letzten »neununddreißig sekunden«566 eines Menschenlebens nachvollzogen wurden.567 Die erzählte Zeit wird auf diese Weise extrem verknappt; die Erzählzeit bietet dennoch Raum genug für verschiedene Themenkomplexe: In die Verwandlungs- und Übergangsvisionen des sterbenden Christian Rauch sind Erinnerungen an seine gesamte, um eine herausragende Episode zentrierte Biographie eingelassen. Grundzüge einer Familiengeschichte werden rekonstruierbar, in der sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus wie auch seine »Fernwirkung«568 auf die folgenden Generationen symbolhaft verdichten. So markieren die letzten Sekunden dieses Menschenlebens auch einen konzentrierten Erkenntnisprozess: »Die PeriThomas Lehr: Frühling. Novelle. Berlin 2001, S. 96. Ebd., S. 139, 125, 103. Ebd., S. 12, 13. Ebd., S. 141. Es ist die Frage, ob die Lesererwartung durch die Angaben im Klappentext nicht schon zu früh in die entsprechenden Bahnen gelenkt wird: Aussagen wie »In 39 Kapiteln werden die letzten 39 Sekunden eines Mannes in einer Sprache berichtet, die so extrem ist wie die Situation und der Gegenstand, eine Meditation über Wahrheit und Schuld« sind alles andere als falsch, aber sie verhindern, dass der Leser sich unvoreingenommen in eine am Textbeginn bewusst vage gehaltene Situation hineinfindet: Ungeachtet der Tatsache, dass jeder Paratext rezeptionslenkend wirkt (und von seiner Intention her auch so wirken soll), übernimmt der Klappentext in diesem Fall durch die frühe Klarstellung der Ausgangssituation eine expositorische Funktion, die dem allmählichen Nachvollzug des ›eigentlichen‹ Textes vorbehalten bleiben sollte. 568 Werner Jung: Passionen. Gespräch mit Thomas Lehr. In: Neue deutsche Literatur 49 (2001), H. 4, S. 30-43, hier S. 41. 563 564 565 566 567

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petie ist eine Aufklärung von Vergangenheit, das Epiphanische beendet die Geschichte. Der Held stirbt in dem Moment, in dem er erkennt, daß er stirbt«.569 Dabei sind die Verwandlungs- und Übergangsvisionen intertextuell vielfältig vernetzt: Neben die bereits erwähnten Analogien zu authentischen Nahtoderfahrungen tritt mindestens gleichwertig die Bezugnahme auf die literarische Tradition. Der Novelle ist ein Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie vorangestellt, das die Frühlingsempfindung – entgegen der üblichen Jahreszeitenmetaphorik – mit dem Jenseits assoziiert; am Ende des Textes glaubt der Sterbende, »Frühlingswärme« und »Frühlingsluft«570 zu verspüren, und »Frühling« ist auch das letzte, Anfang und Ende zyklisch zusammenschließende Wort des Textes. Wie Dante von Vergil, so wird auch Christian Rauch bei seiner Erkundung metaphysischer Räume von einem »dunkle[n] Freund«571 begleitet, der wohl als der »personifizierte Tod«572 zu deuten ist. Neben Dante haben die Rezensenten der Novelle unter anderem Jean Pauls Christus-Vision573, Hermann Brochs Tod des Vergil574, »Franz Werfels Stern der Ungeborenen oder auch den kosmischen Träumer Paul Scheerbart«575 als intertextuelle Bezugspunkte ausgemacht. Den Übergang vom Leben zum Tod gestaltet Thomas Lehr als einen Weg durch Bilderwelten, in denen sich archetypische beziehungsweise religiös und literarisch vermittelte Vorstellungen mischen mit Elementen der technisierten Medienmoderne. Zu den traditionellen Motiven gehören die Auferstehung und die Nacktheit der »Schattenmenschen«576 (denen ein »Impuls alles Künstliche von sich zu tun«577 attestiert wird), die Verjüngung und die Heilung der versehrten Körper578, die Vorstellung eines stufenweisen Aufstiegs, der durch eine weiße, südliche Totenstadt hin »zum Meer«579 führt; zur Topographie des Jenseits zählen ein antikes Amphitheater, das als 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578

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So Lehrs Selbstinterpretation, ebd., S. 40. Lehr: Frühling, S. 99, 101. Ebd., S. 15. Angelika Overath: Frühling der Toten. L’Art pour le Mort – Thomas Lehrs kühne Novelle. In: Neue Zürcher Zeitung, 9.8.2001. Vgl. Gerhard Schulz: Countdown bis zum Zitatende. Thomas Lehrs gestauter Redefluß mündet in bekannte Gewässer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.8.2001. Welf Grombacher: Dahinsiechender Bewusstseinsstrom. In: Fuldaer Zeitung, 4.8.2001. Johannes Birgfeld: [o.T.]. In: Passauer Pegasus 19 (2001), H. 37, S. 126-129, hier S. 128. Lehr: Frühling, S. 43. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 96f. – Vorstellungen vom Medizinertum durchziehen den gesamten Text: In pervertierter Form ist es durch den KZ-Arzt präsent, als unerreichbares Ideal in Christians Wunschbild vom »Arzt ohne Berührung« (ebd., S. 66) und schließlich in Gestalt der »göttlichsten Chefärzte« (ebd, S. 98), die im Jenseits heilen. Angelika Overath hat den weiterführenden Hinweis gegeben, dass sich von hier aus auch eine poetologische Dimension der Novelle bestimmen lässt: Als ›Arzt-Experimentator‹ (eine Vorstellung, die bis auf Zola zurückzuführen ist) steht der Autor hinter dem Bewusstseinstrom des Sterbenden und der Lenkung des Erkenntnisprozesses. »Die Ärzte für die Toten, die ›Ärzte ohne Berührung‹. wären dann die artistisch präparierenden Poeten« (Overath: Frühling der Toten). Lehr: Frühling, S. 101.

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»Wunderlazarett«580 zum Schauplatz der allgemeinen Katharsis und Heilung wird, ein ›Zentraler Hör- und Sehsaal‹581, dessen Monitore Rückblicke in die eigenen Vergangenheit erlauben, ein ›Museum der Geburten‹582 sowie aquarienähnliche Behältnisse, die für manche – darunter Christians Vater – eine polarkalte ›Hölle‹583 bedeuten können. Es gibt Tore, die sich öffnen zum flutenden und immer heller werdenden Licht – eine archetypische Vorstellung, auch wenn über ihnen eine »leuchtanzeige blinkt wie über kinoausgängen«.584 Unter den Empfindungen des sterbenden Ich dominiert mehr noch als die gleichfalls präsente Vorstellung des Fliegens diejenige der »Verflüssigung«585; eine Art »wasserweltall«586 wird evoziert, ein Ozean, in dem die »ganze erinnerung ertrunken ist bis auf wenige inseln«.587 Passagen, in denen sich das sterbende Ich noch an die Realität klammert, sind durch eine Überfülle von Satzzeichen gekennzeichnet; im gänzlichen Fehlen der Interpunktion und in konsequenter Kleinschreibung dagegen findet die allmähliche Auflösung des Ich ihren adäquaten formalen Ausdruck, wie etwa in »: 25«: leise es ist ein leises vergehen als hielte man mich wie ein glas wasser in einen see klares in klarem durchsichtigste schmerzen ohne rand ein nachlassen endlich lösung verfließender kristalle im quarzstrom der zelle ohne wände […] und wie infolgedessen gibt es keinen schmerz und keine angst keine scham mehr um mein leben sondern nur dieses weiche durchtrennen aller nähte in mir entknoten der arterien und windungen des darms gehirns588

Inmitten dieser surrealen Bilderwelten und fluidalen Empfindungen erlebt das Ich jedoch auch immer wieder »Rückstürze«589 in die Erinnerung: Im Zentrum steht dabei ein zunächst glücklicher »Sommertag«590 des Jahres 1961, an dem zwei Jungen, der damals elfjährige Christian und sein vierzehnjähriger Bruder Robert vom Fischen nach Hause kommen. Die Schilderung der Ereignisse wird vor allem auf zwei Passagen aufgeteilt, die schon deshalb aus dem Bewusstseinsstrom herausragen, weil sie kohärent erzählt sind und orthographisch weitgehend der Norm entsprechen. Ein sonderbarer Mann steht im Garten, als die Jungen heimkehren: Er fokussiert den strengen, aber stumm bleibenden Vater, zieht sich schließlich bis auf die Unterhose aus und ruft: »APPELL, HERR DOKTOR! APPELL!«.591 Der Doktor schweigt zu Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 86. Ebd., S. 14. Ebd., S. 53. Ebd., S. 48. Ebd., S. 47. Ebd., S. 115. Ebd., S. 37. – Ob es einer Intention des Verfassers entspricht oder schlicht ein Versehen ist, dass dieser Sommertag einmal als »Julitag« (S. 116) und einmal als »Augusttag« (S. 38) spezifiziert wird, muss offen bleiben. 591 Ebd., S. 116. 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590

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diesem Vorfall, auch eine Anzeige wird nie erstattet. Aus Christians Sicht endet an diesem Tag seine Kindheit, es beginnt die »Geschichte einer deutschen Auslöschung«592: Seine Mutter verfällt zunehmend dem Alkohol, der ältere Bruder recherchiert über die Vergangenheit des Vaters, der KZ-Arzt in Dachau gewesen ist; Näheres darüber erfährt der Leser nicht. Drei Jahre später tötet sich Robert, indem er sich vor den Zug wirft. Christian hat von nun an das Gefühl, »halbiert«593 zu sein. Er bricht mit dem Elternhaus und kann mit fünfzig auf ein äußerlich erfolgreiches Leben zurückschauen; nach der Einheirat in ein pharmakologisches Unternehmen nimmt er den Familiennamen seiner Frau Angelika Rauch an. Einerseits, so seine letzte Bilanz, gibt es »keine Spur von Berechtigung einer wie auch immer gearteten Verzweiflung in meinem Leben als Pharmakologe Christian Rauch mit dem begabten Sohn der FLOTTEN Frau dem nachtblauen Wagen dem Haus am Waldrand im Familienbesitz und dem getauschten Namen«; andererseits fragt er: »Wer sieht schon den inneren Menschen zusammengekrümmt wie einen Wurm«.594 Er weiß, dass er, 1950 geboren, keine Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen trägt, und leidet als »Opfer von Erinnerungen […] anderer«595 um so stärker: »Ich bin noch nicht einmal ein berechtigtes Opfer meines Vaters sondern nur der Gefangene meiner Schwäche und Traurigkeit und Sucht nach todbringender/Vergangenheit«.596 Als Christian die alternde und schwer kranke Prostituierte Gucia kennen lernt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Plan zum gemeinsamen Freitod gefasst wird: Gucia ist die Tochter einer Frau, die in Dachau gequält worden ist. Die Konstellation erinnert nicht zufällig an den Selbstmord Heinrich von Kleists und Henriette Vogels; Christian beruft sich sogar auf das historische Vorbild.597 Allerdings ist es in seinem Fall die Frau, die schießt. Die Suizidszene, die sich im Frühjahr 2000 in Süditalien (und nach dem Genuss eines ›letzten Abendmahls‹ mit Brot und Wein598) vollzieht, bildet in gewisser Weise die Rahmensituation der Novelle; allerdings ist diese Rahmenhandlung »versteckt« und wird erst im Verlauf der Lektüre als solche erkennbar.599 592 Sibylle Cramer: Der Erbe der Schuld. Thomas Lehr erneuert verschollene Novellenkünste. In:

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Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.2001. – Cramers Deutung des Textes als »Kains-Drama« – »Kain und Abel sind die Söhne eines deutschen Adam, der als Lagerarzt Hitlers die Erstheit deutscher Existenz verwirkte« – wirkt allerdings wenig erhellend und geht an Lehrs Charakterisierung des brüderlichen Verhältnisses völlig vorbei. Lehr: Frühling, S. 126. Ebd., S. 108. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 114. Dieses aus der Literaturgeschichte bekannte Spiel mit der Sakralisierung der Protagonisten – man denke an Werthers Selbstmord – treibt Lehr so weit, dass der Wein, den Christian und Gucia zuletzt trinken, auch noch ›Tränen Christi‹ heißt (vgl. ebd., S. 103, 105). Der Autor selbst spricht davon, dass sich »Passionsgeschichten als Subtexte« durch fast alle seine Werke ziehen (Jung: Passionen, S. 37). Jung: Passionen, S. 39.

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Die Verknüpfung der Nahtoderfahrung mit dem Trauma der deutschen Vergangenheit und der Vereinigung von Tätersohn und Opfertochter im Freitod ist von den meisten Rezensenten positiv aufgenommen worden.600 Ijoma Mangold etwa hält Lehrs Buch für »formal so kühn, psychologisch so diskret und sprachlich so gewaltig, dass es überhaupt nicht in ein Verhältnis zu setzen ist mit allem, was es sonst an deutscher Vergangenheitsbewältigungsliteratur gibt«.601 Gerade an einem solchen Genre der ›Vergangenheitsbewältigungsliteratur‹ allerdings ist andernorts auch Anstoß genommen worden: So stellt Gerhard Schulz die Opferperspektive des nachgeborenen Protagonisten wie des nachgeborenen Autors als »zeitgeschichtliche Konfektion« infrage, da die »nachträgliche Sympathie mit den Geschlagenen einer vergangenen Zeit […] so berechtigt wie bedauerlicherweise leicht zu haben« sei; Schulzens Ansicht, »jeder sachliche Bericht über die Untaten einer entmenschten Ärzteschaft« bleibe dem »brillierende[n] Kunststück«602 Lehrs überlegen, spielt allerdings in problematischer Weise die historische Dokumentation gegen die spezifischen Möglichkeiten des ästhetischen Diskurses aus. Auch Literatur kann und darf ihren Beitrag zur memoria leisten – und einer These Dieter Heimböckels zufolge bietet sich die schon nominell für ›Neues‹ einstehende Novellenform dafür sogar besonders an, da sie »das Erinnerte nicht als etwas Bekanntes, sondern als Neues und mithin Fremdes« vorführen und damit an »das Unerhörte selbst unerhört«603 erinnern könne. Wie nicht anders zu erwarten, geht eine Reihe von Rezensenten auch mit dem traditionellen Wortschatz der Novellentheorie an den Text heran und findet etwa die »unerhörte Begebenheit« oder den »Wendepunkt«604; insgesamt jedoch tritt hier der bei Schriftstellern der Gegenwart seltene Fall ein, dass es mehr noch als die Kritiker der Autor selbst ist, der den eigenen Text unter Bezugnahme auf hergebrachte Kriterien und Strukturmerkmale hin gedeutet hat. Auf sein naturwissenschaftliches Studium verweisend, unterstellt sich Lehr gern eine »fragmentarische literarische Bildung« und eine »Unkenntnis des poetologischen Diskurses«.605 Das sind weitgehend ironische Schutzbehauptungen, die durch Lehrs ebenso scharfsinnige wie kenntnisreiche 600 Die einzige rundweg negative Rezension disqualifiziert sich selbst durch ein pseudo-geistreiches

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Spiel mit der Lehrschen Diktion und ignorante Ausfälle gegen den sprachexperimentellen Ansatz; dass dabei von den Brüdern »Christian Rauch und Robert Rauch« gesprochen wird, obwohl im Text eindeutig gesagt wird, dass der Name Rauch nicht der Geburtsname Christians ist, sondern der seiner Ehefrau (so dass Robert ihn keinesfalls getragen haben kann), entlarvt den Rezensenten zudem als ungenauen Leser. Vgl. Hajo Steinert: Ich kann hier sehr wenig. Sehen. In: Die Welt, 29.12.2001. Ijoma Mangold: Schuld und Erlösung. Thomas Lehr wagt mit der Novelle Frühling den Weg vom Abgrund in das Paradies. In: Berliner Zeitung, 26./27.5.2001. Schulz: Countdown bis zum Zitatende. Heimböckel: Das Unerhörte der Erinnerung des Unerhörten, S. 204. Vgl. z.B. Helmut Böttiger: Göttliche Komödie in 39 Sekunden. Unerhörte Erzählform, unerhörte Sprache: Thomas Lehrs Novelle Frühling. In: Die Zeit, 21.6.2001; Werner Jung: Nur noch 39 Sekunden. In: die tageszeitung, Berlin, 20.3.2001; Volker Hage: Blutiger Abgang. In: Der Spiegel 19/2001, S. 254-257. Thomas Lehr: Spaziergang im Schneckenhaus. Eine poetologische Spirale. In: Sprache im technischen Zeitalter 42 (2004), H. 171, S. 324-345, hier S. 324.

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Ausführungen als solche entlarvt werden. Trotzdem ist die Direktheit seiner Selbstkommentare zu literarischen Vorbildern, Arbeitsweise und Werken auffällig und möglicherweise auf Lehrs Selbstverständnis als schreibender Naturwissenschaftler zurückzuführen: Weil ich keine Germanistik studierte, sondern lieber Thomas Mann, Robert Musil oder eben Flaubert las, ist mir glücklicherweise völlig entgangen, dass in den Pro- und Oberseminaren jahrelang entweder der Tod des Autors oder das Ende des Romans verkündet wurde. Vielleicht hat mir das Studium der Mathematik, Physik und Biochemie dazu verholfen, komplexe Dinge zu durchschauen und sie in der Beschreibung transparent zu machen.606

Auf die strukturbildende Relevanz und die interpretatorische Anwendbarkeit des traditionellen novellentheoretischen Grundwortschatzes vertraut der Biochemiker Lehr dabei stärker als die meisten seiner geisteswissenschaftlich ausgebildeten Kollegen. In Bezug auf seine Novelle Frühling hat er sowohl die verschiedenen Impulse benannt, die zur Entstehung des Textes führten, als auch die typisch ›novellistischen‹ Merkmale seines ersten Gattungsbeitrags – beides ohne die geringsten Bedenken, eine so konkrete Selbstinterpretation könne reduktiv erscheinen.607 Für Lehr ist »das Zustandekommen eines Buches an die Synthese von Form und Inhalt gekoppelt«; so konnte die bereits seit zwei Jahrzehnten gehegte »Idee, eine Novelle zu schreiben« erst akut werden, nachdem der Autor einen Stoff gefunden hatte, »der sich für die novellistische Form eignete«. Die Ausarbeitung des Textes erfolgte dann »innerhalb eines guten Jahres«.608 Als Initialzündung seiner Novelle sieht Lehr die Verbindung zweier Vorstellungskomplexe: Es sind zwei Ideen zusammengekommen: einmal die formale, eine Geschichte im Kopf eines Sterbenden spielen zu lassen, die ich schon seit längerem habe, die mir aber zu beliebig war; zum anderen dann eine Auseinandersetzung mit Dachau. Ich wollte schon seit längerem etwas über Dachau machen. Aus verschiedenen Gründen. Plötzlich kommt es zusammen – das ist vielleicht das epiphanische Moment in der künstlerischen Produktion.609

Hinzu treten »der von Dante inspirierte Todesfrühling«610, dessen konkrete Ausgestaltung als Weg durch eine südländische Topographie zugleich aus eigener Erfahrung ergänzt wird – sie verdanke sich »der wirklich hirnverbrennenden Idee, einen Mittagsspaziergang durch das über 40 Grad heiße Sevilla des Mai 1999 zu machen. 606 So zitiert in: Marko Martin: Der Erwählte. Mit Flaubert auf Du und Du: Thomas Lehr mangelt es

nicht an Selbstbewusstsein. In: Die Welt, 3.3.2001.

607 Neben den im Folgenden zitierten Interviewäußerungen hat Lehr auch für eine Sendung des Süd-

westfunks entsprechende Selbstdeutungen unter direktem Rekurs auf novellentheoretische Grundbegriffe gegeben. Vgl. Claudia Kramatschek: Thomas Lehr: Frühling. SWR 2/Forum Buch, Erstsendung: 30.6.2001, mit zahlreichen O-Tönen. 608 Jung: Passionen, S. 39. 609 Ebd., S. 41f. 610 Lehr: Spaziergang im Schneckenhaus, S. 338.

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Die Stadt war menschenleer, still und völlig irreal und verwandelte sich mit einem Mal in den Totenreich-Eingang meiner Novelle«.611 Zu Lehrs Auffassung vom Schreiben als einer »Kombination von Nachdenken, Tagträumen und praktischen Versuchsreihen«612 passt die präzise Art, in der er traditionelle, das Gattungsverständnis der Novelle prägende Denkfiguren in die Textkonstruktion miteinbezogen hat: Es gibt die unerhörte Begebenheit nach Goethes Definition. Man hat auch eine Rahmenhandlung wie in der »Urnovelle«, der Falkennovelle von Boccaccio. Dieser Rahmen ist die Suizidszene in Süditalien. Aber der Rahmen, den Kleist verworfen hat, ist gewissermaßen versteckt, er erschließt sich erst langsam während der Lektüre. So haben wir eine gerahmte Novelle, deren Rahmen ein Suizid ist, der wiederum sehr dem realen Kleistschen Doppelselbstmord ähnelt. Dann gibt es die Sprachform; der Novelle wurde oft eine objektivierende Sprachform zugeordnet, mit der man zum Beispiel eine Katastrophe sehr rasch, fast im Zeitungsstil schildern kann. Ich benutze dagegen die Zeitlupe und eine äußerst subjektive Sprache, die jedoch gleichzeitig wieder etwas Reportierendes an sich hat, gerade durch diesen gebrochenen Sprachzustand. Es gibt diese verborgenen Spielereien mit der Gattung der Novelle. Ich habe eigentlich versucht, sie in aller formalen Konsequenz und doch mit vielen bewußten Abweichungen wieder zu verwenden – in modernisierter Form.613

Die ›unerhörte Begebenheit‹ hat sich dem Autor zufolge in der Vergangenheit ereignet; es ist die Konfrontation des Vaters mit dem KZ-Überlebenden und das Dazukommen der beiden Jungen. Der Novellentext greift bei der Konstellierung dieser zentralen »Situation« explizit auf typische Begriffe zurück, die mit der novellistischen Erzähltradition verbunden sind: von einer »Begegnung« ist die Rede, davon, dass sich »etwas vollkommen Neues« ereignet habe, von einem Wissen, das die Kinder »wie ein Blitz« getroffen habe614; später wird die Begebenheit sogar im Meldungsund Telegrammstil mit genauer Datierung zusammengefasst, um ihre Ereignishaftigkeit und Authentizität noch einmal zu betonen.615 Etwas Neues, wie es die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ nahelegt, sieht Lehr zudem in der Ausgangssituation der Nahtoderfahrung und der dafür gefundenen speziellen Sprache; und schließlich ordnet sich der komplexe Text auch durch seine relative Kürze in die Novellentradition ein: »Man sollte ihn an einem Stück oder höchstens in drei Portionen entsprechend den Hauptkapiteln lesen«, lautet die Lektüreempfehlung des Autors.616 »Einerseits modern« und »andererseits so traditionsverbunden«617 erscheint Lehr in jedem seiner Texte – was darunter aber konkret zu verstehen ist, macht die Novelle Frühling besonders anschaulich, indem sie die »dra611 612 613 614 615 616 617

Ebd., S. 335. Ebd., S. 337. Jung: Passionen, S. 39. Lehr: Frühling, S. 39, 40. Vgl. ebd., S. 122. Jung: Passionen, S. 40. Ebd., S. 37.

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maturgische Strenge«618 älterer Gattungskonzeptionen bewusst kombiniert mit einer neuartig-experimentellen Sprache und damit ein beeindruckendes Zeugnis ablegt für das Überlebenspotential eines oft schon totgesagten Genres.

3. Künstlernovellen, revisionistisch Nachdem Martin Walsers Ein fliehendes Pferd als erster einer ganzen Reihe von Texten am Ende der siebziger Jahre bewiesen hatte, dass die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ eine aktuelle Dimension erhalten könne, dauerte es nur wenige Jahre, bis auch eine der einst am stärksten profilierten Untergattungen neue Aufmerksamkeit erfuhr: die historische Künstlernovelle. Mit dem Ausgang der 1950er Jahre, in denen sie im Rahmen bildungsbürgerlicher oder sozialistischer Gedächtniskultur noch mit mäßigem Erfolg gepflegt worden war, schien diese Form einen Endpunkt erreicht zu haben. Fiktionalbiographische Prosa wurde zwar weiterhin geschreiben und in ihren theoretischen und ästhetischen Voraussetzungen angepasst an die jeweilige literarische Situation619, doch das geschah in der Regel im Romangenre oder selbst dort, wo es formale Anknüpfungspunkte an die novellistische Tradition gegeben hätte – wie bei Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends oder Das Treffen in Telgte von Günter Grass – unter Verzicht auf eine entsprechende Gattungsbezeichnung.

3.1. Gert Hofmann (1931-1999) Gespräch über Balzacs Pferd (1981) Es ist dem Autor Gert Hofmann zu danken, dass seit 1981 mit dem Band Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen ein erster erfolgreicher Versuch vorliegt, die explizite Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ wieder in Verbindung zu bringen mit ästhetisch anspruchsvoller, fiktionalbiographischer Kurzprosa. Obwohl Hofmann in der Irritation von Lesererwartungen nicht so weit geht wie der experimentierfreudigere Helmut Heißenbüttel in seinem wenig früher erschienenen Band Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte, emanzipiert auch er die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ vom traditionellen Typus historischen Erzählens; Hofmanns fiktionalbiographische Novellen können in ihrem antipathetischen, ironischen Grundduktus als »Ausdruck von veränderten Auffassungen von Geschichte, Erinnerung, Gedächtnis, Identität und biographischer Erkenntnis gedeutet«620, und damit, den Kriterien Ansgar Nünnings folgend, einem neueren und durchaus ›zeitgemäßen‹ Typus der revisionistischen fiktionalen Dichterbiographie zugerechnet werden. 618 Ebd., S. 40. 619 Vgl. Gruettner: Die Rezeption historischer Dichterfiguren. 620 Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion, S. 27.

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Als promovierter Literaturwissenschaftler – seine anglistische Dissertation von 1957 widmet sich dem Thema Interpretationsprobleme bei Henry James621, über mehrere Jahre hinweg hat er als Germanistik-Dozent an in- und ausländischen Universitäten gelehrt – gehört Gert Hofmann darüber hinaus ähnlich wie Martin Walser oder Uwe Timm zu denjenigen Autoren, die einen der meistdiskutierten Gattungsbegriffe keinesfalls unreflektiert aufgegriffen haben dürften. Der Terminus ›Novelle‹ ist in Hofmanns Werk auffallend präsent: So trägt schon sein erster belletristischer Prosatext Die Denunziation – eine komplex konstruierte, mit wiederholten Spiegelungen arbeitende und dabei doch äußerst verknappte Geschichte über eine 1944 erfolgte antisemitische Denunziation, fortwirkende deutsche Mentalitäten, zwei ungleiche Zwillingsbrüder und den Selbstmord ihrer Mutter622 – den entsprechenden paratextuellen Zusatz. Allerdings handelt es sich um ein spätes Erzähldebüt: Hofmann ist bereits 47 Jahre alt, als er sich der Prosa zuwendet – seine langjährige Tätigkeit vor allem als Hörspielautor hat ihm zwar ein gutes Auskommen und einige Preise eingebracht, aber nicht verhindert, dass er erst mit dem Hervortreten als Novellen- und Romanautor literarisch ernst genommen, ja mit einem Mal als »Deutschlands ältester Nachwuchsautor«623 gehandelt wurde. Insofern mag es bedenkenswert sein, ob die plötzliche und schlagartige Renaissance des Novellenbegriffs nicht sogar eine Rolle dabei gespielt hat, dass Hofmann, der sich mehrfach zu einem formbewussten, an dramatischer Spannung, an »Ausnahmefälle[n]« und »Grenzsituationen«624 ausgerichteten Schreiben bekannt hat, gerade um 1979 herum den Weg zur Prosaproduktion findet. Dass ›Novellen‹ zu verfassen mit einem Mal wieder möglich erschien, war zumindest eine Situation, die Hofmann sofort aufgegriffen hat; interessanterweise sind seine Novellenprojekte mehrfach aus thematisch verwandten Hörspielen hervorgegangen625 – ein medienästhetischer Umweg, der mit der traditionellen Orientierung der Novelle am Modell des mündlichen Erzählens korrespondiert, gewissermaßen über die sekundäre Oralität des Hörfunks noch einmal zurückführt in die schriftliche Vermittlung und 621 Vgl. Hans-Georg Schede: Gert Hofmann. Werkmonographie. Würzburg 1999 (= Epistemata, Reihe

Literaturwissenschaft, 289), S. 19f.

622 Die hohe literarische Qualität dieses Textes wie sein für die Entstehungszeit innovativer Umgang

mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unterstreicht nachdrücklich der Aufsatz von Klaus Briegleb: Negative Symbiose. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 12), S. 117-150, hier S. 134-137. Die bisher ausführlichste Interpretation liefert Voss: Die Novelle in der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 121-177; dabei deutet Voss die komplizierte Erzählerpespektive und Erzählsituation der Denunziation »als Darstellungsmedium einer Nervenkrise« (S. 140). 623 Thomas Anz: Tolstoi in Amerika (Tolstois Kopf). In: Hans Christian Kosler (Hg.): Schauplatz Menschenkopf. Der Erzähler Gert Hofmann. München, Wien 1997, S. 185-188, hier S. 185. 624 Gert Hofmann: »Aus den Fenstern noch einmal das Abendland begrüßen«. Gespräch mit Hans Christian Kosler. In: Kosler (Hg.): Schauplatz Menschenkopf, S. 38-47, hier S. 45. 625 Der Novelle Gespräch über Balzacs Pferd ging das inhaltlich weitgehend identische Hörspiel Balzacs Pferd (ORF 1978) voraus, das Lenz-Thema war 1978 beim Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel produziert worden; umgekehrt verlief der Schaffensprozess bei den Walser- und CasanovaNovellen, die im Nachhinein als Hörspiele inszeniert wurden, vgl. Schede: Gert Hofmann, S. 400.

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damit auf einer zweiten Stufe wiederholt, was die Novellenliteratur früherer Jahrhunderte für die primäre Oralität geleistet hat. In jedem Fall trug Hofmann auf seine Weise dazu bei, traditionalistische Novellenauffassungen zu revidieren, was sich nicht zuletzt anhand von Kritiken seiner Gattungsbeiträge nachweisen lässt. So ist in einer Rezension seines Erzähldebüts von 1979 noch zu lesen, »die etwas altmodisch, auch prätentiös anmutende Charakterisierung des Textes als Novelle« wecke »Unbehagen« an der »formale[n] Meisterschaft«626; zwei Jahre später, als Hofmann seine Künstlernovellen vorlegt, scheint dann auch das Feuilleton bereit, sich einem anders akzentuierten Verständnis des Novellenbegriffs zu öffnen, wie etwa die gattungshistorische Eingangssreflexion der folgenden Kritik belegt: Die deutsche Nachkriegsliteratur hat mit der Novellenform wenig anfangen können; denn so etwas wie Einbruch des Schicksals oder blinder Gewalten, die Zerstörung von Plänen und Absichten, das Eintreten außergewöhnlicher Ereignisse war die Regel, gewohnte Gewöhnlichkeit die Ausnahme geworden. Wie sollten Novellen geschrieben und gelesen werden, wenn nicht nur Ordnung in der Welt, auch Einverständnis über Sinn und Form literarischer Erzeugnisse abhanden kamen? Im Roman hingegen hatten von jeher Gewißund Ungewißheiten, Formenstrenge und Unförmigkeit Platz. Es könnte dennoch eine Chance für die Novelle geben, nicht für die klassische mit ihrer Bindung an die Realität, sondern eher für eine nach dem romantischen Programm der Wirklichkeitszerstörung. Gert Hofmanns Beiträge wären dann Wegweiser zu einer »modernen« Novelle.627

Damit ist die Position Hofmanns zwischen einer ›romantischen‹ Tradition und einer renovierenden Intention gekennzeichnet. Dass der Novellenband Gespräch über Balzacs Pferd Hans Werner Richter gewidmet ist, betont eher die Distanz zu vergangenen bildungsbürgerlichen Schreibtraditionen und das Bekenntnis zu einer kritischen Position gegenüber der Vergangenheit, vielleicht auch eine Affinität zu jenem ›magischen Realismus‹, dem sich der Gründer der Gruppe 47 zeitlebens verbunden fühlte628; dass Hofmann jedoch die traditionsreiche Gattungsbezeichnung aufgreift und über die Wahl seiner Sujets zugleich rückverweist auf die positiven Möglichkeiten der historischen Künstlernovelle, markiert den produktiven Rückbezug auf die Leistungen großer Vorgänger. Die intertextuelle Bezugnahme als Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart tritt in den ersten beiden Novellen des Bandes besonders deutlich hervor. Indem er sich dem Sturm und Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz und dem Memoirenschreiber Giacomo Casanova zuwendet, rekurriert Hofmann nicht nur auf deren Leben und Werk, sondern auch auf zwei weitere Schriftstellerkollegen – Georg Büchner und Arthur Schnitzler, die ihm in der novellistischen Bearbeitung des jeweiligen Sujets vorangegangen sind. Büchner schildert in seinem Lenz-Fragment bekanntlich den gut dokumentierten Aufenthalt des Dichters bei Pfarrer Ober626 Albert von Schirnding: Einer langen Nacht Reise in den jüngsten Tag (Die Denunziation). In:

Kosler (Hg.): Schauplatz Menschenkopf, S. 139-141, hier S. 139.

627 Karlheinz Dederke: Leiden und Freuden des Dichterberufs (Gespräch über Balzacs Pferd). [Zuerst

in: Tagesspiegel, 7.6.1981]. Jetzt in: Kosler (Hg.): Schauplatz Menschenkopf, S. 147-150, hier S. 147. 628 Vgl. dazu Arnold (Hg.): Die Gruppe 47, bes. S. 59-61.

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lin im Steintal; Hofmann bezieht diesen Prätext durch unverkennbare, nicht nur auf gemeinsame historische Quellen zurückzuführende Anspielungen in seine eigene Novelle Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga ein629 und hat sich offen dazu bekannt, dass »die Bewunderung für gewisse Gestalten, eben für die Gestalt von Lenz, aber besonders für Büchners Novelle«630, eine entscheidende Motivation für die eigene Arbeit gewesen sei. Arthur Schnitzler hat in seiner Novelle Casanovas Heimfahrt fiktive Elemente mit authentischem Material aus Casanovas Memoiren kombiniert; eine ganze Reihe der Züge und Bewertungen, die Schnitzler dem alternden Abenteurer zuschreibt, finden sich auch in Hofmanns Casanova und die Figurantin wieder, zumal beide sich auf die gleiche, wenig glanzvolle Zeit in Casanovas Leben beziehen, als dieser, verarmt und weitgehend missachtet, in seine Heimatstadt Venedig zurückzukehren wünscht. Die Lenz- und die Casanova-Novelle eröffnen den Band und stehen inhaltlich in Korrespondenz- und Kontrastrelationen: Gemeinsam haben sie die ungefähre Handlungszeit – die Lenz-Novelle wird durchaus gattungstypisch mit einer genauen Angabe von Zeit und Ort eröffnet, alle Geschehnisse sind auf den 23. Juli 1779 zusammengedrängt, die Casanova-Novelle könnte, da ihr Protagonist »längst über fünfzig«631 ist, etwa im gleichen Jahr spielen. Beide Texte sind konzentriert auf zwei Hauptfiguren: Die in den Augen der Welt gescheiterten Protagonisten werden mit den entscheidenden Faktoren ihrer primären Sozialisation konfrontiert. Lenz trifft auf seinen »riesigen«, »gußeiserne[n]«632 Vater, den strengen Geistlichen, Casanova auf seine längst tot geglaubte Mutter, die ihn in einer surreal akzentuierten Atmosphäre mit Vorwürfen überhäuft. Beide haben ihrem jeweiligen Elternteil wenig entgegenzusetzen, können vor allem auch als Künstler nicht vor ihnen bestehen. Lenzens Vater wirkt vernichtend, weil er (ein entscheidendes Kompositionsprinzip des Textes) niemals auf die endlosen Fragen und Erzählungen seines Sohnes eingeht; der junge Lenz führt einen »aussichtslosen Monolog«, das unerbittliche Schweigen des Vaters »wird zu einem Akt der Gewalt, der sich der Redende heillos ausgeliefert sieht«.633 Auch von allen anderen Menschen, die in der Novelle nur schemenhaft oder gewalttätig auftreten, ist Lenz isoliert, genauso wie von der Natur und von Gott, der in seiner Wahrnehmung mit dem Übervater zusammenfällt.634 Casanovas 629 Vgl. zu den offenkundigen Verbindungen zwischen Hofmanns Novelle und Büchners Lenz Thomas

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Labisch: Literatur als Gestaltung von Wirkungsgeschichte: Untersuchungen zu Aufbau und Struktur von Gert Hofmanns Novelle Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 20 (1987), S. 426-439, bes. S. 432-436. Gert Hofmann: Gespräch mit Ralph Schock vom 21. Mai 1992, zit. n. Schede: Gert Hofmann, S. 348. Ders.: Casanova und die Figurantin, S. 60. Ders.: Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga. In: Ders.: Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen. Salzburg, Wien 1981, S. 7-39, hier S. 10, 12. Winfried Freund: Das Schweigen Gottes, der Menschen und der Natur. Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga – Eine Hommage an den Erzähler Gert Hofmann. In: Die Horen 46 (2001), H. 3, S. 93-100, hier S. 94. Vgl. Hofmann: Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 35.

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Mutter versucht auf anderen Wegen, den Sohn in eine defensive Position zu zwingen, beruft sich mit »einer geradezu mörderischen Redseligkeit«635 auf ihr Alter, ihre Ängste, ihre Verlassenheit und darauf, dass »ihr einziger Sohn […] so einer wie er« sei, »der sich nicht um sie kümmere, sondern vielleicht in die Geschichte eingeht als das größte Ferkel Europas«.636 Das Schweigen des Vaters wirkt, zumindest in diesen biographischen Fallstudien, destruktiver als der Redefluss der Mutter. Lenz bleibt der verlorene Sohn, auf den der Titel der Novelle anspielt – der Textverlauf macht offenbar, dass ›verloren‹ sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft zu beziehen ist. Alle Anspielungen auf das christliche Gleichnis zeigen sich »in merkwürdiger Verzerrung«637: Die Unterwerfungsgesten des zurückkehrenden Sohnes werden nicht angenommen, die Feierlichkeit, die am Abend seiner Ankunft stattfindet, markiert den Umzug des wiederverheirateten Vaters in ein neues, prachtvolleres Haus und führt auf ihrem Höhepunkt nicht zur Reintegration, sondern zum endgültigen Hinauswurf des Sohnes. Der fromme Vater bleibt in scharfem Kontrast zum biblischen Ideal und erst recht zu den projektiven Wunschbildern väterlicher Güte, wie sie der junge Lenz etwa in seiner Komödie Der Hofmeister entwickelt hat. Der Sohn, der noch die Kosten seiner Überfahrt von Lübeck nach Riga schuldig ist, sieht sich am Ende einsam und verständnislos der Gewalt prügelnder Matrosen ausgesetzt.638 Casanova hat immerhin noch seine Reisekutsche zur Verfügung, so dass er seine Mutter verlassen kann und sich sogar weigert, sie ein Stück mitzunehmen; vor allem aber steht ihm, trotz der mütterlicherseits kalkuliert geschürten Angst vor Alter und Tod, der Weg in die künstlerische Produktion noch offen. Die surreale Begegnung mit der Mutter wirkt in Grenzen sogar stimulierend, während für Lenz, dessen schizophrene Symptome ebenso knapp wie eindrucksvoll gestaltet werden, diese Form von Problembearbeitung kaum mehr möglich ist. Die gegenüber dem historisch-biographischen Vorbild »gesteigerte Irrealisierung«639 des Protagonisten macht die Casanova-Novelle vielleicht noch reizvoller als die Lenz-Novelle; auch erzähltechnisch ist sie komplexer gestaltet. Hofmann beginnt mit einem fingierten Quellenverweis: »In einem kürzlich ans Licht gekommenen Brief an den Portugiesischen Gesandten Da Silva schreibt der Fürst von Ligne (1735-1814) über seinen Freund Giacomo Casanova (1725 bis 1798) unter anderem, wie dieser an einem bestimmten Punkt seines Lebens eine bestimmte unheimliche Begegnung gehabt habe, die sein Leben gewiß geändert hätte, wenn sein Leben an diesem Punkt noch zu ändern gewesen wäre«.640 635 Peter Laemmle: Immer auf des Messers Schneide. Beobachtungen bei der Lektüre von Büchern des

Döblin-Preisträgers 1982 Gert Hofmann. In: Die Zeit, 2.4.1982. 636 Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 90. 637 Labisch: Literatur als Gestaltung von Wirkungsgeschichte, S. 427. 638 Ob die Matrosen ihn »totschlagen«, wie Michael Krüger meint, lässt der Text offen (Michael Krü-

ger: Rede, gehalten am Grab. In: Kosler [Hg.]: Schauplatz Menschenkopf, S. 29-32, hier S. 29). 639 Dederke: Leiden und Freuden des Dichterberufs, S. 149. 640 Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 41. Hervorhebung hier und in späteren Zitaten aus

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Dieser Erzähleinsatz hat ein starkes ironisches Potential, das in zwei Richtungen zu entfalten ist. Die erste zielt auf die historische Quellenlage: »Die einleitende Brieffiktion spielt mit der Möglichkeit eines authentischen Rückgangs hinter die Vorstellungen der Casanova-Literatur und die Selbstinszenierung zu einem ›wahren‹ Casanova-Bild, während sie zugleich in der doppelten Brechung der Wiedergabe eines Briefes, der eine Erzählung Casanovas referiert, ein erstes nachdrückliches Signal der mehrfachen Vermitteltheit des Casanova-Bildes der Novelle darstellt«.641 Hofmanns Erzählhaltung schafft Distanz zu einer Hauptfigur, die zu den geschicktesten Selbstpropagandisten der europäischen Autobiographiegeschichte gehört und durch ihre vielhundertseitigen Memoiren dafür gesorgt hat, dass jede Äußerung über Casanova immer schon intertextuell vermittelt ist; anders als die meisten Autoren, die das Klischeebild des Genussmenschen, Lebenskünstlers und unwiderstehlichen Liebhabers auf ihre Weise perpetuiert haben642, widersetzt sich Hofmann einer entsprechenden Mythisierung – die mehrfache Vermittlung der fingierten Quelle lässt allerdings auch durchblicken, dass eine gegenläufige Darstellung nicht ohne neue Mythisierungen auskommen dürfte. Die zweite Zielrichtung der Ironie betrifft die literarische Gattung, die Hofmann fortschreibt: Der Erzähleinsatz postuliert, durch die Kursivierung zusätzlich hervorgehoben, eine »unheimliche Begegnung« als Mittelpunkt und erinnert damit an ein typisches novellistisches Strukturprinzip gerade von historischen Novellen, die aus einer merkwürdigen Begegnung zweier Figuren sehr häufig eine ›unerhörte Begebenheit‹ ableiten. Der »Punkt«, der darüber hinaus genannt wird, erinnert an den in der Novellentheorie seit Tieck so oft beschworenen ›Wendepunkt‹ und evoziert damit eine Vorstellung, die zugleich ironisch gebrochen wird: Die Begegnung – im folgenden Novellentext leitmotivisch und spannungssteigernd beschworen als »ganz außergewöhnlich«, »unerhört« (!) und mehrfach als »unheimlich«643 – hätte als ›Wendepunkt‹ fungieren können, wenn denn Casanovas Leben »an diesem Punkt noch zu ändern gewesen wäre«. Im Konjunktiv werden Kategorien der älteren Novellenliteratur zitiert – und dadurch »die für die Novelle gattungskonstitutive ›unerhörte Begebenheit‹ nachhaltig ironisiert und doch hinterrücks restituiert«.644 Dass der betont auktorial auftretende Erzähler eine ganze Reihe von teils fingierten, teils den Memoiren entnommenen Episoden berichtet, um immer wieder hinzuzusetzen, dass es sich dabei jeweils nicht um die annoncierte besondere Begegnung gehandelt habe, verstärkt den ironischen Grundton dieser Novelle, der ganz im Sinn der ›romantischen Ironie‹ aus beständiger Selbstreflexion des Textes erwächst.

Hofmanns Novellen im Original. 641 Dirk Göttsche: Casanova als ›Kunstwerk‹. Die Tradition der Abenteurergestalt in Gert Hofmanns

Novelle Casanova und die Figurantin. In: Sprachkunst 24 (1993), S. 289-305, hier S. 292.

642 Vgl. dazu Carina Lehnen: Das Lob des Verführers. Über die Mythisierung der Casanova-Figur in

der deutschsprachigen Literatur zwischen 1899 und 1933. Paderborn 1995. 643 Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 42, 44, 56 u.ö. 644 Göttsche: Casanova als ›Kunstwerk‹, S. 296.

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Die mehrfach angekündigte Begegnung erfolgt schließlich im »symbolischen Todesraum des Friedhofs«645, inmitten eines Leichenzugs, in den Casanova hineingeraten ist. Ihm unterläuft ein ähnlicher Fehler wie Mozarts Don Giovanni: Dieser spricht im ersten Akt die trauernde Elvira an, und erkennt zu spät die verlassene Geliebte. Auch Casanova nähert sich einer schwarz gekleideten, »kleinen adretten Person, die […] einen der von ihm so geschätzten umfangreichen, doch festen Hintern zu besitzen scheint«; zu seinem Verdruss jedoch ist es die tot geglaubte, halb vergessene Mutter: »Ach, Sie sind es, ruft Casanova mit veränderter Stimme, und, wie gebissen, zieht er den Arm, mit dem er sie schon um die Taille fassen wollte, zurück«.646 Die stoffliche Anregung für diese Konfrontation Casanovas mit der einzigen Frau, die für ihn eine Sonderstellung einnehmen muss, die er nicht als eine von vielen in eine Reihe einordnen kann, verdankt Hofmann dem 1976 entstandenen Casanova-Film Federico Fellinis647, ohne dass er sich allzu stark an dessen psychoanalytisch geprägter Darstellung des Mutter-Sohn-Verhältnisses orientiert hätte.648 Was die Begegnung mit der Mutter stark ins Relief treibt, sind eher diejenigen Züge der Casanova-Figur, die schon Arthur Schnitzler in seiner Novelle Casanovas Heimfahrt von 1918 fokussiert hat. Schnitzler entwirft Casanova als »an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer«, der »nicht mehr von der Abenteuerlust der Jugend, sondern von der Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt gejagt«649 wird. Als Schatten seiner Selbst zehrt er vom vergangenen Ruhm und wünscht sich nichts sehnlicher als die Heimkehr nach Venedig. Seine schwindende Attraktivität versucht er durch diverse »Verjüngungsstrategien«650 auszugleichen, wenn er sich etwa erzählerisch inszeniert als den unwiderstehlichen, tollkühnen Lebemann, der er längst nicht mehr ist. Die jungen Menschen, mit denen er im Lauf der Novelle in Kontakt tritt, kostet die Konfrontation mit Schnitzlers Casanova die Existenz: die getäuschte Marcolina, die Casanova ihrem Liebhaber abhandelt, ist am Ende psychisch zerstört, Lorenzi, das Ebenbild des jungen Casanova, wird von diesem im Duell getötet. Der alternde Abenteurer wird auf der ganzen Linie »zum Verderber der nachdrängenden Jugend«.651 Dass er das weiß, es nicht zuletzt als symbolischen Akt der Selbsttötung reflektieren kann und darunter leidet, lässt ihn zum Künstler werden. Nicht zufällig legt Schnitzler von Anfang an Wert darauf, Casanova als Schriftsteller und Philosophen zu zeigen – die späte Abfassung der Ebd., S. 294. Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 64. Vgl. Schede: Gert Hofmann, S. 350. Vgl. die Einschränkung des Fellini-Einflusses bei Göttsche: Casanova als ›Kunstwerk‹, S. 298-300. Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt. In: Ders.: Die Erzählenden Schriften. Bd. 2. Frankfurt/M. 1961, S. 231-323, hier S. 231. 650 Gesa Dahne: »Im Spiegel der Luft«. Trugbilder und Verjüngungsstrategien in Arthur Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt. In: Text + Kritik, Heft 138/139. Arthur Schnitzler. April 1998, S. 61-75, hier S. 62. 651 Thomas Koebner: Casanovas Wiederkehr im Werk von Hofmannsthal und Schnitzler. In: Akten des Internationalen Symposiums ›Arthur Schnitzler und seine Zeit‹. Hg. v. Giuseppe Farese. Bern, Frankfurt/M., New York 1985, S. 127-136, hier S. 134. 645 646 647 648 649

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Memoiren wird zum »Produktionsakt als Kompensation«652, der die zunehmend erfahrene Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Jugend und Alter im überzeitlich gedachten Raum der Literatur aufheben soll. Diese Perspektive nimmt auch Gert Hofmanns Novelle ein, gewinnt sie allerdings aus anderen Konfrontationen: Casanova wird nicht an der nachwachsenden Generation gespiegelt, sondern an der eigenen Mutter. Auch hier jedoch liegt der Effekt darin, »die Kluft zwischen der Kunst und dem Leben«653 bewusst zu machen. Casanova, der sich emphatisch als ›Philosoph‹ und ›Dichter‹ bezeichnet, sieht zunehmend, dass seine Zeit als »lebendes Kunstwerk«654 vorbei ist, dass er seine als »poetisch« empfundene Existenz nicht mehr in der Realität, sondern nur noch auf dem Papier wird führen können. Die Memoiren schreibt er, »da er persönlich nun keine Illusionen mehr erzeugt«: »Unter anderem möchte er den Beweis erbringen, daß er gelebt hat«.655 Der Schreibimpuls setzt die Erfahrung von Vergänglichkeit und Todesnähe voraus; Casanova wiederholt sein Leben, indem er es aufschreibt, und tilgt zugleich die Spuren der eigenen Vergänglichkeit: »Indem er sein Leben stilisiert und dadurch poetisiert, versucht Casanova, den Tod fernzuhalten«.656 Doch die Memoiren, so suggeriert zumindest Hofmanns Novelle, klammern diese selbstreflexive Dimension aus; als Casanova einige Sätze über die merkwürdige Begegnung mit der Mutter verfasst, werden sie »ihrer Düsterkeit wegen […] gleich wieder«657 gestrichen. Hofmanns Novelle erzählt die Geschichte einer verfallenden Körperlichkeit, wo Casanovas Memoiren nur die vitale Körperlichkeit feiern und folgerichtig abbrechen, nachdem Casanova den Zenit seiner Laufbahn als Abenteurer und Liebhaber überschritten hat. Entsprechend ist Hofmanns Text von Verfallssymptomen und Todessymbolen durchzogen: Casanova hat Haare und Zähne verloren, ist kurzatmig und transpiriert derart maßlos, dass er sich Schwämme unter die Achseln klemmen und sie regelmäßig auspressen muss; der ontologische Status der Mutter wird bewusst offen gehalten: Der Text belässt die Möglichkeit, dass sie eine Art Wiedergängerin ist und sich deshalb ihrem Sohn so unvermittelt nähern kann. Sie hat Einblicke in sein bisheriges und sein derzeitiges Leben, die auf einer realistischen Ebene kaum zu erklären sind, und wirkt in ihrer Trauerkleidung und grotesk-schäbigen Erscheinung wie eine leibhaftige Todesbotin – ein Eindruck, der noch unterstützt wird, wenn sie etwa während des Gesprächs mit ihrem Sohn beständig an einer Art Totenhemd aus schwarzer Wolle strickt. Die leitmotivisch eingesetzte Todesthematik wird in den letzten Sätzen noch einmal gesteigert, als sich Casanova unter dem Krächzen typischer Todesvögel – »(Dohlen?)« – auf den Weg macht: »Es ist klar, schreibt er, daß es nur darum geht, mit einiger Kunst einen Abstieg erträglich zu machen, an dessen

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Lehnen: Das Lob des Verführers, S. 193. Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 78. Ebd. Ebd., S. 92. Schede: Gert Hofmann, S. 351. Hofmann: Casanova und die Figurantin, S. 92.

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Ende, völlig kunstlos, der Tod steht.«658 Kunst kann den Tod weder aufheben noch besiegen, aber sie kann den Gedanken an ihn erträglich machen, und in diesem Sinn geht der alternde Casanova daran, das Lebenskunstwerk zu verfassen, dessen tieferer Motivation Hofmanns Novelle nachzuspüren versucht. Durch die Todesthematik leitet die Casanova-Novelle über zur Titel-Novelle des Bandes: Das fingierte Gespräch über Balzacs Pferd findet am Todestag Honoré de Balzacs statt, dem 18. August 1850. Formal ist dieser Novelle besonders deutlich anzumerken, dass ihr ein thematisch und inhaltlich verwandtes Hörspiel zugrunde liegt: Mehr noch als in den anderen Texten des Bandes dominiert das Gespräch, werden zwei Positionen im Dialog entwickelt, auch wenn daneben eine Erzählerstimme vernehmbar wird, die sich des Öfteren in der ›wir‹-Form äußert und sich sogar mehrfach direkt an den Leser wendet.659 Die dialogische Konzentration auf zwei Protagonisten – man denke an das Kierkegaard-Motto von Walsers Ein fliehendes Pferd – ist dabei ebenso wie die suggerierte Mündlichkeit auch als novellentypisches Moment zu werten; wie virtuos Hofmann authentisches Material in fingierte Situationen einbettet (und damit eine traditionelle Technik der historischen Künstlernovelle fortsetzt), konnte Hans-Georg Schede durch einen Vergleich des Textes mit Hofmanns Hauptquelle, Léon Gozlans Balzac en Pantoufles, nachweisen.660 Balzac, von den Spuren schwerer Krankheit gezeichnet, hat den neu ernannten Pariser Abwasserinspektor Brissot in die Dichterloge des Théâtre Historique gebeten, um der Premiere seines neuesten Stücks beizuwohnen. Während Balzac die Vorbereitungen zur Aufführung kommentiert, weiht er Brissot in seine aktuellen Pläne ein: Ich beschließe also, sagt Balzac, du bringst die Kloaken auf die Bühne, und wenn es dich den Kopf kosten soll. Doch da fällt mir ein: ja, kennst du sie denn? […] Nein, du kennst sie nicht! Also mußt du die Kloaken studieren […]. Aber wer hilft dir dabei? […] Und ich denke: Brissot! Brissot wird dir helfen! Er hat die Kenntnis, du die Kunst.661

Seinem realistischen Literaturprogramm gemäß, setzt Balzac auf Recherche und Quellenstudium, um sein Schreibprojekt vorzubereiten. Die auf die Bühne gebrachte Kloake sei »etwas Neues und Nochniedagewesenes«662, wovon sich Balzac eine Sensation verspricht: Alles lebenswahr, doch Kunst. Die künstliche Dunkelheit völlig natürlich. Auch das künstliche Rauschen der Abwässer natürlich. Die in den Kloaken hausenden Ratten werden in monatelanger Arbeit von den Dekorateuren in Form von winzigen, aber lebenswahren Mechanismen zusammengestellt. Künstliche Felle natürlich, künstliche Augen, Zähne aus Metall, vielleicht Silber, nein, Gold, Gold! Das in der künstlichen Dunkelheit natürlich hell leuchten wird. Auf ein Zeichen von mir müssen die Zähne der Tiere dann 658 Ebd., S. 93. 659 Etwa mit der Formel »Ihr erinnert Euch«, vgl. Gert Hofmann: Gespräch über Balzacs Pferd. In:

Ders.: Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen. Salzburg, Wien 1981, S. 95-144, hier S. 124, 125, 136, 139. 660 Vgl. Schede: Gert Hofmann, S. 92-96. 661 Hofmann: Gespräch über Balzacs Pferd, S. 105f. 662 Ebd., S. 119.

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aufeinanderschlagen. Das berühmte Nagen, Brissot. Auf ein Zeichen von mir dann deutlich hörbar das Nagen der Tiere, künstlich, verstehen Sie. Die Gefühle, die das künstliche Nagen in der künstlichen Dunkelheit in dem Publikum erweckt, natürlich tief und echt und natürlich.663

Die Häufung der Worte ›künstlich‹ und ›natürlich‹ in dieser Passage verweist auf das zentrale Thema dieser Gesprächsnovelle: den Dualismus zwischen Kunst und Wirklichkeit, den auch das ›realistischste‹ Literaturkonzept nicht aufzuheben vermag. Balzac will Brissot als Informationsquelle nutzen; doch als sich Brissot im Lauf des Dialogs von seiner anfänglichen Rolle als weitgehend stummer Zuhörer emanzipiert und von den Kloaken berichtet, stellt sich rasch heraus, dass er in seinem Einflussbereich etwas zu bieten hat, vor dem Balzacs Bühnenpläne keinen Bestand haben: Brissot inszeniert ein »Wirklichkeitstheater«664, das von den besten Kreisen der Gesellschaft besucht wird. Diejenigen, die Balzac zu seinem Publikum zählen möchte, aber kaum je erreicht, drängen sich nachts in den Kloaken, um Zeuge zu sein, wie »die altgewordenen Pferde und die herrenlosen Hunde«665 abgedeckt, d.h. den Ratten zum Fraß vorgeworfen werden. Was Brissot nach Art eines Zirkusdirektors präsentiert, wird als »großartiges Schauspiel« und »ergreifende Tragödie«666 gerühmt, er selbst als »Genie« und »Künstlernatur«667 gefeiert. Wenn das sterbende Pferd unter der Last der gefräßigen Ratten zusammenbricht, erzeugt das blutige Geschehen Wirkungen, die hervorzurufen ein Künstler wie Balzac sich allenfalls erträumen kann: Der Graf de Gozlan ist immer ganz blaß vor Konzentration. Der Graf de Volney knirscht mit den Zähnen vor Konzentration. Dem Grafen de Berny läuft vor Konzentration immer der Speichel übers Kinn. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges. Dann wird der Graf de Gozlan, aber auch der Graf de Berny oder Guizot, der Minister, oder der Bischof von Nancy, die alle, wie wir wissen, Schwierigkeiten mit ihren Gefühlen haben und zum Teil schon seit Jahren nichts mehr gefühlt haben, da werden alle bleich. Der Schweiß tritt ihnen auf die Stirn, und sie rufen: »Schaut, wir fühlen!«668

Was die dekadente Oberschicht in den Kloaken zu sehen bekommt, nimmt sie wahr als symbolische Darstellung des eigenen Lebens; Brissot kündigt als Conferencier stets an, dass die Welt leer sei wie die Bühne, aber »nicht ganz leer«, sondern mitunter »gefüllt mit Vorgängen, in denen sie sich selbst darstellt«.669 Das blutige ›Schauspiel‹ ist auch eine Bühne des Lebens, auf der sich das Publikum wiedererkennt: Brissot zitiert eine »hochphilosophisch[e]« Auseinandersetzung zwischen drei Adligen darüber, ob das Pfeifen der Ratten »nichts Menschliches mehr« habe oder »sogar viel Menschliches«; einig ist man sich nur darin, dass der Begriff des ›Menschlichen‹ »gar

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Ebd., S. 119f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 137. Ebd., S. 133.

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nicht tief, gar nicht unterirdisch genug angesetzt werden« könne.670 Brissot, Herrscher in seinem Unterreich, enthüllt das ›unterirdische‹ Wesen des Menschlichen, zeigt die Bereitschaft seines Publikums, sich mit den Ratten zu identifizieren, aus »Bestialität« und »Finsternis«671 eine Steigerung des eigenen Selbstgefühls zu beziehen. Hofmanns Erzähldramaturgie ist zu komplex, als dass sie die Positionen Balzacs und Brissots als bloße Gegensätze im Sinne von ›positiv‹ und ›negativ‹ einander gegenüberstellen würde. Keineswegs wird Balzac idealisiert, im Gegenteil: Er wird als egozentrische, ruhmgierige, auf Anerkennung versessene Künstlernatur gezeichnet, die sich sehr bewusst und kalkuliert zum Genie stilisiert und pausenlos versucht, das Lese- und Theaterpublikum, das öffentliche Interesse und die Kritik zu manipulieren. Umgekehrt adaptiert Brissot für sein »Wirklichkeitstheater« sowohl die Attitüde des Künstlers wie des Regisseurs, des Conferenciers wie des Intendanten. Trotzdem wird an einer Stelle des Dialogs ganz klar, wo die Trennlinie zwischen Balzac und Brissot verläuft, nachdem nämlich Balzac die »Bestialität« und »Finsternis« des Wirklichkeitstheaters konstatiert hat: Und der, von dem wir gleich sagen werden, er sei einmal Balzac gewesen, fragt: Und wie soll man in dieser Finsternis leben? Soll man denn, fragt Brissot und grinst.672

An dieser Stelle nimmt die »tückische Parabel über Kunst und Wirklichkeit«673 durchaus Partei. Sicher transportieren Hofmanns Künstlernovellen »eine gewisse Reserve gegen die Fiktion von der Macht der schönen Kunst«674, schon weil sie die Künstler im Augenblick des Scheiterns zeigen. Doch bei aller Fragwürdigkeit der Kunst, bei allen Zweifeln an ihrer Wirksamkeit – sie hat eine lebensbejahende, eine kulturstiftende und damit letztlich sinngebende Funktion, die sie trotz mancher Analogie abhebt von Brissots nihilistischem Spektakel. Wenn Balzac der Aufforderung seines Arztes »Machen Sie Atemübungen, Balzac!« entgegensetzt: »Mach Phantasieübungen, Balzac, Phantasieübungen!«675, wird die lebensnotwendige Funktion von Phantasie, Kreativität und Kunst in ein eindringliches Bild gefasst, das der scheinbaren Überlegenheit des Brissotschen Wirklichkeitstheaters Paroli bietet. Balzac mag in der Novelle scheitern; sein neues Stück wird keinen Erfolg haben und er wird sterben. Doch sein Bekenntnis zur Phantasie entlarvt das Publikum Brissots als inhumane »Gesellschaft, die verlernt hat, das Triebhafte, Kreatürliche in Erzählungen zu verwandeln und aufzuheben«, stattdessen nur noch »fasziniert auf den unverstellten Ebd., S. 139. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Jens Jessen: Wider den Zeitgeist. Gert Hofmanns Vermächtnis. In: Kosler (Hg.): Schauplatz Menschenkopf, S. 53-61, hier S. 59. 674 Hermann Schlösser: Literaturgeschichte und Theorie der Literatur. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 12) , S. 385-403, hier S. 400. 675 Hofmann: Gespräch über Balzacs Pferd, S. 141. 670 671 672 673

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Ausdruck ihrer primitiven Instinkte«676 zu starren vermag. Bei aller auch medienkritisch zu deutenden Skepsis, die sich in der Novelle dokumentiert – für Jens Jessen ist Brissots Wirklichkeitstheater »dem Voyeurismus des Fernsehzuschauers verwandt, der auch nach der harten Wirklichkeitsdroge verlangt (und sie bekommt)«677 – ist sie doch zugleich ein verhaltenes Bekenntnis zur Kunst und ihren Möglichkeiten. Die eigentliche Referenz des Titels ist nicht eindeutig zu fixieren; Schede deutet den Hut der Schauspielerin, den Balzac selbst in einem Pariser Modegeschäft ausgesucht und »aus der Wirklichkeit hereingeholt«678 hat, als »das denkbar glücklichste Symbol, um Balzacs Realismus von dem Brissots abzusetzen und gleichzeitig zu ironisieren«: »Balzacs Pferd ist Balzacs Hut. In den Augen des Publikums allerdings ist das ein reichlich alter Hut«.679 Doch es mag genauso überzeugend sein, ›Balzacs Pferd‹ als allgemeinen ideellen Anspruch zu begreifen, als eine nicht konkretisierte Entgegensetzung zu ›Brissots Pferd‹, der leidenden Kreatur, die auf dem Wirklichkeitstheater zum Skelett abgenagt wird; vielleicht enthält die Formulierung auch einen Verweis auf Pegasus, das geflügelte Pferd der Dichter. In diesem Sinne wäre auch zu erklären, dass der Titel gerade dieses Textes zugleich den Gesamttitel des Novellenbandes bildet – wenn ›Balzacs Pferd‹ für die Kunst steht, sind alle vier Künstlernovellen als ›Gespräche über Balzacs Pferd‹ zu erfassen. Schließlich dürfte es auch kein Zufall sein, dass die von der Literaturkritik wie von der Literaturwissenschaft häufiger festgestellte Affinität von Hofmanns Prosasprache zum Personalstil Thomas Bernhards in wenigen Passagen so eindeutig nachzuweisen ist, wie gerade in einigen Äußerungen, die Hofmann seinem Balzac in den Mund legt680: Die Wiederholungen einzelner Wörter und Teilsätze, die Neigung zu Hypotaxie und indirekter Rede, die Kursivierung von Schlüsselbegriffen, das Räsonieren in Übertreibungen und Superlativen, die misanthropische Attitüde – das alles sind Stilmerkmale, die Hofmanns Balzac als nahen Verwandten der monomannarzisstischen Kunstmenschen ausweisen, die Thomas Bernhard so oft in den Mittelpunkt seiner Prosa- und Dramentexte gestellt hat.681

Schede: Gert Hofmann, S. 97. Jessen: Wider den Zeitgeist, S. 60. Hofmann: Gespräch über Balzacs Pferd, S. 128. Schede: Gert Hofmann, S. 95. Vgl. z.B. »Plötzlich, sagt Balzac, nachdem man jahrelang, nachdem man jahrzehntelang unter den unterschiedlichsten Bedingungen mit der größten Selbstverständlichkeit frei geatmet hat (und zwar ein und aus!), macht einem das Atmen die größten Schwierigkeiten (und zwar ein und aus!)« (S. 113) oder »Man glaubt, sagt Balzac, man kennt sein Publikum, weil man die Menschen kennt, aber dann hat man es auf einmal mit dem entgegengesetzten Publikum zu tun, das auf das Theaterstück, das man schreibt, auf die entgegengesetzte Weise reagiert« (S. 132). Beide Beispiele weisen typische Eigenheiten von Thomas Bernhards Stil auf, wie die Wiederholung einzelner Satzteile, die partielle Kursivierung, den antithetischen Aufbau und die etwas umständliche Syntax. 681 Vgl. zu Bernhards Personalstil einführend Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995 (= Sammlung Metzler, 291), S. 184-192, zum Einfluss Bernhards auf Hofmanns frühe Prosa Schede: Gert Hofmann, S. 208-212 u.ö. 676 677 678 679 680

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Die letzte Künstlernovelle des Bandes widmet sich Robert Walser. Ihr Entstehungsanlass und ihre Erstpublikation weisen gattungstypische Umstände auf; die Novelle wurde unter dem Titel Der Austritt. Dem Gedächtnis Robert Walsers im Jahr 1978 in der Neuen Rundschau veröffentlicht.682 Ähnlich wie Mörikes Mozart-Novelle ist dieser Text also als eine Art Hommage zum 100. Geburtstag des Protagonisten zu verstehen und hat – wie der Untertitel der Rundschau-Veröffentlichung besonders herausstreicht – Erinnerungs- und Gedächtnisfunktion, zumal Robert Walser damals als moderner Klassiker erst noch zu entdecken war; die Erstveröffentlichung im traditionsreichen Periodikum unterstreicht die Novellentradition, in die sich Hofmann stellt. Parallelen zu denjenigen Novellen, die ihr im Band Gespräch über Balzacs Pferd vorangehen, liegen in der Zusammendrängung der Ereignisse auf einen Tag und der Konzentration auf zwei Figuren: Geschildert wird die Begegnung zwischen Robert Walser und Oskar Gissinger, einem Kaufmann und Vorstand des Literarischen Vereins in Bern, am 5. Oktober 1928. Das mehrstündige Gespräch verläuft für beide Teile unbefriedigend: Am Ende spuckt Robert Walser seinem Gastgeber in den Wein, sagt die für den nächsten Tag geplante Lesung ab und verkündet seinen Austritt aus dem Literarischen Verein. Hofmann hat zum Teil authentisches biographisches Material verwendet, sich aber auch in diesem Fall Freiheiten genommen – die auffälligste besteht darin, dass er Walser unmittelbar nach dessen Austritt aus dem Verein sterben lässt, während der historische Autor noch viele Jahre weitergelebt hat.683 Waren es in den Novellen über Lenz, Casanova und Balzac eher die existentiellen und philosophischen Aspekte des Künstlertums, so konzentriert sich die WalserNovelle auf den Konflikt zwischen Autor und Literaturbetrieb bzw. zwischen Künstler und Bürger. Auch hierin knüpft Hofmann an die Tradition der romantischen Künstlernovelle an, um sie zugleich zu erweitern: Sein Kaufmann Gissinger ist einerseits ein später Nachfahre der Philister, wie sie schon in den Texten E.T.A. Hoffmanns oder Joseph von Eichendorffs figurieren; andererseits ist er als Charakter schon deshalb differenzierter gestaltet, weil seine bürgerliche Existenz keineswegs mehr auf sicheren Füßen steht, sondern vom bevorstehenden Konkurs bedroht wird. Walsers unbürgerliche Attitüden provozieren ihn umso stärker, je mehr er die Befürchtung hegen muss, in nächster Zukunft selbst nicht mehr die Anforderungen seines Standes erfüllen zu können: Nicht weil er sich dir aufgedrängt und dir die Nacht zerstört hat, sondern weil er für die Lebenslage, in der er ist, so gleichmütig ist, ärgerst du dich, schreibt Gissinger. Viel zu gleichmütig! Sieh ihn an, obwohl er am Ende ist, ist er viel unbeschwerter als du, der du ja gleichfalls … Sieh ihn an, wie er mit abgelaufenen Schuhen, aber unangreifbar dasitzt! Und, ist das nicht lächerlich, in ausgefransten Hosen von der Abrundung des Lebenswerks spricht! Er sieht

682 Bibliographische Angaben s. Schede: Gert Hofmann, S. 403. 683 Zu Hofmanns Quellen s. die ausführlichen Recherchen von Schede: Gert Hofmann, S. 109, 115f.

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seine Situation ja gar nicht, während du immerfort, denke ich …Und denke an eine Wechselverpflichtung […] Und denke: Scheuch ihn auf! Und denke: Verstör ihn!684

Walser jedoch weist die bürgerlich-kaufmännischen Zumutungen, die Gissinger an ihn richtet, rigoros zurück: Weder gedenkt er, einen Mitgliedsbeitrag zum Literarischen Verein zu zahlen, noch seine Honorarforderungen zu reduzieren. Obwohl keineswegs blind für seine Lage, lässt Walsers Selbstbild als künstlerische Existenz keine Kompromisse zu: »[…] jetzt hat ein Weltentfremdeter und Nichtinbetrachtkommender dem Ruf der Idealität gehorchend aus der Höhe seiner Wenigkeit herab in Ihren Wein gespuckt, ruft er«.685 Wie in den vorangegangenen Novellen des Bandes Gespräch über Balzacs Pferd gilt die Ironie des Erzählers beiden Seiten: dem Künstler kaum weniger als seinem jeweiligen Gegenpart. Idealisierungen des schöpferischen Moments, Überhöhungen der Künstlerexistenz, die Sentimentalisierung des Künstler-Bürger-Gegensatzes, wie sie in den trivialisierten Fortsetzungen der romantischen Erzähltradition, aber tendenziell auch schon in kanonisierten historischen Gattungsbeiträgen wie Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag zu finden sind, fehlen fast völlig. Obwohl Hofmann seine Protagonisten und deren jeweilige Lebensproblematik durchaus ernst nimmt, zeigt er doch Facetten der Künstlerexistenz, die den Rahmen der älteren fiktionalbiographischen Novelle wesentlich erweitern: So erscheinen die Dichter zum einen als egozentrische, von der »Verstörbarkeit ihres narzißtischen Selbsts«686 bestimmte und in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkte Charaktere, die eine Mitverantwortung daran tragen, dass die Gesprächssituationen, in die sie gestellt werden, keinen wirklichen Gedankenaustausch ermöglichen; zum anderen stellt Hofmann sie (wie etwa den maßlos transpirierenden Casanova oder den fast erstickenden Balzac) in einer unmittelbaren Körperlichkeit dar, die dem idealisierenden Zugriff der älteren Gattungstradition widerspricht und entschieden dazu beiträgt, dass Hofmann eine überzeugende Fortschreibung des Genres gelingen konnte.

3.2. Jochen Beyse (geb. 1949) Ähnlich wie bei Gert Hofmann führte das (literar-)historische Interesse auch bei Jochen Beyse zunächst zu einem geisteswissenschaftlichen Studium; Beyse studierte ab 1969 an der Universität Köln Geschichte und Kunstgeschichte, später Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie. Mit einer Arbeit über Siegfried Kracauer wurde er 1977 promoviert.687 Sein Debütroman Der Ozeanriese erschien 1981 684 Gert Hofmann: Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein. In: Ders.:

Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen. Salzburg, Wien 1981, S. 145-182, hier S. 164.

685 Ebd., S. 181. 686 Schede: Gert Hofmann, S. 353. 687 Vgl. Jochen Beyse: Film und Widerspiegelung. Interpretation und Kritik der Theorie Siegfried

Kracauers. Köln 1977.

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im Rowohlt-Verlag; die Novellengattung bereicherte er 1985 mit seiner zweiten Buchpublikation Der Aufklärungsmacher. Als »Aufklärungsmacher« bezeichnet wird der Verleger, Buchhändler und Schriftsteller Friedrich Nicolai (1733-1811), der zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Spätaufklärung gehört. Der Begriff ist pejorativ konnotiert; die Tendenz, mit der Beyse das Thema Aufklärung behandelt, zeigt schon das vorangestellte, im Novellentext später wiederholte Motto: »Der Aufklärung zum Endsieg verhelfen, sagte er«.688 Aufgegriffen wird damit vor allen die Kritik an der Aufklärung, wie sie schon von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geäußert wurde; wie in der Dialektik der Aufklärung (1947) erscheint diese geistesgeschichtliche Bewegung letztlich als Vorbereitung einer neuen Barbarei, da sie unter dem Primat der instrumentellen, kalkulierenden Vernunft jede Substanz und jeden moralischen Wert destruiert habe. Die Entwicklung zum europäischen Faschismus und zum nationalsozialistischen Terror wird damit als gleichsam automatenhafte Konsequenz aufklärerischen Verfügungsdenkens gedeutet. Die Aufklärungsforschung ist sich heute weitgehend einig, dass diese vor dem Ende des zweiten Weltkriegs konzipierten Thesen »nicht einfach auf die historische Aufklärung appliziert werden«689 dürfen. Beyse jedoch folgt dem »verengten Blickwinkel«690, aus dem Horkheimer und Adorno die Epoche betrachtet haben; der Titel seiner Novelle betont die Dominanz des ›Machbaren‹, das Motto rückt Aufklärung als historisches Phänomen in die unverkennbare Nähe totalitärnationalsozialistischer Endsiegträume. Mit diesem kritischen und skeptischen Blick an Friedrich Nicolai heranzugehen, steht wiederum in einer Tradition, die sich bis zu Schiller, Goethe, Fichte und den Frühromantikern zurückverfolgen lässt: Schon ihnen erschien der Berliner Verlagsbuchhändler als altmodisches Relikt einer vergangenen Zeit. Zum Träger dieser Perspektive macht Beyse Nicolais Sohn Moritz, der den Vater sechzehnjährig auf dessen Schweizer Reise begleitet hatte – einem Unternehmen, das Nicolai in seiner zwölfbändigen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 mit enzyklopädischem Anspruch dokumentiert hat. Moritz, dessen Kontakt zum Vater »seit Jahren unterbrochen«691 ist, will nach zwei Jahrzehnten eine Art von Gegendarstellung verfassen, ein eigenes Werk vorlegen, das seine damaligen Empfindungen rekonstruieren und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vater leisten soll. Da diese Auseinandersetzung aus der Perspektive der Zeit um 1800 geführt wird, nimmt es nicht Wunder, dass Friedrich Nicolai mit den Maßstäben der frühen und dem Sohn sehr gut bekannten Romantik gemessen wird; doch schon zwanzig Jahre zuvor gab es ja Gegenfiguren zum Aufklärungsverständnis Nicolais. Moritz erinnert sich, dass er die ganze Schweizer Reise hindurch in der sogenannten Werther-Tracht 688 Ders.: Der Aufklärungsmacher. Novelle. München 1985, S. 6 und S. 8. 689 Gerhard Sauder: Spätaufklärung. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt/M.

1996, S. 1766-1797, hier S. 1793. 690 Peter-André Alt: Aufklärung. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart, Weimar 2001, S. 6. 691 Beyse: Der Aufklärungsmacher, S. 17.

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mit gelber Weste und blauem Frack, zudem Die Leiden des jungen Werthers im Handgepäck mit sich führend, verbracht hat – sehr zum Ärger des Vaters, der ja eine berüchtigte Fortsetzung und Parodie von Goethes Jugendroman verfasst hatte. Als ironisches Detail ist hervorzuheben, dass es sich bei der gelben Weste, durch die Moritz seine Werther-Schwärmerei dokumentiert, um ein umgefärbtes, abgelegtes Kleidungsstück Friedrich Nicolais handelt.692 Die literarischen Figuren von Goethe und Laurence Sterne (aus dessen Empfindsamer Reise) verehrt Moritz als Gegenpole zu seinem Vater: »Yorick und Werther waren die Hauptdarsteller in Moritz’ Kopf, dort agierten sie und hielten abwechselnd ihre Monologe«.693 Zusätzlich wird Jakob Michael Reinhold Lenz über den gesamten Text hindurch als authentischer Antagonist zu Friedrich Nicolai aufgebaut. Das Bild Nicolais folgt weitgehend den Topoi der Aufklärungskritik. Die Zentralstellung von Vernunft und ›gesundem Menschenverstand‹ wird als »ungeheuerer Betrug an der Welt«694 gewertet, weil sie die entscheidenden Tiefendimensionen der Erkenntnis vermissen lasse und mit einem »tödliche[n] Mangel an Phantasie« einherginge: Die Phantasielosigkeit ist die brutalste Gewalt, die sich überhaupt denken läßt. Sie überzieht die Welt mit Deutungen, mit Erklärungen von Ursachenketten, mit Behauptungen, die keinen Raum lassen für Widerspruch und gegenteiliges Denken. Hängt man am Köder dieser Macht, beißt sich der Eingefangene bereitwillig am Haken fest, läßt er sich ohne Gegenwehr aus seinen lebendigen Zusammenhängen herausziehen, wird man selbst der Mächtige, also Phantasielose. Der Stumpfsinnigste, der Aufklärungsmacher, mein Vater, hat den Thron bestiegen.695

Nicolais »Aufklärungsmonolog«696 erscheint damit als defizitär und trocken, limitiert durch einen »Blick, dem Unvorhergesehenes entging697; der Aufklärung wird keine kritisch-emanzipatorische Kraft zugeschrieben, sondern im Gegenteil eine autoritätsstärkende. Demzufolge sind die väterlichen Reiseberichte »entsetzliche Bücher«698 und symptomatisch für »die obszöne Kraft, die hinter allem Systematischen steckt«.699 Das anthropologische Ideal des Vaters sei die menschliche »Denkmaschine«700, seine berühmte Sammlung mechanischer Spielzeuge insofern tatsächlich »ein philosophisches Modell«.701 Diese Sicht auf den Vater möchte Moritz in einer Novelle verdichten, anknüpfend an seine zwanzig Jahre alten, aber inzwischen verlorenen Reisenotizen: 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701

Vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 50. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 16. Ebd., S. 9. Ebd., S. 16. Ebd., S. 57. Ebd., S. 90. Ebd., S. 94.

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Für Cotta werden diese Notizen neu abgefaßt, Cotta erhält das Manuskript der nach Abschluß dieser Seiten anzufertigenden Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, eine auf wahren Begebenheiten fußende Geschichte, Novelle. Was der Aufklärungsmacher unter gleichem Titel in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung veröffentlicht hat, veröffentlichst du als Dichtung, als Wahrheit, in der Cottaschen. Cotta ist der passendste Verleger für deine Gedanken. Zwischen den Weimaranern bist du bestens aufgehoben.702

Dem selbstbewussten Ansinnen stehen aber tatsächliche Schreibhemmungen entgegen; es bleibt lediglich die Hoffnung, dass eines Tages »das richtige Wort für den einzig möglichen Anfang auftauchen«, die »einzig möglichen Sätze für die einzig mögliche Novelle vorhanden« sein werden.703 Was Moritz zu haben scheint, ist ein bildhaftes Ausgangsmoment, legt man die ihm noch unbekannten, aber seinem Erfinder Jochen Beyse vertrauten Kategorien Paul Heyses an, eine Art ›Silhouette‹, in deren erzählerische Konstruktion auch die Augenblicks- und Plötzlichkeitsmetaphorik hineinspielen. Während Vater und Sohn gemeinsam unterwegs gewesen sind, versagt einmal die Schreibfeder: Der ältere Nicolai nimmt in der Kutsche den Schreibfedermechanismus auseinander, als mit einem Mal ein Gewitter aufkommt, das den feinmechanischen Bemühungen des Aufklärers die elementare Naturgewalt entgegensetzt. Im sofort geschlossenen Wiener Wagen ist es dunkel, die Schreibfeder fällt zu Boden, Nicolai gerät außer sich angesichts der Gefahr, die Feder könne zertreten werden, am Ende noch von den wertherisierenden Stulpenstiefeln des Sohnes: Er richtete sich auf, brachte seinen Mund, dessen Atem stockweise ging, nahe an mein Gesicht, griff nach meiner Hand und flüsterte: Mehr Licht. Ich öffnete eine Luke […]. Mein Vater, sah ich im Widerschein zweier in rascher Folge aufzuckender Blitze, bot einen abstoßenden Anblick. Seine Perücke war verrutscht, das Kunsthaar in völliger Unordnung. […] Es geschah, was bis dahin zwischen uns undenkbar gewesen wäre, wir starrten uns feindschaftlich an. […] Ich spürte, daß dieser Augenblick die Wirklichkeit unserer Beziehung gesammelt hielt wie ein Bild, dessen Ausschnitt Motiv und Blickwinkel festschreibt. Dieses Bild, spürte ich, war vor meinen Blick getreten, weil meine Erfahrung es brauchte. […] Dieses eine Bild, betrachtet bei denkbar schlechter Beleuchtung, unter Umständen, welche keine Gelegenheit zu Muße und scharfsichtiger Konzentration boten, brachte plötzlich, im Widerschein zweier Blitze, die rasch wechselnden Motive meiner Beobachtungen in eine neue, selbstverständliche Ordnung. Alle Bilder meines Vaters, die ich später sah, erhielten ihre Einfärbung von diesem Original. Alle Kopien, die ich im Laufe der kommenden Jahre als solche entlarvte, waren Fälschungen dieses flüchtigen Augenblicks.704

Dieses an den Augenblick gebundene, vom Blitz erleuchtete, in seinem ohnmächtiggrotesken Protest gegen die widerspenstige Naturgewalt symptomatische Bild will Moritz Nicolai schriftstellerisch entfalten – doch was ihm zu schreiben gelingt, fällt gegen Ende des Textes mehr und mehr mit der vorliegenden Novelle zusammen. 702 Ebd., S. 110. 703 Ebd., S. 111f. 704 Ebd., S. 30-32.

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Den intendierten Text über den Vater schreibt Moritz selbst nicht, auch wenn er sich nachgerade dazu verpflichtet sieht. Stattdessen träumt er zunehmend davon, eine Novelle über den väterlichen Antipoden und eigenen Geistesverwandten Lenz zu verfassen.705 In einem intertextuellen Verwirrspiel wird Georg Büchners mehr als dreißig Jahre später entstandene Lenz-Novelle, von Moritz Nicolai vorwegnehmend imaginiert, zur Folie der letzten Seiten des Aufklärungsmachers – bis hin zum Schlusssatz »So lebte er hin…«, mit dem sowohl Büchners Lenz als auch Beyses moderne Künstlernovelle enden, letztere in einer virtuosen Durchkreuzung verschiedener historischer und gattungshistorischer Bezugsebenen. Damit wird auch zunehmend deutlich, wie bewusst Der Aufklärungsmacher als literar- und gattungshistorische Reflexionsprosa konzipiert ist. Hauptziel ist nicht die ›glaubhafte‹ Ausgestaltung der Erzählerposition, die auf die Zeit um 1800 fixiert ist. Wenn Moritz Nicolai beispielsweise einmal sagt: »Die Zerrissenheit der Moderne aushalten, schrieb ich als Satz mit Ausrufezeichen an die Chefredaktion der Zeitschrift Athenäum in einem bis zur jetzigen Stunde von Schlegel unbeantwortet gebliebenen Brief«706, dann wird hier der Erzählerstandpunkt um 1800 sowohl terminologisch als auch von der Aussage her dermaßen überstiegen, dass die Äußerung nicht mehr als ›realistische‹ aus der Feder Moritz Nicolais gelten kann. Aber darum geht es auch nicht: Hier wird ein ›postmodernes‹ Spiel mit der Literaturgeschichte inszeniert, in dessen Rahmen ein Erzähler eine Novelle zu schreiben ankündigt, deren Plan durch die vorliegende Novelle dokumentiert wird und die auf ihren letzten Seiten zudem noch eine der berühmtesten biographischen Novellen der deutschen Literatur zu antizipieren vorgibt. Verbunden werden diese Reflexionen mit literarästhetischen Stellungnahmen zu Aufklärung, Klassik und Romantik sowie biographischem Material z.B. zu Nicolai und Lenz. Mittelpunktfigur eines derart reflexionslastigen Textes wird zwangsläufig kein scharf profilierter Charakter, sondern eine Kunstschöpfung, die fast nur in ihrer Lektüre und in ihren behaupteten Schreibabsichten greifbar ist. Hubert Winkels hat diese Eigenart zu Recht hervorgehoben, wenn er sagt, dass »Moritz’ Wahrnehmung auf eine Art Rezeption literarischer Effekte eingeschränkt« bleibe und seine »Biographie« letztlich eine »Bibliographie«707 ergebe. In der konsequenten Nutzung intertextueller Bezugsmöglichkeiten geht Beyse damit sogar noch über die Künstlernovellen Gert Hofmanns hinaus; allerdings läuft er auch stärker Gefahr, literarhistorisches Material unverbunden in den Erzählfluss zu implementieren (etwa eine sperrig und spät in die Novelle montierte Kurzbiographie von Lenz).708 Von solchen Details abgesehen, ist Beyses Der Aufklärungsmacher jedoch ein bemerkenswertes Zeugnis für eine ›moderne‹ Künstlernovelle, die sehr genau um die historischen Wurzeln ihrer eigenen Gattung weiß und die literarhistorische Selbstreflexion in den Mittelpunkt anregender Zusammenhänge zu stellen vermag. 705 706 707 708

Vgl. ebd., S. 115. Ebd., S. 112. Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Literatur der achtziger Jahre. Köln 1988, S. 93. Vgl. Beyse: Der Aufklärungsmacher, S. 115f.

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3.3. Thomas Hürlimann (geb. 1950) und Henning Boëtius (geb. 1939) Seitdem Eduard Mörike seine Novelle Mozart auf der Reise nach Prag im Hinblick auf den hundertsten Geburtstag des Komponisten konzipiert hatte, gehörte die Veröffentlichung biographischer Künstlernovellen häufig zu den möglichen Ritualen des Erinnerns und Gedenkens. An diese Tradition knüpften, mit sehr unterschiedlichem Ergebnis, der Schweizer Autor Thomas Hürlimann und der im hessischen Langen geborene Henning Boëtius an, als sie in den neunziger Jahren zwei nationale Geistesgrößen in den Mittelpunkt eigener Texte stellten: Für Hürlimann war es der 100. Todestag Gottfried Kellers am 15. Juli 1990, der den Anlass für Dämmerschoppen. Novelle bot; Boëtius leistete mit Tod in Weimar. Eine Novelle seinen Beitrag zum Goethe-Jubiläum 1999 und schrieb damit aus Sicht mancher Kritiker »von allen GoetheBüchern der letzten Jahre das mit Abstand geistreichste, abgründigste und komischerhabenste«.709 Thomas Hürlimann Die ausdrückliche paratextuelle Bezeichnung als Novelle hat der 1950 geborene Thomas Hürlimann erstmals für Das Gartenhaus verwendet; ältere Texte, etwa aus seinem Debütband Die Tessinerin (mit dem der neu gegründete Zürcher Amman-Verlag 1981 sein Programm eröffnet hatte), nannte er noch ›Geschichten‹ oder ›Erzählungen‹.710 Dass Hürlimann zudem als erfolgreicher Dramatiker hervorgetreten ist, bestätigt die traditionelle Affinität zwischen Novellen- und Dramenform. Das Gartenhaus ist ein Text um Liebe und Tod, mehr noch um Alter, Verfall und die »Grenze […], hinter der das Niemandsland des Wahnsinns beginnt, riesig wie Asien«.711 Im Mittelpunkt steht ein pensionierter Oberst der Schweizer Armee, der zunehmend darauf fixiert ist, eine streunende Katze am Grab des früh verstorbenen Sohnes zu versorgen. Neben dem »streng tektonische[n] Aufbau«712 mit einem Höhepunkt im mittleren der sieben Kapitel ist es vor allem die leitmotivisch eingesetzte Tierfigur, die zu den auffälligen novellentypischen Merkmalen des Textes gehört – Hellmuth Karasek überschrieb seine lobende Rezension mit »Die Katze als Falke«713, Beatrice von Matt sah die Katze als »klassisches Novellensymbol«, das »mit leichter Pfote die verschiedensten Sinnräume des Werks«714 öffne. 709 Andreas Nentwich: Von Flensburg nach Passau im Zickzack. Henning Boëtius nimmt uns auf eine

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ziemlich verrückte Lesereise mit. In: ZeitLiteratur. Sonderbeilage Nr. 25, 57. Jahrgang, Juni 2002, S. 31f., hier S. 31. Vgl. Thomas Hürlimann: Die Tessinerin. Geschichten. Zürich 1981. Ders.: Das Gartenhaus. Novelle. Zürich 1989, S. 47. Hans Rüdiger Schwab/Pia Reinacher: Thomas Hürlimann. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG, S. 11. Hellmuth Karasek: Die Katze als Falke. In: Der Spiegel, 13.11.1989, S. 302-304. Beatrice von Matt: Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. 1989. In: Dies. (Hg.): Antworten. Die Literatur der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991, S. 265-268, hier S. 265f.

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Kurz nach dem international erfolgreichen Gartenhaus – und über zehn Jahre vor seiner nächsten, viel besprochenen Novelle Fräulein Stark715 – legte Hürlimann mit Dämmerschoppen eine reizvolle biographische Künstlernovelle vor, die vielleicht wegen ihres geringen Umfangs (der eine eigenständige Buchpublikation ausschließt) keine vergleichbare Prominenz erzielt hat. Hürlimanns literarische Hommage an Gottfried Keller erschien, durchaus gattungstypisch, zuerst in Das Magazin des Tages-Anzeigers und in der Berner Zeitung vom 25. Mai 1990, dann, in überarbeiteter Form und umrahmt von zwei Theaterstücken, als Mittelstück der Innerschweizer Trilogie.716 Der Text umfasst nur 15 Druckseiten, ist in fünf Abschnitte gegliedert und beginnt mit einer präzisen Bestinnung von Zeit, Ort und Hauptperson: »Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstages sass hoch über dem Vierwaldstätter See der Dichter Gottfried Keller auf einer Hotelterrasse, trank eine Flasche Gumpoldskirchner und sah in die Dämmerung hinaus«.717 Damit greift Hürlimann auf eine authentische Episode zurück: Keller hatte sich im Juli 1889 ins Hotel Sonnenberg auf dem Seelisberg zurückgezogen, »um dem schrecklichen 70. Geburtstag zu entgehen, mit dem man mich bedrohen möchte und den ich vermeiden muß«.718 Wie in der Realität wird Keller auch in Hürlimanns Novelle von seinem späten Ruhm, von zahllosen Briefen und Glückwunschtelegrammen eingeholt. Dämmerschoppen verbindet die Annäherung an ›klassische‹ Formen und Formulierungen mit dem Verzicht auf jede historisierende Patina, ja sogar mit einer bewusst ironischen Brechung des Erzähltons. Auch hier greift Hürlimann auf ›novellentypische‹ Tiersymbolik zurück: Keller, nach dem qualvollen Tod seiner Schwester vereinsamt und körperlich stark angegriffen, neigt zur Schwermut; Hürlimann lässt ihn von seinem »schwarze[n] Vogel«719 sprechen, der ihn jederzeit überfallen kann, und wiederholt das Motiv im Lauf des knappen Textes fünfmal – ein düsterer Verwandter des ›Falken‹. In der für ihn charakteristischen Mischung aus ernsten und komischgrotesken Elementen720 setzt Hürlimann jedoch Kontrapunkte zu Kellers Altersde715 Vgl. Thomas Hürlimann: Fräulein Stark. Novelle. Zürich 2001. – Diese Novelle um einen Stiftsbib-

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liothekar, seinen pubertierenden Neffen und seine Haushälterin Fräulein Stark löste heftige öffentliche Debatten aus, zum einen, weil er als Schlüsseltext über den Autor und dessen eigenen Onkel gelesen wurde, zum anderen und vor allem wegen des Vorwurfes, Hürlimann habe antisemitische und rassistische Diskurselemente verwendet, vgl. dazu zum Beispiel die Stellungnahme des Autors: Ich bin kein Thesenverbreiter. Thomas Hürlimann über seine Novelle Fräulein Stark. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.8.2001. Thomas Hürlimann: Innerschweizer Trilogie [De Franzos in Ybrig. Komödie – Dämmerschoppen. Novelle – Lymbacher nach Inglin. Stück]. Zürich 1991. Der Zusammenhang der drei Texte wird durch familiäre Beziehungen zwischen den Figuren sowie durch den Schauplatz, die ländliche Innerschweiz fern der großen Städte, gewährleistet. Thomas Hürlimann: Dämmerschoppen. Novelle. In: Ders.: Innerschweizer Trilogie. Zürich 1991, S. 67-83. Gottfried Keller an Maria Knopf, Pfingsten 1889. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 446-448, hier S. 447. Einen Teil dieses Zitates verwendet Hürlimann am Ende des Novellentextes, vgl. Hürlimann: Dämmerschoppen, S. 83. Hürlimann: Dämmerschoppen, S. 69, sowie S. 70, 72, 79, 81, 82. Vgl. Daniel Lenz, Eric Pütz: Gespräch mit Thomas Hürlimann. In: Sinn und Form 2000, S. 525-

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pression. Die Situationskomik ergibt sich daraus, dass der einsame Gast von der Terrasse aus unfreiwillig den besten Blick auf die ihm zugedachten Feierlichkeiten hat und rasch in mit dem hochgewachsenen Ober des Hotels zu tun bekommt: Das nachtdunkle Land erwacht, die Seedörfer und Seitentäler beginnen zu läuten, nah ein Knistern, ein Geprassel, ein Feuer lodert auf, ein Höhenfeuer, und schon stehen alle Flanken, alle Gipfel in Flammen – das große Naturtheater der Innerschweiz hat sich mit einem Schlag illuminiert. Sofort war es mit Kellers Frohlaune vorbei. »Was händ ächt die Tuble wider z fyre!« knurrte er. Der Lange kam näher. Das sei ja kein Staat mehr, versetzte Keller, sondern eine Festhütte, und wollte schon das Plaid zurückwerfen und sich aus dem Korbstuhl hinausarbeiten. Da beugte sich der Lange zu seinem Ohr und zischelte: »Ein Dichtergeburtstag!« »Wie bitte?« Keller verschluckte sich. Ja, fuhr der Ober leise fort, kaum zu glauben, doch leider die Wahrheit, mit diesem Aufwand an Holz, Feuer und Geläute werde ein gewisser Keller, Gottfried, Dichter aus Zürich, zum Siebzigsten geehrt und gefeiert – reichlich übertrieben, wie er, der Herr Wendelin finde. »So, so,« machte Keller.721

Der Hotel-Ober Wendelin Lymbacher – Dietmar Jacobsen sieht ihn »als literarische Figur […] in der Tradition von Thomas Manns Kellner Mager«722 aus Lotte in Weimar) – mokiert sich im Folgenden über Kellers Gedicht Abendlied und macht sich Gedanken über den abweisenden Gast, den »Knurrhahn im Korbstuhl«723, den »Brummli«724: Sieht er aus wie »ein alter 48er«725? Oder wie ein »Künstler«, vielleicht ein »Landschaftsmaler«726? Oder wie ein »eidgenössische[r] Beamte[r]«727? Natürlich sind alle diese von Wendelin sogleich verworfenen Mutmaßungen zutreffend. Keller wiederum sieht sich zur Selbstreflexion animiert: Immer lief alles verkehrt. Er, der Zwerg, war zeit seines Lebens wie ein Köter um die längsten Weiber herumgestrichen. Er, der Lyriker, hatte einen vielhundertseitigen Roman geschrieben und zwar – das war das Allerschlimmste! – in zwei verschiedenen Fassungen. Dabei war er tatsächlich zum Epiker geworden, aber die literarische Welt – o Verkehrtheit ohne Ende! – hatte sich natürlich entschlossen, ihn nur als Novellenheini ernst zu nehmen. Die Leute von Seldwyla, Schöpfungen seiner Jugend, liefen ihm nach wie gestutzte Pudel.728

540, hier S. 531. 721 Hürlimann: Dämmerschoppen, S. 70f. 722 Dietmar Jacobsen: »Der Dichter und sein Kellner«. Thomas Hürlimanns Novelle Dämmerschoppen. 723 724 725 726 727 728

In: Germanistisches Jahrbuch Ostrava/Erfurt 4 (1998), S. 43-53, hier S. 44. Hürlimann: Dämmerschoppen, S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 77. Ebd., S. 75.

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Die drastischen Vergleiche, die harsche Selbstkritik, die Selbstbezeichnung als »Novellenheini« (die innerhalb einer Novelle getroffen wird!) setzen die ironischen Akzente, die den Reiz des Textes ausmachen. Am Ende steht eine surreale, fast expressionistisch wirkende und möglicherweise vom Gumpoldskirchner angeregte Vision: Unter den Klängen von Kellers Abendlied, das eine »Wagner-Sängerin aus Königsberg« für die internationale Hotelgesellschaft intoniert, greift Keller nach der Hand des Obers, »und so flogen sie gemeinsam von der Terrasse in die Nacht hinaus, der Dichter und sein Kellner, der jetzt ein Vogel war, der grosse Vogel Schwermut. Sie zogen hoch, über die Alpen und sogar über die Sterne hinaus – die funkelten, tief unter ihnen, wie die Scherben einer zerplatzten Flasche«.729 Bei aller Kürze gelingt es Thomas Hürlimann, sehr verschiedene Themen in seine Keller-Hommage zu integrieren und zwei Zeitebenen miteinander kurzzuschließen – das Jahr von Kellers siebzigstem Geburtstag und das seines hundertsten Todestages. Zentrale Momente aus Kellers Biographie, der Widerspruch zwischen offizieller Huldigung und individueller Geringschätzung, der Kontrast zwischen dem mondänen Hotelbetrieb und den Schweizer Einheimischen (die sich, so der Text, zu »Lohnund Trinkgeldempfängern der internationalen Adels- Fabrik- und Kapitalherren«730 machen), das Nebeneinander von Hochsprache und Schweizerdeutsch und nicht zuletzt die Einbeziehung des lyrischen Abendlieds schaffen einen Reflexionsraum, in dem das problematische Verhältnis der Schweiz zu ihrem Nationaldichter beleuchtet wird. Hürlimanns Text »verbirgt seine (Post-)Modernität hinter dem geschickten Einsatz kompositorischer Strenge«731, lässt sie aber durch gezielte Durchbrechungen der semantischen Valenz und der historischen Bezugsebene sowie den spielerischen Umgang mit dem Material immer wieder aufscheinen. Das Keller-Bild, das dabei (sicher auch unter dem Einfluss der maßgeblichen Monographien Adolf Muschgs und Gerhard Kaisers732) entsteht, ist ebenso pointiert wie respektvoll; und obwohl sich der Text von jeder Feierlichkeit fernhält, erscheint er als würdevoller Beitrag zu einem Gedenkjahr – insofern war es eine angemessene Geste, dass eine gekürzte Fassung dieser besonderen literarischen Jubiläumsgabe anlässlich des Gottfried Keller-Tages im Schauspielhaus Zürich vorgetragen wurde.733

Ebd. S. 82. Ebd., S. 74. Jacobsen: Renaissance der strengen Form, S. 69. Vgl. Adolf Muschg: Gottfried Keller. München 1977; Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt/M. 1981. 733 Vgl. Hürlimann: Innerschweizer Trilogie, S. 137. 729 730 731 732

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Henning Boëtius Für das öffentliche Gedenken weniger geeignet ist wohl die Goethe-Novelle Tod in Weimar, die Henning Boëtius zum Jubiläumsjahr 1999 vorgelegt hat. Boëtius, Jahrgang 1939, hat, wie so viele Verfasser neuer historischer Künstlernovellen, einen einschlägigen akademischen Hintergrund: Er studierte Germanistik und Philosophie, wurde mit einer Arbeit über Hans Henny Jahnn promoviert und war mehrere Jahre Mitarbeiter an der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke Clemens Brentanos – bis er diese Tätigkeit im Zorn und in der festen Überzeugung beendete, das großangelegte Editionsprojekt stehe dem Geist des Dichters eher feindlich als bewahrend gegenüber. Nach einer tiefen beruflichen und persönlichen Krise trat er seit den späten achtziger Jahren verstärkt als Autor hervor, wobei das Spektrum seiner Veröffentlichungen von historischen Romanen über Kriminal- und Kinderliteratur bis hin zu ökologischen Sachbüchern reicht. In seinen biographischen Romanen, Erzählungen und moderierten Anthologien hat sich Boëtius meist mit Autoren beschäftigt, die dem Bild des Künstlers als dem nicht integrierbaren Außenseiter, dem Unangepassten, dem Gescheiterten entsprechen oder zumindest mit diesem Bild in Einklang gebracht werden können – Johann Christian Günther, Jakob Michael Reinhold Lenz, Clemens Brentano und Arthur Rimbaud, in abgeschwächter Form auch Georg Christoph Lichtenberg entsprechen diesem Muster.734 Der ›Klassiker‹ Goethe ist die Gegenfigur zu diesem Typus; in Boëtius’ mit Zwischentexten versehener LenzAnthologie erscheint Goethe »als Karrierist, der sich zumindest äußerlich den gesellschaftlichen Anforderungen zu stellen vermag, während Lenz sich von jeder Teilhabe an der Normalität zurückzieht«.735 Insofern ist es nachvollziehbar, dass Boëtius in seiner Goethe-Novelle von 1999 ein ›anderes‹ Bild des berühmtesten deutschen Dichters entwerfen will – letztlich eines, das seinen eigenen Vorstellungen vom ›wahren‹ Poetentum näher kommen kann als die traditionelle Goethe-Biographik. In den Mittelpunkt stellt er die Begegnung des alten Geheimrats mit dem damals achtzehnjährigen Siegmund von Arnim. An sechs aufeinander folgenden Mittagen speist Goethe im März 1832 mit dem zweitältesten Sohn Bettines und schreibt ihm einen Vierzeiler ins Stammbuch – das letzte, was er in seinem Leben verfasste, denn bereits eine Woche später ist er tot. Was Boëtius aus dieser spärlich dokumentierten Episode macht, basiert im Wesentlichen auf drei spekulativen Grundannahmen: Die erste ist, dass Goethe einen 734 Vgl. dazu Christian v. Zimmermann: Individuen, Dichter, Sonderlinge. Henning Boëtius’ biographi-

sche Annäherungen an Brentano, Lenz, Günther und Lichtenberg. In: Ders. (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen 2000, S. 101-118, sowie im gleichen Band den Beitrag von Antje Büssgen: Leben als Probe aufs Exempel der Poesie. Ästhetizismus-Kritik in Henning Boëtius’ fiktionaler Dichter(auto)biographie Ich ist ein anderer. Das Leben des Arthur Rimbaud, S. 207-250. Obwohl beide Aufsätze zu einem ambivalenten Urteil gelangen, ist Boëtius immerhin der im Rahmen dieses ergiebigen Bandes am breitesten besprochene Autor. 735 Zimmermann: Individuen, Dichter, Sonderlinge, S. 107.

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starken Hang zur Knabenliebe empfunden habe; diese Idee ist weder neu noch biographisch belegbar.736 Die zweite Spekulation geht wesentlich weiter: Bettine von Arnim habe um Goethes Homophilie gewusst und ihren hübschen Sohn gezielt nach Weimar geschickt, um die Briefe zurückzuerlangen, die sie Jahre zuvor an den verehrten Dichter geschrieben hat – und die sie gebraucht habe, um ihr später so erfolgreiches Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde schreiben zu können. Die dritte Mutmaßung ist die Folge aus den ersten beiden: Bettines Plan sei aufgegangen und Goethe »in eine amour fou geraten, in seine letzte Liebe, der er sogar die eigene physische Existenz zum Opfer bringt, weil er das Risiko eingeht, sich im wahrsten Sinne des Wortes auf diesen Spazierfahrten im eisigen Weimar den Tod zu holen, so, wie es dann auch geschieht«.737 Im Klappentext der Novelle ist die Rede von »gewissenhaften Recherchen im Frankfurter Hochstift und in Weimar«; es mag sein, dass Boëtius auf diesem Weg Inspirationen gefunden hat, aber keinesfalls ›Beweise‹. Insofern kann auch das knappe Nachwort, das der Autor seinem Novellentext folgen lässt, keine Dokumente präsentieren, die auch nur eine seiner Grundannahmen belegen würden. Was er allerdings im entsprechend lizensierten Medium der fiktionalbiographischen Künstlernovelle entwickelt, beeindruckt als Spiel mit Fakten und Fiktionen wie auch durch seine vielfältige intertextuelle Vernetzung mit historischen, literarischen und gattungsgeschichtlichen Traditionen.738 Im Rahmen des Novellentextes entwickelt Boëtius ein ebenso pointiertes wie komplexes Bild des greisen Dichters. Von der konkreten Begegnung mit Siegmund von Arnim ausgehend, werden Jahrzehnte zurückliegende biographische Fakten integriert: Die dunklen Augen Siegmunds erinnern Goethe an Bettine und, durch diese hindurch, an deren Mutter Maximiliane von La Roche, die als seine »einzige

736 Auch Karl Hugo Pruys, der sich mit den tatsächlichen oder angeblichen homoerotischen Neigun-

gen Goethes besonders intensiv beschäftigt hat, kann ›Belege‹ nur auf der Ebene selektiver und einseitiger Interpretation von Text- und Briefpassagen oder erotischer Sammlungen (wie der ›Priapea‹) liefern; alles weitere bleibt mehr oder weniger plausible und psychologisierende Mutmaßung, vgl. Karl Hugo Pruys: Die Liebkosungen des Tigers. Eine erotische Goethe-Biographie. Berlin 1997. 737 Henning Boëtius: Nachwort. In: Ders.: Tod in Weimar. Eine Novelle mit 16 Lithographien von Johannes Grützke. Gifkendorf 1999, S. 99-103, hier S. 102. 738 Das Bild Bettines, das dabei entsteht, ist allerdings einseitig negativ gefärbt: Boëtius präsentiert sie als skrupellose Intrigantin, die den eigenen Sohn sexuell instrumentalisiert, um sich als Schriftstellerin produzieren zu können; in Umkehrung der in den Gender Studies häufig vertretenen These von der Abtötung des Weiblichen als Quelle männlicher Kreativität behauptet er im Nachwort sogar, erst der »Tod zweier Männer« – Achim von Arnims und Goethes – habe »den Weg frei gemacht für ihre erstaunliche schriftstellerische Karriere« (S. 103). Im Novellentext erscheint Bettine in Goethes Wahrnehmung als »Vampir« (S. 13), bewaffnet mit einer Vagina dentata, und als »schlüpfrige Mänade« (S. 16). Trotzdem ist es übertrieben, dass die Bettine-von-Arnim-Forschung die Novelle Tod in Weimar als »Geschichtsklitterung«, »Enthüllungsbelletristik« und letztlich »Machwerk« zurückgewiesen hat, das »eigentlich in die yellow press gehört und nicht zwischen zwei Buchdeckel« (Wolfgang Bunzel/Ulrike Landfester: Lust und Verleumdung. Kritische Bemerkungen zu Henning Boëtius’ Novelle Tod in Weimar. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 11/12 (1999), S. 271-274, hier S. 273f.).

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große Liebe«739 bezeichnet wird; Goethes Gedankenstrom berührt Themen wie die Farbenlehre, die Metamorphose der Pflanzen, die Italienreise; der in älteren biographischen Künstlernovellen meist unfreiwillig komisch wirkende Kunstgriff, den Dichtern Zitate aus ihren Werken in den Mund zu legen, wird von Boëtius ironisiert, indem er seinen Goethe selbst darüber reflektieren lässt: In letzter Zeit ertappt er sich häufiger denn je dabei, sich selbst zu zitieren. Ist dies ein Zeichen von Verkalkung? Von Arroganz? Von Selbstglorifizierung? Nein. Er hat eher den Verdacht, daß er aus einer tiefen Resignation heraus nach solchen sprichwörtlichen Stellen greift, um sich im Meer des Vergessens mit einer selbstverfertigten Sentenz über Wasser zu halten.740

Ähnlich geschickt handhabt Boëtius ein weiteres traditionelles Mittel der biographischen Künstlernovelle: die Einbeziehung der Topographie, als Bindung des Gedenkens an einen konkreten Ort und zur Beglaubigung des Geschilderten. Goethe reflektiert auch über Weimar und dessen »kläglichen Puppenkosmos«741, das Haus am Frauenplan wird ausführlich beschrieben und bei einem Ausflug zu seinem Gartenhaus fungiert Goethe höchstselbst als eine Art Fremdenführer, der dem jungen Gast seine Romkarten, seinen Glücksstein, seinen Schreibbock und sein Reisebett erläutert – bevor es zur sexuellen Vereinigung kommt. Die homosexuelle Faszination schließlich, die Goethe empfindet, wird gedanklich verknüpft mit der antiken Welt und als deren sinnliche Erfahrbarkeit gesehen: Als er ihn das erste Mal erblickt, steht Siegmund von Arnim hinter dem Ilioneus-Torso im Büstenzimmer »so, daß sein Kopf und seine Arme den Torso zu vervollständigen scheinen« und erscheint damit als »Meisterwerk männlicher Schönheit«742, als fleischgewordene Antike. Durch diese ästhetisierende Überhöhung des homosexuellen Impulses schlägt Boëtius einen Bogen von Winckelmann über Goethe bis hin zu demjenigen Autor, dem im intertextuellen Netzwerk dieser Novelle gleichfalls eine überragende Position zukommt: zu Thomas Mann. Der Titel Tod in Weimar spielt unverkennbar auf zwei Prosatexte Thomas Manns an und spiegelt die intendierte Goethe-Nachfolge des Lübecker Nobelpreisträgers an Goethes fiktionalbiographischer Darstellung. Siegmund von Arnim erscheint in ähnlicher Weise als »Todesengel«743 wie Tadzio für Aschenbach, und bekanntlich ist die erste Idee zur Venedig-Novelle aus einer ursprünglichen Beschäftigung mit Goethe hervorgegangen. Der spätere, zuerst als Novelle geplante Roman Lotte in Weimar war seinerseits als lustspielhaftes Gegenstück zum Tod in Venedig geplant und demontierte das idealisierende Goethe-Bild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht zuletzt dadurch, dass dem Weimarer Genius menschliche Schwächen und sexuelle Regungen zugestanden wurden. 739 740 741 742 743

Boëtius: Tod in Weimar, S. 48. Ebd., S. 26-28. Ebd., S. 54. Ebd., S. 11. Ebd., S. 90.

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So setzt sich Boëtius in seiner Novelle nicht nur mit Goethe auseinander, sondern darüber hinaus und durch Goethe hindurch auch mit Thomas Mann. Radikalisiert wird die Darstellung von Körperlichkeit: Wo Thomas Manns Goethe im berühmten siebten Kapitel über seine Erektion sinniert744, wird der Penis des greisen Dichters im Rahmen eines »vergeblichen Masturbationsversuch[s]«745 direkt und ausführlich beschrieben; der tatsächliche Sexualakt mit Siegmund von Arnim immerhin wird, eher diskret, in der direkten Darstellung ausgespart. Das biographischintertextuelle Beziehungsgeflecht zwischen Goethe und Thomas Mann, die implizite Auseinandersetzung mit Thomas Manns Goethebild, die auch gattungsgeschichtlich akzentuierte Reverenz an den Tod in Venedig verleihen der Goethe-Novelle von Henning Boëtius eine beachtliche Tiefendimension. Ihren literarischen Höhepunkt erreicht sie im letzten Teil, in dem Boëtius bestechende Bilder für den Sterbeprozess findet: Goethe glaubt, den Meißel eines arbeitenden Bildhauers zu hören – doch das andauernde Hämmern ist nicht nur »schnell wie sein Herzschlag«746, sondern es ist der nach außen projizierte Herzschlag selbst; der Tod kommt in Gestalt des ausgestorbenen Riesenfaultiers747, über das sich Goethe in einem früheren Kapitel geäußert hat (und das als novellentypisches Tiersymbol betrachtet werden kann); schließlich ist Goethe noch bei Bewusstsein, als die Totenmaske abgenommen wird: Ein Brei aus Gips wird aufgetragen und beginnt bald auszuhärten. Er bekommt die Prozedur mit, jedoch auf eine traumartige Weise. Ihm träumt von jenem Steinbruch in Sizilien. Ein schöner Jüngling macht sich mit Hammer und Meißel daran, das Antlitz des Zeus aus dem sonnenwarmen Stein zu formen. Er lächelt, und dieses Lächeln unter dem Gipsmantel führt dazu, daß die Maske in der Mundpartie ein wenig unsauber wirkt. Der Künstler muß später die Lippen nacharbeiten.748

Das Lächeln des Sterbenden, hervorgerufen von einer Vision, in der Poesie und Erinnerung, Schönheit und Homoerotik, Kreativität und Selbststilisierung (»das Antlitz des Zeus«) zusammenfließen, stört die Exaktheit der Totenmaske; die Spuren des Menschlichen müssen, der Klarheit des Denkmals zuliebe, eliminiert werden – ein schöner Schluss für eine Künstlernovelle, die trotz einiger problematischer Aspekte und eines fragwürdigen Nachworts zu den besten Gattungsbeiträgen des späten 20. Jahrhunderts und, nach Thomas Mann und vor Martin Walser, zu den gelungensten fiktionalbiographischen Darstellungen Goethes zu rechnen ist. Nachbemerkung Während die historisch-biographische Künstlernovelle sich seit Beginn der achtziger Jahre noch einmal als relativ beliebtes und erfolgreich aktualisiertes Genre erwiesen 744 Vgl. Thomas Mann: Lotte in Weimar. Roman. Hg. und textkritisch durchgesehen v. Werner Frizen. 745 746 747 748

Frankfurt/M. 2003 (= GKFA, 9.1), S. 283ff. Boëtius: Tod in Weimar, S. 66. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 94f. Ebd., S. 96.

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hat, scheint die große Zeit der literarischen Darstellung fiktionaler Künstlerschicksale vorbei zu sein. Das belegen die Gattungsbeiträge des 1943 geborenen Michael Schneider, sowohl die Novelle Das Spiegelkabinett749 von 1980 als auch die drei sehr unterschiedlich langen Einzeltexte Balzacs Totenklage, Suchbild Woyzeck. Eine Theaternovelle und Die Unbeschreibliche. Bekenntnisse eines Literaten, die 1987 unter dem Sammeltitel Die Traumfalle und mit dem expliziten paratextuellen Zusatz Künstlernovellen erschienen sind.750 Im Mittelpunkt der Traumfalle steht die ›Theaternovelle‹ Suchbild Woyzeck, deren Protagonistin, die erfolgreiche Schauspielerin Klara Sismondi, sich stark mit der Rolle der Marie in Büchners Schauspiel identifiziert. Als sie die Zuschrift eines Häftlings erhält und einen Briefwechsel mit ihm beginnt, wird dieser für sie mehr und mehr »der wirkliche Woyzeck«.751 Getrieben von einem »Hunger nach Authentizität«752 besucht die Schauspielerin den Inhaftierten, der, wie Büchners Woyzeck, seine Frau getötet hat753; zugleich entwirft Klara jedoch ein »Suchbild ihrer Sehnsucht«, das den tatsächlichen Häftling Georg hinter ihren Projektionen und Phantasien verschwinden lässt. Nachdem Georg vorübergehend auf freien Fuß gesetzt wird, erweist sich eine reale Beziehung zu ihm als nicht lebbar und Klara kommt zu der pathetisch formulierten Einsicht, »daß sie dazu bestimmt war, all jene Leiden und Leidenschaften, die das Leben für andere Frauen bereithielt, auf der Bühne – und nur auf der Bühne – zu verkörpern, und daß es für sie keine andere Wahrheit geben könne als die des Theaters.«754 Ebenso wenig wie in seiner insgesamt überzeugenderen Novelle Das Spiegelkabinett (in der es um Aufstieg und Fall eines Zauberkünstlers geht), gelingt es Michael Schneider allerdings, die längst zum Klischee gewordenen Diskurselemente einer fiktionalen Künstlernovelle zu innovieren. Der Analogie zwischen Kunst und Verbrechen755, dem Widerspruch zwischen Kunst und Leben, Illusion und Wirklichkeit, Rollenspiel und gelebter Realität kann er keine Aspekte abgewinnen, die nicht schon in älteren Texten ausgereizt worden wären, etwa in Thomas Manns Novellen Tonio Kröger oder Mario und der Zauberer. Zu unbeholfen ist das erzählerische Verfahren, das etwa Klaras »Veränderung«, den zunehmenden »Sog«756, in den sie gerät, mehr behauptet als gestaltet. Der Erzähler nivelliert die Unterschiede zwischen den Brief749 Vgl. Michael Schneider: Das Spiegelkabinett. Novelle. München 1980. 750 Vgl. ders.: Balzacs Totenklage. In: Ders.: Die Traumfalle. Künstlernovellen. Köln 1987, S. 13-20;

751 752 753 754 755 756

Suchbild Woyzeck. Eine Theaternovelle. In: Ebd. S. 21-171; Die Unbeschreibliche. Bekenntnisse eines Literaten. In: Ebd., S. 172-264. Wie der Titel schon sagt, ist Balzacs Totenklage eine historische Künstlernovelle, die als innerer Monolog des sterbenden Balzac konzipiert ist; die beiden anderen Texte haben fiktive Protagonisten. Ebd., S. 51. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 52. Georgs Frau hieß, wohl um die Parallelen zum Woyzeck noch stärker zu betonen, auch noch Maria (vgl. ebd., S. 69). Ebd., S. 164. Vgl. ebd. S. 50. Ebd., S. 76.

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partnern Klara und Georg, deren Briefe oft in der indirekten Rede wiedergegeben werden; der sozialkritische Anspruch, der sich aus dem Kontrast zwischen dem »privilegierten Leben als Künstlerin« und dem »geduckten und allseits beschnittenen Häftlingsdasein«757 ableitet, wirkt aufgesetzt758, die Kritik am Theater als Kulturinstitution bleibt unoriginell und akademisch, wenn Schneider sie lediglich aus dem Widerspruch zwischen Klaras Premieren-Erfahrungen und ihrer begeisterten Lektüre von Schillers Die Schaubühne als moralische Anstalt ableitet.759 Das Beispiel Michael Schneider zeigt jedenfalls, dass es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts offenbar keinem Autor gelungen ist, für die Gestaltung fiktionaler Künstlerprobleme im Rahmen der Novellenform das zu leisten, was Gert Hofmann und eine ganze Reihe anderer Schriftsteller für die historisch-biographische Künstlernovelle erreicht haben: Die erfolgreiche Neubelebung einer Tradition, die einerseits fortgesetzt wird, andererseits aber die Konsequenzen aus gewandelten Auffassungen von Geschichte und Biographie zieht und alte Form- und Wahrnehmungsmuster ironisch aufzubrechen imstande ist.

4. ›Novelle‹ in der späten DDR 4.1. Erik Neutsch (geb. 1931) 1979 verwendet Erik Neutsch die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ für seinen in der DDR sehr erfolgreichen Text Zwei leere Stühle.760 Neutsch ist zu Recht häufig als »Staatsautor«761 bezeichnet worden; sein Bildungsweg ist DDR-typisch: Der Arbeitersohn tritt 1949 der Freien Deutschen Jugend und der SED bei, absolviert zwischen 1949 und 1953 ein Journalistikstudium in Leipzig und ist anschließend bis 1969 Kultur- und Wirtschaftsredakteur der Parteizeitung Freiheit in Halle. Politisch engagiert war er u.a. als Parteisekretär in der Nationalen Volksarmee, als Mitglied der SED-Bezirksleitung und als Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbands. Dass er seine schriftstellerische Tätigkeit auch als Teil der politischen Arbeit verstand, hat Neutsch mehrfach beteuert: »Ich bin Parteifunktionär, ich will uns voranbringen, diese Gesellschaft, mit meinen Mitteln, will Leser zum Nachdenken zwingen – so schreibe ich«.762 Mit dem Roman Spur der Steine, der von technischen, organisatorischen und zwischenmenschlichen Konflikten auf einer Großbaustelle hanEbd., S. 106. Vgl. etwa die schwach integrierten Beschreibungen des Gefängnisalltags, ebd., S. 103f. Vgl. ebd. S. 109. Erik Neutsch: Zwei leere Stühle. Novelle. Halle, Leipzig 1979. – Bis 1987 erscheinen 9 Auflagen beim Mitteldeutschen Verlag sowie eine Lizenzausgabe beim Münchner Verlag Damnitz (1980). 761 Hans-Jürgen Schmitt: Literaturbetrieb als Staatsmonopol. In: Die Literatur der DDR. Hg. v. H.-J. S. München, Wien 1983 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11), S. 45-77, hier S. 51. 762 Erik Neutsch im Gespräch [mit Helmut Hauptmann]. In: Neue deutsche Literatur 27 (1979), H. 5, S. 73-80, hier S. 78. 757 758 759 760

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delt, legte er 1964 eines der populärsten Bücher der DDR-Literatur vor. Das 900Seiten-Werk brachte ihm den Nationalpreis und einen dauerhaften Verkaufserfolg ein: Die DDR-Auflage stieg auf über 500 000 Exemplare und noch auf dem wiedervereinigten Buchmarkt ist der Roman verfügbar. Frank Beyers gleichnamiger Film allerdings wurde 1966 verboten, um erst nach der politischen Wende 1989 eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen763; hier wie auch im Zusammenhang mit den erzwungenen Überarbeitungen des Romans Auf der Suche nach Gatt, der 1973 nur abgeschwächt und mit mehrjähriger Verzögerung erscheinen konnte, erfuhr selbst ein prinzipiell linientreuer Autor wie Neutsch schmerzhaft, wie eng die Toleranzgrenzen der Kulturverantwortlichen gesteckt waren. Trotzdem gehörte er 1976 neben Anna Seghers, Peter Hacks und Hermann Kant zu den wenigen prominenten DDR-Autoren, die sich im Zuge der Biermann-Affäre gegen den Schriftstellerkollegen stellten und den Ausbürgerungsbeschluss verteidigten. Kommuniziert wird der Gattungsbegriff ›Novelle‹ in Neutschs Zwei leere Stühle zum einen auf der Ebene der erzählenden Figuren (N2): Der Ich-Erzähler Helmut Hausknecht, Lehrer für Geschichte und Staatsbürgerkunde und seit einigen Jahren Schuldirektor, reflektiert den Novellenbegriff zunächst negativ, indem er ihn zurückweist als nicht vereinbar mit seiner eigentlichen Schreibmotivation; zugleich wendet er sich vorwegnehmend gegen die denkbare Kritik eines traditionalistischen Deutschlehrers: Sollte mich […] Deutsch-Müller eines Tages wegen meiner Rhetorik oder besser: wegen meiner Kommentare hier kritisieren, werde ich ihm entgegnen, daß ich keine Novelle schreibe, nicht einmal etwas Ähnliches, nicht einmal einen Aufsatz, sondern einen Tatsachenbericht, den allerdings im Klartext und versehen mit meinen Bemerkungen, so gut ich’s vermag und sobald es mir paßt.764

›Deutsch-Müller‹, so genannt zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Kollegen ›Mathematik-Müller‹, ist für seine »Pedanterie in der Behandlung klassischer Formen der Erzählkunst«765 bekannt, bevorzugt die Besprechung kanonisierter Novellentexte wie Romeo und Julia auf dem Dorfe, Der Tod in Venedig oder Mario und der Zauberer und spricht gelegentlich in Sätzen, die, dem Ich-Erzähler zufolge, »fast wie ein Zitat aus einer Novellensammlung«766 klingen. Gegen Ende des Textes wird er nochmals erwähnt, die gattungstheoretische Überlegung allerdings relativiert: »[…] du weißt, daß ich meine Gedanken aufzuschreiben versuche. Wenn ich jetzt […] deine Worte zitiere, wird mich Deutsch-Müller, der Novellenspezialist, liest er es, der Didaktik beschuldigen und mir ästhetisches Unvermögen vorwerfen. Damit wäre ich zumindest literarisch für ihn gestorben.« 763 Vgl. Hans Drawe: Literatur im Film. In: Die Literatur der DDR. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Mün-

chen, Wien 1983 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11), S. 187-228, bes. S. 204206. 764 Neutsch: Zwei leere Stühle, S. 6f. 765 Ebd., S. 11. 766 Ebd., S. 19.

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Deutsche Novellen seit den späten siebziger Jahren »Und kümmert dich das? Ist dir an einer Novelle gelegen oder an der Wahrheit?« Ich schwieg. Eigentlich wollte ich jetzt beides miteinander verbinden.767

So wird der alte Anspruch der Novelle, ›wahre‹, ›authentische‹ Ereignisse aus der realen Welt mitzuteilen, erneuert und gegen den »Formalismus«768 der Deutschlehrer und ›Novellenspezialisten‹ ins Feld geführt. Zugleich erscheint die Geschichte von zwei Schülern als Exempel, als Beispielerzählung, an der der Ich-Erzähler das Versagen des Schulsystems illustriert, um umso nachdrücklicher auf die Notwendigkeit von Veränderungen hinzuweisen. Diese Intention veranschaulicht auf der Kommunikationsebene N3 auch das titelgebende Symbol der beiden leeren Stühle, die bei einem Klassentreffen zum zehnjährigen Abitursjubiläum »wie eine Mahnung, eine Drohung, ein Menetekel Upharsin an der Wand stehen blieben«769 – denn Uwe Tolls ist tot und Wolfgang Lichtenfeld aus der DDR geflohen. Der Ich-Erzähler forscht den beiden Schicksalen nach: »Wir müssen klare Verhältnisse schaffen, uns wie Kommunisten benehmen, und vielleicht erhalten dann nachträglich noch Uwes Tod und Lichtenfelds beschissenes Leben einen Sinn«.770 Dieser sinnstiftende Anspruch signalisiert zugleich die problematischen Seiten von Neutschs Novelle, die in vielen Elementen als typisches Produkt der DDRLiteratur begriffen werden kann. Die schuldbewusste Haltung, die der Ich-Erzähler vom ersten Satz an herausstellt – »Wenn ich nur wüßte, was wir versäumt oder falsch gemacht haben, […] was uns so selbstgerecht und zufrieden, so saturiert werden ließ«771 – erinnert an die Selbstbezichtigungsrituale von Genossen, die sich vor einem Parteiausschuss zu rechtfertigen versuchen. Eine ganze Reihe von Figuren und Handlungselementen entspricht typischen und Ende der siebziger Jahre längst abgenutzten Traditionen des sozialistischen Realismus und der ›Ankunftsliteratur‹: So führt etwa eine prägende Erinnerung des Ich-Erzählers ins Jahr 1944 zurück, um einmal mehr die Rohheit und Dekadenz der damals noch herrschenden Klasse zu demonstrieren, die Jagdhunde auf hungernde Kinder gehetzt habe772; oder es treten Musterfiguren auf, die klischeehaft alle Tugenden aufweisen, die die sozialistische Gesellschaft von ihren exponierten Vertretern erwartet – etwa ein berühmter Chirurg, der »seinen Studienweg über die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät angetreten«773 hat und im Text nicht nur implizit, sondern auch explizit als »Vorbild«774 bezeichnet wird.775 Schließlich sind auch die Wertmaßstäbe, nach denen die Entwicklungsge767 768 769 770 771 772 773 774 775

Ebd., S. 113. Ebd., S. 5, 54. Ebd., S. 91. Ebd., S. 20. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 48f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Neutsch ließ es sich nicht nehmen, in einem Interview darauf hinzuweisen, dass gerade für die Figur des erfolgreichen Chirurgen »ein Freund […] Pate gestanden« habe (vgl. Erik Neutsch im Gespräch,

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schichte der beiden Schüler Tolls und Lichtenfeld gestaltet wird, direkt der sozialistischen Ideologie entnommen. Wie die darin entfaltete Schulkritik gleichfalls ins Positive gewendet wird, sei im Folgenden kurz nachvollzogen; denn obwohl diese Kritik auf einer oberflächlichen Ebene radikal erscheint (und damit zumindest die damalige Volksbildungsministerin Margot Honecker gegen den Text aufbrachte), ist sie einzubinden in den systemaffirmierenden Diskurs, der die literarischen Texte Erik Neutschs dominiert. Die Kritik am Schulsystem wird schon dadurch relativiert, dass mit dem IchErzähler Helmut Hausknecht ein Lehrer vorgeführt wird, der in einem hohen Grad introspektionsfähig und selbstkritisch ist, ohne deshalb beruflich zurückzubleiben – im Gegenteil, er ist schon früh zum Gymnasialdirektor aufgestiegen. Seine Maßstäbe sind hoch und durch damals gültige Autoritäten gestützt: Mehrfach zitiert wird etwa eine Äußerung von Kalinin über die hohe Verantwortung des Lehrerberufs.776 Das tatsächliche Fehlverhalten des Ich-Erzählers wiegt eher gering – selbst wenn er einmal »lieber die Ungerechtigkeit gegenüber einem Schüler in Kauf [nahm], als an der Autorität eines Lehrers zu rütteln«777, waren die Folgen für den Betroffenen nicht zu gravierend. Die gehäuften Äußerungen gegen die »Kleinkariertheit der deutschen Schulmeister«778, gegen das »Zensurenhaschen« und die »Jagd nach Einsen«779 lassen den Ich-Erzähler als Identifikationsfigur erscheinen, die sich ideologisch völlig korrekt verhält, wenn sie etwa befürchtet, »die Schüler mehr zu Spezialisten als zu Sozialisten«780 zu erziehen oder durch Zeugnisse »keine Charaktere gebildet, sondern lediglich Bildung charakterisiert«781 zu haben. In ein ideologisches Raster gespannt wird auch die Geschichte der beiden Schüler Tolls und Lichtenfeld. Die kritische Selbstreflexion ihres früheren Lehrers zielt auf den Gegensatz zwischen der schulischen und der nach-schulischen Entwicklung der beiden Jahrgangsgenossen: Während Tolls wegen seines Hangs zu kritischen Nachfragen als unreifer und schwieriger Schüler galt und allenfalls mittelmäßige Zensuren erhielt, wurde Lichtenfeld von Anfang an zum Vorzeigeabsolvent erzogen. Frühzeitig steht fest, dass er »das Abitur mit Auszeichnung bestehen«782 würde, nicht zuletzt, weil »die Erfolge einer Schule am Zensurendurchschnitt« gemessen und deshalb sogar die schwache Sportnote Lichtenfelds »um zwei Ziffern aufpoliert«783 wird. Tolls geht nach der Schule zur Armee, Lichtenfeld studiert Medizin; nach wenigen Jahren tritt jedoch immer deutlicher hervor, dass Tolls zwar der unangepasstere,

776 777 778 779 780 781 782 783

S. 75) – das realistische Modell ändert jedoch nichts an der schematisch-ideologischen Wirkung der literarischen Figur. Ebd., S. 8, 112. Ebd., S. 69. Ebd., S. 54. Ebd., S. 5. Ebd., S. 110. Ebd., S. 46. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 14. Ebd.

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aber bei weitem aufrechtere und politisch zuverlässigere Charakter ist. Schon in Spur der Steine hatte Neutsch einen »individualistischen Rebellen« vorgeführt, aus dem »ein verantwortungsbewußter, aufs Kollektiv orientierter Sozialist«784 erwächst – ähnlich zeichnet er nun die Entwicklung Tolls, der bei einer Militärübung ums Leben kommt, als er versucht, einen Kameraden zu retten: »Er ist als Soldat gestorben, gefallen mitten im Frieden und im vollen Bewußtsein dessen, was er tat«.785 Lichtenfeld dagegen, der schon immer opportunistisch und karrieristisch kalkuliert hat, setzt sich am Ende in den »goldenen Westen« ab, wo die Leute (so die Ansicht des Ich-Erzählers) »viel Geld« ausgeben und »wenig glücklich« wirken.786 Was der literarische Text schon deutlich genug vermittelt, hat Neutsch im Interview noch einmal zugespitzt: Der ›Idealist‹ Tolls kommt zwar ums Leben, aber »er geht nicht an der Gesellschaft zugrunde, sondern stirbt, weil er den Mut hat, anderen das Leben zu retten. Der Anpasser aber geht wirklich kaputt. Der Dr. Lichtenfeld wird sicherlich schönes Geld verdienen, aber als Mensch ist er kaputt«.787 Dass die schulische Beurteilung und Förderung der beiden Rivalen so wenig übereinstimmt mit ihrem späteren menschlich-politischen Verhalten, lässt den IchErzähler zwar seine vehemente Schulkritik formulieren; zugleich aber bewährt sich die Exempelgeschichte als Mittel, um »die objektive Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung darzustellen«, wie es in den ersten Definitionen des ›sozialistischen Realismus‹ heißt.788 Das Beispiel erhält seinen positiven Sinn durch den Veränderungsimpuls, den der Ich-Erzähler aus der literarischen Bearbeitung bezieht. Im Parteisekretär Berster findet er sogar einen ersten »Verbündete[n]« in seinem Anliegen, das Schulwesen von innen her und im Geist eines ›wahren‹ Sozialismus zu reformieren – und entsprechend positiv-entschlossen klingen die letzten Sätze: »Ja, wir würden unsere Fragen stellen. Wir kannten bereits die Antwort, uns würde man nicht übers Ohr hauen können, aber wir würden unsere Fragen stellen. Wir sahen einen neuen Anfang. Wir würden gewiß nicht völlig von vorn beginnen müssen, gar aus dem Nichts schöpfen. Aber wir würden anfangen, und zwar bei uns zuerst, den Lehrern«.789 Anders als Christa Wolfs lehrende Romanheldin Christa T., die über der Diskrepanz zwischen sozialistisch-humanistischen Erziehungsauftrag und dem Schulalltag resigniert790, fühlt sich Neutschs Protagonist Helmut Hausknecht durch seine Erfahrungen nur darin bestärkt, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuarbeiten. Nicht 784 785 786 787 788 789 790

Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 201. Neutsch: Zwei leere Stühle, S. 120. Ebd., S. 122. Erik Neutsch im Gespräch, S. 78. Zit. n. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 120. Neutsch: Zwei leere Stühle, S. 125f. Schon Christa T. hat die Erfahrung machen müssen, die auch dem Ich-Erzähler Hausknecht nicht erspart bleibt: dass Schüler in Aufsätzen nicht ihre Meinung schreiben oder sich gar kritisch selbst erkunden wollen, sondern prospektiv kalkulieren, worauf »eine Eins plus oder eine Vier minus« (Neutsch: Zwei leere Stühle, S. 109) stehen würde; vgl. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Hg. v. Sonja Hilzinger. München 1999 (= Werke, 2), S. 115f.

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zufällig hat sich Neutsch auch in der letzten Phase der DDR-Literatur distanziert von der »Nabelbetrachtung von Autoren, die Talent haben, aber Geschichten schreiben ohne angemessenen geschichtlichen Sinn für das, was in diesem Lande geleistet worden ist«.791 Neutschs explizite Absicht, mit literarischen Mitteln zur Diskussion bildungspolitischer Probleme anzuregen, wurde übrigens durch die Zeitschrift Neue deutsche Literatur exemplarisch unterstützt: Das Organ des Schriftstellerverbandes veröffentlichte nicht nur einen Vorabdruck des Textes und ein Interview mit dem Autor, sondern rief seine Leser explizit dazu auf, ihre Meinung zu artikulieren. Durch die Zuschriften, die in zwei Folgenummern der Zeitschrift veröffentlicht wurden, konnten sich sowohl Neutsch als auch die Neue deutsche Literatur fast ausnahmslos bestätigt sehen: Schüler und Studenten beteuern, die Novelle habe »sofort intensive Diskussionen« ausgelöst und Anlass gegeben, »die Lernhaltung zu überprüfen«792; Lehrer bestätigen, »zum kritischen Überdenken ihrer Praxis angeregt«793 worden zu sein und einmal wird Neutschs Text sogar als künftiger »Pflichtgegenstand der Lehrerweiterbildung«794 proponiert. Das in den Zuschriften repräsentierte Leserecho scheint damit der vom Autor intendierten Rezeption vollständig zu entsprechen – es bleibt letztlich den professionellen Rezensenten vorbehalten, pflichtschuldig darauf hinzuweisen, dass es Neutschs Novelle mangele »an ausreichenden Relativierungen, die wirklichkeitsgerechte Differenzierungen von Lehrer zu Lehrer, von Schule zu Schule und von Institution zu Institution gestatten würden, wie das die Resultate des VIII. Pädagogischen Kongresses doch wohl gebieten«.795 Trotz der unbestreitbaren Dominanz des Ideologischen ist dennoch bemerkenswert, wie Neutschs einzige ›Novelle‹ auf die literarische Tradition reagiert. Der Text nimmt nicht nur durch die geschilderte Reflexion des Novellenbegriffs Bezug auf eine ganze Reihe von Prätexten; diesen ist, über die inhaltliche Analogie, auch Franz Werfels 1928 erschienene Erzählung Der Abituriententag796 zuzurechnen, und interessanterweise enthält Neutschs Novelle sogar einen impliziten Verweis auf Katz und Maus von Günter Grass. Der problematische Musterschüler Lichtenfeld greift mehrfach auf die Metapher von Katz und Maus zurück797; in seinem letzten Gespräch mit dem früheren Mitschüler Tolls und seinem alten Lehrer lässt er sich zu der Äußerung hinreißen: »Bei uns […] braucht ein kritischer Geist nur zu piepsen, und schon wird er von der Macht gefressen wie die Maus von der Katze«.798 Sowohl der Ich-Erzähler 791 Erik Neutsch im Gespräch, S. 80. 792 Aus Briefen zu Erik Neutsch, Zwei leere Stühle. In: Neue deutsche Literatur 27 (1979), H. 9, S. 164-

171, hier S. 164. 793 Aus Briefen zu Erik Neutsch, Zwei leere Stühle. In: Neue deutsche Literatur 27 (1979), H. 12, S. 161-

172, hier S. 161.

794 Aus Briefen zu Erik Neutsch, Zwei leere Stühle. In: Neue deutsche Literatur 27 (1979), H. 9, S. 165. 795 Artur Arndt: Polemische Prosa. In: Neue deutsche Literatur 27 (1979), H. 12, S. 132-139, hier

S. 137.

796 Vgl. Franz Werfel: Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld. Berlin, Wien, Leipzig

1928. 797 Vgl. Neutsch: Zwei leere Stühle, S. 61, 106, 109. 798 Ebd., S. 106.

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als auch der Autor distanzieren sich von dieser Sehweise; was bleibt, ist immerhin eine geschickt angebrachte Reverenz vor einem der wichtigsten Novellentexte der Nachkriegszeit, der das gleiche Deutungsmuster auf andere Art und Weise problematisiert und vielleicht nicht zufällig der erste Text von Günter Grass geworden ist, der (wenn auch mit großer Verzögerung) in der DDR erscheinen konnte.799

4.2. Werner Heiduczek (geb. 1926) Anders als Erik Neutsch, dessen Bücher sich letztlich stets als linientreue DDRLiteratur erweisen, hat sich der Oberschlesier Werner Heiduczek im Lauf seiner Entwicklung zunehmend von der DDR entfernt. Heiduczek war zuerst im Schuldienst tätig; mit 26 Jahren hatte er es schon bis zum Kreisschulrat in Merseburg gebracht. Nach einem Aufbaustudium unterrichtete er einige Jahre im bulgarischen Burgas, bevor er sich 1965 als freier Schriftsteller in Halle an der Saale niederließ. In seinen Roman Tod am Meer (1977) gingen zahlreiche autobiographische Erfahrungen ein; die Hauptfigur, der Schriftsteller Jablonski, schreibt in Burgas einen Rechenschaftsbericht über die eigene Laufbahn in der DDR; einige kritische Passagen über die Rote Armee sorgten dafür, dass Heiduczeks Hauptwerk noch vor Erscheinen einer zweiten Auflage verboten und fast bis zum Ende der DDR nicht mehr aufgelegt wurde. Seine 2005 erschienene Autobiographie Die Schatten meiner Toten belegt, wie stark Heiduczek in den folgenden Jahren ins Visier von Zensurbehörde und Staatssicherheit geraten ist und sich vom engagierten jungen Sozialisten »zum Kritiker und halben Dissidenten«800 entwickelt hat. Auch unter dem Einfluss von Repressionen und Zensurschwierigkeiten verlegte sich Heiduczek, der als Jugendschriftsteller begonnen hatte, in den siebziger Jahren wieder verstärkt auf Märchen- und Sagenstoffe. Trotzdem hat er nie ernsthaft daran gedacht, die DDR zu verlassen. Im Zusammenhang mit der Entstehungs- und Publikationsgeschichte seiner Novelle Verfehlung äußert sich Heiduczek in seiner Autobiographie auch über das Literatursystem der Bundesrepublik, das er – in typischer DDR-Perspektive – beherrscht sieht von der Meinungsführerschaft einiger Kritiker und den Finanzinteressen der Verlage. Eine erste Version von Verfehlung, noch unfertig und doppelt so umfangreich wie die Endfassung, habe bereits 1979 vorgelegen und sei in der Bereitschaft entstanden, »endgültig mit der DDR-Führung zu brechen«: Das Manuskript gab er [= Heiduczek, S.K.] Hans-Jürgen Schmitt vom Verlag Hoffmann und Campe zu lesen. Der äußerte sich anfangs sehr positiv dazu, zeigte sich aber kurze Zeit später zurückhaltend, da Carl Corino vom Hessischen Rundfunk den Text literarisch 799 Grass wurde von offizieller Seite in der DDR vor allem sein Theaterstück über die Unruhen vom

17. Juni 1953, Die Plebejer proben den Aufstand, verübelt; erst im Sommer 1984 ist mit Katz und Maus erstmals ein Buch von Grass bei einem DDR Verlag (Volk und Welt) veröffentlicht worden. 800 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 481.

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für nicht gut hielt. Er hatte damit nicht unrecht, aber die erste Fassung war bei H. immer auf Masse geschrieben, die Überarbeitung zog noch drei bis vier Fassungen nach sich. H. merkte an der Reaktion von Hans-Jürgen Schmitt erneut, daß es von ihm töricht wäre, mit der DDR zu brechen. Sie war seine literarische Heimat. Bei aller Auseinandersetzung war es gescheiter, hier auf Veröffentlichung seiner Manuskripte zu drängen und zu warten, als sich einem Literaturdiktat westlicher Medien auszusetzen. Die Auffassungen gingen zu weit auseinander. Klinken putzen wollte er nicht. Er hatte es in der DDR nicht gemacht, warum sollte er es woanders tun.801

Nach jahrelangem Hin und Her erschien Verfehlung schließlich 1986 im Mitteldeutschen Verlag, gemeinsam mit dem deutlich kürzeren, 1980/81 entstandenen Text Reise nach Beirut und mit dem Untertitel »Zwei Novellen« versehen. Beide Texte ergänzen sich, denn sie thematisieren beide die deutsche Teilung und ihre Auswirkungen auf die Lebensläufe und die Lebensmöglichkeiten einzelner Menschen. Entsprechend bedauerlich ist, dass die bundesdeutsche Ausgabe, 1987 im Kölner Verlag Pahl-Rugenstein erschienen, die Koppelung der Texte aufhebt und nur Verfehlung als ›Novelle‹ und, wie es im Klappentext heißt, »deutsch-deutsche Liebesgeschichte« präsentiert. Denn Reise nach Beirut ist ein ausgesprochen wirkungsvolles, knappes und konzentriertes Stück Erzählprosa, dem eine ›novellistische‹ Zuspitzung in jeder Hinsicht zu attestieren ist. Der Schauplatz und der Beruf des Protagonisten erinnern an Nicolas Borns letzten Roman Die Fälschung (1979); doch von der Grundidee her erweist sich Reise nach Beirut als Vorwegnahme der (stilistisch freilich radikaleren) Novelle Frühling von Thomas Lehr: Hier wie dort sind es die letzten Lebensmomente eines Sterbenden, die erzählt werden; im erlöschenden Bewusstsein flackern noch einmal die Erinnerungen an entscheidende Lebensstationen auf. Das erste Kapitel schildert die Fahrt über die Golanhöhen, die der Reporter Werner Radomski in Begleitung eines israelischen Offiziers unternimmt. Vierzig Kilometer vor Beirut wird der weiße Peugeot von zwei Feuerstößen getroffen und explodiert. Der Hauptmann ist wahrscheinlich sofort tot (das überwiegend personale Erzählen aus der Sicht Radomskis lässt keine genaue Auskunft zu), der Journalist wird aus dem Wagen geschleudert. Verwirrt und halb bewegungsunfähig versucht er, seine Gedanken zu ordnen; er tastet nach seinem Notizblock, um seinen Namen aufzuschreiben (denn seine Papiere sind im brennenden Wagen). Doch der eigene Name will ihm nicht einfallen: Das kann nicht sein, dachte er, mein Name, mein verfluchter Name. Ich brauche doch sonst nichts, nur meinen gottverfluchten Namen. Und dann dachte er, daß er jetzt ganz ruhig bleiben mußte. Je mehr er sich aufregte, um so weniger würde ihm der Name einfallen. Er wollte nicht sterben ohne seinen Namen.802

Ebenso wenig wie der eigene Name ist ihm die eigene Nationalität noch bewusst: 801 Werner Heiduczek: Die Schatten meiner Toten. Eine Autobiographie. Leipzig 2005, S. 302. – Der

Autor spricht von sich hier meist in der 3. Person und als »H.«. 802 Ders.: Reise nach Beirut. In: Ders.: Reise nach Beirut. Verfehlung. Zwei Novellen. Halle/Saale

1986, S. 5-45, hier S. 13.

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Aber wie zum Teufel war er zum Golan gekommen und warum? Das dachte er plötzlich in einer anderen Sprache. In Russisch oder Englisch. Er merkte nur, daß da ein anderer Ton war. Er wiederholte den Satz, und er klang wieder anders. […] Vielleicht hieß er Serjoscha oder John. Aber er war doch Deutscher. Das mußte nicht sein. Vielleicht war er ein russischer Jude, nach Israel ausgewandert. Vielleicht Amerikaner, der hier seinen Job machte.803

Die Gewissheit, Deutscher zu sein, kehrt zurück, wie ihm auch sein Beruf noch einmal einfällt. Außerdem imaginiert er, bald von Arabern gefunden und verhört zu werden; ›Verhör‹ scheint ein Schlüsselwort für ihn zu sein, denn es regt ihn »entsetzlich auf«.804 Schließlich erinnert sich der Sterbende auch an seinen Namen; er sei Deutscher und lebe in München – oder in Leipzig? Erinnerungsfragmente stehen, »unsortierten Filmsequenzen gleich«805, nebeneinander, doch Stück für Stück wird die Vorgeschichte der Reise nach Beirut auch für den Leser rekonstruierbar: Werner Radomski stammt ursprünglich aus der DDR; im Streit mit seinem Vater, einem bekannten Wissenschaftler und Parteifunktionär, hat er, zeitweise verhaftet und intensiv verhört (daher die Aversion gegen das Wort!), das Land verlassen. Jetzt hat ihn in Palmyra ein Telegramm seiner Mutter erreicht: »Vater liegt auf den Tod – Komme nach Haus«. Doch der abtrünnige Sohn schlägt einen anderen Weg ein: Er, Werner Radomski, war nicht von Damaskus nach Leipzig, sondern hierher in den Libanon geflohen, weggelaufen vor seiner Erinnerung und der Angst, ihr zu erliegen. […] Was wußte denn die Mutter. Nur in der Bibel wird für den reuigen Sohn ein Lamm geschlachtet. […] Er hatte nichts zu bereuen.806

Der letzte Abschnitt der Novelle berichtet, wie Radomskis Leiche gefunden und über München nach Leipzig überführt wird: »Werner Radomski wurde neben seinem Vater begraben«.807 Rilkes Gedicht Der Auszug des verlorenen Sohnes, auf das der Novellentext bereits angespielt hatte808, bildet eine Art Epilog und sorgt für die mythischliterarische Überhöhung eines deutsch-deutschen Vater-Sohn-Konfliktes. Eine in der DDR erschienene und ausgesprochen ausführliche Rezension lobt die Meisterschaft, mit der Heiduczek diese Konstellation »auf die Spitze getrieben«809, in weltweite Zusammenhänge eingeordnet und ins Allgemeine gehoben habe; von der

803 Ebd., S. 14. 804 Ebd., S. 18. 805 Elke Mehnert: »Der Tod ist exakt«. Zu Werner Heiduczeks Reise nach Beirut. In: Dies.: Ost-westliche

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Spiegelungen. Beiträge zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin 2005 (= Literarische Landschaften, 7), S. 41-49, hier S. 43. Heiduczek: Reise nach Beirut, S. 35f. Ebd., S. 44. Um den Sohn zum Verbleib in der DDR zu bewegen, hatte der Vater ihm eine Abschrift des RilkeGedichts in den Briefkasten geworfen – eine »Geste« des nüchternen Naturwissenschaftlers, die Werner Radomski seinem Vater »so ganz und gar nicht zugetraut hatte« (ebd., S. 32). Friedrich Albrecht: Wohin gehört der Mensch? Zu Werner Heiduczeks Novellen Reise nach Beirut und Verfehlung. In: DDR-Literatur ‛86 im Gespräch. Hg. v. Siegfried Rönisch. Berlin, Weimar 1987, S. 241-250, hier S. 243.

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»unerhörten Begebenheit«, von »Konzentration«810, »von klassischer Strenge«811 und »straff novellistische[r] Linienführung«812 ist die Rede. Aus diesen Kriterien des Novellenbegriffs, die für die klassizistische Novellenauffassung genauso symptomatisch sind wie für die sozialistische, leitet der Rezensent allerdings auch eine moralische Strenge »des Novellisten« ab, der »die Dinge des Lebens auf ihren wahren Wert«813 hin untersuche – und diese »Strenge« wird massiv gegen den Protagonisten gewendet. Schon zu Beginn der Rezension ist die Rede von jenem »noch jungen Werner Radomski, der aus unserer Republik fortging, seinen Vater auf dem Sterbebett allein läßt und selber einen bitteren Tod stirbt an einem Ort, an dem er nichts zu suchen hat«814; wenig später wird diese Aussage noch zugespitzt: »Der Sohn verschließt sich dem Gebot elementarer Sittlichkeit; wäre er ihm gefolgt, so läge er jetzt nicht hier und stürbe unerlöst diesen sinnlosen Tod«.815 Konsequent wird der Tod der Hauptfigur als logisch schlüssige Strafe für politisch und moralisch falsches Handeln interpretiert: Als einschneidende Zäsur in Radomskis Schicksal erweist sich der Übertritt des aus Leipzig Stammenden in den anderen deutschen Staat – hat er ihm Glück gebracht? Radomski hat erreicht, was vielen als erstrebenswertes Ziel erscheinen mag. Er ist ein gesuchter Reporter geworden, dem die ganze Welt offensteht. […] Aber dieser Erfolg hat seinen Preis; in der Analyse des Novellisten, die die Dinge des Lebens auf ihren wahren Wert bringt, erscheint er in seiner ganzen Größe. Radomski hat sich auf Kriege und bewaffnete Konflikte spezialisiert; er ist überall dort, wo Blut fließt, ein sicheres Gespür führt ihn stets zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. Sein Geschäft ist es letztlich, Sensationen zu liefern, Leid zu vermarkten, und es schlägt auf ihn zurück: in Gestalt des Verlusts moralischer Maßstäbe, der Gefühlsverödung und der Unfähigkeit, dauerhafte menschliche Bindungen einzugehen. […] Er hat sich für die scheinbar unbegrenzte Freiheit des Westens entschieden, aber er irrt durch sie als ein Entwurzelter, denn es hat sich als unmöglich gezeigt, die Vergangenheit abzustreifen. Die Heimat aber verschließt er sich selber.816

Der »Novellist« wird zum Richter stilisiert. Die von Heiduczek geschilderte Konstellation kann jedoch auch ganz anders verstanden werden: Der beinahe gleichzeitige Tod von Vater und Sohn ließe sich als tragische Koinzidenz interpretieren, die Sprachlosigkeit und emotionale Verstockung beider Männer als Folge der unnatürlichen Teilung Deutschlands. Solche Lesarten und Ambivalenzen jedoch negiert der Rezensent im Rückgriff auf ein sozialistisches Novellenkonzept, das in seinem Beharren auf formaler wie ideologischer Eindeutigkeit strukturell mit den Auffassungen des völkischen Klassizismus im frühen 20. Jahrhunderts korrespondiert.

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Ebd., S. 245. Ebd., S. 243. Ebd., S. 248. Ebd., S. 242. Ebd., S. 241. Ebd., S. 243. Ebd., S. 242-244.

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Im Fall der Novelle Verfehlung fällt es dem Rezensenten noch schwerer, den Text seiner politisch-ideologischen Lesart zu unterwerfen. Schon der Titel ist mehrdeutig: ›Verfehlen‹ kann, so das Grimmsche Wörterbuch, sowohl ›das Erstrebte nicht erreichen‹ bedeuten, als auch ›einen Fehler begehen‹.817 Im Mittelpunkt steht ein verhindertes Liebespaar: Elisabeth Bosch, DDR-Bürgerin, und Jakob Alain, Hamburger Schauermann, sind beide über 50 und verwitwet, als sie sich durch »Zufall«818 kennenlernen. Der Text beginnt ausgesprochen ›klassisch‹, im auktorialen Erzählton, der ein wenig an Heinrich von Kleist oder auch Johann Peter Hebel denken lässt und am Anfang auch historisch bis in deren Zeit zurückgreift: Elisabeth Bosch kam mit einem der Schübe, von denen unser Jahrhundert voll ist, aus dem Böhmischen nach Sachsen in ein Dorf, wo Napoleon genächtigt haben soll, bevor er in die Schlacht bei Leipzig zog, die ihn Krone und Kaiserreich kostete. Hier richtete sie sich ein, brachte zwei Kinder zur Welt und schien ihr Auskommen gefunden zu haben. Da verunglückte der Mann bei einem Erdrutsch im Braunkohlentagebau tödlich. Der Junge war sieben, das Mädel zwei, und der Frau blieb keine Zeit, nutzlosem Jammer zu leben. Einen Beruf hatte sie nicht erlernt, sie mußte zusehen, wie sie ihr Geld verdiente. Das Kombinat sorgte für eine neue Wohnung, erklärte sich zum Paten für die Kinder, half auch sonst, aber der Tote blieb tot, und Elisabeth Bosch begann aufs neue, sich einzurichten. Obwohl noch jung, heiratete sie nicht wieder, lebte nur den Kindern und war am Ende stolz, aus beiden ordentliche Menschen gemacht zu haben. Der Sohn promovierte und wurde leitender Redakteur beim Bezirksblatt, die Tochter studierte Philosophie. Auf ihre Art war die Frau glücklich und glaubte nicht, daß sich in ihrem Leben noch etwas Erwähnenswertes tun könnte. Da begegnete sie Jakob Alain, der zwar einen französischen Namen trug, aber Deutscher war und im Hamburger Walhafen als Schauermann arbeitete.819

Die »Begegnung« zwischen Jakob Alain und Elisabeth Bosch bringt beider scheinbar so unerschütterlich eingerichtete Existenz in Unruhe – eine ›klassische‹ Novellensituation, hier auf zwei Menschen aus den beiden deutschen Teilstaaten angewendet. Vom »Unerfreulichen« und der »Gereiztheit zwischen den Staaten und Systemen«820 ist durchaus die Rede; in der komplizierten Beziehungsgeschichte von Jakob und Elisabeth spiegeln sich die Schwierigkeiten eines Zusammenfindens, das sich auch aufgrund der politischen Situation als unmöglich erweist. Der DDR-Rezensent deutet die Figur der Elisabeth Bosch als »Fortführung bedeutender Traditionen unserer Epik«821, indem er Bezüge zu Brechts Unwürdiger Greisin und »einigen Stücken aus Anna Seghers’ Band Die Kraft der Schwachen« aufzuzeigen versucht. Die Bedeutung der deutschen Teilung für die Schicksale der Protagonisten ist damit freilich nicht zu erfassen. Elisabeth Bosch wird massiv unter Druck gesetzt, den »Klassenfeind«822 zu 817 Vgl. Grimmsches Wörterbuch. Bd. 25. Leipzig 1956, Sp. 323-325. 818 Werner Heiduczek: Verfehlung. In: Reise nach Beirut. Verfehlung. Zwei Novellen. Halle, Leipzig 819 820 821 822

1986, S. 47-162, hier S. 48. Ebd., S. 47. Ebd., S. 109. Albrecht: Wohin gehört der Mensch?, S. 250. Heiduzek: Verfehlung, S. 155.

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meiden, nicht nur vom Bürgermeister ihres Ortes, sondern auch von ihren erwachsenen Kindern. Schließlich verzichtet sie auf eine gemeinsame Zukunft mit Jakob Alain. Zusammengehalten wird der Text durch ein dichtes Netz von Motiven: Mehrfach erwähnt wird etwa die 450-Jahr-Feier des Dorfes, von dem viele glauben, dass es aufgrund des Braunkohleabbaus seine 500 Jahre nicht »durchstehen«823 werde (eine Vorausdeutung auch auf die Zukunft eines ganzen Staates?); die etwas extravaganten »meergrüne[n] Schuhe«824, die sich Elisabeth Bosch kauft, und die ›blauen Möwen‹825, deren Existenz Jakob Alain versichert, tauchen gleichfalls mehrmals im Text auf und symbolisieren die Möglichkeit des Aufbruchs, des Neuen und Unerwarteten. Im Mund des Bürgermeisters und ihres Sohnes wird »blaue Möwen im Kopf«826 zu haben denn auch prompt zu einer festen Redewendung, die Elisabeth Bosch einen zweifelhaften Geisteszustand attestieren soll. Die Novelle endet resignativ; verglichen mit Reise nach Beirut ist der Plot von Verfehlung vielleicht weniger spektakulär, aber in der Aussage vergleichbar: Die deutsche Teilung trennt Menschen, die unter anderen Bedingungen wahrscheinlich zusammenfinden könnten. Unter diesem Aspekt ist bedauerlich, dass die beiden Novellen Werner Heiduczeks im wiedervereinigten Deutschland keinen höheren Bekanntheitsgrad erreicht haben.827

4.3. Christoph Hein (geb. 1944) Zwischen den Gattungsbeiträgen von Erik Neutsch und Werner Heiduczek ist der berühmteste, explizit als ›Novelle‹ bezeichnete Text der DDR-Literatur erschienen. Für Christoph Hein markierte Der fremde Freund (1982) den Durchbruch als öffentlicher Autor. Der schlesische Pfarrerssohn hatte in der DDR keine höhere Schullaufbahn einschlagen dürfen und einen steinigen Weg zurücklegen müssen, bis er Anfang der siebziger Jahre als Dramaturg und Hausautor bei der von Benno Besson geleiteten Volksbühne Berlin unterkam; vor allem mit dem Geschichtsdrama Cromwell (1978/80) erregte er Aufmerksamkeit und stellte nebenbei auch seine Affinität zu traditionsmächtigen Gattungen unter Beweis. Für sein Frühwerk bestätigt sich die so häufig konstatierte Nähe zwischen Drama und Novelle; die Ökonomie und Strenge des Erzählaufbaus, die an Der fremde Freund von Anfang an hervorgehoben wurden, sieht der Autor selbst als den »Vorteil von Dramatikern, wenn sie Prosa schreiben«.828 Ebd., S. 105f. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 151. Auch die 1991 entstandene Filmversion von Verfehlung hat, trotz einer sehr guten Besetzung (u.a. mit Angelica Domröse und Gottfried John, Regie Heiner Carow), nicht zu einer dauerhaften Etablierung des Textes im literarischen Kanon beigetragen. 828 Christoph Hein: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«. Gespräch mit Hans Brender und Agnes 823 824 825 826 827

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Aus Gründen des Titelschutzes (es war gerade erst ein Sachbuch unter diesem Titel herausgekommen829) musste Hein seine Novelle 1983 für die bundesdeutsche Ausgabe umbenennen, so dass sie in der inzwischen beträchtlichen literaturwissenschaftlichen Forschung830 oft unter dem Doppeltitel Der fremde Freund/Drachenblut firmiert. Dabei verschiebt die Titeländerung den Fokus in erheblichem Ausmaß. Der Originaltitel bezieht sich auf eine Figur, die zu Beginn des Textes schon tot ist: Denn gemeint ist der Architekt Henry Sommer, mit dem die rund vierzigjährige Krankenhausärztin Claudia über ein Jahr hinweg liiert gewesen ist und der sie durch seine Spontaneität und Risikobereitschaft immer wieder irritiert hat. Henry kommt bei einer Schlägerei ums Leben, am 18. April 1981.831 Die Novelle setzt am Tag seiner Beerdigung ein und ist als Ich-Erzählung Claudias angelegt: Mit forcierter Impassibilité berichtet Claudia über ihr Leben, das sie, wie sie immer wieder betont, im Griff hat. Auch der Verlust Henrys soll daran nichts geändert haben; rückblickend lässt sie die Beziehung mit ihm Revue passieren. Kennengelernt haben sie sich durch den gemeinsamen Wohnort, ein Hochhaus mit Einzimmerwohnungen. Claudia findet Henry attraktiv, aber er ist ihr »sehr fremd«, und obwohl sie rasch ein Verhältnis mit ihm eingeht, ist sie sich sicher: »diese Distanz würde bleiben«.832 Distanz ist das Schlüsselwort für Claudias Existenz; es scheint ihr Lebensideal, Menschen und Gefühle nicht an sich heranzulassen: »Ich bin nicht glücklich, aber ich bin auch nicht

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Hüfner. Nach dem Erscheinen von Drachenblut (1984). In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Lothar Baier. Frankfurt/Main 1990, S. 68-75, hier S. 71. Vgl. Klaus Harpprecht: Der fremde Freund. Amerika: eine innere Geschichte. Stuttgart 1982. – Nach der Wende erschien Heins Novelle beim Aufbau-Verlag zunächst weiter unter dem alleinigen Titel Der fremde Freund, spätere Ausgaben, etwa bei Suhrkamp (2002 u.ö., Suhrkamp Taschenbücher 3476) tragen den Doppeltitel Der fremde Freund. Drachenblut schon auf dem Cover. Die Übersetzungen orientierten sich stets am Originaltitel, vgl. z.B. L’ami étranger (Paris 1985), L’amico estrano (Rom 1987), El amigo ajeno (Madrid 1988), The Distant Lover (London 1989). Zitate aus Heins Text werden im Folgenden nach der westdeutschen Erstausgabe des Luchterhand-Verlags nachgewiesen: Christoph Hein: Drachenblut [Originaltitel: Der fremde Freund]. Novelle. Darmstadt 1983 [Erstveröffentlichung: Berlin, Weimar 1982]. Das internationale Interesse an Heins Novelle wird insbesondere durch eine auffällig hohe Anzahl englischsprachiger Forschungsbeiträge belegt, vgl. z.B. Gisela Shaw: Christoph Hein: The Novelist as Dramatist Manqué. In: Literature on the Threshold. The German Novel in the 1980s. Hg. v. Arthur Williams, Stuart Parkes, Roland Smith. New York, Oxford, München 1990, S. 91-105 [vor allem zu Der fremde Freund und Horns Ende]; Julia Hell: Christoph Hein’s Der fremde Freund/Drachenblut and the Antinomies oft Writing under ›Real Existing Socialism‹. In: Colloquia Germanica 25 (1992), S. 307-337; David W. Robinson: Abortion as Repression in Christoph Hein’s The Distant Lover. In: New German Critique 1993, S. 65-78; Graham Jackman: The Fear of Allegory: Benjaminian Elements in Christoph Hein’s The Distant Lover. In: New German Critique 1995, S. 164-192; Gertrud Bauer Pickar: Christoph Hein’s Drachenblut. An Internalized Novella. In: Neues zu Altem. Novellen der Vergangenheit und der Gegenwart. Hg. v. Sabine Cramer. München 1996 (= Houston German Studies, 10), S. 251-278. Das Jahr 1981 ist aus der Angabe »Im März wurde die Sommerzeit eingeführt« zu erschließen (Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 145), der »18. April« wird als Todestag Henrys genannt (S. 147). Ebd., S. 29.

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unglücklich. Ich bin zufrieden, und das ist viel«833, beteuert sie noch zu Lebzeiten Henrys. Nach Henrys Tod charakterisiert sie sich und ihren Lebensweg unter Verwendung der Drachenblut-Metapher, die im bundesrepublikanischen Ersatztitel dafür sorgt, dass nicht Henry, sondern von vornherein die Protagonistin Claudia fokussiert wird834: Ich bin gewitzt, abgebrüht, ich durchschaue alles. Mich wird nichts mehr überraschen. Alle Katastrophen, die ich noch zu überstehen habe, werden mein Leben nicht durcheinanderwürfeln. Ich bin darauf vorbereitet. Ich habe genügend von dem, was man Lebenserfahrung nennt. Ich vermeide es, enttäuscht zu werden. […] Ich bin auf alles eingerichtet, ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts mehr verletzen. Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos.835

Zugleich allerdings hat der Rezipient genügend Hinweise darauf erhalten, dass diese durch die fokalisierte Perspektive Claudias vermittelte Sicht zu hinterfragen ist: Zu ostentativ betont sie ihre Zufriedenheit; permanent konsumiert sie Medikamente, Rausch- und Suchtmittel.836 Anlässlich einer Erinnerungsreise in ihre Heimatstadt G. gibt sie außerdem Informationen preis, die eine Fülle früher, aber fortwirkender emotionaler Verletzungen offenbaren. Claudias Erfahrungen in Elternhaus und Schule machen »die emotionale Einschnürung der Hauptfigur in der Kontinuität von autoritären, erzieherischen Mustern«837 sichtbar. Onkel Gerhard, für sie »wie ein Großvater«838, wird als Nazi-Kollaborateur entlarvt und inhaftiert. Für Claudia bricht 833 Ebd., S. 147. 834 Manche Interpreten empfinden Drachenblut als den »treffenderen Titel« (Schnell: Geschichte der

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deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 467). Demgegenüber hat aber Ulrich Krellner auf die »literarisch reduktionistische Wirkung« der Titeländerung aufmerksam gemacht, da sie den Rezipienten zu früh und zu direkt auf die Bedeutung von Claudias Lebenshaltung hinweise, während der Originaltitel Der fremde Freund dazu zwinge, den Widerspruch zwischen der Titelwahl und der tatsächlich eher marginalen Rolle von Henry im Lektüreprozess erst allmählich zu realisieren. Vgl. Ulrich Krellner: Verschleierte Fremdheit. Christoph Heins Novelle Der fremde Freund/Drachenblut im Untersuchungshorizont der Theorie Bourdieus. In: Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR. Hg. v. Ute Wölfel. Würzburg 2005, S. 123-135, hier S. 127f. Gleichfalls eliminiert wird durch die Titeländerung der mögliche intertextuelle Verweis auf Albert Camus’ Der Fremde, auf den die Forschung mehrfach und unter Verweis auf Henrys »existentialistisches Pathos« (Heinz-Peter Preußer: Zivilisationskritik und literarische Öffentlichkeit. Strukturale und wertungstheoretische Untersuchung zu erzählenden Texten Christoph Heins. Frankfurt/M., Bern, New York u.a. 1991, S. 91) eingegangen ist, vgl. Anna Bronzewska: Die fremden Freunde. Zu strukturellen Gemeinsamkeiten in den Romanen Der Fremde von Albert Camus und Der fremde Freund von Christoph Hein. In: Fremde und Fremdes in der Literatur. Hg. v. Joanna Jablkowska und Erwin Leibfried. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 1996, S. 213-221. Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 154. Vgl. z.B. »Bevor ich ins Bett ging, nahm ich eine Beruhigungstablette. Das war bei mir nichts Besonderes. […] Im Kühlschrank fand ich eine angebrochene Wodkaflasche und goß mir ein Wasserglas voll ein« (ebd., S. 53). Klemens Renoldner: Vom Pathos der Sachlichkeit. Der Erzähler Christoph Hein (1990). In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Lothar Baier. Frankfurt/Main 1990, S. 128-137, hier S. 134. Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 114.

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»eine Welt zusammen«839; die gesuchte Identifikation mit der antifaschistischen Staatsdoktrin der DDR840 wird ihr durch diese Verwandtschaft unmöglich gemacht. Noch traumatischere Folgen hat die gescheiterte Jugendfreundschaft zu Katharina – »ein Mädchen, das ich so rückhaltlos geliebt hatte, wie ich nie wieder einen Menschen sollte lieben können«.841 Es waren politisch-opportunistische Gründe, die Claudia letztlich dazu bewogen hatten, sich von der gläubigen Katholikin Katharina zu distanzieren – doch sie bleibt als zutiefst Beschädigte zurück und glaubt noch als Erwachsene zu »krepieren an Sehnsucht nach Katharina«.842 Die abrupt beendete Jugendfreundschaft bildet eine »Gefühlszäsur […], die die Integration von Vergangenheit und Gegenwart blockiert und die Zukunft abschneidet«843. Claudias bleibende Unfähigkeit zur emotionalen Hingabe wird als Ergebnis der politischen Repression vorgeführt, die die Trennung von Katharina initiierte. Nicht zuletzt sind es Claudias Träume (von denen einer als kursiv gedruckter Prolog des Textes wiedergegeben wird844), die dem Leser signalisieren, dass es mit der so nachdrücklich beteuerten Zufriedenheit der Protagonistin nicht sehr weit her ist. Entsprechend muss der Rezipient aktiv werden und sich bezüglich seiner Einschätzung Claudias einer hermeneutischen Herausforderung stellen, die Christoph Hein in einem Interview wie folgt beschrieben hat: Es ist so, daß da die Person etwas behauptet, und daß der Leser etwas anderes auch liest, also das, was Tschechow einmal als den Untertext bezeichnete. Wenn die Person sagt, sie sei zufrieden und ihr gehe es gut, wird eigentlich immer etwas anderes, nicht das Gegenteil, aber etwas anderes noch erzählt. Das war für mich die Spannung dabei, diesen ganzen Untertext eben nicht zu schreiben, sondern in dieser Rollenprosa einen anderen Text darüberzulegen. Und es hat offenbar funktioniert, daß dieser Untertext deutlich wird und diese Defizite deutlich werden; daß, wann immer diese Frau sich abschottet, immer wieder der Schrei deutlich wird.845

Belege dafür, wie sehr die Figur Claudia und ihre Selbstsicht die Leser herausgefordert hat, bietet die Rezeptionsgeschichte von Heins Novelle zuhauf. Zu den spannendsten Dokumenten zählen diesbezüglich die 1983 unter der Überschrift Für und wider in den Weimarer Beiträgen veröffentlichten literaturkritischen Stellungnahmen.846

Ebd. Vgl. Preußer: Zivilisationskritik, S. 107. Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 113. Ebd., S. 154. David Roberts: Das Auge der Kamera. Christoph Heins Drachenblut. In: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1991, S. 224-243, hier S. 230. 844 Eine ausführliche Interpretation dieses Prologs »als Allegorie und Traum« liefert z.B. Preußer: Zivilisationskritik, S. 77-88. 845 Christoph Hein: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«, S. 70f. 846 Rüdiger Bernhardt, Klaus Kändler, Bernd Leistner, Gabriele Lindner, Bernd Schick, Ursula Wilke: Für und Wider. Der fremde Freund von Christoph Hein. In: Weimarer Beiträge 29 (1983), S. 16351655. 839 840 841 842 843

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Die »vielleicht ablehnendste Kritik«847 wird dort von Rüdiger Bernhardt formuliert, damals bereits Universitätsgermanist mit langjähriger Lehrerfahrung. Bei der Erstlektüre, so Bernhardt, habe ihn immerhin »die Präzision« beeindruckt, »mit der das Schicksal eines einsamen Menschen inmitten einer nicht auf Einsamkeit orientierten Umwelt geschildert wurde«.848 Schon diese Formulierung betont in auffälliger Weise, dass es nicht die »Umwelt«, anders gesagt: die DDR-Gesellschaft, sein soll, die für Claudias Einsamkeit eine Mitverantwortung trägt; im weiteren Verlauf seiner Ausführungen wird Bernhardt nicht nur von der »Präzision«, sondern genauer von der »ästhetischen Präzision«849 oder der »formalen Präzision«850 Heins sprechen und damit den Formalismus-Vorwurf in den Raum stellen, über den in der DDR häufig weltanschauliche Defizite und literarisches Scheitern attestiert wurden. Eine wesentliche Erfahrung, die Bernhardts anfängliche »Achtung« vor dem Buch in »Distanz, ja, Ablehnung« habe umschlagen lassen, seien Gespräche, »vor allem mit Studenten«851, gewesen. Deren Sympathien für den Text hätten sich »weniger aus dem Abstand zu seiner Hauptgestalt, mehr aus der Bestätigung der dort ausgewiesenen Erfahrungen«852 gespeist. Hier setzt Bernhardts Kritik an: Die intellektuelle Claudia sei doch derart privilegiert, dass sie »in einem hohen Maße auch andere gesellschaftliche Erfahrungen« als Fremdheit und Isolation hätte machen müssen – »sie hat studiert, sie war Gewerkschaftsfunktionär, sie hatte vielfältigen Kontakt, sie hatte ein proletarisches Elternhaus«. Zudem sei das Figurenensemble, dem Claudia begegne, so vielfältig, dass es »wie ein Querschnitt der Bevölkerung« anmute, doch die Ärztin nutze »diese Bekanntschaften nicht im Sinne des gegenseitigen Austauschs, sondern als Möglichkeit gehässigen Beobachtens«.853 Hein erzeuge damit den »Eindruck, daß die Fremdheit und Isolation der Ich-Erzählerin weniger aus ihrer Veranlagung entsteht, sondern Folge ihrer Erfahrungen und Erlebnisse ist«; Claudias Schicksal werde nicht als »außergewöhnliches«, sondern als »repräsentatives« geschildert. Die Fähigkeit des Durchschnittslesers zur »kritischen Distanz«854 habe der Autor dabei entschieden überschätzt: »[D]iese Ich-Erzählerin wird […] so ausgestellt, daß für sie keine anderen als die geschilderten Erfahrungen vorhanden sind«.855 Claudia mache im Laufe des Textes keinerlei Entwicklung durch und werde in ihrer nihilistischen Weltanschauung an keiner Stelle korrigiert – für Bernhardt ein Ausdruck der »mangelnde[n] Fähigkeit des Autors, trotz der im einzelnen möglichen Erfahrungen seiner Figuren die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft im 847 Bernd Fischer: Christoph Hein: Der fremde Freund. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Inter848 849 850 851 852 853 854 855

pretationen. Bd. 2. Stuttgart 1996 (= RUB 9463), S. 252-273., hier S. 254. Bernhardt u.a.: Für und wider, S. 1635. Ebd., S. 1635. Ebd., S. 1638. Ebd., S. 1635. Ebd. Ebd., S. 1636. Ebd., S. 1637. Ebd.

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Blick zu halten«.856 Bernhardts Ausführungen sind paradigmatisch für die Ambivalenz, mit der Der fremde Freund in der DDR gelesen werden musste: Heins IchErzählerin protokolliert scheinbar subjektive und individuelle Erfahrungen, die sie von politischen und gesellschaftlichen Kontexten auffällig abstrahiert. Seine Gespräche mit Studierenden konfrontierten Bernhardt mit der für ihn erschreckenden Bereitschaft junger, intellektueller DDR-Bürger, sich mit Claudias Ansichten zu identifizieren – damit allerdings würden Claudias Erfahrungen genau die Repräsentativität gewinnen, die ein überzeugter Sozialist ihnen absprechen muss, wenn er den Schritt zu einer gesellschafts- und zivilisationskritischen Lesart vermeiden will. Gerade in ihrer strikten Ablehnung freilich verweist Bernhardts Rezension auf die Gründe dafür, dass Der fremde Freund »binnen kurzem zu einem der meistgelesenen, meistdiskutierten Bücher in und aus der DDR«857 avancierte. Heins raffiniert kalkulierte Erzählstrategie eröffnete die Möglichkeit, die auf explizite politische Kommentare weitgehend verzichtende Novelle als einen Text zu lesen, der Auskunft gibt über »die Zurichtung des Subjekts unter den Bedingungen seines Landes«.858 Gerade die Subjektivierung von Erfahrungen verweist hier häufig auf einen impliziten gesellschaftlichen Grund, der durch seine gezielte Ausblendung umso deutlicher bewusst wird. Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Verfahrensweise sind Claudias Gedanken über das Reisen: Ein paar Landschaften möchte ich noch kennenlernen, aber ich bin nicht sicher, daß es mir gelingen wird. Ich würde gern nach Rom fahren und in die Provence. Außerdem möchte ich Kanada kennenlernen und ein mittelafrikanisches Land. […] Aber ich bin jetzt vierzig und war noch nicht dort, und ich weiß nicht, ob es mir in den nächsten zehn Jahren gelingen wird. Wenn ich alt bin, möchte ich nicht mehr reisen. Es wird alles zu anstrengend.859

Hier ist keine Rede von der fehlenden Reisefreiheit in der DDR: »Die von den bestehenden politischen Verhältnissen faktisch auferlegte Beschränkung wird umgedeutet in eine Frage des individuellen ›Gelingens‹ oder Scheiterns«.860 Lizensiert wird damit zugleich eine Lesart, die die von Claudia artikulierten Erfahrungen weder als individuell noch als abstrakt, sondern als wesentlich mitbestimmt durch eine konkrete soziale Realität deutet und die scharf begrenzte Ich-Perspektive der Novelle als »psychosoziale Überlebenstechnik«861 der Protagonistin durchschaut. Während Heins Novelle in Ostdeutschland »überwiegend auf Referentialität hin«862 gelesen wurde, als Darstellung der DDR-Gesellschaft im Jahrzehnt ihres Niedergangs, interpretierte man sie in westlichen Ländern und insbesondere in der Bundesrepublik eher als Text, der universelle Entfremdungserfahrungen der Moderne 856 857 858 859 860 861 862

Ebd., S. 1638. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 306f. Ebd., S. 306. Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 152f. Krellner: Verschleierte Fremdheit, S. 130. Ebd., S. 130. Ebd., S. 125.

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artikuliert: Isolierung und Anonymisierung, das »Versagen echter Kommunikation«863, emotionale Verarmung, der Bedeutungsverlust von familiären Bindungen, berufliche Routine, strukturelle und konkrete männliche Gewalt, Sexismus, Abtreibung, Werteverfall, Apathie und Orientierungslosigkeit – »all das sind Themen, die von der politischen Ausrichtung einer modernen Industriegesellschaft offenbar nur zum geringeren Teil modifiziert sind«864, so dass der Text »die Frage nach den Kosten der Zivilisation in zeitgenössischen Gesellschaften sowohl im Osten als auch im Westen«865 stelle. Entsprechend intensiv haben die Rezensenten, aber vor allem die literaturwissenschaftliche Forschung auf die Beziehungen verwiesen, die zwischen Heins Novelle und der Zivilisationskritik etwa von Sigmund Freud, Herbert Marcuse oder Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gestiftet werden können.866 Doch keine der vielfältigen Deutungen kommt daran vorbei, die Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt zu stellen. Der Name ›Claudia‹, etymologisch vom lateinischen Verb ›claudere‹ abzuleiten, fokussiert bereits das Verschlossene, Verschwiegene, Abgekapselte dieser Figur867 – ein Element, das auch mit der formalen ›Geschlossenheit‹ des Textes korrespondiert. Hein lässt seine Novelle beginnen mit dem Satz »Am Anfang war eine Landschaft«; am Schluss steht ein explizites »Ende.«868 Der Kreis hat sich geschlossen; in 12 Kapiteln und einem Prolog ist eine Zeitspanne von etwa 12 Monaten durchschritten worden.869 Die sprachliche Gestaltung bewirkt die notwendige Verdichtung, wie schon die ersten Rezensenten betont haben: »Dieser Text ist aufs konzentrierteste durchgearbeitet und geformt. Kaum ein Detail, das beiläufig bliebe und sich verlöre; kein Faden, der nicht kunstvoll verwoben wäre; keine Sequenz, auf die, ohne daß dem Ganzen Schaden zugefügt würde, verzichtet werden könnte«.870 Als Beispiel werden häufig das Filzhut-Motiv871 genannt (nach Ansicht von Gertrud Bauer Pickar »the work’s Falke«872) oder Claudias Faible für das Photographieren menschenleerer Landschaften873 (Wolfgang Rath zufolge das »Leit-

863 Ilse-Marie Gates: Christoph Heins Novelle Der fremde Freund (oder Drachenblut) – ein fiktionaler

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Bericht moderner Kommunikationschwierigkeiten [!]. In: Carleton Germanic Papers 18 (1990), S. 51-73, hier S. 62. Bernd Fischer: Drachenblut. Christoph Heins »Fremde Freundin«. In: Colloquia Germanica 21 (1988), S. 46-57, hier S. 51. Roberts: Das Auge der Kamera, S. 224. Vgl. bes. Preußer: Zivilisationskritik und literarische Öffentlichkeit, S. 77-112. Vgl. zu dieser Deutung des Namens bereits Rolf Michaelis: Leben ohne zu leben. In: Die Zeit, 11.11.1983. Vgl. Hein: Drachenblut [Der fremde Freund], S. 5, 156. Vgl. Bärbel Lücke: Christoph Hein, Drachenblut. München 1989 (= Oldenbourg Interpretationen, 38), S. 81-85. Leistner in: Für und Wider, S. 1642. Henry trägt bei seiner ersten Begegnung mit Claudia einen Filzhut, der mehrfach erwähnt wird und auch den Anlass für den Streit mit den Jugendlichen bildet, in dessen Folge er ums Leben kommt; nach seinem Tod wird der Filzhut Claudia überreicht, die ihn in den Müllschlucker wirft. Bauer Pickar: Christoph Hein’s Drachenblut, S. 254. Vgl. zu diesem Motivkomplex besonders Roberts: Das Auge der Kamera.

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motiv der Novelle«874) ; eine Reihe weiterer Motive, insbesondere Todesmotive, ließe sich ergänzen875, und auch das Hochhaus, in dem keiner den anderen kennt und Tote tagelang unbemerkt bleiben, ist sinnvoll als »Dingsymbol der Vereinzelung und der Gleichförmigkeit«876 oder »Kernsymbol der individuell verkrüppelten Gesellschaft«877 gedeutet worden. Die vielfach untersuchte Erzählperspektive hat vor allem Gertrud Bauer Pickar überzeugend mit der Novellentradition verknüpft, indem sie Heins Gattungsbeitrag als »internalized Novella« interpretierte: Das ursprüngliche gesellige Erzählen Boccaccios sei bereits in Grass’ Katz und Maus und Walsers Ein fliehendes Pferd der stärker verinnerlichten Erzählerposition der Figuren Pilenz und Halm gewichen, doch erst das Erzählmedium Claudia sei »both the narrating consciousness and, in a sense, the only audience for her thoughts and recollections«.878 Auch die zyklische Struktur der Novelle kann Bauer Pickar gattungshistorisch einordnen. Sie verweist auf die typische Entwicklung einer Novellenhandlung aus einer gestörten Ordnung heraus; die zu Beginn in die Gesellschaft integrierten Protagonisten würden durch den Einbruch unkontrollierbarer Umstände in eine tiefe Krise gestürzt, bis sich am Ende der Novelle der Ausgangszustand auf positive oder negative Weise wiederherstelle: In accord with the internalized nature of Hein’s novella, the disturbance recorded in Drachenblut is in essence »love«, an emotion that Claudia had carefully exorcised from her life but which, despite her firm resolve, was rekindled after Henry entered her life; his violent death returns Claudia to her prior life-style and renewed insistence on her invulnerability. However, while Drachenblut, like the traditional novella, concludes with a reestablishment of the initial state of order – that order is covertly revealed as neither operative nor moral.879

So zeigt sich gerade im vordergründig »krisenlosen (d.h. krisenbewältigenden, krisenleeren und krisenverdrängenden)880« Bild einer weiblichen Biographie, in welche existentielle Dauerkrise Claudia geraten ist. »Die demonstrative Genrebezeichnung ›Novelle‹ […] kann sarkastisch gelesen werden im Einverständnis mit der Figur, die gerade die Möglichkeit unerhörter Begebenheiten für sich völlig ausschließt oder gleichermaßen gegen sie, also ironisch die Sicht der Figur in Frage stellend«.881 Dass solche gattungsgeschichtlich inspirierten Überlegungen nicht in den Text hineinprojiziert werden, sondern auf ein entsprechendes Gestaltungsbedürfnis des Autors reagieren und durch dieses hervorgerufen werden, belegt eine Interviewäuße874 Rath: Die Novelle, S. 326. 875 Vgl. Lücke: Christoph Hein, Drachenblut, S. 54-69. 876 Walburga Freund-Spork: Jeder für sich. Christoph Hein: Drachenblut (1982). In: Deutsche Novellen.

877 878 879 880 881

Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. v. Winfried Freund. München 1993, S. 291-300, hier S. 296. Freund: Novelle, S. 305. Bauer Pickar: Christoph Hein’s Drachenblut, S. 254. Ebd., S. 267. Aust: Novelle, S. 195. Lindner in: Für und Wider, S. 1647.

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rung, die im Folgenden ausführlich zitiert sei – denn sie beinhaltet mehr als nur das Bekenntnis Christoph Heins, man solle auf seine (im Fall der Novelle) spezifisch deutsche »Tradition« achten: Ich hatte bei Betrachten meiner Geschichte festgestellt, sie erfüllt all das, was eine Novelle im klassischen Sinn erfüllen muß. Etwa die Geschlossenheit in Zeit und Raum, das ist mit dem Jahr und den kleinen Ausschnitten eines Lebens gegeben; das Zweite: mit größter Distanz erzählt. Wenn ein Mann die Geschichte einer Frau erzählt, dann ist das schon ein ziemlich große Distanz, denke ich; und ich glaube, die Distanz ist auch mitgeschrieben, insofern als ich immer als Mann sage, was ich meine, was eine Frau meint. Dieses Spielerische ist auch da, und das ist ebenfalls eine Distanz. Was das unerhöhrte [!] Ereignis angeht: In einer westdeutschen Kritik las ich, daß ich mit dem Henry freundlicher umgehen würde, weil ich ihn wenigstens sterben lasse. Dem kann ich mich anschließen. Ich fand, das Leben dieser Ärztin ist schrecklicher als das, was Henry passiert, und insofern meine ich, es kann kein unerhörteres Ereignis geben als diese Mitteilung über ein Leben, das gar kein Leben mehr ist. Und so dachte ich, es sind alle Bestimmungen einer Novelle erfüllt. […] Im Grunde handelt die ganze Novelle nur über das Leben einer Frau, die darüber erzählt, daß sie gern leben möchte. Das ist der Punkt, das habe ich von der ersten bis zur letzten Seite so durchgeführt, daß man genötigt ist, diese Mitteilung als ein unerhöhrtes [!] Ereignis anzunehmen und nicht das äußere Ereignis: einer wird erschlagen, einer stirbt. Auf diese Art zu leben ist viel schlimmer, als mit einem Tod aussteigen zu können.882

Die Konzeption und explizite Bezeichnung als ›Novelle‹ ist damit klar als Teil einer literarischen Wirkungsstrategie ausgewiesen. Der Autor Christoph Hein reflektiert eine Gattungstradition, um sie auf überraschende und ›neuartige‹ Weise fortzusetzen; die Art, wie er es tut, führt zugleich die Geschichte der ›sozialistischen Novelle‹ an einen radikalen und ideologiekritischen Schlusspunkt. Claudias Fähigkeit zum Weiterleben, ihre Abschottung in vorgeblicher ›Zufriedenheit‹ erreicht einen Grad, der das Unauffällige schon wieder ins ›Unerhörte‹ umschlagen lässt und spiegelt dabei die Negativität einer Existenz, die zu Anspruch und Ideal der sozialistischen Gesellschaft in extremen Widerspruch geraten ist – in einen Widerspruch, der innerhalb des real existierenden Sozialismus durch keine Dialektik mehr aufgehoben werden konnte.

882 Hein: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«, S. 72f.

V. Schluss

Ich hätte absolut keine Lust, eine sogenannte Novelle zu schreiben, allein das Wort ekelt mich schon so sehr, wie vielleicht nur noch das Wort: Stories, oder gar Short Stories. Aber ich zweifle überhaupt nicht, daß irgendwer, den diese von diesem Wort vorgegebene Formphantasie so richtig kickt, eine vollamtliche sogenannte Novelle würde schreiben können, heute. Eine wahrscheinlich bessere, als irgendein blöder Tieck, oder wie hießen oder heißen diese klassischen Novellenheinis?1

Provokant und salopp weist Rainald Goetz die Novellenform hier für seine eigenen literarischen Aussageabsichten zurück – trotzdem macht seine Äußerung zweierlei deutlich. Erstens: Noch heute wirkt der Begriff ›Novelle‹ suggestiv, ruft bei Autoren Formvorstellungen hervor, die sich der intertextuellen Vernetzung mit einer großen Tradition verdanken und die den kreativen Prozess entscheidend stimulieren.2 Und zweitens: Bei aller erkennbaren Ironie gesteht Goetz zu, dass »vollamtliche« Novellen weiterhin möglich bleiben. Sie sind nicht zwangsläufig als epigonal abzuwerten, sondern potentiell in der Lage, die Gattungsgeschichte auf qualitativ hohem Niveau fortzusetzen und sogar kanonisierte Vorbilder zu übertreffen. Dieser Auffassung entspricht, dass sich im 21. Jahrhundert bisher keinerlei Anzeichen für einen Rückgang der relativen Beliebtheit erkennen lassen, die ›Novellen‹ seit dem Ende der 1970er Jahre wieder gewonnen haben. Gleich nach der Millenniumswende beispielweise erschien ein breites Spektrum bedeutender Gattungsbeiträge: Es umfasst Josef Winklers hochartifizielle ›römische Novelle‹ Natura morta genauso wie Helmut Kraussers vom Rowohlt-Verlag als »Krimipornomelodram« beworbene Schmerznovelle; neben Thomas Hürlimanns unter Verschlüsselungsaspekten vieldiskutierter Novelle Fräulein Stark findet sich die Aussteigerphantasie Der fernste Ort, die der 1975 geborene Daniel Kehlmann noch vor seinem Durchbruch zu frühem Weltruhm publizierte; Dirk Kurbjuweits anrührende Novelle einer Jugendfreundschaft Zweier ohne (bereits in den Deutschunterricht aufgenommen3) und Hartmut Langes musikalisch wie psychologisch subtile Novelle Das Streichquartett gehören ebenso zu den Novellen-Neuheiten des Jahres 2001 wie Thomas Lehrs erzähleri1 2

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Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt/M. 1999, S. 93. Im Kontext einer psychoanalytischen Kreativitätstheorie wären diese Vorstellungen als Bestandteile der »Opus-Phantasie« zu fassen, die Peter von Matt als »Schaltstelle zwischen Ich-Phantasien einerseits, literarisch-formalen Traditionen und sozialen Zwängen andererseits« definiert hat; vgl. Peter von Matt: Die Opus-Phantasie. Das phantasierte Werk als Metaphantasie im kreativen Prozeß. In: Psyche 33 (1979), S. 193-212, hier S. 205. Vgl. Sabine Pfäfflin: Dichte Symbolik und spannende Lektüre: Dirk Kurbjuweits Novelle Zweier ohne im Unterricht. In: Literatur im Unterricht 9 (2008), S. 39-56.

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sches Experiment Frühling oder Günter Herburgers spannender Versuch, seine unter dem Titel Humboldt veröffentlichten ›Reise-Novellen‹ aus Bild-Text-Relationen zu entwickeln.4 ›Novellen‹ werden im 21. Jahrhundert also weiterhin geschrieben und finden ihre Leser: Gegen Ende der ersten Dekade bescheinigte das deutsche Feuilleton dem Altmeister Siegfried Lenz einmütig, mit seinem späten Novellendebüt Schweigeminute (2008) ein wichtiges und vielleicht »sein schönstes«5 Werk vorgelegt zu haben, und so unterschiedliche Autoren wie Botho Strauß und Matthias Politycki, Marion Poschmann und Klaus Merz entdecken die Gattung für sich.6 Darüber hinaus bestätigt eine Reihe neuerer Verfilmungen die stabile Wertschätzung des Novellengenres.7 Schon den Novellen des späten 19. Jahrhunderts ist retrospektiv eine besondere Affinität zum Medium Film attestiert worden, etwa den Gattungsbeiträgen Theodor Storms8: Als »potentielles Szenario«9 bringen Novellentexte meist die Konzentration auf das Wichtigste, einen beschränkten Personenkreis, eine einsträngige Handlungsführung mit, und gegenüber einer Dramatisierung ist das Medium Film insofern privilegiert, als wechselnde Kameraperspektiven auch diejenigen Elemente von Novellentexten medial transformieren können, die auf der Bühne kaum adäquat umzusetzen wären. Doch obwohl die Grenze zum 21. Jahrhundert aus heutiger Sicht weder einen allgemein literarhistorischen noch einen auf die Gattung ›Novelle‹ bezogenen Einschnitt markiert, muss eine historisch orientierte Untersuchung einen Schlusspunkt setzen können. Die vorliegende Arbeit hat versucht, in drei großen, bestimmten Zeitabschnitten gewidmeten Kapiteln zu zeigen, wie die Semantisierung der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ im 20. Jahrhundert ausgesehen hat, welchen historischen Prägungen diese ausgesetzt war und welche dominierenden Gruppen und Tendenzen sich aus der Fülle der Einzeltexte herausgreifen lassen. Zweifellos – das ist der Ausgangspunkt der Untersuchung – liegt der expliziten Verwendung der paratextuellen Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ nach 1945 eine grö4

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Diese emblematisch inspirierte Bild-Text-Verbindung führt Herburger im Genre der von ihm so genannten ›Photonovelle‹ noch weiter; seine entsprechenden Bände Das Glück (1994), Die Liebe (1996) und Der Tod (2006) hat er 2006 zusammengefasst unter dem Titel: Trilogie der Verschwendung. Photonovellen. München 2006. Marcel Reich-Ranicki: Bettgeschichten hatten für ihn nie Beweisqualität. Schweigeminute von Siegfried Lenz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.2008. – Wie Walsers Ein fliehendes Pferd erschien Schweigeminute zuerst als Vorabdruck in der F.A.Z. Vgl. Botho Strauß: Die Unbeholfenen. Bewusstseinsnovelle. München 2007; Marion Poschmann: Hundenovelle. Frankfurt/M. 2008; Matthias Politycki: Jenseitsnovelle. Hamburg 2009; Klaus Merz: Der Argentinier. Novelle. Innsbruck 2009. Genannt seien die (zweite) Verfilmung von Walsers Ein fliehendes Pferd (D 2007, Regie: Rainer Kaufmann), die Adaptionen von Timms Die Entdeckung der Currywurst (D 2008, Regie: Ulla Wagner) und Dirk Kurbjuweits Zweier ohne (D 2008, Regie: Jobst Oetzmann) sowie die für 2010 angekündigte Adaption von Siegfried Lenz’ Schweigeminute. Vgl. Klaus M. Schmidt: Novellentheorie und filmisches Erzählen vor dem Hintergrund moderner Stormverfilmungen. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 48 (1999), S. 95-125, bes. S. 102104. Winfried Freund: Theodor Storm. Stuttgart, Berlin, Köln u.a. 1987, S. 104.

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ßere Bewusstheit von Seiten der Autoren zugrunde als jemals zuvor in der Gattungsgeschichte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die als ›typisch‹ erachteten Merkmale einer ›Novelle‹, zusammengestellt aus Äußerungen kanonisierter Autoren und als paradigmatisch anerkannten Gattungsbeiträgen, zur Grundlage einer klassizistischen Novellenproduktion geworden, durch die der Terminus ›Novelle‹ zunehmend in konservativ-traditionalistischem Sinn semantisiert wurde. Was die Zeitgenossen unter einer ›Novelle‹ verstanden und von einer solchen erwarteten, wurde nicht durch die heute zu Recht kanonisierten Novellen Arthur Schnitzlers oder gar Franz Kafkas bestimmt, sondern durch die damals hochgelobten und vielgelesenen Gattungsbeiträge von Paul Ernst, Rudolf G. Binding, Emil Strauß, Hans Franck oder Wilhelm Schäfer. Diesen Autoren gelang eine programmatische Amalgamierung des Novellenbegriffs mit ideologischen Vorstellungen von ›Formstrenge‹, ›Eindeutigkeit‹, ›Haltung‹, ›Männlichkeit‹ und ›Deutschtum‹; die Gattungsbegriffe ›Novelle‹ und ›Erzählung‹ sahen sie in analoger Dichotomie zu der für das literarische Feld der Weimarer Republik besonders typischen Unterscheidung von ›Dichter‹ und ›Literat‹. Gefördert wurde diese semantische Besetzung allerdings auch durch ein zunehmendes Desinteresse ›moderner‹ Autoren an einem Prosagenre, das von seiner Tradition her besonders eng mit der Fokussierung von Einzelschicksalen und der Darstellung überschaubarer Lebenswelten verbunden war: Wenn eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ausrichtung auf die Lebensformen der Masse und der städtischen Kollektivität als wichtiges Kennzeichen der klassischen Moderne gilt, dann ist es nur konsequent, dass viele Autoren sich der immer komplexer werdenden Wirklichkeit in erster Linie über die Form des Romans, auch eines offenen, vielfach fragmentierten oder montierten Romans zu nähern versuchten. ›Masse‹ als Phänomen lässt sich in der Novelle kaum darstellen (und wenn, dann am ehesten aus der ablehnenden Perspektive Einzelner auf das Kollektiv10); ebenso wenig ist die Novelle geeignet, die Vielseitigkeit, die Simultaneität und das Tempo großstädtischer Lebenswelten zu erfassen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat Ernst Glaeser die gattungsgeschichtlich relevante Problematik noch einmal rekapituliert: »In einem Zeitalter, das sich immer mehr in das Problem des Massenhaften verstrickt«, sei es nur konsequent, wenn die dem Einzelschicksal verpflichtete Novelle »durch die soziologische Psychologie großer und im kämpferischen Sinne verdienstvoller Romane abgelöst und verdrängt« werde, denn nur diese könnten »dem Widerspiel und dem Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte«11 in einer Ära der weltweiten Krisen und Kriege gerecht werden. Die Renaissance der Novelle sagt Glaeser allerdings für eine Zeit voraus, in der »Verträge verträglich machen und die edle Hand der Vernunft das Zünglein des Ausgleichs anhält und schützt«12 - weniger pathetisch ausgedrückt: 10 Beispiele dafür finden sich in der Novellenliteratur zuhauf, etwa in Bruno Franks Politischer Novelle,

Gertrud von le Forts Die Letzte am Schafott oder Gottfried Benns Der Ptolemäer, vgl. die entsprechenden Kapitel dieser Arbeit. 11 Glaeser: Die Kunst der Novelle, S. 195, 196. 12 Ebd., S. 197.

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Stabilisierte politische Verhältnisse sowie verbesserte und konsolidierte Lebensbedingungen der Menschen werden das Interesse an Einzelschicksalen wieder fördern und damit eine Erneuerung der Novelle bewirken. Auch wenn Begriffe wie ›Individuum‹, ›Vernunft‹ und ›Schicksal‹ dafür durch einen intensiven, ›postmodernen‹ Prozess der Problematisierung und Hinterfragung gehen mussten, könnte man von heute her gesehen konstatieren, dass diese Perspektive langfristig eingelöst worden ist. Zunächst allerdings schien die Gattung ›Novelle‹ in der Nachkriegszeit weiterhin marginalisiert. War es in der Weimarer Republik vor allem die Polyphonie des modernen Romans gewesen, mit der verglichen die Novelle als relativ begrenzte Erzählform empfunden wurde, so schienen in den fünfziger Jahren die radikalen Verknappungsmöglichkeiten, die Ausschnitthaftigkeit und die konzeptionelle Offenheit der Kurzgeschichte adäquater, um die zeitgenössische Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen. Wer sich in der Nachkriegszeit als junger und ›moderner‹ Autor verstand, schrieb in der Regel keine ›Novellen‹, so dass die Kontinuität der konservativtraditionalistischen Novellistik nicht gefährdet war. Zeitgenössische Novellen, die in der frühen Bundesrepublik wie auch in der frühen DDR entstanden, weisen meist in die Vergangenheit zurück und orientieren sich an älteren Mustern. Geschrieben wurden sie, darin die gattungstheoretische Programmierung der ersten Jahrhunderthälfte fortsetzend, vor allem dort, wo es um ›Verbindlichkeit‹, ›Perspektivegewissheit‹ und ›Wertebewusstsein‹ ging. Dabei kommt es oft zu erstaunlichen Berührungen zwischen Vertretern gegensätzlicher Weltanschauungen, etwa wenn die Kommunistin Anna Seghers und der Reaktionär Friedrich Franz von Unruh sich jeweils um eine Kleist-Nachfolge bemühen, die in beiden Fällen die Polyvalenzen des großen Vorbilds negiert und in eine fragwürdige Eindeutigkeit überführt – die gesellschaftspolitischen Extreme begegnen sich in ihrer geringen Kontingenztoleranz. Wo die deutsche Novellenproduktion der Nachkriegsjahre nicht dezidiert konservativ, christlich oder sozialistisch geprägt ist, versteht sie sich häufig als Beitrag zur memoria an große Künstlerpersönlichkeiten und verfolgt damit einen kulturellen Wert, der als Residuum der Bildungsidee zu den wenigen Vorstellungen gehörte, die man (die unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen beiseitelassend) mit Blick auf die beiden deutschen Staaten als systemübergreifend charakterisieren könnte. Die Abgrenzung von ›Novelle‹ und ›Kurzgeschichte‹ ist für die fünfziger Jahre bedeutend, wobei die ›Kurzgeschichte‹ stets als die ›modernere‹ Gattung betrachtet wird; allerdings ist festzuhalten, dass der Versuch, die Kurzgeschichte gegen die Novelle auszuspielen, nicht erst aus den spezifischen Konstellationen der literarischen Nachkriegszeit erwachsen ist, sondern eine Vorgeschichte in der NSZeit hat, die einmal mehr belegt, wie komplex die Gemengelage aus (fragwürdig gewordener) Tradition und (eher proklamiertem als realisiertem) ›Kahlschlag‹ nach 1945 ist. Es war schließlich Günter Grass mit Katz und Maus, der einerseits bestimmte als ›gattungstypisch‹ angesehene Elemente der ›Novelle‹ kommunizierte, sich aber andererseits nicht im traditionellen Spektrum der zeitgenössischen ›Novellisten‹ verorten ließ. Katz und Maus gehört, als Einzelwerk betrachtet, zu den wichtigsten und ästhe-

Schluss

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tisch bedeutsamsten Novellentexten des 20. Jahrhunderts, blieb aber in gattungshistorischer Hinsicht insofern folgenlos, als die Verwendung der Gattungsbezeichnung in den sechziger und frühen siebziger Jahren einen quantitativen Tiefpunkt erreichte. Erst Martin Walsers Ein fliehendes Pferd steht am Anfang einer Novellen-Renaissance in der deutschsprachigen Literatur, die bis zur Jahrtausendwende rund 250, bis heute mehr als 300 neue, ausdrücklich als ›Novellen‹ bezeichnete Texte hervorgebracht hat. Die Gründe dafür sind hauptsächlich in einer ›Wiederkehr des Erzählens‹ zu suchen: Mit dem Beginn der sogenannten Postmoderne hatten viele bundesrepublikanische Autoren ein vitales Interesse, sowohl den Konstruktcharakter als auch den literarisch-ästhetischen Anspruch ihrer Texte verstärkt zu kommunizieren – für diesen Anspruch schien der Gattungsbegriff ›Novelle‹ gerade dadurch geeignet, dass er auf eine große Tradition verweist, aber eine Reihe von Jahren außer Gebrauch geraten war. Hinzu kommt, dass der ironische und relativierende Zugriff der Postmoderne auch ein Spiel mit alten Normen ermöglicht; literarische Traditionsbestände werden so zum Material hochgradig bewusst gehandhabter, intertextueller Verweisungszusammenhänge, Begriffe und Vorstellungen vom ›Erzählen‹, von der ›Persönlichkeit‹, von der ›Individualität‹ oder von der ›Bedeutung‹ von Einzelschicksalen, können, nachdem sie langwierige Prozesse der Entlarvung und ›Dekonstruktion‹ durchlaufen haben, wieder verwendet und literarisch umgesetzt werden, ohne als Relikte vormoderner Selbstdefinition zu gelten. So wird die Neuakzentuierung des ›Novellen‹Begriffs im Kontext eines bewusst ›experimentellen‹ Schreibens ebenso möglich wie die programmatische Innovierung der biographischen Künstlernovelle vor dem Hintergrund gewandelter Konzepte des historischen Erzählens; Autoren von Martin Walser bis Uwe Timm, von Helmut Heißenbüttel bis Thomas Lehr, von Gert Hofmann bis Thomas Hürlimann leisten auf individuell sehr verschiedene Art und Weise den Anschluss der Novelle an die Gegenwartsliteratur. Der unterschiedlichen Entwicklung in der DDR versucht die vorliegende Darstellung gerecht zu werden, indem sie den Bruch zwischen einer ›traditionalistischen‹ Novellenauffassung, die die Gattung als besonders geeignet für die Literaturkonzeption des sozialistischen Realismus ansah, und dem Bemühen, auch zunehmende Zweifel an den ideologischen Voraussetzungen des Sozialismus unter der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ zu behandeln, an paradigmatischen Einzeltexten nachweist; Christoph Heins Der fremde Freund ist in dieser Hinsicht als besonders komplexer Novellentext hervorzuheben. Natürlich wären andere Versuche denkbar, insbesondere die Vielfalt der Novellenproduktion seit den späten 1970er Jahren zu gliedern; jede Ordnung hat ein konstruktives Element, das von der Subjektivität des Ordnenden nicht zu lösen ist – und jedes Ordnungsprinzip wird unterschiedliche Einzeltexte besonders hervorheben.13 13 Dieses Problem potenziert sich außerdem in dem Moment, in dem sich eine novellenhistorisch

orientierte Untersuchung der für meine Arbeit konstitutiven und vorab begründeten Entscheidung nicht anschließen würde, für die Zeit nach 1945 nur das als ›Novelle‹ zu betrachten, was der Autor als ›Novelle‹ bezeichnet; in diesem Fall nämlich wäre eine riesige Fülle literarischer Kurzprosa auf ihre Affinität zu einer (wie auch immer zu fixierenden) Novellenform hin zu untersuchen und würde das Textkorpus potentiell unübersehbar.

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Schluss

Die vorliegende Arbeit wollte sowohl herausragenden Gattungsbeiträgen gerecht werden als auch die vor allem quantitativ relevanten Untergruppen innerhalb der Novellenproduktion erfassen und charakterisieren. Selbstverständlich konnte nicht jede und nicht einmal jede ästhetisch bedeutende Novelle des Untersuchungszeitraums vorgestellt werden. Vor allem im letzten Kapitel wurde der Schwerpunkt auf diejenigen Novellen gelegt, die bis zur Mitte der 1980er Jahre erschienen sind, um die gattungsgeschichtliche Situation in der Zeit besonders deutlich profilieren zu können, in der ›Novellen‹ wieder in Mode gekommen sind. Die Folge dieser Entscheidung ist, dass viele Novellen aus den 1990er Jahren und aus den ersten Jahren um die Jahrtausendwende herum trotz ihrer Qualität keine ausführliche Würdigung erfahren haben – das gilt zum Beispiel für Franz Hohlers beeindruckende, in der Schilderung von Naturgewalten an Jeremias Gotthelf und Adalbert Stifter anknüpfende Novelle Die Steinflut oder für Hanna Johansens Kurnovelle, die die allmähliche Entfremdung eines Ehepaares subtil nachzeichnet, für Michael Kleebergs Novelle Barfuß, die die lustvolle Selbstzerstörung des dreißigjährigen Werbefachmanns Arthur K. inszeniert (und inzwischen schon Gegenstand einer eigenen, monographischen Darstellung geworden ist14), für Norbert Gstreins Novelle einer authentischen Ballonfahrt O2 oder für Peter Turrinis historische Künstlernovelle über Die Verhaftung des Johann Nepomuk Nestroy. Alle diese Beispiele stehen in vielfältiger intertextueller Verbindung zu großen Vorgängern und würden Einzeluntersuchungen verdienen, die aber die Möglichkeiten des vorliegenden Versuchs zur Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert sprengen würden. Literaturgeschichte ernst zu nehmen bedeutet, sie nicht auf eine Abfolge herausragender, isolierter Einzelwerke und genialer Autoren zu reduzieren. Ohne Zweifel treten gattungshistorisch wirksame Elemente in Texten mittlerer Qualität genauso stark und oft sogar stärker hervor als in solchen, die der sogenannten Höhenkammliteratur zugerechnet werden. Doch kein Text, so originell und innovativ er auch sein mag, wird zur Gänze außerhalb des gattungsgeschichtlichen Erwartungshorizonts rezipiert, den er implizit (etwa durch seine Medialität, seine Länge, bestimmte Strukturen) oder explizit (besonders durch eine paratextuelle Gattungsbezeichnung) aufruft. Diesen Erwartungshorizont prägt eine Fülle einzelner Gattungsbeiträge, von denen nicht jeder sub specie aeternitatis Bestand haben kann; ihn so präzise wie möglich zu rekonstruieren ist jedoch die Voraussetzung dafür, Novellentexten der Vergangenheit und Gegenwart gerecht zu werden. Dass die deutschsprachige Novellistik auch im 21. Jahrhundert um neue Gattungsbeiträge vermehrt wird, belegt in eindrucksvoller Weise, wie bereichernd der Rückbezug auf erzählerische Traditionen auch heute noch wirken kann. Bedingung für ein adäquates Verständnis bleibt dabei allerdings die Bereitschaft der Produzenten wie der Rezipienten, sich auch weiterhin auf die Geschichte dieses vielfältigen Genres zu besinnen und sie im Lektürevorgang 14 Vgl. Branka Schaller-Fornoff: Novelle und Erregung. Zur Neuperspektivierung der Gattung am

Beispiel von Michael Kleebergs Barfuß. Hildesheim, Zürich, New York 2008 (= Germanistische Texte und Studien, 79).

Schluss

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des jeweils jüngsten Gattungsbeitrags mitzureflektieren – nur dann werden die Einzelnovellen der Zukunft einen ›Rahmen‹ finden, der nun weniger auf die Simulation von Oralität abzielt als auf eine Fähigkeit zur gattungshistorischen Kontextualisierung, die eine sinnvolle und sinnerfassende Lektüre von ›Novellen‹ überhaupt erst ermöglicht.

VI. Literaturverzeichnis

A. Primärliteratur Novellen Die folgende Liste enthält nur Novellen, die im Haupttext und/oder den Anmerkungen der Darstellung erwähnt werden. Einen ebenso guten wie reichhaltigen Überblick über die Novellenproduktion des 20. Jahrhunderts bietet das Standardwerk von Hugo Aust: Novelle. Stuttgart, Weimar 42006 (= Sammlung Metzler, 256), besonders S. 134-138, 185-188, 204. Ergänzend ist die nach Erscheinungsjahren 1945-2003 untergliederte Aufstellung in Elena Wassmanns Dissertation heranzuziehen (vgl. Wassmann: Die Novelle als Gegenwartsliteratur, S. 404-412). Altitaliänische Novellen. Ausgewählt und übertragen von Paul Ernst. Leipzig 1902. ANDRES, Stefan: Die Vermummten. In: Ders.: Moselländische Novellen. Leipzig 1937, S. 32148. ANDRES, Stefan: El Greco malt den Großinquisitor. Erzählung. Nachwort von Wilhelm Große. Stuttgart 1994 (= RUB 8957). ANDRES, Stefan: Wir sind Utopia. Novelle. München, Zürich 1999. BABILLOTTE, Marta: Nanna, Feuerbachs unsterbliche Geliebte. Friedrichhafen 1949. BACHMANN, Heinrich: Der Hauslehrer. Biographische Novelle um Adalbert Stifter. Mainz 1955. BALSER, Karl: Die verlorene Wette. Brentanonovelle. Mainz 1948. BÄTE, Ludwig: Der trunkene Tod. Eine Grabbe-Novelle. Goslar 1947. BAUER, Heinrich: Freude schöner Götterfunken. Eine Beethoven-Novelle. Baden-Baden 1949. BECHER, Ulrich: Nachtigall will zum Vater fliegen. Ein Zyklus Newyorker Novellen in vier Nächten. Wien 1950; Auszüge u.d.T. New Yorker Novellen. Ein Zyklus in drei Nächten. Zürich 1974, Berlin/DDR 1969. BENN, Gottfried: Der Ptolemäer. In: Ders.: Prosa und Autobiographie. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1984 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 2), S. 193-234. BENN, Gottfried: Die Insel. In: Ders.: Prosa und Autobiographie. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1984 (= Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 2), S. 53-61. BERGENGRUEN, Werner: Das Beichtsiegel. Novelle. Freiburg/Br., Berlin, Düsseldorf 1948. BERGENGRUEN, Werner: Der Pfauenstrauch. Eine Novelle. Zürich 1953. BERGENGRUEN, Werner: Der spanische Rosenstock. Zürich 2001. BERGENGRUEN, Werner: Der tolle Mönch. 20 Novellen. Berlin 1930.

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Personenregister (erfasst wurden Nennungen im Haupttext)

Abusch, Alexander 298 Adenauer, Konrad 267, 328, 405 Adorno, Theodor W. 177-179, 237, 361, 364, 396, 418, 473, 503 Aichinger, Ilse 205, 450-452 Aischylos 247 Alexander der Große 140 Alexis, Willibald 134 Alighieri, Dante 272, 453, 457 Anacker, Heinrich 181 Andersch, Alfred 175-180, 276 Andersen, Hans Christian 437, 442 Andres, Stefan 71, 192, 208, 267, 285293, 297 Arcangeli, Francesco 133, 138, 141, 142 Arendt, Hannah 431 Aristoteles 35, 105 Arnim, Achim von 45 Arnim, Bettine von 296, 481-482 Arnim, Siegmund von 481-484 Arx, Bernhard von 48 Äsop 436 Auerbach, Berthold 285 Augustus 100 Aust, Hugo 12, 30, 416 Bab, Julius 166, 170 Bach, Friedemann 119 Bach, Johann Sebastian 119, 128-130, 131, 212, 224, 445 Bach, Maria Barbara 128 Bachmann, Ingeborg 449 Bahr, Hermann 112 Baker, Josephine 151

Balzac, Honoré de 459-472, 485 Bänziger, Hans 90 Barthel, Kurt 226 Bassompierre, François de 110-113 Battaille, Georges 435 Bauer Pickar, Gertrud 503, 504 Baum, Werner 298-300, 320, 335-336 Baumgart, Reinhard 428, 430 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 228 Becher, Johannes R. 227, 307, 312 Beckett, Samuel 411 Beethoven, Ludwig van 212, 224, 296, 408-409, 413 Bender, Hans187-188 Benjamin, Walter 73, 76, 309, 428431, 434 Benn, Gottfried 11, 34, 63, 207, 208, 239, 255-266, 277, 379 Bennett, E.K. 163 Bense, Max 435 Bergengruen, Werner 32, 71, 72, 77, 88-99, 126, 131, 133, 141-142, 143, 144, 154, 192, 208, 267, 268, 280284, 287, 291, 375, 417 Bernanos, George 271 Bernhard, Thomas 470 Bernhardt, Rüdiger 501-502 Bertaux, Pierre 297 Besson, Benno 497 Beumelburg, Werner 120 Beyer, Frank 487 Beyse, Jochen 366, 472-476 Biermann, Wolf 487 Binding, Karl Ludwig 104

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Pesonenregister

Binding, Rudolf G. 10, 69, 71, 77, 99109, 110, 112, 113, 114, 115, 127, 141, 143, 146, 154, 160, 162, 177, 180, 181, 190, 203, 241, 258, 319, 335, 375, 401, 509 Blanchot, Maurice 395, 396 Bloy, Léon 352 Blunck, Hans Friedrich 120 Boccaccio, Giovanni 25, 26, 28, 33, 36, 38, 39, 40-49, 77, 79, 81, 84, 85, 89, 94, 96, 124, 125, 164, 191, 192, 193, 197, 198, 199, 203, 242, 280, 317, 334, 354, 413, 423-426, 458, 504 Böckmann, Paul 194 Boëtius, Henning 12, 366, 477, 481484 Böhm, Hans 231-232 Böhme, Hartmut 168 Bohrer, Karl-Heinz 37, 360, 374 Boileau-Despréaux, Nicolas 25 Böll, Heinrich 186, 187, 205, 294, 322, 352 Bollenbeck, Georg 211 Bonaparte, Napoleon 496 Borchert, Wolfgang 186, 205 Born, Nicolas 493 Brackel, Ferdinande von 61 Braem, Helmut M. 193 Braun, Eva 409 Braun, Michael 287 Braungart, Wolfgang 220 Brecht, Bertolt 212, 276-279, 428-429, 496 Bredel, Willi 298 Brennecke, Bert 182-184 Brentano, Bernard von 148, 149 Brentano, Clemens 223, 296, 319, 481 Briand, Aristide 146-147 Brion, Friederike 223 Broch, Hermann 453 Brod, Max 277 Bronfen, Elisabeth 389

Brues, Otto 192 Büchner, Georg 221-222, 461, 462, 476, 485 Buxtehude, Anna Margareta 128-130 Buxtehude, Dietrich 128-130 Casanova, Giacomo 57, 228-232, 461467, 471, 472 Cellini, Benvenuto 80 Cervantes Saavedra, Miguel de 28, 38, 146, 148, 203 Cézanne, Paul 288, 442 Chopin, Fréderic 224 Christie, Agatha 436 Claudius Ptolemäus 261 Claudius, Eduard 298 Cleopatra 100 Connstein, Eva 100-101 Corino, Karl 492 Cotta, Johann Friedrich 475 Cusanus, Nikolaus 436 Da Ponte, Lorenzo 228 Degering, Thomas 12 Derrida, Jacques 429 Dinter, Arthur 181 Dirks, Walter 174 Döblin, Alfred 63, 64, 121, 258 Doderer, Klaus 123, 188 Döhl, Reinhard 435 Donatello 80 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 296 Droste-Hülshoff, Annette von 9, 8788, 119, 224, 236, 269 Dürer, Albrecht 136, 137 Dürrenmatt, Friedrich 365, 426, 443450 Durzak, Manfred 38, 57, 182 Duschek, Franz Xaver 228-230 Duschek, Josepha 228-230

Personenregister

Ebert, Friedrich 158 Ebing, Hans-Adolf 123, 181-182 Ebner-Eschenbach, Marie von 285 Eckermann, Johann Peter 26, 28, 48, 369 Edschmid, Kasimir 258, 445 Eibl, Karl 287, 293 Eich, Günter 179 Eichendorff, Joseph von 224, 427, 428, 471 Einstein, Carl 445 El Greco 286-288, 289, 291, 292 Engelhardt, Rudolf 192-193 Engels, Friedrich 300 Enzensberger, Hans Magnus 276, 341, 353, 356 Ermatinger, Emil 19 Ernst, Paul 47, 69-71, 77, 78, 79-88, 91, 97, 109, 154, 186, 190, 192, 241, 248, 367, 407, 509 Eue, Dieter 364 Euringer, Richard 181 Fellini, Federico 465 Feuchtwanger, Lion 271 Fichte, Hubert 381 Fichte, Johann Gottlieb 473 Flaubert, Gustave 457 Fontane, Theodor 56, 81, 251, 413, 441 Foucault, Michel 31, 51 Franck, Hans 10, 15, 77, 119-130, 143, 144, 155, 160, 162, 181, 185, 212, 509 Frank, Bruno 55, 77, 145-157, 165169, 295, 315, 377 Frank, Leonhard 300, 310, 313-316 Franke, Walter 114-115 Freiligrath, Ferdinand 224 Freud, Sigmund 31, 102, 140, 169, 262, 324, 412, 503 Freund, Winfried 12, 254, 374 Freytag, Gustav 35, 348, 428, 432

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Friedenthal, Richard 131, 141-143 Friedrich II. von Preußen 127, 146 Frisch, Max 178, 284 Fühmann, Franz 11, 207, 209, 227, 298, 301, 316-330, 331, 335, 336 Fürnberg, Louis 55, 225, 226-239, 298, 319, 321 Gaiser, Gerd 186, 207, 209, 239, 249255 Gajek, Bernhard 439 Galilei, Galileo 262, 273-279 Gaul-Ferenschild, Hartmut 200 Genette, Gérard 22, 345 George, Stefan 133, 141, 153, 178, 319, 415 Gernhardt, Robert 45, 424-427 Gerth, Klaus 264 Ghiberti, Lorenzo 80 Gier, Albert 211 Glaeser, Ernst 189-193, 509 Gluck, Christoph Willibald 213 Goebbels, Joseph 109, 328, 408-410 Goebbels, Magda 408-409 Goes, Albrecht 203, 209, 222, 294298 Goethe, Johann Wolfgang 10, 24, 26, 28-40, 42, 45, 54, 56, 57, 58, 82, 84, 89, 90, 91, 110, 111, 117, 119, 120, 125, 127, 131, 134, 137, 148, 160, 190, 191, 198, 199, 211, 212, 214, 219, 223, 233-236, 257, 296, 298, 299, 319, 334, 335, 337, 338, 339, 340, 364, 368, 369-370, 375, 383, 413, 423, 425, 436, 458, 473, 474, 477, 481-484 Goethe, Ottilie von 236 Goetz, Rainald 507 Gomringer, Eugen 435 Gottfried von Straßburg 93 Gotthelf, Jeremias 9, 512 Gottsched, Johann Christoph 25 Gould, Glenn 445

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Pesonenregister

Goya, Francisco de 292, 309 Goyet, Florence 77 Gozlan, Léon 467-468 Grabbe, Christian Dietrich 224, 236 Grass, Günter 11, 12, 55-56, 201, 208, 209, 238, 336-355, 357, 375, 419, 423, 459, 491, 492, 504, 510 Gray, Ronald 73 Gregor-Dellin, Martin 147 Grillparzer, Franz 20, 223 Grimm, Hans 120, 181, 192 Grimm, Jakob und Wilhelm 112, 123, 496 Grolman, Adolf von 163 Groß, Edgar 193 Großmann, Stefan 147, 166, 170 Gstrein, Norbert 512 Gumbrecht, Hans Ulrich 211 Günther, Johann Christian 481 Hacks, Peter 405, 487 Hamann, Johann Georg 119 Hammer, Franz 189-190 Händel, Georg Friedrich 128 Hardt, Ernst 61 Harig, Ludwig 12, 364-365, 402, 403, 426, 435-443 Harlan, Veit 108-109 Härtling, Peter 434 Hartz, Peter 391 Hatfield, Henry 166 Hauptmann, Gerhart 62 Hausenstein, Wilhelm 292 Hawking, Stephen 436 Haydn, Joseph 224 Hebbel, Friedrich 185, 224, 236 Hebel, Johann Peter 119, 123, 125, 185, 496 Heer, Friedrich 352 Heftrich, Eckhard Johannes 293 Hegemann, Werner 132 Heidegger, Martin 89, 91, 271, 405, 406, 407

Heidenstam, Verner von 84 Heiduczek, Werner 366, 492-497 Heimböckel, Dieter 456 Hein, Christoph 12, 366, 497-505, 511 Heine, Heinrich 158, 224 Heinemann, Albrecht von 212, 236 Heißenbüttel, Helmut 365, 426, 427435, 459, 511 Hemingway, Ernest 185, 385 Hephaistion 140 Herburger, Günter 508 Herder, Johann Gottfried 34 Hertling, Ralf 410 Hesse, Hermann 53, 109, 115 Heym, Georg 63, 258 Heyse, Paul 10, 20, 25, 26, 38, 39, 4044, 47, 49, 61, 72, 81, 82, 85, 90, 91, 101, 125, 126, 127, 197, 198, 201, 203, 242, 258, 269, 342, 368, 369-370, 407, 424, 442, 475 Hilscher, Eberhard 230 Himmel, Hellmuth 191 Hirsch, Arnold 30, 40, 48 Hitler, Adolf 71, 109, 119, 126, 181, 183, 194, 202, 247, 268, 285, 286, 292, 295, 296, 297, 309, 328, 342, 409, 427, 428 Hochhuth, Rolf 352, 379 Hocke, Gustav René 176 Hoffmann, E.T.A. 45, 167, 199, 213, 223, 471 Hofmann, Gert 12, 57, 239, 365-366, 459-472, 476, 486 Hofmannsthal, Hugo von 76, 110, 115 Hohler, Franz 512 Hölderlin, Friedrich 119, 125, 137, 223, 297, 434 Holthuis, Susanne 22 Homer 422 Horaz 183, 296 Horkheimer, Max 396, 473, 503 Huchel, Peter 179

Personenregister

Hürlimann, Thomas 12, 366, 477-480, 507, 511 Husserl, Edmund 407 Ibsen, Henrik 88, 159 Ihlenfeld, Kurt 267 Jacobsen, Dietmar 479 Jahnn, Hans Henny 276, 481 James, Henry 460 Jaspers, Karl 50 Jauß, Hans Robert 16 Jean Paul 453 Jellinek, Oskar 24 Jens, Walter 250-252 Jessen, Jens 470 Johansen, Hanna 364, 512 Jolles, André 185 Jünger, Ernst 73 Jurgensen, Manfred 333, 407, 408 Justi, Carl 132, 138, 140 Kafka, Franz 9, 14, 15, 63, 119, 201, 258, 351-352, 354, 396, 406, 509 Kahrmann, Cordula 54-55, 57 Kaiser, Gerhard 480 Kant, Hermann 487 Karl der Große 155 Karthaus, Ulrich 12, 339 Kaschnitz, Marie Luise 179 Kästner, Erich 276 Kayser, Wolfgang 46, 194 Kehlmann, Daniel 507 Keller, Gottfried 9, 20, 43, 45, 49, 81, 119, 162, 433, 477-480 Kempff, Wilhelm 129 Kempner, Friederike 61 Kepler, Johannes 262, 277 Kerr, Charlotte 445, 449 Kesser, Hermann 190 Keyserling, Eduard von 432 Kierkegaard, Sören 358, 370, 371, 373, 444, 450, 467 Killy, Walther 99, 206

579

Kirchhoff, Bodo 12, 354-355, 364, 365, 379-392, 400 Kleeberg, Michael 12, 512 Klein, Johannes 40, 43, 85, 94, 115, 119, 163, 193, 195, 200, 202-206, 214, 240, 276, 299 Kleist, Heinrich von 19, 31, 33, 61, 77, 119, 123, 125, 185, 198-199, 200, 202, 224, 242, 243, 245, 246, 248, 301-306, 313, 317, 327, 334335, 341, 352, 368, 387, 391, 406, 407, 445, 450, 455, 458, 496, 510 Klopstock, Friedrich Gottlieb 131, 415 Knapp, Gerhard P. 443 Knopf, Jan 443 Koeppen, Wolfgang 179, 277 Kolbenheyer, Erwin Guido 10, 120, 121, 181 Kommerell, Max 133 Koopmann, Helmut 161, 265 Kopernikus, Nikolaus 277 Körner, Josef 200-201 Kracauer, Siegfried 132, 472 Krausser, Helmut 12, 364, 507 Kretzer, Max 85 Kreuzer, Helmut 250, 254 Kristeva, Julia 386, 389 Kunz, Josef 52, 200, 207 Kurbjuweit, Dirk 375, 507 Kusenberg, Kurt 188 Kutzbach, Karl A. 286 Lacan, Jacques 381, 387 Lagerlöf, Selma 86-87 Lämmert, Eberhard 97, 421 Lange, Hartmut 12, 32, 50, 143-144, 365, 405-417, 432, 507 Langenbucher, Hellmuth 71, 109, 110, 115, 118, 286 Langgässer, Elisabeth 266, 267, 268 La Roche, Maximiliane von 482 Lear, Edward 428, 433

580

Pesonenregister

Le Bon, Gustave 169 Le Fort, Gertrud von 71, 72, 208, 266, 267, 268, 269-279, 280, 285, 417 Lehr, Thomas 365, 426, 450-459, 493, 507, 511 Leip, Hans 192 Lenz, Jakob Michael Reinhold 191, 221-222, 461-463, 471, 474, 476, 481 Lenz, Siegfried 12, 508 Lessing, Gotthold Ephraim 133 Leupold, Hermann 226 Lichtenberg, Georg Christoph 481 Liebermann, Max 412, 414 Lintz, Friedrich 120 Liszt, Franz 408-410 Lockemann, Fritz 45, 47, 52, 201, 299 Loerke, Oskar 115 Luden, Heinrich 235 Ludwig, Emil 132 Luhmann, Niklas 65-68, 78 Lukács, Georg 10, 73, 83, 301 Lunding, Erik 205-206 Lushington, Frank 433 Luther, Martin 135 Lyotard, Jean-François 362, 435 Mackay, John Henry 62 Mackensen, Lutz 46 Maier, Wolfgang 338-339, 353 Mangold, Ijoma 456 Mann, Erika 164, 404 Mann, Heinrich 271, 313 Mann, Klaus 144, 145 Mann, Thomas 9, 20, 33, 52, 53, 61, 63, 77, 81, 119, 127, 139, 140, 142, 145-156, 157-171, 244, 265, 269, 292, 308, 313, 317, 341, 370-371, 375, 388-390, 392, 400, 404, 406, 430, 441, 457, 479, 483-484, 485 Marahrens, Gerwin 264 Marcus Antonius 100 Marcuse, Herbert 503

Marguerite de Navarre 28, 44 Marquard, Odo 407, 417 Martini, Fritz 33, 48, 194, 197 Massary, Fritzi 146 Mattheson, Johann 128 Maturana, Humberto R. 66 Maupassant, Guy de 185 Mayer, Hans 234 Merz, Klaus 508 Meyer, Conrad Ferdinand 9, 45, 89, 162, 193, 286, 342 Meyer-Eckhardt, Victor 131, 138-142, 143 Michaelis, Rolf 393-394 Mickiewicz, Adam 233-235 Miegel, Agnes 11, 71, 120 Miller, Norbert 72 Miranda, Francisco 302 Mistral, Frédéric 84 Mohler, Armin 243 Mon, Franz 435 Mörike, Eduard 49, 193, 212-223, 224, 225, 226, 229, 230, 233, 471, 472, 477 Motekat, Helmut 186 Mozart, Wolfgang Amadeus 55, 211, 212-223, 224, 225, 226-233, 234238, 244, 297, 465, 471, 472, 477 Münchhausen, Börries Freiherr von 190 Mundt, Theodor 299, 369 Muschg, Adolf 480 Musil, Robert 36-38, 63, 164, 374, 457 Mussolini, Benito 147, 166 Natonek, Hans 166 Neumann, Gerhard 50 Neutsch, Erik 365, 366, 486-492, 497 Nicolai, Friedrich 473-476 Nicolai, Moritz 473-476 Nietzsche, Friedrich 156, 167, 266, 319, 370, 405, 407, 409, 428, 431432

Personenregister

Nora, Pierre 237 Novalis 158, 319 Nünning, Ansgar 459 Octavia 100 Opitz, Martin 25 Ossietzky, Carl von 148-149 Oulibicheff, Alexander 217 Pabst, Walter 24 Panagl, Oswald 222 Penzoldt, Ernst 131, 142 Pestalozzi, Johann Heinrich 119 Petersen, Julius 196 Petsch, Robert 122 Picasso, Pablo 288 Platon 117-118, 148 Plievier, Theodor 300, 310-313, 314, 315, 316 Podak, Klaus 391 Poe, Edgar Allan 297 Polheim, Karl Konrad 24, 26, 48, 81, 82, 201, 204, 205, 214 Politycki, Matthias 508 Politzer, Heinz228 Pongs, Hermann 11, 24, 33, 40, 43, 44, 52, 114, 124, 127, 128, 171, 185-186, 195-202, 203, 204, 206, 214, 221, 222, 240, 241, 243, 248, 249, 250, 264, 286, 299, 300, 335, 338, 417, 423 Ponten, Josef 10, 120, 181 Pontoppidan, Henrik 84 Poschmann, Henri 225, 232 Poschmann, Marion 508 Poulenc, Francis 271 Praxiteles 105 Prinz Eugen 295 Proust, Marcel 221, 424 Pültz, Wilhelm 225 Pyritz, Hans 70-72, 110, 113-114, 124, 200 Raabe, Wilhelm 81, 251

581

Rath, Wolfgang 12, 35, 40, 503 Rée, Paul 431 Reage, Pauline 387 Reiche, Kurt 89 Reich-Ranicki, Marcel 97, 250-252, 254, 313, 324, 337-338, 366-367, 368, 370 Reiß, Gunter 54-55, 57 Reuter, Fritz 432 Richter, Hans Werner 174, 179, 276, 461 Rilke, Rainer Maria 61, 178, 494 Rimbaud, Arthur 481 Ritchie, James M. 11 Rosa, Salvatore 213 Rühmkorf, Peter 276, 357 Rusterholz, Peter 443 Sachs, Hans 131 Sahl, Hans 431 Salomé, Lou von 431-432 Sartre, Jean-Paul 379, 411 Scaliger, Justus 25 Schäfer, Wilhelm 10, 47, 67, 71, 77, 119-120, 121, 122, 123, 124, 125, 130-143, 144, 154, 155, 156, 160, 162, 177, 180, 181, 185, 190, 192, 509 Schaper, Edzard 267 Schede, Hans-Georg 467, 470 Scheerbart, Paul 453 Scheffel, Joseph Viktor von 224, 236 Schertenleib, Hansjörg 12 Schiller, Friedrich 80, 81, 212, 223, 234, 307, 473, 486 Schlaffer, Hannelore 12, 36, 49 Schlegel, Friedrich 34, 36, 42, 47, 48, 90, 91, 440, 476 Schleiermacher, Friedrich 34 Schluchter, Manfred 54-55, 57 Schmitt, Carl 73, 75-76 Schmitt, Hans-Jürgen 492-493 Schneider, Michael 162, 485-486

582

Pesonenregister

Schneider, Reinhold 267, 276 Schnitzler, Arthur 9, 14, 15, 55, 62, 405, 417, 461, 462, 465, 509 Schnurre, Wolfdietrich185, 205 Scholz, Gerhard 234 Scholz, Wilhelm von 120, 192 Schopenhauer, Arthur 167, 405 Schulz, Gerhard 456 Schunicht, Manfred 38-40, 52 Scott, Walter 209 Sebald, W.G. 274 Sedlmayr, Hans 239 Seghers, Anna 207, 298-300, 301-306, 310, 487, 496, 510 Seidel, Alfred 407 Sercambi, Giovanni 81 Shaffer, Peter 231 Shakespeare, William 34, 42, 335, 433, 434 Smetana, Bedrich 224 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 39 Sophokles 247 Spengler, Oswald 157, 256 Spitta, Philipp 129 Springer, Axel Cäsar 428 Staiger, Emil 10, 48-49 Stalin, Josef 428 Stanzel, Franz Karl 56 Stehr, Hermann 71, 120 Steiner, George 415 Steinmetz, Horst 217 Sterne, Laurence 474 Sternheim, Carl 63, 258 Stifter, Adalbert 9, 36, 81, 162, 224, 512 Stocker, Peter 22 Storm, Theodor 9, 10, 26, 34-35, 4143, 45, 162, 244, 299, 342, 508 Strauß, Botho 12, 415-417, 508 Strauß, Emil 10, 15, 69, 71, 77, 109118, 120, 121, 127, 143, 144, 151, 155, 160, 181, 190, 248, 258, 375, 401, 509

Streeruwitz, Marlene 12 Stresemann, Gustav 146-147 Stroh, Heinz 170-171 Strube, Werner 18 Tank, Kurt Lothar 278 Tau, Max 120 Thalheim, H.G. 226 Theweleit, Klaus 115, 153 Thiess, Frank 162, 362 Tieck, Ludwig 10, 26, 38-39, 45, 57, 81-82, 90, 91, 112, 199, 212, 319, 364, 464, 507 Timm, Uwe 12, 45, 56-58, 365, 417424, 460, 511 Tinnefeld, Nora 192 Toussaint L’Ouverture, François-Dominique 302-305 Tresckow, Henning von 248 Tschechow, Anton 185, 406, 500 Tschierske, Ulrich 400 Tucholsky, Kurt 119, 148-149, 155 Turrini, Peter 12, 512 Ullrich, Kurt 185 Unger, Erich 256 Unruh, Friedrich Franz von 11, 153, 201, 202, 203, 206, 207, 209, 239, 240-249, 250, 255, 306, 338-339, 362, 510 Unruh, Fritz von 240 Vaget, Hans Rudolf 166 Vallentin, Berthold 133 Varela, Francisco 66 Vergil 453 Vesper, Will 181 Viebig, Clara 61 Viëtor, Karl 19, 23 Vischer, Friedrich Theodor 49, 50, 369, 401 Visconti, Lucchino 432 Voegt, Hedwig 234

Personenregister

Vogel, Henriette 407, 455 Voss, Thomas 12 Voßkamp, Wilhelm 16, 17 Wackenroder, Wilhelm H. 212-13 Wagner, Richard 159, 370, 409, 480 Walser, Martin 11, 50, 162, 207, 208, 276, 354, 357-359, 365, 366-379, 392, 397, 427, 444, 459, 460, 467, 484, 504, 511 Walser, Robert 471-472 Walzel, Oskar 29 Wangenheim, Wolfgang von 140 Wassmann, Elena 12, 515 Weber, Max 239 Weing, Siegfried 12 Weininger, Otto 86 Weiskopf, F.C. 226 Weiß, Ernst 166, 170 Wellershoff, Dieter 12, 37, 50, 162, 257, 365, 392-404 Werfel, Franz 453, 491 Wertheim, Ursula 234 Weyrauch, Wolfgang 176-177, 179, 180, 184

583

White, Hayden 14 Widdig, Bernd 93 Wiechert, Ernst 71 Wieland, Christoph Martin 44, 45, 48 Wiese, Benno von 24, 48, 59, 89, 188, 194, 197, 201, 206, 214, 219-220, 221, 222, 299, 339 Willemer, Marianne von 127 Winckelmann, Johann Joachim 119, 130-144, 154, 483 Winkels, Hubert 476 Winkler, Josef 507 Wirth, Günter 294 Wittgenstein, Ludwig 18, 437 Wolf, Christa 11, 208, 227, 238, 301, 316, 323, 331-336, 459, 490 Wolf, Gerhard 238, 332 Xerxes 156 Zimmermann, Werner 89, 98 Zweig, Arnold 115, 190, 226, 238, 300, 307-310 Zweig, Stefan 55, 114, 132, 271, 431

Sachregister

Ambivalenz 77, 78, 155, 171, 196, 204, 217, 242, 250, 282, 284, 300, 306, 335-336, 495 Anekdote 119, 122-125, 182, 185, 204 Aufklärung 158, 256, 305, 309-310, 394, 396, 473-476 Augenblick 37-38, 117, 164, 169, 364, 372-374, 401, 403, 404, 475 Authentizität, authentisch 16, 31, 57, 87, 129, 164, 210, 269, 273, 303, 360-363, 372, 404, 431, 433, 435, 441, 444, 458, 462, 464, 467, 471, 478, 488 Begebenheit, unerhörte 10, 26, 27, 2838, 39, 40, 44, 49, 56, 57, 58-59, 89-96, 101, 117, 124, 128, 134, 164, 197, 202, 209, 214, 215, 218, 240, 242, 245, 253, 254, 258, 269, 274, 282, 286, 298, 300, 307, 311, 320, 334, 337-339, 340, 358, 364, 365, 369, 374, 382, 383, 401, 403, 407, 413, 416, 423, 428, 436, 437, 445, 449, 452, 456, 458, 464, 475, 495, 504, 505 Chroniknovelle 273, 343 Dämonische, das 33, 122, 171, 199, 221-222, 398, 410, 417 Dingsymbol 43-44, 58, 197, 201, 206, 245, 258, 340, 341, 351, 373, 402, 423, 436, 442, 504 Drama, dramatischer Aufbau 10, 26, 34-35, 40-42, 80, 81, 164, 229, 290, 295, 343, 359, 368, 374, 376, 401, 404, 406, 444, 445, 447, 460, 477, 497, 508 Erinnerungsort (Gedächtnisort) 235237, 412

Falke, Falkentheorie 10, 25, 26, 27, 38, 40-44, 52, 58, 59, 81, 85, 90, 91, 94, 96, 125, 126, 127, 128, 140141, 143, 154, 197-199, 201, 203, 206, 215, 242, 258, 264, 269, 291, 317, 337, 338, 340, 341, 354, 364, 373, 386, 402, 423, 424, 425-426, 458, 477, 478, 503 Film, Verfilmung 108-109, 208, 222, 301, 322, 332-333, 367, 387, 388389, 419, 432, 451-452, 465, 494, 497, 508 Form, geschlossene 35, 37, 47-48, 63, 70, 101, 105, 124, 193, 332, 337, 340, 343, 359, 367-368, 376, 503 Formstrenge 10, 11, 35, 47-48, 65, 70, 78, 80, 82, 85, 87, 162-163, 186, 187, 190, 193, 248, 257, 264, 324, 340, 343, 357, 359, 367-368, 383, 390-391, 393, 406, 435, 445, 457, 459, 461, 480, 495, 503, 507, 509 Gedenkjahre (Jubiläen) 128, 212, 214, 225, 234, 238, 471, 477, 480, 481 Gender Studies, Genderdiskurs 86-88, 103-109, 216, 385-389 Historisches Erzählen 210, 211, 271 Holocaust 157, 246, 298, 308, 353, 410, 416 Innere Emigration 72, 96, 98, 162, 267-268, 271, 281-282, 285, 286, 287, 290-293, 295 Intertextualität, intertextuell 21-25, 39-40, 54, 59, 65, 90, 226, 243, 245, 302, 305, 335, 361-365, 368, 387, 424, 432, 433-436, 444, 449, 453, 461, 464, 476, 482, 483, 484, 507, 511, 512

Sachregister

Kahlschlag, Kahlschlägler 10, 176177, 179, 187, 189, 510 Kalligraphie 173-181 Katholizismus, katholisch 135, 244, 267, 272, 276-277, 280, 287, 294, 314, 323, 350, 500 Konstruktivismus, konstruktivistisch 54, 349, 448 Kontingenz, Kontingenzerfahrung 32, 33, 52, 69, 74, 270, 360 Kontingenztoleranz 33, 75, 159, 208, 242, 278, 510 Krise 32-34, 47, 49-50, 62, 69, 84, 112, 199, 244, 255, 373, 376, 390, 397, 401, 402, 404, 416, 450, 504 Kurzgeschichte 10, 15, 18, 38, 50, 9293, 119, 123-124, 181-189, 204205, 207, 249, 322, 351, 510 Leitmotiv 43, 44, 59, 94, 128, 143, 204, 206, 244, 290, 337, 341, 364, 368, 378, 386, 388, 399, 401, 402, 407, 436, 442, 449, 464, 466, 477, 503-504 Männerbünde 77, 93, 95, 153 Männlichkeit 77, 78, 87-88, 93, 103109, 114-118, 125, 145, 151-155, 169, 171, 244, 246, 279, 289, 315, 318, 341, 375, 385-386, 389, 390, 503, 509 Masse 64, 93, 148, 154, 156, 157, 167169, 173, 186, 191, 211, 239, 256, 270-271, 308, 315, 353, 509 Memoria, Memorialkultur 14, 236, 456, 510 Midlife-Crisis 373, 397 Monolog, innerer 45, 62, 258, 318, 451 Mündlichkeit (Oralität) 46, 83, 97, 117, 164, 192, 275, 376, 378, 421,

585

460-461, 467, 513 Neue Sachlichkeit, neusachlich 65, 76, 142, 143, 181, 183-184 Neuromantik 112-113 Objektivität 47-48, 62, 70, 80, 87, 210, 300, 316, 320, 337, 434, 458, 490 Plötzlichkeit 37, 317, 374, 399, 475 Postmoderne, postmodern 16, 59, 278, 361-363, 364, 389, 435, 439, 444, 476, 510, 511 Rahmenerzählung, Rahmung 44-46, 48, 56, 58, 82, 83-84, 97, 103, 110, 164, 269, 273-275, 278, 334, 343, 376, 421, 422, 424, 425, 455, 458 Sonett 59, 343, 359 Spiel 16-17, 60, 342, 361, 363, 437, 444, 458, 476, 482, 505, 511 Story, short story 15, 124, 184-185, 507 Stunde Null 10, 173, 174, 179 Systemtheorie, systemtheoretisch 28, 65-68, 78, 362 Tiersymbol, Tiersymbolik 94-95, 348, 354, 358, 477, 478, 484 Unreliable narration/narrator 344-353 Weiblichkeit 77, 87-88, 93, 103-109, 115, 118, 142, 151, 153-155, 169, 244, 272-273, 315, 376, 389, 504, 505 Wendepunkt 10, 26, 27, 37, 38-40, 44, 49, 51, 52, 57, 59, 85, 90, 91, 94, 117, 245, 254, 290, 307, 309, 311, 334, 336, 338, 340, 341, 364, 374, 391, 399, 401, 423, 456, 464 Wiederkehr des Erzählens 16, 363364, 365, 366, 417, 424, 426, 511 Zeitschriften-/Zeitungspublikation 20-21, 46, 92, 123, 176, 182-183, 185, 205, 216-217, 288, 323, 333

Nachbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde u.d.T. Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Stationen ihrer Gattungsgeschichte zwischen Formstrenge und Flexibilität im Januar 2009 als Habilitationsschrift bei der Philosophischen Fakultät II der Universität des Saarlandes eingereicht. Forschungsliteratur, die nach diesem Zeitpunkt erschienen ist, konnte nur noch fallweise und punktuell berücksichtigt werden. Danken möchte ich meinen Gutachtern Sabina Becker, Ralf Georg Bogner, Anke-Marie Lohmeier und besonders Gerhard Sauder, der mich über Jahre hinweg gefördert hat. Hilfreich, ermutigend und unterstützend wirkten die zahlreichen Gespräche mit früheren und gegenwärtigen KollegInnen in der Fachrichtung Germanistik der Universität des Saarlandes; gedankt sei dafür vor allem Johannes Birgfeld, Julia Bohnengel und Sandra Kluwe. Gewidmet ist die Arbeit meiner Frau Bärbel Gerlach. Sascha Kiefer, im Frühjahr 2010