Die deutsche Literatur des Mittelalters: Band 2/Lieferung 2 oil 9783110266900, 9783110265989

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Die deutsche Literatur des Mittelalters: Band 2/Lieferung 2 oil
 9783110266900, 9783110265989

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Murner, Thomas

clusio operis als dem castigator des Druckes ausdrücklich dankt. ⫺ Faksimiledruck: Nieuwkoop 1967.

2. Didaktik der Prosodie. Für seinen Unterricht in der Verslehre im Winter 1508/09 im Freiburger Franziskanerkloster und an der Universität entwarf M. verschiedene Spiele als Merksysteme der prosodischen Regeln. Er gab sie nach und nach in mehreren verbesserten und erweiterten Fassungen heraus. M. bekannte, daß er zur lat. Prosodie sachlich nichts Neues beizutragen habe. Er stützte seine Kenntnisse nicht mehr auf das ‘Doctrinale’ des D Alexander de Villa Dei (NB), sondern auf den ‘Versilogus’ des Antonio Mancinelli (Leonhardt, 1993, S. 162). Zu den Schwierigkeiten der nicht leicht verstehbaren Spielregeln s. Leonhardt. a) ‘Scacus quantitatis syllabarum’. Zwei einseitig bedruckte, zum Faltblatt miteinander verbundene Folioblätter. Auf dem ersten Bl. ist in der oberen Hälfte unter dem Titel ein Schachbrett mit 17 ⫻ 16 Feldern abgebildet, präpariert auf den Randleisten für die Quantitätenbestimmung. Die untere Hälfte zeigt ein rouletteartiges Instrument (rota) mit einer drehbaren Sonnenscheibe in der Mitte, dessen Betätigung prosodische Regeln und Ausnahmen erkunden läßt. Das zweite Bl. enthält neben einem kurzen Wort an den Leser Gebrauchsanleitungen für den scacus und die rota. Druck. Scacus infallibilis quantitatis syllabarum hoc tam vtili quam iucundo pictasmate memoratus. [Basel: Mich. Furter, 1508/09], nach F. Hieronymus (s. Ausstellungskatalog der Bad. LB Karlsruhe, 1987, S. 150/154) gegen Sondheim, 1885 u. 1933, der als Druckort Frankfurt angenommen hatte. Abb.: Ausstellungskatalog, S. 152 f.

b) ‘De sillabarum quantitatibus’. Erweiterte Umarbeitung der Baseler Bll. in der äußeren Gestalt eines Quartheftes (10 Bll.). Anlaß war die Kritik teils an der Kürze, teils an der Dunkelheit der Erklärungen der vorgelegten Spiele, auf die M. im Vorwort an die Schüler (Titelbl., 13. Dez. [1509]) eingeht. Das rouletteartige Radspiel ist ersetzt durch eine Guidonische Hand (Titelbl.v): Mit Hilfe der Finger sol-

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len die prosodischen Regeln memorierbar sein. Den vorgestellten Spielen ließ M. 12 von diesen unabhängige generales regulae folgen, mit denen angeblich die Silbenquantitäten fast aller Wörter bestimmbar sind. Druck. Thome murner Argentini or|dinis Minorum: sacre Theologie professoris eximij: de sil⫽|labarum quantitatibus: et arte carminandi facilima praxis | In Alma Universitate Friburgensi lecta. […]. [Straßburg]: Sixtus Murner, [1510]. VD 16, M 7081.

c) ‘Ludus studentum Friburgensium’. Diese Neubearbeitung führt die Spiele von a) und b) ⫺ Schachbrett, Radspiel, Guidonische Hand ⫺ zusammen, erweitert die Erläuterungen und fügt ein neues, das Tric-trac-Spiel, hinzu. Druck. Ludus studentum | Friburgensium. Frankfurt a. M.: Beat Murner, 1511. VD 16, M 7039. Am Ende die von Liebenau, S. 52, und noch im VD 16 (M 7948 u. 7049) irrig M. zugeschriebene ‘Prophetia mirabilis’ Adelphus Mulings. ⫺ ND ebd., 1512. VD 16, M 7040.

3. Juristische Gedächtniskunst. a) ‘Chartiludium institute summarie’. M.s juristisches Kartenspiel, erdacht, um das Memorieren der ‘Institutiones’ Justinians zu erleichtern, ist ⫺ ohne jede Anleitung ⫺ in den oben gen. Basler, Mailänder und Wiener Exemplaren der Spielkarten erhalten, doch auch in einer Buchfassung, und diese liefert erst die erforderliche Einführung, unterrichtet über die Voraussetzungen des Spiels und seine Regeln. Eine Buchfassung hatte M., wie man seiner Äußerung im Prologus des Straßburger Drucks der ‘Logica memorativa’ entnimmt, bereits 1509 erwogen, doch kam der Plan erst im Zusammenhang mit seiner rechtswissenschaftlichen Lehrtätigkeit in Basel 1518 zur Ausführung. Das Kartenspiel kann nicht ohne Vorkenntnisse vonstatten gehen; M. setzt für das exercitium die Kenntnis des Textes der ‘Institutiones’ ausdrücklich voraus. Sein Lehrbuch gliederte er in drei Teile. Der erste, die Theorica institute, sucht in einer Folge von tabellarischen Übersichten und graphischen Figuren (figurae, typi) den gesamten Rechtsstoff ebenso systematisch wie faßlich zu strukturieren. Als zweiter Teil folgt der Abdruck

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der Spielkarten mit eben den Bildern, die von den separaten Basler, Mailänder und Wiener Karten bekannt sind; doch während auf diesen Karten die Bilder jeweils nur mit den Termini und Fragen versehen sind, die der Student zu erläutern bzw. zu beantworten hat, finden sich auf den Bildern der Buchfassung nächst den Fragen gleich auch die Antworten. Der dritte Teil, Practica ludi institute, enthält einen Index der auf den Kartenbildern eingetragenen Termini samt Angabe der einschlägigen Paragraphen der ‘Institutiones’. Zum Aufbau des Spiels, das 12 ‘Farben’ (Schelle, Kamm, Eichel usf.) zu jeweils 10 Karten umfaßt, vgl. bes. Sieber. Druck. Charti⫽|ludium Institute summarie | doctore Thoma Murner | memorante et ludente. | […]. Straßburg: Joh. Prüß, 1518. VD 16, M 7028. Die StB Nürnberg besitzt eine Hs. des ‘Chartiludium’ aus M.s Besitz (Solg. 24. 4°. Mss.). Sie ist nach 1515 geschrieben, aber nicht, wie die ältere Forschung annahm, von M.s Hand, ist auch keine Abschrift des Druckes von 1518, vielleicht aber aus der Hs. gezogen, die M. für seinen Unterricht benutzte. Sie ist im übrigen unvollendet geblieben. Vgl. Sondheim, 1933, S. 15⫺17.

b) Juristisches Schachbrettspiel (‘Instituta Helvetiorum’). Unter dem Sachtitel Scacus vniuersalis Institutionum ist im Autograph und drei Abschriften ein wiederum mnemotechnisches juristisches Schachbrettspiel M.s erhalten, genauer: ein Würfelspiel auf einem Schachbrett mit 10 ⫻ 10 Feldern, dessen Procedere mit einem Schachspiel aber nichts gemein hat. Die Zahl der Felder bezieht sich auf 99 Tituli der ‘Institutiones’ und den Prolog. Den Inhalt der einzelnen Tituli stellt M. in einem ersten Teil jeweils anhand strukturierender graphischer Figuren dar. Der zweite, praktische Teil enthält Aufzeichnungen zum memorativen Spielverfahren; “nähere Ausführungen fehlen vielerorts, so daß der Benutzer oft auf Vermutungen angewiesen ist” (Kaib, S. 110). Der Buchtitel ‘Instituta Helvetiorum’ der unvollendeten Hs. und ihr Jahresdatum 1526 sind bislang unerklärt. Niemand nimmt an, daß M. ein Motiv gehabt hätte, sich nach seiner Ankunft in Luzern erneut mit seiner juristischen Didaktik zu befassen. Handschriften. Autograph: Karlsruhe, Bad. LB, Hs. K 1184. Ausgew. Abb. bei Kaib, S. 107⫺

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109, 161, 163. Abschriften: Luzern, ZB, KB Msc. 47. fol., u. KB Msc. 48. fol., beide v. J. 1586, sowie BB S. 26. fol. v. J. 1588.

4. ‘De Augustiniana Hieronymianaque reformatione poetarum’. Die Schrift, die auf eine Freiburger Vorlesung von 1508 zurückgeht ⫺ und diese knüpfte an eine Vorlesung des Johann von Glogau an, die M. 1499/1500 in Krakau gehört hatte ⫺, ist ein Plädoyer für eine humanistisch modernisierte Predigt. Für ihre Grundfrage, ob ein Christ, zumal ein Prediger, die heidnischen antiken Autoren studieren und verwenden dürfe, sind ihm die Kirchenväter, voran Augustinus und Hieronymus, die maßgeblichen Instanzen. Deren Urteile läßt er in Serien von Zitaten sprechen, warnende und ablehnende im ersten Teil, der in 15 Kapiteln die Torheiten und Verderbtheiten der antiken Schriftsteller geißelt, empfehlende im zweiten Teil, der zweierlei Nutzen der profanen Texte herausstellt, die rhetorische Belehrung, die sie vermitteln, und ihre moralischen Exempel. Die Stimmen des Contra haben das erste, die des Pro das letzte Wort, doch eine förmliche Entscheidung über den inszenierten Widerstreit der Meinungen erlaubt M. sich nicht. Unmißverständlich klar aber wird sein Standpunkt durch die Stellungnahme, mit der er in Kap. 9⫺15 des zweiten Teils die Vorhaltung des Ulrich Zasius, Mönche hätten sich grundsätzlich nicht mit den paganen Autoren zu schaffen zu machen, beantwortete: Für die Mendikanten sei die Aneignung von Bildung und Eloquenz aus dem Schatz der Antiken im Sinne ihrer Ordensaufgabe, die Gesellschaft möglichst wirkungsvoll zu unterweisen, geradezu notwendig. M.s Schrift enträt einer zureichenden gedanklichen Ausarbeitung (vgl. Scherrer, 1929, S. 20, 24, 30). Ab Bl. XXXIII r des Drucks setzen, Symptom der Flüchtigkeit, die Marginalien aus. Stofflich präsentiert M. nicht nur laufend Exzerpte aus den Kirchenvätern oder Hinweise auf diese, die Kap. 16⫺42 des zweiten Teils sind gar geschlossen, wie erst Scherrer (S. 46⫺48) erkannte, wörtlich aus dem 4. Buch von Augustins ‘De doctrina christiana’ gezogen. Bl. a ijr⫺v liest man M.s

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unterwürfig schmeichelnde Widmung an Jakob Locher (Freiburg, o. D.). Druck. Thomas Mur⫽|ner de augusti⫽|niana hierony|mianaque reformatione | poetarum. Straßburg: [Martin Flach], 1509. VD 16, M 7026.

D . S ch ri ft en zu m J et ze r- Pr oz eß . Alle Schriften, die i. J. 1509 über den Jetzer-Prozeß nach dessen Abschluß verfaßt wurden und als deren Autor rechtens oder irrig M. gilt, sind zu ihrem Zeitpunkt anonym erschienen. M. war indes schon den Zeitgenossen als Verfasser von Texten über den Jetzer-Prozeß bekannt. Die Zuweisung des lat. Prosaberichts ‘De quatuor heresiarchis’ bzw. ‘Historia mirabilis quattuor heresiarcharum’ und des großen dt. Reimpaargedichts ‘Von den fier ketzeren Prediger ordens’ an M., die schon Ch. Schmidt vorgenommen hatte, ist durch E. Fuchs 1929 nach gründlicher Untersuchung bestätigt worden (DS, Bd. 1, Einleitung, S. LXXII⫺LXXVI). 1. Der lateinische Prosabericht. Der an den Rat von Bern gerichtete lat. Prosabericht befaßt sich nicht allein mit den Vorgängen in Bern (s. o. I.), er stellt diese in einem Anteloquium auch in den Zusammenhang des bereits jahrhundertelangen Zwists zwischen Dominikanern und Franziskanern um die Immaculata conceptio. Die Berner Ereignisse haben nach M.s Bericht indes auch eine zeitnahe konkrete Vorgeschichte: den Streit um die Immaculata conceptio, in den der Dominikaner Wigand Wirt i. J. 1500 in Frankfurt mit dem Stadtpfarrer Dr. Konrad Hensel und dem Franziskaner Johann Spengler geriet, und in seinem Gefolge den angeblichen Beschluß der Dominikaner auf ihrem Kapitel zu Wimpfen, den Glauben an die Immaculata conceptio mit Mitteln des Betrugs zu Fall zu bringen. Was den vier Berner Dominikanern durch die meineidige Bezichtigung des Hans Jetzer zur Last gelegt wurde, erscheint so als der erste Akt eines strategisch angelegten perfiden Komplotts der dominikanischen Makulisten. Mit blinder franziskanischer Parteilichkeit, wie er beginnt, verfährt M.s Bericht im

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ganzen. Höhepunkt der Darstellung ist die unter Folter bestätigte confessio Jetzers, die 20 ungeheuerliche Anklagen umfaßt. Die wichtigsten wurden öffentlich bekanntgemacht: Leugnung Gottes (durch den angeblichen Pakt mit dem Teufel), Schändung der Eucharistie, gestellte Marienerscheinungen, Stigmatisierung Jetzers mit den Wundmalen Christi. M.s Bericht fußt auf eigenen Beobachtungen und mündlichen Mitteilungen anderer, besonders aber auf dem ‘Defensorium’ (s. u. 2.). Er wird ihn bald nach dem 31. Mai 1509, dem Tag der Hinrichtung der vier Dominikaner, abgeschlossen haben, denn über das weitere Schicksal Jetzers, der gefangengesetzt wurde, am 25. Juli aber fliehen konnte, teilt er, anders als das dt. Reimpaargedicht, nichts mit. Drucke. Die lat. Prosa erschien unter zwei verschiedenen Titeln: a) ‘De quatuor heresiarchis ordinis Praedicatorum’. (1) De quattuor heresi|archis ordinis Predicatorum. de | obseruantia nuncupatorum. | apud Suitenses in ciuitate | Bernensi combustis. | Anno Christi. | M.D.IX. [Nürnberg: Wolfg. Huber, 1509]. VD 16, M 7053. 26 Bll. 14 Holzschn. von Urs Graf. ⫺ (2) Wie (1), aber nur 20 Bll., “kompakter im Satz und ohne Bilder im Text” (Sondheim, 1933, S.26, Nr. c). ⫺ (3) De quattuor heresiarchis | ordinis Praedicatorum de Obser|uantia nuncupatorum apud | Suitenses in ciuitate Ber| nensi combustis. An|no Christi | M.D.IX. [Braunschweig: Hans Dorn, 1509]. VD 16, M 7051. 32 Bll. Mit einem Beitrag Seb. Brants. ⫺ (4) De quattuor heresiarchis | ordinis Predicatorum de Obser⫽|uantia nuncupatorum/ apud | Switenses in ciuitate Ber⫽|nensi combustis | Anno Christi etc. | M.D.IX. […]. [München: Hans Schobser, 1509]. VD 16, M 7052. 28 Bll. ⫺ (5) De quattuor heresiarchis | ordinis Praedicatorum de Obser⫽| uantia nuncupatorum/ apud | Suitenses in ciuitate Ber|nensi combustis. An|no Christi | M. D. IX. [Straßburg: Joh. Knobloch, 1509]. VD 16 M 7054 (als Drucker fälschlich Joh. Prüß d. Ä. genannt). 28 Bll. ⫺ (6) De quattuor Heresiarchis | ordinis Predicatorum de Obseruantia nuncupatorum, apud | Suitenses in ciuitate Bernensi combustis. Anno Christi. | M D IX […]. [Basel: Pamphilus Gengenbach, um 1520]. VD 16, M 7055. 20 Bll. b) Historia mirabilis | quattuor heresiarcharum ordi|nis Predicatorum de Obser|uantia apud Bernen. combustorum. Anno M.D.ix. Cum figuris. [Straßburg: Joh. Prüß d. Ä., 1509, nach dem 8. Dez.]. VD 16, M 7069. 14 Holzschnitte. Der Text

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der ‘Historia’ ist derselbe wie in den Drucken von ‘De quattuor heresiarchis’. Am Ende (Bl. [c6]r): Jakob Locher, 4 Distichen gegen einen Dominikaner, der in einer Pfarrkirche zu Ingolstadt 1509 pridie post festum conceptionis in der Predigt die poetae verdammt hatte, und ein im Sinne von M.s ‘Historia’ verfaßtes Carmen de idolatria: heresi et veneficio quorundam Bernensium Jacobitarum: seu predicatorum pseudopatrum combustorum (22 Dist.). Abdruck der ‘Historia mirabilis’ bei J. H. Hottinger, Historia ecclesiastica Novi Testamenti, Saec. XVI seu pars quinta, Zürich 1655, S. 334⫺ 415; Lochers ‘Carmen de idolatria …’ ebd., S. 340. 2. ‘Defensorium impiae falsitatis’. Das vermutlich (vgl. Schuhmann, 1912, S. [IX] u. 7 f.) von M. hg. ‘Defensorium’ besteht aus vier Teilen. Der erste enthält tagebuchartig die naiv wundergläubigen Aufzeichnungen des Berner Dominikanerpriors Johannes Vatter über Erscheinungen und Offenbarungen, die sich in seinem Kloster ereignet haben sollen, der zweite parallele Berichte des Basler Dominikanerpriors Wernher. Beide sind vor dem Prozeß verfaßt und daher nicht etwa aus Gründen der Verteidigung. Der dritte Teil, ebenfalls von Prior Wernher verfaßt, schildert den Verlauf des Prozesses von der Verhaftung Jetzers an bis zum 25. Februar 1508. Der anonyme Hg. des Druckes stellt diese Berichte als verlogene Rechtfertigungen dar und schickt ihnen einen auf die Bezichtigungen Jetzers gestützten, somit seinerseits grotesk entstellenden Bericht der Vorgänge bis zur Verbrennung der Beschuldigten hinterdrein. Von Jetzers Flucht aus dem Gefängnis weiß der Hg. noch nicht. Die ‘Defensio’ muß daher im Juni/Juli 1509 zum Druck gekommen sein. Druck. Defensorium impiae falsitatis/ a quibusdam pseudo|patribus ordinis Praedicatorum excogitatum/ princi/|paliter contra mundissimam superbenedictae virginis Mariae conceptionem […]. [Basel: Gregor Bartholomäus], 1509. VD 16, D 418. Deutsche Übersetzungen. Ein erdocht falsch history etlicher Prediger münch |[…]. [Basel: Gregor Bartholomäus, 1509]. VD 16, ZV 4327. Drei weitere Drucke v. J. 1510: VD 16, D 419⫺421.

3. Reimpaargedicht: ‘Von den fier ketzeren Prediger ordens’. Das 4557 Reimpaarverse umfassende, in 65 Kapitel geteilte dt. Gedicht, M.s erste Veröffentlichung in dt. Versen, stimmt mit der lat. Prosa (s. o. 1.) im gesamten Inhalt, soweit er Bericht ist, und im Aufbau überein, und mitunter trifft man auf wörtliche Übersetzungen der lat. Vorlage. Gemeinsam ist ihnen demgemäß auch die unduld-

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sam antidominikanische Tendenz. Verschieden sind sie im Umfang und so auch in der Art der Darstellung. Das dt. Gedicht hat das vierfache Quantum der lat. Prosa; es zeigt gegenüber deren knappem Ductus erzählerische Breite, läßt die beteiligten Personen ausführlicher zu Wort kommen, flicht betrachtende Digressionen ein. Es richtet sich an ein ungelehrtes Publikum, läßt daher die zahlreichen Anspielungen der lat. Prosa auf Figuren aus antiker Sage und Geschichte beiseite. Drucke. Uon den fier ketzeren Prediger | ordens der obseruantz zü Bern | im Schweytzer land verbrant/ in dem jar noch | Christi geburt: MCCCCC.ix. vff den nechsten | donderstag noch Pfingsten. | Mit vil schönen figürlin vnd lieblichen reymsprüchen neüwlich geteütscht |. [Straßburg: Joh. Knobloch d. Ä., 1509]. VD 16, M 7058. 21 Holzschnitte (mit 6 Wiederholungen) von Urs Graf. Von protestantischer Seite wurde 1521, nun zur Brandmarkung des Mönchswesens, ein ⫺ allerdings ungewöhnlich nachlässiger und fehlerreicher ⫺ Nachdruck von M.s Gedicht veröffentlicht, mit einem polemischen Anhang gegen Jakob Hoogstraeten als Verfolger J Reuchlins und Luthers und gegen M. in 104 Versen: History Von den fier ketzren Prediger | ordens der obseruantz zu˚ Bern jm Schweytzer land | verbrant […] Ein kurtzer begriff vnbillicher freuel hand|lung Hoctrats/ Murnars/ Doctor | Jhesus vnd irer anhenger/ wider den | Christlichen Doctor Martin | Luther/ von aale liebhaber | Euangelischer lere. [Straßburg: Joh. Prüß, 1521]. Beschreibung des Druckes mit allen Lesarten bei Fuchs, DS, Bd. 1, S. CVI⫺CXXII. ⫺ Diese Ausgabe war wohl die Vorlage für die Gedichte über den Jetzer-Prozeß der Meistersinger Benedikt von Watt (RSM 2Wat/ 53/6) und Hans Deisinger (RSM 2Dei/182/7). 4. Der deutsche Prosabericht. Nicht aus M.s Feder stammt, wie E. Fuchs (DS, Bd. 1,1, S. LXXVI⫺LXXXVII) mit nicht widerlegten inhaltlichen und sprachlichen Gründen dargelegt hat, der vielfach immer noch M. zugewiesene dt. Prosabericht ‘Von den vier ketzern Prediger ordens’ (infolge des ähnlichen Titels bisweilen mit M.s Reimpaargedicht verwechselt!). Verfaßt und gedruckt zwar im gleichen Zeitraum wie M.s lat. Prosa, ist er aber trotz ähnlichen Aufbaus nicht deren Übersetzung, nicht einmal deren freie Bearbeitung. In drei Drucken geht dem dt. Prosabericht ein Marienlied in 13 Strophen zum Thema der Makellosigkeit der Gottesmutter (inc. Maria schon du hymlisch kron thu˚n mir deyn hilff beweysen)

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voran, das ebenfalls nicht M. zum Autor hat (vgl. Fuchs, S. LXXVII⫺LXXX). Drucke. (1) Von den vier ketzern Predi|ger ordens der obseruantz zu | Bernn jm schweyczerlanndt | verprennt/ in dem jar nach Cristi gepurt. Mccccc.ix | auf den nachsten pfintztag nach Pfingsten etc […]. [München: Hans Schobser, 1509]. VD 16, M 7056. (2) Von den vier ketzern Predi⫽| ger ordens der obseruantz | zu Beru[!] im schweytzer⫽|lanndt verprennt/ in dem jar | nach Cristi gepurdt. M. | cccc. ix. auf den nach|sten pfintztag na|ch Pfingsten […]. [München: Hans Schobser, 1509]. VD 16, M 7057. (3) Ein schon bewerts | lied von der reynen vnbefleck-|ten entpfengknusz Marie. in | der weysz. Maria zart. | Vnd darbey die war histori von den | vier ketzern prediger ordens der obseruantz, zu Bern | in Eydgenossen verbrannt, kurtz nach der ge-|schicht begriffen, mit e figuren. […]. [Nürnberg: Wolfg. Huvil hubschen ber, 1510]. VD 16, M 7059. (4) Ein schon bewerts lied vonn | der reynen vnbefleckten entpfengnüß | Marie/ in der weyß Maria zart. | Unnd darbey die wor histori […]. [Straßburg: Joh. Knobloch, um 1510]. VD 16, M 7060. (5) Ein schön bewerttes lied von | der reynen vnbefleckten entpfengnüß | Marie/ in der weiß Maria zart. | Vnd darbey die war Histori | […]. [Straßburg: Joh. Prüß d. Ä., um 1510]. VD 16, M 7061.

E . P re di gt un d g ei st li ch e D ic ht un g. M. war ein engagierter und gesuchter Prediger, der an jedem Orte, an dem er länger verweilte, die nach der franziskanischen Regel erstrangige Aufgabe der Volkspredigt wahrnahm. Doch hat er seine Predigten nicht gesammelt und keine, bis auf eine lat. Kapitelpredigt, veröffentlicht. Zu seinen erklärten Vorbildern gehörte der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg († 1509). 1. Solothurner Kapitelpredigt. Die auf dem Kapitel der oberdeutschen Ordensprovinz am 12. Juni 1502 im Münster zu Solothurn gehaltene Predigt ist ganz auf ihren Anlaß abgestimmt, stellt in den Mittelpunkt Gesichtspunkte der inneren Ordensreform und das erbauende und mahnende Beispiel der großen Autoritäten der Ordensgeschichte. M. steht nicht an, auch unter den Lebenden ein leuchtendes Vorbild ausgiebig hervorzuheben, den Provinzial D Konrad von Bondorf.

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Druck. Thome Murner Argentini | ordinis minorum sac*r+e Theo*logi+e bac|calarij Cracouiensis Ad rempublicam Argentinam Germania | noua Oratio eiusdem ad capitulum prouincie superiorum Alemanie | in Ecclesia maiori ciuitatis Solodorensis perorata. [Straßburg: Matth. Hüpfuff, Aug. 1502]. Bl. [B4]r⫺[C6]r: M.s Oratio ad Capitulum Solodorense vom 12. Juni 1502. Faksimile bei Borries, S. 260⫺272.

2. ‘Arma patientie’. Die kleine Schrift ist ein Brief, den M. 1511 an Philipp Keylbach, einen früheren Freiburger Kommilitonen, über das Konzept seiner soeben begonnenen Frankfurter Adventspredigten schrieb. Den Zyklus zum Gesamtthema ‘Waffen der Geduld gegen alle Widerwärtigkeiten der Welt’ gliederte er inhaltlich nach den vier Farben seines eigenen Paciencia-Wappens und den Bedeutungen, die er ihnen gab: das Schwarz sollte die tribulationes der Welt bedeuten, die es geduldig zu tragen gelte, das Weiß die innocentia, die Wächterin der Geduld, das Gold die himmlische corona iustitie als Lohn der Geduld, das Rot das Blut des Erlösers. M. verschweigt nicht die Anfeindungen, denen er wegen seiner eigenwilligen Predigtweise ausgesetzt sei, und weiß, daß gerade er selber des Schilds der Geduld bedarf. Druck. Arma patientie contra omnes | seculi aduersitates. | franckfordie pre|dicata. |. [Frankfurt: Beat Murner, 1511]. VD 16, M 7025.

3. ‘Badenfahrt’. Das Reimpaargedicht umfaßt 35 Kapitel mit je einem Holzschnitt und eine Vorrede. Die Kapitel 1⫺25 bilden einen geschlossenen Zyklus, und nur auf diesen bezieht sich die Vorrede, in der sich der Autor M. als Badegehilfe Gottes vorstellt. Die Holzschnitte des Zyklus zeigen jeweils Christus als Bader und als Badenden einen Mönch (Minoriten) und stellen in ihrer Folge die Vorgänge und Handreichungen in einem öffentlichen Bad dar. Die Kapiteltexte legen die einzelnen Stationen des Badens allegorisch aus auf die Reinigung des Menschen von seinen Sünden durch die Gnadenmittel der Kirche. Der allegorische Zyklus weist in seiner Art auf die ‘emblematischen’ Predigtzyklen Geilers von Kaysersberg zurück. Die äußere Einrichtung der

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Kapitel ist ⫺ nach dem Vorbild von Brants ‘Narrenschiff’ ⫺ stets gleichartig reguliert. Ein jedes beginnt auf der linken Seite mit Überschrift, Motto (4 vv.) und dem Holzschnitt; der Kapiteltext setzt auf der rechten Seite ein und und zieht sich mit durchweg 66⫺70 Versen bis auf das erste Drittel der 4. Seite hin, die im übrigen leer bleibt. In unterschiedlicher Dichte stehen auf den äußeren Rändern der Textseiten lat. Glossen, Zitate aus der Bibel, den Kirchenvätern und anderen theol. Lehrern, aber auch aus antiken Autoren; es sind die Autoritäten, auf die M. seine Auslegung stützt. Dem Zyklus der Bade-Allegorese folgt ein Anhang, der in acht Kapiteln (26⫺33) Allegoresen verschiedener Arten heilkräftiger Bäder reiht und mit einem Epilog M.s (34) schließt. Die Kapitel zeigen die gleiche Einrichtung wie die des Zyklus, variieren aber weit stärker bei der Anzahl ihrer Verse. Das letzte Kapitel (35), Der baderin dankken, ein Mariengebet in 175 Versen, steht im Druck nach dem Kolophon, ist demnach erst während der Drucklegung hinzugekommen, offenbar als Blattfüllsel (Bl. P ijv⫺[P6]r). Zu den Quellen von M.s Bad-Allegorese oder zumindest möglichen Anregungen vgl. Michels, Ausg., S. XVII⫺XXIII, vor allem aber ‘Die D geistliche Badestube’ (NB, Sp. 503), Teil eines anonymen Straßburger Traktats. Erst 1514 gedruckt, hat M. mit der Abfassung der ‘Badenfahrt’ nach Michels’ Analyse jedoch schon “spätestens im Winter 1511/12” (S. XL), noch in der Frankfurter Zeit, begonnen. Im Blick auf M.s Angabe im Werktitel gelert vnd vngelerten nutzlich zu˚ bredigen vermutet Michels, M. habe in Frankfurt über die ‘Badenfahrt’ ⫺ wie einst Geiler über das ‘Narrenschiff’ ⫺ gepredigt. Druck. Ein andechtig geistliche | Badenfart/ des hochgelerten Herren Thomas | mürner […] zu˚ Straßburg in dem bad erdicht/ gelert | vnd vngelerten nutzlich zu˚ bredigen vnd zu˚ lesen. Straßburg: Joh. Grüninger, 5. Aug. 1514. VD 16, M 7022. Ausgabe. E. Martin, M.s Badenfahrt, 1887 (nicht brauchbar); V. Michels, DS, Bd. 1,2.

F. Nar re ns at ir e. M.s Narrendichtung knüpft als TextBild-Satire unmittelbar an Brants ‘Narren-

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schiff’ (⫽ NS) an. In der ersten, der ‘Narrenbeschwörung’ (⫽ NB), sind nicht allein 74 der 96 Kapitelholzschnitte dem NS, dessen Straßburger Druck von 1512, entnommen (davon sechs Dubletten), in ihren Text hat M. auch immer wieder Verse und Reime des NSs verarbeitet und mehr oder minder freie Auszüge bis zu einem Umfang von zehn Versen (vgl. Spanier, Ausg., S. 9⫺46). In der Vorrede der NB bekennt er sich ausdrücklich zur Nachfolge Brants, und er legt auf sie Wert. M.s weitere Narrensatiren, die ‘Schelmenzunft’ (⫽ SZ), die ‘Mühle von Schwindelsheim’ (⫽ MS) und die ‘Geuchmat’ (GM), verzichten zwar auf ähnlich handgreifliche Anleihen beim NS, doch bleibt dessen Werkanlage, Text-BildKompositionen in Kapitelfolge, auch ihr Modell, freilich nur in reduzierter Reprise der kalkulierten emblemartigen Brantschen Faktur. Imitationen Brants sind M.s Narrensatiren jedoch nicht. Man hat zu Recht stets hervorgehoben, daß M. ein anderes literarisches Idiom gewählt hat als Brant, ein in seiner Derbheit und Drastik volkstümlich stilisiertes, im Vokabular auch mundartlich bereichertes. Es enträt als solches gänzlich der gebildeten, humanistischen Aura des NS. Entsprechend kommen statt der Sentenz und des gelehrten ⫺ sei es biblischen, sei es antiken ⫺ Zitats Redensart und Sprichwort zum Zuge. Auch gegenüber Brants gefeilter Versbehandlung geben sich M.s Reimpaarverse weit lässiger. M.s literarisches Idiom ist nicht zu trennen von seiner spezifischen Konzeption der volkssprachlichen Moralsatire als Gattung: der ernste Inhalt, so erklärt er wiederholt, könne beim vngelerten nur wirksam werden, wenn er in schympffred gekleidet sei, in Scherz, Komik, Spott (vgl. NB, Kap. 97, 1⫺27, 104⫺119; SZ, S. 143, 6⫺34; GM 5213⫺5294). Auch M.s Narr selbst ist mutiert. Er bedeutet den verderbten Sünder. Versteht M. Narrheit als einen anthropologischen Defekt, der im Sündenfall wurzelt (NB, Kap. 4,9⫺20) und somit niemanden ausnimmt, auch nicht Papst und Kaiser, so treibt ihn doch allein die grassierende zeitgenössische Erscheinung der Narrheit um, die er in kraß gezeichneten Sittenbildern vorstellt. Kommt

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es Brant auf die Selbsterkenntnis des Narren an, der aus Unvernunft stets das Rechte und auch sein eigenes Heil verfehlt, brandmarkt M. den Narren vornehmlich als selbstsüchtigen Schädling seiner Mitmenschen in allen Lebensbereichen. Seine Diagnosen der Narrheit sind scharfe Diagnosen moralischer Verkommenheit in Gesellschaft und Kirche der Zeit. Der Namenwechsel des Narren in M.s Satiren rührt von ihren verschiedenen Inszenierungen her; Narr, Schelm, Schwindelsheimer, Gauch verstehen sich als Synonyme. Die Selbstreflexion des Satirikers, die in der nachantiken Geschichte der Satire erstmals bei Brant einsetzt, führt M. in den Vorreden und Schlußreden eindringlich fort. M. will die NB und die SZ in den Frankfurter Jahren zunächst lateinisch verfaßt, aber ohne jeden schympff, und dann ⫺ den ‘Narrenschiff’-Predigten Geilers von Kaysersberg nacheifernd ⫺ deutsch über sie gepredigt haben (NB, Kap. 97, 104⫺ 108 u. 143⫺145; SZ, S. 143, v. 11 f., u. S. 146, v. 103⫺105). Überliefert ist von solchen lat. Versionen nichts. 1. ‘Narrenbeschwörung’. Die NB, die 97 Kapitel umfaßt, mit 8520 Reimpaarversen weit mehr als das Doppelte des NS, ist nach Spaniers Untersuchung (Ausg., S. 71⫺83) in den Jahren 1509⫺1512 entstanden. Der engen Anknüpfung an Brants NS gibt M. in der Vorrede eine scherzende Begründung: Habe dieser mit seinem Schiff zahllose Narren ins Land geholt, so müsse er nun als Exorzist sie beschwören und wieder vertreiben. M. hat die Fiktion des Exorzismus nicht in Szene gesetzt, Exorzismus als rituellen Akt nicht vorgeführt, keine allegorische Handlung wie in der ‘Badenfahrt’ (s. E.3.) entwickelt. Als seine neue Kunst exorzistischer Beschwörung versteht er offenbar die Aufdeckung von Narrheiten, d. h. Sünden und Lastern, Kapitel für Kapitel durch die Scheltrede. Dabei bleibt außer Acht, daß gemäß der Vorstellung des kirchlichen Exorzismus der zu beschwörende Narr eigentlich der böse Geist sein müßte, von dem ein Mensch besessen ist, nicht dieser selbst (vgl. aber Kap. 93). Den rituellen

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Akt eines Exorzismus rufen erst die drei Schlußkapitel 94⫺96 auf, Der narren wychwasser, Der narren bycht, Der narren bu˚ß. Die Narrenporträts (Kap. 3⫺93) folgen einander in bloßer Reihung, ohne Zyklenbildung oder andere strukturierende Merkmale. Die gestaltlose Serie von Narrheiten vermittelt den Eindruck ihrer unbegrenzten Zahl und Vielfalt. In diesem Merkmal zumindest vergleicht sich die NB dem NS. Auch die NB will Weltsatire sein (Kap. 97, 87: Ich wolt der welt louff beschryben). Doch hat seine sehr konkret anprangernde Zeitkritik ihre Schwerpunkte. Sie trifft am schärfsten den pflichtvergessenen, heuchlerischen, geldgierigen Klerus und den räuberischen, moralisch verwahrlosten Adel. Als die zentralen Zeitübel, die alle sittlichen Grenzen und Bindungen untergraben, treten allerorten Profitgier und Käuflichkeit hervor. Anders als im NS variieren die Kapitel der NB fast ständig im Umfang (zwischen 34 und 198 Versen), häufig in der Inszenierung (ganz oder teils dialogisch), im Aufbau. Eine intrikate Aufgabe hatte sich M. dadurch bereitet, daß er drei Viertel seiner Holzschnitte dem NS entnahm; sie verlangten ihm eigenwillige Neudeutungen ab (vgl. Riess). Drucke. Doctor murners | narrenbschwerung. Straßburg: Matthias Hüpfuff, 1512. VD 16, M 7042. ⫺ Doctor thomas | Murners Narrenbe⫽| schweerung. Straßburg: Joh. Knoblouch, 1518. VD 16, M 7043. Nachlässiger ND der Ausgabe 1512, Text-Bild-Einrichtung erheblich gestört. ⫺ Eine auf dem Druck von 1518 fußende stark überarbeitete und sprachlich modernisierte Ausgabe brachte Jörg Wickram 1556 in Straßburg heraus (VD 16, M 7044). Der 1558 erschienene Straßburger ND der Wickramschen Ausgabe (M 7045) war die Vorlage des Frankfurter Druckes von 1565. Zu den Drucken s. Spanier, Ausg., S. 91⫺105. Ausgaben. M. Spanier, Th. M.s Narrenbeschwörung [Text u. Bilder d. ersten Ausg.], 1894 (Neudrucke dt. Literaturwerke d. 16. u. 17. Jh.s, Nr. 119⫺124); ders., DS, Bd. 2 (zit.).

2. ‘Schelmenzunft’. Das Motiv der Zunft hat M. ist in der SZ so wenig ausgeführt wie das des Exorzismus in der NB. Stellt er sich zu Beginn als den Schreiber der Zunft vor, der die Schelmen sammelt, so ⫺ erst in der 2.

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Murner, Thomas

Aufl. ⫺ am Ende als den Zunftmeister. ‘Zunft’ gewinnt keine genauere Bedeutung als die einer Schar; in dieser gibt es immerhin leitmotivisch den beständigen Wettstreit um den ersten Platz, d. h. um den höchsten Grad an Bösartigkeit. Die einzelnen Kapitel, nur 32, folgen zwischen Vorrede und abschließender ‘Entschuldigung’ in freier Reihung wie in der NB, doch gehorchen sie hier einer strengen Einrichtung: Ein jedes umfaßt zwei Seiten, auf der linken jeweils die Überschrift und die ersten sechs Verse des Kapiteltextes, auf der rechten die übrigen 34. Die Verteilung des Textes entspricht dabei meist einer dialogischen Anlage: In den ersten sechs Versen zur Linken stellt sich jeweils einer der Schelme vor, denen der scheltende Sprecher zur Rechten antwortet. Inhaltlich ist die SZ der NB einerseits nahe verwandt (vgl. Spanier, Ausg. der NB, S. 48⫺71), hat aber einen eigenen zentralen Themenbereich, den die Vorrede (45⫺82) entsprechend ankündigt, den der Zungensünden, des Mißbrauchs der Sprache: verkehrte Predigt, Rechtsverdrehung, Beutelschneiderei, leere Prahlerei, Verleumdung, Verrat, alle Arten von Falschheit und Täuschung, Klatsch, Schmeichelei, Fluchen, Schwören, Gotteslästerung usf. M. hat dem Frankfurter Erstdruck von 1512 im selben Jahr in Straßburg eine auf 47 Kapitel erweiterte, stark überarbeitete und auch in der Einrichtung veränderte zweite Auflage folgen lassen. Ihr herausragendes Stück ist der nachgetragene (Kap. 48) Dialog zwischen dem verlorenen Sohn und seinem Vater. Die SZ war nach der Zahl ihrer Drucke und Bearbeitungen die weitaus erfolgreichste der Murnerschen Narrendichtungen. 1544 erschien Jakob Vielfelds Neufassung ‘Die alt vnd New Schelmen Zunfft’, in der sich mit den einzelnen Schelmen neu eingeführte Figuren, ein Schreiber und ein Podagiricus, unterhalten. 1619 schloß Johann Flitner unter dem Titel ‘Nebulo nebulonum’ seine in Odenform gefaßte lat. Bearbeitung der SZ ab (ohne M. noch zu nennen), die ihrerseits 1634 durch Pieter Baardt eine ndl. Übersetzung, 1664 eine anonyme dt. und 1688 eine weitere durch

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H. Gunsen erhielt (s. Spanier, Ausg., S. 30⫺35). Drucke. a) Der Schelmen zunfft […]. Frankfurt a. M.: Beatus Murner, 1512. VD 16, M 7073. ⫺ b) Der schelmen zunfft. | Anzeigüng alles Weltleuffigen mu˚t|wils. Schalckheiten. vnd bieberyen | dieser zeyt. Durch den hochgelerten herren doctor Thomas | mürner von Straßburg schimpfflichen erdichtet/ vnd zu˚ | Franckfurt an dem meyn mit ernstlichem fürnemen geprediget. Straßburg: [Matthias Hüpfuff, 1512]. VD 16, M 7074. Zu einem stark varianten ND s. Spanier, Ausg., S. 12⫺ 14 u. 148⫺156. Zu den weiteren Drucken Augsburg: Silvan Otmar, 1513 und 1514 (VD 16, 7075 u. 7076), Straßburg: Johann Knoblouch, 1516 (VD 16, M 7077), [Straßburg: Jak. Cammerlander, um 1540] (VD 16, M 7078; stark überarbeitet mit protestantischer Tendenz), Frankfurt 1567, 1571 u. 1618 sowie Straßburg 1568 s. Spanier, Ausg., S. 6⫺25. Drucke von Flitners ‘Nebulo nebulonum’: Frankfurt: Jak. de Zetter, 1620 (VD 17, 1:029198C); Leeuwarden: Joh. Coopmans, 1634; o. O. 1636; Frankfurt 1644; Frankfurt 1663; o. O. 1665. Ausgabe. M. Spanier, DS, Bd. 3; dort S. 35⫺ 37 zu den älteren Ausgaben seit 1788.

3. ‘Geuchmat’. Während NB und SZ aus einer Serie von unverbundenen närrischen Einzelporträts bestehen, arbeitet M. in der MS und in der GM mit allegorischen Handlungsansätzen, ohne sie doch wie etwa in der ‘Badenfahrt’ (s. o. II.E.3.) zusammenhängend zu entwickeln. Die GM, entstanden wahrscheinlich 1514/15 ⫺ die von Fuchs, Ausg., S. XXV⫺ XXX, verfochtene spätere Datierung (1517) hat nicht überzeugen können ⫺, wurde erst 1519 in Basel, nicht in Straßburg, gedruckt. M.s eigener Konvent, der sich 1513/14 mit ihm überworfen, erfolgreich seine Absetzung als Guardian betrieben und ihn nun wegen angeblicher Angriffe in der GM beim Straßburger Ammeister angezeigt hatte, erwirkte nach vorübergehender Beschlagnahme des Manuskripts das Verbot einer Straßburger Drucklegung. Wie zum Ersatz verfaßte M. alsbald die thematisch verwandte MS und veröffentlichte sie anonym 1515 in Straßburg bei Hüpfuff, der M. für die GM bereits honoriert hatte.

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Murner, Thomas

Die GM (5419 Vv.) ist nicht so sehr ein satirischer Angriff gegen die wybschen mannen (‘Weiberhelden’), wie der Werktitel ankündigt, sondern zielt in der Hauptsache auf das angeblich von Geld- und Machtgier beherrschte Verhalten der Frauen, die Liebe nur simulieren, um sich die Männer, die Gäuche, gefügig zu machen und sie bis zu ihrem Ruin materiell auszubeuten. Zwar erkennt es ‘Murner’, der hier in der Maske eines Kanzlers der Geuchmat agiert, als seine Aufgabe, die auf dem Gäuche-Anger versammelten Liebesnarren je nach ihrem Verdienst in eine Rangordnung zu bringen. Aber nicht die Männer werden als Akteure vorgeführt, sondern die Frauen, die sich mit allen Mitteln der Umgarnung der Männer zu bemächtigen wissen (Kap. 7⫺18). Scham hat die Welt verlassen (Kap. 3) und die Herrschaft an Venus, die personifizierte Schamlosigkeit, abgetreten (Kap. 4); sie unterweist die Frauen in der Kunst der Verführung (Kap. 19). Das zuvor in seinen Methoden dargestellte Treiben der tückisch verführerischen Frau belegen die Kap. 20⫺ 32 mit einer Fülle an biblischen und anderweit historischen Exempla, und Kap. 38⫺ 45 machen mit den sieben bösesten Weibern auf Erden bekannt; eine jede hat im Rat der Gäuche einen Sitz. Die 22 Artikel, auf die der Kanzler der Gäuche einen jeden vereidigt, der sich einer Frau zuwenden möchte (Kap. 5⫺6), Artikel, welche auf die Frauen wie sonst nur die Dichtung des Minnedienstes den Glanz der Vollkommenheit werfen und daher von den Männern stete Verehrung der Frauen und unbedingte Untertänigkeit verlangen, erweisen sich als Instrument weiblicher Verschlagenheit, einzig ins Werk gesetzt, um die Männer in freiwillige ausbeutungsfähige Hörigkeit zu zwingen ⫺ äußerste Perversion des Minnewesens (vgl. Kˆnneker, 1996/97, S. 392−395). Die Perspektive der GM nimmt das weibliche Geschlecht nahezu nur als verderbtes wahr, und so ist M.s Gedicht das vielleicht frauenfeindlichste der dt. Literatur. Drucke. Die geuch|mat zu˚ straff allen wybschen man⫽|nen durch den hoch gelerten herren | Thoman Murner […] vnnd | eyner frummen ge-

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e meyn der | loblichen statt Basel in frey⫽|den zu˚ eyner letz be⫽|schreiben vnd ver⫽|lassen. Basel: Adam Petri, 5. April 1519. VD 16, M 7035. Zu einer Variante des Erstdrucks s. Fuchs, Ausg., e S. LXXXVIII⫺XC. ⫺ Die Gauchmatt/| Darinn e all wei⫽|bische Mannßbilde fein hoflich ge⫽| strafft/ vnd wie sie sich bessern sollen […]. Frankfurt a. M.: Martin Lechler, 1565. VD 16, M 7036. Ausgabe. E. F uc hs , D S, Bd. 5 .

4. ‘Die Mühle von Schwindelsheim und Gret Müllerin Jahrzeit’. Das Gedicht (1606 Vv.) erschien 1515 ⫺ offenbar wegen des über die GM seitens der städtischen Zensur verhängten Druckverbots ⫺ zwar anonym, doch machte M. seine Autorschaft bestens kenntlich, indem er in der Vorrede (v. 61⫺118) eine Serie von nicht weniger als 41 Kapitelüberschriften der NB (Kap. 25⫺90) zitierte. Er betonte damit auch die gattungsmäßige Zusammengehörigkeit von NB und MS. Mit Wendling kann man bereits dem Doppeltitel entnehmen, daß M. zwei ursprünglich gesonderte Konzepte miteinander verbunden hat, ohne sie doch zu einem konsistenten Ganzen zu vereinen: Die Figur der Gredt, der verstorbenen buhlerischen Frau des Müllers (sie ist eine Figur schon der NB und der SZ), zu deren Jahresgedächtnis eine Gesellschaft von Schwindelsheimern herbeigeläutet wird, verliert sich nach Kap. 3 spurlos, taucht erst am Schluß von Kap. 11 wieder auf, dominiert dann Kap. 12 und fehlt wiederum im 13., dem Schlußkapitel. Umgekehrt fällt in den Gredt-Kapiteln (1⫺3, 12) das Mühlenmotiv aus. In den Kapiteln von Gredt und ihrem Jahresgedächtnis ist Schwindelsheim der Ort der Buhlerei, an dem die Liebesnarren ihr ‘Opfer’ spenden, bis sie arm sind; hier knüpft M. deutlich und mit erheblichen Anleihen (v. a. in Kap. 1⫺2), an seine GM an. In den Kapiteln, die mit Motiven des Mühlenbetriebs arbeiten, greift die Satire über die sexuelle Begehrlichkeit (beider Geschlechter) hinaus, bezieht in das Narrenwesen Geldgier, Prasserei, Trunksucht, Modetorheit ein, und immer zielt sie mit Vorzug auf das Wohlleben und die Laster der Geistlichkeit. Als wirkungsvollste Satire gilt das abschließende Kap. von des Müllers entlaufenem

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Esel, den man auf Throne gesetzt und gekrönt hat, der auch im Rat der Städte und in den Zünften der Handwerker stets den höchsten Platz einnimmt, so auch in den geistlichen Orden, und der doch im Stall des Müllers seinen Platz hätte und nur taugte, ihm die Mehlsäcke zu tragen. Druck. Die Mülle von | Schwyndelszheym vnd | Gredt Müllerin Jarzeit. Straßburg: Matthias Hüpfuff, 1515. VD 16, M 7041. Ein Druck mit der Titelvariante Jarzit lag Bebermeyers Ausg. (wohl nach dem Ex. der StB Colmar) zugrunde; s. Faksimile der Titelseite in DS, Bd. 4, S. [1]. Ausgaben. Albrecht, Straßburger Studien 2 (1884) 1⫺52 (fehlerhaft); G. Bebermeyer, DS, Bd. 4. Faksimile hg. von O. Clemen (Zwickauer Facsimiledrucke 2), 1910.

G . J ur is ti sc he Sc hr if te n. M. verfaßte und veröffentlichte seine juristischen Arbeiten hauptsächlich in der Zeit seines Studiums und seiner Lehre in Basel (1518⫺19). Für seinen Unterricht gab er damals auch das schon früher konzipierte ‘Chartiludium’ (s. II.C.3.a) zum Druck. Nicht erhalten ist sein ‘Modus legendi abbreviaturas in utroque iure’, eine anscheinend neuartige Bearbeitung eines weitverbreiteten ‘Modus legendi’, die als solche Kritik erregte (vgl. Erler, S. 17⫺ 19). Was der Jurist M. schrieb, diente nicht der Wissenschaft, sondern allein einer einfachen, möglichst gemeinverständlichen Vermittlung des kaiserlichen und des kirchlichen Rechts, die er zu seinem Programm erhob (s. die Vorreden) und für die er insbesondere erstmals die Volkssprache einsetzte. M. war nicht nur der erste deutsche Übersetzer römischer Rechtsbücher, er hat offenbar auch als erster juristische Vorlesungen in dt. Sprache gehalten (vgl. Erler, S. 46 f.). Die Bedeutung seiner Übersetzungen für die Entwicklung der deutschen Rechtssprache ist heute unbestritten. Sein unbekümmertes Bemühen, die Rechtstexte durch Übersetzung in die Volkssprache jedermann zugänglich zu machen, hat ihm zu seiner Zeit freilich den Vorwurf unseriöser Popularisierung eingetragen, vor allem seitens Ulrich Zasius,

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dessen Verdammung des Juristen M. bis zu seiner Rehabilitation durch Erler (1956) Bestand hatte. 1. ‘Utriusque iuris tituli et regule’. Die Schrift enthält eine Aufzählung der Titelrubriken der Justinianischen Rechtsbücher sowie der ‘Libri feudorum’ und der Goldenen Bulle Karls IV., sodann die Tituli kanonischer Rechtsbücher, des ‘Decretum abbreviatum’ des Johannes de Deo und der ‘Decretales’, schließlich die ‘Regulae Iuris civilis’ und die ‘Regulae Decretalium’ (Liber sextus). Bedeutsam an M.s Schrift ist ihre Zweisprachigkeit. Er versah jeden lat. Titulus und jede Regula mit dt. Übersetzungen, bot damit klassisches Recht erstmals in dt. Sprache. Diese Leistung, die eine besondere sprachliche Begabung voraussetzte, und ihre schwierigen Bedingungen hat erst Erler gewürdigt. Drucke. Vtriusque | iuris tituli et regule | a doctore Thoma Murner Ar|gentinensi/ or*dinis+ Minorum, in Alema|nicum traducti eloquium […]. Basel: Adam Petri, Okt. 1518. VD 16, M 7083. Titelbl.v: Vorwort an die Basler Jura-Studenten. ND: Ebd., Okt. 1520. VD 16, M 7084. Vorwort an die Jura-Studenten gedr. bei Kisch, 1962, S. 329 f. M.s dt. Übersetzungen der ‘Regulae Iuris civilis’, der ‘Regulae Decretalium’ sowie der Regulae des ‘Liber sextus’ wurden in verschiedene spätere Sammeldrucke aufgenommen: a) Teutsche Iura. | Regulae LL. |Schlussreden/ Regeln vnnd Bekürtzung beder | Rechten […]. Frankfurt a. M.: Chr. Egenolf, 1537. VD 16, M 7085. Bl. a ijr⫺b iijv. b) Justinianischer | Jnstituten warhaffte dolmet⫽| schung/ […] durch Orth. Fuch⫽|sperger von Ditmoning […] Teütsche Iura. Regulae LL. | Schlußreden/ Regeln vnd Bekürtzung beder Rechten […]. Augsburg: Alex. Weißenhorn, 1538. VD 16, M 7086. Teil II, Bl. I r⫺VI v. c) ND Ingolstadt, Alex. Weißenhorn, 1541.

2. ‘Institutiones Iustiniani’ deutsch. M.s vollständige Übersetzung der vier Bücher der ‘Institutiones’ Justinians verfährt im Unterschied zu seiner Wiedergabe der ‘Utriusque Iuris tituli’, die kommentierend ausfallen kann, sehr wörtlich. Er verfolgte einerseits die Aufgabe, das Verständnis des schwierigen lat. Originals durch textnahe Übersetzung zu erleichtern, anderseits sollte die Übersetzung jedoch dem Bedarf jedwedes Laien dienen: Des sich ein

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yeder behelffen mag / In allen hendlen alle tag (Bl. a ijr, Reimvorrede). Murners dt. ‘Institutiones’ hatten weitere Übersetzungen im Gefolge, die von Ortolf Fuchsberger (1535), die sich noch deutlich auf M. stützte, und die von Justinus Göbler (1551), die bis 1675 zwölf Auflagen erlebte. Drucke. Instituten ein | warer vrsprung vnnd | fundament des Keyserlichen rechtens/ von | dem hochgelerten herren Thoman Murner | der heiligen geschrifft Doctor/ beyder rechten | Licentiaten/ verdütschet/ Vnd vff der | hohen schu˚l Basel in syner orden|lichen lectur offenlich mit dem | latin verglichet. Basel: Adam Petri, 8. April 1519. VD 16, C 5233. ND ebd., 1520. VD 16, C 5234. Vorrede an die Hörer gedr. bei Kisch, 1962, S. 330 f. M.s Übersetzung liegt auch einer ndl. Übersetzung zugrunde: Institutiones imperiales van den hoch gheleerden Herrn Thoma Murner in Duytsche tale overgheset […]. Antwerpen: Simon Cock, 1547, und noch einer weiteren: Den Haag 1620 u. 1648 (Erler, S. 42 f.).

3. ‘Kaiserliche Stadtrechte’. Der Vorrede an den Straßburger Stettmeister Hans Bock (o. D.) und der Reimvorrede zufolge beabsichtigte M. mit diesem Buch, die des Lateins nicht mächtigen Räte der Städte von den latinischen doctores unabhängig zu machen und ebenso den armen des rechten begirigen zehilff zu˚kumen. Sein Anspruch der Volksaufklärung ist hier am eindringlichsten, sein an die Juristen adressierter Vorwurf bewußter Arkanpraxis am offensten formuliert. ‘Stadtrechte’ meint das Recht der Bürger (Ius civile). Sachlich ist M.s Buch ein Lehrbuch des römischen Zivilrechts auf der Grundlage der ‘Institutiones’ Justinians. Druck. Der kei|serlichen stat re|chten ein ingang | vnd wares fundament. Mei|ster vndt rädten tütscher na|tion von Doctor Thomas | Murner gegabet vnd zu˚ ge|fallen vertütschet.|. Straßburg: Joh. Grüninger, 29. Sept. 1521. VD 16, C 5235. Titelbl.v: Apologetische Vorrede M.s.

Zu M.s juristischer Gedächtniskunst s. o. C.3. H . S ch ri ft en ge ge n L ut he r u nd L ut he ra ne r. 1. Flugschriften 1520⫺1521. M. hat als einer der ersten erkannt, daß Luther gerade deshalb der alten Kirche ge-

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fährlich wurde, weil er an der Diskussion von Glaubensfragen, bislang Sache allein der Theologen, die breite Öffentlichkeit beteiligte, indem er sich der Volkssprache bediente, und er hat sich daher als erster und lange Zeit einziger entschieden, zur Verteidigung des alten Glaubens dem Reformator mit den gleichen Waffen zu begegnen, mit dt. Flugschriften. Am 11. Nov. 1520, kurz vor Ablauf der Widerrufsfrist, welche die Bannandrohungsbulle ‘Exsurge Domine’ Martin Luther zugestand, erschien Murners erste Kritik an den umstürzend neuen Lehren und Forderungen des Reformators, die ‘Christliche und brüderliche Ermahnung’. M. scheint beim Entschluß zu dieser Schrift, wie schon der Wortlaut ihres Titels nahelegt, noch auf ein Einlenken Luthers gehofft zu haben; dir zu˚ widerkere/ vnd vnß zu˚ rettung der eren/ vnd des glaubens (Bl. [H6]r) sei sie verfaßt; sie ist auch im Ton ⫺ bei aller Entschiedenheit in der Sache ⫺ versöhnlich gehalten und begegnet dem Adressaten mit Respekt. M. will sie, wie er am Ende bemerkt, aus einem Bestand von 32 bereits verfaßten Einzelschriften ausgewählt haben. Doch dieser großangelegte Fundus der Auseinandersetzung mit Luthers Reformprogramm war wohl eher ein Plan. Gedruckt wurden von den 32 Schriften, die auch eine lat. Version erhalten sollten, jedenfalls nur vier, dazu eine Übersetzung, alle anonym und in sehr rascher Folge binnen sechs Wochen; eine weitere kam, aus neuem besonderen Anlaß, im Febr. 1521 hinzu. a) ‘Eine christliche und brüderliche Ermahnung’. Zentraler Angriffspunkt der Schrift ist Luthers ‘Sermon von dem neuen Testament das ist von der heiligen Messe’ (Juli 1520). M. kennt aber auch bereits Luthers ‘An den christlichen Adel deutscher Nation’ und ‘Von dem Papsttum in Rom’. Er bemängelt die eigenwillige Bibelauslegung des Reformators, opponiert gegen dessen Angriff auf die Messe und ihren Opfercharakter, verteidigt das sakramentale Priesteramt. Er tadelt Luthers eigenmächtiges Auftreten als Prediger und vermißt in seiner Kirchenkritik, die M. in etlichen Punk-

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Murner, Thomas

ten teilt, christliche Mäßigung. Wieder und wieder kommt ihm der Verdacht, der mit großer Resonanz beim Volk agitierende Luther wolle böhmische Verhältnisse schaffen, und dazu rechnet er auch Luthers Forderung, das Latein der Liturgie durch die Volkssprache abzulösen. Drucke. Ein christliche | vnd briederli⫽|che ermanung zu˚ dem hoch|gelerten doctor Martino lu|ter Augustiner orden zu˚ Wit|temburg (Das er etlichen re|den von dem newen testa|ment der heillgen messen | gethon) abstande/ vnd | wider mit gemeiner | christenheit sich | vereinige. [Straßburg: Joh. Grüninger], 11. Nov. 1520. VD 16, M 7029. Es scheinen zwei verschiedene Zustände dieses Drucks vorzuliegen. Ich folge dem Ex. München, BSB, 4 Polem. 1091. Zwei weitere Drucke: [Wien: Joh. Singriener], 1520; [Straßburg: Joh. Grüninger], 21. Jan. 1521. VD 16, M 7030⫺ 31. Ausgabe. W. Pfeiffer-Belli, DS, Bd. 6 (weicht vom Münchener Ex. des Erstdrucks ab).

b) ‘Von Martin Luthers Lehren und Predigen’. Hatte den Anlaß zu Ms. zweiter Schrift Lazarus Spenglers verbreitete ‘Schutzrede für Martin Luthers Lehre’ (1519) gegeben, so ist doch in der Sache allein von Luther die Rede. M. beschuldigt ihn des Mißbrauchs der Muttersprache: er trachte das Volk zum Irrglauben zu verleiten und gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln. Scharf verurteilt er Luthers eigene, die Tradition verachtende Schriftauslegung, weist seinen Anspruch, alle seine Lehre sei biblisch fundiert, zurück. Druck. Von Doctor | Martinus luters | leren vnd predigen. Das sie | argwenig seint/ vnd nit gentz|lich glaubwirdig zu˚halten. [Straßburg: Joh. Grüninger], 24. Nov. 1520. VD 16, M 7091. Ausgabe. Laube/Weiss I, S. 142⫺170.

c) ‘Von dem Papsttum’. Eine Auseinandersetzung mit der ‘Resolutio Lutheriana super propositione sua terciadecima de potestate papae’ (1519) sowie der Invektive ‘Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberümten Romanisten zu Leipzig’ gegen Augustin Alveldt. M.s Versuch, die Einsetzung des Papsttums durch Christus nachzuweisen und damit die Nachfolger Petri als höchste Autorität in Glaubensfragen zu legitimieren. Das

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“schwächste, trockenste Erzeugnis von Murners antilutherischer Polemik” (Pfeiffer-Belli, Ausg., S. 1). Druck. Von dem bab⫽|stenthum das | ist von e ober|keyt Christlichs glau⫽|ben wyder hochsten der Doctor | Martinum Luther. Straßburg: Joh. Grüninger, 13. Dez. 1520. VD 16, M 7090. Ausgabe. W. Pfeiffer-Belli, DS, Bd. 7, S. 3⫺ 55.

d) ‘Adelsschrift’. M.s unmittelbare Antwort auf Luthers bahnbrechende Flugschrift ‘An den christlichen Adel deutscher Nation’ ist wie diese Ks. Karl V. gewidmet. Er fordert den Kaiser auf, gegen Luther einzuschreiten, den er als einen neuen Catilina apostrophiert, als einen Feind aller bestehenden Ordnung, dem die christliche Reform nicht mehr als ein täuschendes Etikett seines Zerstörungswerks bedeute. M. stellt die von Luther angeprangerten Mißstände nicht grundsätzlich in Abrede, macht sie aber nicht zum Thema, sondern Luthers Angriff auf zentrale Fragen des Glaubens und die gesamte kirchliche Verfassung. An den Adel geht der Appell, seine ständischen Voraussetzungen im Gefolge Luthers nicht aufs Spiel zu setzen, vielmehr für die Bewahrung des Glaubens zu streiten. Druck. An den Groß⫽|mechtigsten vnd | Durchlüchtigsten adel tüt⫽|scher nation das sye den | christlichen glauben be⫽|schirmen/ wyder e des glaubens | christi/ Martinum | den | zerstorer Luther einen verfie|rer der einfel|tigen christen. [Straßburg]: Joh. Grüninger, 24. Dez. 1520. VD 16, M 7020. Bl. A ii r⫺Br: Vorrede an Karl V. Ausgaben. E. Voss (Neudrucke dt. Literaturwerke d. 16. u. 17. Jh.s, Nr. 153), 1899; DS, Bd. 7, S. 59⫺117; Laube/Weiss I, S.171−228.

e) Übersetzung von Luthers ‘De captivitate babylonica ecclesiae’. Die (freie und nicht ganz vollständige) Übersetzung, ein leicht mißverständlicher Akt, sollte anhand von Luthers eigenen Worten über seine Lehre aufklären. Luther läßt in seiner Schrift nur mehr zwei Sakramente, Taufe und Eucharistie, gelten und grenzt sich von der römischen Transsubstantiationslehre ab. Dem Papsttum lastet er eine Entstellung des wahren Sakramentsbegriffs an.

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Murner, Thomas

Druck. Von der Babylonischen gefengk-|nuß der Kirchen | Doctor Martin Luthers. [Straßburg:, Joh. Schott, 1520]. VD 16, 4194. Vier weitere Straßburger und Augsburger Drucke. VD 16, L 4192⫺93, 4195⫺96.

f) Zu Luthers Verbrennung von Bulle und Kirchenrecht. Am 10. Dez. 1519 hatte Luther in Wittenberg einen Druck der Bannandrohungsbulle, mehrere Exemplare des Kanonischen Rechts sowie Schriften Ecks und J Emsers öffentlich verbrannt. Seine in 30 Artikel gefaßte Rechtfertigungsschrift für diesen unmißverständlichen Akt erschien bereits Ende Dez. In seiner Gegenschrift nahm M. sich alle einzelnen Artikel vor, suchte bewußt zu machen, daß die Entmachtung der kirchlichen Autorität, die Unterordnung des Papstes unter den Kaiser, Luthers hartnäckig verfolgtes Ziel sei, im übrigen alle seine Rechtfertigungen biblischer Grundlage entbehrten. Druck. Wie doctor M. | Luter vß falsch|en vrsachen bewegt Dz | geistlich recht ver|brennet hat. Straßburg: Joh. Grüninger, 1521. Ausgabe. W. Pfeiffer-Belli, DS, Bd. 8.

g) ‘Protestation’. M.s Lutherkritik löste im reformatorischen Lager sehr rasch heftige Reaktionen in Gestalt von zahlreichen literarischen Pamphleten aus (Überblick: P Merker, DS, Bd. 9, S. 13⫺27); keiner ihrer anonymen Verfasser hat sich bisher zweifelsfrei identifizieren lassen. Schon im Jan. 1521 erschien in Straßburg der dialogische ‘Karsthans’, der M. als Kater karikiert und ihn ebenso als Poeta laureatus wie als Juristen, Theologen und Prediger zu verulken trachtet. Gleichzeitig kam in Briefform die lat. ‘Defensio Christianorum de Cruce id est Lutheranorum’ heraus, die dem Murr Narr die Etiketten der Raffgier, Heuchelei, Unbildung anheftet. Es folgte maßlos gehässig, mit monströsen Unterstellungen auf deprimierendem Niveau, der ‘Murnarus Leuiathan vulgo dictus Geltnar oder Genß Prediger’. Unter dem 8. März 1521 setzte M. sich mit öffentlichen Anschlägen einer ‘Protestation’, die ihm der Straßburger Rat erlaubt hatte, gegen die Schmähschriften zur Wehr. Er betonte ⫺ nicht ganz zu Recht ⫺,

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daß er nur die neue Lehre, nie aber Luthers Person angegriffen habe wie umgekehrt ihn selber nun seine Gegner. Erneut erwähnt er wie zuvor in der ‘Ermahnung’ die xxxii biechlin (S. 598), die zur Veröffentlichung bereitstünden. Einblattdruck. Protestation. D. Thome Murner | das er wider Doc. Mar. Luther nichtz vnrechts | gehandlet hab. (nach Rˆhrich). Abdruck bei T. W. Rˆhrich, Dr. Th. M., der Barfüßer⫽Mönch in Straßburg, Zs. f. d. hist. Theologie 18 (1848) 587⫺612.

Luther selber äußerte sich zu M.s ‘Ermahnungen’ erst im März/April 1521, in seiner ‘Auff das überchristlich: übergaistlich und überkünstlich buch Bocks Emsers zu Leiptzig Antwurt’ ([Augsburg: S. Otmar, 1521]. VD 16, L 3883) und erteilte ihm dort (Bl. K iijv⫺[L4]r: An den Murnar) eine recht grobe Abfuhr. 2. Dichtungen und Schriften 1522⫺ 1524. a) Im Frühjahr 1522 erschien aus der Feder eines begeisterten Lutheranhängers, des Esslinger Augustiners Michael Styfel, die Schrift ‘Von der christfermigen rechtgegründten leer Doctoris Martini Luthers’ ([Augsburg: Ph. Ulhart, 1522]. VD 16, S 9019), deren Hauptinhalt ain überaus e schon kunstlich Lied ist, in dem der Engel von Apoc 14,6 auf Luther gedeutet wird. Auf diese Apotheose des Reformators antwortete M. mit einer Kontrafaktur (derselbe Ton, gegensätzlicher Inhalt), seinem bewegenden Lied ‘Von dem undergang des Christlichen glaubens’ (35 Strr.); es “erhebt sich weit über die zeitgenössischen Streitgesänge” (Spanier). Gegen M.s Lied polemisierte Styfel mit einer das Lied glossierenden Flugschrift und dazu mit einer eigenen Kontrafaktur. Drucke. Der Text von M.s Lied, dessen Erstdruck nicht erhalten ist, liegt nur noch in zwei anderen Drucken vor: 1. in Styfels glossierender Flugschrift, die den Text durchweg in Verspaaren zitiert: Wider Doctor Murnars | falsch erdycht Lyed: von | dem vndergang Christlichs | glaubens. Bruoder Michael Styfels | von Esszlingen vßleg vnnd | Christliche gloß | darüber. […]. [Straßburg: Reinh. Beck d. Ä. Erben, 1522]. VD 16. S 9025. 2. in einem Druck, der sowohl M.s Lied als auch Styfels Kontrafaktur präsentiert: Ain new

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Murner, Thomas

lied von | dem vndergang des Chri⫽|stlichen glaubens Doct. | Murner. jnn Bru˚der | Veiten thon. | Ain ander lied | Darwider vom auff|gang der Christen⫽|hait in D. Mur. | Veiten thon. [Augsburg: Heinr. Steiner, um 1523]. VD 16, M 7046. Ausgaben. Ph. Wackernagel, Das dt. Kirchenlied von d. ältesten Zeit bis z. Anfang d. 17. Jh.s, Bd. 5, 1877, S. 888⫺893; H. Heger (Hg.), SpätMA, Humanismus, Reformation. Texte u. Zeugnisse, Bd. 2, 1978, S. 312⫺317.

M. setzte sich gegen Styfels Flugschrift mit einer ‘Antwurt und klag’ zur Wehr, die, adressiert Zu allen stifelen des deutschen lands, dem Gegner in 30 Punkten Unverständnis, Mißverständnis und Verdrehung vorwirft und ihn im übrigen mit Witz und Spott behandelt. Druck. Antwurt vnd klag mit ent-|schuldigung doctor Murners wider bruder Mich|el stifel weyt von eßlingen da heim, vff das stüfel | buch so er wider meyn lied gemachet hat, | daruß er des lieds den rechten | thon erlernen mag. [Straßburg: Joh. Grüninger], 7. Sept. 1522. VD 16, M 7023.

b) An der Seite Heinrichs VIII. Der englische Kg. Heinrich VIII. hatte 1521 als Antwort auf Luthers ‘De captivitate babylonica ecclesiae’ eine Verteidigung der katholischen Sakramentenlehre und des Traditionsprinzips veröffentlicht, die ‘Assertatio septem sacramentorum’. Als Luther im Sommer 1522 mit seiner Schrift ‘Contra Henricum regem Angliae’ scharf erwiderte, übernahm neben Eck und Emser auch M. die Verteidigung des Königs. Er besorgte noch 1522 bei Grüninger in Straßburg einen weiteren Druck der ‘Assertatio’ (VD 16, H 2167) und gleichzeitig eine dt. Übersetzung (1). Auch den in der gleichen Sache verfaßten Brief Kg. Heinrichs an Hzg. Georg von Sachsen und dessen Antwort vom 7. Mai 1522 brachte er in dt. Übersetzung zum Druck (2). Vor allem suchte er in einer eigenen Flugschrift, die in die Form eines Gesprächs zwischen dem engl. König, Luther und M. selbst gefaßt ist, Luther in 50 Fällen als Lügner zu inkriminieren (3). Er kündigte dort auch eine lat. Fassung seiner Polemik an, einen Liber mendationum Lutheri, der mehr als 400 Lügen Luthers aufdecken

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werde. Diese lat. Fassung war, mehrfach ergänzt und verschärft im Ton, im Sommer 1524 abgeschlossen und befand sich damals in M.s eigener Straßburger Offizin bereits im Druck. Ihr Erscheinen wurde indes durch die Plünderung und Verwüstung von Murners Werkstatt im Sept. verhindert. Erhalten ist nur ein Fragment, etwa das erste Drittel des Drucks (4), das auch die Widmung an Kg. Heinrich vom 11. Nov. 1522 enthält; es wurde erst 1930 von P. Scherrer wiederentdeckt. Drucke. (1) Bekennung der sü|ben Sacramenten wider Martinum Lutherum […]. Straßburg: Joh. Grüninger, 7. Sept. 1522. VD 16, H 2171. ⫺ (2) Ein brieff des Edlen Künigs vß Engelandt/ zu | den Fürsten von Sachsen/ von dem Luther […]. [Straßburg: Wolfg. Köpfel], 1522. VD 16, E 1316. ⫺ (3) Ob der Künig | vsz engelland | ein lügner sey oder | der Luther. |. Straßburg: Joh. Grüninger, 10. Nov. 1522. VD 16, M 7047. ⫺ (4) Mendatia Luthe⫽|ri in serenissimum | Anglorum et Fran|tiae regem Henri⫽|cum octavum. fi⫽|dei defensorem, | literis et ar⫽|mis trium⫽|phato| rem magnificum. |. Ex.: München, UB, Theol. 3910 S. No. 666. Vgl. P. scherrer, Zwei neue Schriften Th. M.s, Basler Zs. f. Gesch. u. Altertumskunde 29 (1930) 145⫺167.

c) ‘Von dem grossen Lutherischen Narren’. M.s antireformatorische Verssatire war durch die massive Flugschriftenkampagne stimuliert, die seine im Nov. und Dez. 1520 veröffentlichten Streitschriften gegen Luther ausgelöst hatten (vgl. die Vorrede; s. o. H.1.g). Er wollte, wie er durch sein Motto und zuvor schon in mehreren Ankündigungen deutlich genug bekundete, seinen Gegnern, deren Pamphlete ihn zu einer Figur ebenso des Spottes wie der moralischen Verachtung gemacht hatten, mit gleicher Münze heimzahlen. Die Satire griff indes über eine persönliche Replik, die sich aller Register der Karikierung und Verhöhnung bedient, weit hinaus, ihr Gegenstand war die reformatorische Bewegung selbst. M. knüpfte an seine frühere ‘Narrenbeschwörung’ (s. o. II.F.1.) an, doch statt der Thematisierung von vielerlei menschlicher Narrheiten und ihrer revuehaften Inszenierung konzentrierte er sich nun auf ein einziges Übel, das er als den Großen Narren präsentiert: eine monströse,

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Murner, Thomas

widerwärtig aufgeblähte Figur, allegorischer Inbegriff des reformatorischen Unwesens. Die Reduktion der Satire auf nur mehr ein Thema ließ auch eine Handlung zu, die sich, locker, häufig genug nur sprunghaft gefügt und durch Einlagen unterbrochen, in vier Szenenfolgen vollzieht: 1. Ankunft des auf einem Riesenschlitten beförderten Umgetüms, dem bei seiner Beschwörung durch den Exorzisten M. aus Haupt, Bauch, Taschen, Stiefeln eine Vielzahl lutherischer Rebellen entweicht, Prediger, Kirchenräuber, die Fünfzehn Bundtsgnossen Johann Eberlins u. a. m. (Vv. 162⫺ 1709 u. 2479⫺2836). 2. Sammlung, Aufstellung und Angriff der Lutherischen Truppe (Vv. 1760⫺ 2478, 2837⫺3180), die Kirchen und Klöster zerstört und plündert, danach ein festes Schloß erstürmt, in dem man aber einzig eine Sau findet; ein dritter Angriff gilt der Bastion des Glaubens, die M. standhaft verteidigt; Verhandlungsgespräche zwischen M. und Luther führen zum (scheinbaren) Übertritt M.s ins gegnerische Lager, wofür ihm Luther seine Tochter zur Ehe verspricht (Vv. 2837⫺ 3979). 3. Hochzeit M.s mit Luthers Tochter, die er indes noch in der Hochzeitsnacht mit Schlägen davontreibt, da sie mit ekliger Krätze behaftet ist (3980⫺4315). 4. Tod Luthers, der die Sakramente verweigert, somit als Ketzer stirbt und schmachvoll im Unrat verscharrt wird; Krankheit und Tod, aber christliches Begräbnis des Großen Narren (4316⫺4796).

Gipfel dieser Handlung und Punkt ihrer Wende ist die groteske Hochzeit, mit der die Lutherischen meinen, ihren Sieg feiern zu können, und doch nur die Schwelle zu ihrem Untergang betreten. Bis zu dieser Stelle demonstriert das Auftreten Luthers und der Seinen nur eines: Sie sind Aufrührer gegen die geistliche und weltliche Ordnung und sind dies unter dem deckmantel (v. 748) des Evangeliums. Insoweit versteht sich die Handlung als “satirischer Entlarvungsprozeß” (Kˆnneker, 1991, S. 151). Eigentümlich ist dieser Narrendichtung M.s ein stetes Oszillieren zwischen Komik, ja Klamauk und der Beschwörung gewaltsamen Ruins aller Ordnung, eine Ambivalenz, die M. konzentriert in der Titelfigur des Großen Narren ausspielt. ‘Murner’, wie in den früheren Satiren eine literarische Figur, tritt in der Maske und mit der Lizenz des Narren auf, zu dem ihn die Pamphlete der Gegner gemacht haben, in

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18 der insgesamt 52 Holzschnitte, die M. gewiß selbst entworfen hat, als der verunglimpfte Murr-Narr, als Mönch mit Katzenkopf. M.s letztem großen Dichtwerk blieb die Wirkung versagt, da der Straßburger Rat gleich nach Erscheinen des Drucks die gesamte Auflage konfiszierte. Allerdings gibt die Existenz einer stellenweise abgemilderten zweiten Redaktion zu der Vermutung Anlaß, daß der Drucker Grüninger, der sich in einem neuen Kolophon nun auch von jeder Verantwortung für den Inhalt des Buchs freizeichnete, eine Anzahl von Exemplaren doch noch in den Handel gebracht hat (vgl. Merker, Ausg., S. 41⫺ 43). Drucke. Von dem grossen | Lutherischen Narren wie in | doctor Murner beschworen hat. etc. Straßburg: Joh. Grüninger, 19. Dez. 1522. VD 16, M 7089. Mit Privileg Ks. Karls V. Ex.: Nürnberg, GNM, 8° L. 1967. Eine zweite Redaktion, ohne das ksl. Privileg, mit neuem Kolophon des Drukkers: VD 16, M 7088. Ex.: München, BSB, Rar. 870. Vgl. Merker, Ausg., S. 41 f. u. Lesarten. Ausgabe. P. Merker, DS, Bd. 9, 1918. d) ‘Purgatio vulgaris’. In der kleinen dt. Schrift, die M. im Sommer 1524 verfaßte, setzt er sich gegen offenbar falsche Vorwürfe zur Wehr, die seine Ordenstreue, seinen christlichen Glauben u. a. m. in Zweifel zogen. Den in der hauseigenen Werkstatt geplanten Druck verhinderten das amtliche Verbot der Veröffentlichung von Streitschriften und schließlich die Zerstörung der Druckerei im Sept. 1524. Handschrift. Strasbourg, Archives de la ville, St. Thomas, AST 323/19. Ausgabe. J. Lefftz, Archiv f. elsäss. Kirchengesch. 3 (1927/8) 97⫺114.

J . S ch ri ft en im Sc hw ei ze r Rel ig io ns st re it . Nach seiner Flucht 1525 ins altgläubige Luzern griff M. in die Streitigkeiten ein, welche die reformatorische Bewegung unter der Führung Huldrych Zwinglis längst auch in den eidgenössischen Kantonen ausgelöst hatte. M. Tätigkeit knüpfte sich in den Jahren 1526⫺1529 hauptsächlich an zwei Ereignisse, an die Disputationen 1526 in Baden (Aargau) und 1528 in Bern. 1. Schriften zur Badener Disputation. Dem von den 12 altgläubigen eidgenössischen Orten auf den 21. Mai 1526 anbe-

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Murner, Thomas

raumten Religionsgespräch mit Zwingli, bei dem seine Kontrahenten Johannes Fabri, Johannes Eck und M. sein sollten, blieb Zwingli fern; er hatte erhebliche Vorbedingungen gestellt, die seitens der Altgläubigen teilweise unerfüllbar waren. Fabri und auch Murner legten ihm seine Absage als feige Flucht aus. Die Badener Disputation, Auseinandersetzung mit der Theologie und dem Reformprogramm Zwinglis, fand dann ohne ihn statt. Doch nahmen auf der reformatorischen Seite Johannes Oecolampadius aus Basel und Berthold Haller aus Bern teil. a) Brief an die Gesandten der 12 altgläubigen Orte. In einem offenen Brief vom 30. April 1526 an die Vertreter der 12 altgläubigen Orte setzt M. sich mit den Forderungen auseinander, die Zwingli in seinem Schreiben vom 21. April als Bedingung seiner Teilnahme an der Badener Disputation genannt hatte. In einigen Punkten ⫺ bei der Disputation soll nur das Wort der Bibel gelten, und auch dunkle Stellen der Schrift sollen nur durch sie selbst erklärt werden ⫺ zeigt er sich um eines noch erhofften Friedens willen einverstanden, kann aber etwa der Ablehnung jeder kirchlichen Autorität in Glaubensfragen nicht Folge leisten. Er bezichtigt Zwingli der Verfälschung der Bibel und böser Irreleitung der Zürcher Gläubigen, brandmarkt bald auch in einer gewaltigen Tirade das aufrührerische, Raub und Brand verbreitende, alles Heilige und alle Moral niederreißende Unwesen der Reformation. Druck. Ein brieff den Strengen eren | not fee eisten Fursuhtigen Ersamen | wysen der xij orter e eydtgnoschafft gesand⫽|ten botten. ner loblichen Thome Murner der heiligen gschrifften vnd | beider rechten Doctor barfu˚sser orden/ vff dem tag zu˚ | Einsidlen. Jn dem iar, Christi vnsers herren. M. D | xxvi vff Philippi vnd Jacobi gehalten/ wider die lester|lich flucht/ vnd das verzwifflet abschreiben Vlrich Zwin|glins / worum er vff der e ersetzet disputation zu˚ Baden von den xij orteren nit will erschinen/ so er doch frey ge⫽|leit hat dar vnd dannen zu˚ reiten. [Luzern: Th. Murner, 1526]. VD 16, M 7027. Ausgabe. Pfeiffer-Belli, CC, S. 1⫺6.

b) ‘Ein warhafftigs verantworten’. Die Sammelschrift umfaßt drei Teile: 1. Eine scharfe Replik auf Zwinglis Die ander

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antwurt über etlich unwarhaft unchristenlichen antwurten die Egg uf der disputation ze Baden ggeben hat […], mit der er in 28 Punkten falsche oder erlogene Angaben Zwinglis über die Badener Disputation, das zugesagte freie Geleit und die Personen der Disputanten nachzuweisen sucht; 2. M.s Verteidigung seines Briefs an die Gesandten der 12 Orte (sieh Ziff. a) nach dem Protest des Zürcher Rates, dazu M.s Badener ‘Schlußreden’ und seine 40 Zwingli inkriminierenden “Ehrlos”-Erklärungen, die er am 6. und 7. Juni in Baden vorgetragen hatte; 3. den anläßlich der Badener Disputation von sieben Orten der Eidgenossenschaft ausgestellten Geleitbrief für Zwingli. Drucke. Ein vuorhafftigs verantworten | der hochgelorten doctores vnd | herren/ die zu˚ Baden vff der disputation gewesen sint […] Von doctor Thoma. Murner ge|macht […]. [Luzern: Th. Murner, Juli 1526]. VD 16, M 7093. ⫺ ND Landshut: Joh. Weißenburger, [1526]. VD 16, M 7092. Ausgaben. Pfeiffer-Belli, CC, S. 9⫺38; Laube /Weiss II, S. 284⫺309. c) Ein weiterer, kleine Sammeldruck enthält eine grob austeilende responsio an Zwingli, insbesondere zu Messe und Abendmahl, und eine dt. an Sebastian Hoffmeister, dazu lat. die 40 “Ehrlos”Erklärungen Zwinglis und die 12. Badener conclusiones über die Messe und die Eucharistie, zuvor J Erasmus’ Brief an Konrad J Pellikan (Okt. 1525; Op. epist., Nr. 1637) gegen die Abendmahllehre der Reformierten und ein Breve Clemens VII. an die Zürcher, das sie mahnt, zum alten Glauben zurückzukehren. Druck. E. Roterodami de sacro sancta | synaxi [!] vnionis sacramento corporis et sanguinis Christi […] Muneri responsio libello […] Vlrici Zvuyngel apostate […] Murneri responsio altera contu|melioso cuidam libello confilato [!] Sebastiani hoffmeyster […]. Luzern: [Th. Murner, 1526]. VD 16, E 2978.

d) Die Akten der Badener Disputation. Auf der Grundlage der Protokolle von fünf vereidigten Notaren besorgte M. eine dt. Ausgabe der Akten der Badener Disputation, die vom 21. Mai bis 8. Juni 1526 stattgefunden hatte. Die Reformierten betrachteten den ⫺ sehr fehlerhaften ⫺ Druck, der unter Murners Aufsicht entstanden war, als Fälschung. M. war ebenfalls mit der lat. Ausgabe der Badener Akten betraut. Er brachte sie in einer gegenüber der dt. Ausgabe verän-

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Murner, Thomas

derten Redaktion heraus. Sie enthält drei Teile: 1. die Disputation zwischen Eck und Oecolampadius, vollständig und im Original; 2. die Disputation Johann Fabris, zur Erleichterung für den Lesers in einem von M. hergestellten Kompendium; 3. die Disputation M.s (ohne Gegner) samt der 40 “Ehrlos”-Erklärungen in lat. Fassung. Druck. Die disputacion vor den xij orten | einer loblichen eidtgnoschaft […] von wegen der einigkeit in christ⫽|lichem glauben in iren landen vnd vndterthonen […] Mccccc vnd xxvj vff den xvj e e tag des | Meyens erhoret vnd zu˚ Baden im ergow […] gehalten […]. Luzern: Th. Murner, 27. Mai 1527. VD 16, M 7033. Ausgabe. Laube/Weiss II, S. 404⫺415 (Auszug). Lat. Redaktion: Caussa Helveti|ca orthodo| xae fidei. | Dispvtatio Helvetiorum in Ba⫽|den svperiori, coram duode|cim cantonum oratoribus et nuntijs, pro sanctae | fidei catholicae ueritate, et diuinarum litera⫽|rum defensione, habita contra Martini | Lutheri, Vlrichi Zwinglij, et Oe|colampadij peruersa et fa⫽|mosa dogmata. Luzern: [Th. Murner], 25. Aug. 1528. VD 16, M 7034.

e) ‘Lutherischer Kirchendieb- und Ketzerkalender’. Nach der Badener Disputation gab M., gereizt durch mancherlei verletzende Attacken seiner Gegner, in einem Einblattdruck einen grob satirischen Kalender auf das Jahr 1527 heraus, in dem er die Neugläubigen als ehrlose Bösewichte, Diebe, Betrüger beschimpfte und aus ihren Wortführern groteske Kalenderheilige machte. Doch stieß dieser Exzeß an Verunglimpfung auch in Luzern auf Unverständnis, und M. sah sich zu einer öffentlichen Entschuldigung und Beteuerung seiner letztlich guten Absichten veranlaßt. Schon am Ende von ‘Ein warhafftigs verantworten’ (Ziff. b) hatte er wegen der unzühtigen wort des Kalenders um Verzeihung gebeten.

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Wege der Reformation zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. Sie sollte das Gegenstück zur Badener Disputation werden, auf der die Altgläubigen die Abstimmung deutlich für sich hatten entscheiden können. Die Einladung ging allein von Bern aus, dessen Beitritt zur Reformation bereits so gut wie beschlossene Sache war, während die Eidgenossenschaft die geplante Disputation grundsätzlich ablehnte. Sie wurde auch in einem ksl.en Mandat vom 28. Dez. 1527 als ketzerisch verworfen. Eck, Fabri und Murner, als die wichtigsten Disputanten der katholischen Seite geladen, wiesen das Ansinnen der Teilnahme entschieden zurück. a) ‘Appellation gegen die Berner Disputation’. Nachdem die Akten der im Januar 1528 durchgeführten Disputation im April veröffentlicht waren, sah M. sich zu einer Rechtfertigung seiner Absage gefordert und veröffentlichte, auch im Namen von Eck und Fabri, verschiedene Briefe, die in Sachen der Einladung nach Bern und ihrer Zurückweisung geschrieben worden waren (‘Appellation’), dazu ein zweites Protestschreiben (‘Ursach und verantwortung’), das die Weigerung, an der Berner Disputation teilzunehmen, erneut begründete. Druck. Appellation vnd beruoff der hoch⫽| e gelorten herren vnd doctores Johannis Ecken/ Johan⫽|nis Fabri/ vnd Thome Murner für die xij. ort einer | loblichen Eydtgnoschafft wider die vermeinte di⫽|sputation zu˚ Bern […]. Luzern: [Th. Murner], 1528. VD 16, M 7024. Ausgabe. Laube/Weiss II, S. 744⫺757.

Drucke. Der lutherischen evangelischen kirch| endieb vnd ketzerkalender. Luzern: [Th. Murner], 10. Febr. 1527. ⫺ An die Fürsuchtigen ersamen vuy|senn vnd frommen standthafftigen | christen […] der löblichen herschafft von Lutzern ein entschuldig⫽|ung Doctor Murners […]. [Luzern: Th. Murner], 17. Mai 1527. VD 16, M 7021.

b) ‘Anzeige gegen die Berner Disputation’. M. setzt sich Punkt für Punkt mit der vom Berner Rat am 17. Nov. 1527 ergangenen Einladung zur Disputation und ihrem Programm auseinander und erhebt heftige Vorwürfe, darunter den des Eidbruchs, gegen die Berner, über die sie sich umgehend beim Luzerner Rat beschwerten.

2. Schriften zur Berner Disputation. Die Reformierten bereiteten seit 1527 eine eigene Disputation vor, um auf diesem

Druck. Hie würt angezeigt das vnchristlich | e vnd vnrechtlichvß rieffen vnd fürfreuel/ vngelort nemen | einer loblichen herrschafft von Bern ein

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Murner, Thomas

disputation zu˚ halten […]. Luzern: [Th. Murner], 8. Dez. [1528]. VD 16, M 7032. Ausgabe. Pfeiffer-belli, CC, S. 39−85; Laube/Weiss II, S. 818⫺860.

c) ‘Die gottesheilige Messe’. Auch diese Schrift verdankt ihr Entstehen der Berner Disputation, opponiert gegen deren fünfte Schlußrede, aber in besonnener theologischer Argumentation, ohne polemische Exzesse. Ihr Kernanliegen ist es, den Opfercharakter der Messe aufzuzeigen, die Einheit von Messe und Christi Kreuzesopfer. Druck. Die gots heylige meß von gott allein | e erstifft/ ein stadt vnd lebendigs opffer/ für die lebendigen | vnd die dodten […]. Luzern: [Th. Murner], 12. Nov. 1528. VD 16, M 7037. Ausgabe. W. Pfeiffer-Belli (Hg.), Th. M., Die gottesheilige Messe von Gott allein erstiftet (Neudrucke dt. Literaturwerke d. 16. u. 17. Jh.s, Nr. 257), 1928.

d) ‘Des alten christlichen Bären Testament’. Den Anlaß zu M.s Gedicht (333 Vv.) hatte Niklaus Manuels provozierende Satire über die Messe und ihre prominenten Verfechter Eck, Fabri und M. (‘Ein kleglich Botschafft’) gegeben, die gleich nach Berns Übertritt zu den Reformierten im Februar 1528 erschienen war. Doch M. replizierte ohne die frühere Schlagkraft, dichtete vielmehr eine resigniert trauernde Klage des sterbenden alten Bären ⫺ der Bär war Berns Wappentier ⫺ über den Aufstieg der abtrünnigen treubrüchigen jungen Bären, den Tod seines besten Freundes, der Messe (die in Bern abgeschafft war), den Raub des Kirchengutes usf., nennt schließlich seine letzten altgläubig gebliebenen Kinder im Bernerland (die Orte Simmental, Hasle, Brienz, Frutingen) seine Erben. Druck. Des alten christlichen beeren | Testament.|. [Luzern: Th. Murner, Frühsommer 1528]. Ausgabe. M. Scherrer, Des alten christl. Bären Testament. Eine Kampfschrift Th. M.s, Anz. f. schweizerische Gesch. 50 (1919) 6⫺38.

e) ‘Des jungen Bären Zahnweh’. M.s zweites Bärengedicht (242 Vv.) führt das junge, vom alten Glauben abgefallene Bern als einen vom Zahnweh befallenen Bären vor, dessen Schmerzen die

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Ärzte (Reformatoren), statt sie lindern zu können, nur vergrößern, mehr noch die eigenen Ärzte (Haller und Kolb) als die von weither herbeigerufenen (Blarer, Vadian, Zwingli). Hilfe verspricht jedoch ein von Doctor Murner aus Luzern geschicktes Medikament, das die kranken Zähne unschädlich macht und die noch gesunden schützt. Es besteht in der Rückname des Eidbruchs, in der Rückkehr zum alten Glauben. Der junge Bär gelobt in seiner Not und unter der Wirkung eines Traumgesichts, den Eid zu halten. Auch diesem letzten Gedicht M.s fehlt die alte satirische Kraft. Es beschwört nur mehr eine Wende, auf die er nicht mehr hoffen konnte. Druck. Von des iungen Beren zan vue im mundt. [Luzern: Th. Murner, 1528]. Kein Ex. mehr nachweisbar. Ausgabe, nach Th. v. Liebenaus Abschrift des Druckes: J. Lefftz, Des jungen Bären Zahnweh. Eine verschollene Streitschrift T. M.s, Archiv f. elsäss. Kirchengesch. 1 (1926) 141⫺167.

K . Ü be rs et zu ng en . Übersetzungen begleiteten M.s Schaffen, seit er sich als Schriftsteller für die Volkssprache entschieden hatte. Aber nicht nur der juristische Lehrer (s. o. II.G.1.⫺2.) und der Gegner Luthers (s. o. II.H.1.e u. 2.b) griffen zum Instrument der Übersetzung, auch unabhängig von aktuellen Engagements machte er sich, immer bedacht, den Ungelehrten Zugang zu den Quellen des Wissens zu schaffen, Übersetzung zur Aufgabe. Seine weitaus umfangreichsten Werke, für die er längeren Atem brauchte als für andere, waren die Übersetzungen Vergils und Sabellicos. Ganz am Rande stehen dagegen die kleinen Übersetzungen jüdischer Gebete. Sie waren freilich im zeitpolitischen Kontext nicht ohne Brisanz. M. wird es nicht entgangen sein, daß die Veröffentlichung dieser Übersetzungen zu ihrem Zeitpunkt, 1512, als Parteinahme im Reuchlin-Pfefferkorn-Streit um die jüdischen Bücher verstanden werden konnte. 1. P. Vergilius Maro, ‘Aeneis’. M.s ‘Aeneis’-Übersetzung von 1515, die erste und bis zu der Johann Sprengs, die posthum 1610 erschien, auch einzige, ge-

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Murner, Thomas

hört zu den wichtigsten dt. Übersetzungsleistungen des 16. Jh.s. Sie bezieht wie alle lat. Ausgaben von Vergils Epos, die damals in Deutschland gedruckt waren, das Supplement des Maffeo Vegio als 13. Buch der ‘Aeneis’ ein. Das Folioformat der Ausgabe und damit auch der Druck des Verstextes in zwei Kolumnen pro Seite war vorgegeben durch die Übernahme der 113 meist ganzseitigen Holzschnitte aus Seb. Brants Gesamtausgabe des lat. Vergil, die 1502 ebenfalls Johann Grüninger verlegt hatte. M. unterteilte den Text regelmäßig durch Zwischentitel in kleinere Abschnitte (z. B. 29 in Buch I, 35 in Buch VI, 21 in Buch XII). Den einzelnen Büchern sollten Reimpaar-Übersetzungen der ps.-ovidischen Argumenta vorangehen, aber sie finden sich nur vor den Büchern I⫺IV, X und XII (und XIII). Auf die Ränder neben den Textkolumnen ließ M. in lockeren Abständen die Initien jeweils entsprechender Verse der lat. Vorlage setzen, um zu jeder Stelle der Übersetzung den lat. Text rasch auffindlich zu machen. In der Tat sollte die Übersetzung, wie M. in der Widmung bemerkt, den Leser auch zum Studium des Originals geleiten und seine eigene Übersetzungsfähigkeit fördern.

M. übertrug Vergils Hexameter in vierhebige Reimpaarverse (Knittel), die er auch sonst stets wählte. Die Reimpaare schlossen einen auf Wörtlichkeit bedachten Übersetzungsstil aus, boten und verlangten vielmehr einen freieren, nur der Sinngemäßheit verpflichteten Zugriff, der auch dem Leser entgegenkommen konnte. Gleichwohl begegnen durchaus Syntagmen und Wortbildungen, die sich eng der Vorlage anschließen und latinisierend wirken können. Von Vergils ausgefeilter Kunstsprache und von epischer Stilhöhe blieb in M.s annähernd 20.000 dt. Knitteln indes keine Spur. Anderseits hält die Übersetzung vom stilistischen Typ der Narrensatiren weite Distanz. Vor der Drucklegung ging das Manuskript zur kritischen Beurteilung an Konrad Peutinger, und bewehrt mit dessen Autorität widmete M. das Werk unter dem 23. Aug. 1515 Ks. Maximilian. Die Widmung (Titelbl.v) macht einigen Auftritt: Durch seine Übersetzung will M. den römischen Dichter von latynschem todt in tütsches leben […] erquicket haben. Damit erhebt er ein Werk in deutscher Sprache

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zum Träger des Renaissance-Anspruchs, erteilt der Volkssprache hohen kulturellen Rang. Zum andern stellt die Widmung des verdeutschten augusteischen Epos die auch von der kaiserlichen Publizistik propagierte Beziehung Maximilians auf den Friedenskaiser Augustus heraus M. verstand seine dt.’Aeneis’ als gelerte gabe an den Kaiser. Wenn E. Fuchs (DS, Bd. 1, S. CII, Anm. 1), der sich auf P. Scherrers nicht gedruckte Arbeit über M.s ‘Aeneis’-Übersetzung beruft, recht hat, war M.s Text-Vorlage nicht Brants Vergil-Ausgabe von 1502, sondern die bei Knoblouch unter dem 28.März 1509 erschienene separate ‘Aeneis’-Ausgabe mit dem ausgiebigem Kommentar von Johann Schott, der dem Übersetzer für die Sicherung eines exakten Textverständnisses sehr dienlich sein konnte. Drucke. Vergilij ma|ronis dryzehen | Aeneae dischen Bücher | von Troianischer zer⫽|storung/ e vnd vffgang des Romischen | Reichs. durch doctor e Murner vertutst. […]. Straßburg: Joh. Grüninger, 27. Aug. 1515. VD 16, V 1426. ⫺ 1543 und 1544 erschienen zwei (drei?) stark revidierte Drucke Gregor Hofmanns in Worms. VD 16, V 1427⫺ 1429; die Einrichtung der Erstausg. mit Zwischentiteln und lat. Marginalien ist beibehalten, die fehlenden Argumenta sind ergänzt. Abschrift eines dieser Drucke: Augsburg, UB, Cod. III.2.8° (vgl. Fromm). NDe der Wormser Ausg. Straßburg 1559, Frankfurt a. M. 1559 und 1562 (VD 16, V 1430⫺ 1432), ein letzter ND 1606 bei Johann Weidner in Jena. ⫺ Beschreibung der Drucke von 1515, 1543, Fft. 1559, 1606 bei B. Schneider, Vergil. Hss. u. Drucke der HAB, 1982, S. 102⫺104.

2. Ulrich von Hutten, ‘De admiranda Guaiaci medicina’. Huttens Syphilis-Schrift, die Aufsehen erregte, weil sie Heilung von der tödlichen Krankheit mittels des Guajakholzes versprach, reizte M. schon kurze Zeit nach ihrem Erscheinen im April 1519 zur Übersetzung, die er allerdings mit beträchtlichen Kürzungen vornahm. Druck. Ulrichen von hutten eins teut|schen Ritters von der wunderbarlichen artzney des | holtz Guaiacum genant, vnnd wie man die Fran⫽| zosen oder blatteren heilen sol […]. Straßburg: Joh. Grüninger, 9. Aug. 1519. VD 16, H 6351. Ausgabe. Hutten, Opera, Bd. 5, S. 397⫺496.

3. Marco Antonio Sabellico, ‘Enneades’. Von Sabellicus’ Weltgeschichte, die mit ihren insgesamt 92 Büchern in Gruppen zu

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Murner, Thomas

jeweils neun Büchern (daher ‘Enneades’) gegliedert ist, hat M. vermutlich eine vollständige dt. Übersetzung geschaffen, die jedoch zum größeren Teil verschollen ist. Erhalten sind von ihr, die in der Reinschrift von M.s eigener Hand wahrscheinlich zehn Bände zu je einer Enneade umfaßte, nur drei Bände, vollendet zwischen 1532 und 1535: Bd. I: 2. Enneade, Buch 1⫺9: Geschichte der hebräischen Königreiche von Salomo an bis um 500 v. Chr., röm. Geschichte bis zur Verbannung Coriolans (491 v. Chr.), Geschichte Griechenlands und der Reiche des Orients. ⫺ Karlsruhe, Bad. LB, K 15. 264 Bll., 132 Federzeichnungen. Vollendet am 6. Juli 1532. Bd. II: 7. Enneade, Buch 2⫺9, zu Beginn und am Ende unvollst.: Geschichte der röm. Kaiser von Caligula (37⫺41) bis Valens (364⫺378), Kirchengeschichte von Petrus bis zu Papst Damasus (366⫺ 384). ⫺ Se´lestat, Bibl. Humaniste, Ms. 268. 174 Bll., 103 Federzeichnungen. Vollendet im Nov. 1534. Bd. III: 8. Enneade, Buch 1⫺9, am Ende unvollst.: Geschichte Ostroms von Theodosius II. (408⫺450) bis Leon V. (813⫺820), Geschichte Westroms, der Langobarden in Italien, der fränk. Könige bis Lothar I. (823⫺855), Kirchengesch. von Papst Bonifaz. I. (418⫺422) bis Paschalis I. (817⫺ 824). ⫺ Karlsruhe, Bad. LB, K 3117. 216 Bll., 108 Federzeichnungen. Vollendet am 30. Jan 1535. Faksimile-Ausgabe der drei Bd.e hg. von H. Heger, Th. Murner. M. A. Sabellici Hystory von anbeschaffener welt; Bd. 4: Einführung, kodikolog. Beschreibung (G. Stamm), Konkordanzen, 1987.

Das Antograph ist das einzige Zeugnis einer von M. eigenhändig vorgenommenen Text-Bild-Anlage. Die dichte Illustrierung ⫺ auf zwei Bll. entfällt eine Federzeichnung ⫺ ist von M. im Zuge der Reinschrift fest geplant (frei gelassene Seitenteile), aber offenbar nicht ⫺ oder allenfalls nur teilweise ⫺ gleichzeitig durchgeführt worden. Sämtliche Federzeichnungen stammen von einer einzigen Hand, wahrscheinlich, aber nicht mit endgültiger Sicherheit, von M. selbst. Der SabellicoÜbersetzung fehlt bislang jede nähere Untersuchung. 4. Übersetzungen aus dem Hebräischen. In die Zeit seines Aufenthaltes in Frankfurt fallen M.s lat. und dt. Übersetzungen

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jüdischer Gebete. Er unternahm sie, wie er in der Vorrede zu ‘Ritus et celebratio phase’ beteuert, nicht von sich aus, sondern auf Drängen seiner Oberen und Mitbrüder. Für Übersetzungen hebr. Texte war er, wie er wohl wußte und wie auch die Kritik (Spanier, Walde) gezeigt hat, jedoch nicht zureichend gerüstet. a) ‘Ritus et celebratio phase Iudaeorum’. Gebete der jüdischen Pascha-Feier. In der Vorrede an die Mitbrüder (Bl. a 2 r⫺v) bestreitet M. die Behauptung des Paulus von Burgos, der Franziskaner Nikolaus von Lyra sei des Hebräischen unkundig gewesen. Druck. Ritus et celebratio phase iu|deorum/ cum orationibus eorum/ et benedictionibus mense | ad litteram interpretatis/ cum omni obseruatione vti soliti | sunt suum pasca extra terram promissionis sine esu agni pasca|lis celebrare Per egregium doctorem. Thomam murner | ex hebreo in latinum traducta eloquium |. [Frankfurt a. M.: Beat Murner, 1512]. VD 16, H 188.

b) ‘Benedicite iudeorum’. Fünf Gebete zur Mahlzeit (Benedictiones mense), eines zur Trauer bei einem Todesfall, drei weitere gegen Albträume. Druck. Benedicite iudeorum vti soliti | sunt ante/ et post cibi sumptionem benedicere et gratias age⫽|re deo Egregio doctore Thoma murner Argentinensi | ordinis minorum interprete. |. Frankfurt: Beat Murner, 1512. VD 16, B 5604. M.s dt. Übersetzungen: Der iuden Benedicite wie sy | gott den herren loben/ vnd im vmb die speyß dancken. | Durch den hochgelerten herren doctor Thomas murner | […] in deutsch ver⫽|dalmetschett |. Frankfurt: Beat Murner, [1512]. VD 16, B 5605. ⫺ Der iuden benedicite wie sy. | gott den heren loben/ vnd im vmb die speysz dancken. | […] vnd wie sy ieren dodten begraben. | […]. Frankfurt: Beat Murner, [1512]. VD 16, B 5606. L. Dubia. Die irrige Zuweisung des 1515 in Straßburg bei Joh. Grüninger gedruckten ‘Ulenspiegel’ (Lappenberg) ist kein Thema der Forschung mehr. Die Berechtigung der Zuschreibung der Anonyma ‘Bockspiel Martini Luthers’ und ‘Martin Luthers Clagred’ durch Zopf, an der Benzing festhält, wurde von Bebermeyer überzeugend widerlegt. Nicht abschließend geklärt ist die von Klassert verfoch-

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tene Autorschaft M.s für die vehement judenfeindliche anonyme ‘Entehrung Mariä durch die Juden’, die für v. Liebenau, 1913, S. 78, Anm. 1, nur als Hypothese galt, während Spanier, 1932, S. 89, sie entschieden unterstützte.

I II . B ed eu tu ng un d Wir ku ng . M.s literarische Hinterlassenschaft gibt sich nicht als ein Œuvre zu erkennen, das von dauerhaft angelegten Konzeptionen getragen, von stetig verfolgten Zielsetzungen geleitet wäre, sich somit als zusammenhängendes Ganzes betrachten ließe. Für die Inkohärenz seines Schaffens waren nicht erst die einsetzende Reformation, die ihn von allem abzog, was er zuvor betrieben hatte, verantwortlich, auch nicht die häufigen Ortswechsel, wenngleich sie meist mit einem Wechsel seiner Tätigkeiten verbunden waren und neue Interessen weckten. Der umtriebige Mann ließ sich leicht auf vielerlei ein, ließ sich als Prediger und Publizist von aktuellen Vorfällen und Ereignissen reizen. Nie war der Dr. theol. M. ein Wissenschaftler, der ausdauernd an theologischen Problemen gearbeitet hätte, so wenig wie der Dr. utr. iur. M. gewillt war, sich des längeren der Jurisprudenz zu verdingen. Er war in vielen Sparten belesen und gelehrt, doch zum Wissenschaftler fehlte es dem rastlosen unruhigen Arbeiter auch an Problemsicht und Erkenntnisinteresse, aus denen Beharrlichkeit hätte erwachsen können. In M. waren der Prediger, der Lehrer, der Publizist vereint. Er war stets auf Wirken und Wirkung in der Öffentlichkeit eingestellt und wußte die Kommunikationstechniken seiner Zeit einzuschätzen und zu handhaben. Nicht von ungefähr fühlte er sich, als die Stunde der Reformation schlug, auf volkssprachlicher Bühne als erster zum publizistischen Kontrahenten Luthers berufen. Früh schon wollte er Lehrer sein, Vermittler von Wissensgut. Als juristischer Lehrer hat er, indem er auf dem Felde der Jurisprudenz die Alleinherrschaft des Lateins brach, erstmals römisches Recht ins Deutsche übersetzte, Pionierarbeit geleistet und die Entwicklung einer dt. Rechtssprache wirksam gefördert. Für die Entwicklung einer neuartigen Didaktik

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verschiedener Lehrgebiete, die systematisch das Spiel als Medium des Lernens einsetzte, besaß er Phantasie. Seine Vorstellung, daß mit den von ihm entworfenen mnemotechnischen Methoden das Grundwissen aller Disziplinen leicht und rasch erlernbar sei, hat freilich wenig überzeugen können. Außer Matthias Ringmann knüpfte niemand an seine Kartenspiele an. Den Didaktiker M. überragt sicherlich der Übersetzer, nicht allein jener der römischen Rechtstexte. Mit seiner dt. ‘Aeneis’, einem seiner wichtigsten Bucherfolge, trug er bewußt zu einer Öffnung der lat. literarischen Kultur für die Laien bei. Was immer M. angriff, betrieb er auf eigene Rechnung. Er war ein Einzelkämpfer, strebte, anders als sein Ordensbruder J Pellikan, nicht zu Zusammenarbeit mit anderen, hatte keine Schüler. Von engeren Beziehungen zu Gesprächspartnern, die er in der gelehrten Welt, auch der älteren, an scholastischem Herkommen haftenden, gehabt hätte, ist wenig bekannt. Mehr noch war er den allerorten aufstrebenden humanistischen Kreisen fremd. Daß die Humanisten ihn mieden, mag bereits in seiner gänzlich vorhumanistischen Latinität, seiner offensichtlichen Gleichgültigkeit gegen die neue Sprachkultur reichliche Erklärung finden (vgl. Borries, 1926, S. 28, 36 f., 72, 190; Sondheim, 1938, S. 32⫺38). Das Reformprogramm der Humanisten, auch das gesellschafts- und kirchenkritische, das seinen Beifall hätte haben können, zeigt bei ihm so wenig spürbare Resonanz, als hätte er es nie zur Kenntnis genommen. M. war mit seinen Narrensatiren der bei weitem auffälligste Schriftsteller dt. Sprache in den beiden Jahrzehnten vor der Reformation. Allererst an sie knüpft sich seit ihrer Wiederentdeckung im 18. Jh. zu Recht M.s literarhistorische Geltung. Die Verbreitung seiner Dichtungen wurde zu ihrer Zeit indes nicht nur durch behördliches Einschreiten behindert, ihre Reichweite hat M. selber durch die beharrliche Wahl seiner elsässischen Mundart begrenzt. Auch eine lat. Version nach dem Beispiel von Lochers ‘Stultifera navis’ hätte den Kreis ihrer Leserschaft erheblich

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erweitern können. In den Narrensatiren trat der womöglich schonungsloseste Gesellschaftskritiker seiner Zeit hervor, der nicht zuletzt die Lebens- und Amtsführung der Geistlichkeit grell vor Augen hielt. Ein beredter Kritiker war er, entwarf aber kein Reformprogramm. Als die Gebrechen der Gesellschaft brandmarkte er eine Flut von Narrheiten, individuelles Versagen, individuelle Unmoral, sah aber nicht auf tiefer liegende strukturelle und institutionelle Mißstände. Er stritt für eine Regeneration der bestehenden Ordnung, die als ganze für ihn unantastbar war, und wenn er an eine religiöse Erneuerung dachte, dann nicht anders als auf dem unverrückbaren Boden der kirchlichen Tradition. Das Tun der Reformatoren schien ihm daher nur gewissenlose Zerstörung. Die geschichtliche Krise, welche die Reformation bedeutete, kam nicht in seinen Blick. Literatur. Eine zureichende ⫺ vollst. und geordnete ⫺ Bibliographie fehlt. Die ältere Lit. vor allem bei K. Schottenloher, Bibliographie z. dt. Gesch. im Zeitalter d. Glaubensspaltung 1517. 1585, Bd. 2, 1935, Nr. 16024⫺133; Bd. 5, 1939, Nr. 48396⫺407; Bd. 7, 1966, Nr. 57170⫺177, 65165⫺165a. Jüngster bibliographischer Versuch: F. Eckel, Der Fremdwortschatz Th. M.s (GAG 210), 1978, S. 209⫺218 [unvollst., unkritisch, fehlerhaft]. Ausstellungskatalog ⫽ Th. M., Elsässischer Theologe u. Humanist. Eine Ausstellung d. Bad. LB u. d. BNU Strasbourg. Ausstellungskatalog, 1987. Zu Leben und Werk allgemein: G. E. Waldau, Nachrichten von Th. M.s Leben u. Schriften, Nürnberg 1775; Schmidt, Hist. litt., Bd. 2, S. 209⫺315 u. 419⫺431; W. Kawerau, Th. M. u. die Kirche d. MAs, 1890; ders., Th. M. u. die dt. Reformation, 1891; Th. v. Liebenau, Der Franziskaner Dr Th. M., 1913 [vielfach überholte u. passim korrekturbedürftige, aber noch unersetzte Monographie]; A. Teetaert, in: Dictionnaire de the´ologie catholique, Bd. 10/2, 1928, Sp. 2556⫺2568; P. Scherrer, Th. M.s Verhältnis zum Humanismus, Diss. Basel 1929; R. Newald, Wandlungen d. Murnerbildes, in: H. Gumbel (Hg.), Beitr. z. Geistes- u. Kulturgesch. d. Oberrheinlande, 1938, S. 40⫺78; R. Newald, Elsässische Charakterköpfe aus d. Zeitalter d. Humanismus, [1944], S. 111⫺ 185, wieder in: ders., Probleme u. Gestalten d. dt. Humanismus, 1963, S. 387⫺442; W. Stammler, Von der Mystik zum Barock, 1950, S. 208⫺213, 337⫺339 u. ö.; P. L. Nyhus, The Franciscans in

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F. J. Worstbrock

Murrho (Murr), Sebastian, d. Ä. I . L eb en . M. wurde am 10. April 1452 als Sohn eines Metzgers aus ratsfähiger Familie in Colmar geboren. Er besuchte die Schlettstädter Lateinschule unter Ludwig D Dringenberg (J Wimpfeling, ‘Isidoneus’, [Straßburg: Joh. Grüninger, nach 27. Aug. 1497], H *16178, Bl. 10v), studierte in Basel die Artes (immatr. 1465, bacc. art. viae modernae Febr. 1466, mag. art. Jan. 1471) und wahrscheinlich auch die Rechte, denn das von Konrad J Leontorius verfaßte Colmarer Epitaph hebt M.s Rechtskenntnis auffällig hervor (jurisconsultissimus; Wolff, S. 295), auch J Trithemius’ Nachruf (Cat., S. 168) betont sie. M.s Exlibris (Colmar, Bibl. mun., Ms. 198 [Kat. 407], Vorsatzbl.) ist ein abgewandeltes Notarsignet. Daß die um 1490 in Colmar angelegte Hs. ‘Formulare und tütsch Rethorik’ des Peter Falck aus Freiburg i. Ü. (Arch. de l’E´tat, Fribourg, Fonds Praroman n° 27) aus entsprechendem Unterricht M.s an der Stiftsschule hervorgegangen sei, bleibt freilich eine Vermutung (Wagner, S. 133). Aus M.s hsl. Nachlaß sind allein von ihm 1474 in Colmar kommentierend durchgearbeitete Hss. von Werken Ciceros (‘Paradoxa’, Strasbourg, BNU, Ms. 103 [Lat. 100]; ‘De officiis’, Colmar, BM [s. o.]) und Boethius’ (‘De consolatione’, Colmar, BM [s. o.]) sowie die unkommentierten Abschriften zweier Reden des Aeneas Silvius D Picco-

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Murrho, Sebastian, d. Ä.

lomini (Constantinopolitana clades; Solent plerique [Obödienzrede vor Papst Calixt III.]; ebd.) bekannt. M. gilt unter den oberrheinischen Humanisten als einer der frühesten Kenner der drei alten Sprachen. Hebräisch erlernte er erst als senior von dem getauften Colmarer Juden Paulus, der für ihn und J Reuchlin zum hebräischen Pentateuch eine dt. Übersetzung herstellte. Als Reuchlin 1487 den Pentateuch erbat, war erst das Buch ‘Exodus’ in Arbeit, das M. zu dieser Zeit als einziges besaß. M. war Priester und (residierender) Kanoniker der Colmarer Stiftskirche St. Martin, hatte aber zugleich, von seinen geistlichen Freunden ungerügt, eine Familie mit drei Kindern; den gleichnamigen Sohn (gest. 1514/1515) ließ er die Schlettstädter Lateinschule unter J Gebwiler und die Universität Paris besuchen. M. starb am 19. Okt. 1494. I I. We rk e. Bei seinem frühen Tod hat M. nur unfertige Werke hinterlassen. Es handelt sich um den im wesentlichen aus Exzerpten bestehenden Entwurf eines Abrisses der deutschen Geschichte und um die Kommentierung von Dichtungen des Baptista Mantuanus. Zu beidem hatte Jakob J Wimpfeling ihn gedrängt. Dieser sorgte nach M.s Tod auch dafür, daß die unvollendeten Manuskripte schließlich in revidierter und ergänzter Fassung zum Druck gebracht wurden. Da keines der Manuskripte erhalten ist, muß die Leistung M.s aus den Druckfassungen erschlossen werden. A . A br iß s ch ic ht e.

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Wimpfeling weist seine 1505 gedruckte ‘Epithoma Germanorum’ im Titel (s. u.) als Gemeinschaftswerk aus und nennt im Widmungsbrief an Thomas J Wolf d. J. als Grundlage die von M. hinterlassenen fragmenta, die er geordnet, vermehrt und vollendet habe. Anfang 1491 beschrieb Trithemius Wimpfelings Arbeitsauftrag an M. so: laudes Germanorum in Gestalt einer epitoma zu verfassen, mit einem chro-

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nologischen Teil über die Taten der deutschen principes für Glaube, Reich und Kirche und einem systematischen Teil über die Talente und schöpferischen Leistungen (ingenia, opera, inventa) der deutschen natio. Dem entsprechen im Druck die Kap. 9 (Karl d. Gr.) bis 51 (Friedrich III.) und die Kap. 54, 57⫺58, 60 und 68⫺70. Zu ihnen dürfte M. den Grundstock oder doch einiges Material geliefert haben. Zusätzlich nennt Wimpfeling 1493 (‘De triplici candore Mariae’ [Speyer, C. Hist, vor 1. Mai 1493]. HC 16170, Bl. 2v) einen von M. vorangestellten, die Antike behandelnden Teil de antiquis bellis ac triumphis Germanorum etiam ante urbem conditam, der in den Kap. 1⫺4 und 7⫺8 des Druckes wiederzuerkennen ist. Als Quellen seiner laudes Germanorum benutzte M. für den antiken Teil Plinius, Strabo, Ptolemaeus, Caesar, Tacitus und Florus, die er auch für die Kommentierung der Dichtungen des Baptista Mantuanus (s. u. B.) verwendete. Für die Kaisergeschichte seit Karl d. Gr. sind Werke der neueren Italiener M.s Hauptquellen: in Kap. 9⫺37 Platinas Papstviten, in Kap. 36⫺48 Blondus’ ‘Decades’ und in Kap. 49⫺50 Aeneas Silvius’ ‘Historia Bohemica’. M.s Manuskript lag Wimpfeling spätestens im Mai 1494 vor, also ein halbes Jahr vor M.s Tod. Die Ergänzungen ⫺ mehrfach ganze Kapitel ⫺ und Umarbeitungen, die Wimpfeling bis 1505 vornahm und welche die gesamte Schrift durchziehen, verdeutlichen deren Gesamtkonzeption als eine Ruhmesgeschichte der Deutschen in didaktisch-pragmatischer Absicht, richten sie auf Kg. Maximilian und den Türkenkrieg aus und berücksichtigen den Lebenskreis des neuen Adressaten Thomas Wolf d. J. Die Drucklegung nach mehr als einem Jahrzehnt geschah gleichwohl überhastet und läßt zahlreiche Bearbeitungsspuren erkennen, die Rückschlüsse auf die Genese erlauben. Joachimsen gewichtet dabei den Anteil M.s wohl zu stark. Die frühen Hinweise auf M.s ‘Deutsche Geschichte’ beruhen auf den Mitteilungen des Trithemius, Cat., S. 112, so bei Hebelin von Heimbach 1500 (Würzburg, UB,

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Murrho, Sebastian, d. Ä.

M. ch. f. 187, Bl. 123r) oder Wimpfelings ‘De triplici candore’, so bei Christoph J Scheurl 1506 (‘Libellus de laudibus Germaniae’, Bologna: B. Hectoris, 1506, Bl. Dv), die späteren regelmäßigen Nennungen auf Wimpfelings ‘Epithome’ selbst. Druck. Epithoma Germanorum Iacobi | wympfelingij. et suorum opera contextum, in: Hic subnotata continentur | Vita M. Catonis | […] Epithoma rerum Germanicarum vsque | ad nostra tempora. Straßburg: Joh. Prüss d. Ä., 1505. VD 16, W 3382. Bl. Hr⫺[P4]r. ⫺ Weitere Drucke J Wimpfeling.

B . Kom me nt ar e z u B ap ti st a Man t ua nu s. Unterstützt vom Speyerer Dompropst Georg von Gemmingen, hat Wimpfeling M. zur Kommentierung der Dichtungen des Baptista Mantuanus nachdrücklich gedrängt (‘Isidoneus’ [s. o. I.], Bl. 21r; Murrho an Gemmingen [s. u. D.], Bl. [b5]v). Der Beginn der Arbeit scheint später zu liegen als der an der ‘Epitome’. Erstmals wies Wimpfeling 1493 auf den entstehenden Kommentar M.s hin (‘De triplici candore Mariae’ [s. o. A.], Bl. [5]r⫺v), umgekehrt verweist M. auf Wimpfelings Mariendichtung (‘Parthenices libri’ [s. u. 1. Druck 1.], Bl. IX v, CXVII v). Bei M.s Tod erstreckte sich der Kommentar auf die Marien- und die Katharinendichtung sowie das Gedicht ‘Contra poetas impudice loquentes’ jeweils von Anfang bis Ende und auf die erste Hälfte des ‘Opus calamitatum’. Es handelt sich um Stellenkommentare in loser Folge und von unterschiedlicher Länge, die M. in einem hinterlassenen eigenhändigen Manuskript ohne den kommentierten Text niedergeschrieben hatte. Erst eine von Gemmingen im Blick auf die Drucklegung veranlaßte Abschrift verband Baptistas Text und M.s Kommentar. Laut Trithemius (Cat., S. 168 und 179) übernahm Konrad J Leontorius mit M.s nachgelassenen Aufzeichnungen auch die Aufgabe, sie zu vollenden. M.s Autograph gelangte jedoch, den auf die Drucklegung drängenden Briefen Wimpfelings zufolge (Amerbach-Korr. Nr. 39, 43, 112), rasch an Johann Amerbach und von diesem an Wimpfeling, der danach ge-

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meinsam mit anderen ⫺ darunter wohl Leontorius ⫺ die ihm von Gemmingen anvertraute Abschrift revidierte. Diese übergab er noch 1495 Amerbach, der sie an Sebastian J Brant weiterreichte. Brant vollendete den Kommentar zum ‘Opus calamitatum’. Doch Amerbach stellte danach keine Druckausgabe her. Deshalb wandte sich Gemmingen 1500 an den Straßburger Drucker Johann Schott. Dieser brachte 1501 und 1502 die kommentierten Schriften, ergänzt durch einige unkommentierte, in zwei handlichen Oktavbänden heraus. Die hsl. Vorlagen sind sämtlich verloren. In Schotts Drucken wechseln Text- und Kommentarpartien einander ab. Neben den Kommentaren sind am Außenrand thematische Stichwörter und am Innenrand die Namen der herangezogenen Autoritäten ausgeworfen. 1507 übernahm Jodocus Badius Ascensius M.s Kommentare, um sie ungekürzt zusammen mit den eigenen, erheblich längeren in seiner kommentierten Gesamtausgabe der Werke Baptistas zum Abdruck zu bringen. Jede Seite hat, in Typen abnehmender Größe, je einen Block Dichtertext, “M.”-Kommentar und “Ascensius”-Kommentar. In der Neuauflage 1513 entfällt die typographische Bevorzugung des Kommentars M.s. ⫺ Die Straßburger Baptista-Ausgaben Johannes Knoblochs von 1518 (s. u. Nr. 1, Drucke 4.) nennen M.s Kommentare zwar im Titel, bieten aber nur wenige Stichwörter und kürzeste Erklärungen in Form von Marginalien. M.s Kommentare dienen dem genauen Textverständnis. Sie bieten Hinweise zum poetisch-rhetorischen Aufbau und zum Inhalt einzelner Abschnitte, hauptsächlich aber Erläuterungen zur Grammatik, Lexik, Geographie, Naturkunde, Mythologie und Geschichte, die stets mit Belegstellen versehen sind. M. enthält sich fast immer moralischer und anderer aktualisierender Auslegungen. 1502, als M.s Kommentare bei Schott erschienen, beschloß Johann Grüninger Sebastian Brants ‘Der heiligen leben nüw’, VD 16, H 1471, Bl. CXCIX v, mit einem ganzseitigen Holzschnitt, der D Philipp von Ratsamhausen, Brant und M. als Ver-

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Murrho, Sebastian, d. Ä.

ehrer Marias, der Stadtpatronin Straßburgs, darstellt (wiederholt in Johannes D Geiler, ‘Das Evangelibu˚ch’, Straßburg: J. Grüninger, 1515. VD 16, G 742, Bl. CCXII r). Hingegen würdigte J Vadian 1518 die Kommentare M.s als Leistung des Grammatikers für das genaue Verständnis des Dichtertextes (‘De poetica’, ed. P. Sch‰ffer, 1973, S. 218). 1. ‘In Parthenices commentaria’. M. kommentierte von den sieben Dichtungen des Baptista Mantuanus auf heilige Jungfrauen die zwei ersten, Maria und Katharina gewidmeten. Entsprechend dem Anliegen der oberrheinischen Promotoren der Baptista-Rezeption, der Jugend die lat. Sprache und die Kenntnis der Antike anhand christlicher Dichtung zu vermitteln, erkärt M. Baptistas Texte ganz überwiegend mit Hilfe der nichtchristlichen antiken Autoren. Über die dem Adressatenkreis angemessene Methode des Kommentierens unterrichtet der Widmungsbrief an Gemmingen (s. u. D.2.). Drucke. 1. Baptistae Mantuani Poetae Ora⫽| torisque clarissimi duarum Par|thenicum libri: cum commenta⫽|rio Sebastiani Murrhonis Ger⫽| mani Colmariensis: Haebraicae | Graecae Latinaeque linguarum inter|praetis doctissimi. Straßburg: Joh. Schott, 1501. VD 16, S 7317. Bl. Aijr⫺[S6]r. ⫺ 2.a. Novem F. Baptistae Mantuani […] opera praeter caetera moralia familiari quidem Jodoci Ba⫽| dii Ascensii explanatione elucidata omnia, quaedam vero etiam argutissima Sebastiani Mur⫽|rhonis et Sebastiani Brantii Germanorum doctissimorum elucidatione decorata […]. Paris: Jod. Badius, 1507 (Coccia, Nr. 119; Moreau I, Nr. 180). Bl. VI r⫺CLV v. ⫺ 2.b. Danach der Separatdruck Parthenice prima […] cum argutis admodum Sebastiani Murrhonis interpretationibus. [Paris]: F. Regnault, [ca. 1514] (Coccia, Nr. 115; Moreau II, Nr. 978). ⫺ 3. Primus operum B. | Mantuani Tomus. | In quo sunt Commentariis Murrhonis. | Brantii et Ascensii haec illustrata. | Parthenicon. […]. Paris: J. Badius, 1513 (Coccia, Nr. 232; Moreau II, Nr. 723). Bl. VIII r⫺CXLIII v. ⫺ 4.a. Fratris Baptiste | Mantuani […] prima par|thenice. que | Mariana | inscribi|tur. | Novae adiunctae sunt in marginibus concordantiae ex | Sebastianae Murrhonis commentarijs selectae. ac prius cum | textu nudo nunquam impressae. Straßburg: Joh. Knobloch d. Ä., 23. Jan. 1518. VD 16, S 7333. ⫺ b. Baptistae Man|tuani […] secundae Parthenices Opus, sacrosanctam divae | virginis Catharinae

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passionem heroico carmine illu⫽|strans […] cum uti|libus in marginibus argumentis ex Sebasti|ani Murrhonis Colmariensis viri doctis|simi commentarijs singulariter | selectis. Straßburg: Joh. Knobloch d. Ä., 5. Febr. 1518. VD 16, S 7351.

2. Kommentar zu ‘Contra poetas impudice scribentes’. M. gibt überwiegend mythologische, geographische und naturkundliche Worterklärungen, ohne auf Form oder Inhalt des Gedichtes einzugehen. Drucke. 1. In Carmen Baptistae Mantuani contra Poetas impudice scri|bentes interpraetacio, in: Baptistae Mantuani: contra Poetas im⫽|pudice loquentes Carmen. [Straßburg: Joh. Schott, 1501]. VD 16, S 7238. Als selbständiger, römisch gezählter Quaternio [i8 ], meist in Verbindung mit Schotts Druck der ‘Parthenice’ (s. o. B.1., Druck 1.), überliefert. ⫺ 2. Novem F. Baptistae Mantuani […] opera (s. o. B.1., Druck 2.a). Bl. CCCXXI v⫺ CCCXXIX v. ⫺ 3. Secundus operum B. | Mantuani Tomus. | In quo sunt commentariis familiaribus exposita haec ope|ra praecipue moralia […]. (s. o. B.1., Druck 3.). Bl. XCVIII v⫺CVI v. ⫺ 4. Batiste Mantu|ani […] opus insi|gne de mundi calamitatibus […] Aliud eiusdem contra Poetas impudice loquen|tes siue scribentes opusculum perelegans. (s. u. B.3., Druck 4.). Bl. Ll iiijv⫺[Ll7]v. Ausgabe. Madrid Castro, 1996, S. 113⫺133 (nach Druck Nr. 1).

3. Kommentar zu ‘Opus calamitatum’. Die durchgängig aus antiken Autoren geschöpften geographischen, naturkundlichen und mythologischen Kommentierungen werden, anläßlich der Nennung Osmans, ergänzt durch eine auf Aeneas Silvius Piccolomini “und andere” gestützte, vergleichsweise lange, aber dennoch knappe Skizze des Aufstiegs und der Eroberungen der Osmanen bis zum Tod Mehmets II. 1481. ⫺ M.s Kommentar bricht kurz nach Beginn des 2. Buches ab, es folgt der Kommentar Brants. Drucke. 1. Opus Calamitatum Baptistae | Mantuani cum Commen⫽|tario Sebasthiani Murrhonis | Germani Colmariensis. Straßburg: Joh. Schott 1502. VD 16, S 7217. Bl. I r⫺XLVII v. ⫺ 2. Novem F. Baptistae Mantuani […] opera (s. o. B.1., Druck 2.a.). Bl. CCXXXIX r⫺CCLXXIIIII r, CCLXXXI r⫺v ⫺ 3. Secundus operum B. | Mantuani Tomus. | In quo sunt commentariis familiaribus exposita haec ope|ra praecipue moralia […]. (s. o. B. 1., Druck 3.). Bl. IIII r⫺XXXV v, XLII v. ⫺ 4. Batiste [!] Mantu|ani […] opus insi|gne de

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Murrho, Sebastian, d. Ä.

mundi calamitatibus […] cum faecundis in mar| ginibus concordantijs nudo prius | textui nunquam adiuu[!]ctis. | Aliud eiusdem contra Poetas impudice loquen|tes siue scribentes opusculum perelegans. Straßburg: Joh. Knobloch d. Ä. 1518. VD 16, ZV 14537. Bl. AA ijr⫺DD vv, ohne Brant zu erwähnen und seinen Anteil abzugrenzen.

C . Z ei tg es ch ic ht li ch e A uf ze ic hn un ge n. Über Peter von Hagenbach und Karl den Kühnen. Einsetzend mit dem Sundgauerzug der Schweizer (Juni 1468) und der Verpfändung des habsburgischen Elsaß an Karl den Kühnen schildert M. Ereignisse im Elsaß und die Belagerung von Neuß bis zum Juni 1475. Überlieferung. Colmar, Bibl. mun., Ms. 198 (Kat. 407), Bl. 170v⫺171r (Autograph).

D . B ri ef e. 1. An Johannes Reuchlin. Antwortbrief M.s vom 29. Juni 1487 wegen der dt. Übersetzung des hebr. Pentateuch (vgl. o. I.). Drucke. 1. Clarorum virorum epistolae | […] ad Ioannem Reuchlin […]. Tübingen: Thomas Anshelm, 1514. VD 16, R 1241. Bl. g ijr⫺v. ⫺ 2. Illustrium | virorum episto|lae […] ad | Ioannem Reuchlin […]. Hagenau: Thomas Anshelm, 1519. VD 16, R 1242. Bl. [h4]r⫺v. ⫺ 3. Clarorum | virorum episto⫽|lae […] ad Ioannem Reuchlin […]. Zürich: Chr. Froschauer d. Ä., 1558. VD 16, R 1243. Bl. XLVIIII v⫺XLIX r. Ausgabe. Reuchlin-Br. Nr. 17.

2. An Georg von Gemmingen. Undatierte Widmung des Kommentars der ‘Parthenice prima’. M. will die Jugend der nacio Germanorum zu einer dem Latium imperium würdigen Latinität erziehen. Weil er für die Magister der Lateinschulen und die Jugend schreibt, begnügt er sich nicht mit bloßen Verweisen auf Mythographen und Historiographen, sondern referiert Mythen und Geschichte mit eigenen Worten. Er nimmt für sein Vorgehen, einen lebenden Dichter zu kommentieren, Originalität in Anspruch (nullum ducem secuti), auch wenn er einiges von den aktuellen Kommentatoren klassischer Auto-

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ren Domitius Calderinus, Petrus Marsus und Antonius Volscus gelernt habe. Drucke. Wie oben B.1.: 1. Bl. [b5]r⫺[b6]v. ⫺ 2.a. Bl. V r⫺v. ⫺ 3. Bl. VIII r.

3. An Johann von Dalberg. M. widmet am 20. Jan. 1494 seinen (noch unfertigen) Kommentar zur ‘Parthenice secunda’ dem Wormser Bischof, der ihm einen hebr. Codex auslieh. Zweck seines Kommentars sei das genaue Textverständnis. Drucke. Wie oben B.1.: 1. Bl. Aar⫺v. ⫺ 2.a. Bl. XCIX v. ⫺ 3. Bl. XCII r. Literatur. L. Geiger, Das Studium d. hebr. Sprache in Dtld., 1870, S. 21, 25; Schmidt, Hist. litt., Bd. 1, S. 155, 177 ff.; Bd. 2, S. 36⫺40, 391 f.; L. Geiger, in: ABD 23, 1886, S. 81; K. Morneweg, Johann v. Dalberg, 1887, S. 154, 233; G. Wolff, Sebastian M.s Geburts- u. Todestag, in: Anzeiger f. dt. Altertum 14 (1888) 293⫺301; Knepper, Wimpfeling, Reg.; E. Bickel, Wimpfeling als Historiker, 1904; P. Joachimsen, Gesch.auffassung, S. 66; ders., Jakob Wimpfelings Epitome rerum Germanicarum, in: M. Jansen (Hg.), Hermann Grauert z. Vollendung d. 60. Lebensjahres, 1910, S. 171⫺181; wieder in: P. Joachimsen, Ges. Aufsätze, hg. v. N. Hammerstein, Bd. 2, 1983, S. 613⫺623; A. Wagner, Peter Falcks Bibl. u. humanist. Bildung, in: Freiburger Gesch.bll. 18 (1925) XXV⫺XXXII, 1⫺122, hier S. 108 f., 133 f., 156; Ch. Wittmer, Das Jahrzeitregister v. St. Martin in Colmar 1391⫺1529, Colmar 1949, S. 9, 36; I. Buchholz, Die Varusschlacht im Urteil d. Humanisten, Diss. Masch. Mainz 1955, S. 29⫺32; E. Coccia, Le edizioni delle opere del Mantovano, Roma 1960, Nr. 1, 11, 115, 119, 232, 305, 307; L. Sittler, Membres du Magistrat, Conseillers et Maıˆtres des Corporations de Colmar. Listes de 1408⫺1600, Colmar 1964, S. 42; Catalogue ge´ne´ral des mss. des bibliothe`ques publiques de France; De´partements 56: Colmar, Paris 1969, S. 154 f.; B. Moreau, Inventaire chronologique des e´ditions Parisiennes du XVI e sie`cle, I⫺II, Paris 1972⫺1977; J. Ride´ , L’image du Germain dans la pense´e et la litte´rature allemandes de la rede´couverte de Tacite a` la fin du XVI e`me sie`cle, Bd. 1, Paris 1977, S. 309 ff., 482⫺485; L. Baillet, Aspects et richesses de l’humanisme a` Colmar et en Haut-Alsace, in: F. Rapp (Hg.), Grandes figures de l’humanisme alsacien, Strasbourg 1978, S. 63⫺108, hier S. 69 ff.; K. v. Greyerz, The late city reformation in Germany. The case of Colmar 1522⫺1628, 1980, 34 ff.; Bonorand II, S. 347 f.; F. Rapp, Die Lateinschule v. Schlettstadt ⫺ eine große Schule f. eine kleine Stadt, in: B. Moeller u. a. (Hgg.),

377

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Dieter Mertens

Mutianus Muth)

Rufus,

Conradus

(Konrad

I . L eb en . Außer dem Briefwechsel selbst (mit der Sigle ‘Br.’ und Nr. zit. nach Gillert, Ausg. [s. u. III.]) und den Erfurter Universitätsakten (Kleineidam, Erfurt, 2II, S. 139 f.) ist die ‘Narratio de Helio Eobano Hesso’ (1553) von Joachim Camerarius, der den M.-Kreis und sein Ende authentisch beschreibt, als Quelle wertvoll. Die M.-Biographie von Melchior Adam hängt weitgehend von Camerarius ab. Die gründlichste zusammenfassende Darstellung von M.’ Leben in Krause, Ausg., S. I⫺LXVI.

M., der den latinisierten Namen spätestens seit seinem Ferrareser Doktorat 1501 führte, ist am 15. Okt. (Vergils Geburtstag, wie er stolz betont, Br. 325) 1471 in Homberg b. Fritzlar in Hessen geboren. Sein Vater Johann gehörte dem Patriziat an und war decurio primarius der Stadt, die Mutter Anna von Kreutzburg entstammte hessischem Adel (die Eltern und seine zwei Brüder, die beide Johannes hießen, erwähnt M. rühmend in Br. 348; außer beim Tod dieser vier Angehörigen hat er bis

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1514 nie mehr geweint). Mit etwa acht Jahren besuchte M. die von Alexander D Hegius geleitete Schule in Deventer, wo Heinrich von Amersfoort sein Lehrer und J Erasmus von Rotterdam sein condiscipulus war (in dieser Zeit starb sein Vater; vgl. auch J Spalatin an Erasmus, Op. epist., Nr. 501). Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Johannes begann er im SS 1486 sein Studium an der Univ. Erfurt, an der er noch Konrad J Celtis gehört hat (vgl. Br. 594; die Gedichte seiner Tischgäste zum Tod des Celtis schickt M. am 11. Aug. 1508 an Heinrich Urban: Br. 78), und erwarb im Frühjahr 1488 den Grad des Baccalarius und, als 12. von 13 Kandidaten, 1492 den des Magister artium. Danach lehrte er hier, wohl weniger als zwei Jahre, mit großem Erfolg die Artes und schloß langdauernde Freundschaften mit seinen Schülern, u. a. mit Maternus J Pistoris, Nikolaus J Marschalk, Thomas J Wolf d. J. (vgl. das Epicedium auf ihn: Br. 153) und dem späteren Abt von Fulda Hartmann von Kirchberg. Sein noch in Erfurt begonnenes juristisches Studium brach M. ohne akademischen Grad ab und reiste 1494 nach Italien, wo er bis 1502 an verschiedenen Universitäten, u. a. gemeinsam mit Thomas Wolf d. J. in Bologna (bei Filippo Beroaldo d. Ä.; über dessen Aussprache des Lateinischen vgl. Br. 409; M.’ Gedicht auf seinen Tod: Br. 635), in Rom und Ferrara (hier 1501, nicht schon 1498, wie oft zu lesen, zum Decretorum Doctor promoviert) studierte und die neulat. Dichtung sowie den christlichen Neuplatonismus der Florentiner Akademie kennenlernte. Er trat in Verbindung mit dem dann lebenslang (als summus poetarum, Br. 32) bewunderten Baptista Mantuanus, mit Marsilio Ficino und Aldus Manutius, dessen ‘Rudimenta grammatices lingue latine’ er 1505 erwarb und der ihn später, gewöhnlich durch Vermittlung der Fugger (nam absque Focchariorum opera nihil ago, Br. 13), mit neuen, vor allem griech., Texten versorgte (vgl. Br. 25). Da sich aus M.’ italienischer Zeit nur ein einziger Brief (Br. 1, an den ihm befreundeten päpstlichen Zeremonienmeister Johannes J Burckard) erhalten hat, ist der Einfluß Ita-

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liens oft nur als Reflex zu erkennen. Prägend war für M. jedenfalls die von Ficino und Giovanni Pico della Mirandola vertretene Lehre einer Konkordanz der Religionen und damit einer produktiven Aussöhnung zwischen christlicher Theologie und antiker Philosophie, die ihn geradezu befreite (Spitz, 1953, S. 127⫺129). Durch seine Italica disciplina (Camerarius, S. 68) bestens empfohlen, erhielt M. nach seiner Rückkehr eine Anstellung in der Kanzlei des hessischen Landgrafen Wilhelm II. (d. J.) in Kassel, wo der jüngere Bruder (gest. 1504) als inzwischen promovierter Jurist tätig war. (Für Wilhelm erbat seine Witwe Anna noch 1514 von M. ein wolgezierts latynisch Epitauium, Br. 401). Nach kurzer Zeit gab M. das ungeliebte Hofamt auf und erwarb, zu diesem Zweck in den geistlichen Stand eingetreten, 1503 eine Pfründe an der Kollegiatkirche des Augustinerchorherrenstifts St. Marien in Gotha sowie ein Haus hinter dem Dom. Erst elf Jahre nach der Priesterweihe feierte er seine erste Messe. Seine Kurie schmückte M. demonstrativ, entsprechend dem in vielen Briefen deklarierten und verteidigten Motto seines Lebens, mit der Inschrift Beata Tranquillitas. Über dem Eingang zum Wohnzimmer stand: Bonis cuncta pateant. Hier wohnte der öffentlichkeitsscheue, sich oft verfolgt wähnende M. mit seinen Dienern, die er mit anspruchsvollen lat. Namen bedachte und nach Möglichkeit in den alten Sprachen ausbildete, bis zu seinem Tod, und hier versammelte sich bei ihm als einem “zweiten Maecenas” (Br. 641) der Kreis (noster ordo, latinus ordo) seiner Schüler und Freunde. Die Wappen bedeutender Mitglieder dieser informellen Sozietät zierten die Wände des Hauses (Ludwig, 1999, S.123⫺129), wie man in einem 1515 gedruckten Gedicht des Euricius J Cordus (vgl. Beilage zu Br. 477) über seinen Besuch bei M. lesen kann. M. hat dessen Veröffentlichung übrigens mißbilligt (Br. 480), weil Cordus zwar die Abwesenheit von Frauen in diesem Hause gelobt, gleichzeitig aber von einem aus dem Fenster schauenden puer gesprochen habe, was im Volk Verdacht wecken könne.

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M.’ Vermögensverhältnisse waren zunächst respektabel (Stievermann, 2002a, S. 39 f.): abgesehen von der Gothaer Pfründe hatte er Einkünfte aus seinem elterlichen Erbe in Hessen und besaß in Erfurt ein ihm von seinem (vielleicht schon um 1495, dem Datum des Testaments, und nicht erst 1503 verstorbenen) älteren Bruder, der als Magister coquinae den Besitz des Mainzer Erzbischofs in Erfurt verwaltet und seinerseits ein Kanonikat an der dortigen Severikirche innegehabt hatte, vermachtes Haus in der Löwengasse sowie einen Weinberg, in dem M. auch selber arbeitete (die rorans vindemia hält ihn vom Studium ab: Br. 216; dem Abt von Georgenthal bietet er zwei Fässer Wein zum Kauf an: Br. 129; Bücher kann er erst bezahlen, wenn der Wein verkauft ist: Br. 57); dazu kamen mindestens zwei weitere Pfründen. Mehrfach beschuldigt M. die beiden Verwalter seiner auswärtigen Güter des Betrugs, und für seine Vikare, diese inepti et frivoli commenticie salutis venditores (“dumme und nichtsnutzige Verkäufer eines erdichteten Heils”, Br. 505), die sein Erfurter Haus bewohnen und dafür die testamentarisch verfügten Seelenmessen für die verstorbenen Brüder lesen müssen, hat er nur Verachtung übrig. Die Sorge um die Restaurierung und die schließlich unumgängliche Veräußerung des baufälligen Erfurter Hauses wie um den lange geplanten Verkauf des Weinbergs, den schließlich (im Juli 1515) die Kartäuser erwarben, delegierte M. an den welttüchtigen cucullatus Ulysses (Br. 31) Heinrich Urban (Faßnacht). Dieser, zunächst Ökonom des begüterten nahe gelegenen Zisterzienserklosters Georgenthal, später Verwalter des Georgenthaler Hofes in Erfurt, hat sich u. a. durch die Lieferung von Lebensmitteln und Holz sowie durch die Besorgung von neu erschienenen Büchern (vgl. Br. 40 u. ö.) unermüdlich um M. gekümmert. Die für den mainztreuen Klerus katastrophalen Ereignisse des ‘Pfaffensturms’ (9.⫺12. Juni 1521, vgl. Br. 606), die Etablierung der Reformation in Erfurt ⫺ Luther wurde hier am 6. April 1521 auf seinem Weg zum Wormser Reichstag u. a. vom damals amtierenden Rektor der Universität, M.’

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Freund J Crotus Rubeanus, feierlich eingeholt ⫺ und die gewalttätigen Bauernunruhen mit ihrer Zerstörung der geistlichen Besitztümer beraubten M. zuletzt seiner Lebensgrundlagen (zumal der Pfründen, vgl. Br. 626) und stürzten ihn in die äußerste wirtschaftliche und psychische Not, wovon ein bewegender Hilferuf an Kf. Friedrich d. Weisen zeugt (Br. 625; übers. bei Trillitzsch, S. 323⫺326, vgl. auch Strauss, S. 498⫺500), so daß Luther viel später erzählen konnte, der gottlose M. habe sich “verzweifelt ob seiner Armut selbst vergiftet” (D. Martin Luthers Werke, krit. Gesamtausg., Tischreden, Bd. 2, 1913, Nr. 2741b). M. starb am 30. März 1526. I I. M. un d s ei n Kre is . Die wichtigsten Mitglieder des frühen, seit Sommer 1505 im Briefwechsel reich dokumentierten M.-Kreises (vgl. Junghans, S. 31⫺49), die sich in der Beata Tranquillitas offenbar eher besuchsweise, ohne regelmäßige Termine, einfanden und eine aktiv humanistische Gruppenidentität entwickelten (Bernstein, 2003), waren: Heinrich Urban, Georg Spalatin, Herebord von der Marthen, Petrus (Petreius) J Eberbach, Eobanus J Hessus (At tu, Rufe, meae formator prime iuventae, Br. 343, v. 119) und Crotus Rubeanus, mit einer gewissen Verzögerung Justus Jonas (vgl. Stievermann, 2002b). Nach wenigen Jahren erfolgte eine Zäsur, die v. a. durch die Erfurter Unruhen der Jahre 1509 und 1510 (mit dem Streit zwischen ortsfremden Söldnern und Studenten und der Plünderung des Collegium maius) markiert ist und sich aus der zeitweiligen Zerstreuung der M.-Freunde erklärt: Urban studierte 1508⫺1510 in Leipzig, Spalatin wurde 1508 Prinzenerzieher am Hof Friedrichs d. Weisen, Petreius studierte 1510⫺1511 in Wien (war dann 1513⫺1515 in Italien), Crotus wurde 1510 (bis 1516) Stiftsschulleiter der Reichsabtei Fulda und trat 1513 in den geistlichen Stand ein, Eobanus Hessus, seit 1509 in der Kanzlei des Bischofs Hiob von Dobeneck in Riesenburg in Ostpreußen tätig, kehrte erst 1514 zurück. Nach und nach (von 1511 an) erweitert um bedeutende Vertreter der sich ankündigen-

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den reformatorischen Epoche wie Johannes Lang, Johannes Drach, Adam Krafft, Justus Menius sowie den Dichter Euricius Cordus u. a. (Joachim Camerarius kam erst 1518 nach Erfurt), sammelte und festigte sich der M.-Kreis noch einmal im gemeinsamen Kampf für die Sache Reuchlins. 1515⫺17 erschienen in eben diesem Zusammenhang die (jedenfalls im wesentlichen) von den M.-Schülern und -Freunden Crotus Rubeanus und Ulrich von J Hutten verfaßten J ‘Epistolae obscurorum virorum’ (EOV). Zumindest ihr erster Teil, den Crotus verantwortete, ist mit seinem entspannten Sprachwitz im Geiste M.’ geschrieben. Die EOV sind das einzige damals sichtbar gewordene literarische Denkmal des historisch nunmehr überholten M.-Kreises und zugleich auch sein Abschlußdokument. Zu derselben Zeit nämlich trat Erasmus (mit seinen Editionen des NTs und der Werke des Hieronymus, beide 1516) auch als Theologe machtvoll in Erscheinung, und kurz darauf zog Luther alle Aufmerksamkeit auf sich. Der humanistische M.-Kult wurde abgelöst durch den Erasmus-Kult. Erasmus scharte alle um sich, die sich mit seiner Philosophia Christi sowohl als Humanisten wie als Christen abfinden konnten. Auf der anderen Seite behauptete Luther zuletzt kompromißlos die inkommensurable Qualität des Evangeliums. In dieser Situation bekannte sich M. entschieden, bis zu seinem Ende, zu Erasmus und wandte sich auch seinerseits immer stärker der christlichen Literatur, vor allem den Kirchenvätern, zu (Omnis mihi Cicero et Demosthenes cum turba poetarum excidit. Sacras colo literas. Psalterium successit Vergilio, Br. 392; Dan ich habe die poeten vnd historicos verlossen, Br. 586, 11. Aug. 1519 an Beatus J Rhenanus). Fast alle Mitglieder seines Kreises schlossen sich jedoch Luther an. In der Konkurrenz mit Wittenberg erlebte die Univ. Erfurt (mit nur noch 13 Immatrikulationen im Jahre 1525 gegen 310 von 1520) einen beispiellosen Niedergang. I II . Wer k. Da er seine eigenen literarischen Produkte immer unzulänglich fand (vgl. Br.

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498 sowie Camerarius, S. 72), gewiß aber auch aus der Einsicht, daß die sichtbare Fixierung seiner Weltanschauung in der Öffentlichkeit Anstoß erregen und ihn selbst gefährden würde (idiotis ludibrio sumus. Nihil ergo tutius quam tacere, Br. 143, in einer Auslegung des Sprichworts: Gedanckenn sein zolfrei), beschloß M., der stets die naive Arglosigkeit (simplicitas) als seine wichtigste Eigenschaft bezeichnet, nach den Vorbildern von Sokrates und Christus nichts Schriftliches zu hinterlassen (Quid Socrates, quid Christus scripsere? Nihil, quod sciam, Br. 60). Die Empfänger von Briefen brisanten Inhalts weist er regelmäßig an, diese unverzüglich zu vernichten (concerpe). So ist klar, daß der erhaltene Briefwechsel keineswegs ein authentisches und verantwortetes ‘Werk’ M.’ darstellt. Er ist seiner Substanz nach zustande gekommen durch die pietätvolle Aufmerksamkeit seiner Freunde (Urban, Herebord v. d. Marthen, Eoban, Camerarius u. a.), welche die Briefe, oft gegen den Willen des Absenders, aber offenbar unter Beachtung seines Sicherheitsbedürfnisses, gesammelt und aufbewahrt haben. Seine äußere Gestalt hat M.’ Briefwechsel erst durch die modernen Editoren erhalten. Der heutige Bestand (Briefe von und an M. und darin enthaltene Gedichte sowie wenige M. betreffende Briefe Dritter) ergibt sich also aus der Selektion des Zufalls. Das Ausmaß der Verluste ist kaum zu ermessen. Die nahezu 350 Briefe M.’ an Urban, die der sog. Frankfurter Codex nur aus den Jahren 1505 bis 1515 überliefert, bilden allein deutlich mehr als die Hälfte des gesamten Bestandes; ein zweiter im Jan. 1516 in Urbans Besitz nachgewiesener Sammelband mit M.-Briefen ist verloren. Aus den ersten 34 Lebensjahren M.’ haben sich lediglich zwei Briefe erhalten. Die Verluste dürften somit in die Tausende gehen. Ungeachtet der gravierenden Lücken und obgleich vielen Briefen ihr Partnerkomplement fehlt (am schwersten wiegt der Ausfall der Antwortbriefe Heinrich Urbans), ist die Sammlung einzigartig, weil diese Briefe in der Regel ohne jede Prätention das private äußere Leben und die innerste geistige Welt eines unvergleichlich begab-

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ten und gebildeten, auch gänzlich uneitlen, freilich in sich widersprüchlichen Menschen dokumentieren, der zudem in einer entscheidenden historischen Situation stand. Es erscheint paradox, wie der so dezidiert im Verborgenen lebende M. durch seine Briefe mit den herausragenden Akteuren seiner Zeit direkt oder auch indirekt verbunden und dadurch an der Neugestaltung der Epoche beteiligt war. Überlieferung. 522 der von Gillert insgesamt edierten 645 Briefe, die z. T. auch Gedichte enthalten bzw. ganz aus solchen bestehen, sind als Corpus überliefert im sog. Frankfurter Codex, Frankfurt a. M., StUB, Ms. Lat. Oct. 8 (vgl. K. Bredehorn / G. Powitz, Kat.e d. StUB Frankfurt a. M., Bd. 4/3, 1979, S. 88⫺90). Es handelt sich um eine zwischen 1510 und 1515 (1521 wurde Nr. 522 nachgetragen) von Urban faszikelweise angelegte Abschrift gesammelter Briefe M.’, die überwiegend an seine Freunde (neben Urban bes. an Spalatin und Herebord von der Marthen sowie an den etwas schillernden Georgenthaler Lehrer Heinrich Musardus) gerichtet sind. Antworten an M. haben sich nur in wenigen Fällen erhalten. Der Rest der hsl. Überlieferung mit insgesamt 35 Originalen M.’ verteilt sich auf acht weitere Bibliotheken bzw. Archive (verzeichnet bei Gillert, S. XII f.). Drucke. Etwa ein Fünftel des Gesamtbestandes bilden bereits andernorts vereinzelt gedruckte Briefe (darunter auch der in die ‘Clarorum virorum epistolae [...] missae ad Ioannem Reuchlin’, 1514, 1519 u. 1558, aufgenommene Brief an J Reuchlin, Br. 2); die wichtigste Quelle hierfür sind verschiedene Drucke der Briefe des Eobanus Hessus: neben der 1543 in Marburg erschienenen und von Camerarius (S. 34) als fehlerhaft gerügten Edition der ‘Epistolae familiares’ (VD 16, M 1493) v. a. die drei Leipziger Ausgaben, die Camerarius in den Jahren 1557 (‘Libellus alter’), 1561 (‘Tertius libellus’) und 1568 (‘Libellus novus’) veranstaltete (VD 16, C 409⫺411; vgl. Huber-Rebenich, 2001, S. 146); für den jüngsten Druck benutzte er einen 1563 in der Bibliothek Gerlachs v. d. Marthen, Herebords Sohn, nachweisbaren Sammelband mit M.-Briefen und Gedichten Eobans. Die Fundorte sind bei Gillert für jeden Brief nachgewiesen. Ausgaben. W. E. Tentzelius, Supplementum Historiae Gothanae primum Conradi Mutiani Rufi [...] Epistolas plerunque ineditas carmina et elogia complectens, Jena 1701, darin S. 1⫺6: Die ‘Vita Mutiani’ nach M. Adam; S. 17⫺227: Epistolae Mutiani ex codice manuscripto Francofurtensi (z. T. stark gekürzt); S. 228⫺272: Ergänzungen

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dazu aus den M.-Briefen der erwähnten Brief-Editionen Eobans von Camerarius, vorwiegend mit Gedichten; mit neuer Paginierung S. 1⫺116: Reliquiae Epistolarum Mutiani Elogiis mixtae, d. h. weitere M. betreffende Briefe bzw. Gedichte auf M., nach denselben Drucken des Camerarius. ⫺ C. Krause, Der Briefwechsel d. M. R. (Zs. d. Ver. f. Hess. Gesch. u. Landeskunde N.F. IX Suppl.), 1885; K. Gillert, Der Briefwechsel d. C. M., hg. v. d. Hist. Commission d. Prov. Sachsen, 1. u. 2. Hälfte (Gesch.quellen d. Prov. Sachsen 18), 1890 [zit.]. Die beiden modernen Ausgaben sind z. T. gleichzeitig und in Konkurrenz zueinander entstanden. Gillert ordnet die Briefe chronologisch von 1 (1. Juni 1502) bis 628 (12. Sept. 1525); es folgen undatierte Briefe und Gedichte M.’ (Br. 629⫺637), die beiden Epicedia von Eoban und Johannes Stigel auf M. (Br. 637 u. 638), in den Nachträgen (Br. 637⫺645) einige später bekannt gewordene Briefe sowie das Epitaphium des Camerarius. Krause gliedert seine Edition in drei intern chronologisch geordnete Reihen: der ersten (I⫺VIII) liegt der Frankfurter Codex zugrunde (Nr. 1⫺527, d. h. Briefe von “vor 1505” bis 21. März 1521), die zweite (IX, Nr. 528⫺555) versammelt 28 Stücke aus verstreuten Hss. (von 1508 bis 1521), die dritte (X, Nr. 556⫺665) 110 bereits gedruckte Briefe, erstmals chronologisch geordnet (1502⫺1525), meist nur im Regest. Krause, 1893, hat Gillert zahlreiche Irrtümer in der Textkonstituierung, Datierung und Kommentierung der Briefe nachgewiesen (hier in den Zitaten berücksichtigt). Nur weil Gillerts Ausgabe die Texte vollständiger bietet, wird sie hier zitiert. Philologisch kompetenter ist Krause. Ein schweres Problem des Briefwechsels sind die unsicheren Datierungen. Mehrere M.-Briefe sind in seither erschienene krit. Briefeditionen von M.’ Korrespondenten aufgenommen und z. T. neu kommentiert: Br. 78: Celtis-Br., Nr. 340; Br. 2 u. 303: Reuchlin-Br., Nr. 127 u. 224; ebd., Nr. 151 (Reuchlin an M. v. 1509, fehlt bei Gillert); Br. 579 u. 620: Erasmus, Op. epist., Nr. 870 u. 1425; Br. 560: Luther-Br., Bd. 1, Nr. 14; Br. 298 u. 275: Peutinger-Br., Nr. 124 (neu datiert auf 17. Juli 1513) u. 125. Eobans poetische Beschreibung Preußens für M. (Br. 343) ist neu hg., übers. u. komm. bei K¸hlmann/Straube, S. 702⫺ 711; sein Epicedion auf M. (Br. 637) jetzt bei Vredeveld, S. 132⫺143.

IV. Form und Charakter der Briefe. M. bedient sich in seinen Briefen, die, von manchen dt. und nur wenigen selbstverfaßten griech. Inserten abgesehen, lat. abgefaßt sind (Br. 413 an Friedrich d. Weisen ist die von Spalatin angefertigte dt.

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Übersetzung eines lat. Originals), eines an den jüngeren Plinius erinnernden (vgl. Br. 333) sehr strikten, manchmal bis zur Manier kurzen und pointierten Stils: Neque enim proposito meo copia et tumultus verborum, sed pressum et floridum dicendi genus arridet (Br. 499). Camerarius (S. 72) bezeichnet dieses Genus orationis als “gedankenreich und knapp, vergleichbar dem Stil des Angelo Poliziano, an den sich M. in Italien gewöhnt hatte” (sententiosum [...] et incisum: quale est Politianicum, ad quod in Italia erat assuefactus). M. liebte die ital. Prosaisten; sein Gedicht Br. 101 rühmt die Autoren Valla, Polizian, Codrus, Beroaldo und Sabellicus als “Bannerträger der lat. Sprache” (Nam vexilla ferunt latinitatis). Obwohl der Einsatz für die tersa latinitas (Br. 90) seinen ordo latinus recht eigentlich zusammenhält und die aggressive Differenz zu den Sprachverhunzern der scholastischen Theologie (den sophistae infantes, Br. 285) wie zu den Juristen der mal. Tradition (ista plebeia et vernacula latinitas, Br. 471; vgl. Br. 296) geradezu begründet, propagiert M. kein verbindliches Stilideal (so urteilt auch Camerarius), sondern einen pragmatischen, auch funktionsbestimmten Einsatz (etwa vor Gericht und in der Predigt) der lat. Sprache. Sofern er es mit vertrauten Freunden zu tun hat, sind seine Briefe voller gelehrter Anspielungen und grundsätzlich von einem unbändigen liberalen Witz, der sich bes. im Spiel mit dem Material der lat. Sprache, etwa im kreativen Erfinden und Verdrehen von Wörtern oder Namen, auslebt (oft z. B. pedicatores statt predicatores), wobei auch obszöne Effekte nicht unwillkommen sind. Hinzukommt eine Vorliebe für ironisch verkappten Ausdruck, den M., um nicht mißverstanden zu werden, oft selber ausdrücklich (sed hactenus iocari more nostro libuit, Br. 571) auflöst. Ironie scheint ihm die einzige Möglichkeit, wahrhaftig zu bleiben (Veritatis tamen, ut nosti, amicus non possum non ita ludere, Br. 418). Manche ironische Äußerungen sind, zumal wenn sie die Blasphemie streifen, von den Herausgebern gar nicht erkannt worden (so ist Br. 175 [von Krause, Ausg., Nr. 73, richtig auf 1506⫺8 datiert]

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durchgehend ironisch zu verstehen; Br. 452 v. 15. Okt. 1514, Vergils Geburtstag, enthält ein parodistisches Offizium des ‘Tagesheiligen’ Vergil). Die Briefe sind gespickt mit antiken Zitaten aus Plautus, Terenz, Cicero, Vergil, Horaz, Ovid, Livius, Seneca, Plinius d. J., Sueton, bes. Martial und Juvenal, Gellius, Apuleius (mit Beroaldos Kommentar) sowie den griech. Klassikern Hesiod, Plato, Isokrates, Demosthenes, Plutarch. Dazu treten in wachsendem Maße die Kirchenväter. Volkssprachiges streut M. gern ein, wenn er eine Stimmung in der Bevölkerung wiedergeben will (Poeten verterben die universiteten, Br. 128, vielleicht ein gereimter Kampfruf; Mutianus helt keyn messe, Urbanus ist auch eyn poete, Br. 213). Etwa 60 Briefe enthalten Gelegenheitsgedichte in verschiedenen Versmaßen, überwiegend Epigramme in elegischen Distichen, aber auch einige volkstümlich klingende, dem ambrosianischen Hymnus angenäherte rhythmische und sogar endgereimte Stücke. Camerarius (S. 72) erwähnt solche Rhythmi, die sich von M.’ ansonsten “sehr guten metrischen Versen” (versus satis boni) unterschieden. Zu ihnen müssen auch die gelegentlich eingestreuten dt. Reimpaarverse gerechnet werden (ein Sonderfall das lat.⫺ dt. endgereimte Hochzeitsgedicht für Eoban: Br. 451). Aus den lat. Gedichten sticht hervor das nach der Melodie von Der schultes in dem dorffe zu singende Lied Br. 15 (mit 20 aus jeweils 8 rhythmischen jambischen Dimetern bestehenden Strr.), das M. in der noch unbeschwerten Gründungszeit des Freundeskreises, nach dem 15. Aug. 1505, Urban gewidmet hat. Bereits hier klingen die Themen des gesamten Briefwechsels an: Lob des einfachen (Land-)Lebens, der Freundschaft und der humanistischen Bildung, Verachtung der Geldgeschäfte, Kritik der sozial ungerechten kirchlichen Zustände, Verspottung des ungebildeten, geldgierigen und sexuell hemmungslosen Klerus. Interessant sind einige Beilagen M.’ in Prosa: zwei kurze komische Szenen nach Art der ‘Colloquia familiaria’ (Br. 65 u. 261), eine von M. im Auftrag des Promotors ausgearbeitete Rede zur Promotion des gebildeten Domi-

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nikaners Matthias Sturtz aus Freiberg i. S. zum Dr. theol. (Br. 365, mit einem längeren Mantuanus-Zitat) und eine kurze Beschreibung der verheerenden Überschwemmung in Georgenthal vom Sommer 1514 für Urbans Chronik (Br. 396). V. G eh al t u nd Be de ut un g d er B ri ef e. Subjekt und zugleich Objekt des Briefwechsels, dem die formale Qualität eines literarischen ‘Werks’ nicht zukommt, ist M. selbst, zum einen in seiner aktiven Rolle als Vertreter eines eigenen entschieden konturierten Weltbildes, zum andern als spiegelndes Medium des Epochengeistes und Freund oder Gegner bedeutender Zeitgenossen. A . P er so n u nd ge is ti ge s P ro fi l. 23 Jahre lang führte M. im Schneckenhaus seiner Beata Tranquillitas das Leben des zölibatären Kleriker-Gelehrten (der die Ehe, etwa im Fall seiner Freunde Eobanus Hessus und Euricius Cordus, als bedauerliche Einbuße an Freiheit bewertet), ohne markante äußere Aktionen (freilich oft mit energisch intervenierenden Briefen für die Freunde und ihr berufliches Fortkommen; vgl. Br. 513 an Eb. Albrecht v. Mainz wegen der Aufhebung eines Interdikts), ohne ein Amt (das kursächsische Angebot der Nachfolge Henning Gödes als Propst am Allerheiligenstift und Professor für Kanonisches Recht in Wittenberg [Br. 601] lehnte er am 1. März 1521 zugunsten von Justus Jonas ab), ohne eine größere Reise (sogar die Einladung Hartmanns zu dessen Inthronisierung als Abt von Fulda schlug M. aus, seine erhaltene hochstilisierte Festrede mußte ein Diener verlesen, Br. 263), selbst ohne die Publikation eines einzigen schriftlichen Werks, völlig konzentriert auf seine Freunde und seine Bücher, wobei er sich durch die intensiv genutzte Möglichkeit privater Ausleihe der besonders reichen Bibliotheken Urbans, Herebords (Br. 101) und später v. a. Johannes Langs bedienen konnte. M. gesteht offen, daß er (wie ja auch Erasmus v. a. um der gelehrten Muße willen sich für das monastische

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Leben hatte gewinnen lassen) nur deshalb die Einkünfte aus Pfründen anstrebte, weil er sich damit Bücher leisten konnte (Sacerdotia propter libros peto, cetera non desunt, Br. 25). Da sich M. von sozialen Bindungen und beruflichen Pflichten weitgehend dispensiert sah, war es ihm wie keinem zweiten seiner Zeitgenossen möglich, das teils stoische (vgl. Br. 214, 204 u. a.), teils (Luther zufolge italienisch “infizierte”) epikureische Leben eines ironischen Christen zu führen und dabei den humanistischen “Selbsterziehungsanspruch des Individuums” (K¸hlmann, 1996, S. 163) zu erproben. Medium und Ziel seiner Existenz war zunächst ein pädagogisch motivierter, nach Möglichkeit genußvoller Dialog mit ausgewählten gebildeten oder noch zu bildenden Männern (Frauen spielen in seiner Welt keine Rolle und sind fast nur Anlaß für obszöne Äußerungen, selbst im Fall der Herzogin von Sachsen, vgl. Br. 369), in dessen Zentrum die Pflege der erneuerten lat. Sprache und der antiken Literatur (im weitesten Sinne: d. h. auch der griech., auch der spätantiken) stand. Die historischen Veränderungen, markiert durch den Reuchlinstreit sowie das Auftreten des Erasmus und Luthers, veränderten jedoch auch die ursprünglich privatistische und literatenhafte Welt M.’ und seines Kreises (Innocenter vivimus, nihil nisi literatum agimus, Br. 405) durch den Import theologischer Fragen und Entscheidungszwänge. M.’ sarkastischer Antiklerikalismus, der am Anfang von einer prinzipiell frivolen Geringschätzung der christlichen Religion kaum abtrennbar erscheint, wich einem allmählich seriöser werdenden Bemühen, die in der antiken Literatur vorhandenen philosophischen Lebenslehren mit den philosophisch diskutablen Lehren der christlichen Theologie, die er vor allem bei den Kirchenvätern in ansprechendem Latein verhandelt vorfand, zu harmonisieren. Trotz zahlreicher Verdikte gegen die mal. scholastische Tradition (mit namentlicher Ablehnung von Avicenna, Albertus Magnus, Averroes, Durandus, Thomas v. Aquin, Duns Scotus, vgl. Br. 569, 570, 574 u. a.) und trotz gewisser Übereinstimmungen mit der Via moderna und dem Nomi-

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nalismus (zumal in der Hinwendung zu Plato und der Favorisierung einer individuellen Gottesbetrachtung) läßt sich ein konsequenter Anschluß M.’ an universitäre Lehrrichtungen (Tewes) kaum erweisen (vgl. Spitz, 1953, S. 127). M.’ geistige Welt ist durchaus unsystematisch und inkohärent (Spitz, 1975, S. 411⫺413), aber autonom und autark. B . The me n d es Br ie fw ec hs el s. 1. Kirchenkritik. Da die Überlieferung des Briefwechsels M.’ frühere Lebenszeit begünstigt hat, ist der Anteil der Kirchenkritik überproportional ausgefallen. Hier fand sich sein vitaler und witziger Geist besonders herausgefordert. M. lehnt jede Art kirchlicher Zeremonien ab und leugnet den Sinn sakramentalen Handelns. Das Ordensleben findet er heuchlerisch, menschenverachtend, obendrein physisch ungesund. Oft verwünscht er das Fastengebot (Br. 49, z. T. mit antiken Argumenten, vgl. Br. 349, 473 u. 476) und den lästigen “abergläubischen” Chordienst (Br. 350, 585, 591). Die Ohrenbeichte, zu der die “Stiefmutter” Kirche ihre Kinder zwingt, kommt für ihn nicht in Frage (Br. 117), weder für die schweren noch für die ganz leichten Sünden (facinora levissima), zu denen er die sexuellen Verfehlungen zählt (Br. 66, vgl. auch 83 u. 488). Der Reliquienkult ist für M. eine Einrichtung des geldgierigen Klerus (die einzigen “Reliquien”, die er verehrt, sind die hinterlassenen doctissimorum scripta, vgl. Br. 8 u. 374); für die Toten zu beten (gar um Geld, vgl. Br. 259), scheint ihm absurd. Die christliche Religion sieht er in seiner Zeit so korrumpiert, daß er sich eindeutig zur Philosophie als Richtschnur seines Lebens bekennt (Br. 594). 2. Philosophie und Religion. Sein pantheistisches Weltbild und mit diesem die Überzeugung, daß die christliche Religion nichts anderes meinen kann als die antike Philosophie, bringt M. allein schon durch provozierende Vertauschungen und Gleichungen zum Ausdruck, z. B. Valeo, laus Iovi et Iunoni (Br. 264), Itaque

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Luna Lucina sanctaque Lucia, fer opem (Br. 35); Proh sancte Iupiter! (Br. 366); für Maria Magdalena steht ihm Venus (Br. 531), Nonnen nennt er grundsätzlich vestales, und Maria ist Iovis famula (d. h. “ancilla domini”, Br. 472). In dem stimmungsvollen Brief an Urban, dem das erwähnte Lied (s. o. IV.) beigegeben war, schreibt er: Est unus deus et una dea, sed sunt multa uti numina ita et nomina, exempli gratia: Jupiter, Sol, Apollo, Moses, Christus, Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria. Sed hec cave enuncies (Br. 15). In zahlreichen Selbstexplikationen, zu denen er sich gegen ständiges Mißtrauen veranlaßt sah, nimmt M. Gelegenheit, die Prinzipien seines Lebens und sein Verständnis von Glück zu erläutern. Viel deutlicher als etwa Erasmus rechnet er nicht mit einer den Menschen betreffenden Transzendenz: die christliche Vorstellung von Auferstehung und Lohn oder Strafe im Jenseits erscheint ihm abwegig. Philosophie und Religion lehren für M. dasselbe, nämlich die wahre Erkenntnis seiner selbst, welche Voraussetzung für moralisch richtiges Handeln und zugleich die einzig erreichbare Seligkeit ist (Br. 93). Zur Philosophie gehört auch die den Menschen adelnde Poesie (Br. 278), deren vorzügliche Qualität allerdings (im Hinblick auf die Erziehung der Jugend) die Keuschheit zu sein hat. M., der in seinen Briefen sexuelle Themen keineswegs meidet, steht hier in der Nachfolge von Mantuanus und auf seiten Wimpfelings gegen Jakob Locher, dem er vorwirft, die Musen zu Huren zu machen (Br. 143; vgl. dort auch das nur von Krause, Ausg., Nr. 139, erkannte Mantuanus-Zitat Pierides caste, caste Libetrides unde / Tota pudiciciam vera poesis amat, sowie Br. 170). Der wahre Gottesdienst ist die Bemühung, ein guter Mensch zu sein (malum non esse); die rechte Religion hat, wer rechtschaffen und pius ist und die Mitmenschen schont (innocens, vgl. Br. 335). Ziel unseres Lebens ist: iusticia, temperantia, pacientia, concordia, veritas et unanimis amicicia (Br. 82). In einer Tractatio resipiscentiae schreibt M.: Hoc est Christi dogma praeclarum et divinum sempiternumque, recta et honesta jubens,

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prava vetans et turpia, cuius sanctissimae ac certissimae legis capita habentur in Evangelio, quod est formatum ex schola hebraica et de sectis Epicuri et Stoicorum (Krause, Ausg., Nr. 391, fehlt bei Gillert). Christus ist für M. keine historische Person, sondern eine Chiffre für die “Weisheit Gottes”, an der nicht nur die Juden “in der beschränkten Region Syriens”, sondern, trotz jeweils abweichender religiöser Riten, auch Griechenland, Italien und Germanien teilhatten (Br. 95), und “der Erlöser” ist in Wirklichkeit eine Serie christlicher (paulinischer), aber eben auch universalmenschlicher Tugenden: Quis est salvator noster? Iustitia, pax et gaudium. Hic est Christus, qui de celo descendit (Br. 29, vgl. auch Br. 64). Eine derartige Reduzierung und Abstraktion der an den Mythos gebundenen Religion will und kann M. dem (keineswegs verachteten) einfachen Volk nicht zumuten; daher gelangt er zu seinem Prinzip einer “doppelten Wahrheit” (Krause, Ausg., S. XXVIII⫺XLIX), die den noch nicht an die “feste Speise” der Philosophie gewöhnten (und das sind für M. fast alle: vgl. Br. 251) die “erfundenen”, die Wahrheit einhüllenden Erzählungen (etwa der Evangelien) zugesteht: Utendum est fabulis atque enigmatum integumentis in re sacra (Br. 15, vgl. auch den für das Problem metaphorischer bzw. allegorischer Rede fundamentalen Br. 93). Hier war natürlich keine Verständigung mit Luthers entschiedenem Einstehen für das nicht relativierbare Wort des Evangeliums möglich. In einem seiner letzten Briefe (Br. 626, an den kursächs. Kanzler Gregor Brück) beschreibt M. seine Position ⫺ aus seiner Sicht: Ego nunquam recessi ab evangelio, nunquam accessi furiosis theologis. Non sum papalis. (“Ich bin niemals vom Evangelium abgewichen, aber ich habe mich nie den fanatischen Theologen angeschlossen. Ein Papstanhänger bin ich nicht.”) 3. M.’ literarische Verbindungen, Bücher und Urteile. a) J Erasmus ist für M. der instaurator theologiae (Br. 563), mit dem er sich völlig solidarisch erklärt: Qui Erasmum ledit, me ledit (Br. 590). Daß er Melanchthon an

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zweiter Stelle und, nach einem nicht erhaltenen Brief, Luther erst an dritter sieht, wurde ihm in Wittenberg sehr übel genommen (vgl. Br. 605). M. hatte an Erasmus im Okt. 1518 durch Eoban einen nachlässig, in angetrunkenem Zustand (Br. 586), verfaßten Brief geschickt und war zu seiner Überraschung zweimal von ihm bieflich wieder gegrüßt worden (vgl. Br. 579). Er schätzte Erasmus wegen des Freimuts und der kritischen Schärfe seiner Schriften (Br. 569), von denen er ausdrücklich ‘De libero arbitrio’ (Br. 620, vgl. auch ebd., Beilage 3) und das ‘Encomium moriae’ (mit d. Komm. v. Listrius) erwähnt. Letzteres rät er seinem Freund Lang zusammen mit der Basler Ausgabe des Hieronymus von 1516 und der erweiterten Ausgabe der ‘Adagia’ von 1515 zu erwerben (Br. 566; Br. 569 enthält Gedichte M.’ auf Hieronymus bzw. über die kritische Scheidung der Ps.-Hieronymiana durch Erasmus). ‘De ratione studii et instituenda pueritia commentarii duo’ (Löwen 1512), ein gratissimo gratius munus, erhält M. Anfang des Jahres 1514 (Br. 345), die Erasmi bibliothecula (d. h. das NT, hier ist Krause, 1893, S. 93, zu korrigieren) läßt er noch 1516 durch Justus Menius für 10 boemi kaufen (Dictat hoc pietas, Br. 572). Täglich liest er im Aug. 1519 in dem von Beatus J Rhenanus 1518 edierten ‘Auctarium’ der Briefe dieses Christianus Cicero (Br. 586). M. verteidigt ihn (in Br. 590) heftig gegen die Angriffe von Edward Lee (Br. 591). Auf den vermeintlich verstorbenen Erasmus schrieb auch M. 1513 ein eulogium in rhythmischen jambischen Dimetern (Br. 331). b) Mit Johannes J Reuchlin tritt M. am 1. Okt. 1503 erstmals in Kontakt (Br. 2, vgl. jetzt Reuchlin-Br., Nr. 127): er hat die von Reuchlin mit einem Lobgedicht versehene Ausgabe des D Hrabanus Maurus (‘De laudibus s. crucis’, 1503) gekauft und bittet um seine Freundschaft. Etwas später läßt M. über Reuchlin drei Werke (Arnobius, Julianus Caesar, Symmachus) besorgen (Br. 57), 1506 kauft er dessen ‘De rudimentis hebraicis’, 1513 die ‘Progymnasmata’ mit Jakob J Spiegels und den ‘Sergius’ mit Georg J Simlers Kommentar. Im Reuchlinstreit ist er mit seinen Freunden

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durchweg auf Reuchlins Seite und setzt sich beim Kaiser für ihn ein (vgl. Peter Eberbachs Brief an Reuchlin [Reuchlin-Br., Nr. 222], der von M. veranlaßt ist); allerdings meint M. (Ende März 1513, Br. 251) nach Prüfung des ‘Augenspiegels’ und der ‘Defensio’ Reuchlins, dieser habe die unkorrigierbare Abneigung der Bevölkerung gegen die Juden, zu der er sich selber auch bekennt (Br. 229), unterschätzt und sei den Juden so weit entgegengekommen, daß er den Christen Ärgernis gebe. Den ‘Constantinus Magnus’, eine von Reuchlin aus dem Griechischen übersetzte und Friedrich d. Weisen gewidmete Vita des christlichen Kaisers (gedruckt 1513), erwirbt M. im Juni 1514 (Br. 349 u. 383). c) Am 1. Mai 1515 hielt Martin Luther in Gotha eine Predigt, deren Manuskript Lang M. zur Verfügung stellte (Br. 490); am 29. Mai 1516 entschuldigt sich Luther, auf Visitationsreise in Gotha, dafür, daß er M. nicht besucht und auch nicht ins Kloster eingeladen habe (Br. 560, Luther-Br., Nr. 14). Er, rusticus ille Corydon, Martinus [...] barbarus et semper inter anseres strepere solitus, schäme sich vor einem so gelehrten Mann seiner illoquentia. Es ist der einzige erhaltene Brief zwischen den beiden. Nach einigen beiläufigen freundlichen Erwähnungen Luthers (Br. 568 u. 570) distanziert sich M. am 1. Juli 1520 von dessen heftigen Attacken gegen Leo X. (Br. 594). Die Zerstörungen im Pfaffensturm machten es ihm, schreibt er, unmöglich, sich in Gotha den von den nächtlichen Angriffen betroffenen geistlichen Mitbrüdern gegenüber zu Luther zu bekennen; man würde ihn auf der Stelle umbringen (Br. 606). M.’ Freundschaft zu Luthers Gefolgsmann Lang erkaltete rasch; in vielen verlorenen Briefen an seine Freunde, die sich fast alle der Reformation anschlossen (Ulrich J Zasius freilich denkt über Luther ähnlich wie M.: Br. 587), muß M. damals seine Distanz zu Luther betont haben (vgl. Br. 605, Beilage 1). Dieser hat M. noch lange nach seinem Tod gern mit Erasmus in einem Atemzug genannt und beide des Epikureismus und der Gottlosigkeit bezichtigt (D. Martin Luthers Werke, krit. Gesamtausg., Tischreden, Bd. 1, 1912,

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Nr. 432, Bd. 2, 1913, Nr. 2741ab u. Bd. 3, 1914, Nr. 3795). d) Voll ehrlicher Bewunderung ist M. von Anfang an (Br. 45, 1. Okt. 1506) für das poetische Ingenium seines Landsmanns Eobanus Hessus, den er als einen der Dichterkrönung würdigen (Br. 111) “jungen Pindar” rühmt und früh zur Sammlung und Edition aller seiner Gedichte überreden will. Die intensivste Zeit zwischen M. und Eoban beginnt freilich erst mit dessen Rückkehr nach Erfurt (Aug. 1514, vgl. Br. 408 ff.). M. zufolge rangiert Eoban als Dichter der 1514 gedruckten ‘Heroidum christianarum epistolae’ zwischen Ovid und Baptista Mantuanus. In seine letzte Epistel wob Eoban den von M. schon 1505 kreierten Vers ein: Hesse puer, sacri gloria fontis eris (‘Posteritati’, v. 98), was diesen tief rührte (vgl. Br. 416). M. bemühte sich, von Erasmus (Br. 579) bestärkt, Eoban in Erfurt zu halten, der 1517 dort einen Lehrauftrag für Poetik bekam. Die Freundschaft war gelegentlich getrübt durch M.’ allzu deutliche Sorge um den Lebenswandel Eobans (in Br. 556 entschuldigt sich dieser für seine Volltrunkenheit). Seine Ehe mit einer angeblich häßlichen Erfurter Bürgerstochter wird von M. und Crotus Rubeanus auf das taktloseste mißbilligt (R‰dle, S. 125⫺ 127). 1523 rät M. Eoban vom Studium der Medizin ab, für die er als Musis addictus, voluptarius, vini avidus, pecuniae negligens (Br. 617) ungeeignet sei. Auch Eoban schloß sich Luther an, vergaß aber M. in dessen Not nicht und setzte sich noch im April 1525 bei Spalatin (Br. 625, Beilage 1) für ihn ein. e) Euricius Cordus, der in Erfurt Mitte 1513 anläßlich seines Streites mit Tilmann J Conradi Aufsehen erregte, mißfällt M. anfangs wegen seiner Arroganz, der aggressiven Häme und derben Obszönität seiner noch ungedruckten Gedichte, die ihm als invidie testimonia (Br. 279) erscheinen. Den ‘Bucolica’ fehle das decorum bucolici carminis: rustice simplicitati talia non conveniunt (Br. 280). Später hat sich M. mehrfach korrigiert (Br. 404, 427) und Cordus durchaus poetische Kraft zuerkannt. Auch an Ulrich von J Hutten

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tadelt M. die der humanistischen Sache schädliche poetentypische Anmaßung sowie seine Reizbarkeit (Br. 543). Eberbach hatte ihm 1512 Huttens soeben in Wien erschienene ‘Exhortatio ad Maximilianum Imperatorem’ geschickt (Br. 199, vgl. Krause, Ausg., Nr. 175 mit Anm.); den ‘Triumphus Capnionis’, den M. für ein Werk des Hermann J Buschius hält, erwähnt M. bereits im Sommer 1514 (Br. 387 u. 410); zu Huttens ‘Nemo’ schickt er 1518 ein rühmendes Epigramm an Crotus (Br. 581). f) Crotus Rubeanus, im WS 1505 Huttens Kommilitone in Köln, wo die Wurzeln der EOV zu suchen sind, stand M. ob seines kreativen Witzes (M. nennt ihn vir omnium horarum et valde lepidus, Br. 245) besonders nah und war in seine Ironie eingeweiht (Br. 260 u. 261). Er empörte sich mehr als alle über das Unrecht an Reuchlin (Crotus meus excandescit vehementer, Br. 250 u. 251). Vielleicht deutet M. in Br. 389 sein Wissen um den Plan der EOV an. Crotus beklagt am 11. Juni 1515 sein trostloses Leben in Fulda inter sacrificulos idiotas (Br. 507); die dort angekündigte Unternehmung (Molior aliquid, sed secreto [...]) kann sich aber kaum auf die EOV beziehen, die bereits kurz darauf erschienen. Anfang April 1516 hat M. nachweislich ein Exemplar der EOV in Händen, das er auf Bitten Eberbachs an Pirckheimer schicken soll (Br. 555). g) Johannes J Trithemius, mit M. schon früh bekannt (vgl. Br. 2), besuchte diesen in Gotha auf der Durchreise zum Kurfürsten nach Berlin im Sept. 1505, desgleichen auf der Rückreise im Mai 1506; M. wendet für das prandium 13 Schneeberger Groschen auf (Br. 20 ist vor Br. 19 zu setzen, vgl. Krause, 1893, S. 44). Beide verbindet die Sympathie für Reuchlin. Heinrich J Bebels ‘Facetiae’ kauft M. am 1. Juli 1509, den ‘Facetiae’ des Johannes Adelphus J Muling, den er im übrigen nicht zu kennen scheint, spricht er Witz und sprachliche Eleganz ab (Br. 143) und bearbeitet einen Schwank (cavillatio) der Sammlung, indem er dessen obszönes Potential voll ausschöpft; D Geiler von Kaysersberg (concionatorem illum) zieht er

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dem Adelphus vor: plurimum habet et salis et fellis, verum sermo stilusque rudis est (Br. 143). Über den von den Humanisten bewirkten Untergang des ‘Laborintus’ D Eberhards des Deutschen und der ‘Parvulus’-Literatur (vgl. J Breitkopf, II.A.1.b, 2. u. 3.; J Arnoldi, II.A.1.a u. 2.a) stimmt M. ein dt. Freudenlied an (Br. 277). Die Exempla-Sammlung (‘Opus de religiose vivendi institutione per exempla, ex veteri novoque testamento collecta [...]’) des Marcus Marulus (den Gillert mit Michele Marullo verwechselt, Br. 259; vgl. dazu Krause, 1893, S. 80⫺82) beurteilt er nachsichtig: sie tauge für Prediger, da sie voller frommer Geschichten (piis fabulis, Br. 259) sei, etsi nugis abundet (Br. 264); für die ‘Comoedia Dorotheae passionem depingens’ Kilian J Reuters hat er nur Verachtung übrig (Br. 66). h) Aus der riesigen Masse der von M. gelesenen Bücher, die in diesem Briefwechsel dokumentiert ist, sind wenigstens summarisch diejenigen Autoren bzw. Werke zu nennen, die M., teilweise mehrfach, mit einem ausdrücklichen Urteil bedenkt. Es handelt sich in den meisten Fällen um ausgeliehene Bücher (bisweilen muß er abwarten, bis der Buchbinder fertig ist). Aus der antiken Literatur werden gerühmt: Cicero (die Pariser Gesamtausg. 1511, für zweieinhalb aurei gekauft, Br. 234), Curtius Rufus, Columella, ‘Disticha D Catonis’ (mit dem Kommentar des Erasmus, Br. 525); aus der Patristik: Ambrosius, dessen Lektüre M. einmal seinen leichtfertigen Spott mit Bibelworten bereuen läßt (Br. 84); Hilarius (Hilarius placet. Simplex et inaffectata est oratio, Br. 326, vgl. auch Br. 328); Hieronymus, den M. als censor morum (Br. 568) und wegen seiner satirischen Schärfe schätzt: Tantum iurgatrici tribuo, modo docta sit, orationi (Br. 567, vgl. auch Br. 569); Augustinus (acerrimus pietatis defensor, Br. 74; Legi enim omnia Augustini, quae extant opera et iunctim edita circumferuntur a bibliopolis, quod simpliciter, non arroganter dictum velim, Br. 320); Leo d. Gr. (Br. 36), doctus ille pontifex, an dessen Weihnachtspredigt die trostlosen vulgares iste contiones de natali Christiano sich ein Beispiel nehmen könn-

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ten (Br. 38); aus der spätantiken Literatur: Prudentius (plane latinus poeta, bezogen auf die ‘Psychomachia’, Br. 503); Boethius, ‘De Consolatione philosophiae’, enttäuscht M. als literarisches Werk sehr, der Kommentar des Thomas Venator scheint ihm wertlos (Br. 103); dagegen lobt er Johannes Damascenus (in lat. Übers. d. Jacobus Faber Stapulensis, vgl. Br. 377). Von mal. Autoren nennt M. öfter mit Respekt (dem Zisterzienser Urban gegenüber) D Bernhard von Clairvaux, er spottet über D Alexander de Villa Dei [NB] (Br. 220, vgl. auch Br. 32), liest den ‘Policraticus’ des Johannes von Salisbury, opus mea sentencia varium magis quam elegans, ut farrago sit et sine iudicio collecta silvula (Br. 521), und, offensichtlich in einer Hs. der Amploniana (vgl. Br. 194 über die sorgfältig zu behandelnden von dort ausgeliehenen Codices), die ‘Alexandreis’ Walthers von Chaˆtillon, an der er vieles auszusetzen findet (Br. 211). Aus der frühneuzeitlichen Literatur lobt er: Bessarion, Poggio, Lorenzo Valla, Giorgio Valla (Br. 13), Giovanni Pico della Mirandola, Agostino Dati, Perotti (‘Cornu copiae’, Br. 164 u. 185), Raffaele Maffei (Volaterranus), Giovanni Pontano, der wie ein mächtiger Arzt die Menschen von der Krankheit der stultitia zu heilen verstehe (Br. 260). M. interessiert sich auch für volkssprachige Literatur (Br. 269, 271, vgl. aber die Reserve Br. 189: mihi [...] vernaculas dapes fastidienti [...]); er kennt das ‘Narrenschiff’ und erwägt bei zwei anonymen Titeln Sebastian J Brants Autorschaft (Br. 269). M. sucht nach dt. Rechtstexten (z. B. aus dem Nachlaß des ihm befreundeten Juristen Joh. Biermost, Br. 221) und übersetzt, mit grundsätzlichen Überlegungen zu diesem Akt, sogar lat. Iuridica ingenii exercendi causa (Br. 136) ins Deutsche. Hin und wieder registriert M. die Aufführung geistlicher Spiele, z. T. mit sarkastischen Kommentaren: S. Ioannis natalitio die senatus populusque Gothanus apparatissimos ludos edidit, quibus Christi carnificinam et acta effinxit. Quo spectaculo vel tragedia potius imperiti sollicitantur ad pietatem (Br. 142, Gotha, 1. Juli 1509); ein weiteres Gothaer Spiel, in dem Christus und Hei-

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lige auf Erden wandelten (Br. 28, Ende 1505), ein Antichristspiel 1509 in Hohenkirchen (Br. 157), Spiele zu Fronleichnam 1510 in Gotha (Br. 166). Literatur. Joachim Camerarius, Narratio de Helio Eobano Hesso (1553), lat. u. dt., hg. u. erläutert v. G. Burkard u. W. K¸hlmann, 2003; Melchior Adam, Vitae Germanorum Jureconsultorum et Politicorum [...], Heidelberg 1620, S. 27⫺ 30. ⫺ W. Kampschulte, Die Univ. Erfurt in ihrem Verhältnisse zu d. Humanismus u. d. Reformation, 1. Theil, 1858, S. 74⫺259; D. F. Strauss, Ulrich v. Hutten, 21871; C. Krause, Beitr. zum Texte, zur Chronologie u. zur Erklärung d. Mutianischen Briefe, mit bes. Berücksichtigung d. Gillert’schen Bearbeitung, Jbb. d. Kgl. Akad. gemeinnütziger Wiss. zu Erfurt N.F. 19, 1893, S. 1⫺94; Ellinger, Neulat. Lit., Bd. 2, S. 3⫺57; M. Burgdorf, Der Einfluß d. Erfurter Humanisten auf Luthers Entwicklung bis 1510, 1928; F. Halbauer, M. R. u. seine geistesgeschichtl. Stellung (Beitr. z. Kulturgesch. d. MA u. d. Renaissance 38), 1929; L. W. Spitz, The Conflict of Ideals in M. R., A Study in the Religious Philosophy of Northern Humanism, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 16 (1953) 121⫺143; H. R. Abe, Der Erfurter Humanismus u. seine Zeit, Diss. Jena 1953; F. W. Krapp, Der Erfurter Mutiankreis u. seine Auswirkungen, Diss. Köln 1954; Rupprich, LG I, S. 552⫺ 555; L. W. Spitz, The Course of German Humanism, in: H. A. Oberman / Th. A. Brady (Hgg.), Itinerarium Italicum, Dedicated to P. O. Kristeller, Leiden 1975, S. 371⫺436; R. W. Scribner, The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt, Journal of the Religious History 9 (1976/77) 3⫺31; J.-C. Margolin, M. R. et son mode`le E´rasmien, in: Humanisme allemand, S. 169⫺202; W. Trillitzsch, Der dt. RenaissanceHumanismus. Abriß u. Auswahl, 1981, S. 323⫺ 326; E. Bernstein, German Humanism, Boston 1983, S. 87⫺95; H. Junghans, Der junge Luther u. d. Humanisten, 1985, Reg.; E. Kleineidam, in: CoE 2, 1986, S. 473 f.; U. Weiss, Die frommen Bürger v. Erfurt. Die Stadt u. ihre Kirche im SpätMA u. in d. Reformationszeit, 1988, Reg.; E. Bernstein, in: Killy, Lit.lex. 8, 1990, S. 319 f.; H. Vredeveld (Hg.), Helius Eobanus Hessus, Dichtungen. Lat. u. Dt., Bd. 3, 1990, S. 132⫺143; Kleineidam, Erfurt 2II, S. 133⫺266; H. R. Abe, Euricius Cordus (1486⫺1535) u. d. Univ. Erfurt, in: Erfurt 742⫺1992. Stadtgesch. Univ.sgesch., 1992, S. 279⫺294; St. Rhein, Ph. Melanchthon u. Eobanus Hessus, in: U. Weiss (Hg.), Erfurt. Gesch. u. Gegenwart, 1995, S. 283⫺295; W. K¸hlmann,

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Pädagogische Konzeptionen, in: N. Hammerstein (Hg.), Hdb. d. dt. Bildungsgesch., Bd. 1, 1996, S. 153⫺196, bes. S. 160; E. Bernstein, Der Erfurter Humanismus am Schnittpunkt v. Humanismus u. Reformation, Pirckheimer Jb. 12 (1997) 137⫺ 165; F. H. Grimm, in: NDB 18, 1997, S. 656 f.; W. Ludwig, Humanismus u. Christentum im 16. Jh. (Pforzheimer Hefte 6), 1997; ders., Eobanus Hessus in Erfurt. Ein Beitrag z. Verhältnis v. Humanismus u. Protestantismus, Mlat. Jb. 33 (1998) 155⫺ 170; P. Walter, in: 3LThK 7, 1998, Sp. 556; W. Ludwig, Klass. Mythologie in Druckersigneten u. Dichterwappen, in: B. Guthm¸ller / W. K¸hlmann (Hgg.), Renaissancekultur u. antike Mythologie, 1999, S. 113⫺148; W. Troxler, in: BBKL 16, 1999, S. 1117⫺1120; G. Huber-Rebenich, ‘Officium amicitiae’. Beobachtungen zu d. Kriterien frühneuzeitl. Briefslg.en am Beispiel d. v. J. Camerarius hg. H.⫺Korrespondenz, in: B. Kˆrkel / T. Licht / J. Wiendlocha (Hgg.), Mentis amore ligati. Fg. f. R. Düchting, 2001, S. 145⫺156; W. K¸hlmann / W. Straube, Zur Historie u. Pragmatik humanist. Lyrik im alten Preußen. Von K. Celtis über Eobanus Hessus zu G. Sabinus, in: K. Garber / M. Komorowski / A. E. Walter (Hgg.), Kulturgesch. Ostpreußens in d. Frühen Neuzeit, 2001, S. 657⫺736; F. R‰dle, M.s Briefwechsel u. d. Erfurter Humanismus, in: G. Huber-Rebenich / W. Ludwig (Hgg.), Humanismus in Erfurt, 2002, S. 111⫺129; D. Stievermann, Zum Sozialprofil Erfurter Humanisten, ebd. S. 33⫺53 [zit.: Stievermann, 2002a]; G.-R. Tewes, Weisheit versus Wissen: Beobachtungen z. philos. Prägung dt. Humanisten, ebd. S. 55⫺89; H. Scheible, in: 4RGG 5, 2002, Sp. 1628 f.; D. Stievermann, Marschalk (ca. 1470⫺1525), Spalatin (1484⫺1545), M. (ca. 1470⫺1526), Hessus (1488⫺1540) u. d. Erfurter Humanisten, in: D. v. d. Pfordten (Hg.), Große Denker Erfurts u. d. Erfurter Univ., 2002, S. 118⫺ 142 [zit.: Stievermann, 2002b]; E. Bernstein, Group Identity Formation in the German Renaissance Humanists: The Function of Latin, in: E. Kessler / H. C. Kuhn (Hgg.), Germania Latina. Latinitas Teutonica, Bd. 1, 2003, S. 375⫺386. H. M¸ller, Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog, 2006, bes. S. 55⫺57 u. 337⫺355; Conradus Mutianus Rufus u. d. Humanismus in Erfurt. Katalog z. Ausstellung d. Forschungsbibl. Gotha auf Schloß Friedenstein 21. Aug. bis 1. Nov. 2009, hg. v. Ch. Fasbender, 2009; F. R‰dle, Reuchlin u. M. R., in: W. K¸hlmann (Hg.), Reuchlins Freunde u. Gegner. Kommunikative Konstellationen eines frühneuzeitl. Medienereignisses, 2010, S. 193⫺212.

Fidel R‰dle

N Nacht(i)gall J Luscinius, Otmar Nauclerus (Verge, Vergenhans), Johannes I . L eb en . In der urkundlichen Überlieferung taucht N. nur mit den dt. Namensformen V(F)erge oder Vergenha(n)ns auf. Die Gräzisierung Nauclerus oder Nauklerus (‘Fährmann’) ist hingegen sein Gelehrtenname, über dessen Urheberschaft keine Klarheit besteht.

N. wurde 1425 oder eher 1430 geboren, wobei sich das eine Datum aus einer Grabinschrift, das andere aus einem Brief (Joachimsen, 1929, S. 415) ergibt. Sein Geburtsort ist ebenso unsicher wie die Stellung seiner Familie. N.’ gleichnamiger Vater war wohl vir equestris ordinis (‘Weltchronik’, Bd. 1, Bl. iiir), Ministerialer der württembergischen Grafen; über seine Mutter sind nicht mehr als einige Gerüchte bekannt. Von Bedeutung ist aber N.’ Bruder Ludwig, der es zum württembergischen Kanzler und kgl. Rat am Hofe Maximilians brachte (vgl. Auge, S. 508⫺530). Ähnlich unklar ist N.’ Ausbildung. Zwischen 1454 und 1459 hat er das Studium der Artes als Magister beendet, spätestens 1464 wird er dann als Dr. decr. bezeichnet. Einige Quaestiones von 1459 an drei Pariser Professoren könnten dabei auf Kontakte an die Pariser Univ. hinweisen. Bereits während der Zeit seiner Ausbildung (1450⫺1459) war er als Erzieher und Lehrer des späteren Grafen und Hzg.s Eberhard im Bart tätig, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Seine berufliche Karriere läßt sich in drei Bereiche einteilen. Zunächst hat er im Laufe seines Lebens eine ganze Reihe kirchlicher Ämter bekleidet, von denen hier nur einige genannt seien: Von 1466 bis

1472 war er Propst des Heilig-Kreuz-Stifts in Stuttgart, von etwa 1473 bis 1476 Chorherr des St.-Martins-Stiftes in Sindelfingen, von 1483 bis 1509 schließlich Propst in Tübingen (vollständige Auflistung bei Auge). Weiterhin tritt uns N. als Gesandter entgegen, der zuerst vor allem im Auftrag des Abtes von Hirsau unterwegs war. So reiste er 1459 nach Mantua zum Fürstenkongreß Papst Pius’ II. und 1466 nach Rom. Später unternahm er für die württembergischen Grafen eine ganze Reihe von Gesandtschaften, etwa 1467 zu Karl dem Kühnen nach Pe´ronne, das er freilich nicht erreicht hat (vgl. ‘Weltchronik’, Bd. 2, Bl. CCXCIIIr). Schließlich wirkte N. nicht zuletzt als Universitätslehrer und -organisator. Seine universitäre Laufbahn begann 1464, als er ein Jahr lang an der Univ. Basel vermutlich Kirchenrecht lehrte. Dann galt seine ganze Aufmerksamkeit der Univ. Tübingen, an deren Gründung 1476/77 er maßgeblich beteiligt war, ohne daß sich seine Rolle allzu genau bestimmen ließe. So dürfte er das päpstliche Privileg erwirkt, den Erlaß, in dem die Gründung bekannt gemacht wurde, entworfen und die Universitätsstatuten zumindest mitverfaßt haben. Im WS 1477/78 war er Gründungsrektor der Univ. Tübingen, an der er bis 1482 wahrscheinlich auch als ordentlicher Professor Kirchenrecht lehrte. Anschließend amtierte er bis etwa 1509 als Kanzler der Universität. Am 5. Jan. 1510 verstarb er in Tübingen, wo er in der Stiftskirche beigesetzt wurde. Über seine Lehrtätigkeit ist praktisch nichts bekannt. Es gelang ihm, einige junge Gelehrte nach Tübingen zu holen und zu fördern, u. a. Heinrich J Bebel und Johannes J Reuchlin. Aber auch Michael J Köchlin (Coccinius), Bernhard D Schöffer-

403

Nauclerus, Johannes

lin und Jakob D Mennel nennen N. unter ihren Lehrern oder standen zumindest freundschaftlich mit ihm in Kontakt. I I. We rk . Das uns überlieferte Werk des N. besteht im wesentlichen aus den zwei unten genannten Drucken. Daneben sind lediglich wenige Briefe sowie einige Consilia, die sich mit kirchenrechtlichen Fragen befassen, erhalten. Eine Übersicht über diese ungedruckten Stücke findet sich bei Auge, S. 437 f. Die Briefe an Reuchlin sind gedruckt im Reuchlin-Br., Bd. 1, S. 288 u. 318, der Brief an Johannes Letscher bei Joachimsen, 1929, S. 414 f., ein knapper Briefwechsel mit Graf Eberhard d. Ä. bei N‰gele. 1. ‘Tractatus de symonia’. Der ‘Tractatus de symonia’ ist die einzige gedruckte Schrift des N., die auf seine langjährige Tätigkeit als Professor für Kirchenrecht verweist. Auch wenn sie relativ weit verbreitet gewesen sein dürfte, steht sie doch ihrer Bedeutung nach weit hinter N.’ Hauptwerk, der Weltchronik. Der eigentlichen, knapp 150 S. starken Abhandlung ist eine Elegie Heinrich Bebels ‘In simoniacos’ vorangestellt, in der bereits auf die gemäßigte Haltung des N. verwiesen wird. Im folgenden stellt N. in drei partes, die wiederum in Kapitel und Paragraphen untergliedert sind, die wichtigsten Urteile gelehrter Juristen und Theologen zusammen, die sich mit Fragen der Simonie befassen. Er versucht dabei in wenig selbständiger Weise eine vermittelnde Position einzunehmen, die die herrschende Praxis des Ämterkaufs in vielen Fällen zu rechtfertigen versucht. Zusammenfassend wurde der Traktat treffend als “ein gutes Beispiel der ausgesprochen kasuistischen, dabei unselbständigen Rechtsliteratur ihrer Zeit” (Haller, S. 252) charakterisiert. Druck. Tractatus de symonia | perutilis editus a spectabili viro | Johanni nauclero […]. [Tübingen: Joh. Otmar], 1500. Hain 11581; Steiff, Nr. 10. Der zitierte Werktitel findet sich erst im Kolophon, ([Bl. K7]r). Die Titelseite enthält nur ein Tetrastichon H. bebel | Ad lectores.

2. ‘Weltchronik’. Über die Entstehungsgeschichte der ‘Memorabilium omnis aetatis et omnium

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gentium chronici commentarii’ ist nur sehr wenig bekannt. Immerhin kann man aufgrund einiger Hinweise in N.’ Briefwechsel bzw. der Chronik selbst annehmen, daß sie im wesentlichen in den Jahren zwischen 1498 und 1504 verfaßt wurde. Auch wenn das ‘große Buch von Tübingen’ (Moller/ Riedner, S. 12) bereits in hsl. Fassung einige Verbreitung fand, wurde es doch erst sechs Jahre nach N.’ Tod mit der finanziellen Unterstützung Tübinger Bürger bei Anshelm in Tübingen in zwei prächtigen, meist zusammengebundenen Bänden herausgegeben. So haben etwa Coccinius und Johannes J Trithemius die Weltchronik ⫺ zumindest in Teilen ⫺ bereits vor 1516 gekannt und zitiert. N. äußert sich in der Vorrede sehr klar über die Absichten, die er mit seiner Chronik verfolgt. Es geht ihm darum, die Geschichte der Menschheit [ex] eruditissimis et iam usu probatis scriptoribus zu erzählen. N. will zunächst also “ein zu allgemeiner Verbreitung bestimmtes, encyclopädisches Geschichtssammelwerk” (Joachim, S. 24) schaffen, zur Belehrung seiner Leser historias aliquas compilare. Diesem Zweck entspricht die traditionelle, universalistische äußere Form der Weltchronik: Es sollen die res gestae aller Zeiten und aller Völker vorgeführt werden, wie es bereits im Titel heißt. Zeitlich reicht die Chronik daher von der Erschaffung der Welt bis ins Jahr 1501, geographisch umfaßt sie die ganze bekannte Welt, wenn man einmal vom gerade entdeckten Amerika absieht. N. hat die Chronik dabei in verschiedener Hinsicht gegliedert. Zunächst unterscheidet er zwei generationes, eine von Adam bis zu Christus, eine von Christus bis in seine eigene Zeit. Diesen beiden generationes entspricht auch die Unterteilung in zwei Bände, die dann jeweils in weitere ‘Generationen’ unterteilt sind: 63 bis zu Christi Geburt, 51 weitere bis in N.’ Gegenwart. Daneben spielt aber weiterhin die alte isidorische Einteilung in sechs Weltalter eine Rolle. Bemerkenswert ist immerhin, daß N. im Gegensatz zur mal. Weltchronistik kein Interesse mehr an Aus-

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Nauclerus, Johannes

sagen über den Verlauf der kommenden Geschichte hat und demnach etwa das Ende der Welt nicht mehr beschreibt. Darüber hinaus bemüht sich N. in hohem Maße um die Anwendung weiterer chronologischer Systeme und versucht, die von ihm beschriebenen Ereignisse so präzise wie möglich zu datieren. So finden sich zu Beginn der einzelnen generationes immer wieder verschiedene Angaben zur Datierung: Jahre nach Christi Geburt, ab origine mundi und ab urbe condita sowie eine zeitliche Einordnung nach den Regierungsjahren des jeweiligen Kaisers und Papstes. Es zeigt sich aber auch hier, daß N. keine Prognostik betreiben möchte. So bemüht er sich z. B. nicht darum, das Ende der Welt zu berechnen oder auch nur die Zahl der noch zu erwartenden Generationen anzugeben. Innerhalb der einzelnen Generationen verfährt N. annalistisch und schildert Jahr für Jahr die Geschichte omnium gentium. Dieses Schema wird aber immer wieder von längeren Exkursen durchbrochen, wenn er etwa Leben und Wirken großer Männer in geschlossener Darstellung vorführt. Hier läßt sich auch am ehesten erkennen, wie N. durch eine geschickte Komposition bekannter Textstellen, ergänzt durch wenige eigene Zusätze, zu einer neuen, relativ eigenständigen Darstellung gelangt. Der bedeutendste dieser eingeschobenen Essays, den man nicht zu Unrecht als “das wichtigste Stück der Chronik” (Joachimsen, S. 94) bezeichnet hat, findet sich anläßlich der Kaiserkrönung Karls d. Gr.; hier bietet N. eine Beschreibung Deutschlands (Bd. 2, Bl. CXVIv⫺ CXXIIIIv), in der er aus den entsprechenden Zeugnissen der antiken Autoren heraus zu einer ganz neuen Schilderung des germanischen Altertums kommt. Herausragende Beispiele sind weiterhin etwa die Caesarbiographie in Bd. 1, Bl. CLXXIIv⫺ CLXXXVr oder die Lebensbeschreibung Eberhards im Bart, die sich zu dessen Todesjahr 1496 in Bd. 2, Bl. CCCIr⫺CCCIIr findet. N. hat für seine Chronik eine Vielzahl an Quellen benutzt. Neben antiken Autoren wie Livius, Sueton oder Caesar, mal.

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Geschichtsschreibern wie D Otto von Freising, Vincenz von Beauvais oder Antoninus von Florenz und Schriftstellern des italienischen Humanismus wie Petrarca oder Biondo hat er auch zeitgenössische Chroniken wie die Chronica nova Norimbergae impressa (Bd. 2, Bl. CXLVIIIr) Hartmann J Schedels herangezogen. Auch wenn er in vielen Fällen ⫺ etwa für die Antike ⫺ nicht auf Originalquellen zurückgeht, sondern aus mal. Kompendien zitiert, ist sein Bemühen um eine möglichst umfangreiche Sichtung und Verarbeitung großer Quellenbestände doch unverkennbar. N. bemüht sich nicht nur um eine Bewertung seiner Quellen, er legt in einem eigenen Abschnitt zu Beginn der Chronik auch Rechenschaft über seine methodischen Prinzipien ab. Dieser Abschnitt entstammt zwar den pseudo-antiken Schriften des Dominikanermönchs Annius von Viterbo (1437⫺ 1502), verliert dadurch aber zunächst nichts an Wert. N. wird hiermit zu einer der wichtigsten Vermittlerfiguren nicht nur der annianischen Fälschungen, sondern auch der darin enthaltenen “historischen Methoden-Reflexion” (Goez). Die Umsetzung dieser methodischen Prinzipien gelingt N. allerdings oft nicht. Ein augenfälliger Beleg hierfür ist gerade die ausführliche Benutzung der ‘Antiquitates’ des Annius in den ersten generationes der Chronik. Immerhin stand N. hiermit ⫺ innerhalb wie außerhalb Deutschlands ⫺ über Jahrzehnte nicht allein. Die Chronik wurde vom Hirsauer Mönch Nikolaus Basellius ⫺ und nicht, wie in der älteren Forschung immer wieder zu lesen, von Melanchthon ⫺ redigiert und bis ins Jahr 1514 fortgesetzt. N.’ Weltchronik steht in der langen Tradition der kompilatorischen mal. Weltchronistik. Über weite Strecken bietet sie auch tatsächlich nicht viel mehr als eine Auflistung von Quellenstellen. Trotzdem wurde sie immer wieder zu Recht der humanistischen Geschichtsschreibung zugeordnet. Hierfür spricht nicht nur, daß N. kein Interesse mehr an apokalyptischen Zukunftsspekulationen hat. Vor allem im Vergleich etwa mit Schedels Weltchronik läßt sich zudem immer wieder erkennen,

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Neuenahr, Hermann Graf von, d. Ä.

wie N. durch eine neue Anordnung seines Quellenmaterials zu einer ganz eigenen Durchdringung seines Stoffes kommt, in der sich darüber hinaus ⫺ wenn auch oftmals nur in Ansätzen ⫺ ein bisher nicht gekanntes quellenkritisches Bewußtsein zeigt. In besonderem Maße finden sich all diese Motive in der schon genannten Beschreibung Deutschlands, die im übrigen auch das für die humanistische Geschichtsschreibung so charakteristische Interesse an ‘nationalen’ Motiven deutlich zeigt. Zusammenfassend kann man also sehr wohl davon sprechen, daß N. “das erste kritische Geschichtswerk Deutschlands” (Joachimsen, S. 92) geschaffen hat. Drucke. Memorabi|lium omnis aetatis et omni|um gentium chronici com|mentarii […]. 2 Bde., Tübingen: Th. Anshelm, 1516. VD 16, N 167. Erst 1544 erschien in Köln eine Folgeauflage (VD 16, N 168), danach vier weitere Ausgaben bis 1675; vgl. Steiff, S. 131. Entsprechend finden sich bis ins frühe 18. Jh. Benutzer der Weltchronik. Eine dt. Übersetzung wurde von Heinrich Pantaleon begonnen, ist aber nicht überliefert. 1534 erschien in Magdeburg und 1545 in Augsburg unter dem Titel Ein kurtzer auszog aus der Cronica Naucleri eine von Nikolaus Amsdorf besorgte stark gekürzte dt. Fassung (VD 16, N 172⫺173). Literatur. D. W. Moller / J. C. Riedner, Disputatio circularis de Jo. Nauclero, 1697; H. Moll, J. Vergenhanns. Ein biograph. Versuch u. ein Beitr. z. ältesten Gesch. d. Tübinger Univ., 1864; E. Joachim, J. N. u. seine Chronik. Ein Beitr. z. Kenntniß d. Historiographie d. Humanistenzeit, Diss. Göttingen 1874; dazu L. Weiland, Rez., Hist. Zs. 34 (1875) 423⫺430; D. Kˆnig, Zur Quellenkritik d. Nauclerus, Forsch. z. dt. Gesch. 18 (1878) 49⫺ 88; K. Steiff, Der erste Buchdruck in Tübingen (1498⫺1534), 1881; H. M¸ller, Nicht Melanchthon, sondern Nik. Basellius Urheber d. Interpolationen in d. Chronographie d. N., Forsch. z. dt. Gesch. 23 (1883) 595⫺601; H. A. Lier, in: ADB 23, 1886, S. 296⫺298; M. Spiess, Ursprung v. Veit Winsheims Nachricht über d. Thätigkeit Melanchthons als Korrector zu Tübingen, Forsch. z. dt. Gesch. 26 (1886) 138⫺140; Joachimsen, Gesch.auffassung, S. 91⫺104; A. N‰gele, Ein Originalbrief d. Grafen Eberhard im Bart an Probst J. Vergenhans in Brackenheim v. J. 1476 u. dessen Antwort über simonistische Pfründenexpektanz, Rottenburger Monatschr. 8 (1924/25) 257⫺261; J. Haller, Die Anfänge d. Univ. Tübingen 1477⫺ 1537, Teil 1, 1927, S. 14⫺19 u. 251⫺256; P. Joa-

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chimsen, Zwei Universitätsgeschichten, in: Zs. f. Kirchengesch. 48 (1929) 390⫺415; H. Haering, Joh. Vergenhans, gen. Nauclerus, in: Schwäbische Lebensbilder 5, 1950, S. 1⫺25; W. Goez, Translatio imperii. Ein Beitr. z. Gesch. d. Gesch.denkens u. d. politischen Theorien im MA u. in d. frühen Neuzeit, 1958; J. Leuschner, in: 3RGG 4, 1960, Sp. 1383; U. Moraw, Die Gegenwartschronistik in Dtld. im 15. u. 16. Jh., Diss. Heidelberg 1966, S. 34⫺44; V. Sch‰fer, J. Vergenhans war doch ein Sindelfinger Chorherr!, Sindelfinger Jb. 12 (1970) 318⫺322; K. K. Finke, Die Tübinger Juristenfakultät 1477⫺1534 (Contubernium 2), 1972, S. 81⫺ 95, 237⫺239 u. ö.; W. Kˆgl, Stud. z. Reichsgesch.schreibung dt. Humanisten, Diss. Wien 1972, bes. S. 100⫺133; W. Goez, Die Anfänge d. hist. Methoden-Reflexion im ital. Humanismus, in: Gesch. in d. Gegenwart. Fs. K. Kluxen, 1972, S. 3⫺21; ders., Die Anfänge d. hist. Methoden-Reflexion in d. ital. Renaissance u. ihre Aufnahme in d. Gesch.schreibung d. dt. Humanismus, AKuG 56 (1974) 25⫺48; G. Theuerkauf, Soziale Bedingungen humanistischer Weltchronistik. Systemtheoret. Skizzen z. Chronik Nauclerus’, in: K. Elm / E. Gˆnner / E. Hillenbrand (Hgg.), Landesgesch. u. Geistesgesch. Fs. O. Herding z. 65. Geburtstag, 1977, S. 317⫺340; B. Sch¸rmann, Die Rezeption d. Werke Ottos v. Freising im 15. u. frühen 16. Jh. (Hist. Forsch. 12), 1986, bes. S. 77⫺81; U. Muhlack, Gesch.wissenschaft im Humanismus u. in d. Aufklärung. Die Vorgesch. d. Historismus, 1991; A. Kr¸mmel, in: BBKL 6, 1993, Sp. 500⫺502; B. Neidiger, Das Dominikanerkloster Stuttgart, die Kanoniker vom gemeinsamen Leben in Urach u. d. Gründung d. Univ. Tübingen, 1993; H. Seibert, in: NDB 18, 1997, S. 760 f.; Reuchlin-Br, Bd. 1, S. 287⫺89, 318 f., 340 u. ö.; Bd. 2, S. 19 f., 25⫺28 u. ö. (Reg.); W. Ludwig, J. Vergenhans über Eberhart im Bart u. Heinrich Bebel über J. Vergenhans, Zs. f. Württ. Landesgesch. 59 (2000) 29⫺41; O. Auge, Stiftsbiographien. Die Kleriker d. Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts (1250⫺1552) (Schr. z. südwestdt. Landeskunde 38), 2002, S. 419⫺440; ders., in: 4RGG, Bd. 6, 2003, Sp. 155 f.; Th. Lehr, Annius von Viterbo u. d. Germanen. Zur Rezeption d. ‘Antiquitates’ in Dtld. im 16. Jh. (im Druck).

Thomas Lehr

Neuenahr (Nuenarius, de Nova Aquila), Hermann Graf von, d. Ä. I . L eb en . Geb. 1492 als Sohn des Grafen Wilhelm von Neuenahr und der Gräfin Walburga

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Neuenahr, Hermann Graf von, d. Ä.

von Manderscheid-Schleiden, erzogen von seinem Onkel, dem Kölner Domherrn Graf Simon von Spiegelberg, wurde N. bereits 1495 Kanoniker am Kölner Domstift, erhielt später u. a. die Aachener Propstei und 1524 die am Kölner Dom. Am 14. Nov. 1504 an der Kölner Universität immatrikuliert, scheint N. jedoch kein reguläres Studium aufgenommen zu haben, auch erwarb er keinen akademischen Grad. 1508 gewann er für seinen Studienaufenthalt in Bologna den Humanisten Johannes J Caesarius als persönlichen Begleiter. Bei dem von Mitte Jan. 1509 bis vermutlich 1510 (als Caesarius wieder in Köln nachzuweisen ist) dauernden Studium widmete sich N. nach Aussage seines Lehrers Caesarius (im Dedikationsbrief der ‘Dialectica’) eifrig den Studia humanitatis und wird dabei beachtliche Grundlagen im Griechischen und Hebräischen erworben haben; J Erasmus von Rotterdam würdigte 1517 die öffentliche Kölner Lehrtätigkeit N.s in diesen Sprachen. Aus Italien brachte N. den satirischen ‘Dialogus Osci et Volsci’ des Mariangelo Accursio mit, den er J Reuchlin sandte, welcher ihn Melanchthon überließ, der ihn 1516 oder früher in Tübingen mit einer Vorrede an N. zum Druck brachte (Melanchthon-Br., Nr. 6). Mit Erasmus korrespondierte N. seit 1516; im Herbst 1518 konnte er ihn sogar fünf Tage auf seinem Schloß Bedburg beherbergen (Erasmus, Op. epist., Nr. 867). Während des Reuchlinstreites bildete N. die Spitze der Kölner Freunde des der Judenbegünstigung bezichtigten Gelehrten. 1517 und 1518 gab er bedeutende Verteidigungsschriften für Reuchlin heraus; Erasmus mahnte ihn freilich zu stilistischer Zurückhaltung. Jacobus J Hoogstraeten kritisierte N. in seiner polemischen ‘Apologia’, die 1518 als Antwort auf N.s Veröffentlichung von Benignus’ Verteidigungsschrift für Reuchlin erschien, und monierte bes. die Rühmung N.s als hervorragenden Theologen durch Willibald J Pirckheimer (1517 im programmatischen Widmungstraktat ‘Epistola apologetica’ seiner Übersetzung von Lukians ‘Piscator’). Mit Pirckheimer war N. sehr gut befreundet, erhielt von ihm am 15.

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Mai 1518 ebenso die Widmung seiner lat. Übersetzung von Lukians ‘Fugitivi’, 1528 die für seine Ausgabe von Gregors von Nazianz ‘Orationes duae Julianum Caesarem infamia notantes’ sowie 1530 die seiner ‘Germaniae ex variis scriptoribus perbrevis explicatio’. Ein Besuch N.s bei Pirckheimer in Nürnberg ist z. B. für den Mai 1524 nachzuweisen (Pirckheimer Br., Nr. 838); ein häufigerer Briefwechsel als der überlieferte und ein gelehrter Austausch, der Konrad J Peutinger einbezog, auch Editionsvorhaben berührte, sind evident. Das Spektrum der geistigen Interessen N.s erstreckte sich von den klassischen Sprachen über Medizin und Naturwissenschaften (v. a. Botanik) bis zur Geschichte. Zu dem großen humanistischen Freundeskreis N.s. gehörten ferner u. a. Ulrich von J Hutten, Johannes J Reuchlin, Jacobus Sobbius, Hermann J Buschius, der ihm 1518 sein Hauptwerk ‘Vallum humanitatis’ widmete, Johann Potken, Simon Riquinus und Konrad Heresbach. Für Euricius J Cordus, der N. auch dichterisch ehrte, war dieser zusammen mit Sobbius und Caesarius ein humanistisches Kölner Triumvirat, das er als “Drei Könige” bezeichnete (1521). Großen Anklang fand N. auch an der Kölner Universität, wo nur einige bonarum literarum osores vergeblich gegen seine Wahl zum Dompropst und somit Kanzler der Universität am 19. Jan. 1524 gemurrt hatten. In dieser Funktion verfaßte N. zusammen mit dem Montaner Arnold von Wesel und dem Laurentianer Quirin von Wylich ein Gutachten zur Reform der Kölner Artistenfakultät, in welchem insbesondere ein stärkeres Lehrangebot in den Humaniora angemahnt wurde, und arbeitete mit Wylich und dem Laurentianer-Regenten Arnold von Tongern die daran anknüpfenden, am 12. Sept. 1525 genehmigten Reformbeschlüsse aus. 1525 bis 1530 versuchte er zusammen mit Sobbius und anderen Gleichgesinnten vergeblich, Erasmus für den Niederrhein zu gewinnen. Politisch-diplomatische Missionen für Kurköln führten N. 1519 an die Kurie und anschließend nach Frankfurt zum Wahltag (eine Rede an die Kurfürsten und einen Brief an Karl V. ließ N. drucken; s. II.A.3.)

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sowie auf die Reichstage von Regensburg (1528), Speyer (1529) und Augsburg (1530). Obgleich N. keine deutlichen Sympathien für die lutherische Reformation zeigte, setzte er sich 1528 beim Kölner Stadtrat für den der Reformation zuneigenden Theodor Fabricius ein, dem die Lehrtätigkeit des Griechischen, Aramäischen und Hebräischen untersagt worden war, und pflegte bei den Religionsverhandlungen in Speyer und Augsburg v. a. mit Melanchthon, der ihm 1529 seine ‘Dispositio orationis in epistola Pauli ad Romanos’ widmete (Melanchthon-Br., Nr. 767), einen auf Ausgleich bedachten freundschaftlichen Verkehr. N. starb in Augsburg am 20. Okt. 1530 nach schwerer Krankheit. Begraben wurde er in der im 19. Jh. abgetragenen Kirche des Zisterzienserinnenklosters St. Mariengarten in Köln (heute Tunisstraße), der Grablege der benachbart wohnenden Grafen von Neuenahr. I I. We rk . A . E ig en e S ch ri ft en . 1. ‘Epistola responsoria ad Ioannem Reuchlinum et ad lectorem’. N.s programmatische Briefe sind Teil der ‘Epistolae trium illustrium virorum’, die er als Reaktion auf Hoogstraetens ‘Apologia’ vom Febr. 1518 veröffentlichte (welche wiederum eine Antwort auf N.s Herausgabe der ‘Defensio’ Reuchlins durch Benignus bildete; s. B.1.). N. hatte Pirckheimer schon am 7. März 1518 von seinem Plan unterrichtet und ihn um eine Erwiderung auf Hoogstraeten gebeten, die Pirckheimer in Form eines Briefes an N. in so scharfer Form verfaßte, daß sie kein Drukker in N.s Schrift aufnehmen wollte. Stattdessen veröffentlichte N. die aufgrund der gleichen Bitten verfaßten Briefe Reuchlins, Buschius’ und Huttens, denen er einen eigenen Brief an Reuchlin anstelle der Widmung beifügte; darin rechtfertigte er sich gegen Hoogstraetens Vorwürfe aus der ‘Apologia’. Als sachliche Antwort auf die ‘Apologia’ gab N. hier die zuvor 1516 anonym erschienene ‘Defensio nova’ Reuchlins heraus, in der dessen Positionen zur jüdischen Literatur verteidigt werden.

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Drucke. Epistolae Trium Illustri|um uirorum, ad Hermannum comitem Nuenarium. | Eiusdem responsoria ad Io. Reuchli|num, & al-|tera ad Lectorem. | Item, Libellus Accusato|torius [!] fratris Iacobi de Hochstraten. contra | Oculare speculum Io. Reuch. | Diffamationes Eiusdem | Iacobi. | Item; Defensio Noua Io/|annis Reuchlin ex urbe Roma allata, idque paucis ab hinc | diebus. Köln: Euch. Cervicornus, Mai 1518. VD 16, N 1123 u. 1125. Ein weiterer Druck: [Hagenau: Thomas Anshelm, 1518]. VD 16, N 1122 (entgegen der Numerierung im VD 16 dürfte der Kölner Druck der frühere sein).

2. Das ‘Catastichon [...] de profectione trium magorum ad Christum recens natum historiam in evangelio Mathei recitatam catasphigton ad [...] Theodericum Cyrenensem seu Decapoleos praesulem’, auf das Ennen, S. 107, verwies, ist hsl. überliefert in den ‘Farragines Gelenianae’ (Köln, Hist. Arch. d. Stadt, Best. 1039), Bd. 20, S. 1597⫺1600 (Auskunft v. Joachim Deeters, Köln). Hexametrisches Gedicht auf die Hl. Drei Könige, gewidmet dem Augustinereremiten und Kölner Weihbischof Dietrich Wichwael von Caster († 1519). 3. ‘Oratio ad principes electores’ u. ‘Epistola Germaniae studiosorum ad Carolum Caesarem’. N., Bevollmächtigter des Kölner Erzbischofs auf dem Frankfurter Wahltag, hielt am 23. Juni 1519 eine an die versammelten Kurfürsten gerichtete Rede, mit welcher er auf das vom 5. Juni stammende Plädoyer der französischen Gesandten zur Wahl von Franz I. als Römischem König reagierte und die Kurfürsten mit historischen Argumenten und humanistischem Reichspatriotismus zur Kür des habsburgischen Kg.s Karl von Spanien aufforderte ⫺ Karl wurde am 28. Juni einstimmig gewählt. N.s Rede wurde im Anschluß an die der Franzosen und vor einer vom 30. Juni 1519 stammenden Exhortatio des Jacobus Sobbius an Karl V. zur Abstellung der das Reich belastenden kurialen Mißbräuche in dem Band Vivat Rex Carolus gedruckt; in diesem wurde nach N.s ‘Oratio ad principes’ noch eine undatierte, als “offener Brief” (Pijper, Ausg., S. 486) zu charakterisierende, nomine studiosorum Germaniae (explizit im Auftrag einiger Humanistenfreunde) ge-

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führte (und mit griech. Passagen aus Plutarch durchsetzte) Aufforderung N.s an Karl veröffentlicht, die humanistischen Studien unter seinen Schutz zu nehmen, da sie nicht zuletzt durch Injurien gegen N. und seine Freunde gefährdet seien. N. bezog sich dabei auf die Angriffe des Reuchlin-Gegners Hoogstraeten (etwa in dessen ‘Apologia secunda’ von 1519), den er harsch als unica pestis in Germania bezeichnete und den der Caesar zum Schweigen und zur Vernunft bringen sollte ⫺ obwohl er von Karls langjähriger und demonstrativer Verbundenheit mit Hoogstraeten und seinem Kreis gewußt haben wird. Da N. (vermutlich in seiner Funktion als Aachener Propst) den erst zur Krönung am 23. Okt. 1520 ins Reich gekommenen Habsburger als aktiver Teilnehmer des Festaktes persönlich treffen sollte (Ennen, S. 105), ist eine Abfassung dieser Epistola nach der durch Hoogstraten betriebenen römischen Verurteilung von Reuchlins ‘Augenspiegel’ im Frühjahr 1520 denkbar, so daß ‘Vivat Rex Carolus’ danach mit der Absicht einer persönlichen Übergabe an Karl V. durch N. herausgegeben worden sein könnte. Für N. als Herausgeber sprechen auch seine beiden Epigramme in defectionem solis, et electionem Carolis regis Romanorum und in Caesarem et Atlantem sowie sein Distichon ad Carolum regem Romanorum (Titelbl.v); auf eine unter Zeitdruck erfolgte Drucklegung könnten die mit dem Datum der Abfassung und dem Inhalt nicht stimmigen Titulaturen Karls als rex Romanorum designatus in den letzten Stücken, den beiden Aufrufen N.s und Sobbius’, sowie das Fehlen von N.s epistola in der Inhaltsangabe (Bl. A ijr) hindeuten. Drucke. tv˜Š uev˜Š do¬ja | Vivat | Rex | Caro| lus. | […]. Bl. A ijr: […] Orationes treis, quarum | prima legatis regis Gallorum […] est missa. Alte| ra per [...] Hermannum Nue/|narium, pro inuictissimo Carolo Ro*manorum+ iam re/|ge electo in Franckefurdien*sibus+ comitijs extem/|pore edita. […]. [Köln: Euch. Cervicornus, 1519/20]. VD 16, N 1121 u. F 2325. Der Brief an Karl auch in: Epistola | Germaniae Studio|sorum ad Carolum Cae| sarem, Autore Hermanno | Comite de Nova aqui| la. Oratio Germaniae Nobi|lium ad Carolum Augustum, de | rebus quibusdam corrigendis, Autho|re Iacobo Sobio LL. doctore. Schlettstadt: Laz.

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Schürer, Dez. [1519/20], Bl. [A2]r⫺Br. VD 16, N 1118. ⫺ M. Freher (Hg.), Hermanni Comiti Nuenarii [...] pro Carolo electo rege oratio, itemque ad [...] regum [...] gratulatio […] a. 1519, Hanau 1611; B. G. Struve (Hg.), Rerum Germanicorum scriptores varii [...], Bd. 3, Straßburg 1717, S. 173⫺ 189. Ausgabe. L. Pijper, in: Bibliotheca reformatoria Neerlandica, Bd. 9, ’s-Gravenhage 21912, S. 492, 501⫺515.

4. ‘Brevis narratio de origine et sedibus priscorum Francorum’. N. schickte diesen Traktat über die Geschichte der alten Franken, in dem er auf Tacitus verweist und sich kritisch mit den Thesen des Johannes J Trithemius auseinandersetzt, seiner Editio princeps von Einhards Karlsvita und der sog. Einhard-Annalen (vgl. B.4.) voraus (Bl. B 2r⫺C 1v) und schloß ihn mit einer kurzen Abhandlung Ex suis legibus testimonia Francos fuisse Germanos ab (Bl. C 2r⫺C 3r). Drucke. Brevis narratio | De origine et sedibus priscorum Francorum. Köln: Joh. Soter, 1521. VD 16, A 2883, E 726. Der Traktat wurde späteren Editionen der Karlsvita mehrmals beigefügt (vgl. Tischler, S. 1671) und auch zusammen mit Peutingers ‘Sermones convivales’ nachgedruckt (Jena 1685).

5. ‘De sudatoria febri’. Die Schrift ging aus einem Gespräch zwischen N. und seinem Freund Simon Riquinus, herzoglichem Hofarzt in Kleve, über die Ursachen und den Ursprung des sog. Englischen Schweißes hervor und besteht aus einer an Riquinus gerichteten brieflichen Abhandlung über das Schweißfieber (Köln, 17. Sept. [1529]) sowie aus der Antwort des Riquinus (Benrath, 10. Sept.), in der dieser die Kenntnis der neueren medizinischen Koryphäen aus Ferrara demonstriert. Am Schluß übermittelt Riquinus Grüße des Klever Kanzlers Johannes Gogreff und des klevischen Prinzenerziehers Konrad Heresbach an N. Drucke. De Novo | Hactenusque Germaniae Inau-|dito morbo ¬idropyretoy˜, hoc est sudatoria febri, quem | vulgo sudorem Britannicum uocant, Generosi | Hermanni a` Nuenare comitis, Praepositi | Coloniensis Simonisque Riquini Medi-|cae rei expertissimi iudicium | doctissimum, duabus | epistolis con-|tentum. Köln: Joh. I. Soter, 1529. VD 16, N 1119. Erneut in: Clariss. Philo-|sophi

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et Medici | Petri de Abano Vene⫽|nis eorumque remedijs. | Item Generosi Her⫽|manni de Anvenare [!] comitis peri¡ toy˜ y«dropyretoy˜ [...]. o. O. [um 1565]. VD 16, P 1800, Bl. 65r⫺74v u. 74v⫺ 87r. Ausgabe beider Briefe: Ch. G. Gruner, Scriptores de Sudore Anglico superstites, ed. H. Haesler, Jena 1847, S. 97⫺104 u. 105⫺116.

6. ‘Annotationes aliquot herbarum cum herbario Brunsfeldii’. Seine kritische Deutung der Pflanzennamen im Werk des Pedanios Dioskurides hatte N. schon im Dez. 1529 dem Straßburger Drucker Joh. Schott gesandt, der sie dann posthum im 2. Teil der ‘Herbarum vivae eicones’ des Otto Brunfels veröffentlichte. Über die Thematik hatte sich N. bereits 1524 brieflich mit Pirckheimer unterhalten (Pirckheimer-Br., Nr. 838). Er empfahl Pirckheimer dort die Abschrift jenes Kräuterbüchleins, über das dieser gesprochen hatte; N. könnte dazu viele Kräuter aus Dioskurides beisteuern, die in der neueren Medizin unbekannt oder verkannt seien. Druck. Herba⫽|rum | vivae eicones | ad naturae imitationem, summa cum | diligentia & artificio effigiatae, | una cum effe⫽|ctibus earundem, in gratiam ue⫽|teris illius, & iamiam renascentis | Herbariae Medicinae, | per Oth. Brunf. | recens editae [...]. Straßburg: Joh. Schott, 1532. VD 16, B 8500 (N. nicht als Autor genannt; irrig 1531 als Druckdatum für Teil II angegeben). 7. ‘Lectori candido, Hermannus Nuenar comes poeta laureatus’, o. O., Dr. u. J. Der Band soll laut Nauert, S. 70 Anm. 22, eine kleine Sammlung der veröffentlichten Gedichte N.s enthalten, ist jedoch bisher nicht nachweisbar. B. Herausgeber. 1. Defensio Prae|stantissimi viri Ioannis Reuchlin | LL. Doctoris, a Reuerendo pa|tre Georgio Benigno Nazare⫽|no archiepiscopo Romae per modum | dialogi edita [...]. [Köln: Euch. Cervicornus], Sept. 1517. VD 16, B 1717. Faksimile: E. v. Erdmann-Pandzˇ ic´ / B. Pandzˇ ic´ , J. Dragisˇic´ u. J. Reuchlin, 1989, Anhang. Ein weiterer Druck, gemeinsam mit Pirckheimers Übersetzung von Lukians ‘Piscator’ und der ‘Epistola apologetica’ für Reuchlin, [Straßburg: M. Schürer], Jan. 1518. Panzer, Ann. IX, 118, 119; vgl. z. Drucker R. Proctor, An Index of German Books 1501⫺1520 in the British Museum, London 21954, Nr. 10251. Das Manuskript von Benignus’ dialogischem, für die

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Bedeutung der hebr. Literatur eintretendem und als Verteidigung Reuchlins konzipiertem Traktat ‘An Iudaeorum libri, quos Thalmud appellant, sint potius supprimendi, quam tenendi et conservandi’ hatte der Reuchlin-Anhänger Martin Gröning nach Deutschland mitgebracht, doch nicht wie vorgesehen Ks. Maximilian I., sondern in Köln N. übergeben, der es im Sept. 1517 als erste wissenschaftlichargumentative Gegenschrift zu Hoogstraetens Verurteilung von Reuchlins ‘Augenspiegel’ drucken ließ. Außer einem Brief Grönings an Maximilian und dem Widmungsbrief des Benignus an den Kaiser veröffentlichte N. am Beginn einen eigenen Widmungsbrief vom 26. Aug. 1517 an Dietrich Zobel, Kanoniker am Mainzer Dom und Generalvikar im Erzbistum Mainz (einige Passagen in Griechisch; Kritik an Kölner Theologen als unfähig zur Beurteilung hebr. Sprache u. Literatur; Lob humanistischer Reuchlin-Freunde wie Erasmus, Faber Stapulensis, Pirckheimer, Jakob J Questenberg, Johannes Potken, Stephan J Rosinus, Gröning, Johann von der Wyck als Zeugen der Wahrheit). Am Ende des Dialogs ein Epigramm N.s zum Lob Reuchlins und seiner Verteidiger. Da Benignus zu jener päpstlichen Kommission gehörte, die 1516 über Reuchlins ‘Augenspiegel’ zu urteilen hatte, und über gute theol. Kenntnisse verfügte, mit welchen er dessen Positionen über die Bedeutung des Talmud für die christl. Glaubenslehre verteidigte, kommt dieser Schrift nach dem Urteil jüngerer Forschung (Nauert, S. 71; Peterse, S. 82, 148) eine höhere Bedeutung für den unmittelbaren Prozeßverlauf der Causa Reuchlini zu als den literarisch wirkmächtigeren J ‘Epistolae obscurorum virorum’. 2. Epistolae trium illustri|um virorum, ad Hermannum Comitem Nuenarium. | [...]. Köln: Euch. Cervicornus, 1518. VD 16, N 1123; erneut: [Hagenau: Thomas Anshelm, 1518]. VD 16, N 1122 (s. o. II.A.1.). 3. [...] | Vivat | Rex | Carolus | [...]. [Köln: Euch. Cervicornus, 1519/20]. VD 16, N 1121 u. F 2325 (s. o. II.A.3.). 4. D Einhard, Vita et | Gesta Karoli Magni. | […]. S. [43]: Annales Regum Francorum Pipini, Karoli, Ludovici, ab anno post Christum natum DCCXLI. usque ad LXXXVIII. collecti per quendam Benedictinae religionis monachum [...]. Köln: Joh. Soter, 1521. VD 16, A 2883, E 726. Mit der auf mindestens drei (nicht unerheblich emendierten) Hss. beruhenden Edition von Einhards ‘Vita Karoli’ und der sog. Einhard-Annalen legte N. eine vielbeachtete und lange Zeit singuläre Editio princeps vor. N. setzte ihr einen als historische Einführung konzipierten, humanistisch gelehrten achtseitigen Widmungsbrief an Ks. Karl V. voran (Köln, 1. Febr. [1521]; dieser Karl d. Gr. auf dem Titelblatt kontinuitätsstiftend gegenübergestellt), mit Hinweis auf wichtige Vorarbeiten seines Freundes

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Peutinger; am Ende der Edition verwies er auf die Chronik des D Regino von Prüm als Fortsetzung des Karlsvita, die er hsl. besaß und herauszugeben beabsichtigte. Vgl. Tischler, S. 1666⫺1671; S. 874 f. zur Beziehung zwischen N. und Peutinger; pass. zur Rezeptionsgeschichte. 5. Theodorus Priscianus, Octa⫽|vii Hora⫽| tiani rerum Medica⫽|rum Lib. Quatuor. | [...] | Per Heremannum Comitem a Neüenar, | [...] nuper restitutus Autor. | Albu⫽|casis chir⫽|urgicorum omnium Pri⫽|marij, Lib. tres. | […] . Straßburg: Joh. Schott d. J., 1532. VD 16, T 840 (Ger. Toletanus jedoch kein Beiträger). Das Werk gab nach N.s Tod sein gleichnamiger Neffe heraus; in der Widmung an Eb. Hermann von Wied (Bedburg, 23. Juni 1531) erklärte dieser, sein Onkel habe den Horatianus noch bis kurz vor seinem Tod auf dem Augsburger Reichstag mit zahlreichen Emendationen bearbeitet. Ob er auch in das von Gerhard von Cremona in Toledo aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzte Werk des Albucasis über die Chirurgie eingriff, wird nicht angegeben. C. Kleine Beiträge. 1. D Johannes von Hildesheim, Historia glori⫽|osissimorum trium regum integra. | syncera et pre multis mundi historijs lectu iucun|dissima [...].| Sequitur super Matthei Evangelium de festo Egyphanie˛ [!] exquisi/|ta Alberti magni elucidatio. | Adijciuntur [...] beatissimi. Augustini cum alijs quibusdam anno/|tamentis pulcherrimi sermones tres. Hg. v. Ortwin J Gratius. Köln: Heinr. Quentell Erben, 1514. VD 16, J 608. Bl. i iijv⫺[i4]r Gebet N.s an Christus und die Hl. Drei Könige. 2. Q. Horatii | Flacci Epistolae. | Argumenta in sing⫽|ulas a Iohanne Caesario Iuliacensi nunc denuo | recognita. [...]. Köln: Euch. Cervicornus, 1522. VD 16, H 4938. Mit Titelepigramm des N. zum ND der Horazausgabe seines Freundes J Caesarius. 3. In Joh. Soters zweisprachiger Ausgabe der ‘Anthologia Graeca’ mit sämtlichen erreichbaren lat. Übersetzungen finden sich vier Epigramme des Herm. a Nova Aquila Co., zweifellos von N.: Epigrammata | Aliquot Graeca Ve-|terum Elegantissima, eademque Latina ab utriusque | linguae uiris [...] uersa [...]. Köln: [Joh. Soter], 1525. VD 16, S 7068. Erweiterte Ausg. mit drei neuen Übersetzungen N.s, ebd. 1528. VD 16, S 7069; vgl. Hutton,

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S. 280−282 (mit Verz. d. Vorlagen). Die Sotersche

Sammlung wurde bis 1657 häufig erweitert; vgl. ebd., S. 273 f. 4. Flavius Vegetius Renatus, Artis Veterina⫽| riae, sive mulomedi⫽|cinae libri quatuor [...]. Basel: Joh. Faber Emmeus, 1528. VD 16, V 468. N. hatte eine seiner Ansicht nach sehr fehlerhafte Hs. der ‘Mulomedicina’ seinen Freunden Beatus J Rhenanus und Joh. Faber Emmeus nach Basel zur Überarbeitung gesandt, doch mußte jener aufgrund anderer Verpflichtungen davon Abstand nehmen, so daß N. in seinem Widmungsbrief an Kg. Ferdinand von Böhmen und Ungarn (Bedburg, 4. Juli 1528) allein Faber Emmeus das Verdienst der Textkonstitution der Editio princeps zuerkannte.

D . B ri ef e. Der Briefwechsel N.s muß erheblich umfangreicher gewesen sein, als es die überlieferten Stücke anzeigen. L. Geiger (Hg.), Joh. Reuchlins Briefwechsel, 1875 (ND 1962), Nr. 251, 253, 254; Erasmus, Op. epist., Nr. 442, 636, 703, 722, 878, 1078, 1082, 1926, 2038 u. 2137; Pirckheimer-Br., Nr. 474, 527, 540, 635 u. 838; Melanchthon-Br., Nr. 6, 767 u. 945. Literatur. C. Krafft, Mitt. aus d. niederrhein. Reformationsgesch., Zs. d. Berg. Gesch.ver. 6 (1869) 193⫺340, bes. S. 231⫺234 u. 248; L. Ennen, Gesch. d. Stadt Köln, Bd. 4, 1875, S. 103⫺ 107 u. ö. (Reg.); J. Hutton, The Greek Anthology in Italy to the Year 1800, Ithaca/N. Y. 1935, S. 277, 280⫺282 u. 285; E. Hoffmann / P. G. Bietenholz, in: CoE 3, 1987, S. 14 f.; Ch. G. Nauert Jr., Graf H. v. N. and the Limits of Humanism in Cologne, Historical Reflexions/Reflexions historiques 15 (1988) 65⫺79 (fehlerhaft); Meuthen, Köln, S. 252, 379 f. u. ö. (Reg.); G.-R. Tewes, Die Bursen d. Kölner Artisten-Fakultät bis z. Mitte d. 16. Jh.s, 1993 (Reg.); H. Peterse, J. Hoogstraeten gegen J. Reuchlin, 1995, S. 79 f., 86⫺91 u. ö. (Reg.); H. Altmann, in: NDB 15, 1999, S. 108 f.; M. M. Tischler, Einharts ‘Vita Karoli’ (MGH Schriften 48), 2001, S. 873 f., 1665⫺1673 u. ö. (Reg.); Reuchlin-Br., Bd. 3, S. 460 u. ö.

Gˆtz-R¸diger Tewes

O Olearius, Paulus J Hartlieb, Jakob Ostrofrancus J Hoffmann, Christophorus

P Pallas J Spangel Pappenheim J Marschalk von Pappenheim, Matthäus Pellificis J Honorius, Johannes Pellikan (Kürsner, Pellicanus), Konrad I . L eb en . Hauptquellen der Biographie sind das ‘Chronikon’ P.s von 1543/44 mit Nachträgen (zit.: ‘Chron.’) und der erhaltene Teil des Briefwechsels (s. u. II.D. u. F.).

P., geb. am 8. Jan. 1478 in Rufach (Elsaß), stammte aus einem armen Elternhaus und konnte nur dank der Hilfe seines Onkels Jodocus J Gallus, der ihm den Namen Pellicanus gab, von April 1491 an in Heidelberg die Artes und daneben u. a. bei Johann D Wacker und Adam J Werner römische Klassiker studieren (‘Chron.’, S. 9). Im Sept. 1492 war er wieder in Rufach und suchte sich weiterzubilden. 1493 trat er dort in den Franziskanerorden ein, nicht zuletzt, um weiter studieren zu können. Seit 1496 im Tübinger Generalstudium des Ordens, hatte er den überaus gelehrten (die Transsubstantiation leugnenden) Guardian Paulus Scriptoris, der ihn auch in die Mathematik und Astronomie einführte, zum Lehrer; P. hat später selber gelegentlich mathematisch-astronomische Vorlesungen gehalten. Seit 1499 beschäftigte er sich mit dem Hebräischen, zunächst anhand eines hebr. Prophetenkodex, 1500 dann anhand eines Exemplars des ganzen hebr. AT (Brescia 1494. GW 4200). Hilfestellung boten dem Autodidakten dabei Petrus D Nigris hebr. Fibel im ‘Stern Meschiah’, später Wörterbücher und Grammatiken, die ihm der Ulmer Kantor Johannes Behaim zum Abschreiben

überließ (vgl. ‘Chron.’, S. 15, 17 u. 19). Im Juli 1500 trat er erstmals in Kontakt mit Johannes J Reuchlin. 1502 wurde P. Lektor für Theologie im Basler Kloster des Ordens. Das theologische Klima in Basel prägte Ende 1502 der neuberufene reformorientierte B. Christoph von Utenheim, zu dem P. enge Beziehungen unterhielt ⫺ er spricht für 1505 von “täglichen Gesprächen” (‘Chron.’, S. 36). Eine Italienreise 1504 mit Kardinal Raimundus Peraudi mußte P. wegen Erkrankung abbrechen. 1508 versetzte der Orden ihn nach Rufach. 1511 stieg er zum Guardian in Pforzheim auf; 1514 wurde er Sekretär des Ordensprovinzials Kaspar Schatzgeyer. Auf Reisen mit diesem suchte P. nach Hebraica und Astronomica. 1517 wurde er zum Guardian in Rufach gewählt, 1519 für dasselbe Amt in Basel. Wegen seiner Sympathie für Luther ⫺ sie trat v. a. durch die Nachdrucke von Schriften des Reformators zutage, die er seit 1520 bei Adam Petri besorgen ließ ⫺, zog er sich seit 1521 zunehmenden Unmut bei seinen Ordensbrüdern zu; dagegen hatte er die volle Unterstützung des Basler Rates. Einen ersten Schritt aus der klösterlichen Welt tat er 1523 mit der Annahme des Rufs auf eine Basler theol. Professur an der Seite des gleichgesinnten Johannes Oekolampadius. 1526 nahm er die Berufung auf eine Professur für Griechisch und Hebräisch an der Prophezei in Zürich an und verließ damit das Kloster endgültig. Im gleichen Jahre heiratete er Anna Frieß, mit der er einen Sohn (Samuel, geb. 1527) und zwei früh verstorbene Töchter hatte. In den ersten Zürcher Jahren nahm die Aufgabe der Bibelexegese P. stärker in Anspruch. Ab 1532 kam zu den Tätigkeiten des humanistischen Gelehrten, Verlagsre-

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daktors (jetzt bei Froschauer) und engagierten Pädagogen (B¸sser) die des Bibliothekars (Germann) hinzu. P. entwarf ein neuartiges und zukunftweisendes Katalogsystem; es bestand aus einem Verzeichnis nach dem Numerus currens, nach Autoren und nach Titeln, einer Fachgebietssystematik mit 21 Gruppen, einem Schlagwortkatalog mit 419 Schlagwörtern und einem zugehörigen Thesaurus. Warum 1534/35 ein Ruf an die Univ. Tübingen nicht zustande kam, ist unklar (Z¸rcher, 1975, S. 50−56). Nach dem Tod seiner Frau Anna i. J. 1536 ging er 1537 mit Elsa Kalb eine zweite Ehe ein; sie zogen zwei Pflegekinder groß. Seit 1538 litt P. sehr unter Nierensteinen und Podagra. Er starb am 5. April 1556 in Zürich und wurde im Großmünster beigesetzt. Eine Grabplatte ist nicht erhalten. “Die Reformation bedeutete für ihn keinen Bruch. Ihr Gedankengut wuchs ihm aus dem Nährboden seiner franziskanischen Evangelizität und aus den Kirchenreformgedanken der Humanisten zu” (Z¸rcher, 1975, S. 20). Seine Vorlesungen in der Basler Zeit galten entsprechend der Erschaffung der Welt und der Geschichte der Urväter (Gn, 1523/24, s. u.) sowie den Weisheitsbüchern Prv und Ec (1524⫺26) mit ihrer philosophisch geprägten Frömmigkeit und der Frage nach dem Zusammenhang von Werken und Rechtfertigung. P. sah den Alten Bund “durch die Menschwerdung Christi nicht etwa aufgehoben, sondern bestätigt und vervollkommnet”, während Luthers Theologie durch “die Gegensätzlichkeit von alttestamentlichem Gesetzes- und neutestamentlichem Erlösungsglauben” geprägt war (Z¸rcher, 1975, S. 127). P. liebte Harmonie, war in konfessionellen Dingen tolerant, aber voller theologisch begründeter Ablehnung taufunwilliger Juden. “Die polemische Absicht bildet das unveränderliche Hauptmotiv für P.s ganzes Studium der hebräischen Literatur” (Z¸rcher, 1975, S. 190). P. war in erster Linie Gelehrter, immens fleißig, zunächst zögerlich im Veröffentlichen der Früchte seiner Arbeit und stets bereit, seine Materialien andern (Reuchlin, Sebastian Münster, J Erasmus) zur Verfü-

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gung zu stellen. Ohne P.s Materialien hätte z. B. Münster nach seinen eigenen Worten in der Vorrede sein ‘Dictionarium hebraicum’ in dieser Form 1523 nicht herausgeben können. P. schätzte das Deutsche, das er als den drei heiligen Sprachen gleichwertig ansah, “als Instrument der Volksbildung und als Mittel für die Verbreitung des wahren Glaubens” (Z¸rcher, 1975, S. 80) sehr, schrieb aber selbst bis 1538 nur lateinisch, auch alle Briefe. Sein pädagogisches Konzept gab er mit dem Satz Simplicibus simplex simpliciter scripsi (zit. bei B¸sser, S. 213) an. P.s Wirken wurde verschiedentlich von seinen Schülern gewürdigt, so u. a. von Münster in der Vorrede zur ‘Epitome Hebraicae Grammaticae’ (1520): P. sei seines Wissens “in Deutschland der erste gewesen, der Lesen und Verstehen des Hebräischen gelehrt habe” (Prijs, S. 487). Heinrich Bullinger pries seinen Hebräisch-Lehrer P. in seiner ‘Ratio studiorum’ (1527/28) als hebraicarum litterarum scientissimus und als Pädagogen, der ihn davon zu überzeugen wußte, daß nichts, was man liebt, schwierig sei (hg. v. P. Stotz, Bd. 1, 1987, S. 70). Es sind mehrere Porträts P.s in Holzschnitt und Kupferstich erhalten; Beispiele bei Mortzfeld, A 1609 f. Zu einem Bildnis P.s von 1550 s. Staehelin, Nr. 1004, Anm. 2. I I. We rk . Eine Werkbibliographie fehlt. Neben P.s selbständigen Arbeiten, von denen viele ungedruckt blieben, nicht wenige verschollen sind, steht seine ausgedehnte Mitwirkung an Druckwerken anderer. Der umfangreiche hsl. Nachlaß P.s, verzeichnet von Z¸rcher, 1975, S. 7 f. sowie 285⫺304 (Briefe), befindet sich größtenteils in der ZB Zürich, weniges in der UB Basel und anderswo. Hinzu kommen das Autograph P.s (oder Münsters?) eines hebr.-lat. Glossars von ca. 1510⫺15 in London, BL, Add. ms. 18.893. ⫺ Zusammenstellung und Beschreibung der Basler Drucke bei Prijs und Hieronymus, 1992 u. 1997, der Zürcher Drucke bei M. Vischer, Bibliographie d. Zürcher Druckschriften d. 15. u. 16. Jh.s, 1991.

A . H eb ra ic a. 1. Sprachlehre. a) ‘De modo legendi et intelligendi Hebraeum’ (‘Grammatica Hebraea’ und Wör-

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Pellikan, Konrad

terbuch), “Deutschlands erstes Lehr-, Leseund Wörterbuch der hebräischen Sprache” (Nestle, Ausg.), 1501 verfaßt, wurde gegen P.s Willen 1504 in Straßburg als Einschub zu Grüningers Raubdruck der ‘Margarita philosophica’ Gregor J Reischs gedruckt; angehängt ist ein hebr.-lat.-griech. Glossar mit 464 Wortansetzungen. P. wurde mit diesem Erstling, wenig mehr als einer Einführung ins Alphabet, die Laut- und einige Teile der Formenlehre ⫺ P. kennt nur zwei Verbalstämme ⫺, einer der Begründer der christlichen Hebraistik, von Reuchlin mit seinen ‘Rudimenta’ 1506 allerdings weit übertroffen. Druck. Aepitoma omnis phylosophiae ali⫽|as Margarita philosophica […]. Straßburg: Joh. Grüninger, 1504. VD 16, R 1034. Bl. F ixr⫺F xxviii v. Mit Ergänzungen, Umstellungen und Kürzungen erneut in Grüningers Drucken 1508, 1512 u. 1515 (VD 16, R 1036, 1038 u. 1039) sowie im Basler Druck Heinr. Petris, 1535 (VD 16, R 1041; Prijs, Nr. 39b). Ausgabe. E. Nestle, Conradi Pellicani de modo legendi et intelligendi Hebraeum. Dtld.’s erstes Lehr-, Lese- u. Wörterbuch d. hebr. Sprache [...], 1877 (Faksimile d. Erstdrucks).

b) 1508 verfaßte P. für einen Mitbruder einen kurzen Abriß einer hebr. Grammatik auf einer Folioseite. Silberstein, S. 51−55. Handschrift. Basel, UB, Mscr. F VII 30 (olim G.I 2.63). Abdruck bei Silberstein, S. 52⫺55.

c) Nach eigener Aussage im Vorwort zur Prv-Ausgabe (s. u. 2.c.; bei Prijs, S. 485) war P. Mitverfasser von Wolfgang Capitos ‘Hebraicarum institutionum libri duo’ (1518). Druck. V. Fabritii Capitonis | [...] | Hebrai-| carum institutio-|num libri duo. | [...]. Basel: Joh. Froben, Jan. 1518. VD 16, C 823; Prijs, Nr. 8.

2. Ausgaben und Übersetzungen. a) Bereits 1501 hat P. eine hebr.-griech.lat. Synopse der sieben Bußpsalmen und täglicher Gebete angefertigt (s. ‘Chron.’, S. 25); sie scheint gleich weiteren Synopsen nicht erhalten zu sein. b) Erst mit dem von ihm hg. ‘Quadruplex Psalterium’ (Septuaginta, Vulgata iuxta Septuagintam und iuxta Hebraicam veritatem, hebr.) samt der ‘In litteras Hebraeas institutiuncula’, in einem Annex

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(96 Bll.) zum achten der neun Bände der von J Erasmus hg. Folioausgabe der ‘Opera divi Eusebii Hieronymi’ (1516) wurde der Gedanke der synoptischen Ausgabe im Druck umgesetzt. Eine separate Sedez-Ausgabe des hebr. Textes folgte unmittelbar im Nov. 1516. Drucke. Quadruplex psalterium, | uidelicet | Hebraeum, et | Hebraica veritas, divo Hieronymo interprete | Graecum, et | aeditio vulgata Latina authore incerto. Basel: Joh. Froben, 8. Sept. 1516. VD 16, H 3483; Prijs, Nr. 5. Mit hebr. Vorrede P.s an den Leser (bei Silberstein, S. 59). Weitere Aufl.n als Teil der Opera des Hieronymus in Basel 1525, 1537, 1553 u. 1565. Prijs, Nr. 22, 51, 88 u. 114. Separater Druck des hebr. Textes: Hebraicum Psalterium. Basel: Joh. Froben, Nov. 1516. VD 16, B 3102; Prijs, Nr. 6. Weitere Basler Separatdrucke 1523, 1532, 1538, 1547, 1556 u. 1563. Prijs, Nr. 13, 35, 53, 79, 94 u. 110.

c) Zusammen mit Sebastian Münster gab P. 1520 die hebr. ‘Proverbia Salomonis’ mit der lat. Übersetzung des Hieronymus heraus; an Münsters ‘Kalendarium Hebraicum’ (1527) hatte er ebenfalls Anteil. Drucke. Proverbia Sa/|lomonis. | Praefatio in aedi|tionem Parabolarum Fra|tris Conradi pelicani| [...]. Basel: Joh. Froben, 1520. VD 16, B 3563; Prijs, Nr. 11a. Mit Vorrede P.s an den Leser (1. Aug. 1520; Auszug bei Prijs, S. 485). Weitere Drucke mit P.s Vorrede Basel 1524 u. 1548. VD 16, B 3564 u. 3565. Kalendarium | Hebraicum, opera Sebastiani | Munsteri ex Hebraeorum penetralibus [...] aeditum. [...]. Basel: Joh. Froben, 1527. VD 16, M 6688; Prijs, Nr. 24.

d) Die Ausgabe des ‘Psalterium Davidis’, P.s auf einer Basler Vorlesung beruhender Auslegung der Psalmen mit lat. Übersetzung ad Hebraicam veritatem, erschien ohne Wissen P.s in Straßburg 1527, autorisiert dann in Zürich 1532. Drucke. Psalte⫽|rium Davidis, | Cunradi Pelicani opera | elaboratum. | [...]. Straßburg: Wolfg. Köpfel, 1527. VD 16, B 3144 (vgl. VD 16, ZV 1666); Psalte⫽|rium Davidis, ad | Hebraicam veritatem | interpretatum [...] | nunc primum ab auto⫽|re recognitum. Zürich: Chr. Froschauer, 1532. VD 16, B 3152.

e) Von den dt. Übersetzungen von Büchern des ATs, die P. für den geplanten dt.

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Bibelkommentar (s. u. C.2.) anfertigte, wurde allein das Buch ‘Ruth’ veröffentlicht. e

Druck. Ruth | Ein heilig buchlin des al⫽|ten Testaments/ [...]. Zürich: Andr. u. Jak. Gessner, 1555. VD 16, B 3047.

f) Ab 1527 übersetzte P. eine BibliaHebraica-Hs. interlinear ins Lateinische. 1538⫺55 schrieb er elf Bände Übersetzungen zahlreicher hebr. Kommentare und anderer rabbinischer Werke sowie aram. Targumim ins Lateinische, vereinzelt auch ins Deutsche (Teile von Maimonides’ ‘Mishne tora’); in diese beiden Sprachen übertrug er auch Gerhard Veltwyks hebr. ‘Itinera deserti’ (1539). Die Übersetzungen sind z.T. druckfertig (s. Z¸rcher, 1975, S. 153⫺ 189). Handschriften s. Z¸rcher, 1975, S. 7 f. Auszüge (lat. u. dt.) bei Silberstein, S. 95⫺101, dt. S. 97⫺100. Ein Teil der Übersetzungen aus dem Hebräischen ist im Zusammenhang mit einer geplanten Drucklegung bei Robert Stephanus in Genf (vgl. ‘Chron.’, S. 178⫺181) verloren gegangen.

3. Auch andere wichtige Arbeiten blieben ungedruckt, so eine hebr. Bibelkonkordanz P.s, da Froben sie wegen ihres Umfangs ohne einen Geschäftspartner nicht zu verlegen wagte. Sie enthielt Ende 1523 bereits 50.000 Eintragungen (Geiger, 1876).

B . Ver la gs ar be it . Als Herausgeber, Verfasser von Vorworten, Zusammenfassungen, Inhaltsverzeichnissen, alphabetischen Namens- und Sachregistern und als Korrektor (Germann) in Basel v. a. bei Amerbach, Froben und Petri, in Zürich bei Froschauer, half P. tatkräftig mit bei der Propagierung humanistischer Ziele. Eine Zusammenstellung von Ausgaben, an denen P. mitgewirkt hat, fehlt. Meist ist er in den Ausgaben nicht genannt, spricht aber im ‘Chronikon’ darüber. Am Anfang stand die schon 1502 begonnene (Hieronymus, 1997, S. 27) Arbeit an den ‘Undecim partes librorum divi Aurelii Augustini [...]’ (Basel: Joh. Amerbach, Joh. Petri u. Joh. Froben, 1505/06. VD 16, A 4147). Zwei Exemplare dieser Ausgabe

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widmete Johann Amerbach P. hsl.[...] pro immensis suis laboribus quos pertulit in distinctionibus librorum per capitula: argumentorumque prenotationibus ingeniose docteque adhibitis (Gistelinck, Nr. 83; Hieronymus, 1997, Abb. 10⫺1). 1504 arbeitete er für Jakob Wolff u. a. an der Ausgabe der Werke des Johannes Chrysostomus in lat. Übersetzungen (VD 16, J 395) sowie für Johann Schott an der zweiten Originalausgabe der ‘Margarita philosophica’ Reischs (VD 16, R 1035); vgl. ‘Chron.’, S. 28 u. 55. Es folgte 1516 die Ausgabe des ‘Quadruplex psalterium’ (s. o. A.2.b). Als Redaktor betreute und annotierte er Luther-Einzelausgaben Adam Petris sowie die fünfte Sammelausgabe von lat. Werken Luthers, die 24 ‘Lucubrationes’ (Basel: Adam Petri, 1520. VD 16, L 3411); hierzu merkte P. an: ferme omnes, quos assequebatur e Wittenberga, me adnotationes addente […] me colligente et ordinante (‘Chron.’, S. 75 f.). 1520⫺26 arbeitete er erneut für Erasmus, mit dem ihn fortan eine (1525/26 nachhaltig gestörte) Freundschaft verband, und fertigte umfangreiche Indices an zu dessen von Joh. Froben verlegten Ausgaben der Opera Cyprians (1520; VD 16, C 6508), der ‘Lucubrationes’ des Hieronymus (1524⫺26; VD 16, H 3483) und der ‘Historia naturalis’ des Plinius (1525; VD 16, P 3533; Germann, S. 6); vgl. ‘Chron.’, S. 105. P. war und blieb ein “treuer Sachwalter des erasmischen Geistes” (Z¸rcher, 1975, S. 277). Diese Geisteshaltung veranlaßte auch Beatus J Rhenanus zur Drucklegung der Reformschrift ‘Defensor pacis’ des Marsilius von Padua (Basel: Val. Curio, 1522. VD 16, M 1131), zu der P. ebenfalls den Index anfertigte (Gistelinck, Nr. 596); vgl. ‘Chron.’, S. 79. 1522⫺1525 betreute und annotierte P. die überarbeiteten Basler Nachdrucke von Luthers Bibelübersetzung (Himmighˆfer, S. 60⫺83, bes. S. 66 zu P. als Verfasser des obd. Glossars zum 2. Nachdruck d. Septembertestaments [‘Petriglossar’]), die dann zur Grundlage der Zürcher Bibel (s. C.5.) werden sollten. Aber er schrieb noch 1522 eine empfehlende Vorrede zu Kaspar Schatzgeyers ‘Scrutinium divinae scripturae pro conciliatione dissi-

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dentium dogmatum’ (Augsburg: Sigm. Grimm, 1522; VD 16, S 2336; hg. v. U. Schmidt, 1922, S. 1 f.), bevor es 1523 zum Bruch mit seinem Provinzial kam (Nyhus). C . The ol og ic a. 1. Im Auftrag Christophs von Utenheim verfaßte P. 1506 ein tripartitum opusculum, de credendis scilicet, sperandis et agendis (‘Chron.’, S. 36); der Verbleib dieser Schrift ist unbekannt. Bei ihrer Ausarbeitung stellte er fest, daß den Kirchenvätern Augustinus, Ambrosius und Hieronymus, was Erasmus später bestätigt habe, Schriften auch fälschlich zugeschrieben worden sind. 2. ‘Commentaria bibliorum’. Schon in Basel hatte P. mit der Abfassung lat. ‘Commentaria bibliorum’ begonnen. Der Abschluß des ersten Vorlesungszyklus an der Prophezei und die Initiative Froschauers veranlaßten ihn ab 1530 zur Ausarbeitung. Als Vorarbeit zu einem ursprünglich nur für das AT geplanten Kommentar erschien in Zürich 1531 die ‘Explicatio brevis [...] libelli Ruth’. Der vollständige lat. Bibelkommentar in sieben Bänden kam in erster Auflage in Zürich zwischen 1532 und 1539 heraus. Er war primär für wenig gebildete Landpfarrer gedacht, die sich der Reformation angeschlossen hatten. Er ist der einzige vollständige Bibelkommentar der Reformationszeit. P. bietet “keineswegs […] bloss Excerpte, sondern die Resultate eines sehr unabhängigen Denkens” (Riggenbach, ‘Chron.’, S. XXI; anders Rose, S. 382 f.). Hierzu verfertigte er 1537 einen umfangreichen ‘Index Bibliorum’. Wie Erasmus und im Gegensatz zu Luther hielt er am vierfachen Schriftsinn fest (Z¸rcher, 1975, S. 134). Drucke. Explicatio | brevis, simplex et catholica libelli | Ruth, ea forma, qua totius ueteris testamenti | Canonici libri expositi sunt, et aeden⫽| tur […]. Zürich: Ch. Froschauer d. Ä., 1531. VD 16, P 1253; [...] Commentaria Bi⫽|bliorum et illa brevia quidem ac catho⫽|lica [...] Chuonradi Pellicani [...]. Ebd., 1532. VD 16, B 2598. Die weiteren 6 Bde. ebd., bis 1539. VD 16, B 2599⫺2601, 2603, 2606, 2612. Bd. 3 (1534) enthält Teile aus

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Theodor Biblianders Ez-Kommentar, Bd. 4 (1535) Auszüge aus Bullingers ‘Studiorum ratio’, Bd. 5 (1535) Juan Luis Vives’ ‘Ad sapientiam introductio’. Den Kommentar zur Apo in Bd. 7 (1539) verfaßte der Berner Theologe Sebastian Meyer. 1537 erschien der dazugehörige ‘Index bibliorum’ (VD 16, B 2607). Bereits 1536, nach Abschluß der 5 Bände zum AT (mit Apokryphen), erschien Bd. 1 in 2. Aufl.; diese war in 6 Bänden (ohne Index) bis 1546 abgeschlossen. VD 16, B 2604 f., 2609 f., 2614 f., 2620 u. 2623 (mit Mehrfachaufnahmen). 1582 erschien bei Ch. Froschauer d. J. in Zürich ein ND der 2. Aufl. (VD 16, B 2653⫺2658). Der Hg. Ludwig Lavater stellte dem Bd. 1 einen überarbeiteten Auszug aus P.s ‘Chronikon’ voran.

3. In Leo Juds ‘Paraphrasis oder Postilla Teütsch’ (zum NT; Zürich: Ch. Froschauer d. Ä., [um 1542]. VD 16, E 3370) stammen die Kapiteleinteilung und das Register (21 Bll.) sowie die dt. Auslegung der Apo von P. ⫺ Dt. Auslegungen von 16 der 24 Bücher des hebr. AT schrieb P. 1538⫺53 ad convincendum solidissime Judaeos (‘Chron.’, S. 134); bis auf den Kommentar zu Rt (s. o. A.2.e) blieben sie unveröffentlicht (Zürich, ZB, Car I 97⫺100). ⫺ Der theologische Gehalt der Vorlesung P.s über die Gn ist aus einer Nachschrift Oekolampads (Basel, UB, A XI 51) bekannt (vgl. Willi). 4. In den Basler Abendmahlsstreit (1525/26) zwischen Oekolampad und Erasmus wurde wider Willen auch P. hineingezogen. Zwei seiner Briefe (Erasmus, Op. epist., Nr. 1637 u. 1638) kursierten hsl., und sie wurden 1526 gemeinsam mit Erasmus’ gegen ihn gerichteter ‘Expostulatio’ gedruckt: Epistola | D. Erasmi [...] cum | amico quodam expostulans | Amici item epistolae duae, | Erasmianae expostulationi | respondentes. [Straßburg: Joh. Herwagen]. VD 16, E 2975. Vgl. Holeczek, S. 191⫺198. 5. Als Professor an der Prophezei hatte P. beträchtlichen Anteil an den in Zürich bei Froschauer zwischen 1525 und 1556 erschienenen und im Titel der Prophetenübersetzung (1529 u. ö.; VD 16, B 2682 f., 2930, 3729 u. ö.) mehrfach als Gemeinschaftswerk der Zürcher Prädikanten bezeichneten Bibelübersetzungen (die erste

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Vollbibel erschien 1530), steht hinter Zwinglis und Leo Juds Beiträgen freilich zurück (s. Himmighˆfer). D . A ut ob io gr ap hi e. Im ‘Chronicon ad filium et nepotes’ von 1544 (mit Nachträgen bis 1554) gab der 66jährige P. anschaulich Einblicke in die Humanismus- und Reformationsgeschichte, z. T. mit der Wiedergabe von Dokumenten untermauert. Er arbeitete Familiennachrichten ein und schilderte Zeitereignisse, wie z. B. die Pestepidemie, der ein Großteil seiner Familie zum Opfer fiel, ging auf die zahlreichen Besucher in seinem Zürcher Haus ein, und stellte sich glaubwürdig als in den Auseinandersetzungen um die Glaubensreform (ungewöhnlich) toleranten Gelehrten dar. Als Vorbild für das ‘Chronikon’ nannte P. die Aufzeichnungen seines Onkels Jodocus Gallus; trotz des privaten Charakters ist es lateinisch abgefaßt. Es blieb ⫺ bis auf den 1582 veröffentlichten Auszug (s. C.2.) ⫺ bis 1877 ungedruckt. Handschriften. Zürich, ZB, Ms. A 138, Autograph; ebd., Ms. F 146, Abschrift um 1780; ebd., Ms. S 286, Abschrift. Ausgabe. B. Riggenbach, Das Chronikon d. K. P., 1877. ⫺ Übersetzungen. Th. Vulpinus, Die Hauschronik K. P.s v. Rufach, 1892; F. C. Ahrens, The Chronicle of C. P. 1478 to 1556, Diss. Columbia Univ., Ann Arbor/Mich. 1950.

E . Var ia . 1. P. dichtete einen Nachruf auf Zwingli († 1531) in 15 gereimten hebr. Zweizeilern (Prijs, Nr. 45a). Druck. DD. Joannis Oeco|lampadii et Huldrichi Zwinglii epistolarum | libri quatuor [...]. Basel: Th. Platter u. B. Lasius, 1536. VD 16, O 319. Bl. θ4v. Ein weiterer Druck Basel 1592. Prijs, Nr. 146.

2. Anfang der 1540er Jahre beschäftigte sich P. eingehend mit Schriften Ciceros und des Aristoteles und übersetzte einige für seinen Sohn ins Deutsche; zwei hsl. Bände sind erhalten (s. Z¸rcher, 1975, S. 8 u. 27). P. übertrug nach eigener Angabe (‘Chron.’, S. 134) auch die Abhandlung ‘Contra Ju-

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daeos’ aus Juan Luis Vives’ ’De veritate fidei catholicae’ (1543) ins Deutsche (nicht erhalten); vgl. Z¸rcher, S. 206. F. B ri ef e. Z¸rcher, 1975, S. 285⫺304, verzeichnet 385 Briefe von oder an P., zumeist ungedruckte. Einen weiteren Brief von 1528 druckt Hobbs, 1980, ab. Verglichen mit den erhaltenen Briefwechseln Bullingers oder des Erasmus ist die Zahl gering. Die von Z¸rcher, 1975, gesammelten Briefe sind ganz überwiegend an P. gerichtet, und (bis auf 36) nach 1526 geschrieben. Die ältesten erhaltenen Briefe hat P. 1503 an Johann Amerbach und Jakob Han (Gallus) geschrieben (Amerbach-Korr., Nr. 189) und 1514 von Nikolaus J Ellenbog (Ellenbog-Br., Nr. I 72) bekommen. Die letzten dieser Briefe hat P. 1553 an Bonifacius Amerbach und 1554 an Lelio Sozini geschrieben und 1555 von Heinrich Petri und 1556 von Johannes Pincier erhalten. Briefe P.s an Bonifacius Amerbach und Oswald Myconius sind am häufigsten nachgewiesen (24 und 27). Ausgaben einzelner Briefe verzeichnet Z¸rcher, 1975, S. 285⫺304. Zu ergänzen sind Hobbs, 1980, S. 91⫺93; Bucer-Br., Bd. 3, Nr. 243; Amerbach-Korr., Nr. 2213, 3574, 3575, 3670; Pirckheimer-Br., Nr. 807; Melanchthon-Br., Nr. 182. Literatur. J. Fabricius, Historica oratio qua et vita reverendi in Christo patris C. P. et brevis temporis illius res continentur, Marburg 1608 (Gedächtnisrede auf P.); P. Escher, in: J. S. Ersch / J. G. Gruber, Allg. Encyklopädie d. Wiss. u. Künste, Section 3, T. 15, Leipzig 1841 (ND 1989), S. 226⫺ 237 (materialreiche, gute Darstellung); L. Geiger, Das Studium d. hebr. Sprache in Dtld. v. Ende d. XV. bis z. Mitte d. XVI. Jh.s, 1870; ders., Zur Gesch. d. Studiums d. hebr. Sprache in Dtld., Jbb. f. dt. Theol. 21 (1876) 190⫺223; B. Riggenbach, in: ADB, Bd. 25, 1887, S. 334⫺338 (gute Darstellung); E. Nestle, Nigri, Böhm u. P., in: ders., Marginalien u. Materialien, 1893, T. II/2, S. 1⫺35; E. Silberstein, Conradus. P., Ein Beitr. z. Gesch. d. Studiums d. hebr. Sprache in d. 1. Hälfte d. 16. Jh.s, Diss. Erlangen 1900; B. Walde, Christl. Hebraisten Dtld.s am Ausgang d. MAs (Atl. Abh. 6/2⫺3), 1916, S. 83, 144⫺151, 155, 191⫺198 u. ö. (Reg.); E. Staehelin, Briefe u. Akten z. Leben Oekolampads, 2 Bde., 1927 u. 1934 (ND 1971), Reg.; H. Volz, Die ersten Sammelaus-

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Pfefferkorn, Johannes

gaben v. Lutherschriften u. ihre Drucker (1518⫺ 1520), Gutenberg-Jb. 1960, S. 185⫺204; J. Prijs, Die Basler hebr. Drucke (1492⫺1866), ergänzt u. hg. v. B. Prijs, 1964, Reg. S. 565 u. 574; J. Beumer, Erasmus v. Rotterdam u. seine Freunde aus d. Franziskanerorden, Franziskan. Stud. 51 (1969) 117⫺129, hier S. 124⫺129; P. L. Nyhus, C. Schatzgeyer and C. P., The Triumph of Dissension in the Early Sixteenth Century, ARG 61 (1970) 179⫺204; Ch. Z¸rcher, K. P.s Wirken in Zürich 1526⫺1556 (Zürcher Beitr. z. Reformationsgesch. 4), 1975 (Standardwerk z. Zürcher Zeit); M. Rose, K. P.s Wirken in Zürich. Bemerkungen z. Einschätzung eines Lebenswerks, Zwingliana 14 (1977) 380⫺386; B. Degler-Spengler, Barfüsserkloster Basel, in: Helvetia sacra 5/1, 1978, S. 121⫺136, hier S. 133⫺136; Th. Willi, Der Beitrag d. Hebr. z. Werden d. Reformation in Basel, Theol. Zs. 35 (Basel 1979) 139⫺154; R. G. Hobbs, Monitio amica. Pellican a` Capiton sur le danger des lectures rabbiniques, in: Horizons europe´ens de la re´forme en Alsace. Me´langes offert a` J. Rott, Straßburg 1980, S. 81⫺93; H. Holeczek, Erasmus dt., Bd. 1, 1983, S. 192⫺198 u. ö. (Reg.); H. R. Guggisberg, in: CoE 3, 1984, S. 65 f.; F. B¸sser, Wurzeln d. Reformation in Zürich (Studies in Medieval and Reformation Thought 31), Leiden 1985, Reg.; F. Rapp, Les Franciscains et la re´formation en Alsace: deux re´ligieux humanistes dans la tourmente, Murner et Pellican, Annales de l’Est 37 (1985) 151⫺165; ders., Rhenanus et Pellican, une passion commune, des destine´s divergentes, Annuaire des Amis de la Bibliothe`que Humaniste de Se´lestat 35 (1985) 211⫺220; P. Stotz (Hg.), Heinrich Bullinger, Studiorum ratio ⫺ Studienanleitung, 2. Teilbd., 1987, S. 42 f., 47, 181⫺185 u. ö. (Reg.); Ch. Z¸rcher, in: Killy, Lit.lex. 9, 1991, S. 109; P. Mortzfeld, Die Porträtslg. d. HAB Wolfenbüttel, Reihe A, 18, 1991, Reihe B, 6, 2001; F. Hieronymus, Griech. Geist aus Basler Pressen. Kat. [...] Basel (Publikationen d. UB Basel 15), 1992, Nr. 8, 17, 201, 281, 386, 459; M. Germann, Die reformierte Stiftsbibl. am Großmünster Zürich im 16. Jh. u. d. Anfänge d. neuzeitl. Bibliographie. [...] Mit Ed. d. Inventars v. 1532/1551, 1994 (grundlegend z. P.s Tätigkeit als Bibliothekar); E. Wenneker, in: BBKL 7, 1994, Sp. 180⫺183; F. Gistelinck / M. Sabbe (Hgg.), Early Sixteenth Century Printed Books 1501⫺1540 in the Library of the Leuven Faculty of Theology, Löwen 1994; T. Himmighˆfer, Gesch. d. Zürcher Bibel bis z. Tode Zwinglis. Darstellung u. Bibliographie, 1995, S. 60⫺83 u. passim (Reg.); H. R. Velten, Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie z. dt. Autobiographie im 16. Jh., 1995, S. 88⫺94 u. passim; F. Hieronymus, 1488 Petri ⫺ Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Basler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke, 1997, Kat. Nr. 10, 67, 95, 98 u. ö. (Reg.); R. G.

Hobbs, C. P. and the Psalms. The Ambivalent Le-

gacy of a Pioneer Hebraist, Reformation and Renaissance Review 1 (1999) 72⫺99; Th. Willi, Hebraica veritas in Basel. Christl. Hebraistik aus jüd. Quellen, in: A. Lemaire (Hg.), International Organization for the Study of the Old Testament. Congress volume 2001 (Suppl.s to Vetus Testamentum 92), Leiden u. a. 2002, S. 375⫺397.

Walter Rˆll

Petreius J Eberbach, Peter Peutinger, Konrad s. Nachträge Pfefferkorn (Peffer-, Pepericornus), Johannes I . L eb en . Die Angaben über Pf.s Lebensweg sind spärlich und mit Unsicherheiten behaftet. Sie lassen sich fast nur den eigenen Schriften und darin mitgeteilten Dokumenten entnehmen. Demnach konvertierte Josef Pf. um 1504 im Alter von 36 Jahren ⫺ er dürfte also um 1469 geboren sein ⫺ in Köln zusammen mit seiner Frau und einem Sohn vom Judentum zum Christentum. Er erhielt den Taufnamen Johannes. Seine Jugend verbrachte er nach eigenem Bekunden bei Rabbi Meir ben Menachem Pfefferkorn, der in Prag eine Jeschiwa führte. Um 1491 finden wir Pf. in Prag, 1504 in Dachau b. München. Daneben sind Aufenthalte in Tachau a. d. Mies in Böhmen und in Nürnberg, wohl vor der Judenvertreibung 1499, bezeugt. Vermutlich hat Pf. vor seiner Taufe seinen Lebensunterhalt mit der Geldleihe und kleineren Handelsgeschäften bestritten. Nach seiner Taufe wirkte Pf. als missionarischer Reiseprediger unter seinen früheren Glaubensgenossen. Seine Aktivitäten gerieten jedoch angesichts mangelnder Erfolge stets mehr zum aggressiven Kampf gegen die Juden als angebliche Feinde der christlichen Gesellschaftsordnung. Stimuliert wurde Pf. v. a. durch Franziskanerobservanten und Dominikaner sowie durch Angehörige der Kölner Universität (Jacobus J Hoogstraeten, Ortwin J Gratius, Arnold von Tongern u. a.), die ihn im Streit um die Konfiskation jüdischen Schrifttums unterstütz-

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Pfefferkorn, Johannes

ten. 1509 beschlagnahmte Pf. aufgrund eines ksl. Mandats, das er mit Hilfe der Schwester Maximilians I., Kunigunde, erlangt hatte, und nach Beratung mit dem Rat 168 Schriften in der Synagoge von Frankfurt a. M. 1510 ließ der Kaiser die Bücher zurückgeben. Noch in sechs weiteren Gemeinden konfiszierte Pf. jüdische Literatur (u. a. in Bingen, Mainz und Worms). Seit 1510 profilierte er sich mit zunehmend schärfer werdender Polemik als Gegner Johannes J Reuchlins und seiner humanistischen Anhänger (Crotus J Rubeanus, Ulrich von J Hutten u. a. Verfasser der J ‘Epistolae obscurorum virorum’). 1513 wurde Pf. in Köln zum Spitalmeister von St. Ursula/St. Revilien ernannt. Seinen Bemühungen schrieb er 1516 die Konversion von 15 Juden zu. Er starb nicht vor 1521. Die in einer Flugschrift aus dem Jahr 1514/15 verbreitete Behauptung, Pf. sei als Ketzer in Halle verbrannt worden, wirkte lange nach, hatte jedoch keine sachliche Grundlage (J Hutten, II.A.14.). I I. We rk . Pf. verfaßte zwischen 1507 und 1521 verschiedene herkömmlich der Gattung der Flugschriften zugerechnete deutschsprachige antijüdische Streitschriften. Von den bis 1510 erschienenen Schriften existieren auch lat. Übersetzungen. Die Schriften aus der Zeit der sog. Reuchlin-Affäre wurden dagegen ⫺ mit einer Ausnahme, der ‘Defensio’ von 1516 ⫺ nur dt. verbreitet. Die wichtigsten Druckorte waren Köln, Augsburg und Nürnberg. 1. ‘Judenspiegel’. Die Schrift gibt im ersten Teil Einblicke in die durch Predigt und Disputation bestimmten missionarischen Argumentationsformen Pf.s, zu denen u. a. der Rekurs auf enttäuschte jüdische messianische Hoffnungen gehörte. In einem zweiten Teil, der zugleich die Schwierigkeiten des missionarischen Bemühens reflektiert, appellierte Pf. an die Obrigkeit, mit einem DreiPunkte-Programm gegen die Juden vorzugehen (Verbot der Zinsleihe [“Wucher”]), Verordnung von Zwangspredigten und die Konfiskation des jüdischen Schrifttums

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(insbesondere des Talmuds und der jüdischen Gebetbücher). Diese Forderungen entstammten der bettelmönchischen antijüdischen Agitation. Sie kehrten in variierter Form auch in den späteren Schriften Pf.s wieder. Missionarische, kirchlich-triumphalistische und inquisitorischeliminatorische Motive (Beseitigung des Judentums als ständiger Bedrohung des kirchlich-bürgerlichen Einheitsideals) verschränkten sich. Im dritten Teil beschwor Pf. den endzeitlichen Krisencharakter der Gegenwart. Die Schärfe der Agitation zeigte das Bemühen des Konvertiten, dem gängigen Vorurteil vom schlechten ‘Taufjuden’ zu entgehen. Drucke. Der Joeden spiegel. Köln: [Joh. Landen], 1507. VD 16, P 2299. ⫺ Weitere Drucke: Braunschweig: [Hans Dorn], 1507. VD 16, P 2298; Nürnberg: Wolfg. Huber, 1507. VD 16, P 2300; Köln: [Martin v. Werden], 1508. VD 16, P 2301. ⫺ Speculum adhortatio-|nis Judaice ad Christum. Köln: [Martin v. Werden], 1507. VD 16, P 2302. Kˆhler, Nr. 3714. Weitere Drucke: [Speyer: Konrad Hist, 1507]. VD 16, P 2303. Kˆhler, Nr. 3715; Köln: [Martin v. Werden], 1508. VD 16, P 2304. Kˆhler, Nr. 3716. Ausgabe des dt. Textes. Kirn, 1989, S. 205⫺ 230.

2. ‘Judenbeichte’. Die Schrift widmete sich dem synagogalen Ritus und dem religiösen Brauchtum an den jüdischen Festtagen vom Vorabend des Neujahrsfestes bis zum Versöhnungsfest. Der jüdische Umgang mit Sünde, Buße und Vergebung wurde als lächerlich und oberflächlich gebrandmarkt und vom überlegenen christlichen Beichtinstitut abgesetzt. Die Ironisierung und Diffamierung jüdischer Rituale und Brauchtümer verband sich mit einer gegenüber 1507 verschärften Dämonisierung der Juden als gesellschaftsschädigender Elemente. Neben dem Geldleiheverbot wurden nun auch Zwangsarbeit und Vertreibung als geeignete antijüdische Maßnahmen empfohlen. Gegen Pf.s Diffamierung jüdischer Gebräuche wandte sich der Elsässer Rabbiner Jochanan Luria (ca. 1430⫺nach 1511). Drucke. Ich heyß eyn buchlijn | der iuden beicht […]. Köln: Joh. Landen, 14. Febr. 1508. VD 16, P 2307. Weitere Drucke: Köln: [Joh. Landen], 1508 (nd.). VD 16, P 2309. Kˆhler, Nr. 3706;

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Pfefferkorn, Johannes

Augsburg: Jörg Nadler, 1508. VD 16, P 2306. Kˆhler, Nr. 3704; Nürnberg: Joh. Weißenburger, 1508. VD 16, P 2311. Kˆhler, Nr. 3705. ⫺ Libellus de Judaica confessione | […]. Köln: Joh. Landen, 1508. VD 16, P 2310; Nürnberg: Joh. Weißenburger, 1508. VD 16, P 2311. Kˆhler, Nr. 3712. Engl. Übers. bei Rummel, S. 69⫺81.

3. Hebräisch-lateinisches Vaterunser, Ave Maria und Credo. Das Flugblatt enthält das Vaterunser, das Ave Maria und das Credo in hebr. und lat. Sprache. Der hebr. Text bildet den Leittext, dem eine lat. Umschrift und der lat. Basistext zugeordnet sind. Das Flugblatt schließt mit antijüdischer Polemik. Druck. [...] | [...] μymçb hta rça wnyba. Köln: Joh. Landen, 1508. Vgl. Kirn, S. 21 Anm. 18, u. S. 202.

4. ‘Osterbüchlein’. Die ersten beiden Kapitel der Schrift schildern die Vorbereitung des jüdischen Pessachfestes einschließlich des Sedermahles als eine Art ‘Christenspiegel’: Mittels typologisch-allegorischer Auslegung wurden die Pessachgebräuche zum Bußruf an Christen in der Passions- und Osterzeit. Einerseits wurden damit jüdische Traditionen in ihrer Zeugnisfunktion für die christliche Lebensführung gewürdigt, andererseits aber im dritten und vierten Kapitel der Schrift wieder häretisiert, da sie im Widerspruch zu den Bestimmungen des ATs standen. Die Diffamierung der Juden als ‘Ketzer des ATs’ blieb ein zentrales Thema der Agitation. Es entstammte der christlichen Fiktion von einem atl., nichtrabbinischen Judentum als Vorstufe des Christentums. In dieser Schrift versuchte Pf., auch die Ressentiments des ‘gemeinen Mannes’ gegen die Juden zu aktivieren, um noch mehr Obrigkeiten zu einer judenfeindlichen Politik zu bewegen. Drucke. In disem buchlein vindet | yr ein entlichen furtrag. wie | die blinden Juden yr Ostern halten […]. Köln: [Joh. Landen], 3. Jan. 1509. VD 16, P 2291 u. 2292. Kˆhler, Nr. 3708. Ein weiterer Druck: Augsburg: [Erh. Oeglin, 1509]. VD 16, P 2290. Kˆhler, Nr. 3707. ⫺ In hoc libello com| paratur absoluta explicatio quomodo | ceci illi iudei suum pascha seruent […]. Köln: Heinr. v. Neuß, 1509. VD 16, P 2293. Kˆhler, Nr. 3709.

5. ‘Judenfeind’. Pf. verschärfte seine Polemik weiter. Im Mittelpunkt stand nun der Blasphemievor-

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wurf, der die jüdische Frömmigkeitspraxis als gotteslästerlich und christenfeindlich diffamierte (Kap. 1). Eine wichtige Rolle spielte hierbei der sog. Ketzersegen im Achtzehnbittengebet. Die angebliche Gemeingefährlichkeit der Juden wurde u. a. anhand der Wucherthematik verdeutlicht. Vor allem der Selbstrechtfertigung diente die Beschwörung der Gottverlassenheit der Juden und ihre Anklage als Christusmörder (Kap. 2 u. 3). Drucke. Ich bin ein buchlein Der Ju|den veindt ist mein namen […]. Köln: Joh. Landen, 3. Jan. 1509. VD 16, P 2315. Weitere Drucke: Augsburg: [Erh. Oeglin, 1509]. VD 16, P 2312⫺ 2314. Kˆhler, Nr. 3703. ⫺ Hostis iudeorum […]. Köln: Heinr. v. Neuß, 1509. VD 16, P 2316. Kˆhler, Nr. 3702. Engl. Übers. bei Rummel, S. 53⫺67.

6. ‘In lob und eer […]’ (Kaiser Maximilians I.). Die 16 Kapitel umfassende Lobschrift auf Ks. Maximilian I. diente der Rechtfertigung der Konfiskation jüdischer Bücher, die Pf. aufgrund eines beim Kaiser erlangten Mandats (Padua, 19. Aug. 1509) u. a. in Frankfurt a. M. vorgenommen hatte, und der Werbung für Unterstützung durch die auf dem Augsburger Reichstag 1510 versammelten Ständevertreter. Dabei spielte der Nachweis der rabbinischen ‘Ketzereien’ gegenüber dem AT und die angebliche Absurdität ihrer Messiashoffnung eine zentrale Rolle. Druck. In lob vnd eer dem | Allerdurchleuchtigsten Großmechtigsten Fursten vnd | heren hern Maximilian von gots genaden Romschen | kaysers […]. Köln: Heinr. v. Neuß, 1510. VD 16, P 2296. Kˆhler, Nr. 3711. ⫺ Weitere Drucke: Augsburg, Erh. Oeglin, 1510. VD 16, P 2295. Kˆhler, Nr. 3719. ⫺ Lat. Übers. Andreas J Canters: In laudem et honorem | Illustrissimi maximique principis […]. Köln: Heinr. v. Neuß, 1510. VD 16, P 2297. Kˆhler, Nr. 3710.

7. ‘Sendschreiben’. Pf. verteidigte in seinem ‘Sendschreiben’ 1510 die Bücherkonfiskation (mit Ausnahme der hebr. Bibel) gegen Widerstände von jüdischer und christlicher Seite. Überlieferung und Ausgaben. Wolfenbüttel, HAB, 96.14 Aug.; danach: Hutten, Opera, Bd. 2, 1869, S. 73 f. ⫺ Berlin, SBPK, De 2420

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Pfefferkorn, Johannes

(2 Vorsatzbll.); danach: M. Spanier, Pf.s Sendschreiben v. 1510, Monatsschr. f. Gesch. u. Wiss. d. Judentums 78 (1934) 581⫺587.

8. ‘Handspiegel’. Der ‘Handspiegel’ eröffnete die literarische Fehde mit Johannes Reuchlin, der in seinem Gutachten über das jüdische Schrifttum vom 6. Okt. 1510 dessen pauschale Verurteilung zurückgewiesen und Pfefferkorns Sachkunde in Zweifel gezogen hatte. In vier Teilen bekräftigte Pf. seine Vorwürfe gegen die Juden (Gotteslästerung, Ketzerei und Wucher) und rechtfertigte seine inquisitorischen Aktivitäten. Druck. Handt Spiegel. | Johannis Pfefferkorn/ wider vnd gegen die Jüden/ vnd | Judischen Thalmudischen schrifftenn […]. [Mainz: Joh. Schöffer, 1511]. VD 16, P 2294. Kˆhler, Nr. 3701.

9. ‘Brandspiegel’. Die Schrift richtete sich gegen Reuchlins im Herbst 1511 erschienenen ‘Augenspiegel’, in welcher dieser sein Gutachten über das jüdische Schrifttum publiziert und erläutert sowie 34 ‘Unwahrheiten’ Pf.s in dessen ‘Handspiegel’ herausgestellt hatte. Pf. schmähte Reuchlin, von dem er sich persönlich getäuscht sah, als gefährlichen Begünstiger der Juden und versuchte, das Reuchlinsche Gutachten in zwölf Punkten zu widerlegen. Die von der Obrigkeit geforderten Zwangsmaßnahmen wurden in verschärfter Form wiederholt, nun auch unter Einschluß der Forderung der Zwangstaufe jüdischer Kinder. Druck. Abzotraiben vnd aus zuleschen eines | vngegrunten laster buechleyn mit namen Augen/| spiegell […] Brantspiegell […]. Köln: Herm. Gutschaiff, [1512]. VD 16, P 2287. Kˆhler, Nr. 3700.

10. ‘Sturmglock’. Pf. verschärfte seine Angriffe auf Reuchlin und seine angebliche ‘Allianz’ mit den Juden, nachdem der Bischof von Speyer die auf Betreiben Hoogstraetens in universitären Gutachten gegen den ‘Augenspiegel’ vorgetragenen Vorwürfe zurückgewiesen hatte und der Mainzer Prozeß gegen Reuchlin gescheitert war. Das vom Kaiser beiden Seiten auferlegte Schweigegebot blieb unbeachtet. Pf. sah sich von dem Pariser Gutachten bestätigt, das im Aug. 1514 gegen Reuchlins ‘Augenspiegel’ Stel-

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lung genommen hatte, und teilte es seinen Lesern in dt. Fassung mit. Auch das gegen Reuchlinschriften gerichtete (zweite) ksl. Verbotsmandat wurde abgedruckt. Damit sollten zugleich Hoogstraetens Bemühungen um einen päpstlichen Richterspruch in Rom unterstützt werden. Druck. Sturm Johan⫽|sen Pfefferkorn vber vnd wi⫽|der die drulosen Juden […] | Sturm Glock. Köln [Heinr. v. Neuß], 1514. VD 16, P 2320. Kˆhler, Nr. 3718.

11. ‘Beschirmung’ ⫺ ‘Defensio’. Die um Unterstützung bei Eb. Albrecht II. von Mainz und einen Fortgang des durch Hoogstraeten in Rom anhängig gewordenen Prozesses gegen Reuchlins ‘Augenspiegel’ werbende Schrift rechtfertigte erneut das Wirken Pf.s und der Kölner Theologen. Anlaß war der 1515 veröffentlichte erste Teil der J ‘Epistola obscurorum virorum’, die Pf. beißendem Spott preisgaben. Die Schrift ist v. a. wegen ihrer Dokumente zum Gang des Streits (ksl. Mandate, universitäre Gutachten, Briefe u. a.) von Interesse. Drucke. Beschyrmung Johannes Pfefferkorn | (den man nyt verbrant hat) […]. [Köln 1516]. VD 16, P 2288. ⫺ Erweiterte lat. Version: Defensio Joannis | Pepericorni contra famosas et crimina| les obscurorum virorum epistolas […]. Köln: [Heinr. v. Neuß, 1516]. VD 16, P 2289. Ausgabe. Hutten, Opera, Suppl.-Bd. 1, 1864, S. 81⫺176.

12. ‘Streitbüchlein’. Pf. wollte mit dieser Schrift, die als Ergänzung zur ‘Beschirmung’ bzw. der ‘Defensio’ konzipiert war, den Streit in breitere Bevölkerungskreise tragen und um Unterstützung in eigener Sache werben. In vier Kapiteln wurde der Verlauf des Streits in Pf.s Sicht nachgezeichnet, die Angriffe auf Reuchlin und seine ‘Partei’ geführt sowie an die Obrigkeit appelliert, die eigene Sache zu unterstützen. Druck. Streydt puechlyn | vor dy warheit vnd eyner warhafftiger historie Joan|nis Pfefferkorn Vechtende wyder den falschen Broder | Doctor Joannis Reuchlyn vnd syne jungernn. […]. [Köln: Heinr. v. Neuß], 1516. VD 16, P 2319. Kˆhler, Nr. 3717.

13. ‘Ein mitleidliche Clag’. Hierbei handelt es sich um eine Spottschrift in sechs Kapiteln gegen Reuchlin,

441

Pfeiffelmann, Johannes

dessen ‘Augenspiegel’ nach Auskunft der Kölner Theologen 1520 vom Papst in Rom verurteilt worden war. Sie enthält einen Protestbrief an Ks. Karl V., um diesen zum Verbot der Schriften Reuchlins und seiner Verteidiger zu bewegen. Auch fordert Pf. eine öffentliche Disputation mit Reuchlin, um diesen zum Widerruf seiner ‘Ketzereien’ zu zwingen und selbst rehabilitiert zu werden. Offenbar war der Wormser Reichstag 1521 als Forum gedacht. Der Aufruf an die Obrigkeit zur Durchsetzung judenfeindlicher Maßnahmen bis hin zur Synagogenzerstörung und Vertreibung schlossen sich an. Druck. Ein mitleydliche claeg vber al|le claeg […]. [Köln: Servas Kruffter], 21. März 1521. VD 16, P 2317. Kˆhler, Nr. 3713. Ein weiterer Druck: Ein mitleid⫽|liche clag […]. o. O. u. Dr., [1521]. Vgl. VD 16, P 2318. Literatur. H.-M. Kirn, Das Bild vom Juden im Dtld. d. frühen 16. Jh.s (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 3), 1989 (Lit.). ⫺ W. Frey, Der ‘Juden-Spiegel’. J. Pf. u. die Volksfrömmigkeit, in: P. Dinzelbacher (Hg.), Volksreligion im hohen u. späten MA, 1990, S. 177⫺193; A. Maymon u. a. (Hgg.) Germania Judaica, Bd. 3/1⫺3, 1987⫺2003, Reg.; E. Martin, Die dt. Schrr. d. J. Pf. Zum Problem d. Judenhasses u. d. Intoleranz in d. Zeit d. Vorreformation, 1994; H.-J. Kˆhler, Bibliographie d. Flugschrr. d. 16. Jh.s, Teil 1, Bd. 3, 1996, Nr. 3700⫺3718; E. Rummel, The Case against J. Reuchlin. Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto u. a. 2002, S. 3⫺13, 53⫺85.

Hans-Martin Kirn

Pfeiffelmann (Pfeuffel-, Pheiffel-), Johannes I . L eb en . Die genauen Lebensdaten des Würzburger Übersetzers sind nicht bekannt. Mit Ausnahme der Selbstaussagen in den Vorreden zu seinen Übersetzungen gibt es über P. lediglich eine Erwähnung in der ‘Würzburger Chronik’ des Lorenz Fries (L. Fries, Gesch., Namen, Geschlecht, Leben, Thaten u. Absterben der Bischöfe von Würzburg u. Herzoge zu Franken, 1848/49 [ND 1924], bes. S. 773; Zusammenfassung der Zeugnisse bei Wendehorst, S. 45).

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P., Stiefsohn des bischöflichen Kanzlers Friedrich Schultheiß, stammte aus einer Familie, die im 15. Jh. Ratsämter in Würzburg innehatte. Ab SS 1472 war P. an der Univ. Erfurt immatrikuliert; im Bakkalarenregister der Artistenfakultät ist sein Name nicht verzeichnet. Nach eigener Aussage in der Vorrede zu ‘Von zucht der kinnder’ war P. als würtzpurgischer Secretari tätig, von 1492⫺1496 unter dem Würzburger Fürstbischof Rudolf II. von Scherenberg, später unter dessen Nachfolger Lorenz von Bibra. Aufgrund seiner Tätigkeit unterhielt P. enge literarische Beziehungen zu D Burkhard von Horneck. Eine Verbindung zu P.s Amts- und Übersetzerkollegen Johann J Sieder ist evident, zumal dessen Plutarchübersetzungen in inhaltlichem Zusammenhang mit denjenigen P.s stehen. Ob und inwieweit es über Sieder eine Verbindung P.s zum Heidelberger Humanistenkreis um Johann von Dalberg gab, ist nicht zu eruieren. Zumindest brieflich verkehrte P. auch mit Engelhard J Funck; ein Brief Funcks an P. (o. D.) ist abschriftlich in der StB Nürnberg, Pirckheimer-Papiere Nr. 342, erhalten (Pirckheimer-Br., Bd. 1, S. 49). I I. We rk . P.s spärlich überliefertes Œuvre besteht aus dt. Übersetzungen von Schriften Burkhards von Horneck sowie Plutarchs bzw. Ps.-Plutarchs. Seine Übersetzung der lat. Grabinschrift B. Rudolfs von Scherenberg ging verloren. Alle Übersetzungen P.s stehen ausschließlich in Würzburger Kontexten und zeugen von spezifisch philologischem Interesse. Unter den Zeitgenossen erfuhren sie geringe Resonanz. 1. ‘Ein kurtze vnterweisung zu enthaltung lanckwiriger leiplicher gesundheit’. P.s erste Übersetzung entstand um 1500 oder kurz danach. Sie ist eine freie Übertragung des lat. Gesundheitsgedichtes ‘Carmen de ingenio sanitatis’ Burkhards von Horneck v. J. 1500, das dem Mainzer Eb. Berthold von Henneberg gewidmet ist. Burkhards Gedicht enthält Ratschläge zur Diätetik und Hygiene in drei Abschnitten (Bewegung ⫺ Speis und Trank ⫺ Schlafen

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Pfeiffelmann, Johannes

und Wachen) und bietet damit einen Ausschnitt aus dem gängigen frühneuzeitlichen Gesundheitsdiskurs. Nicht behandelt werden die in parallelen Gesundheitslehren obligatorischen Themen Luft, Ausscheidung und Zurückhaltung sowie Gemütsbewegungen. Die 43 lat. Distichen gibt P. in 184 Reimpaarversen wieder. Eigene inhaltliche Akzente setzt er nicht, sondern hält sich streng an die Vorlage. Druck. Ein kurtze vnterweisung zu enthaltung | lanckwiriger leiplicher gesuntheit / Als das | der hochgelert vnnd Ernuest Burckhart von | Horneck [...] geschrieben hat | vnd nachuolgent aus solchem latein jn Teutsch | durch Johannem Pfeiffelman Secretarij | bracht worden ist. Würzburg: Martin Schubart, 1507. VD 16, ZV 20962; E. Weller, Rep. Typ., 1864 (ND 1961), Nr. 381; Beschreibung bei Hamm, S. 96. Abdruck, zusammen mit dem lat. Original, bei K.-D. Fischer, Das Gesundheitsgedicht d. Burkhard von Horneck († 1522), Gesnerus 45 (1988) 31⫺48.

2. ‘Von zucht der kinnder’. 1505 entstand die Übersetzung der spätantiken ps.-plutarchischen Erziehungsschrift ‘De liberis educandis’ nach der lat. Version des Guarino Veronese (Druck des lat. Textes in Deutschland erstmals in Köln: Arnold ter Hoernen, um 1472/1473). Burkhard von Horneck, dem der Text gewidmet ist, hat die Übersetzung initiiert. Das pädagogische Programm der Erziehungsschrift basiert hauptsächlich auf den drei Begriffen natur (natura), verstendikait (ratio) und gewonhait (consuetudo); vorangestellt werden Überlegungen zur schaffung (genitura). Inhaltliche Parallelen zu ‘De liberis educandis’ u. a. in Bezug auf den Ammendiskurs, die Bedeutung des Quellenstudiums, Tugenden- und Lasterkataloge oder Erziehungsmethoden finden sich z. B. in der zeitgenössischen Erziehungsschrift des Hieronymus Schenck. P. gibt Aufbau und Inhalt der Vorlage nahezu ohne Kürzungen oder alternative Wertungen wieder. Sein Übersetzungsstil ist am Sinn ausgerichtet. Druck. Von zucht der kinnder | nach leer des natürlich⫽|en maysters plutarchy. | neülich von latin in teü/|tsch gepracht. Augsburg: Joh. Otmar,

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1508. VD 16, P 3671; STC, S. 706; Worstbrock, Antikerez., S. 119, Nr. 300. Zu den Holzschnitten vgl. C. Dodgson, Catalogue of Early German and Flemish Woodcuts preserved in the Departement of Prints and Drawings in the British Museum, Bd. 2, 1911 (ND 1980), S. 202.

3. ‘Von den übertrefflichisten und berümptisten frawen’. Die konkrete Entstehungszeit und der Initiator der Übertragung von Plutarchs ‘De mulierum virtutibus’ sind nicht zu ermitteln; eine Einflußnahme Johann Sieders ist naheliegend. Der Druck erschien postum 1533 auf Anregung Johann Haselbergs von Reichenau und ist durch diesen in der undatierten Vorrede nachträglich Lorentzen Frießen / des Hochwirdigen Fürsten vnnd herren Herr Conradten Bischoff zu˚ Wirtzpurgk [...] Secretario zugeeignet. In 24 Abschnitten werden elf Einzelschicksale und dreizehn Geschichten um Frauengruppen erzählt. P. hält sich mit wenigen Ausnahmen eng an seine lat. Vorlage und präsentiert mit den Geschichten starker Frauen und deren manns thaten Abweichungen vom üblichen Frauendiskurs, soweit darin weibliche Virtus hervorgehoben wird. Die Themen sind vielfältig: Zentrales Motiv ist die Bewahrung der Gemeinschaft durch Frauen in Kriegs- oder Friedenszeiten; die Geschichten berichten zudem von klassischen weiblichen Tugenden, sexueller Gewalt gegen Frauen, aber auch weiblicher Gewaltausübung oder gelungener weiblicher Herrschaft. Innovativ gegenüber den herrschenden Frauen- und Gewaltdiskursen (wie in Boccaccios ‘De claris mulieribus’) wirken besonders die Darstellungen weiblicher Kampfkraft und die Positionen in Bezug auf sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Druck. Von den übertreff⫽|lichisten und e e fraw|en / zwolff in der gemeynd | berumptisten [...] sampt jren rümlichen thatten [...]. Mainz: Ivo Schöffer, 1533. VD 16, ZV 16562, ZV 18615; Worstbrock, Antikerez., S. 120, Nr. 301. Ausgabe. Lienert, S. 548⫺579. Literatur. S. Zeissner, Rudolf II. von Scherenberg, Fürstbischof von Würzburg 1466⫺1495, 1927, 21952, S. 91 f.; A. Wendehorst (Hg.), Das Bistum Würzburg, Bd. 3: Die Bischofsreihe von 1455 bis 1617 (Germania sacra, NF 13), 1978,

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Pinicianus, Johannes

S. 45; J. Hamm, Pfeiffelmann, Johann, in: H. Brunner (Hg.), Vom Großen Löwenhof zur Universität. Würzburg u. d. dt. Lit. im SpätMA, 2002, S. 96; E. Lienert, Ein alternatives Frauenbuch? J. P.s Übersetzung von Plutarchs ‘De mulierum virtutibus’, in: H. Brunner (Hg.), Würzburg, d. Große Löwenhof u. d. dt. Lit. d. SpätMAs (Imagines medii aevi 17), 2004, S. 535⫺579; B. Plank, Johann Sieders Übersetzung d. ‘Goldenen Esels’ u. d. frühe dt.sprachige “Metamorphosen-Rezeption”. Ein Beitr. zur Wirkungsgesch. von Apuleius’ Roman (Frühe Neuzeit 92), 2004, bes. S. 49, passim; H. Brunner, Dt. Lit. d. MAs in d. Bischofsstädten Bamberg u. Würzburg, in: C. u. K. van Eickels (Hgg.), Das Bistum Bamberg in d. Welt d. MAs, 2007, S. 210⫺224.

E. Vollmer-Eicken

Philesius J Ringmann, Matthias Philhymnius J Conradi, Tilmann Pinicianus (Kening), Johannes Inhalt. I. Leben. ⫺ II. Werk. A. Literarische Werke. 1. ‘Virtus et Voluptas’. 2. Carmina. 3. Beigaben. ⫺ B. Deutsche Übersetzungen. 1. Chrysostomus. 2. Erasmus. 3. Marianus Barletus. ⫺ C. Schulschriften. 1. Grammatiken. 2. Vokabulare. 3. Phraseologie und Stilistik. 4. ‘Praecepta ac doctrinae Jesu Christi’. ⫺ D. Briefe. ⫺ Literatur.

I . L eb en . Sichere Quellen der Biographie sind neben dem Epitaph (Text bei Veith, S. 143) einzig P.’ eigene Schriften, unter ihnen v. a. die von der Forschung bisher fast ganz übergangenen Briefe P.’ an Andreas Althamer (s. u II.D.), das Altöttinger Mariengedicht (s. u. II.A.2.a) und die autobiographische ‘Aegloga’ von 1512 (s. u. II.A.1.), die sich dem heutigen Leser freilich in den Einzelheiten nicht mehr erschließt.

1. Nach seinem Epitaph starb P. am 5. Febr. 1542 mit 64 Jahren. Demnach wurde er 1477 oder 1478 geboren. Bestätigung bietet seine Bemerkung im Brief vom 7. Jan. 1529 an Althamer, daß er das 50. Lebensjahr überschritten habe. Er war vermutlich Augsburger; für diese Annahme sprechen u. a. seine Rühmung Konrad J Peutingers als patriae decus (Peutinger-Br., S. 137) und seine Angabe, im ‘Promptuarium vocabulorum’ als Deutsch “unser Augsburgisch” (nostram Augustensem lin-

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guam vulgarem) verwendet zu haben (Peutinger-Br., S. 263). Sein dt. Familienname Kening, den er der latinisierten Form Pinicianus zufolge wohl als ‘Kien-ing’ verstand (im ersten Epigramm an Hölzel tritt er als bescheidene pinus im Kreise erlesener anderer Bäume auf), ist wiederum nur durch das Epitaph bekannt. Er hat vermutlich in Wien studiert (Altött. Mariengedicht, v. 43 f.: Dum [...] studium nobis Austria musa daret); R. Schmidt hält seine Identität mit dem im SS 1493 in Wien immatrikulierten Johannes Kunig de Augusta für wahrscheinlich. Von seinen Studienjahren weiß man im übrigen nichts. A. Schmid hat P. wirr mit dem aus Böhmen stammenden Johannes Pavetianus, der 1504 der 2. Klasse des Wiener Poetenkollegs angehörte und sich 1506 in Wien für das Medizinstudium einschrieb, identifiziert, ihn kurzerhand so auch zum Celtis-Schüler gemacht. Den Titel des Magister artium hat P. nie geführt und daher wohl auch nicht erworben. 2. Verläßlich bezeugt ist P. zuerst durch einen unter dem 15. März 1511 erschienenen Sammeldruck einer Anzahl eigener literarischer Stücke, den er mit einem auf den 31. Dez. 1510 datierten Carmen Peutinger zugeeignet hatte (s. u. II.A.1.). Er hielt sich damals, um die Jahreswende 1510/11, in Augsburg auf. Am 2. Jan. 1511 schrieb er Peutinger, der ihm seine Abhandlung ‘De nomine Augusto’ zu lesen gegeben hatte und eine poetische Beigabe erwartete, ex aedibus hospitis und kündigte an, daß er am 6. Jan. Augsburg wieder verlassen werde, ungern (Peutinger-Br., Nr. 85). Er war aus Innsbruck gekommen, wo er der ‘Aegloga’ zufolge sich einer gehobenen und einträglichen Stellung erfreut hatte, doch durch die Ränke eines bösartigen Widersachers, dem sich manche Neider anschlossen, alles, was er besaß, samt seinem guten Ruf verlor. Der Vorgang selbst und die weiteren Umstände, die ihn zu Fall brachten, werden durch die ‘Aegloga’ nicht greifbar. Die Maximilian-Gedichte des Sammeldrucks von 1511 und dort das dem jungen Karl (V.) geltende Dialog-Spiel ‘Virtus et Voluptas’ als Hauptstück machen wahr-

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Pinicianus, Johannes

scheinlich, das P. in Innsbruck wenn nicht eine Stellung bei Hofe, so zumindest engere Beziehungen zum Hof hatte. Verbindungen zu maßgeblichen Hofleuten erhielt er nach seinem Abschied aufrecht; die zu Petrus J Bonomus und Jakob J Spiegel waren auch Jahre später noch nicht erloschen (s. u. II.A.2.a u. 3.f). Auch die Widmung der Chrysostomus-Übersetzung von 1516 (s. u. II.B.1.) an Kunigunde von Bayern, die Schwester Maximilians, läßt vermuten, daß er lange noch Wege für eine Rückkehr nach Innsbruck suchte, das er ⫺ vgl. das Carmen an J Luscinius von 1517 (II.A.3.d) ⫺ schmerzlich vermißte. In Innsbruck hatte er vordem von Maximilian sogar die Dichterkrönung erhalten ⫺ betrübt spielt er auf sie in der ‘Aegloga’ (v. 29) an ⫺, allerdings nicht in öffentlicher Zeremonie, sondern, wie er 1520 im ersten Brief an Althamer bemerkt, secreta mansione, so daß es kaum Zeugen gab; sie ist indes auch durch Spiegel (‘Threnodia [...] in obitum Maximiliani Caesaris’, Augsburg 1519, Bl. Bbv) verläßlich beglaubigt. Er hat den Titel eines Poeta laureatus, der ihm, wie er meint, nach seinen Leistungen schwerlich zustand, kaum geführt und auf die unverdiente Erhebung mit einigem Spott zurückgeblickt. Bereits in seinen Innsbrucker Jahren muß P. als Lehrer gewirkt haben, denn die ‘Epitoma grammaticae’, deren Manuskript er dem Augsburger Drucker Silvan Otmar noch aus Innsbruck zuschickte (s. seine Zuschrift an Otmar in der ‘Institutio’ 1518), ist, wie er 1512 in der Widmung an Peutinger betont, im Zusammenhang längerer Lehrtätigkeit entstanden. Nicht schon in Innsbruck, wie Schmidt erwägt, erst in Augsburg scheint er die Weihen genommen zu haben. Erstmals 1513 zeichnet er als Priester. und zwar als presbiter Augustanus (Altöttinger Mariengedicht, s. u. II.A.2.a). 3. 1512 hat P. sich dauerhaft in Augsburg niedergelassen. Er unterhielt dort eine private Lateinschule, war aber auch ⫺ so für die Söhne Peutingers ⫺ als Hauslehrer tätig. Die noch in jüngerer Zeit (Br¸ggemann; F¸ssel, S. 235 f.) Jˆcher nachgeschriebene Auskunft, P. sei “von 1512 bis

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wenigstens 1532” Lehrer “an den Klosterschulen” gewesen, hat dagegen in keiner zeitgenössischen Quelle eine Handhabe. Wo immer P. von seiner Lehrtätigkeit spricht, erwähnt er in keinem Falle eine kirchliche oder klösterliche Institution. Einen ersten Hinweis auf die von P. privat geführte Schule gibt J Locher 1515/16 in seiner Eloge des ‘Promptuarium’ (s. u. II.C.2.): [...] pubes / Certatim ludi nunc premia larga magistri / In tua tecta ferant. In den Drucken der ‘Institutio de octo partibus orationis’ seit 1529 wirbt P. auf den Titelbll. mit dem Bibelwort Sinite paruulos venire ad me. In seinen späteren Jahren stand er dem Rektor der 1531 gegründeten Gelehrtenschule bei St. Anna, Gerard Geldenhauer (s. u. II.C.3.), und besonders seinem Unterlehrer Stephan Vigilius (s. u. II.A.2.d u. 3.i) nahe; dieser bezeichnete ihn 1539 sogar als unsern Preceptor. Die Vermutung, daß er an der neuen Schule tätig geworden wäre, läßt sich jedoch nicht bestätigen.

In Augsburg stand P. von Anbeginn in freundschaftlicher Verbindung mit Konrad Peutinger. Er widmete ihm mehrere Bücher, seiner Frau Margareta die kleine Erasmus-Übersetzung (s. u. II.B.2.). Lange Jahre, wie er 1534 Althamer brieflich erklärt, unterrichtete er die Söhne Peutingers (vgl. auch Peutinger-Br., S. 340) und tat ihm auch mancherlei andere gelehrte Dienste. Noch 1529 galt ihm Peutinger als patronus meus singularis (an Althamer). Bald darauf trübte sich jedoch das Verhältnis wegen P.’ Bekenntnisses zur Reformation und war seit etwa 1530 endgültig zerbrochen. In den 30 Augsburger Jahren erfreute P. sich einer Fülle freundschaftlicher Beziehungen in Augsburg und der Region (Veit J Bild, Oekolampadius, Johannes J Altenstaig, Jakob J Locher, zu dessen Veröffentlichungen er zwischen 1513 und 1521 mehrfach Gedichte beisteuerte, Johannes J Boemus, Otmar J Luscinius, der 1523 bei ihm wohnte) und darüber hinaus bis nach Tübingen, aber sie änderten sich im Zuge der Reformation. 1520 nahm er Kontakt mit dem jungen Andreas Althamer auf, den er bewunderte, und über ihn mit dessen Leipziger Studiengenossen Hornburg und Hegendorf. Der Briefwechsel mit Althamer läßt erkennen, wie er, zunächst begeisterter Erasmianer, schrittweise zum überzeugten Lutheraner

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wurde. Eindeutig belegen seine Wende zur Reformation die 1529 in der Ausgabe der ‘Institutio’ vorgenommenen Änderungen (s. u. II.C.1.b). Der vertrauteste Gesprächspartner in den 1530er Jahren bis zu P.’ Tod 1542 wird der als Christ und Lehrer gleichgesinnte Stephan Vigilius gewesen sein. I I. We rk . P. war im Zeitraum 1515⫺1540 in Süddeutschland der fruchtbarste und erfolgreichste deutsche Schulbuchautor. Seine Schulbücher ⫺ Grammatiken, Vokabulare, Phraseologien, moralische und christliche Lehre ⫺ zeichnen sich sämtlich durch ihre Zweisprachigkeit aus. Diente der Einsatz des Deutschen bei den lat. Grammatiken der didaktischen Deutlichkeit und Erleichterung (vgl. J Aventinus, J Cochlaeus, J Hauer), so sollte er im Bereich der Lexikographie und der Phraseologie ausdrücklich der Fertigkeit auch in der Muttersprache zugutekommen. Die Schulbücher verschafften P. einen verbreiteten Ruf; darüber äußert er sich 1521 brieflich bei Althamer mit verhaltenem Stolz, doch auch mit Ironie. Selbständige spezifisch literarische Arbeiten sind nur aus P.’ früher Innsbrucker Zeit bekannt. Doch verfaßte er zeitlebens zu verschiedenen Gelegenheiten größere und kleinere Carmina und wollte auch als Dichter geachtet sein. Vieles ist nicht erhalten, von den frühen erotischen Carmina, deren er im Altött. Mariengedicht (v. 78) mit Reue gedenkt, nichts. A. L it er ar is ch e Wer ke . 1. Der Sammeldruck ‘Virtus et Voluptas’. Noch vor seinem endgültigen Abschied von Innsbruck ließ P. 1511 das den jungen Karl (V.), Maximilians Enkel, feiernde Huldigungsspiel ‘Virtus et Voluptas’ samt einer kleinen Sammlung vermischter Carmina für Maximilian und in eigener Sache erscheinen, Stücke, die sämtlich noch in Innsbruck entstanden sein dürften. Das Textprogramm des Drucks von 1512 ist deutlich verändert. Die Hauptstücke der Sammlung von 1511:

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a) Bl. a ijr⫺v: Widmungsgedicht an Konrad Peutinger, Ad libellum vt patronum querat (Augsburg, 31. Dez. 1510). 13 (4.) asklep. Strr. b) Bl. a iijr⫺b ijv: ‘Virtus et Voluptas’, allegorisches Spiel in zwei Szenen nach dem Muster der Herkules-Entscheidung. Der junge Erzhzg. Karl, Enkel Maximilians, verirrt sich auf der Jagd und trifft in der Wildnis, einem ihn wunderbar weisenden Hirsch folgend, auf einen Eremiten. Sowie dieser nach einigem Gespräch seine Klause aufsucht, hat Karl unversehens die verlockende Voluptas vor sich, die ihn in ihre Dienste zu nehmen trachtet. Während er bereits im Begriff ist, ihr zu folgen, tritt Virtus vor ihn und vermag ihn in ausgiebiger Rede davon zu überzeugen, daß allein der beschwerliche Weg der Tugend zum Heil zu führen vermag. Die Reihe der Vorbilder, die Virtus Karl vor Augen hält, gipfelt in Maximilian.

Das Spiel geht als bloße Dialogfolge vonstatten. Sein Thema präsentiert bereits der Prologus anhand eines breiten Exzerpts aus der Zwei-Wege-Lehre des Laktanz (Div. inst. 6, 3, 2⫺4), die P. mit wörtlichen Auszügen auch für die Reden der Virtus und der Voluptas benutzte. Entstanden ist das Spiel “im vierten Jahr” (Bl. a iiijv) nach dem Tod Philipps d. Schönen (15. Sept. 1506) und vor dem 1. Jan. 1510, somit im Herbst 1509. Die Anrede an Maximilian als Zuhörer (Ende des Prologus) suggeriert, daß es in Gegenwart des Kaisers aufgeführt wurde. c) Bl. b ijv⫺b iijr: De origine invictissimi imperatoris Maximiliani semper augusti Saphicum, 11 sapph. Strr. über die Genealogie des Hauses Österreich vom Trojaner Priamus an bis zu Maximilians Enkeln Karl und Ferdinand. d) Bl. b iijr: Mariengebet für Maximilian mit einer Klage über einen ungenannten Feind (Venedig), der von Habgier getrieben gegen das Reich wütet und sich an Maximilian mit einem Giftanschlag verging (18 Hex.). Mit Akrostichon maximilianus caesar. e) Bl. b iijr⫺b iiijr: Legatus vrbis ad Caesarem: Rom, Haupt der Welt, erwarte den von Gott zum Kaiser bestimmten Maximilian zur Krönung (22 Hex.). Verfaßt wohl um 1508 im Zusammenhang von Maximilians Forderung der Kaiserkrönung.

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f) Bl. b iiijr⫺v: Mariengebet. Bitte des Autors um Schutz vor seinen Feinden (8 Dist.). g) Bl. b iiijv: Bitte des Autors an Maria um Beistand (3 Dist.). h) Ante somnum oratio (5 Dist.). Abendgebet, das in der ‘Epitome’ (C.1.a) und späteren Drucken der ‘Institutio’ (C.1.b) wiederkehrt. i) Bl. [b5]r⫺v: De armis Venetorum, polemisches Gedicht gegen das übermütige Venedig zum Zeitpunkt seiner Einkreisung durch die Liga von Cambrai (1508/09). 49 Hex. k) Bl. [b5]v⫺[b6]r: Ad amicum. 17 Hendecasyllabi an einen in Innsbruck verbleibenden Freund. l) Bl. [b6]r: Distichon über Neid und Verleumdung, die P. getroffen haben. Druck. Contenta hoc libello | Carmen ad libellum vt sibi patronum querat | Virtus et voluptas | Carmen de origine ducum Austriae et alia | Carmen de armis Venetorum. Augsburg: Joh. Otmar, 25. März 1511. VD 16, P 2840. Zwei Holzschnitte (der zweite ist wiederholt) Hans Burgkmairs d. Ä.; vgl. Burkhard, S. 50, Nr. 93.

In der zweiten Ausgabe (1512) fehlen die Stücke d) bis i), Gebete und Carmina für Maximilian sowie die Gebete des P. für sich und das Abendgebet. Stattdessen erscheint nach dem genealogischen Carmen ‘De origine invictissimi imperatoris Maximiliani’ auf Bl. b iiir⫺[b5]r eine Ekloge (140 Hex.). Sie zeigt in ähnlicher kontrastiver Konstellation wie Vergils 1. Ekloge zwei Hirten im Gespräch, den unglücklichen verbannten Coridon, hinter dem sich P. verbirgt, und den Wohlstand und Frieden genießenden Freund Philetus. Coridon, der gänzlich verändert, gezeichnet von einem widrigen Schicksal, den Freund aufsucht, weidete einst im Tale des Inns prächtige, an Wolle und Milch ertragreiche Herden und hatte in der Schar der Hirten einen alle überragenden Rang (v. 36 f., 54 f.). Wo immer er Weidegründe suchte, bei St. Marien oder beim Stift Wilten, sie standen ihm offen (vv. 42⫺50). Doch er ist untröstlich geschlagen, hat alles verloren, Herde, Haus, Stallung, seinen Ruf (vv. 67⫺70). Dies Unheil ist Werk eines bösen Bocks (caper), der Coridons Herde neidgetrieben zusetzte, so daß sie sich schließlich auflöste, und er raubte und zerstörte, was Coridon besaß, als dieser fliehen mußte. Man beklagte das

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Unrecht, das ihm widerfuhr, doch manche Neider akklamierten mit falschen Beschuldigungen. Philetus’ Versuch der Ermutigung bleibt erfolglos. Coridon hält, was ihm geschah, für sein Schicksal, das sich ihm schon in einem Omen ankündigte. Er resigniert, will nie mehr Hirt einer Herde (pastor pecoris) sein.

Die biographischen Sachverhalte, von denen die Ekloge in gattungstypisch maskierter Inszenierung berichtet, sind allein aus dem Text nicht zu klären. Schon die Frage, ob hier etwa die Tätigkeit des Lehrers (vgl. v. 88: alios quedam petiere magistros) in die des Hirten gekleidet ist, bleibt offen. Druck. Contenta hoc libello | Virtus et Voluptas | Carmen de origine ducum Austrie. | Ægloga. Coridon et Philetus rustici [...]. Augsburg: Silvan Otmar, 31. Juli 1512. VD 16, P 2841. Ein 3. Druck, den Burkhard, S. 50, Nr. 93, anführt, “Augsburg: J. Otmar, 7. Juni 1524”, ist samt dem Exemplar der Bayer. SB München, auf das Burkhard verweist, gegenwärtig nicht nachweisbar.

2. Carmina. a) Altöttinger Mariengedicht. Zur Einlösung eines Gelübdes wallfahrte P. 1513 zum wundertätigen Marienbild in Altötting und verfaßte dazu ein stark autobiographisch geprägtes Gedicht (50 Dist.). Es berichtet von Marias schützender Hand, die er bei Unfällen und Krankheiten erfahren habe, und erfleht ihre weitere Hilfe. Druck. Johannis Piniciani Pre˛sbiteri Augustani ad diuam uirginem Mariam. | uotum, in sacra e˛de Oetingen solutum. MDXIII. [Augsburg: Joh. Otmar, 1513]. Einblattdruck mit Holzschnitt (Maria lactans im Strahlenkranz auf der Mondsichel). Burkhard, S. 39, Nr. 37, u. Abb. XXII (Text unvollst.); M. Geisberg / W. L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcuts 1500⫺1550, New York 1974, Bd. 2, S. 418.

b) Trauergedichte zu Maximilians Tod (1519). Jakob Spiegel gab P. Gelegenheit, die von ihm hg. Sammlung von Gedichten und anderen Beiträgen zu Maximilians Tod mit drei Trauergedichten abzuschließen und sich mit ihnen zugleich bei Kardinal Matthäus Lang und bei Karl V. zu empfehlen. Das erste ist ein distichischer Dialog zwi-

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schen dem trauernd hinterbliebenen Lang und dem glücklich ins Jenseits gelangten Kaiser (9 Dist.). Es folgt ein distichischer Dialog zwischen dem Dichter (vates) und dem verewigten Maximilian, der ihn auf Karl V. als künftigen Adressaten poetischer Verherrlichung verweist (10 Dist.). Das dritte ist ein Epitaph (4 Dist.). Druck. Threnodia seu la|mentatio Petri Aegidii in o|bitum Maximiliani Cae|saris Aug. [...]. Augsburg: Sigm. Grimm u. M. Wirsung, 1519. VD 16, F 92. Bl. Cc iijr⫺v.

c) Gedicht über den Pyr im Wappen von Augsburg. Der Humanist und Historiker Mariangelo Accursio (1489⫺1546), der sich zwischen 1530 und 1533 im Gefolge Karls V. mehrfach in Augsburg aufhielt, gab dem Pyr, dem Hauptbestandteil des Augsburger Wappens, der volksläufig als ‘per’ (Beere, Traube) aufgefaßt wurde, eine neue, historisch begründete Deutung: Es handle sich um den Zapfen eines Nadelbaums, der im alten Rätien verbreiteten (Zirbel-)Kiefer (pinus), die damals, in vorchristlicher Zeit, der Cisa (Kybele) heilig gewesen sei, und er meinte sich dafür auf Augsburger archäologische Fundstücke aus römischer Zeit (Pinienzapfen als Fruchtbarkeits- und Unsterblichkeitssymbol, eine typische Bekrönung von Pfeilergräbern) berufen zu können; das Wort pyr (pir) erklärte er als Verwechslung von pinus mit pirus. P. kannte wohl die Abhandlung, die Accursius über den Pyr verfaßt hatte (‘De insignibus urbis Augustae’, gedr. erst Augsburg 1564), und gab ihr eine poetische Version in 30 Distichen. Zur Sache vgl. Augsburger Stadtlexikon, 21998, S. 728 f. Druck (und einzige Überlieferung). In M. T. Ciceronis | Catonem, sive de senectute, Commentaria longe eruditissima, Xy-|sto Betuleio Augustano | autore [...]. Basel: Joh. Oporinus, März 1544 (VD 16, B 5563), S. 63⫺65.

d) Distichen und Reimpaare zu Petrarcas ‘De remediis’. In Stephan Vigilius’ dt. Übersetzung und Bearbeitung von Petrarcas ‘De remediis utriusque fortunae’ steht über jedem der 254 Kapitel nach der Überschrift ein lat. Distichon samt deutscher Version in zwei

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Reimpaaren; es faßt den jeweils von der Figur der Ratio vertretenen Kapitelinhalt merkversartig zusammen. Verfaßt hat die 254 lat.-dt. Inscriptiones, die in Vigilius’ Entwurf der didaktischen Präsentation von ‘De remediis’ ein konstitutiver Faktor sind, nach seiner Auskunft in der Vorrede vnser getrewer lieber Preceptor vnd herr Johan Pinitian (Bl. [a5]v). Sämtliche Drucke von Vigilius’ dt. Petrarca-Version, mindestens neun bis 1637, gingen zusammen mit P.’ Versen heraus. Seine lat. Distichen erschienen aber auch in lat. Ausgaben von ‘De remediis’ und sogar gesondert zusammen mit einer schwedischen Übersetzung. Drucke. DAs Glückbu˚ch/ Beydes deß Gu˚t⫽| e ten vnd Bosen/ [...]. Augsburg: Heinr. Steiner, 1539. VD 16, P 1726. Weitere Drucke VD 16, P 1727⫺31; Hirsch, S. 156. 3. Poetische Beigaben zu Drucken. a) Vbertini Pusculi Brixiensis duo libri Symonidos. | [...]. Augsburg: Joh. Otmar, 11. April 1511. VD 16, P 5414. Titelbl.v: Nach einem Hendecasyllabon des Luscinius 5 Dist. (“Das Buch an den Leser”) des P. b) In hoc libello/ Iacobi Locher | Philomusi Suevi Infrascripta poe/|matia continentur […]. Augsburg: Silvan Otmar, 1513. VD 16, L 2219. Bl. [E5]v: 5 Distichen ad iuuentutem und zwei weitere Distichen. c) Triumphus Veneris Hen|rici Bebelij [...]. Straßburg: [M. Schürer], 1515. Zweite Ausg. mit dem Kommentar J Altenstaigs. Bl. [Y7]v⫺[Y8]r: Ode (8 asklepiad. Strr.) auf Bebel als Wiederhersteller einer culta Latinitas und auf sein satirisches Werk. Ausg.: M. Angres (Hg.), Triumphus Veneris. Ein allegorisches Epos von H. Bebel, 2003, S. 342 . d) Johannes Boemus, In hoc libello continentur | Liber Heroicus de Musicae laudibus [...]. Augsburg, Joh. Miller, 1515. Titelbl.v: Joannis Piniciani ad libri authorem (3 asklepiad. Strr.) und ein ad lectorem decastichon. e) Otmar Luscinius, Ex Luciano quaedam iam recens traducta. [...] Straßburg: Joh. Knobloch, 29. März 1517, Bl. E iiijv⫺[E5]r: Biographisch sprechendes Freundschaftsgedicht an Luscinius (13 Dist.). f) Johannes Altenstaig, Vocabularius Theologie [...]. Hagenau: Heinr. Gran, 1517. Bl. iijv: 11 Dist. an Christoph v. Stadion zur Empfehlung des theol. Lexikons. g) Hoc in volumine infra⫽|scripta opuscula continentur. | Marci Tullii Ciceronis oratorum principis/ oratio | pro Milone omnibus numeris

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absoluta […]. Augsburg: Silvan Otmar, 17. Nov. 1517. VD 16, C 3316. Bl. [k5]v: Pinicianus Philomuso, 20 Elfsilbler zum Lobe Lochers. h) Complurium | eruditorum uatum carmi-|na, e ad magnificum uirum | D. Blasium Holcelium [...]. Augsburg: [S. Otmar], 1518 (J Bonomus II.B.). Bl. D ijv⫺D iijr und Gr⫺v zwei Epigramme (12 u. 6 Dist.). i) Johannes Altenstaig, Opusculum de amicicia [...]. Hagenau: Heinr. Gran, 1519. Titelbl.v: Joh. Pinicianus presbiter Augustanus lectori (10 Dist.). k) Fulgentius | Placiades | in mytho|logiis. [...]. Augsburg: Sigm. Grimm u. M. Wirsung, 15. Okt. 1521. VD 16, F 3346. Bl. Nr: 14 Distichen des P. ad bonarum litterarum osores (gegen die Kritik Mißgünstiger, daß die Musen nach Deutschland gekommen seien). l) Stephan Vigilius (Wacker), Catechis|mus rudium in | fide christiana et pro | pueris, per modum catechistae et catechu⫽|meni [...]. Augsburg: Heinr. Steiner, 1536. VD 16, W 23. P. schmückte die Ausgabe mit 34 Hendecasyllabi zum Lobe des Autors (Bl. A 2r⫺v) und mit drei sapph. Strophen ad iuventutem ut praeceptores uenerentur. m) Georgii | Trapezuntii de | partibus orationis | ex Prisciani Grammatica | compendium [...]. Augsburg: Phil. Ulhart, 27. Jan. 1537. VD 16, G 1373. In der von Sixt Birck besorgten Ausgabe neben Carmina von Wolfgang Musculus, Marcus Tatius und Stephan Vigilius eine Ad iuventutem exhortatio (36 Hendecasyllabi) des P., in der er sein pädagogisches Programm resümiert und einleitend die Aufwendungen Augsburgs für gute Schulen und Lehrer rühmt. Danach ein resignierendes Distichon des alten P.

B. D eu ts ch e Ü be rs et zu ng en . Die Übersetzungen, die P. in seinen Schulschriften (s. C.1.b) und von eigenen Carmina (A.2.d) besorgte, sind im folgenden nicht aufgeführt.

1. Johannes Chrysostomus, ‘Paraenesis prior ad Theodorum lapsum’ (‘De reparatione lapsi’). Laut Kolophon der Hs. beendete P. die für Kunigunde von Bayern-München gearbeitete und ihr gewidmete (Bl. 1r) Übersetzung am 2. Mai 1516. Er verzichtete auf eine Vorrede und anderes Beiwerk. Die Adressatin, Schwester Ks. Maximilians, war nach dem Tode ihres Gemahls i. J. 1508 in das Franziskanerinnenkloster der Pütrichschwestern zu München eingetreten. Handschrift. Cgm 1146, 58 Bll., 1516, ostschwäb., aus dem Besitz Kunigundes und daher wohl das Widmungsexemplar. Vgl. K. Schneider,

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Die dt. Hss. d. Bayer. SB München. Die mal. Hss. aus Cgm 888⫺4000, 1991, S. 169 f. Druck. Des aller⫽|seligisten Johan|nis Chrisostomi ain | trostlicher tractat | von widerbrin| gung des | Sinders. Augsburg: Sigm. Grimm u. Marx Wirsung, 1520. VD 16, J 453. Anonym und ohne die Widmung an Kunigunde.

2. Erasmus von Rotterdam, ‘Precatio dominica in septem portiones distributa’. P. übersetzte Erasmus’ verbreitete kleine Vaterunser-Meditation dem Kolophon zufolge auf Veranlassung von Peutingers Gattin Margareta. Drucke. Das Vatter vnser | Getailt in siben tail/ nach den | Siben tagen der wochen/ durch D. Erasmum von Roterdam | beschriben. M. D. XXIIII. [Augsburg]: Silvan Otmar, 1524. VD 16, E 3463. ND Landshut: Joh. Weißenburger, 1530. VD 16, E 3464.

3. Marianus Barletus, ‘Historia de vita et gestis Scanderbegi Epirotarum principis’. Die in 13 Büchern groß angelegte Geschichte Skanderbegs (Gjergj Kastrioti, 1405⫺1468), des albanischen Fürsten und Nationalhelden, Verteidigers der Unabhängigkeit des Landes gegen die Türken, hatte für P. Bedeutung v. a. als aufforderndes Beispiel entschlossenen christlichen Widerstands gegen die osmanische Expansion. Die Widmung der Übersetzung an Bürgermeister und Rat von Augsburg (18. Jan. 1533), mit der P. sich, auch unter Hinweis auf seine 20jährigen Verdienste als Augsburger Lehrer, offenbar des Wohlwollens der Stadt zu versichern sucht, hatte vielleicht ihr aktuelles Motiv in dem Ratsbeschluß, alle Privatlehrer der Stadt einer amtlichen Aufsicht zu unterstellen, von der die Genehmigung ihres Unterrichts abhängig war. Drucke. Des aller streytparsten vnd theürsten | Fürsten vnd Herrn Georgen Castrioten/ | genant Scanderbeg/ Hertzogen zu˚ Epiro vnd Albanien etc. Ritterliche | thaten/ so er zu˚ erhalten seiner Erbland/ mit den Türckischen | Kaysern in seinem leben/ glücklich begangen [...]. Augsburg: Heinr. Steiner, 1533. VD 16, B 390. Weitere Drucke: Frankfurt a. M. 1561 u. 1577. VD 16, B 391⫺392.

C. S ch ul sc hr if te n. 1. Grammatiken. a) ‘Epitoma grammaticae’. Die lat. Grammatik, die P. noch in Innsbruck verfaßte (s. Zuschrift an den Druk-

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ker in der ‘Institutio’, 1518), gliedert sich in zwei Teile annähernd gleichen Umfangs, in eine Formenlehre der acht Wortarten und eine Syntax (De constructione liber secundus); ihnen folgt ein Anhang mit praecepta moralia und einer Reihe von Gebeten und anderen religiösen Texten für den täglichen Gebrauch eines Schülers. In der Widmung an Peutinger (Augsburg, 8. Dez. 1512) klassifiziert er das Buch als eine am Lernziel des Erwerbs römischer eloquentia orientierte kurzgefaßte Grammatik für Anfänger und verweist für höhere Amsprüche auf “meine Tübinger” (J Heinrichmann und J Brassicanus). Die besonderen Merkmale der ‘Epitoma’ sind der Ausbau der Syntax und der didaktische Einsatz der Muttersprache. Hauptstück der Syntax ist die Darstellung der Verbalkonstruktion nach Art von Perottis ‘Rudimenta grammatices’ (Bl. g ijr⫺i ijv). Zwar weicht P. terminologisch (species verborum statt ordines) und in der Ansetzung einiger zusätzlicher species von Perotti ab, mindert hier und erweitert dort auch die Verblisten der einzelnen species, doch hat er sich das Modell wie auch den größten Teil des Materials wohl unmittelbar von Perotti, nicht über D Pergers ‘Grammatica nova’, angeeignet. Ergänzend schloß er eine Kurzfassung von Antonio Mancinellis ‘De varia constructione thesaurus’, einer alphabetischen Liste von ca. 350 Fällen hauptsächlich der Verbalkonstruktion, an (Bl. [k4]v⫺l iijv). P. präsentierte den grammatikalischen Stoff ohne jedes antike Belegmaterial, das er für den Elementarunterricht nur als Belastung ansah (vgl. seine Vorrede zur ‘Institutio’ von 1534). Die Muttersprache hat P. nicht durchgehend zur Hilfe herangezogen, sondern nur als Interpretament des Formenbestandes der vier Konjugationen (Bl. d iijr⫺[d8]r) und, wichtiger und charakteristisch, als Interpretament aller Lemmatalisten, die er den einzelnen nominalen und verbalen Flexionsklassen und ihren Sondergruppen (Nomina graeca, unregelmäßige Verben usf.), den species verborum in der Syntax und den Konstruktionsbeispielen der Präpositionen beigab. So bietet seine Gram-

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matik bereits zugleich ein lat.-dt. Grundvokabular. Die praecepta moralia ⫺ unterteilt in allgemeine, solche für das Verhalten in der Schule, auf der Straße, in der Kirche und für das Benehmen bei Tisch ⫺ sind inhaltlich meist in J Wimpfelings ‘Adolescentia’ vorgebildet, ihr mehrfach auch wörtlich entnommen. Auch die den praecepta angeschlossenen sententiae, die zum Studium und zu guter Lebensführung anleiten sollen, stehen, wenngleich verschiedenen Autoren entnommen, im Horizont von Wimpfelings pädagogischem Programm. Druck. Epitoma grammati|cae una cum praeceptis mora⫽|libus, Ad iuuentutem. Augsburg: Silvan Otmar, 1513. VD 16, P 2845. Cohrs, Bd. 3, S. 419.

b) ‘Institutio brevis de octo partibus orationis’. P.’ zweite Grammatik knüpft zwar an die erste an, ist aber nicht deren Bearbeitung, sondern von Grund auf anders, auch anspruchsloser angelegt; die sachlich entsprechenden Teile sind weithin neu organisiert und neu formuliert. Der eigentlich grammatikalische Stoff umfaßt nurmehr 27 Bll. (gegenüber 55 in der ‘Epitome’). Er ist reduziert auf die Morphologie der acht Wortarten, die nun nach Art von Donats ‘Ars minor’ nurmehr in gedrängten Listen ihrer Formen und in dichtem Frage-Antwort-Dialogismus, mitunter auch in Merkversen traktiert wird. Die gesamte Syntax ist gestrichen, ersetzt durch 28 kurze regulae constructionum. Die zweisprachigen Lemmalisten, die in der ‘Epitoma’ einen Grundwortschatz bereitstellen, sind gefallen (P. hatte inzwischen das ‘Promptuarium vocabulorum’ geschaffen, s. u. C.2.a). Der Anhang der ‘Epitoma’ mit den praecepta moralia und den ausgewählten sententiae kehrt allerdings fast unverändert wieder, jedoch ohne die Gebete. Neu hinzugekommen ist, placiert als letztes Stück, ein Ad communem usum loquendi cottidiani colloquii libellus, eine füllige lat.-dt. Phraseologie der Alltagskonversation, an die 750 Wörter und Wendungen, geordnet nach ihrem Bedarf im präsumtiven Tageslauf eines Schülers; entnommen

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wurden sie, wie P. unterstreicht, den Briefen Ciceros und Filelfos, Terenz, Plautus, Aesop und anderen “guten” Autoren. Die Tendenz zu intensiverem Einsatz des Deutschen dokumentiert nicht erst die zweisprachige Phraseologie, sie durchwirkt die Grammatik insgesamt und zeigt sich auffällig in der vollständigen Übersetzung nun auch der praecepta moralia und der sententiae. Nicht die ‘Epitoma’, allein die ‘Institutio brevis’ wurde ein Grundbuch von P.’ eigener Praxis, und sie blieb mit neun Augsburger Drucken bis 1545 kontinuierlich erfolgreich. Viele der Auflagen präsentierte P. jedoch mit immer neuen Veränderungen, v. a. mannigfachen und auch umfangreichen Erweiterungen, die in den nachfolgenden Drucken meist beibehalten wurden. Die Mitteilung M¸llers, S. 329, P. habe späteren Drucken der ‘Institutio’ auch den ‘Kleinen Pinician’ (Vokabular, s. u. C.2.b) eingegliedert, trifft nicht zu. Drucke. (1) Que in hoc libello continentur | Ioannis Piniciani utilissima, simulque | breuissima institutio. | De octo partibus orationis. | De nominum et uerborum declinatione [...] Omnia cum uernacula interpretatione. | M D XVIII. Augsburg: Silvan Otmar, 17. Juli 1518. VD 16, P 2831. Cohrs, Bd. 3, S. 419. Titelbl.v: Zuschrift an den Drucker (6. Juni 1518) und ein Hendecasyllabon an die Schuljugend. (2) Que in hoc libello continentur. | Ioannis Piniciani utilissima, si-|mulque breuissima institutio [...]. Augsburg: S. Otmar, 17. Aug. 1520. VD 16, P 2832. Cohrs, S. 420. Fast textgleicher ND von (1), doch sind am Ende die Gebete aus der ‘Epitoma’ wieder aufgenommen. (3) Contenta in hoc libello | Ioannis Piniciani breuis institutio | De octo partibus orationis [...]. Augsburg: S. Otmar, 31. Mai 1522. VD 16, P 2833. Cohrs, S. 421. Stark erweiterte Ausgabe. Dem eigentlich grammatikalischen Teil ist ab Bl. [G4]r in elf Spalten eine lat.-dt. interpretatio vocabulorum (nach grammatikalischen Gesichtspunkten ausgewählte Wörterlisten) angeschlossen. Die lat.-dt. Phraseologie ist neu sortiert, nun nach sachlichen Feldern geordnet und überdies um mehr als die Hälfte auf 28 S. angewachsen. Ihr folgen zwei neue Stücke, ein Dialogus virtutis et vitiorum (Sammlung von 46 aus antiken und einigen neueren Autoren gezogenen antithetischen Sentenzenpaaren) und ein De variis et raris questionibus Dialogus (Folge von 63 Fragen des Schülers und pointiert lapidaren Antworten des Lehrers).

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(4) Contenta in hoc libello. Ioannis Piniciani breuis institutio | De octo partibus orationis. Cum | vulgari interpretatione vocabulo⫽|rum [...]. Augsburg: S. Otmar, 4. Okt 1529. VD 16, P 2834. Cohrs, S. 421. Die Grammatik entspricht, bei einigen Ergänzungen und kleinen Streichungen, der Ausgabe von 1522. Nun offenbar entschieden reformatorisch gesinnt, tilgte P. bei den praecepta moralia das zweite und dritte, das zur Marien- und Apostelverehrung aufruft, und die fünf praecepta über das Verhalten in der Kirche sowie in den Gebeten am Schluß des Buchs das ‘Salve regina’ und die Responsorien von Priester und Ministrant aus der Meßliturgie. Neu erscheinen nach dem De variis et raris questionibus Dialogus das 1. Kap. von Petrarcas ‘De remediis’ in der Fassung von Wimpfelings ‘Adolescentia’ (hg. v. O. Herding, 1965, S. 264 f.) und am Ende des Drucks ein metrischer Cisiojanus (24 Hex.). Sechs weitere Drucke: Augsburg 1532, 1534 (mit neuer Vorrede an den Drucker, in der P. seine Methode der Einfachheit verteidigt; der Anhang der Gebete, der auf den Titelbll. bisher als Tabula puerorum verzeichnet war, wird nun als Praecepta euangelica annonciert), 1535, 1540, 1545 und ein Nachzügler 1584. VD 16, P 2835⫺2839. Cohrs, S. 422 f. Abdruck der ‘Praecepta moralia’ und der Gebete in der ‘evangelischen’ Fassung von 1529 bei Cohrs, S. 423⫺440.

2. Vokabulare. a) ‘Promptuarium vocabulorum’. Von den drei Büchern des ‘Promptuarium’ fußen die beiden ersten auf Francesco Mario Grapaldis ‘De partibus aedium’ (Straßburg 1508, zuerst Parma 1494), einem Sachlexikon im Bereich von Haus und Hauswesen, dessen Wortschatz antiken Autoren entnommen ist. Es schreitet seinen Gegenstandsbereich in einer Anzahl von Kapiteln, 10 im 1., 12 im 2. Buch, ab, listet dabei die Bezeichnungen der Sachen teilweise nur auf, versieht sie jedoch meist mit beschreibenden Erläuterungen. P. hat seine Vorlage anhand weiterer Quellen, die er z. T. eingangs verzeichnet und nochmals in der Widmung an Peutinger nennt (Calepinus, Perotti u. a.), vielfach expliziert und ergänzt, vor allem aber den Gegenstandsbereich ‘Haus’ mit dem eigenen 3. Buch überschritten und in 24 Kapiteln um zahlreiche andere vermehrt (Handwerk, Schiffahrt, Ackerbau, Musik, Stadt, Recht, Verwandtschaft, Mensch, Kosmologie u. a.). So ließ er den übernommenen

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Pinicianus, Johannes

Grundstock enzyklopädisch wachsen. Vor allem aber wandelte er den rein lat. Typus der Vorlage durch Übersetzung der Lemmata ⫺ wenngleich sie bisweilen fehlt ⫺ in ein zweisprachiges Werk. Dem eigentlichen Sachlexikon (155 S.) schickte er einen (ungeschickt organisierten) Index dictionum (36 S.) voran, der das Auffinden der einzelnen Stichwörter unter den gut 5000 der ersten beiden Bücher erleichtern sollte. P. verzichtete nicht auf einen weiteren Schritt: Dem Sachlexikon, dessen Lemmata seiner Art nach nur Substantive sind, gab er ein aus antiken und humanistischen Quellen gespeistes lat.-dt. Vokabular der Verben (Bl. Q iiv⫺Rr: De verborum varia significatione Epitome, 28 Sp.) und ein weiteres der Adjektive (14 Sp.) bei. Damit aber wurde das Sachwörterbuch zugleich ein Sprachlehrbuch für die Schule. Nach der Widmung an Peutinger (20. Sept. 1515), auf dessen Anregung, so P., das ‘Promptuarium’ zurückgeht, sollte es in der Tat die herkömmlichen Vokabularien, welche die Schüler mit reiner barbaries tränkten, erledigen. Nach J Murmellius’ ‘Pappa puerorum’ (1514) war P.’ ‘Promptuarium’ das zweite Werk humanistischer Schullexikographie in Deutschland. Drucke. (1) Ioannis | piniciani | Promptuarium uoca-|bulorum, edium partium/| locorum/ artificum/ instru|mentorum. multarum quo-|que rerum nomina conti-|nens, per librorum capi-|ta breuiter et concinne | distributum. | MDXVI. Augsburg: Silvan Otmar, 26. Jan. 1516. VD 16, P 2862. Den Druck des ‘Promptuarium’ begleiten nächst der Widmungsvorrede an Peutinger Carmina von Freunden, darunter Bl. A iiijv⫺A iiijr 30 Hex. Jakob Lochers zum Lobe von P.’ Werk, Bl. [A6]r Verse des Johannes Boemus, Bl. [A6]r⫺v ein Marienhymnus (De gaudiis diue uirginis Marie, 5 sapph. Strr.) P.’ selbst. (2) Von dem zuletzt bei J. Benzing, Bibliographie Strasbourgeoise, Bd. 1, 1981, Nr. 1483, nach älteren Bibliographien genannten Druck Straßburg: Joh. Knobloch, 1520, ist kein Exemplar nachweisbar. (3) Joannis | Piniciani Promptuarium | vocabulorum, iam denuo reco⫽|gnitum, et melioribus formis ex⫽|cusum [...]. Augsburg: Silvan Otmar, 25. Aug. 1524. VD 16, P 2863. Ohne das Beiwerk des Erstdrucks und v. a. den ungeschickten Index dictionum, stattdessen ein kurzes lat., danach dt. alphabetisches Ver-

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zeichnis von Sachstichwörtern, das aber nur wenig mehr bietet als die Kapitelstichwörter.

b) Auszug aus dem ‘Promptuarium’ (‘Kleiner Pinician’). 1517 erschien in derselben Offizin eine stark gekürzte und dabei neu geordnete Fassung des ‘Promptuarium’. Sie gliedert sich in 48 Sachbereiche, umfaßt mit ihren ca. 2750 Lemmata aber nur ca. ein Drittel des Ausgangswerks. Einem lat. Lemma entspricht nun durchweg ein dt. Interpretament; die lat. Erläuterungen der Sachen sind ganz gestrichen. Die Ableitung des bearbeiteten Auszugs aus dem ‘Promptuarium’ blieb in den beiden ersten Drucken verdeckt, wurde erst durch das Titelbl. der dritten Ausgabe kenntlich. Der Bearbeiter des Auszugs, dessen Drucke ohne jegliches Beiwerk erschienen, ist unbekannt. Drucke. In der Druckgeschichte des ‘Kleinen Pinician’ sind vom Erstdruck der revidierte und ergänzte zweite, der sich bisweilen enger am großen ‘Promptuarium’ orientiert, und vor allem der erweiterte dritte zu unterscheiden, in dem das Buch seine endgültige Gestalt erhielt. (1) Ex probatiss|imis authoribus uariarum | rerum uocabula pro | iuuentute scholasti|ca breuiter, sed | commodissime | collecta | M D XVII. Augsburg: Silvan Otmar, 1517. VD 16, E 4698. (2) Ex probatissi⫽|mis authoribus uariarum | rerum uocabula [...]. Augsburg: S. Otmar, 1518. VD 16, E 4699. (3) Ex Promptuario | uocabulorum Ioannis Piniciani | uariarum rerum uocabula, ad | puerorum usum collecta. | M. D. XXI. Augsburg: S. Otmar, 1521. VD 16, P 2864. Neun NDe der 3. Ausg.: Augsburg 1522 bis 1545. VD 16, P 2865⫺ 2873.

3. Phraseologie und Stilistik. a) Einer Aufforderung Gerard Geldenhauers, des ersten Rektors der Augsburger Schule bei St. Anna, folgend verdeutschte P. die große Sammlung der Sentenzen und Redewendungen, die Geldenhauers Freund Cornelius Graphaeus (Schrijver) aus den sechs Komödien des Terenz als Fundus lat. Umgangssprache gezogen hatte, und gab die sententiae und colloquiorum formulae entsprechend zweisprachig heraus. Geldenhauers Brief an P. (o. D.), der ihm unter dem 20. Dez. 1532 antwortete, wiegt als Dokument der Einschätzung der Bildungssituation in Deutschland, deren Entwick-

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Pinicianus, Johannes

lung er von seinem Lehrer D Hegius an resümiert (Bl. A 2r⫺A 4v). Drucke. Latinissimae | Colloquiorum Formulae, | Ex Terentii Comoediis | selectae, ac in Germanicam | linguam versae. [...]. Augsburg: [Silvan Otmar], 1532. VD 16, T 517. Weitere vier Drucke, auch in Leipzig und Mainz, bis 1538, 1540 ein revidierter und vermehrter Druck und 1576 ein Kölner Nachzügler: VD 16, T 518⫺522 u. 527.

b) Ebenfalls auf Veranlassung Geldenhauers stellte P. wenig später aus Ciceros ‘Epistulae familiares’ zur Schulung in der Fertigkeit des Briefschreibens eine Fülle von Wendungen (clausulae) zusammen, die er nach inhaltlichen Brieftypen (Empfehlung, Bitte, Trost, Ermahnung usf.) und für den Bedarf an Briefeingängen und -schlüssen ordnete. Er verdeutschte wiederum das Material und ließ es als zweisprachige praktische Briefstilistik erscheinen. Druck. Ex familiari⫽|bus epistolis Ciceronis | clausulae et sententiae, pro Epistolis conficiendis, | ad studiosam iuuentutem, una cum ger⫽| manica lingua, diligentissime | excerptae, et in ordi⫽|nem digestae. Augsburg: Silvan Otmar, 10. Juli 1534. VD 16, C 3080.

4. ‘Praecepta ac doctrinae Jesu Christi’. Die anonymen ‘Praecepta’ sind eine aus den vier Evangelien gezogene und unter 30 thematische Rubriken gestellte Spruchsammlung für die Anfängerstufe in der Lateinschule. Ihre Erläuterung obliegt dem Lehrer. Die Exzerpte sind stets mit Stellenangabe versehen und stimmen im Wortlaut mit Erasmus’ lat. Übersetzung des NT von 1516 überein. Für die Autorschaft P.’ spricht neben der Veröffentlichung bei seinem Hausdrucker Otmar das einladende Motto des Titelbl.s Sinite paruulos uenire ad me, das P. im selben Jahr erstmals in der ‘Institutio brevis’ verwendet. Drucke. Precepta | ac doctrinae | Domini nostri Jesu Chri⫽|sti, paruulis in ludis | literariis tra⫽|dendae. | Anno M.D.XXIX. | Sinite paruulos uenire ad me. Augsburg: Silvan Otmar, 1529. VD 16, P 2845. Cohrs, Bd. 3, S. 442. Sechs weitere Drucke bis 1545: VD 16, P 2846⫺2851. Cohrs, S. 42 f. Ausgabe. Cohrs, S. 445 f. (nach dem Erstdruck).

D. B ri ef e. P. hat ⫺ wenigstens zeitweilig ⫺ eine ausgedehnte Korrespondenz mit Freunden,

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mit Gelehrten geführt, die ihm viel Zeit raubte, sogar mit Italienern, wie er 1521 in einem Brief an Althamer (W, Bl. 63r) bemerkt. Davon ist nur sehr wenig erhalten, neben den Widmungsbriefen zu seinen Schriften und Übersetzungen nur ein Brief an Peutinger (Peutinger-Br., Nr. 85), zwei an Veit Bild von 1514, in denen es um Leihe und Beschaffung von Büchern geht, und ein weiterer von 1522, in dem P. bekennt, nur noch am Bibelstudium interessiert zu sein (Schrˆder, Nr. 77, 80, 218), schließlich acht an Andreas Althamer, den P. im Sommer 1520 kennengelernt hatte, aus den Jahren 1520⫺1534. Die Briefe an Althamer sind Teil einer sehr offenen Freundschaftskorrespondenz, aber auch als historische Quelle von Belang. Neben alltäglichen Nachrichten aus Augsburg stehen von vornherein im Zentrum Luther und die fortschreitende reformatorische Bewegung, kirchliche Hierarchie, Priesterehe, Abendmahlstreit, bald auch die Schrecken des Bauernkriegs. Nicht zuletzt der reformatorische Konsens festigte die Freundschaft der beiden. P.’ Korrespondenz mit Althamer hatte dessen Brief vom 1. Juni 1520 eröffnet, in dem er P. für gastliche Aufnahme in Augsburg dankt und seine humanistischen Qualitäten rühmt (Text und Quellenangabe bei O. Clemen, Beitr. z. bayer. Kirchengesch. 7 [1901] 280 f.). Überlieferung der Briefe an Althamer: W ⫽ Wolfenbüttel, HAB, Cod. 17.32 Aug. 4°, 34r⫺36r (2 Briefe), 16. Jh.; B ⫽ Bamberg, Staatsarchiv, A 245 VI Nr. 31½, 63r⫺70v (8 Briefe), Abschrift v. Daniel Paul Longolius, Mitte 18. Jh. Literatur. F. A. Veith, Bibliotheca Augustana [...], Bd. 1, Augsburg 1785, S. 139⫺148; Jˆcher, Gel.-Lex., Fortsetzungen Bd. 6, Sp. 236 f.; M¸ller, Quellenschr., S. 264 f.; A. Schrˆder, Der Humanist Veit Bild, Mönch bei St. Ulrich, Zs. d. Hist. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 20 (1893) 173⫺227, hier S. 198 f. u. 211; P. Joachimsohn, Augsburger Schulmeister, Zs. d. Hist. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 23 (1896) 177⫺247, hier S. 181 f., 184, 186; F. Cohrs, Die evang. Katechismusversuche vor Luthers Enchiridion, Bd. 3, 1901, S. 415⫺461, Bd. 4, 1902, S. 243, 274, 281, 321, 324 u. ö. (Reg., Bd. 5, 1907); F. Roth, Augsburgs Reformationsgesch., 1517⫺1530, 21901⫺1907, Bd. 2, S. 193, Bd. 3, S. 146; A. Bˆmer, Anstand u. Etikette nach d.

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Pirckheimer, Willibald

Theorie d. Humanisten, Neue Jbb. f. das klass. Altertum […] u. f. Pädagogik 14 (1904) 257 f.; Peutinger-Br., S. 135⫺137, 263⫺265, 340, 410; Ellinger, Neulat. Lit., Bd. 1, S. 463; K. Kˆberlin, Gesch. d. Humanist. Gymnasiums b. St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931, 1931, S. 7 f.; A. Burkhard, Hans Burgkmair d. Ä. (Meister d. Graphik 15), 1932; K. Schottenloher, Buch- u. Schriftwesen im Wortschatz d. ausgehenden MAs, ZfB 49 (1932) 192⫺195; D. Wuttke, Die Histori Herculis d. Nürnberger Humanisten u. Freundes d. Gebr. Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter, 1964, S. 75 f., 98 f., 210⫺212; R. Hirsch, Bibliotheca, charte, instrumenta scriptoria. A Chapter in the Latin-German Vocabulary of Pinicianus (1516), Bibliothek u. Wissenschaft 9 (1975) 134⫺ 157; Br¸ggemann, Hdb., S. 1155; St. F¸ssel, Riccardus Bartholinus Perusinus, 1987, S. 210. 235 f., 256; N. Henkel, Dt. Übersetzungen lat. Schultexte (MTU 90), 1988, S. 234; A. Schmid, “Poeta et orator a Caesare laureatus”. Die Dichterkrönungen Ks. Maximilians I., Hist. Jb. 109 (1989) 56⫺108, hier S. 100 (unbrauchbar); G. de Smet, Das Promptuarium vocabulorum d. J. P. Augsburg 1516, in: G. Lerchner u. a. (Hgg.), Chronologische, areale u. situative Varietäten d. Deutschen in d. Sprachhistoriographie. Fs. R. Große, 1995, S. 185⫺200; ders., Der “Kleine Pinicianus” (Augsburg 1518), in: P. Ewald / K.-E. Sommerfeldt (Hgg.), Beitr. z. Schriftlinguistik. Fs. D. Nerius, 1995, S. 311⫺323; R. Schmidt, in: G. Gr¸nsteudel u. a. (Hgg.), Augsburger Stadtlexikon, 21998, S. 718; M¸ller, Lexikogr., S. 311, 317⫺329, 426 f. u. ö. (Reg.); H. Z‰h, Konrad Peutinger u. Margarete Welser. Ehe u. Familie im Zeichen d. Humanismus, in: M. H‰berlein / J. Burkhardt, Die Welser. Neue Forsch. z. Gesch. u. Kultur d. oberdt. Handelshauses (Colloquia Augustana 16), 2002, S. 449⫺509, hier S. 454; J. L. Flood, Poets laureate in the Holy Roman Empire, Bd. 3, 2006, S. 1540⫺42; F. J. Worstbrock, Petrarcas ‘De remediis utriusque fortunae’. Textstruktur u. frühneuzeitl. dt. Rezeption, in: A. Aurnhammer (Hg.), Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst u. Musik, 2006, S. 39⫺57.

F. J. Worstbrock

Pirckheimer (Birck-, Pirk-, -eymer, -heymer, -her), Willibald (Bilibaldus) Inhalt. I. Leben. ⫺ II. Werk. A. Editionen. ⫺ B. Übersetzungen. 1. Lateinische Übersetzungen aus dem Griechischen. 2. Deutsche Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen. ⫺ C. Prosaschriften. 1. Kommentar zum Triumphwagen. 2. Satirisches. 3. Theologisches. 4. Historisches und

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Verwandtes. ⫺ D. Gedichte. ⫺ E. Briefe. ⫺ III. Wirkung. ⫺ Literatur. P.s Briefwechsel wird nach Pirckheimer-Br. (s. u. II.E., Ausg.) mit der Sigle “Br.” und Nr. zitiert.

I . L eb en . P., geb. am 5. Dez. 1470 in Eichstätt als Sohn des aus dem Nürnberger Patriziat stammenden bischöflichen Sekretärs Dr. Johann D Pirckheimer und seiner Frau Barbara, geb. Löffelholz, erhielt von seinem Vater, der 1478⫺88 in München und Innsbruck als Rat der Hzg.e Albrecht IV. von Bayern und Siegmund von Tirol lebte, seinen ersten Unterricht in den litterae und bonae artes (so die Autobiographie; vgl. C.4.c.). Nach einer höfischen und militärischen Ausbildung am Hofe des Eichstätter B.s Wilhelm von Reichenau (1488/89) studierte P. in Padua (1489⫺92) und Pavia (1492⫺95) Jurisprudenz; nebenher lernte er Griechisch und betrieb humanistische Studien. Am 13. Okt. 1495 heiratete er in Nürnberg Creszentia Rieter; aus der Ehe gingen fünf Töchter hervor. P. diente der Stadt 1496⫺1502 als Junger Bürgermeister im Kleineren Rat, gleichzeitig mehrfach als Gesandter und einmal als Befehlshaber eines Truppenkontingents (1499 im Krieg Kg. Maximilians I. gegen die Schweizer Eidgenossen); in dieser Zeit schloß er Freundschaft mit Albrecht Dürer und mehreren Humanisten, darunter Konrad J Celtis. 1502⫺05 vorübergehend aus dem Rat ausgetreten, begann P. im Selbststudium das Übersetzen antiker griech. Texte ins Lateinische zu erlernen und seine humanistischen Studien zu vertiefen. Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau (17. Mai 1504) ⫺ er heiratete nicht wieder ⫺ kehrte P. als einer der Alten Genannten in den Nürnberger Rat zurück, war wieder mehrere Jahre als Gesandter tätig, wurde aber zusehends durch ein Podagraleiden behindert und zog sich am 5. April 1523 endgültig ins Privatleben zurück, um sich ganz seiner gelehrten Arbeit sowie dem persönlichen und brieflichen Gedankenaustausch mit zahlreichen Humanisten wie Johannes J Cochlaeus, J Erasmus von Rotterdam, Ulrich von J Hutten, Philipp Melanchthon, Kon-

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Pirckheimer, Willibald

rad J Peutinger und Beatus J Rhenanus zu widmen. Bei P.s humanistischer Tätigkeit lassen sich deutlich drei Phasen unterscheiden: ca. 1501⫺12, 1513⫺20 und 1521⫺30. Während in der ersten noch autodidaktische Übungen im Griechischen dominieren, fallen in die zweite und dritte jeweils mehrere Publikationen, wobei erst in Phase 3 zu den Übersetzungen eigene Schriften hinzutreten. Die Arbeiten der Jahre 1513⫺20 entstanden teils im Dienst Maximilians I. ⫺ z. B. kooperierte P. mit Dürer bei der Entstehung der großen Holzschnittwerke ‘Ehrenpforte’ und ‘Triumphzug’ von Dürer ⫺, teils als Beiträge zur Auseinandersetzung Johannes J Reuchlins mit den antijüdischen Anhängern der Spätscholastik. In diesem Zusammenhang verfaßte P. nicht nur eine umfangreiche ‘Apologia’ für Reuchlin, die er seiner lat. Übersetzung von Lukians ‘Fischer’ vorausschickte (Br. 464), sondern sehr wahrscheinlich auch (entweder allein oder zusammen mit Freunden) ein Pamphlet gegen den Luther-Gegner Johannes J Eck, den ‘Eckius dedolatus’ (1520). Zwar bestritt P. die Autorschaft ⫺ die Satire erschien unter dem Pseudonym Johannesfranciscus Cotta (s. C.2.c.) ⫺, aber schon die Zeitgenossen sahen in ihm den Verfasser, und dies gilt auch für eine Reihe moderner Forscher (vgl. Holzberg, Ausg.). Auf jeden Fall machte Eck selbst P. für den ‘Eckius’ verantwortlich und ließ den Namen des Humanisten im Herbst 1520 in die gegen Luther und dessen Anhänger gerichtete Bannandrohungsbulle ‘Exsurge Domine’ setzen. Es gelang P., den päpstlichen Bann von sich abzuwenden, und seine Publikationen d. J. 1521⫺30 verraten deutlich, daß er nun nicht mehr so entschieden auf der Seite Luthers stand wie zuvor. In der ersten Hälfte dieser Phase enthielt P. sich gänzlich kirchenpolitischer Äußerungen. Sie fehlen in den Vorreden zu den 1521⫺25 veröffentlichten Übersetzungen, und das Thema eines der zur Latinisierung gewählten Texte, Geographie (Ptolemaios, 1525), verrät besonders deutlich das Bemühen um eine Art Flucht aus dem Konfessionenstreit in andere Bereiche geistiger Betätigung. Doch

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bald nach der Einführung der Reformation in Nürnberg im Frühjahr 1525 beteiligte P. sich wieder an der Auseinandersetzung zwischen dem katholischen und dem evangelischen Lager. Sowohl in den Vorreden der Übersetzungen als auch in eigenen Schriften polemisierte er gegen die Schwärmer und Radikalen unter den Anhängern der Reformation, gegen die Aufhebung der Klöster ⫺ er erreichte es, daß das Nürnberger Klarissenstift, dessen Äbtissin seine Schwester Caritas D Pirckheimer war, vorläufig erhalten blieb ⫺, gegen die Abendmahlslehre des Johannes Oecolampadius und gegen die u. a. in Nürnberg gestattete Wiederverheiratung der Geistlichen. P. starb am 22. Dez. 1530 in Nürnberg, wo er auf dem Johannesfriedhof (heute Grab Nr. 1414) beigesetzt wurde. Er hinterließ außer einer Reihe nicht veröffentlichter Werke, die zum Teil posthum erschienen, eine der größten Bibliotheken Europas. Sie wurde von P.s Erben, der Familie Imhoff, 1636 an den englischen Sammler Thomas Howard, Earl of Arundel, verkauft und von einem seiner Nachkommen der Royal Society gestiftet. Diese wiederum gab 1830 die Handschriften an das British Museum (heute British Library) weiter, so daß wenigstens ein Teil der Sammlung allgemein zugänglich wurde, aber die Drucke gingen Ende des 19. Jh.s in den Besitz Londoner Buchhändler über, wurden versteigert und sind heute über private und öffentliche Bibliotheken der ganzen Welt verstreut (vgl. Paisey). Besser erging es P.s persönlichem hsl. Nachlaß. Diesen entdeckte man Ende des 18. Jh.s im Haus der Imhoffs, das inzwischen den Besitzer gewechselt hatte, in einem Wandversteck, und er wird jetzt fast vollständig in der Nürnberger StB unter der Signatur PP (⫽ Pirckheimerpapiere; im folgenden zit.: “PP”) aufbewahrt. Die Hefte und Einzelblätter, die, aufeinandergelegt, eine Höhe von ca. 1,40 m erreichen würden, bestehen zum großen Teil aus Stücken der umfangreichen Korrespondenz P.s, aber es finden sich unter ihnen auch Entwürfe zu Übersetzungen und mehrere Schriften, die teilweise nicht vollendet sind, sowie Aufzeichnungen verschiedenster Art, z. B. Horo-

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Pirckheimer, Willibald

skope und medizinische Rezepte. Bisher wurden nur die Briefe und die Manuskripte der Übersetzungen systematisch erfaßt. Es besteht also die Möglichkeit, daß unter den übrigen Papieren zusätzlich zu den bisher identifizierten Schriften P.s weitere auftauchen. Im folgenden werden nur diejenigen genannt, deren Autorschaft schon jetzt als sicher oder mindestens als möglich gelten darf. I I. We rk . P.s Œuvre umfaßt Ausgaben, Übersetzungen, Prosaschriften, Gedichte und Briefe in lat. und dt. Sprache. Seine Haupttätigkeit bestand in der Übersetzung von Prosatexten griech. Klassiker und Kirchenväter ins Lateinische; die heidnischen Schriften gehören zum Bereich der Moralphilosophie und -satire (Ps.-Platon, Theophrast, Plutarch, Lukian), der Historiographie (Xenophon) und der Geographie (Ptolemaios). In den Widmungsvorreden bemühte P. sich meist, einen Bezug zwischen dem Inhalt des latinisierten Textes zu den moralphilosophischen und kirchenpolitischen Diskursen der eigenen Zeit herzustellen. Seine wenigen Übersetzungen (überwiegend moralphilosophischer) antiker Texte ins Deutsche publizierte P. nicht (bis auf eine Ausnahme: s. B.2.b.; man darf zweifeln, ob P. verantwortlich ist), sondern ließ sie handschriftlich unter Angehörigen des Nürnberger Patriziats verbreiten. Von den Prosawerken und den Gedichten, die P. selbst schrieb ⫺ die Prosa umfaßt außer einem ikonographischen Kommentar zu Albrecht Dürers ‘Großem Triumphwagen’ Satirisches, Theologisches sowie Historisches und Verwandtes ⫺, erschien nur wenig zu seinen Lebzeiten in Einzelausgaben, einiges gleich nach seinem Tode ebenfalls separat und 1610 weiteres zusammen mit bereits publizierten Werken sowie zwei Übersetzungen (B.1.d u. n) in einer (ausschließlich lat.) Auswahledition. Um eine solche handelt es sich auch bei dem (ausschließlich dt.) ‘Tugendbüchlein’ von 1606, das überwiegend Übersetzungen und eine Bearbeitung der lat. Autobiographie enthält. In moderner Zeit wurden nur wenige Schriften neu ediert; lediglich von den Briefen

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(die vorher zum Teil in Auswahlausgaben erschienen waren) existiert jetzt eine Gesamtedition (s. E.). Auswahlausgaben. Theatrum Virtutis et Honoris; Oder TugendBüchlein: Auß etlichen fürtrefflichen Griechischen vnd Lateinischen Scribenten ins Teutsch gebracht / Durch Herrn Wilibald Pirckheymern […] Auß desselben hinderlassenen Bibliothec durch einen vornemmen gelährten Mann mit fleiß zusammen getragen […], Nürnberg 1606 (im folgenden zit.: ‘Tugendbüchlein’); M. Goldast, V. illustris / Bilibaldi Pirckheimeri […] Opera politica, historica, philologica et epistolica […], Frankfurt a. M. 1610, NDe 1969 u. 2005 (zit.: ‘Opera’); J. Heumann, Documenta literaria varii argumenti […], Altdorf 1758. A. Editionen. 1. Opera B. Fulgen|tii Aphri, Episcopi | Ruspensis, Theologi anti|qui. […] Item Opera Ma| xentii Iohannis, Servi Dei pulchra vetustatis Monumenta, | in eodem Codice reperta. Hagenau: Th. Anshelm, 1520. VD 16, F 3355. P. besorgte die Ausgabe zusammen mit Cochlaeus. In ihren Widmungsepisteln an Caritas P. (Dez. 1519; Br. 652) berichten P. und Cochlaeus über die Editionsgeschichte. 2. Johannes D Regiomontanus, ‘Annotationes in errores commissos a Iacopo Angelo in translatione sua’ (30. März 1525), s. u. B.1.m. 3. Theophrast, ‘Charaktere’ (1527), s. u. B.1.n.

B . Ü be rs et zu ng en . 1. Lateinische Übersetzungen aus dem Griechischen. Zusammen mit Regiomontanus, Rudolf D Agricola, Konrad J Celtis, Johannes J Reuchlin und J Erasmus gehört P. zu den wenigen Humanisten, die vor 1520 nördlich der Alpen griech. Texte ins Lateinische übersetzten. Während es sich bei seinen frühen Übersetzungsübungen um (meist unvollendete) schülerhafte Wort-für-WortVersionen handelt ⫺ P. versuchte sich u. a. an Homer, Aristophanes, Thukydides, Aristoteles, Demosthenes, Lukian, äsopischen Fabeln und Menandersentenzen (s. Holzberg, 1981, S. 96⫺167, mit Nachweis d. Hss.) ⫺, erreichen die veröffentlichten und die nach 1513 entstandenen ungedruckten Latinisierungen (vollständig erhalten ist nur die ‘Hieroglyphenkunde’ des Horapollon) mit ihrem Bemühen um eine gut lesbare und doch nicht allzuweit vom Origi-

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Pirckheimer, Willibald

naltext entfernte (nur stellenweise fehlerhafte) Wiedergabe das durchschnittlich hier im 16. Jh. erreichte Niveau. a) Plutarch, ‘Über die späte Rache der Gottheit’ (30. Juni 1513). Das vom Autor behandelte Thema der Theodizee instrumentalisiert P. in den beiden Widmungsepisteln an Caritas P. und Cochlaeus (Br. 243 u. 244) für die Artikulation des Wunsches, seine Gegner innerhalb und außerhalb Nürnbergs möge irgendwann eine Strafe ereilen. Überlieferung. PP 40; PP 364 U. 1, 2 u. 8; vgl. Holzberg, 1981, S. 201. Drucke. Plutarchi Chaeronei Sto⫽|ici Ac Viri Clarissimi | De His Qui Tarde | A Numine Cor⫽| ripiuntur Li⫽|bellus. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1513. VD 16, P 3634. Ein weiterer Einzeldruck (Straßburg: Matth. Schürer, 1514. VD 16, B 3635), ein Druck zusammen mit P.s Plutarch-Übersetzungen von 1523 (s. u. B.1.l) sowie zwölf weitere Drucke mit Plutarch-Übersetzungen P.s (B.1.c) und anderer Humanisten; vgl. Holzberg, 1981, S. 212.

b) Horapollon, ‘Hieroglyphenkunde’ (vor April 1514). Die spätantike Deutung der ägyptischen Bilderschrift lieferte P. Material für seine Kommentierung der Ornamentik von Dürers ‘Ehrenpforte’ und ‘Triumphwagen’ Ks. D Maximilians. Überlieferung. Wien, ÖNB, Cod. 3255. Ausgabe. K. Giehlow, Die Hieroglyphenkunde d. Humanismus in d. Allegorie d. Renaissance bes. d. Ehrenpforte Ks. Maximilians I., Jb. d. kunsthist. Slg.en d. Allerhöchsten Ks.hauses 32 (1915) 170⫺209.

c) Plutarch, ‘Gegen das Schuldenmachen’ (26. Jan. 1515). Laut der Vorrede an Bernhard J Adelmann (Br. 350) publizierte P. die Übersetzung als Polemik gegen die wirtschaftsethischen Thesen Johannes Ecks, der in mehreren Schriften zur Frage der Berechtigung des kanonischen Zinsverbotes einen fünfprozentigen Zinssatz für statthaft erklärte. Überlieferung. PP 13 (Reinschrift). Drucke. P|lu|tar|chus, | Df [!], Vita|nda, Vsura, | Ex, Greco, | In, Lati|num, T|radu|ctu| s. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1515. VD 16, P 3783 (vgl. ebd., P 3784). Zu zwei separaten Neuauflagen

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(o. O. [ca. 1520] u. Rom [ca. 1524]), dem gemeinsamen Druck mit P.s Plutarch-Übersetzungen von 1523 (s. u. B.1.l) und den zwölf weiteren Drucken gemeinsam mit der Übersetzung von 1513 (s. o. B.1.a) vgl. Holzberg, 1981, S. 220 f.

d) Lukian, ‘Wie man Geschichte schreiben soll’ (März 1515). Mit der Publikation der Übersetzung wollte P. die deutschen Humanisten zu größeren historischen Schriften anspornen und widmete die Ausgabe deshalb Ks. Maximilian (Br. 353). Überlieferung. PP 364 U. 2 Nr. 3 (Entwurf); PP 253 (Reinschrift). Drucke. Lucianus de ratione | conscribendae historiae, ex | graeco in latinum | traductus. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1515. VD 16, L 3033; ‘Opera’, S. 52⫺61.

e) Neilos, ‘Sentenzen’, u. Johannes von Damaskus, ‘Über die acht Geister der Schlechtigkeit’ (Anfang 1516). Die Vorrede an P.s Schwester Clara, welche als Nonne im Nürnberger Klarissenkloster lebte, besteht überwiegend aus einem Bericht über die Voraussetzungen zur Publikation der Übersetzung (Br. 377). In den Sentenzen des Neilos ist antike Moralphilosophie mit frühchristlichen Askeseregeln vermischt; die (offenbar stark gekürzte) asketische Schrift des Johannes von Damaskus bildet lediglich einen Anhang. Drucke. Beatiss. | Patris Nili, Episcopi Et | martyris Theologi antiquiss, [!] Senten⫽|tiae morales e graeco in latinum versae. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1516. VD 16, N 1759. Zu den zahlreichen weiteren Drucken (allein vier weitere Auflagen 1516) dieser am häufigsten wiederaufgelegten Übersetzung P.s vgl. Holzberg, 1981, S. 232. Zur dt. Übers. P.s s. u. B.2.a.

f) Lukian, ‘Der Fischer oder Die Wiederauferstandenen’ (2. Okt. 1517). Im Lichte der vorausgeschickten ‘Apologia’ für Reuchlin (Br. 464) erscheint Lukian als Vorläufer des Humanisten: Von den aus der Unterwelt zurückgekehrten Philosophen bei der personifizierten Philosophie wegen Lästerung angeklagt, erklärt der griechische Autor, sein Angriff gelte allein den falschen Philosophen. Überlieferung. PP 364 U. 1, Bl. 12 f. (autographer Entwurf); PP 338 (Reinschrift).

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Pirckheimer, Willibald

Drucke. Luciani Piscator, Seu | reuiuiscentes. Bilibaldo Pirck⫽|heymero, Caesareo Consilia⫽| rio, Patricio ac Senatore, | Nurenbergensi | interprete, | Eiusdem Epistola Apologetica. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1517. VD 16, L 3025. Ein weiterer Druck mit dem ‘Dialogus in defensionem Reuchlini’ des Georgius Benignus (“Köln” [vielmehr Straßburg: Matth. Schürer], 1518; s. Hermann von J Neuenahr, II.B.1.); zu fünf weiteren Drucken gemeinsam mit P.s Übertragungen (B.1.g u. h) sowie Übersetzungen anderer Humanisten in lat. Gesamtausgaben Lukians vgl. Holzberg, 1981, S. 262.

g) Lukian, ‘Der Rhetor’ (Jan. 1520). Wie aus der Vorrede an Hieronymus J Emser (Br. 645) hervorgeht, soll die Übersetzung belegen, daß Reuchlins Gegner die Kunst des Schmähens von dem Kenner einer Schrift wie derjenigen Lukians gelernt haben. Überlieferung. PP 364 U.2 Nr. 6 (Reinschrift mit P.s Korrekturen). Drucke. Luciani | Rhetor A | Bilibaldo | Pirckaime|ro In Lati|num Ver|sus. Hagenau: Th. Anshelm, 1520. VD 16, L 3035. Zu weiteren Drucken s. o. B.1.f.

h) Lukian, ‘Die Ausreißer’ (März 1520). Ohne daß die Vorrede an Graf Hermann von Neuenahr (Br. 635) direkt dazu auffordert, darf man die Schrift, die sich gegen falsche Philosophen und ihren Lebenswandel richtet, durchaus mit Blick auf Reuchlins Gegner lesen. Überlieferung. PP 14a (Konzept z. Widmungsvorrede); PP 199 (vollständiger Entwurf, 1519); PP 197/198 (Reinschrift u. Druckvorlage). Drucke. Luciani | Fugitiui. A | Bilibaldo | Pirckaime|ro In Lati|num Ver|sus. Hagenau: Th. Anshelm, 1520. VD 16, L 2986. Zu weiteren Drukken s. o. B.1.f.

i) Gregor von Nazianz, Reden 38⫺41, 44 u. 45 (März 1521). P. spielt eine führende Rolle bei der Verbreitung der Reden des ‘christlichen Demosthenes’. Bis zum Erscheinen der ersten sechs von ihm latinisierten Reden lagen nur 17 von den insgesamt 45 in gedruckten Übersetzungen vor, und P. publizierte insgesamt 38 Reden (s. B.1.o.p u. r). In der Vorrede an Wenzeslaus Linck (Br. 750) deutet P. an, daß es Kritiker seiner übersetzerischen Tätigkeit gebe, und äußert sich über Schwierigkeiten der Wiedergabe des Gregor-Textes.

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Überlieferung. PP 243 (autographer Entwurf ). Drucke. D. Gregorii Nazanzeni | Theologi Oratio⫽|nes Sex. | In Natalem Saluatoris | In Festum Epiphaniorum | In Sanctum Lauacrum | In Sanctam Resurrectionem | In Sanctam Pentecostem | In Encaenia siue nouum dominicum | Bilibaldo Pirckeymhe⫽|ro Interprete. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1521. VD 16, G 3038. Zu den weiteren Drucken s. u. B.1.r.

j) Lukian, ‘Das Schiff oder Die Wünsche’ (Frühjahr 1522). In der Vorrede an Ulrich Varnbüler (Br. 761) begnügt P. sich damit, die moralphilosophische Aussage des Textes ⫺ Wunschträume werden als gefährlich dargestellt ⫺ zu bestätigen, versucht also nicht, einen Bezug zur Tagespolitik herzustellen. Überlieferung. PP 364 U. 2 Nr. 12 (autographer Entwurf ). Druck. Navis. Seu. Vota. | Luciani. | Bilibaldo Pirckheymero | Interprete. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1522. VD 16, L 3008.

k) Ps.-Platon, ‘Axiochos’, ‘Eryxias’, ‘Über das Gerechte’, ‘Über die Tugend’, ‘Demodokos’, ‘Sisyphos’, ‘Kleitophon’ u. ‘Definitionen’ (1523). Die wahrscheinlich nicht von Platon stammenden Schriften dürfte P. deshalb übersetzt haben, weil sie einen leicht faßlichen Querschnitt sowohl durch die wichtigsten Themen der Sokratischen Lehre als auch der Popularphilosophie geben. In der Vorrede an Bernhard Adelmann (Br. 754) schildert P. ausführlich, wie er, zurückgezogen auf den Landsitz seines Schwagers Martin Geuder in Neunhof b. Lauf, ein unbeschwertes Leben genießt und sich dabei der Lektüre antiker Texte widmet. Überlieferung. Hsl. Vorarbeiten und die Druckvorlage verzeichnet Holzberg, 1981, S. 302 f. Druck. Dialogi Platonis, | Axiochus, vel de morte. | Eryxias, vel de diuicijs. | De Iusto | Num virtus doceri possit. | Demodocus, vel de consultando. | Sisyphus, sive de consulendo. | Clitophon, seu admonitorius. | Definitiones Platonis. | Bilibaldo Pirckheyme⫽|ro Interprete. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1523. VD 16, P 3328. Dt. Übersetzungen des Briefes an Adelmann erschienen 1648 u. 1758; vgl. Holzberg, 1981, S. 311.

l) Plutarch, ‘Über die Beherrschung des Zorns’, ‘Über die Geschwätzigkeit’ und ‘Über die Neugier’ (1523).

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Pirckheimer, Willibald

Die drei Vorreden zu den moralphilosophischen Abhandlungen ⫺ sie sind an Kf. Friedrich d. Weisen von Sachsen, B. Konrad von Würzburg und Graf Ulrich von Helfenstein gerichtet (Br. 766⫺768) ⫺ bestehen überwiegend aus Huldigungen und enthalten keine Stellungnahme zu aktuellen Tagesthemen. Druck. Plutarchus Chae⫽|roneus | De compescenda Ira. | De Garrulitate. | De Curiositate. | De iis qui sero nu⫽|mine corripiuntur. | De vitanda Vsura. | Bilibaldo Pirckheyme⫽|ro Interprete. […]. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1523. VD 16, P 3589.

m) Ptolemaios, ‘Geographische Anleitung’ (30. März 1525). Anknüpfend an Arbeiten des Regiomontanus bietet P. eine gegenüber der Übersetzung Iacopo Angelis (ca. 1406⫺1410) erheblich verbesserte Version der Anleitung zum Kartenzeichnen. Die Vorrede an B. Sebastian J Sprenz von Brixen (Br. 869) handelt überwiegend von den Schwierigkeiten der Arbeit an Text und Übersetzung. Drucke. Claudii Pto|lemaei Geo|graphicae | Enarrationis | Libri Octo | Bilibaldo Pirckeym| hero Interprete | Annotationes Ioannis De Regio Monte | in errores commissos a | Iacopo Angelo| in translatione sua. Straßburg: Joh. Grüninger, 1525. VD 16, P 5211. Mit dem Kartenanhang der Ausg. d. Lorenz J Fries. Zahlreiche weitere Drucke in Lyon 1535 u. 1541, in der ‘Geographia universalis’ Sebastian Münsters (1540 u. ö.), in den Ausgaben d. Jos. Moletius (1562 u. 1564) u. Gerhard Mercators (1584 u. ö.); vgl. Holzberg, 1981, S. 328 f.

n) Theophrast, ‘Charaktere’, griech. und lat. (Herbst 1527): P. vergleicht in der Vorrede an Albrecht Dürer (Br. 1127) die entfesselten Leidenschaften, welche Theophrast schildere, mit Äußerungen der Zügellosigkeit in der eigenen Zeit; die Anspielung auf Schwärmer und Radikale innerhalb der evangelischen Bewegung ist unverkennbar. Druck. Θεοφρα/|στου Xα|ρακτηρε . | Cum interpretatione Latina | per Bilibaldum Pirckeym⫽|herum, iam recens aedita. Nürnberg: Joh. Petreius, 1527. VD 16, T 929.

o) Gregor von Nazianz, Reden 4 u. 5 (Sommer 1528)

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In der Vorrede an Graf Hermann von Neuenahr (Br. 1176) sagt P. u. a., er sehe von den antichristlichen Greueltaten eines Mannes wie Ks. Julian ⫺ gegen ihn sind die beiden Reden gerichtet ⫺ auch die gegenwärtigen Zeiten bedroht; vgl. B.1.i. Drucke. Beati Grego⫽|rij Nazanzeni theo⫽| logi orationes duae | Iulianum Caesa⫽|rem infamia | notantes. | Bilibaldo Pirckheymhero Caesa⫽|reo consiliario interprete. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1528. VD 16, G 3081. Ein weiterer Druck gemeinsam mit Gregor-Übersetzungen von Rufinus und Petrus J Mosellanus, [Köln: Euch. Cervicornus, um 1530]. VD 16, G 3020.

p) Gregor von Nazianz, Rede 2 (Frühjahr 1529). P. macht in der Widmungsepistel an Ulrich J Zasius (Br. 1215) deutlich, daß er den Text der Rede, in der Gregor sich ausführlich über die Bedeutung des Seelsorgeamtes äußert, als Widerlegung derjenigen liest, die in Nürnberg die Wiederverheiratung der Geistlichen befürworten; vgl. B.1.i. Überlieferung. PP 337 u. 364 U. 2, Nr. 1 (Druckvorlage). Drucke. Beati | Gregorii Na|zanzeni de officio | Episcopi Oratio. | Bilibaldo Pirckeymhero Consilia⫽|rio Caesareo Interprete. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1529. VD 16, G 3073. Ein weiterer Einzeldruck Nürnberg: Joh. Petreius, 1529. VD 16, G 3074.

q) Maximos Confessor, ‘Asketische Abhandlung’ (1530). Der Übersetzung des Textes, eines Gesprächs zwischen einem Abt und einem jungen Mönch über die Pflichten und Aufgaben eines Nachfolgers Christi, geht keine Widmungsepistel voraus. Druck. Beati Ma/|ximi Confessoris, Antiquis⫽|simi sane`, et (ut apparet) eruditißimi Theolo⫽|gi, de incarnatione uerbi, tum caeteris ad | pietatem conducentibus quaestio⫽|nibus dialogus. | Interprete Bilibaldo Birckheimero […]. Nürnberg: Joh. Petreius, 1530. VD 16, M 1664.

r) Gregor von Nazianz, Reden 3⫺26, 32⫺34, 36⫺45, Briefe 101, 102, 202, 243 und Gedicht 1.2.3 (1517⫺1530). Der Ausgabe ist eine Würdigung von Leben und Werk P.s durch Erasmus (Op. epist., Nr. 2493, und Pirckheimer-Br., Bd. 7, S. 445⫺449) vorausgeschickt; vgl. B.1.i.

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Pirckheimer, Willibald

Drucke. D. Gregorii Na/|zianzeni Orationes XXX, Bilibaldo | Pirckheimero interprete, nunc primum editae […] cum alijs quibusdam […]. Basel: Joh. Froben, 1531. VD 16, G 3082. Zwei NDe, ergänzt um Übersetzungen weiterer Reden und Briefe Gregors, 1532 u. 1550; danach wurde nur Rede 43 noch im Rahmen von Basileios-Ausgaben gedruckt; vgl. Holzberg, 1981, S. 361 f.

s) Xenophon, ‘Griechische Geschichte’ (1517⫺1530). Die Übersetzung der ‘Hellenika’ wurde von Thomas Venatorius posthum hg. und erschien erstmals 1534 in einem Sammelband. Überlieferung. Autographe Entwürfe und Fragmente einer Reinschrift bei Holzberg, 1981, S. 363 f. Drucke. Xenophontis Phi|losophi Et Historici Clarissimi Ope|ra, partim Graecorum exemplarium collatione recognita, par⫽|tim a` uiris doctissimis iam pridem latinitate dona⫽|ta. Basel: Andr. Cratander, 1534. VD 16, X 11. S. 375⫺487; zwei NDe in Basel 1545 in lat. Xenophon-Gesamtausgaben, die in Basel je zweimal wiederaufgelegt wurden; ferner in einer Lyoner lat. Werk-Ausgabe und drei Drucke im Rahmen der griech.-lat. Opera in Genf; der Erstdruck diente Hieronymus Boner als Vorlage seiner dt. Übersetzung (1540); vgl. Holzberg, 1981, S. 369 f.

2. Deutsche Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen. Sie entstanden vermutlich zwischen 1513 und 1517 und sind in mehreren Handschriften erhalten. Gedruckt wurde zu Lebzeiten P.s nur ‘An Demonikos’ (B.2.b), während nach seinem Tode zunächst die ‘Sentenzen’ des Neilos sowie die kleine Schrift des Johannes von Damaskus (s. o. B.1.e) in einem Einzeldruck (B.2.a) und dann sämtliche Texte im ‘Tugendbüchlein’ erschienen. a) Neilos, ‘Sentenzen’ und Johannes von Damaskus, ‘Über die acht Geister der Schlechtigkeit’ (s. B.1.e). Überlieferung. London, BL, Ardl. ms. 503 (⫽ L), 1r⫺20 v; Wolfenbüttel, HAB, Cod. 98.12. Theol. 4° (⫽ W), 1r⫺28 v; Nürnberg, StB, Cent V App. 76 8° (⫽ N), 50 r⫺76 v. Drucke. Vil schoner spruch | des heyligen Bis/|schoues vnd Marterers. S. | Nili / zu˚ Gottes furcht | vnd zucht der jugent | seer nutzlich. | Durch hern Willibaldum Pirckheymer / aus | Krichischer sprach ins Deudsch gepracht·|·1536.

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Nürnberg: Hier. Andreae, 1536 (nicht in VD 16; benutztes Ex.: Nürnberg, StB, 2 bei Theol. 568 8°); ‘Tugendbüchlein’, S. 14⫺45.

b) Ps.-Isokrates, ‘An Demonikos’ (Sammlung von Lebensregeln für einen jungen Mann). Überlieferung. L, 20 v⫺38 r; W, 28 v⫺53 r; N, 77 r⫺100 v. Drucke. Ein nutzbar vnderwey⫽|sung des hochberumbten redners | Jsocratis zu˚ einem jungenn De⫽|monicus genant. durch herr | Wilwolt Birckhaimer | auß kriechischer sprach | in das teutsch | getzogen. Augsburg: [Sigm. Grimm u. Marx Wirsung], 1519. VD 16, I 501; ‘Tugendbüchlein’, S. 69⫺89.

c) Isokrates, ‘An Nikokles’ (Ermahnungen an einen jungen Fürsten). Überlieferung. PP 1 (Entwurf); L, 38 v⫺59 r; W, 53 v⫺80 v Druck. ‘Tugendbüchlein’, S. 89⫺111.

d) Plutarch, ‘Wie man von seinen Feinden Nutzen erlangen kann’ (moralphilos. Abhandlung). Mit einer übersetzungstheoretischen Vorrede an Johann von D Schwarzenberg (Br. 453). Überlieferung. PP 201 (nur Entwurf z. Übers.); L, 59 v⫺80 v; W, 81r⫺108 v Druck. ‘Tugendbüchlein’, S. 112⫺136.

e) Sallust, ‘De coniuratione Catilinae’ 1,1⫺3,1 (Vorrede). Überlieferung. L, 96 r⫺97 v; W, 128 r⫺130 r. Druck. ‘Tugendbüchlein’, S. 153⫺155.

f ) Cicero, ‘De officiis’ 1,25,85⫺87 (zur Staatslenkung). Überlieferung. PP 55 (Entwurf ). Druck. ‘Tugendbüchlein’, 156⫺158.

C . P ro sa sc hr if te n. 1. Ikonographisches. ‘Beschreibung deß Triumphwagens, welchen zu Ehren Keyser Maximiliani erfunden hat Bilibald Pirckeymer’ (1518/1522). Ikonographischer Kommentar (dt.) zu Albrecht Dürers Holzschnitt, zuerst in einem Brief an Maximilian ([Frühjahr 1518]; Br. 530), in überarbeiteter Form 1522 (dt.) und 1523 (lat.) mit dem ‘Triumphwagen’ gedruckt.

479

Pirckheimer, Willibald

Drucke. Albrecht Dürer, ‘Großer Triumphwagen’, Nürnberg 1522, Bl. Cr⫺Hrb. 7 weitere Drucke mit dt. oder lat. Text bis 1600; verzeichnet bei Th. Schauerte, in: R. Schoch / M. Mende / A. Scherbaum, A. Dürer, Das druckgraph. Werk, Bd. 2, 2002, Nr. 257 (mit Faksimile); ‘Tugendbüchlein’, S. 169⫺176 (dt.) u. 163⫺168 (lat.); ‘Opera’, S. 172⫺175 (lat.);. Abdruck. Eckert/Imhoff, S. 173⫺177. Ausgabe. Br. 530 (mit Angabe weiterer Abdrucke).

2. Satirisches. a) Lateinisches Schreiben eines Dominikanermönchs an seinen Oberen (Nov. 1518). Brief im Stil der J ‘Epistulae obscurorum virorum’. Überlieferung und Ausgabe. Br. 567.

b) ‘Dialogus Charitatis et Veritatis’ (Jahreswende 1518/19). P. führt Sorgen, die Caritas sich um ihn gemacht hat, ad absurdum. Überlieferung. PP 286 u. 344 (Autographen) Ausgabe. Br. 572. Übersetzung. Eckert/Imhoff, S. 180⫺183.

c) (Autorschaft wahrscheinlich) ‘Eckius dedolatus’ (Frühjahr 1520). Mimetischer Dialog in mehreren Szenen, deren letzte die ‘Enteckung’ darstellt: Eck wird durch Prügel, Enthäutung, Purgation, Brennen, Schneiden und anschließende Kastration von allen seinen Dunkelmännerlastern befreit. Erstdruck. Eccius dedo|latus authore Joan| nefrancisco Cotta|lembercio Poe⫽|ta laureato. [Erfurt: Matthes Maler, 1520]. VD 16, C 5587; mit Titelvariante Cotta | Lembergio C 5588. Weiterer Druck: Eccivs | dedolatvs av|tore Ioannefrancisco | Cottalembergio | Poeta Lau⫽|reato. Holzschnitt: 1519. [Schlettstadt: Lazarus Schürer, 1520]. Ausgaben. S. Szamato´ lski, Eckius dedolatus (Lat. Litt.denkmäler d. XV. u. XVI. Jh.s 2), 1891; N. Holzberg, Eckius dedolatus. Der enteckte Eck. Lat./dt., 1983.

d) Fortsetzung zum ‘Eckius dedolatus’ (ca. Sept. 1520; unvollendet). Überlieferung. PP 141 (Autograph). Komm. Textabdruck mit Übers.: J. Schlecht, P.s zweite Komödie gegen Eck, Hist. Jb. 21 (1900) 402⫺413.

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e) Lateinisches Gespräch Jacobus J Hoogstraetens mit zwei Freunden (um 1520). Thema ist ein Schmähbrief Luthers gegen Hoogstraeten (unvollendet). Überlieferung. PP 108 (Autograph).

f) ‘Literae cuiusdam e Roma’ (Ende 1520). An P. adressiertes fiktives Schreiben eines Geistlichen, in dem es um die Reuchlin-Affäre, die Bannangelegenheit und Eck geht; unvollendet. Überlieferung. PP 403 (Autograph). Ausgabe. Br. 743.

g) ‘Apologia seu podagrae laus’ (1522). Paradoxes Enkomion auf die Gicht, die P. genügend Muße für geistige Tätigkeit läßt. Drucke. Apologia Seu | Podagrae | Laus. | Bilibaldo | Pirckeymhero | Authore. Nürnberg: Friedr. Peypus, 1522. VD 16, P 2900. Zu den 14 weiteren Drucken (1529⫺1676) sowie modernen Abdrucken s. Winter, Ausg., 1997, S. 23⫺25, 29⫺ 37. Ausgaben. W. Kirsch, Apologia seu Podagrae Laus. Verteidigungsrede oder Selbstlob d. Gicht, 1988 (dt. u. lat.); U. Winter, Apologia seu Podagrae Laus. Verteidigungsrede oder Lob d. Fußgicht. Einl., Text, Übers., Wortindex, Diss. Eichstätt 1997; ders., ‘Apologia seu Podagrae Laus’. Ein Komm. (Beih. z. Euphorion 43), 2002 (Text u. Komm.).

h) (Zuweisung zweifelhaft) ‘Eccius Philargyrus sive avarus Vicencio Cursitano Achaico autore. Dialogus’ (Jan./Feb. 1523). Überlieferung. PP 407 (anonyme Abschrift). Komm. Textabdruck mit Inhaltsparaphrase: J. P. Wurm, Der ‘Eccius Philargyrus sive avarus’ v. 1523. W. P.s dritte Komödie gegen J. Eck, MVGN 83 (1996) 33⫺55.

i) (Zuweisung zweifelhaft) ‘Propositiones de vino, Venere et balneo’ (1530). Satirische Thesen gegen Eck. Überlieferung. Breslau, UB, IV 8° 45. Textabdruck (Auszug): G. Kawerau, Ueber eine angeblich verschollene Spottschr. gegen J. Eck v. Augsburger Reichstage 1530, Beitr. z. bayer. Kirchengesch. 5 (1899) 128⫺134.

j) (Zuweisung zweifelhaft) ‘Eckii dedolati ad Caesaream maiestatem magistralis oratio’ (1530).

481

Pirckheimer, Willibald

Druck. Eckii De/|dolati Ad Caesaream | maiestatem magistralis Oratio. o. O., Dr. u. J. ([um 1530]. VD 16, E 485. Ausgabe. Szamato´ lski (s. o. C.2.c), S. 44⫺ 52.

3. Theologisches. a) ‘Dissertatio sive aœnaskeyh¡ historica et philologa, de Maria Magdalena, quod falso a quibusdam habeatur pro illa peccatrice seu po¬rnñ’ (ca. 1512⫺17). Polemik gegen die Gleichsetzung der in Lc 8, 2 und Io 20, 17 genannten Maria Magdalena mit der gleichnamigen Frau in Lc 7, 36 ff.; nach einer nicht erhaltenen Hs. abgedruckt in ‘Opera’, S. 220 f. b) Lat. Dialog zwischen einem Geistlichen und P. (nicht vor 1521). Gespräch über Bibellektüre und Luther. Überlieferung. PP 107 (Autograph). Abdruck. Br., Bd. 5, S. 491⫺493.

c) Lateinisches Sendschreiben an Papst Hadrian VI. (April oder Okt. 1522). Offensichtlich nicht zum Abschicken bestimmte Darlegung von P.s Ansicht über den Zusammenhang zwischen den Aktivitäten der Reuchlin-Gegner und der Entstehung von Luthers Bewegung; nur hsl. (PP 20, Autograph); jetzt Br. 765. d) ‘De persequutoribus evangelicae veritatis, eorum consiliis et machinationibus’ (ca. 1524). Pro-lutherische Schrift im Geist der vorreformatorischen Polemik gegen spätscholastische Theologen. Überlieferung. PP 23 (Autograph). Abdruck. ‘Opera’, S. 385 f.

e) Drei lat. Schriften, in denen P. sich mit der Abendmahlslehre des Johannes Oecolampadius auseinandersetzt (1526⫺ 1527). Drucke. Bilibaldi | Birckheimheri De Vera | Christi carne & uero eius san|guine, ad Ioan. Oecolam⫽|padium responsio. Nürnberg: Joh. Petreius, 1526. VD 16, P 2915 (vgl. VD 16, P 2916: […] responsio | Denuo recognita [...]). ⫺ [...] De | uera Christi carne & | uero eius sanguine, ad⫽| uersus conuicia Ioannis, | qui sibi Oecolampadij | nomen indidit, re⫽|sponsio secunda. Ebd. 1527. VD 16, P 2917. ⫺ [...] De Convitiis | Monachi illius, qui graecolati⫽|ne Caecolampadius, ger-

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ma⫽|nice uero Ausshin nuncupa|tur, ad Eleutherium su⫽|um epistola. Ebd. 1527. VD 16, P 2903. Ausgabe. Br., Bd. 6, S. 435⫺502 (responsio); Br., 7, Bd. 7, S. 510⫺588 (responsio secunda); Br. 1121 (De convitiis ...).

f ) (Autorschaft wahrscheinlich) ‘Propositiones contra digamiam episcoporum’ (1528). 28 Thesen gegen die Wiederverheiratung eines Geistlichen. Weitere (vermutlich) von P. verfaßte ‘Propositiones’ befinden sich in Abschrift in PP 89 u. 90 (unveröffentlicht). Drucke. In: De Di⫽|gamia Episcopo⫽|rum Propositiones Mar|tini Lu⫽|theri. | [...]. Wittenberg: [Hans Lufft], 1528. VD 16, ZV 10020. Zwei weitere Drucke mit Luthers Schrift in Nürnberg 1528 (VD 16, ZV 10021⫺22) sowie ein Druck mit anonymen Gegenthesen (von Andr. Osiander u. Linck): [ebd. 1528]. VD 16, ZV 12497. Ausgabe. Luther, WA, Bd. 16, S. 517⫺519.

g) ‘Oratio apologetica monialium nomine scripta a Bilibaldo, qua vitae ac fidei ipsarum ratio redditur et aemulorum obtrectationibus respondetur petiturque, ne per vim e monasterio extrahantur’ (1529). Schutzschrift für die Nonnen des Klaraklosters in Nürnberg. Überlieferung. PP 22, 155 f.; PP 364 U. 18 (Autographen) Abdruck. J. Pfanner, Briefe von, an u. über Caritas P. (aus d. J. 1498⫺1530). Im Anhang: Die Schutzschr. W. P.s f. d. Klarakloster, 1966, S. 286⫺ 303; H. Scheible, Oratio apologetica ..., Neulat. Jb. 2011 (im Druck).

4. Historisches und Verwandtes. a) ‘De origine, antiquitate et eversione atque instauratione urbis Treuerensis’ (ca. 1512). Abhandlung über die Geschichte Triers (unvollständig überliefert). Abdruck nach einer nicht erhaltenen Hs.: ‘Opera’, S. 93 f.

b) ‘Bellum Helveticum’ (ca. 1517 begonnen; unvollendet). In Anlehnung an die Darstellungsweise von Xenophons ‘Anabasis’ und Caesars ‘Commentarii’ verfaßte Monographie über den Krieg Kg. Maximilians gegen die Eidgenossen (1499), an dem P. als Feldobrist teilnahm.

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Pirckheimer, Willibald

Überlieferung. London, BL, Ardl. ms. 175, Bl. 93⫺120 (Autograph); Abschriften ebd., Bl. 39 r⫺79 v; PP 363. Ausgaben. K. R¸ck, W. P.s Schweizerkrieg. Nach P.s Autographum im Brit. Museum. Beigegeben ist d. bisher unedierte Autobiographie P.s, die im Arundel-Ms. 175 d. Brit. Museums erhalten ist, 1895; W. Schiel, Der Schweizerkrieg. Mit einer hist.-biograph. Stud. hg. Übers. v. E. Münch, 1988; F. Wille, Der Schweizerkrieg ⫺ De bello Suitense sive Eluetico. In lat. u. dt. Sprache. Neu übers. u. komm., 1998.

c) ‘Cl. Viri, D. Bilibaldi Pirckheymheri, Senatoris quondam Nurenbergensis, Vita’ (ca. 1527). Autobiographie, in der P. von sich in der 3. Person spricht. Überlieferung. London, BL, Ardl. ms. 175, 21r⫺24 v (Autograph). Abdruck. R¸ck (s. o. C.4.b), S. 139⫺152. Übersetzungen. Eckert/Imhoff, S. 124⫺ 137 (komm.); W. Trillitzsch, Der dt. Renaissance-Humanismus, 1981, S. 338⫺351.

d) ‘Germaniae ex variis scriptoribus perbrevis explicatio’ (Aug. 1530). Ein (weitgehend geglückter) Versuch, die bei antiken Historikern und Geographen genannten Namen von Städten, Flüssen und Gebirgen des alten Germanien mit den zur Zeit P.s gebräuchlichen Bezeichnungen zu identifizieren; die Vorrede ist an Hermann von Neuenahr gerichtet (Br. 1304). Drucke. Ger⫽|maniae ex vari⫽|is scriptoribus explicatio. | Authore Bilibaldo Pirckeymero | consiliario Caesareo. Augsburg: Heinr. Steiner 1530. VD 16, P 2905 u. 2906. Fünf weitere Drucke: Nürnberg 1530, Nürnberg 1532, Frankfurt a. M. 1532, Basel 1542, Wittenberg 1571. VD 16, P 2908, 2904, 2907, ZV 25226, P 2911 (vgl. auch Br., Bd. 7, S. 373).

e) ‘Priscorum numismatum ad Nurenbergensis monetae valorem facta aestimatio’ (ca. 1530). Eine der frühesten gedruckten Abhandlungen zur Numismatik. P. versucht darin, den Wert antiker Münzen durch die zu seiner Zeit in Deutschland und speziell in Nürnberg gültige Währung zu bestimmen. Dem von Andreas Rüttel hg. Druck sind Schriften anderer Humanisten zu Maßen, Gewichten und Münzen beigegeben.

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Druck. Prisco⫽|rum Numismatum Ad Nuren|bergensis Monetae ualorem fa⫽|cta aestimatio. | Bilibaldo Pirckeymhe⫽|ro Patricio Nurenbergen. | &c. Authore. […]. Tübingen: Ulrich Morhart d. Ä., 1533. VD 16, P 2913 (vgl. ebd., ZV 23185). Mit Schriften Andrea Alciatis, Guillaume Bude´s und Melanchthons.

D . G ed ic ht e. Wie die anderen Humanisten seiner Epoche verfaßte P. immer wieder Gelegenheitsgedichte (überwiegend in lat., gelegentlich in dt. u. griech. Sprache), die poetisch größtenteils (besondere Ausnahme: die Grabelegie für Albrecht Dürer) kein allzu hohes Niveau haben. Im folgenden wird nur auf einige von ihnen hingewiesen. a) Lat. Gelegenheitsgedichte aus der Studienzeit (1491 und später): 11 Gedichte in elegischen Distichen. Vgl. zu Gedichten aus dem Nachlaß, deren Zuweisung an P. nicht gesichert ist, Holzberg, 1981, S. 47 f. Überlieferung. PP 339 (c. IV, Autograph); PP 364 U. 10 Nr. 6 (c. VIII u. IX, Autograph). Abdruck. Br., Bd. 1, S. 31⫺42.

b) Lat. Grabgedicht für den Vater († 3. Mai 1501) in 7 Dist.; nach einer nicht erhaltenen Hs. abgedruckt in: Br., Bd. 1, S. 72. c) Griech. Distichon über D Hrotsvit von Gandersheim in den ‘Amores’ des Konrad Celtis (1501); s. Holzberg, 1981, S. 95 (mit Abdruck). d) ‘We euch ir munch und nunen […]’ (ca. 1524). Polemik gegen die Abwertung der guten Werke gegenüber dem Glauben in 8 Strr. (ababcc mit Refrain dd). Überlieferung. PP 148 (Autograph). Abdrucke. G. E. W. Waldau, Einige Reime v. W. P.n, Vermischte Beytr. z. Gesch. d. Stadt Nürnberg 1 (1786) 247⫺254, hier S. 250f.; Eckert/Imhoff, S. 313 f.

e) ‘Elegia Bilibaldi Pirckeymheri in obitum Alberti Dureri’ (nach d. 6. April 1528): 17 Dist. Überlieferung. London, BL, Ardl. 175, 25r. Erstdruck in Dürers ‘Lehre von menschlicher Proportion’, Nürnberg 1528, VD 16, D 2859, Bl. 131.

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Pirckheimer, Willibald

Abdrucke. H. Rupprich, P.s Elegie auf d. Tod Dürers, Anzeiger d. Phil.-Hist. Kl. d. Österr. Akad. d. Wiss. 93, 1956, S. 136⫺150 (mit Übers.); Eckert/Imhoff, S. 115⫺118; Br., Bd. 7, S. 29⫺33.

f ) ‘Ist es nit ein sonder Plag von Gott’ (1527/28). Schmähgedicht gegen Andreas Osiander und Lazarus Spengler im Zusammenhang mit dem Nürnberger Streit um die Wiederverheiratung von Geistlichen (Reimpaare). Überlieferung. PP 510, 1 (Autograph). Abdruck. Waldau (s. o. D.d), S. 251⫺254.

E . B ri ef e. P. korrespondierte mit nahezu allen bekannten und weniger bekannten Humanisten in Mitteleuropa. Von seiner Korrespondenz sind etwa 1500 Stücke erhalten. Ausgabe. Pirckheimer-Br., 7 Bde., 1940⫺2009.

I II . Wir ku ng . Von allen Werken P.s wurden außer der ‘Apologia seu podagrae laus’, die neben Erasmus’ ’Morias encomium’ das erfolgreichste paradoxe Enkomium der Neuzeit war (Winter, Ausg., 1997, S. 23⫺37), lediglich die lat. Übersetzungen bis ins 17. Jh. hinein rezipiert. Viele von ihnen erlebten mehrere Auflagen in Einzel- und Sammeleditionen, einige dienten dt. und frz. Übersetzungen als Vorlagen. Genaue Nachweise bietet Holzberg, 1981. Literatur. Bibliographie: Holzberg, 1981, S. 462⫺80 (s. auch d. Forschungsbericht S. 11⫺ 28); die hier vorgelegte Auswahl der dort genannten Lit. berücksichtigt nur das Wichtigste. R. Hagen, W. P. in seinem Verhältnis z. Humanismus u. z. Reformation, MVGN 4 (1882) 61⫺211; P. Drews, W. P.s Stellung z. Reformation. Ein Beitrag z. Beurteilung d. Verhältnisses zwischen Humanismus u. Reformation, 1887; A. Reimann, P.-Stud., Buch I u. II, Diss. Berlin 1900; E. Rosenthal, Dürers Buchmalereien f. P.s Bibl., Jb. d. preuß. Kunstslg.en 49 (1928) Beih., S. 1⫺54; E. Reicke, W. P. Leben, Familie u. Persönlichkeit (Dt. Volkheit 75), 1930; H. Rupprich, W. P. u. die erste Reise Dürers nach Italien, 1930; E. Offenbacher, La Bibliothe`que de W. P., La Bibliofilia 40 (1938) 241⫺ 263; A. Reimann, Die älteren P., Gesch. eines Nürnberger Patriziergeschlechtes im Zeitalter d. Frühhumanismus (bis 1501), 1944; H. Rupprich, W. P., Beitr. zu einer Wesenserfassung, Schweizer

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Beitr. z. Allg. Gesch. 15 (1957) 64⫺110; ders., Dürer u. P., Gesch. einer Freundschaft, in: Albrecht Dürers Umwelt. Fs. z. 500. Geb. A. Dürers (Nürnberger Forsch. 15), 1970, S. 78⫺100; W. P. Eckert / Ch. v. Imhoff, W. P., Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke u. seiner Umwelt, 1971, erweitert 21982; W. P. Fuchs, W. P., Jb. f. fränk. Landeskunde 31 (1971) 1⫺18; W. Maurer, Humanismus u. Reformation im Nürnberg P.s u. Dürers, ebd., S. 19⫺34; N. Holzberg, W. P., Griech. Humanismus in Dtld., 1981; M. Kunzler, Bilibaldi Birckheimheri Responsio. Ein Beispiel humanist. Eucharistieauffassung im 16. Jh., Trierer Theol. Zs. 90 (1981) 289⫺304; N. Holzberg, Zum Problem d. Verfasseridentifizierung: Der ‘Ekkius dedolatus’ ⫺ ein Werk W. P.s?, in: D. Peschel (Hg.), Germanistik in Erlangen, 1983, S. 127⫺141; E. Bernstein, W. P. u. Ulrich v. Hutten: Stationen einer humanistischen Freundschaft, P.-Jb. 4 (1988) 11⫺36; H. Bˆhme, W. P. u. Nürnberg. Stadthumanismus als Erbe u. Herausforderung, in: A. Mehl / W. Ch. Schneider (Hgg.), Reformatio et reformationes. Fs. f. L. Graf z. Dohna z. 65. Geb., 1989, S. 195⫺248; B. Hamm, Humanist. Ethik u. reichsstädt. Ehrbarkeit, MVGN 76 (1989) 65⫺147; B. Trautner, W. P. (1470⫺1530) u. C. Peutinger (1465⫺1547) ⫺ zwei reichsstädt. Bürger u. Humanisten in Süddtld., ebd. 5 (1989/90) 109⫺39; H. Brunner, Johann v. Soest, W. P. ⫺ zwei Fallstud., in: W. Haug / B. Wachinger (Hgg.), Autorentypen, 1991, S. 89⫺103; B. Kˆnnecker, Satire im 16. Jh. Epoche ⫺ Werke ⫺ Wirkung, 1991, S. 156⫺ 168 u. ö. (Reg. S. 266 u. 268); N. Holzberg, W. P., in: F¸ssel, Dt. Dichter, S. 258⫺269; M. Scharoun, ‘Nec Lutheranus neque Eckianus, sed christianus sum’. Erwägungen zu W. P.s Stellung in d. reformator. Bewegung, P.-Jb. 8 (1993) 107⫺147; N. Holzberg, Möglichkeiten u. Grenzen humanist. Antikerezeption: W. P. u. Hans Sachs als Vermittler klass. Bildung, ebd. 10 (1995) 9⫺29; M. Scharoun, W. P. u. Ch. Scheurl. Beobachtungen z. Ambivalenz einer humanist. Freundschaft im Spannungsfeld d. beginnenden Reformation, in: St. F¸ssel / G. H¸bner / J. Knape (Hgg.), Artibus. Fs. f. D. Wuttke z. 65. Geb., 1994, S. 179⫺196; E. Lippe-Weissenfeld Hamer, Virgo docta, virgo sacra ⫺ Unters. z. Briefwechsel Caritas P.s, P.-Jb. 14 (1999) 121⫺155; Th. U. Schauerte, Die Ehrenpforte f. Ks. Maximilian I. (Kunstwiss. Stud. 95), 2001, S. 69, 79 f., 95 f. u. ö. (Reg.); N. Holzberg, Zwischen biographischer u. literarischer Intertextualität: W. P.s Apologia seu Podagrae laus, P.-Jb. 21 (2006) 45⫺61; H. Scheible, W. P.s Persönlichkeit im Spiegelbild seines Br.s am Bsp. seines Verhältnisses zum Klosterwesen, edb., S. 73⫺88; H. Wiegand, W. P.’s Bellum Helveticum u. d. antike historiographische Tradition, ebd., S. 63⫺72; D. Paisey, Searching for P.’s books in the remains of the

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Piscator, Hermannus

Arundel Library in the Royal Society, P.-Jb. 22 (2007) 159⫺218; H. Scheible, W. P. als praktizierender Jurist, P.-Jb. 25 (2010) 339⫺367.

Niklas Holzberg

Piscator (-is; Ang-/Engler, Ange-/Engeler; Hamiota), Hermannus I . L eb en . P. wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s in Mainz geboren. Er dürfte der Sohn der Mainzer Eheleute Jakob und Katharina Engeler sein, die 1513 in P.s Kloster St. Jakob in die Konfraternität der Bursfelder Kongregation aufgenommen wurden. Um 1517 wird er im Gegensatz zu dem damals ungefähr 65jährigen Petrus J Sorbillo als iuvenis bezeichnet. 1500 oder 1501 legte er im Benediktinerkloster St. Jakob bei Mainz, einem mittelrheinischen Zentrum der Reform von Bursfelde, die Profeß ab. 1505 oder 1506 wurde er zum Priester geweiht, 1510 ist er als Novizenmeister bezeugt. P. gehört zum humanistischen Kreis rheinischer Benediktinermönche um den Sponheimer Abt Johannes J Trithemius, den er persönlich kannte. Daneben ist sein Umfeld vor allem über Petrus Sorbillo aus dem Kloster Johannisberg im Rheingau zu fassen. Dazu gehören insbesondere auch der Klosterbibliothekar Wolfgang J Trefler in P.s Heimatkloster St. Jakob sowie der Prior Johannes J Butzbach und Jacobus J Siberti in der Abtei Laach. P. starb am 6. April 1526. I I. We rk . Bis zur Wiederauffindung der beiden Hauptwerke P.s (s. II.A. u. B.) in den späten 1980er Jahren war P. weitgehend unbekannt. Ihre Erforschung förderte “gundlegendes” Material “zur Klosterkultur des SpätMAs im Einzugsbereich des frühen Humanismus” zutage (K¸hlmann). 1. Brieftraktat über den Ursprung von Mainz und das römische Altertum. P. verfaßte den Brieftraktat, der in der hsl.en Überlieferung rund 50 Quartseiten einnimmt, als Antwort auf einen weit kür-

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zeren Brieftraktat Petrus Sorbillos zu demselben Thema. Am Anfang stehen die Fragen nach der frühesten Geschichte von Mainz sowie nach den römischen Altertümern der Stadt und dabei insbesondere nach dem im Gebiet der ‘Zitadelle’ noch heute sichtbaren Eychelstein (Kenotaph Drusus’ d. Ä.). P. weitet die Fragestellung zu einer Erörterung über die Germania antiqua und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Deutschland aus. Indem er intertextuell an Werke Aeneas Silvius D Piccolominis, Heinrich J Bebels oder Johannes J Nauclerus’ anbindet, partizipiert er in signifikanter Weise am frühneuzeitlichen Diskurs über die deutsche Nation. Gleichzeitig greift er auf seinerzeit wiederentdeckte Autoren der Antike wie Tacitus zurück, so daß sich sein Brieftraktat “als ebenso thematisch aktueller wie eigenständiger und methodisch durchdachter Beitrag zur Literatur des deutschen Humanismus” (Goerlitz, Mainzer Antiquitas, S. 180) erweist. Überlieferung. Erhalten als vollständige (durch Herstellung formaler Bezüge zum nachfolgenden Text geringfügig bearbeitete) Einfügung in das ‘Chronicon’ P.s in den Chronik-Hss. H, M (mit Zeichnung des Drusiloch, Bl. 27 r, Abb. bei Goerlitz, Humanismus, S. 406) u. V, fragmentarisch auch in den Chronik-Fragmenten Ma1 u. dessen Vorlage W2 , in gekürzter dt. Übers. außerdem in der im ‘Chronicon Moguntinum Helwichii’ verwendeten Hs. *Ma2. Vgl. im Einzelnen unter II.B. Ausgabe. Wenige kurze Exzerpte aus der originalen Brieffassung bei N. Serarius, Moguntiacarum rerum [...] libri quinque, Mainz 1604 (erw. Neuaufl.: G. Chr. Joannis [Hg.], Rerum Moguntiacarum vol. III., Frankfurt a. M. 1727), I 6, 12 u. 15 (mit Abb. des röm. Monuments In Drusenloch olim wie in M u. des von Serarius mit Piscator davon unterschiedenen Aichelstein[es], Abb. bei Goerlitz, Humanismus, S. 412); Nachweise der Exzerpte ebd., S. 401 f. Vollst. Ausg. zusammen mit dem Brieftraktat Sorbillos an P. durch U. Goerlitz in Vorbereitung.

2. ‘Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis’. P.s Chronik, die den Zeitraum von den sagenhaften Anfängen von Mainz bis in die Entstehungszeit umspannt, entstand zwischen 1520 und 1526 und umfaßt in den sämtlich fragmentarischen Hss. bereits in

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Piscator, Hermannus

ihrem bis in das frühe 11. Jh. reichenden Teil, der vollständig überliefert ist, über 500 Quartseiten. Einem Grundinteresse humanistischer Historiographie entsprechend verbindet P. in ihr die Geschichte von Stadt und Bistum Mainz ab urbe condita mit einer in die Universalgeschichte eingebundenen deutschen Nationalgeschichte. Die Chronik setzt nach einem kurzen Prolog über das Interesse an der Geschichte mit einem Abschnitt De constructione vrbis Treueris, totius Europe (vt omnes sentiunt) antiquissima (Bl. 2 r⫺7 r) ein, in dem P. der Vorgeschichte von Mainz nachgeht. Es folgt ein Abschnitt De aureae nobilisque vrbis Moguntiacae electione primaria Drusilatioque et Eychelstein opiniones variae (Bl. 7 r⫺35 r), der sich aus den beiden Brieftraktaten Petrus Sorbillos (Epistola, Bl. 7 r⫺11r) und P.s (Epistola Responsiua, Bl. 11r⫺35 r) De Nobilis vrbis Moguntiaci primaeua constructione (Bl. 12 r) sowie der zutreffenden Opinio über das Mainzer Drususmonument (Bl. 23 r ) zusammensetzt (s. o. II.A.). Im folgenden zweiten Teil des ‘Chronicon’, der mit dem Ende der römischen Republik einsetzt, verfolgt P. die Geschichte der Stadt und sukzessive dann auch des Bistums Mainz nicht mehr nach Themen geordnet weiter, sondern in chronologischer, mehr oder weniger annalistischer Abfolge. Aufgrund der politischen bzw. kirchenpolitischen Bedeutung von Mainz greift er dabei weit in die Geschichte des Römischen Reiches und in die (Vor-)Geschichte Deutschlands aus. Im Bereich der Bistumsgeschichte gilt sein besonderes Interesse u. a. den Legenden der heiligen Mainzer Märtyrer Alban, Aureus und Justina des D Gozwin von Mainz aus dem 11. und des D Sigehard von St. Alban aus dem 13. Jh., durch deren Aufnahme in den Jahresbericht zu 460 n. Chr. er das annalistische Darstellungschema unterbricht (Bl. 102 v⫺169 v). Daß der Zusammenhalt des ‘Chronicon’ trotzdem gewährleistet ist, erreicht er durch die Einführung einer makrostrukturellen Gliederung, die zu seiner Zeit neu ist: P. teilt das Geschichtswerk von der Geburt Christi an

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in Jahrhunderte im Sinne der modernen Jahrhundertrechnung ein (centenarii, Abb. bei Goerlitz, Humanismus, S. 407), was in der abendländischen Historiographie nach ihm erst wieder mehr als dreißig Jahre später in der protestantischen Kirchengeschichte der ‘Magdeburger Zenturien’ begegnet (s. u. II.D.). Gleichzeitig rückt das frühe MA in den Fokus (vgl. Goerlitz, Humanismus, Graphiken S. 176 f., 184). Für dessen Darstellung zieht P. außer gängigen Chroniken eine Reihe wichtiger frühmal. Geschichtswerke heran, darunter sowohl seinerzeit erstmals gedruckte wie Einhards ‘Vita Karls des Großen’ (Köln 1521) oder die erst wiederentdeckte Chronik Reginos von Prüm (Mainz 1521) als auch ungedruckte wie die ‘Annales Fuldenses’ (‘Annales regni Francorum orientalis’). Zu seinen Hauptquellen gehören u. a. auch einschlägige Titel der humanistischen Historiographie wie die wegweisende mal. Geschichte des Flavius Blondus (‘Historiarum ab inclinatione Romani imiperii decades’) beziehungsweise des Blondus-Epitomators Aeneas Silvius Piccolomini. Zu P.s Quellen gehören aber etwa auch allgemein- und kirchengeschichtliche Werke, so die historiographischen Schriften des Johannes Trithemius, mit denen er sich teils sehr kritisch auseinandersetzte. Zu P.s historisch-philologischer Arbeitsweise und den von ihm herangezogenen Werken, unter denen sich auch einige sonst wenig bekannte von regionaler literaturgeschichtlicher Bedeutung befinden wie die von ihm partiell ins Lateinische übersetzte spätmhd. Erzählung vom D ‘Ursprung von Mainz’ (nach ca. 1335, bei P. Historia Teuthonica u. ähnl.) oder die humanistisch orientierte ‘Historia Maguntina’ des Johannes Hebelin von Heimbach aus dem Jahr 1500, Goerlitz, Humanismus, S. 165⫺382. Vgl. ergänzend: Dies., Facetten literarischen Lebens in Mainz zwischen 1250 u. 1500, in: M. Matheus (Hg.), Lebenswelten Gutenbergs (Mainzer Vorträge 10), 2005, S. 59⫺87, 189⫺214 (Lit.verz. d. gesamten Bd.es), hier bes. S. 67, 69⫺77, 82 f., 84⫺87; F. J. Felten, Mainz u. das frühmal. Königtum. Spuren ⫺ Erinnerungen ⫺ Fiktionen ⫺ und ihre Nutzanwendung, in: ders. / P. Monnet / A. Saint-Denis (Hgg.), Robert Folz (1910⫺1996) ⫺ Mittler zwischen Frankreich u. Deutschland (Geschichtl. Landeskunde 60), 2007, S. 51⫺96, hier bes. S. 80⫺90 mit Anm. 169 (beide

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Piscator, Hermannus

in Bezug auf den ‘Ursprung von Mainz’); U. Goerlitz, Aspekte d. Rezeption rhein. Gesch. am Beginn d. MAs in d. Gesch.schreibung d. 16. Jh.s, Geschichte in Köln 38 (1995) 15⫺28 (zu P.s Auseinandersetzung mit den Legenden der Heiligen Alban, Aureus und Justina u. mit Trithemius); dies., Wissen (zu Trithemius; zu P.s persönl. Bekanntschaft mit ihm vgl. außerdem dies., Humanismus, hier bes. S. 254 f. mit Anm. 298). Vgl. auch II.A.

Im Jahresbericht zu 1009 bricht der Text in der Überlieferung unvermittelt aufgrund eines Textverlustes ab. Für die Zeit bis 1518 haben sich Fragmente erhalten. Überlieferung. Das Folgende, ohne potentielle Zwischenglieder, nach Goerlitz, Humanismus, S. 103⫺163, u. ergänzend dies., Zu Überl. u. Rezeption d. Chronik d. H. P. Zwei Fassungen sind zu unterscheiden. Fassung *P1, 1520 bis mindestens 1521. Die Abschriften dieser Gruppe überliefern das ‘Chronicon’ P.s aufgrund eines Textverlustes, der bereits in der verlorenen Vorlage dieser Exemplare aufgetreten sein muß, jeweils vollständig nur bis zum Jahresbericht zu 1009 (Ausnahme: Hs. V, die aufgrund eines individuellen Textverlustes bereits im Jahresbericht zu 460 abbricht). Sie stammen alle aus dem unmittelbaren Umfeld der Magdeburger Zenturiatoren ⫺ sicher kannten die Chronik unter anderen bezeugten Gelehrten Hieronymus Wolf (H) u. Pfalzgraf Ottheinrich (M, *Y), bei dem überdies Matthias Flacius Illyricus als Cheforganisator der ‘Magdeburger Zenturien’ mit hoher Wahrscheinlichkeit 1555 ein Exemplar gesehen haben dürfte; vgl. unten, II.D. Erhaltene u. bezeugte Hss.: H: Halle/Saale, ULB Sachsen-Anhalt, Hs. Stolb.-Wernh. Zh. 69, Bl. 1r⫺217 r (Textumfang wie M, abgesehen von einem Lagenverlust zwischen den Bll. 143 u. 152; auf Bl. 10 v⫺30 v in das ‘Chronicon’ eingefügt der Brieftraktat P.s an Petrus Sorbillo [s. II.A]), um 1550; M: München, BSB, Clm 28200 (darin auf Bl. 11r⫺35 r in das ‘Chronicon’ eingefügt der Brieftraktat P.s an Sorbillo [s. II.A]; Abb. bei Goerlitz, Humanismus, S. 406 f.), Abschrift auf der Grundlage von wahrscheinlich *Y, dat. 1553 (“Ottheinrich-Band”) (zit.); V: Wien, ÖNB, Cod. 8996, Bl. 2 r⫺168 v (dort auf Bl. 8 r⫺ 27 r in das ‘Chronicon’ eingefügt der Brieftraktat P.s an Sorbillo [s. II.A.]; Abb. bei Goerlitz, S. 408⫺ 410, Abb. 3⫺5), um 1550; *Y: verlorene Hs. aus dem Besitz des Pfalzgrafen Ottheinrich. Fassung *P2, zwischen frühestens 1521 und spätestens 1526. Erhaltene Fragmente u. bezeugte Hss. dieser jüngeren bzw. End-Redaktion: W1: Würzburg, UB, M. ch. f. 67, Bl. 5 r⫺15 v, 16 v⫺32 v (a. 410 einsetzendes Fragm., wichtig für den Be-

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richtszeitraum v. 1009 bis 1518), Mainz, zwischen 1633⫺1674, “abschriftliche Auszüge aus ⫺ sehr wahrscheinlich direkt ⫺” *P2 (Goerlitz, Humanismus, S. 162); W2: Würzburg, Bayer. Staatsarch., Mz. Urk., Geistl. Schrank, L 68/100, Bl. 153 r⫺ 157 r, Mainz, Ende 16./Anf. 17. Jh., “Terminus ante quem möglicherweise 1604, Fragment vermutlich auf unmittelbarer Grundlage” von *P2 (Goerlitz, ebd., S. 163); Ma1: Mainz, StB, Hs. III 34, Bl. 151r⫺155 r, Mainz, “vermutlich Anfang 17. Jh.” (Goerlitz, ebd.), Abschrift v. W2; *Ma2: verschollen, Mainz, Kloster St. Jakob, Ende 16. Jh., gekürzte dt. Übers. “naheliegenderweise” von *P2 (Goerlitz, ebd.), mit Fortsetzung bis ca. 1597 (im 17. Jh. verwendet im sog. ‘Chronicon Moguntinum Helwichii’ des Mainzer Domvikars Georg Helwich, Pommersfelden, Graf von Schönborn’sche SchloßB., Hs. 286, Bl. 1r⫺11r u. möglicherweise öfter, z. B. für die Materialsammlung zur Klostergeschichte v. St. Jakob, Bl. 270 r⫺286 v; im 18. Jh. fragmentarisch in St. Jakob noch erhalten; vgl. Goerlitz, ebd., S. 159 ff. u. S. 386 f. mit Anm. 124). Ausgabe. Abschnitt aus dem Fragm. W2 über die Mainzer Sakralbauten um 1500 gedr. in: F. Herrmann, Die evangelische Bewegung zu Mainz im Reformationszeitalter, 1907, Beilage I, S. 205⫺ 207; ders., Aus der Mainzer Chronik d. Hebelin von Heimbach, Beitrr. zur hess. Kirchengesch. 3 (1908) 191⫺204, hier S. 192, Anm. 2, irrtüml. Johannes Hebelin von Heimbach zugeschrieben; Korrektur bei Goerlitz, Humanismus, S. 150⫺ 153 mit Anm. 122⫺125; vgl. ebd., S. 269⫺275 mit Anm. 384 u. Anm. 394. 3. Verlorene Schriften. Petrus Sorbillo bezeichnet P. um 1517 als poe¨sis et historiarum [...] auidissimus exquisitor, und die Korrespondenz zwischen P. und Sorbillo läßt erkennen, daß poetische und historiographische Schriften beider Humanisten im Kreis mittelrheinischer Benediktinerklöster zirkulierten. ‘Supputatio temporum veteris instrumenti’. Chronographische Schrift zur alttestamentlichen Zeit, die von P. im ‘Chronicon’ als Vorarbeit erwähnt wird. Vermutlich entstand sie noch vor der Korrespondenz P.s mit Sorbillo aus dem Jahr (wahrscheinlich) 1517 (s. II.A.; Goerlitz, Humanismus, S. 94⫺99).

I II . Wir ku ng . P. galt zu Lebzeiten als begeisterter Dichter und Historiograph (s. II.C.). In Mainz wurde seine Chronik bis ins 17. Jh. rezipiert, zu Beginn des 18. Jh.s war sie dort nicht mehr auffindbar (vgl. II.B.). P.s Name blieb jedoch durch die Verwendung

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Piscator, Hermannus

seiner Korrespondenz mit Petrus Sorbillo über den Ursprung von Mainz in der 1604 gedruckten, lange maßgeblichen Mainzer Bistumsgeschichte des Nicolaus Serarius (s. II.A.) bis ins 20. Jh. regional bekannt (Goerlitz, Humanismus, S. 384⫺386). Nachhaltige Wirkung erzielte P. anonym über die Verbreitung seines ‘Chronicon’ im unmittelbaren Umkreis der Magdeburger Zenturiatoren und ihres Cheforganisators Matthias Flacius Illyricus. Bis zur Wiederauffindung der Chronik P.s galt die zwischen 1559 und 1574 von den Zenturiatoren verfaßte, große protestantische Kirchengeschichte der ‘Magdeburger Zenturien’ als das erste Geschichtswerk, das in Jahrhunderte im modernen Sinn eingeteilt ist. Diese Annahme ist aufgrund der Einführung der “Kapiteleinteilung in Jahrhunderte bereits in der [...] Chronik des [...] Hermann Piscator” (Schulze, S. 13) zu revidieren. Darüberhinaus hat “Goerlitz [...] gezeigt, daß die Zenturiatoren die Jahrhunderteinteilung wohl aus dem ‘Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis’ (1520⫺ 1526) des Mainzer Humanisten Hermannus Piscator übernahmen” (Pohlig, S. 371, Anm. 534). Aus der Überlieferung des ‘Chronicon’ geht eindeutig hervor, daß dieses im Kreis der Zenturiatoren und ihrer Förderer bekannt war, s. II.B. u. vgl. hier v. a. Goerlitz, Humanismus, S. 106⫺ 117, 388⫺392; dies., The chronicle, 1999; ergänzend dies., Zu Überl. u. Rezeption d. Chronik d. H. P, 2000. Daß die Rezeption P.s durch die Zenturiatoren anscheinend anonym erfolgte, ist wegen des konfessionellen Gegensatzes nicht verwunderlich. Sie hat eine Entsprechung in der Tatsache, daß die nur an einer einzigen Stelle des ‘Chronicon’ durch P. selbst bezeugte Autorschaft (Bl. 47 r f.) in allen bibliothekarischen Hss.beschreibungen seiner Chronik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jh.s hinein übersehen worden ist.

P. erweist sich so als ein in verschiedener Hinsicht “‘moderner’ Geschichtsschreiber des beginnenden 16. Jahrhunderts” (H. M¸ller, S. 25), dessen Leben und Werk “deutliche Einblicke in die Diffusion des Humanismus in monastischen Kreisen” (G. M. M¸ller, S. 168) am Mittelrhein bieten. Literatur. Die spärliche, landeskundliche Forschung des 19. u. frühen 20. Jh.s ist durch U. Goerlitz: Humanismus u. Gesch.schreibung am

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Mittelrhein (Frühe Neuzeit 47), 1999, überholt. ⫺ U. Goerlitz, Der Autor d. Verzeichnisses d. Äbte d. Klosters St. Jakob bei Mainz aus der Zeit um 1510, Archiv f. hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 55 (1997) 169⫺176; M. M¸ller, Die spätmal. Bistumsgesch.schreibung (AKuG, Beih. 44), 1998, S. 18 f., 22 f., 412 f., 421⫺429, 433 f. (dazu U. Goerlitz, Rez. in: Archiv f. hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 58 [2000] 359⫺362); W. Dobras, Mainz, St. Jakob, in: F. J¸rgensmeier in Verb. mit R. E. Schwerdtfeger, Die Männer- u. Frauenklöster d. Benediktiner in Rheinland-Pfalz u. Saarland (Germania Benedictina 9), 1999, S. 470⫺510, hier S. 483, 499 f., 504⫺506; A. Brendecke, Die Jahrhundertwenden, 1999, S. 75 f., 89; U. Goerlitz, The chronicle in the age of humanism: Chronological structures and the reckoning of time between tradition and innovation, in: E. Kooper (Hg.), The Medieval Chronicle, 1999, S. 133⫺143; dies., Wissen u. Repräsentation: Zur Auseinandersetzung d. H. P. mit Joh. Trithemius um d. Rekonstruktion d. Vergangenheit, in: U. Schaefer (Hg.), Artes im MA, 1999, S. 198⫺221; dies., Zu Überl. u. Rezeption d. Chronik d. H. P. unter bes. Berücksichtigung d. Fugger-Hs. Stolb.-Wern. Zh 69 (Halle/ Saale) aus d. Umkreis d. Magdeburger Zenturiatoren, Archiv f. hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 58 (2000) 209⫺231; dies., Mainzer Antiquitas u. dt. Nation im Briefwechsel d. Benediktinerhumanisten H. P. u. Petrus Sorbillo aus dem Jahr 1517, in: P. Johanek (Hg.), Städtische Gesch.schreibung im SpätMA u. in d. Frühen Neuzeit (Städteforschung A. 47), 2000, S. 157⫺180; W. K¸hlmann, Rez. von: Goerlitz, Humanismus, ARG, Literaturbericht 29 (2000) 67, Nr. 259; W. Schulze, Die Wahrnehmung von Zeit u. Jahrhundertwenden, Jb. d. Hist. Kollegs 2000, S. 3⫺36, hier S. 13 f.; U. Goerlitz, Accepi, [...] te poe¨sis et historiarum fore auidissimum exquisitorem. Der Mainzer Humanist u. Historiograph H. P. OSB u. sein Umfeld, in: G. Mˆlich / U. Neddermeyer / W. Schmitz (Hgg.), Spätmal. städtische Gesch.schreibung in Köln u. im Reich (Veröffentlichungen d. Kölnischen Gesch.ver.), 2001, S. 139⫺151; G. M. M¸ller, Rez. von: Goerlitz, Humanismus, Germanistik 42 (2001) 168 f.; U. Goerlitz, Monastische Buchkultur u. geistiges Leben in Mainz am Übergang vom MA zur Neuzeit, in: G. May / G. Hˆnscheid (Hgg.), Die Mainzer Augustinus-Predigten, 2003, S. 21⫺53, bes. S. 42⫺53; H. M¸ller, Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog, 2006, S. 25, 30, 36 f., 45 f., 242 ff.; M. Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit u. konfessioneller Identitätsstiftung (SpätMA u. Reformation. Neue Reihe 37), 2007, S. 371 f.

Uta Goerlitz

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Pistoris, Maternus

Pistoris (Pistoriensis, Pistorius), Maternus (Lucius Maternus) I . L eb en . 1. P., geb. vermutlich um 1470/75 im elsässischen Ingweiler (Ingwiller, De´p. BasRhin), nahm im SS 1488 in Erfurt, immatrikuliert als Maternus Pistoris de Ingwiler, zusammen mit vier weiteren Elsässern, darunter den Brüdern Thomas und Amand J Wolf, das Studium der Artes auf, wurde im Herbst 1490 Baccalaureus und im WS 1493/94 Magister. Er strebte in Erfurt eine Universitätskarriere an und lehrte zunächst im herkömmlichen Artesstudium. Wann er die ordentliche Lektur in poetica et oratione übernommen hatte, mit deren Weiterführung er im SS 1509 beauftragt wurde, ist nicht belegt; doch wird er das humanistische Lehramt den Angaben seines Schülers Eobanus J Hessus zufolge (‘De laudibus gymnasii apud Erphordiam’, vv. 136⫺138 u. 178⫺190, in: H. Vredeveld [Hg.], The poetic works of Helius Eobanus Hessus, Bd. 1, Tempe/AZ 2004, S. 154 u. 157 f.) spätestens schon 1504 versehen haben. Seit er im SS 1501 Rektor der Burse des Großen Kollegs geworden war, schlossen sich zahlreiche Berufungen in universitäre Ämter an. 1503 stieg er in den Fakultätsrat auf, war im SS d. J. Taxator und wurde Kollegiat am Großen Kolleg. Im WS 1504 und nochmals im WS 1510 amtierte er als Dekan. 1505 war er zusammen mit Jodocus J Trutfetter Kollektor, erneut im SS 1511 und SS 1513. Im SS 1516 stand er der Universität als Rektor vor. Neben seiner Lehr- und vielfältigen Amtstätigkeit studierte P. seit etwa 1500 Theologie. Er las im WS 1506 die Sentenzen, wurde im WS 1512 Lizentiat und am 6. Nov. 1514 zum Dr. theol. promoviert. Für das SS 1518 wählte man ihn ein drittes Mal zum Dekan der Artistenfakultät. 1519 wurde er als Nachfolger Trutfetters († 9. Mai) Ordinarius der Theologie und, damit verbunden, Kanoniker der Marienkirche. Im Juni/Juli 1519 nahm er an der Leipziger Disputation Johannes Ecks mit Andreas Karlstadt und Martin Luther teil. In der Reformation blieb er ein unbeirrter Vertreter der alten Kirche. Während der Erfurter Pfaffenstürme plünderte man im Juni 1521

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auch sein Haus und warf ihn selber aus dem Fenster. Im SS und WS 1527 führte er zum zweiten Mal das Rektorat der Universität, und 1532 wurde er ihr Vizekanzler. Am Marienstift übernahm er 1530 das Amt des Scholasters. Der Eb. von Mainz, Albrecht von Brandenburg, erhob ihn am 19. Jan. 1534 zum Weihbischof für Thüringen. Doch starb P. noch vor seiner Bischofsweihe am 5. Sept. 1534. Er wurde in der Marienkirche begraben. 2. An der Seite Nikolaus J Marschalks wurde P. um 1500 in Erfurt zu einem wichtigen Förderer humanistischer Reform, und nach Marschalks Abgang nach Wittenberg (1502) war er für einige Jahre wohl ihr maßgeblicher Anführer. Sein Wirken äußert sich nicht in gedruckten Schriften, die offenbar nicht seine Sache waren, es ist nur mittelbar faßbar durch die Zahl illustrer Schüler, die damals, als er die humanistische Lektur innehatte, in Erfurt studierten: Tilmann J Conradi, Euricius J Cordus, J Crotus Rubeanus, Eobanus J Hessus, Hermann J Trebelius, Johannes Lang, Herbord von der Marthen u. a. Conradus J Mutianus zählte ihn 1505 zu seiner sodalitas (Mutian-Br., Nr. 8). Mutians Brief an Urban vom 8. April 1506 (Nr. 43) ist zu entnehmen, daß P.’ Verbindung auch zu Thomas Wolf weiterhin bestand. Tilmann Conradis Widmung seiner griech. Ausgabe und lat. Versübersetzung der ps.-homerischen ‘Batrachomyomachia’ an P. und den Rektor Johannes Werlich war wohl nur eine werbende Geste um ein Unterkommen an der Universität bei seiner Rückkehr 1513 nach Erfurt. P.’ humanistische Aspirationen hatten, soweit die Zeugnisse sprechen, ihren Schwerpunkt in einer an den Antiken orientierten Erneuerung der sprachlichen Kultur (s. u. II.B.1.⫺2.). Ob sie wesentlich darüber hinausgingen, wird nicht sichtbar und ist eher unwahrscheinlich. Spannungen zwischen scholastischer Tradition und humanistischen Neuerungen hat er bei sich nicht aufkommen lassen, ist erst recht jedem öffentlichen Streit aus dem Wege gegangen. Er konnte zum gleichen Zeitpunkt für Marschalks ‘Orthographia’ und für Trut-

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Pistoris, Maternus

fetters spätnominalistische Lehrschriften mit empfehlenden Versen werben. Das Verhältnis zwischen P. und Mutian war offenbar Schwankungen ausgesetzt. Zwischen April 1506 und Ende 1512 wird er in Mutians Korrespondenz nicht mehr erwähnt. Häufiger fällt sein Name wieder von 1513 bis Mitte 1515 ⫺ er lud Mutian auch zu seiner theol. Doktorpromotion ein (Mutian-Br., Nr. 435) ⫺, danach aber ist von ihm nicht mehr die Rede. Daß P. “zeitlebens zum engsten Kern des Freundeskreises von Mutianus” ( Tewes, S. 74) gehört habe, kann demnach schwerlich behauptet werden. Er fehlt nach 1515 nicht nur im Gesichtskreis von Mutians Korrespondenz, er hatte in Erfurt wohl auch zu dem jüngeren, nach “Gesinnung und Lebensstil” (Kleineidam, S. 158) ihm fremden Humanistenkreis, dessen Haupt seit 1514 Eobanus Hessus war, keine Verbindung, wird auch sonst in humanistischen Milieus der Zeit nicht mehr erwähnt. Joachim Camerarius, der P. 1518⫺21 in Erfurt erlebt hatte, hielt aus weitem Abstand 1553 in seiner Vita des Eobanus Hessus fest: “Maternus, damals in Erfurt ein renommierter Theologe, trug einiges zur Pflege der humanistischen Studien bei”. Der gelehrte P. war ein Büchersammler, freilich nicht einer der großen. Mutian wurde im April 1506 berichtet, P. habe jüngst auf der Frankfurt Messe “zahllose Codices” gekauft (Mutian-Br., Nr. 43). Seine Bibliothek, die 1521 bei der Plünderung seines Hauses zu Schaden gekommen war, umfaßte 1534 dem erhaltenen Verzeichnis zufolge, das die Testamentsvollstrecker anfertigen ließen (Abdruck [fehlerhaft] bei Pilvousek, S. 228; kritisch u. kommentiert [mit erheblichen Lücken] bei Stewing, S. 87⫺92), noch ca. 100 Titel. Theologisches Schrifttum (Kirchenväter, Scholastik, Predigt) überwiegt bei weitem; antike Autoren sind nur spärlich vertreten, humanistische stärker, mit einigem Gewicht die lat. Sprachlehre (Grammatik, Lexikologie). Die Bibliothek wurde im Zuge der Testamentsvollstreckung verkauft, um Schulden des Verstorbenen zu begleichen.

I I. We rk . Ein Œuvre aus eigener Feder hat P. nicht geschaffen, hat sich auch nur peripher als Hg. betätigt. A. Herausgeber. 1. Declamatio Lepidissima Ebrio|si: Scortatoris; Aleatoris de | viciositate Disceptantium | Con-

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dita a Philippo | Beroaldo. Erfurt: Wolfg. Schenck, 1501. VD 16, B 2077. Mit Brief an Andreas J Probst (Titelbl.v⫺a ijr, 26. Sept. 1501), dem P. Beroaldos ‘Declamatio’ zur Verbreitung in Leipzig empfiehlt. 2. ‘Vita et passio b. Conradi de Sömmerda’. Ohne Titel. Holzschnitt. Ad diuum Conradum | Ephœbum Tetrastichon. | Sancte puer Conrade Bonum indigetum colimus quem: […]. [Erfurt: Hans Knappe d. Ä., 1508]. VD 16, ZV 12512. Ex.: Jena, Thüring. Univ.- u. Landesbibl., 8 MS 26081. Bl. A ii v Binnentitel: Vita et passio Beati Conradi de Somerde nobilis pueri | compendiose et succinctim nu|per condita. Der Verfasser der kurzgefaßten ‘Vita et passio’ des Schülers Konrad von Sömmerda, der i. J. 1303 in Weißensee (nördl. Erfurt) angeblich Opfer eines jüdischen Ritualmords geworden war und daher lokal als Märtyrer verehrt wurde, ist nicht bekannt; P. ist es nicht. Sein Anteil beschränkt sich, wie er im Begleitschreiben vom 3. Nov. 1508 an Hermann von Pack, hzg.lichen Amtmann zu Sachsenburg, mitteilt (Bl. [A]v⫺A ii r), auf eine zurückhaltend revidierende Durchsicht eines ihm vorgelegten Textes: […] Recognoui itaque, sed paucis quidem ac sine multorum inuersione. Die Initiative, eine lat. (und eine dt.) Vita des Konrad von Sömmerda zur Förderung seines Kultes herauszubringen, lag bei Pack, die ⫺ gewiß begrenzte ⫺ Verantwortung für den gedruckten Text aber bei P., der auch zwei seiner Schüler veranlaßte, Epigramme auf den vermeintlichen Märtyrer Konrad beizusteuern. Kurze Berichte vom ‘Martyrium’ des Knaben Konrad gehören zur Tradition der Erfurter Chronistik. Vgl. u. a. ‘Chronica s. Petri Erfordiensis’, Johannes D Rothe, ‘Thüringische Landeschronik’, Konrad D Stolle, ‘Memoriale’. 3. Bauchs (S. 209) Erwägung, P. könne der Hg. der 1501 bei Wolfgang Schenck gedruckten Ausgabe von Buch 17⫺18 der ‘Institutio’ Priscians (VD 16, P 4846) oder gar des ‘Elementale Introductorium in idioma Graecanicum’ ([1502]. VD 16, I 340) sein, läßt sich durch keinen Beleg erhärten. B. Kleine Beiträge. 1. Nikolaus Marschalk, Orthographia N M T. […]. Erfurt: Wolfg. Schenck, 1500. VD 16, M 1116; varianter Druck: M 1117. Zwei Titelepigramme von P; beide loben die Vertreibung der sprachlichen barbaries durch Marschalks Buch. 2. Martianus Capella, De grammatica (‘De nuptiis’ III). Ohne Titel, stattdessen je ein empfehlendes Distichon von Nikolaus Marschalk und P. sowie fünf Distichen von Heinrich J Fischer: N M in Marciani Capelle grammaticen […]. Erfurt: Wolfg. Schenck, 1500. Hain 4372. GW, M 21312.

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Polich, Martin, von Mellrichstadt

3. Jodocus Trutfetter, Breuiarium dialecticum Iodoci Isennachcennsis | Theologi studiosis logices apprime necessarium in au|gustissimo gymnasio Erphordiensi nuper ab eodem digestum. Erfurt: Wolfg. Schenck, 21. Juli 1500. HC 9378. GW-Ms., M 47681. Je ein empfehlendes Titelepigr. (Tetrastichon) von Marschalk und P. Die späteren Ausgaben des ‘Breviarium’ (Erfurt 1507, 1512, 1518, um 1519. VD 16, T 2122⫺25) ohne die Verse Marschalks und P.’ 4. Jodocus Trutfetter, Explanatio in nonnulla Petri Bur|degalensis: quem Hispanum di⫽|cunt: volumina: adeo breuis et commoda […]. [Erfurt: Wolfg. Schenck, um 1501]. VD 16, T 2127. Titelepigr. (Tetrastichon) von P. 5. Jodocus Trutfetter, Compendiaria et admodum bre|uis parvulorum logicorum Expla⫽|natio […]. [Erfurt: Wolfg. Schenck, um 1501]. VD 16, T 2126. Titelepigr. (Hexastichon) von P. 6. Jodocus Trutfetter, Summule totius logice: quod opus | maius appellitare libuit: per Jodo| cum Trutuetter Isennachcensem Theologum ex do|gmatibus veterum retentiorumque omnium in Gymna|sio nuper Erphordiensi […] compilate. Erfurt: Wolfg. Schenck, 18. Aug. 1501. VD 16, T 2131. Titelbl.v: ein Hexastichon und ein Distichon von P. Bl. A ii r⫺A iii r: Vorrede des P. an die Erfurter Jugend und an alle Studierenden der Logik. Er bringt ein ausgedehntes Lob der dialectica, der omnium artium maxima, und demonstriert ihren einzigartigen wissenschaftssystematischen Rang. An Trutfetters Hauptwerk, das alles vereine, was die Großen der Disziplin seit Aristoteles zusammengetragen hätten, hebt er den methodischen Aufbau hervor und auch die Sprache, die sich von der harten und rohen Weise der älteren Logiker absetze. Literatur. R. Hoche, in: ADB, Bd. 26, 1888, S. 201 f.; G. Oergel, Beiträge z. Gesch. d. Erfurter Humanismus, Mitt. d. Ver. f. Geschichte u. Altertumskunde von Erfurt 15 (1892) 1⫺136, hier S. 31 f., 113 f.; Bauch, Erfurt, S. 133, 209, 220⫺ 225 u. ö. (Reg.); J. H. Overfield, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, Princeton 1984, S. 244, 304 f.; J. Pilvousek, Die Prälaten d. Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400⫺ 1555 (Erfurter Theol. Stud. 55), 1988, S. 224⫺229; Kleineidam, Erfurt 2 II, S. 157⫺159, 301⫺303 u. ö. (Reg.); F. Bornschein, Die Erfurter weihbischöfl. Grabplatten d. 16. Jh.s, Archiv. f. mittelrhein. Kirchengesch. 44 (1992) 142⫺176, hier S. 160⫺162; F. J. Stewing, Zum Buchbesitz Erfurter Stiftsgeistlicher im 15. u. 16. Jh., in: M. Ludscheidt / K. Paasch (Hgg.), Bücher u. Bibliotheken in Erfurt, 2000, S. 71⫺111, hier S. 79⫺81, 87⫺93; G.-R. Tewes, Weisheit versus Wissen. Beobachtungen zur philosophischen Prägung dt. Humanisten, in: G. Huber-Rebenich / W. Ludwig

500

(Hgg.), Humanismus in Erfurt, 2002, S. 55⫺90, hier S. 61, 67, 74 f., 79; F. J. Stewing, Scheinejagd um 1500. Zu cedulae actuum pro gradu baccalaureatus Erfurter Studenten, Mitt. d. Ver. f. Gesch. u. Altertumskunde von Erfurt 67 (2006) 39⫺105, hier S. 95 f.

F. J. Worstbrock

Polich (Bolich, Pollich, Pol[l]ichius, Polagk), Martin, von Mellrichstadt Inhalt. I. Leben. ⫺ II. Werk. A. Astrologische Schriften. B. Medizinische Schriften. C. Theologische Streitschriften. D. Schriften zum Artesstudium. E. Gedichte. F. Herausgeber. G. Korrespondenz. H. Deperdita und Dubia. ⫺ Literatur.

I . L eb en . Der vermutlich um 1455 in Mellrichstadt geborene P. ist erstmals im SS 1470 in der Matrikel der Univ. Leipzig nachweisbar (Martinus Polich de Mellerstat). Er erwarb dort 1472 das Baccalaureat, 1475 den Grad des Magister artium und unterrichtete danach u. a. Logik und Philosophia naturalis auf aristotelischer Grundlage (s. u. II.D.). 1476 begleitete er eine Delegation Kf. Ernsts von Sachsen (1441⫺ 1486) nach Rom, die dort die päpstliche Bestätigung der Wahl des erst elfjährigen Sohnes Ernsts zum Eb. von Magdeburg einholte. Seit 1482 war er Leibarzt Kf. Friedrichs III. des Weisen (1463⫺1525). Wann und wo (Leipzig? Mainz?) P. seine medizinischen Studien aufgenommen hatte, ist nicht geklärt (s. Schlereth, 2001, S. 47 f., 51⫺54). An der Univ. Leipzig ist er erstmals am 28. Dez. 1486 als doctor medicine bezeugt; er amtierte dort 1486⫺ 1487 auch als Vizekanzler. In Leipzig verkehrte er u. a. mit Konrad J Celtis, den er bei Kf. Friedrich einführte. Die Freundschaft kühlte sich ab, als Bohuslaus von J Hassenstein sich bei P. über Plagiate, die Celtis sich erlaubt hatte, beschwerte (Hassenstein-Br., Nr. 13), belebte sich aber in den 1490er Jahren wieder. 1493 begleitete P. Kf. Friedrich auf dessen Pilgerreise ins Heilige Land. 1494 wurde er in Leipzig Mitglied des Großen Fürstenkollegs, das er jedoch ein

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Jahr später wieder verließ. Ebenfalls 1494 oder im darauffolgenden Jahr soll P. im Auftrag Kf. Friedrichs, der sich damals schon mit dem Gedanken der Gründung einer eigenen Universität trug, (Hohe) Schulen in den Niederlanden besichtigt haben (s. Schlereth, 2001, S. 64 f. u. 80). Um 1500 gab er seine Tätigkeit als Leibarzt auf, um sich verstärkt der Universität und dem eigenen theol. Studium zu widmen. In diese Zeit fällt eine Auseinandersetzung mit Simon Pistoris über die Ursachen der Syphilis (s. II.B.3.⫺6.), die P. in der Sache für sich entscheiden konnte. Anlaß war der 1497 in Mailand erschienene ‘Libellus de epidemia quam vulgo morbum Gallicum vocant’ (HC 10020) des Niccolo Leoniceno; die konservative, an der arabischen Medizin und der Astrologie festhaltende medizinische Fakultät zu Leipzig, voran Pistoris, versuchte die Lehren des auf griech. und röm. Autoritäten zurückgreifenden ‘Libellus’ zu unterdrücken. 1500 geriet P. mit seinem ehemaligen Schüler Konrad J Wimpina in einen Streit um den Vorrang von Theologie und Poesie, der von einem Lob der Poesie als fons sophie sacrate in einem (nicht erhaltenen) Gedicht des jungen Sigismund J Buchwald seinen Ausgang nahm ⫺ ohne zureichende Handhabe wurde unterstellt, mit der sophia sacrata sei die Theologie gemeint. In der Annahme, Wimpinas bald folgender ‘Apologeticus in sacre theologie defensionem’ sei ein persönlicher Angriff gegen ihn, mischte P. sich hier ein (s. II.C.1.⫺3.). Ein Vermittlungsversuch Wimpinas über Buchwald scheiterte (s. Bauch, 1899, S. 112). Der Streit zog sich bis ins Jahr 1504 hin. Auf dem Reichstag zu Nürnberg von 1501 trat P. als Beiträger zu Celtis’ Ausgabe der Werke Hrotswiths von Gandersheim aus dem Gefolge des sächsischen Kurfürsten hervor. Zusammen mit Bohuslaus Lobkowicz von Hassenstein war er führendes Mitglied der um 1501/02 nachweisbaren Sodalitas Polychiana, die wohl mit der von ihm im ‘Laconismos tumultuarius’ genannten Sodalitas Leucopolitana identisch ist. Im Frühjahr 1502 siedelte er nach Wittenberg über, wo er im

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Auftrag Kf. Friedrichs an der Errichtung der neuen Universität maßgeblichen Anteil hatte und selber Gründungsrektor war (bis 1507). Das ihm gleichzeitig vom Kanzler Goswin von Orsoy übertragene Vizekanzellariat hatte er bis zu seinem Tod inne. Im Jan. 1503 erhielt er, als Wimpina ihn der Ketzerei beschuldigt hatte, im Eilverfahren, ohne Geistlicher zu sein, die theol. Doktorwürde. Wegen des Streits mit Wimpina war er, wie er in einem Brief an Kf. Friedrich berichtet, am 19. Aug. 1504 vor den Erzbischof geladen, machte aber die Teilnahme Goswins von Orsoy und Johanns von Staupitz zur Bedingung. Einzelheiten des Verfahrens sind nicht bekannt; vermutlich hatte er jedoch keine Einbuße seines Renommees hinzunehmen. In der Frühzeit der Leucorea wirkte er auch in der medizinischen Fakultät (1507 ist er als extraordinarie lesender Doctor unter den Medizinern erwähnt), und er gründete in Wittenberg die erste Apotheke, die “von vornherein eng an die Leucorea angeschlossen” war (Poeckern, S. 181; vgl. auch Schlereth, 2001, S. 125−132), doch profilierte er sich an der Universität vor allem als Theologe thomistischer Ausrichtung und in der Verwaltung. Von 1506 bis 1508 war er Dekan der Theol. Fakultät; zwischen 1506 und 1509 legte er den ‘Liber decanorum’ an (hg. v. K. E. Foerstemann, 1838; Faksimile hg. v. J. Ficker, 1923). Wegen rückläufiger Studentenzahlen regte er 1507 Andreas J Meinhardi zu einer Werbeschrift für die Universität an (‘Dialogus illustrate ac augustissime urbis Albiorene vulgo Vittenberg dicte’; das im 2. Weltkrieg vernichtete Ex. der UB Jena war von P. illuminiert und mit hsl.en Korrekturen versehen). In den neuen Statuten der Leucorea vom 1. Okt. 1508 wird er als reformator genannt, d. h. als Mitglied des Viererrates, der zusammen mit dem Senat den Rektor kontrollierte; in dieser Funktion verblieb er vermutlich bis zu seinem Lebensende. 1509/1510 fanden mehrfach Termine von Universitätsgremien in seinem Hause statt, so am 21. Sept. 1510 die Promotion Moritz Mettes. Zu seinen berühmtesten Schülern zählen der Ende 1510

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promovierte Andreas Bodenstein und der ein Jahr später lizensierte Martin Luther. Zu undatierten Äußerungen P.s über Luthers künftige Bedeutung bei Philipp Melanchthon und Johann Mathesius s. Schlereth, 2001, S. 112 f., und Cyriacus Spangenberg, ‘Die achte Predigt. Von dem werden Gottesmanne Doctor Martin Luther [...]’, Erfurt 1561, Bl. C iiijr⫺v. Luther nannte seinerseits P. später in seiner Vorlesung über 1 Jo als Autorität.

Nicht zuletzt P.s Gegnerschaft bewog Jodocus J Trutfetter, den Vertreter der Via moderna, im Sommer 1510 nach heftigen Auseinandersetzungen im Senat Wittenberg zu verlassen. Im SS 1511 und im SS 1513 war P. nochmals Dekan. Im Juli 1512 schlug er dem Kurfürsten eine Revision der Statuten vor, die ein Jahr später auch erfolgte. P. starb in Wittenberg am 27. Dez. 1513 und wurde in der Stadtpfarrkirche bestattet (Abb. der Bronzetafel des Epitaphs bei Gr¸neberg, S. 89; Bˆhmer, S. 118; die Inschrift der Bronzetafel und eine verlorene Grabinschrift auch bei Schlereth, 2001, S. 138 Anm. 6. u. 8). Christoph J Scheurl nannte ihn in seiner Übermittlung der Todesnachricht an Trutfetter “mehr Arzt als Theologen” und auch herrschsüchtig, gesteht ihm aber Belesenheit in allen Wissenschaften und Hilfsbereitschaft zu (ScheurlBr., Bd. 1, S. 128 f.). Der aufgrund seiner Nähe zu Kf. Friedrich und seiner Stellung in der Leipziger und vor allem in der Wittenberger Universität einflußreiche Mann hatte gewiß weit mehr Schüler und Freunde, als sie literarisch in Erscheinung treten (vgl. Schlereth, 2001, S. 157⫺185). Fridianus Pighinutius widmete P. Verse und ließ über Celtis an ihn Grüße ausrichten (Beigaben zu Celtis’ ‘Ars versificandi’). Dietrich J Ulsenius eignete 1496 P. seine ‘Libri II pharmacandi comprobata ratione’ zu, Johannes J Maius 1498 zwei Ausgaben (‘Historia Troiana secundum Daretem Phrygium’ und ‘Epistole Maumetis Turcarum Imperatoris’). Heinrich J Fischer pries P. in seiner ‘Sophologia’ (1502) wegen seines Eintretens für die Poesie. Vermutlich 1506 wurde P. und Johann von J Staupitz die von Johannes Crispus (Krause) besorgte ‘Grammatica Sulpitii’ dediziert. Tilmann J Conradi suchte ihn 1509 mit der Widmung seiner ‘Comoedia Philymni Syasticani cui nomen Terato-

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logia’ (1509) zu gewinnen. Zu den Schülern, die ihm am nächsten standen, zählte Matthäus J Lupinus.

I I. We rk . Das Werkverzeichnis stützt sich auf die chronologische Werkbibliographie von Schlereth, 2001, S. 282⫺305. “Schlereth” bedeutet i. f. daher “Schlereth, 2001”.

A . A st ro lo gi sc he Sc hr if te n. Neben Wenzel D Faber von Budweis und Paulus D Eck, von P. als doctissimus gepriesen (Fuchs, S. 283), zählt P. im späten 15. Jh. zu den wichtigsten Vertretern der Prognostik in Leipzig. Von ihm sind Prognostiken für die Jahre 1483⫺1484 und 1486⫺1490 erhalten. Dem ‘Compendium XV propositionum’ ging eine nicht erhaltene Vorhersage für 1482 voraus, die P. in seiner ‘Responsio in superadditos errores Simonis Pistoris’ (s. II.B.6.; Bl. [b8]v ) bezeugt; wegen falscher Bestimmung des Jahresherrschers (nach den Ascensiones obliquae und nicht nach den Ascensiones rectae) war diese erste Prognostik P.s auf die Kritik Fabers gestoßen. Für 1485 ist eine weitere Prognostik anzunehmen, die sich möglicherweise unter anonym überlieferten Werken verbirgt (Schlereth, S. 190 f.). P.s Prognostiken sind sehr gleichartig aufgebaut: Auf die Bestimmung des Jahresherrschers und astronomische Daten (u. a. zu den Mondphasen, Sonnen- und Mondfinsternissen und Äquinoktien) folgen Wettervorhersagen für die einzelnen Jahreszeiten und Monate, woran sich Vorhersagen für anderes wie Handel, Krankheiten, Krieg anschließen. Eine Sonderstellung nimmt die Prognostik für 1486 ein, der Carmina beigegeben sind. Insgesamt sind 24 Ausgaben von 11 Druckern lat. und volkssprachlich überliefert; mit acht Auflagen ist die Prognostik für 1486 die verbreitetste. Für die nur hd. und nd. vorliegende Prognostik für 1490 nimmt Eis (1956, S. 105 f.) aufgrund textkritischer Erwägungen eine weitere verlorene dt. Ausgabe X und einen lat. Archetyp an (s. auch Schlereth, S. 288). Ob die volkssprachlichen Versionen tatsächlich von P. verfaßt

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wurden, ist fraglich (Eis, 1953/54, S. 104), zumal die Texte in verschiedenen Idiomen vorliegen (s. u.); jedoch geht Eis (ebd.) von einer Kontrolle der volkssprachlichen Texte durch P. aus. Da die erste Vorhersage vom Jahr der Aufnahme seiner Tätigkeit als kf.lich-sächsischer Leibarzt datiert, liegt eine Anregung durch Kf. Friedrich nahe (Schlereth, S. 187), die auch spätere Prognostiken erkennen lassen (s. II.A.2.e⫺g). Vorbehalte gegen die Astrologie, insbesondere die nicht wissenschaftlich operierende, sind in P.s Schriften von Anbeginn virulent und enden schließlich seit 1499 (s. II.B.3.) in scharfer Ablehnung. 1. ‘Compendium XV propositionum’. Im Prolog an die Doctores et maijstri [!] studii lipzensis spricht P. über seine kürzliche Aufnahme astrologischer Vorhersagen, die er wegen grundsätzlicher Vorbehalte gegen die Astrologie gerne anderen überlassen hätte, wenn dies ohne Schmähung durch Neider möglich gewesen wäre. Da P. sich im Besitz nur geringer astrologischer Kenntnisse sieht, möchte er sich mit der Erörterung einiger einführender Thesen bescheiden. In 15 propositiones introductorie werden Meinungen zu verschiedenen Aspekten diskutiert, u. a. die Kenntnis der Wolken als Grundlage der Beurteilung aller Veränderungen am Himmel (5), die Bestimmung des Jahresherrschers (8), sehr breit die Frage des Zeitpunkts für den Aderlaß (13), die ebenfalls eingehend in 15 Regeln dargelegten Einwirkungen der einzelnen Planeten in ihren verschiedenen Stellungen zueinander auf die Erde. Druck. (Ohne Titel). Kolophon: Compendium XV propositionum introductoriarum in astrologiam cum totidem regulis ex astronomia comportatis. [Magdeburg: Barth. Ghotan, nach 28. Nov. 1482]. Hain 11052; Schlereth, S. 282 f., Nr. 2. Sudhoff, 1909, S. 128, nennt einen ca. 1492 oder 1493 in Magdeburg bei Moritz Brandis erschienenen ND.

2. Jahresprognostiken. a) Für 1483. Druck, lat.: [o. O., Dez. 1482]. Schlereth, S. 283, Nr. 3a. Ex.: Ebstorf, Klosterbibl., Sign.: III.10 (Fragm.). ⫺ Ein nd. Druck: Pronosticacio in dat iaer unses heren; Bl. 1r: Practica martini Mol-

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lerstadt: […]. [Magdeburg: Barth. Ghotan, 1483]. C. Borchling / B. Clausen, Nd. Bibliographie, Bd. 1, 1931, Nr. 63; Schlereth, S. 283, Nr 3b. b) Für 1484. Druck, lat.: Leipzig: [Marcus Brandis]. Nach Zinner, 1964, 207. Schlereth, S. 283, Nr. 4a. Kein Ex. bekannt. ⫺ Ein dt. Druck: Prognosticatio in annum 1484. [Leipzig: Marcus Brandis], 1483. Expl.: Vorbracht vo¯ cristi Geburt MCCCC lxxxiij im sloß Friberg &c. M. polich. Schlereth, S. 283, Nr. 4b. Das einzige bekannte Ex. aus der Dombibl. Hildesheim ist nicht erhalten. c) Für 1486. Druck, lat.: Prognosticationes. [Leipzig, Konr. Kachelofen, nach 11. Nov. 1485]. Schlereth, S. 284, Nr. 5a. Ex.: Wolfenbüttel, HAB. Eine druckgraphische Variante mit gelegentlichen inhaltlichen Abweichungen bietet das Ex. der SBPK Berlin. Zu den weiteren lat., hd. u. nd. Drucken s. Schlereth, S. 284 f., Nr. 5b⫺h. Faksimile der nd. Version (Fragm.) bei Kocowski, nach S. 292. In der Dedikation an Kf. Friedrich III. (o. D.) erinnert P. an ein Gespräch mit ihm ⫺ kürzlich bei einem Aufenthalt auf Schloß Schillerberg ⫺ über Schicksal, Determination und Willensfreiheit, das kontrovers verlief. Nach der Rückkehr faßte P. seine Position anhand neuerlicher Lektüre des Thomas von Aquin in einer Disputation zusammen, die er dem der Astrologie vertrauenden Friedrich nun kurzgefaßt in 46 Hexametern präsentiert (Incipiunt carmina disputationis predicte resolutiua). Er pocht auf die von den Konstellationen der Gestirne unabhängige menschliche Willensfreiheit. P.s betont christliches Schicksalverständnis bestimmt auch seine Prosavorrede zu den ‘Prognosticationes’. d) Für 1487. Druck, lat.: Leipzig: [Martin Landsberg], ca. Ende 1486. Schlereth, S. 286, Nr. 8a. Ex.: Ehem. Altenburg, Stiftsbibl. Weitere lat. u. dt. Drucke bei Schlereth, S. 286, Nr. 8b⫺d. e) Für 1488. Druck, lat.: Practica lipcensis. [Nürnberg: Friedr. Creussner, nach 19. Nov. 1487]. Hain 11055; Schlereth, S. 287, Nr. 9. Ex.: München, SB. Widmungsbrief an Kf. Friedrich (Leipzig, 19. Nov. 1487). P. Bringt seine widerstrebende Haltung gegenüber den Prognostiken deutlich zum Ausdruck; allein der schuldige Gehorsam gegenüber dem Auftrag des Fürsten könne ihn zur Erstellung dieser Practica bewegen. f) Für 1489 (?). Druck, lat. (?): [Leipzig: Moritz Brandis, 1488 od. 1489]. Schlereth, S. 287, Nr. 10. Der einzige aus der Literatur bekannte Druck mit dem Standort Berlin, SBPK, kann gegenwärtig dort nicht nachgewiesen werden (briefl. Mitt. der SBPK vom 11. 5. 2004; vgl. Schlereth, S. 287, Nr. 10). Ein

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weiterer lat. Druck bei Schlereth, S. 287, Nr. 11: Practica Doctoris M[artini] M[ellerstadii] M[edici]. [Nürnberg: Friedr. Creussner, 1489]. Ex.: München, SB. Auch diese Practica ist als Auftrag Kf. Friedrichs, dem sie gewidmet ist, entstanden. P. beansprucht für seine Berechnungen mathematische Grundlagen; das Büchlein wende sich daher an den Fürsten und viros doctos, nicht an die ungelehrte Menge. Er betont, daß alles, was aus den Sternen zu lesen ist, nach Gottes Willen geschehe. g) Für 1490. Druck, hd.: Ein verczeichnung etlicher kinfftiger dinge vff das einkumende neuncziste iare geschriben [...]. [Leipzig: Martin Landsberg, 1489]. Schlereth, S. 288, Nr. 12c. Ex.: Schriesheim, Slg. Gerhard Eis (Lage a), u. ehem. Görlitz, Milich’sche Bibl. (Lage b). Faksimile bei Eis, 1953/54, S. 121⫺ 128. Weitere nd. u. mnd. Drucke bei Schlereth, S. 289, Nr. 12.d⫺e. Faks. des nd. Druckes bei Eis, 1953/54, S. 113⫺120; ders., 1956, S. 55⫺65. Widmung an Kf. Friedrich und Hzg. Johann v. Sachsen (Leipzig, 20. Dez. 1489), auf deren Wunsch die Prognostik entstand. P. setzt sich deutlich von anderen Prognostikern ab, die man stets für von Gott besonders erleuchtet halte. Er weist die Möglichkeit zurück, aus der Nativität das gesamte weitere Schicksal eines Fürsten zu erkennen, schweigt somit darüber und bescheidet sich mit einer Prognostik, die sich auf Grundsätze anerkannter Autoritäten wie Ptolemäus, Kg. Alfons X., Alchabitius u. a. stützt.

B . Med iz in is ch e S ch ri ft en . P.s medizinische Schriften sind überwiegend Disputationsthesen und Streitschriften und stehen in der Mehrzahl im Kontext der Diskussion um den Morbus Gallicus, an der P. sich, wie die frühen Abhandlungen belegen, bereits vor der Fehde mit Simon Pistoris beteiligte; aus dieser gingen vier Schriften und eine Disputationsankündigung hervor. Bedeutsam sind P.s Schriften für die Überwindung der herrschenden arabistisch und astrologisch ausgerichteten Medizin und die Rezeption der hippokratischen Schriften und des Galen, die sich bereits in seiner ersten Disputation zeigt. 1. Frühe Disputationen. Die beiden ersten medizinischen Abhandlungen P.s sind nur in Form von Thesen und Argumenten durch Hartmann J Schedel überliefert. a) Die auf 1496 zu datierende (Schlereth, S. 193, Anm. 1) Disputation Vtrum

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ex corrupcione aeris causetur Francosicus morbus pestilencialis et inuadens versucht für die Entstehung der Syphilis das Einatmen von kosmisch verseuchter Luft geltend zu machen. Durch die Atmung verbreite sich die Krankheit im ganzen Körper. Befallen würden jedoch nicht alle, sondern nur prädisponierte Organe. P. setzt sich von rein astrologischer Argumentation ab und schließt sich der hippokratischen Epidemienlehre an. b) Gegenstand der vielleicht im selben Jahr entstandenen zweiten Disputation Vtrum omne peccatum mortale preter detraccionem potest medicus curare per habitum medicine ist nicht ausdrücklich die Syphilis, sondern Krankheit generell als eine Form der Sündenstrafe. Mit Sudhoff, 1912, S. 47, ist hier jedoch ein Zusammenhang mit der Syphilis zu vermuten (kritisch dazu Schlereth, S. 193). Zur Frage steht, ob es einem Arzt möglich sei, eine Todsünde über die Absolution hinaus medizinisch zu therapieren. Das erste Correlarium läßt deutliche Differenzen zu den Theologen erkennen: P. verweist nachdrücklich darauf, daß die von den Theologen als Todsünden bezeichneten Verfehlungen vom Lebensgeist im Gehirn ausgingen, der auch andere verfehlte Körperfunktionen, etwa bei einem Schlaganfall, steuere. Es stehe daher dem Arzt an, jede Todsünde medizinisch zu behandeln (s. Sudhoff, 1912, S. 46). Handschrift. München, Clm 963, Bl. 112 r⫺v u. 113 r⫺v, Autographe Hartmann Schedels. Schlereth, S. 292, Nr. 18. Nur die Liste der Thesen und Argumente der ersten Disputation sind von Schedel mit P.s Namen (M Mellerstadt) unterzeichnet; beim zweiten Stück fehlt die Zuweisung. Ausgabe. Sudhoff, 1912, S. 43⫺45. Übers. bei Schlereth, S. 193⫺195.

2. ‘De complexione quid est et quot sunt’. Die Quaestio, entstanden entweder als Dissertationsthese 1494 (Sudhoff, 1909, S. 132) oder um 1498 im Kontext der Auseinandersetzungen um den Morbus Gallicus (Bauch, Leipzig, S. 10, Anm. 6), erörtert die Frage, “Ob die Berührungsmerkmale ‘angespannt’ und ‘schlaff’ in ein und demselben Gegenstand gleich sind in Bezug auf das Gewicht bei einfacher Wärme

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und Kälte” (Schlereth, S. 260). Von besonderem Interesse ist eine angehängte Conclusio impertinens über den Wissenschaftsrang der Medizin. Ausgehend von Galens Bestimmung der Medizin als einer Wissenschaft, die in sich zugleich scientia (theorica) und ars (practica) vereint, sieht er die Medizin in ihrer Verbindung von spekulativer und praktischer Wissenschaft vor anderen ausgezeichnet. Druck. De complexione. quid est | et quot sunt: questio nuper in liptzensi vniuersitate per | Martinum mellerstat. artium et medicine doctorem dispu|tata ad vnguemque emendata. [Leipzig: Jak. Thanner, um 1498]. Schlereth, S. 294 f., Nr. 28.

3. ‘Defensio Leoniceniana’. Hauptgegenstand der als Replik auf Pistoris’ ‘Positio de morbo franco’ (Leipzig: M. Brandt, 1498. Hain 13020) verfaßten Parteinahme für Niccolo Leoniceno sind der Begriff des Epidemischen und nachdrücklich die Ablehnung astrologischer Ursachen des Morbus Gallicus. Dabei folgt P. genau den Sätzen des Gegners, um sie Schritt für Schritt polemisch zu zerpflükken. Pistoris nennt er dabei nicht mit Namen, sondern nur abfällig als zophista. Bestärkt fühlte P. sich in seiner Kritik an der Astrologie, wie er in seinem Grußwort an die Leipziger Mediziner darlegt, nicht nur durch Leonicino ‘Libellus’, sondern auch durch Francescos Pico della Mirandolas ‘Disputationes adversus astrologiam divinatricem’. Er läßt nur die mit mathematischen Methoden vorgehende astrologische Literatur gelten, die Mondphasen und -finsternisse berechnet. Weitergehende Vorhersagen verwirft er und tadelt scharf ihre Veröffentlichung unter dem Namen der Univ. Leipzig. Als Beispiel für die Unsinnigkeit solcher Prophezeiungen nennt er einen Kalender für 1499, der eine Verheiratung der Benediktiner vorhersagt. In der Conclusio operis weist er auf den in Kürzet erscheinenden ‘Apologus’ des Pandulfo Collenuccio (s. II.F.4.), von dem er viel übernommen habe, mehr noch freilich jedoch von Pico della Mirandola. Druck . Defensio Leoni|ceniana nuper edita in felici | studio Lipczensi. Magdeburg: [Moritz Bran-

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dis], 17. Sept. 1499. Hain 11054; Schlereth, S. 295 f., Nr. 29. Ausgabe. Fuchs, S. 131⫺154. ⫺ Übers. bei Schlereth, S. 197⫺222.

4. ‘Castigationes in alabandicas declarationes.’ Von Polemik beherrschte Replik auf Pistoris’ ’Declaratio defensiva cuiusdam positionis de malofranco’ (Leipzig: [Konr. Kachelofen], 1500. HC 13021). Pistoris wird auch hier nicht namentlich genannt, sondern, in Anlehnung an seine ‘Declaratio’, nur als declarator bezeichnet. P. schreitet nach der umfänglichen Vorrede an die precipui Lipcensis Gymnasii moderatores zunächst die Praefatio, Conclusiones und Correlaria der Schrift des Gegners ab, um ihm eine Liste von insgesamt 135 gezählten Irrtümern vorzuhalten. Es folgen die ausführlichen Widerlegungen, die indes gegenüber der ‘Defensio Leoniceaniana’ sachlich wenig Neues bringen, das von Gewicht wäre. Nochmals geißelt er Pistoris’ irrige Übersetzung von epidemialis mit adueniens und führt eine Heerschar von italienischen und deutschen Humanisten (darunter die Leipziger J Dottanius, J Honorius, J Lupinus J Maius, J Probst) auf, die angeblich für seine Übersetzung von epidemia mit morbus vulgarius einstehen. Nochmals holt er aus, daß die Syphilis keine Epidemie sei, vielmehr eine Sommerkrankheit im Sinne des Hippokrates und Galen, behauptet ihre leichte Therapierbarkeit und zieht erneut gegen die Astrologie zu Felde. Druck. Castigationes In ala⫽|bandicas declarationes D. S. pistoris Nuper | edite in felici gymnasio Liptzensi Anno 1500. [Leipzig: Jak. Thanner, 1500]. Hain 11053; Schlereth, S. 296, Nr. 31. Ausgabe. Fuchs, S. 169⫺218. ⫺ Übers. bei Schlereth, S. 223⫺237 (Auszüge).

5. Disputationsankündigung. P. klagt über Neid als Pistoris’ Triebfeder der Diffamierung. Er hat ein kleines Werk ausgearbeitet, das Pistoris’ Irrtümer nachweise, streng wissenschaftlich, ohne Schmähung. Vor der Veröffentlichung möchte er mit seinem Gegner eine öffentliche Disputation abhalten, zu der er diesen freilich vergeblich einlud.

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Druck. [Leipzig: Jak. Thanner, vor 17. Apr. 1501]. Schlereth, S. 297, Nr. 33. Ex. Zwickau, Ratsschulbibl., Sammelbd. XXIV,VII,24. Hsl. von Virgilius J Wellendorffer in seinem Exemplar von Pistoris’ ‘Confutatio conflatorum’ (München, SB, 4 o Path. 275 m, Bl. 1r⫺v) eingetragen. Wiederabdruck bei Clemen, 1909, S. 134. Übers. bei Schlereth, S. 238.

6. ‘Responsio in superadditos errores’. Auch aus der ‘Responsio’, einer von Pistoris’ ’Confutatio conflatorum circa positionem quandam […] doctoris Martini Mellerstadt de malefranco’ ([Leipzig 1501]. VD 16, P 3009) veranlaßten weiteren Replik, erfährt man zur Sache des Streits mit Pistoris kaum Neues. Bemerkenswert sind nur ihr gesteigerter akribischer Eifer und ihre äußere Aufmachung. Ein erster, kleinerer Teil präsentiert wieder eine Liste von nunmehr 219 tatsächlichen oder vermeintlichen Irrtümern des Gegners. Im zweiten Teil, der eigentlichen ‘Responsio’, läßt P. der ‘Confutatio’ des Pistoris die Form einer kommentierten Ausgabe angedeihen: Abschnittsweise und in Textus-Type bietet er Pistoris’ Text dar und postiert unter einem jeden Abschnitt sodann die ihn betreffenden, schon in Teil 1 angeführten ‘Irrtümer’, zieht dabei einzelne Lemmata aus und erläutert sie in kleiner Kommentartype. Im übrigen sieht der in verschiedenen Fakultäten bewanderte und tätige P. sich genötigt, sich gegen den Vorwurf unseriöser Vielgeschäftigkeit zu verteidigen. Druck. Responsio Martini Mel|lerstadt in supraddi⫽|tos errores Simo|nis pistoris in | medicina ad | honorem almi | gymna|sij lip|cen|sis [...]. Nürnberg: Georg Stuchs, 1501. VD 16, P 3975. Schlereth, S. 297 f., Nr. 34. Titelepigr.: Exastichon ad Simonem pistoris, Plagiat eines von Leoniceno an P. geschickten Gedichts. Abdruck bei Schlereth, 1999, S. 311, Anm. 14; Faksimile ebd., S. 412. Ausgabe. Fuchs, S. 241⫺288 (Auszüge). Übers. bei Schlereth, S. 239⫺248 (Auszüge). Eine Hilfsschrift verfaßte Giovanni Mainardi: Opus Johannis meinar|di ferrariensis physici miran|dulani, ad Martinum Mel|lerstadt, ducalem phisicum, de | erroribus Symonis pisto|ris de lypczk circa morbum | gallicum. [Nürnberg: Georg Stuchs, 1501]. Hain 11011; Schlereth, S. 298. 7. Rezept gegen Wassersucht. Insgesamt fünf Verordnungen. P.s Verfasserschaft ist gesichert durch den Schlußsatz der ersten

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Verordnung: predicavit de ista cura et habuit pro magno secreto doctor Martinus Mellerstat. Die übrigen berufen sich mit abschließendem ab eodem ebenfalls auf P. Hsl. überliefert in einer Sammlung aus dem ersten Viertel des 16. Jh. in Lübeck, StB, Ms. Lub. Med. 8 o, Nr. 11, Bl. 456 r. Schlereth, S. 304, Nr. 42. Abdruck bei Sudhoff, 1909, S. 135, Anm. 1.

C . The ol og is ch e S tr ei ts ch ri ft en . P.s Parteinahme gegen Konrad Wimpina, der sich von den Leipziger Dominikanern in deren Streit mit Buchwald hatte einspannen lassen, war anscheinend ⫺ dies legen P.s eigene Hinweise schon in den ‘Castigationes’ (II.B.4.) und dann im ‘Laconismos tumultuarius’ (Bl. a iijv) nahe ⫺ durch den Verdacht stimuliert, eben jener Wimpina stünde hinter Pistoris’ letzter Schmähschrift, der ‘Confutatio conflatorum …’ (s. II.B.6.) und agitiere nun auch mit seinem ‘Apologeticus in sacre theologie defensionem’ ([Leipzig: Jak. Thanner, 1501] u. [Leipzig: M. Landsberg, 1501]. VD 16, ZV 9040⫺41) gegen ihn persönlich. Im ‘Apologeticus’ bekämpfte Wimpina die von Sigismund Buchwald angeblich vertretene Behauptung, die Poesie sei Quelle und Haupt der Theologie (s. o. I.), demonstrierte ihre niedrige Rangstellung, ohne sie doch vollends zu verwerfen, und beschrieb die Theologie als die erste und älteste aller Wissenschaften und als jene, der sich alle anderen letztlich zuordnen. Wimpinas langatmige Schrift ließ sich als Attacke gegen die Musensöhne, die humanistische Richtung insgesamt lesen. P. antwortete mit dem ‘Laconismus tumultuarius’, der etwa gleichzeitig mit einer weiteren Verteidigung der Theologie aus Wimpinas Feder, der ‘Palillogia de theologico fastigio’ ([Leipzig: Martin Landsberg, um 1500]. VD 16, K 1528), erschien. P. bemühte sich sowenig wie Wimpina um eine Klärung in der Sache (die gemeinte Bedeutung von sophia sacrata in dem inkriminierten Vers Buchwalds Cur fontem sophie rivos urnasque sacrate), die den Streit gegenstandslos gemacht hätte. Die Auseinandersetzung mit Wimpina machte ihn vorübergehend zu einem Vorkämpfer des Humanismus. Aus ihr gingen, jeweils als Ant-

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wort auf vorangehende Streitschriften des Gegners, drei Schriften P.s hervor. Besonnene Beobachter wie Bohuslaus von Hassenstein haben auf den in bittere Feindschaft und unwürdigen Zank ausartenden Streit mit Kopfschütteln reagiert (Hassenstein-Br., Nr. 91). 1. ‘Laconismos tumultuarius’. In der Widmung an die Herzöge von Sachsen (Friedrich und Georg) weist er den gefährlichen Vorwurf der Geringschätzung der Theologie seitens der Dichter als haltlose Unterstellung zurück. Die Schrift selber tritt Wimpinas ‘Apologeticus’ scholastisch-traktathaft entgegen, führt die Auseinandersetzung Schritt für Schritt im Gehäuse und mit den Instrumenten der Schullogik, verfährt entsprechend formalistisch, immer wieder auch spitzfindig und sophistisch, und bewegt sich sprachlich in einem dornigen vorhumanistischen Latein. In der Sache kommt es P. darauf an, die Eigenständigkeit der poesis, ihren überragenden Rang, ihre Universalität herauszustellen. Es gehört zu den sachlichen Schwächen des ‘Laconismos’, daß P. Hauptbegriffe, um die der Streit ist, selbst poesis (promiscue mit poetica gebraucht) und theologia, nicht definiert, sondern in vager und wechselnder Intension und Extension verwendet. Auch P.s steter polemischer Blick, der sich häufig genug in Mäkeleien über Nebensächliches verliert, trägt nicht zur Klarheit des Diskurses bei. Eine Analyse, die von Bauchs Referat (1899, S. 114⫺129) nicht schon geleistet wird, fehlt. In der ersten Tabula sucht er mit gewundenen vier Rationes darzutun, daß die poesis eine (nicht die) Quelle aller Wissenschaften und so auch der Theologie sei. Er zerpflückt sodann Wimpinas These von der wissenschaftssystematischen Überordnung der Theologie über die Poesie, beharrt auf der prinzipiellen Verschiedenheit der beiden. In der zweiten Tabula kommt er, unbeholfen und wenig klar, auf das Poetische selbst zu sprechen: Nicht der Vers mache die Poesie aus, sondern die Demonstration durch Fabel, Beispiel, Bild, Gleichnis (P. zitiert mehrfach die aristotelische Poetik, erfaßt aber den Mimesis-Begriff nicht). In der dritten Tabula hält er der Kathedertheologie vor, sich im Unterschied zur wahren Theologie mit Flausen zu befassen, und hat keine Mühe, Wimpinas Einlassung, bei den Dichtern nie etwas von Gott und Göttli-

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chem gelesen zu haben, als ignorant zu deklarieren. In der vierten Tabula sucht er zu belegen, daß sich die Poete entgegen Wimpinas Behauptung durchaus mit den Geheimnissen der Theologie befaßten, und nimmt als solche Poete Basilius, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus, bes. Hieronymus in Anspruch.

Wimpinas Protest gegen das Theorem poesis fons, caput et patrona theologie läßt P. in der Responsio summaria ad primam viam ins Leere laufen: nicht von theologia, sondern von sacra sophia, die mit theologia nicht identisch sei, sei die Rede gewesen. Wimpina wird in der abschließenden Rede ermahnt, nach dieser Entgegnung auf seinen ‘Apologeticus’ Ruhe zu geben. Er schlug jedoch bald mit seiner ‘Responsio et apologia contra laconismum cuiusdam medici’ (Leipzig: Jak. Thanner, 1503. VD 16, K 1532) zurück. Druck. Laconismos tumultuari|us Martini Mellerstad | ad illustrissimos saxo|nie Principes in defen|sionem poetices contra | quendam Theo⫽| logum edi⫽|tus. [Leipzig: Jak. Thanner, 1502]. VD 16, ZV 12642; Schlereth, S. 299 f., Nr. 36. Titelbl.v: Epigramm P.s (4 Dist.) an Hzg. Georg; Epigramm Buchwalds (9 Dist.) zum Lobe P.s. Ein weiteres Epigramm Buchwalds (13 Dist.) an P. am Ende. Hermann J Buschius sekundierte P.s ‘Laconismos’ mit einer eigenen kleinen Schrift: Prestabili et rare eruditionis viro Martino Mellerstat alias Polichio ducali phisico et litteratorum omnium favissori. [Leipzig: Jak. Thanner, 1503]. VD 16, B 9937.

2. ‘In Wimpinianas offensiones et denigrationes’. In offenbar großer Eile veröffentlichte P. seine Replik auf Wimpinas ‘Responsio et apologia’, deren Druck daher mit einer Fülle von Setzfehlern belastet ist. Sie selbst hält sich auf dem Niveau öder Silbenstecherei und der Verunglimpfung, wiederholt alte Vorwürfe, ist ohne jeden sachlichen Reiz, verfaßt angeblich auf Veranlassung Kf. Friedrichs, dem P. sie widmete. Insgesamt zeichnet sich jedoch ein Rückzug des in die Verteidigung gedrängten P. ab. Getroffen fühlt P. sich offenbar von Wimpinas vernichtender Kritik an seinem ‘Poema natale’ (II.E.1.). Er sucht seine Autorschaft an dem Gedicht, zumindest die Verantwortung an dessen Ver-

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öffentlichung zu verleugnen und die metrischen Fehler auf das Konto des Druckers zu setzen. Druck. Martinus Mellerstadt Polichius | in VVimpinianas offen/|siones et denigra/|tiones Sacre/ | Theologie. Wittenberg: Nik. Marschalk, 1503. VD 16, P 3973; Schlereth, S. 301, Nr. 37. Titelbl.v ein Decatostichon auf Wimpina. Am Ende Verse an den Leser.

3. ‘Theoremata aurea’. Nachschrift (perbreve appendiculum) zum vorgenannten zu eilig gedruckten Werk (mit nachgetragenem Druckfehlerverzeichnis). Die kleine Schrift spießt im ersten Teil eine unrichtige und eine abgeänderte Zitierung Wimpinas aus dem Prolog zum Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus auf, um den Theologen Wimpina zu blamieren, nicht ohne sich bald in Wiederholungen bekannter Vorwürfe und Rechthabereien zu verlieren. Im zweiten Teil (Responsio) geht P. die 91 Thesen Wimpinas durch, läßt sie mitunter zu, lehnt sie meist ab, weiß Neues kaum mehr vorzubringen. Am Ende ruft er Wimpina wie schon eingangs im Carmen ad lectorem (12 Dist.) zum Widerruf auf. Abschließend 17 höhnische Distichen an Wimpinas Helfer, die Krähe Marius (Andreas Probst) und den Papagei Seicius. Wimpina replizierte noch 1503 mit der ‘Responsio et Apologia Conradi Wimpine de Fagis ad Mellerstatinas offensiones et denigrationes sacretheologie’ (VD 16, K 1531) und ‘De ortu, progressu et fructu sacretheologie’ (VD 16, K 1526). Druck. Martini Mellerstat polichii Theo|remata aurea pro studiosis | philosophie & theolo| gie iniciatis | Thomis-|tis| Ex felici academia Albiorensi. Wittenberg: Nik. Marschalk, 1503. VD 16, P 3976; Schlereth, S. 301, Nr. 38. Titelepigr. von P.

D . S ch ri ft en zu m A rt es st ud iu m. P. überarbeitete in späten Jahren für die Drucklegung Kommentare zu logischen und naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles, die er 30 und mehr Jahre zuvor in Leipzig als Vorlesungen gehalten hatte. Der ‘Cursus logicus’ und der ‘Cursus physicus’, als die sie erschienen, wurden beide an der Leucorea als Lehrbücher des Artesstudiums übernommen, die Druckkosten

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von Kf. Friedrich oder der Universität getragen (s. Bauch, 1897, S. 327). P. wird Aristoteles nur in der Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke gekannt haben, die um 1480 noch in Ansehen stand, nicht aber mehr um 1510. Die Bemühungen, die ‘barbarischen’ Übersetzungen Moerbekes durch neue humanistische (Bruni, Filelfo, Argyropolos u. a.) zu ersetzen oder wenigstens ‘gereinigte’ herauszubringen, wie sie seit etwa 1500 in Leipzig zu beobachten sind, werden den Hintergrund bilden für P.s Bemerkungen über die sprachliche Rohheit des zeitgenössischen philosophischen Lateins, die ihm selber vorgeworfen werden könnte (Widmungsvorrede zum ‘Cursus physicus’). 1. ‘Cursus logicus’. Dieser Cursus umfaßt Kommentare zum traditionellen Logik-Pensum des Artesstudiums nach Maßgabe der Via antiqua, d. h. Kommentare zu den logischen Schriften des Aristoteles und außerdem zu den ‘Sex principia’ des Gilbertus Porretanus sowie zu den ‘Collectanea de principio individuationis’ des Thomas Cajetanus. Die Kommentare fußen nach P.s eigener Angabe auf der Lehrtradition der “Pariser und Kölner Väter”. Die Widmung an Kf. Friedrich (Wittenberg, 1. Nov. 1511) begründet er mit der Förderung, die er in seiner Leipziger Lehrtätigkeit durch ihn erfahren habe, und darüber hinaus mit Friedrichs Mäzenatentum für die Wissenschaften überhaupt, wie es vor allem durch die Gründung der Univ. Wittenberg manifest geworden sei, die dank seiner Freigebigkeit mit den alten Universitäten konkurrieren könne. Druck. Cursus Logici commentari|orum nostra collectanea. Leipzig: Melch. Lotter, 1512. VD 16, ZV 12643; Schlereth, S. 302 f., Nr. 40. Titelepigr. von Georgius J Sibutus.

2. ‘Cursus physicus’. Der Cursus enthält Kommentare zum Kanon der aristotelischen Schriften (‘Physica’, ‘De caelo et mundo’, ‘De generatione et corruptione’, ‘De anima’) im Bereich der Philosophia naturalis des Artesstudiums. Das erst kurz vor P.s Tod fertiggestellte Manuskript wurde postum von Otto J

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Beckmann, Henning Göde u. a. zum Druck gebracht. Widmung an Kf. Friedrich (Wittenberg, 13. Aug. 1513). Druck. Martini Polichij Mellersta|dij exquisita Cursus Physici collectanea. Leipzig: Melch. Lotter, 1514. Schlereth, S. 303, Nr. 41. Titelepigr. von Otto Beckmann. Titelbl.v: Epitaph Spalatins auf P. Auf die Widmung P.s an Kf. Friedrich folgen eine weitere von Otto Beckmann und Gedichte von Heinrich Stackmann und Johannes Ferreus Hessus.

E . G ed ic ht e. Dichtung war nicht P.s Metier. Seine Hinterlassenschaft an Versen ist nur gering. Immerhin versah er fünf seiner eigenen Schriften und drei seiner Ausgaben (II.F.1.⫺3.) mit Titelepigrammen und/oder ähnlichen begleitenden Carmina. Bemerkenswert für P. sind die der Widmungsvorrede an Kf. Friedrich zur Prognostik von 1486 (II.A.2.c) inserierten Hexameter über Determination und Willensfreiheit. 1. ‘Poema natale’. Der Nachruf in 102 Hexametern auf einen ungenannten Fürsten, hinter dem sich wahrscheinlich Kf. Ernst von Sachsen († 26. Aug. 1486) verbirgt, wird ungeachtet seines irreführenden Titels identisch sein mit der vom Wolfenbütteler Anonymus genannten elegia in mortem Ernesti (Bauch, 1899, S. 11, Anm. 5). Das Gedicht stellt den Fürsten mit traditionellen Topoi als vorbildlichen Herrscher dar, friedlich für sein Volk, erschreckend für den Feind; die Reise ins Hl. Land erweist seine Frömmigkeit. Der späte Druck des Gedichts, kurz nach dem Tod Hzg. Albrechts d. Beherzten von Sachsen, konnte die Annahme nahelegen, dieser sei der Held des Gedichts; doch trifft auf ihn die im Titel des Gedichts genannte Kurwürde des Gefeierten nicht zu. Überdies ist das Gedicht bereits 1498 beim Wolfenbütteler Anonymus genannt. Die Drucklegung des Gedichts fällt in die Zeit der Auseinandersetzung P.s mit Wimpina, der es mit vernichtender Kritik bedachte. Nach P.s eigenen Äußerungen scheint er das Manuskript nicht selber zum Druck gegeben zu haben (s. II.C.2.). Druck. Poema natale cuiusdam | Flectorii [!] principis Septen|trionalis. Leipzig: Martin Landsberg, 1501. VD 16, P 3974; Schlereth, S. 285 f.,

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Nr. 6. ND: C. G. Wilisch, Conradi Wimpinae commentarius poeticus de Alberti Animosi Saxonum ducis expeditionibus bellicis, Altenburg 1725, S. 132⫺136. 2. Kleine Beiträge zu Drucken anderer Autoren. a) Die Metra egregii domini doctoris polich, neun grammatikalische “Merkverse” (in: Oratio congrua secundum mentem Alexandri […]. [Nürnberg: Peter Wagner, um 1498], GW 1223, Bl. [B5]v), haben mit Versen (Metra) wenig zu schaffen. Abdruck bei Schlereth, S. 270. b). Opera Hrosvite illustris vir|ginis et monialis Germane gen|te Saxonica orte nuper a Conra|do Celte inventa. […] Nürnberg: [Drucker f. d. Sodalitas Celtica], 1501. VD 16, H 5278; Schlereth, S. 298 f., Nr. 35. Bl. a ii v ein Distichon P.s. Abdrucke: Celtis-Br., Nr. 268, S. 470; Schlereth, S. 164 f. c) Friderici et Ioannis Illustrissimi Saxoniae principum | torniamenta per Georg.: Sibutum: poe*tam+: et Ora*torem+: | Lau*reatum+: heroica celebritate decantata. Wittenberg: Joh. Rhau-Grunenberg, 1511. VD 16, S 6270. Titelbl.v ein Hexastichon P.s. F. Herausgeber. 1. Bartholomäus Fryso OCarth, Praegnosticon astrologicon super revelationes antichristi iam iam proximo affuturi. Das nur in Ms. 1572 der UB Leipzig erhaltene Prognosticon sandte P. mit einer Widmung an Hzg. Georg von Sachsen (Herzberg b. Torgau, 30. Dez. 1489); Sudhoff, 1909, S. 126 Anm. 1, 130 f. ⫺ Zu Prognostiken aus P.s eigener Feder s. II.C.2. 2. Mondino dei Luzzi, Anathomia Mun|dini Emendata per | doctorem melerstat. [Leipzig: Martin Landsberg, um 1493, vielleicht 1488]. Hain 11633; Schlereth, S. 289⫺291, Nr. 14. Zur Datierung: ders. S. 249 f. Erstausgabe der ‘Anathomia’ des Mondino dei Luzzi in Deutschland. Titelbl.v: 12 Distichen P.s auf die ‘Anathomia’ (Übers. bei Schlereth, S. 251). Im Anhang Ergänzungen des Gentile di Fulgineo. Am Ende zwei Distichen P.s. Die im Titel erwähnte Emendierung gelang nur lückenhaft (Sudhoff, 1909, S. 122 f.). Zu einem weiteren Druck (Leipzig 1505) s. Schlereth, S. 291.

Abdruck der beiden Gedichte P.s bei Sudhoff, 1909, S. 123 f., u. Schlereth, S. 250 f., Anm. 13, u. S. 252, Anm. 15. 3. Arnoldus de Villanova, Speculum Medicine. [Leipzig: Martin Landsberg, um 1495]. GW 2534; Schlereth, S. 291, Nr. 16. Erstdruck. Mit einem einleitenden Gedicht P.s ad scholares Lypczenses. (Bl. A ijr⫺v, 23 Dist.), in dem er Stellung gegen Scharlatane bezieht, Galen und Avicenna als Quellen des Arnoldus (gest. 1311) nennt und den Ein-

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zug der wahren Heilkunst in Gestalt von Äskulap, Apoll und Machaon ankündigt. Am Schluß eine Conclusio in drei Distichen: den drei antiken Gottheiten wird die Dreifaltigkeit gegenübergestellt, mit deren Hilfe das ‘Speculum’ vollendet worden sei. Abdruck der beiden Gedichte P.s bei Sudhoff, 1909, S. 133 f., u. Schlereth, S. 255 f. Anm. 32. (Übers. S. 256⫺258). 4. Ad illustrissimum principem | Herculem Estensem Ferrariensem Ducem inclytum Pandul| phi Collenucij Pisaurensis iurisconsulti Apologus | Cui Titulus Agenoria. Leipzig: Jak. Thanner, [um 1500]. GW 7162. Widmung an Hzg. Georg von Sachsen (1471⫺1539) (Leipzig, o. D.). P. erwähnt Leipziger Gelehrte, die ihm an rhetorischer Eleganz überlegen seien: Benedikt Statz, Johannes J Maius, Georg J Dottanius, Johannes J Honorius, Matthaeus J Lupinus, Andreas J Probst und Brandanus Soraviensis. 5. Clarissima singularisque totius phi⫽|losophie necnon metaphisice Aristo|telis magistri Petri Tatareti expo⫽|sitio. ac passuum Scoti allegatio. Wittenberg: Wolfg. Stöckel, 27. Aug. 1504. VD 16, J 654; Schlereth, S. 302, Nr. 39. Band 3 der Tartaret-Ausgabe, die Kf. Friedrich III. finanzierte und deren erste beide Bände Sigismund Epp herausgab, mit den Kommentaren des Petrus Tartaretus zur Naturalphilosophie und Metaphysik des Aristoteles. Bl. 1v: Widmung an Kf. Friedrich III. von Sachsen (o. D.), erläutert das Dictum “Weisheit geziemt sich sich für alle Sterblichen, besonders jedoch für den Fürsten”; Lob Friedrichs als Mäzens der Wissenschaften.

G . Kor re sp on de nz . Der Wolfenbütteler Anonymus (S. 44) will ein Briefbuch mit Schreiben P.s an verschiedene Adressaten kennen. Erhalten sind jedoch nur verstreut nachweisbare Stücke. Die früheste erhaltene Korrespondenz findet sich unter den Briefen des Bohuslaus Lobkowicz von Hassenstein. Anfang 1487 richtete dieser an P. seine Beschwerde über Celtis (ed. Martinek, S. 13 [Nr. 13]; zur Datierung S. 182), ein weiteres nochmals in Sachen Celtis im Frühjahr 1487, 1495 die Widmung seiner Schrift ‘De miseria humana’ an P. (ebd., S. 58 f. [Nr. 48], weitere Briefe 1499 (?) (ebd., S. 174 [Nr. 182]) und 1509 (ebd., S. 159 f.). Von P. selbst ist das Dankschreiben für die Widmung von ‘De miseria humana’ an Hassenstein erhalten (ebd., S. 60 [Nr. 50]), ein weiteres Stück schon aus dem Jahr 1486 bezeugt

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(ebd., S. 14 [Nr. 14]). ⫺ 1496 erwähnt Dietrich J Ulsenius den Erhalt von litterae P.s (Celtis-Br., S. 203 [Nr. 122]). ⫺ Aus der Zeit des Streites mit Pistoris stammt ein undatierter Brief von Niccolo` Leoniceno an P. mit einem Gedicht, das P. nicht drukken ließ, um es abgewandelt unter eigenem Namen zu veröffentlichen (s. II.B.6.). Hs.: Rom, BAV, Cod. Vat. Lat. 2874, Bl. 159 v (alte Numerierung). Faksimile bei Schlereth, S. 412. ⫺ Zwei Schreiben an Hermann Kaiser aus Stolberg (ed. Clemen, 1906; Übers. von Schlereth, S. 81⫺83) erhellen P.s Rolle in Wittenberg schon vor der Eröffnung der Universität. Am 5. April 1502 teilte er u. a. seine bevorstehende Übersiedlung nach Wittenberg mit, wohin er andere bedeutende Gelehrte zu ziehen hoffe, u. a. Hermann Buschius, Erasmus J Stella, einen namentlich ungenannten skotistisch ausgerichteten Theologen, hinter dem sich vermutlich Sigismund Epp verbirgt (Clemen, S. 143, Anm. 1). P. stellte Kaiser eine Pfründe am Wittenberger Allerheiligenstift in Aussicht und bat um möglichst rasches Antreten der Stelle. Das am 12. Juni 1502 ausgestellte Schreiben informiert Kaiser über Einzelheiten seiner bevorstehenden Bestallung in Wittenberg, berichtet ferner über einen Drucker Wolfgang (Schenk), der auf Anregung des Kurfürsten Ablaßpredigten des Johann D Paltz gedruckt habe und sich in Wittenberg mit kurfürstlichem Privileg niederlassen möchte; Kaiser wird gebeten, im Auftrag des Kanzlers mit dem Drucker zu verhandeln (ed. Clemen, 1906, S. 135; Übers. bei Schlereth, S. 83). ⫺ In einem undatierten Brief (1514) weist P. J Spalatin u. a. auf ein günstig zu erwerbendes kostbares Exemplar des Ptolemäus hin (ed. J. F. Hekel [Hg.], Manipulus primus epistolarum singularium, Dresden 1699, Appendix, S. 103 f.). H. Deperdita und Dubia. 1. P. erwähnt mitunter eigene Schriften, die nicht erhalten sind. a) In den ‘Castigationes in alabandicas declarationes’ (II.B.4.), Bl. a iijv, ist von lucubraciuncule mee, quas in liberalibus artibus philosophatus parisiensium more edidi die Rede; es könnten Schriften wie die ‘Cursus’ (s. D.1.⫺2.) gemeint sein. Die

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lucubraciuncule sind kein Werktitel, wie Schlereth, S. 296, Nr. 30, nahelegen könnte. b) In der ‘Responsio in superadditos errores’ (II.B.6.), Bl. [b8]r, verweist er auf eine Schrift de verbo intelligibili. Sie ist auch im Werkverzeichnis des Wolfenbütteler Anonymus genannt, dort mit dem Inc. Quoniam in habentibus symbolum. c) Ebenfalls in der ‘Responsio’, Bl. [b8]v, tut er unter dem Stichwort Theosis sublimitas den Hinweis: quod de maiestate theologica dicato opere ostendimus. Aus dieser Formulierung läßt sich jedoch nicht der von Schlereth, S. 296, Nr. 32, angegebene Werktitel “De maiestate Theologie” ableiten, nicht einmal auf eine selbständige Schrift zum Thema ‘maiestas theologie’ schließen. d) Im ‘Laconismos tumultuarius’ (II.C.1.), Bl. c iiijv, nennt P. eine disputatio de arte cabalistica. 2. Der Wolfenbütteler Anonymus führt in seinem 1498 abgeschlossenen Werkverzeichnis weitere nicht mehr greifbare Schriften auf: a) Regimen pestilentiae lib. 1. Schlereth, S. 294, Nr. 26, erwägt eine Identität mit Ein Regimen wider die Pestilenz [Leipzig: Moritz Brandis, o. J.]. b) Quaestiones disputatas, lib. 1. Schlereth, S. 293, Nr. 20. c) In tractatus Petri Hispani, lib. I. Inc.: Queritur quid sit. Schlereth, S. 293, Nr. 22. d) In Metaphysicam, libb. XII. Schlereth, S. 293, Nr. 21. e) In parvulum Logicae, lib. I. Inc.: Opus figurarum. Kommentar zum ‘Parvulus logice’, nicht “Zur kleinen Logik *des Aristoteles+” (Schlereth, S. 293, Nr. 23), die es nicht gibt. f ) In veterem artem cursum unum. Schlereth, S. 293, Nr. 24. g) In novam Logicam cursum unum. h) Elegia in mortem Ernesti. Entstanden um 1486. Vermutlich identisch mit dem ‘Poema natale’ (II.E.1.). Schlereth, S. 286, Nr. 7. i) Carmen Epidaur*i+um. lib. I. Inc.: Tercentum lustris. Vermutlich auf den Epidaurier Äskulap. Schlereth, S. 292, Nr. 19. 3. Bezeugt ist eine Rede auf Wimpina zu dessen Rektoratsantritt 1494. Negwer, S. 243; Schlereth, S. 70, Anm. 4, u. S. 291, Nr. 15. 4. Ungesicherte Zuschreibungen. a) Ein mit M. M. unterzeichnetes Rezept gegen Syphilis in Schedels Sammlung Clm 963, Zettel zwischen Bl. 125 u. 126. Schlereth, S. 305. Nr. 43. Abdruck bei Sudhoff, 1912, S. 74. b) Ein 1502 im Rahmen der Gründung der Univ. Wittenberg für diese erstelltes Horoskop. Abschrift von 1632, den Statuten der Universität Wittenberg vorangestellt. Sudhoff, 1909, S. 130; H. Hahne, Die Wittenberger Horoskope, in: Leopoldina 5 (1929) 102⫺109; Schlereth, S. 89 f.

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c) Herausgeberschaft des ‘Centiloquium Hermetis’. [Leipzig: Martin Landsberg, ca. 1486⫺ 1490]. Bauch, 1899, S. 8, Anm. 4; Schlereth, S. 289, Nr. 13. Literatur. Wolfenbütteler Anonymus, S. 43 f.; M. Adam, Vitae Germanorum medicorum, Heidelberg 1620, S. 6⫺8; F. Borner, De vita et meritis

Martini Pollichii Mellerstadii, Wolfenbüttel 1751; C. H. Fuchs, Die ältesten Schriftsteller über die Lustseuche in Deutschland, Göttingen 1843; F. Zarncke, Die urkundl. Quellen z. Gesch. d. Univ.

Leipzig (Abh. d. Kgl.-Sächs. Ges. d. Wiss. 3), 1857, S. 737; R. Mitterm¸ller, Konrad Wimpina, Der Katholik 49/1 (1869) 641−682, hier S. 650⫺681; B. St¸bel, Ukb. d. Univ. Leipzig, 1879, S. 242 (Nr. 205), 306 (Nr. 250), 318 (Nr. 252), 455 (Nr. 339); H. J. Liessem, Hermann v. d. Busche. Sein Leben u. seine Schriften, 1884⫺1908, ND 1965, S. 13 f.; A. Hirsch, in: ADB, Bd. 26, 1888, S. 393 f.; G. Bauch, Wittenberg u. d. Scholastik, Neues Archiv f. Sächs. Gesch. u. Altertumskunde 18 (1897) 285⫺339, hier S. 291, 295⫺298, 303 f., 309, 316 f., 324⫺327; Bauch, Leipzig, Reg.; R. Rˆhricht, Dt. Pilgerreisen nach d. Hl. Lande, 1900, ND 1967, S. 51, 146, 173; O. Clemen, Kl. Beiträge zur sächs. Gelehrtengesch., Neues Archiv f. Sächs. Gesch. u. Altertumskunde 30 (1909) 133⫺140; J. Negwer, Konrad Wimpina, ein kath. Theologe aus d. Reformationszeit (Kirchengesch. Abh. 7), 1909, Reg.; K. Sudhoff, Die medizinische Fakultät zu Leipzig im ersten Jh. d. Univ. (Stud. z. Gesch. d. Medizin, H. 8), 1909, Reg.; ders., Aus d. Frühgesch. d. Syphilis (Stud. z. Gesch. d. Medizin, H. 9), 1912, Reg.; W. Friedensburg, Gesch. d. Univ. Wittenberg, 1917, Reg.; G. Hellmann, Beitr. z. Gesch. d. Meteorologie 2 (Nr. 6⫺10), 1917, S. 218; G. Vorberg, Über d. Ursprung d. Syphilis. Quellengeschichtl. Untersuchungen, 1924, S. 57 f.; L. Amundsen, Einige alte dt. Practica-Drucke i. d. UB zu Christiania, in: A. Ruppel (Hg.), Gutenberg-Fs., 1925, S. 371⫺375; W. Friedensburg, Ukb. d. Univ. Wittenberg, Teil 1 (1502⫺1611), 1926; Ellinger, Neulat. Lit., Bd. 1, S. 364, 371; Celtis-Br., Reg.; P. Diepgen, Die alte Mainzer medizin. Fakultät u. d. Wissenschaft ihrer Zeit (Mainzer Univ.reden 18), 1951, S. 6; T. Gr¸neberg, M. P. von Mellerstadt, der erste Rektor d. Wittenberger Univ., in: 450 Martin-Luther-Univ. HalleWittenberg 1, 1952, S. 87⫺91; M. Steinmetz, Die Univ. Wittenberg u. d. Humanisums, ebd., S. 103⫺ 139, hier S. 107 f., 110 f., 113 f.; G. Eis, M. P.s Vorhersage f. 1490, Libri 4, Kopenhagen 1953/54, S. 103⫺129; K. Dietz, Archivfunde z. Familiengesch. des Pollich aus Mellrichstadt, aus d. dortigen Archiv. Ein Beitrag z. fränk. Reformationsgesch. 16, masch. Zulassungsarbeit Theol. Fak. Univ. Würzburg, 1956; G. Eis, Wahrsagetexte d.

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Probst, Andreas

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Philos. Fakultät 1502⫺1817 (Mitteldt. Forsch. 117), 2002, Reg.

Susann El Kholi

Probst (Probest, -ist; Prepositus, Epistates), Andreas (Andreas Delitianus, Delitschensis) I . L eb en . Der aus Delitzsch stammende P., der sich im SS 1486 an der Univ. Leipzig e immatrikulierte (Andreas Probst de Dolitzsch), 1487 zum Baccalaureus, aber erst im WS 1495/96 zum Magister artium graduiert wurde, war mehr als 25 Jahre für das Leipziger Artesstudium tätig ⫺ er erscheint in den Akten der Artisten zuletzt im Beschluß der personellen Besetzung des Lehrprogramms für das WS 1524/25 ⫺ und dort unter seinesgleichen einer der angesehensten Universitätslehrer. Er war Kleriker; wann er die Weihen nahm, ist bisher unbekannt. P. setzte sein eigenes Studium mit der Jurisprudenz fort und war 1509 Baccalaureus iur. utr. Nach einer Urkunde von 1516 führte er damals auch die Geschäfte eines Notarius publicus und war scriba der Universität. Im WS 1516 und im WS 1519 amtierte er als Rektor der Universität. P.s hauptsächliche Lehrgebiete im Artesstudium waren Rhetorik und Poetik. Zu seinen Schülern zählten die Poeten Christoph von J Suchten und Johannes J Beuschel. Gemessen an seinem Carmen in Antipoetas (s. u. II.2.c) könnte er zunächst Anhänger der entschieden humanistischen Richtung in Leipzig (J Barinus, J Honorius u. a.) gewesen sein, und so scheint ihn auch Maternus J Pistoris in Erfurt eingeschätzt zu haben, als er ihm 1501 Beroaldos ‘Declamatio de tribus fratribus ...’ für seine Lehre empfahl. Doch stand P. im Streit zwischen J Wimpina und Polich bereits auf Wimpinas Seite (s. u. II.4.) und zog so auch Attacken Sigismund J Buchwalds auf sich. Er scheint Johannes J Rhagius Aesticampianus, der seit 1508 in Leipzig als Professor der Rhetorik lehrte, als ⫺ gewiß unangenehm kritischen und

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Probst, Andreas

überlegenen ⫺ Konkurrenten betrachtet und 1511 mit besonderem Eifer dessen Vertreibung betrieben zu haben. Damit war ihm ein Platz in den künftigen J ‘Epistolae obscurorum virorum’ sicher. Magister Delitzsch wird dort in der Tat als jemand vorgeführt, der nach Abgang des Störenfrieds Aesticampianus wieder unbehelligt in arte humanitatis liest (I 17), sich beim Leipziger prandium Aristotelis (dazu: G. Erler, Leipziger Magisterschmäuse, 1905, S. 159⫺176) an der Erörterung einer närrischen Streitfrage beteiligt und angeblich Ovids ‘Metamorphosen’ literaliter und allegorice auslegt (I 1). Ganz anders führte ihn Johannes Hornburg 1520 neben Georg J Dottanius, Petrus J Mosellanus, Johannes Cellarius u. a. unter den um die humanistischen Studien verdienten Lehrern der Leipziger Universität (s. Schottenloher). P.s Stellung zur frühen Reformation belegt einzig das posthum gedruckte antilutherische Pamphlet im Druck von Johann Hasenbergs ‘Ludus’ (s. u. II.3.d). Er wird nie von der alten Kirche gewichen sein. Nachdem er offenbar schon 1525 nicht mehr in der Lehre tätig war, starb er i. J. 1527. I I. We rk . P. war seinem Leipziger Lehrbetrieb verpflichtet und hat als Herausgeber und mit kleinen Carmina fast einzig ihm gedient. 1. ‘Empfehlung des Studiums der Grammatik.’ Das 24 sapph. Strr. umfassende Schulgedicht, P.s erste Veröffentlichung, lädt in den Garten der Grammatik mit seinen Blumen und Früchten ein. In einer Serie allegorisch verfaßter Exempla stellt es vor Augen, daß ohne Grammatik die Beschäftigung mit anderen Artes vergeblich bleibt: Vergil, Cicero, Socrates, die Sapientia selber widersetzen sich den sprachlich Ungebildeten und behandeln sie als Feinde; auf die Verächter der Grammatik warten herbe Strafen. Beschlossen wird die Rede mit der Aufforderung an den Schüler, sich dem D Alexander de Villa Dei (NB) anzuvertrauen. P. betrachtet den mal. Grammatiker hier noch distanzlos als leitende

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Autorität. Die Verssprache seines Gedichts bewegt sich ebenso auf vorhumanistischem Niveau. Druck. Carmen Sapphicum Adonicum | Andree Delitzschensis Gram⫽|matice necessitatem monstrans. […]. [Leipzig: Konr. Kachelofen, um 1495/97]. HC 6089. Titelepigr. (7 Dist.) von P. (‘Beherrschung der Grammatik unverzichtliche Voraussetzung für jedes weiterführende Studium’). 2. Poetische Beigaben zu eigenen Ausgaben. a) M. Tullij Ciceronis oratio pro Cn. pom|peio magno in duobus cause generibus | constituta deliberatiuo scilicet et demonstratiuo […]. [Leipzig: Konr. Kachelofen, um 1497/98]. GW 6776. Titelepigr.: M. Andreas Epistates Delitschensis Ad Lectorem, inc. Pompeij laudes hic clausit Tullius acer (3 Dist.). ⫺ NDe: Leipzig 1513 u. 1518. VD 16, C 3288 u. 3289. b) Mythica historia Joannis | Boccacij [⫽ ‘Historia Cimonis’, Decameron V 1] per Philippum | Beroaldum de Italico in latinum translata […]. [Leipzig: Jak. Thanner, um 1498]. GW 4437. Titelepigr. an den Leser (‘Liebe erzieht zu urbanen Sitten’), inc. Contemptum generent beluini ne tibi mores. (3 Dist.). c) Quinti Horatij Flacci de | Arte poetica ad pisones. O. O., J. u. Dr. [um 1498]. BMC III (Catalogue of Books Printed in the XV th Century now in the British Museum, Bd. 3, London 1908), S. 659. Bauch, Leipzig, S. 72. Titelbl.v: Discolon Distrophon M. Andree Praepositi Delitzschensis (‘Begabung bleibt ohne ars fruchtlos’), inc. Dotibus egregijs quanquam natura beauit (4 Dist.). Am Ende: M. Andreas Epistates Delitianus in Antipoetas, inc. Proh dolor insontes lacerant sanctosque poetas (17 Dist.). Invektive gegen die ungebildeten Feinde der Dichtung. Beide Gedichte sind in den NDen wiederholt, das Carmen in Antipoetas auch am Ende des Leipziger Drucks von Wimpfelings ‘Adolescentia’ (s. u. 2.f). ⫺ NDe, mit neuem Titel: Quinti Horatij | Flacci Venusini | Institutiones poetarum ad Pisones | […]. [Leipzig: Jak. Thanner, um 1502]. VD 16, H 4887. Der neue Titel in Anlehnung an Barinus’ Ausg. der ‘Ars poetica’ (Hain 8918); [Frankfurt/O.: Balth. Murrer u. Nik. Lamparter, um 1508]. VD 16, H. 4890. d) P Ouidij Nasonis Sul⫽|monensis Elegiographorum | Vexilliferi. Ars amandi ad Iuuentutem romanam | […]. Leipzig: Jak. Thanner, 1498. Hain 12222. Titelepigr. (‘Liebe ist Ursprung kultivierter Sitten und der süße Schimmer der Welt’), inc. Gratior aligeri pueri nunc castra sequaris (4 Dist.). NDe: P Ouidij Nasonis Sul|monensis elegiographo|rum poetarum clarissimi: | tres de arte amandi libelli: diligentissime correcti. […]. Leipzig: Jak. Thanner, 1503 u. 1507. VD 16, O 1583 u. 1585.

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Probst, Andreas

e) P. Ouidij Nasonis Sulmonensis Heroidum diuersarum epistole: Quas poeta ille ingeniosissimus teneris adhuc annis auspicatus est. […]. Leipzig: Jak. Thanner, 1505. Titelepigr. an den Leser von P., inc. Rumpe moras lector quid stas Cur ere caduco (4 Dist.). ⫺ Abschrift: Freiburg, UB, Hs. 450, Bl. 9 r⫺71r, datiert auf den 22. April 1508. P.s Epigramm ist wiederholt in den von Johannes Gailhofer besorgten ‘Heroides’-Ausgaben Leipzig: Jak. Thanner, 1513 u. 1516. VD 16, O 1590 u. 1592. f) Adolescentia Jacobi | Wimphelingij cum nouis | additionibus per Gallinarium denuo reuisa ac elimata. […]. Leipzig: Jak. Thanner, 3. Jan. 1506. VD 16, W 3333. Korrigierte und in der Anordnung des Stoffes sowie in der Einrichtung des Druckes planvoll redigierte Ausgabe der ‘Adolescentia’ auf der Grundlage der von Johannes J Gallinarius besorgten erweiterten Fassung von 1505. Am Ende P.s Gedicht in Antipoetas (s. o. 2.c). 3. Carmina zu Ausgaben anderer. a) Publij Ouidij Nasonis | Epistola Sapphus ad | Phaonem. | […]. Leipzig: Jak. Thanner, 1503. VD 16, O 1601. Titelepigr. von Johannes Beuschel, dem vermutlichen Hg. Am Ende: Hexastichon M*agistri+ A*ndreae+ P*robst+ (‘Zum Schicksal der Sappho, deren maßlose Liebesleidenschaft kein Vorbild ist’), inc. Dum tibi vita comes castam venerare Dyanam. ND: Leipzig: Martin Landsberg, 1507. VD 16, O 1602. b) Confutatio: apologetici cuiusdam sacre | scripture falso inscripti […] a Magistro Hieronymo Dungerszheim | de Ochssenfart: Sacre theologie professore edita. […]. Leipzig: Wolfg. Stöckel, 23. März 1514. VD 16, D 2947. Unter den im Anhang versammelten poetischen Beigaben von 19 Beiträgern steht P.s Epigramm, mit 12 Distichen auch das umfangreichste, an der ersten Stelle; es lobt Dungersheims standhafte Abwehr des Irrglaubens der Böhmischen Brüder. c) Disputatio | de virtute motiva et | suis instrumentis D. Doctoris Vven⫽|ceslai Bayer Cubitensis Lipsiae ha⫽|bita, Anno 1526 […]. Leipzig: Michael Schmidt, 1526. VD 16, B 947. Titelbl.v: fünf Distichen P.s an den Leser. d) Ludus ludentem Luderum lu⫽|dens quo Ioannes Hasenbergius Bohemus in Bacchanalib. | Lypsiae, omne ludificantem Ludionem, omnibus | ludendum exhibuit. Anno M.D.XXX. |. Leipzig:

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[Michael Blum], 1530. VD 16, H 714. Am Ende, Bl. [E6]r: Carmen Andreae Deliciani F. R. quod in quatuor Luderanos per elementa perdendos lusit (15 Dist.). Schmäh- und Fluchgedicht auf Luther und seine Anhänger: Wie Ulrich von Hutten († 29. Aug. 1523) der Erde, Franz von Sickingen († 7. Mai. 1523) dem Feuer, Wilhelm Nesen († 6. Juli 1524) dem Wasser (der Elbe) anheimgefallen seien, solle das vierte Element, die Luft, Luther vertilgen. ND: Landshut: Joh. Weißenburger, 1531. VD 15, H 715. ⫺ Die ersten 6 Distichen von P.s Gedicht sind eingereiht unter die zahlreichen lutherfeindlichen Beigaben in: Secunda pars | operum Johan. | Eckii contra | Luderum […]. Ingolstadt: Georg Krapf u. Jak. Focker, 1531. VD 16, E 390. Bl. iijv. 4. Zu Konrad Wimpinas Replik auf Martin Polichs ‘Laconismos tumultuarius’ (Responsio et Apologia Conradi Wimpine contra Laconismum cuiusdam medici […]. [Leipzig: Jak. Thanner, 1503]. VD 16, K 1532) trug P. auf Bl. [F8]r pseudonym (s. Bauch, 1899, S. 150) zehn Distichen bei, die Polich wegen “säuischer” Trübung der Quelle der Theologie grob anrempeln. Polich schlug noch im selben Jahr am Ende der ‘Theoremata aurea’ mit Hohn und Spott zurück. 5. Vorlesungsanzeige zu Horaz, ‘Epistolae’ und ‘Ars poetica’: Quintus Horatius Flaccus grauioribus | annis obsitus […]. [Leipzig: Jak. Thanner, um 1499 (?)]. F. Eisermann, Verzeichnis d. typograph. Einblattdrucke d. 15. Jh.s […], Bd. 3, 2004, S. 396 f., P-277. K. Haebler, Kleine Funde, ZfB 27 (1910) 552⫺557, hier S. 555, und E. Voullie´ me, Nachträge z. d. Buchhändleranzeigen d. XV. Jh.s, in: Wiegendrucke u. Handschriften. Fg. K. Haebler, 1919, S. 18⫺44, hier S. 43, datieren das Blatt auf nach 1500. Literatur. B. St¸bel, Ukb. d. Univ. Leipzig von 1409⫺1555, 1879, S. 423; G. Bauch, Die Vertreibung des Joh. Rhagius Aesticampianus aus Leipzig, Archiv f. Litt.gesch. 13 (1885) 1⫺33, hier S. 17 f.; ders., Leipzig, S. 29, 50, 72, 77, 100, 150, 155, 170⫺73, 178, 184; K. Schottenloher, Die Widmungsvorrede im Buch d. 16. Jh.s, 1953, S. 21 f.; O. Herding (Hg.), Jak. Wimpfelings ‘Adolescentia’, 1965, S. 19⫺23 u. 383.

F. J. Worstbrock

Q Questenberg (Questemberg), Jakob Aurelius I . L eb en . Qu. wurde 1467 in Wernigerode am Harz geboren (s. den Eintrag in Vat. Reg. lat. 1831, 131v: 1488 salutis christianae, aetatis meae 21), wo sich die Familie seit Anfang des 15. Jh.s nachweisen läßt. Am 29. Sept. 1482 wurde er in die Matrikel der Univ. Erfurt aufgenommen. Zu seinen Lehrern in Erfurt gehörte Heinrich J Boger, der seinem Schüler später ein Gedicht widmete (Abdruck bei Bauch, S. 99 f.). Unter dem Dekanat Nikolaus Lorers wurde Qu. im Frühjahr 1484 zum Baccalaureus artium promoviert. Ende 1484 bzw. Anfang 1485 verließ er Erfurt in Richtung Rom, wo er im Juli 1485 die Rede Johanns von Dalberg vor Papst Innozenz VIII. verfolgte. Wo und wann Qu. die weiteren akademischen Grade erlangte, ist nicht bekannt; 1490 jedenfalls bezeichnete er sich in einem Brief an Johannes J Reuchlin als Dr. decr. (Reuchlin-Br., Nr. 37). In einer römischen Quelle, im Ausleihregister der Vatikanischen Bibliothek, findet Qu. erstmals 1486 Erwähnung; 1489 erscheint er dort als famulus des Bibliothekars Giovanni Lorenzi. Neben Lorenzi war es vor allem Pomponio Leto, der ihn prägte (s. u. II.C.2.b). Qu. war Familiar des Kardinals Marco Barbo, durch dessen Protektion er Zugang zu den Ämtern an der päpstlichen Kurie erhalten haben dürfte. Spätestens 1490 hat Qu. das Amt eines Brevenschreibers inne, dem die Reinschrift und Registrierung der brevia communia oblag, 1492 auch das des Sollizitators, der die durch die päpstliche Kanzlei und Kammer zu expedierenden Papsturkunden betreute. Bereits unter Innozenz

VIII. († 1492) fand Qu. Aufnahme in die familia des Papstes. Alexander VI. machte ihn dann zum “beständigen Tischgenossen” (continuus commensalis) und berief ihn vor dem 1. Juni 1502 zum Kubikular. Wann Qu. zum päpstlichen Sekretär ernannt wurde, ist unsicher: Im ReuchlinBr., Nr. 132, findet er bereits im Dez. 1504 als solcher Erwähnung, in den vatikanischen Quellen dagegen erst im Jahr 1506. Neben dem Amt des Sekretärs erhielt Qu. im Febr. 1505 auch das Amt eines päpstlichen Protonotars. Mit der Berufung zum clericus collegii wurde ihm 1514 die verantwortliche Ausführung der Geschäfte des Kardinalskollegiums anvertraut. Wie die meisten höheren Kurialen besaß Qu. eine Vielzahl kirchlicher Benefizien; es lassen sich Pfründen bzw. Exspektanzen auf solche am St. Georg- und St. Silvesterstift in Wernigerode (Dekanat), an der Marienkirche (Kanonikat und Kaplanei) und am Bonifaziusstift (Kanonikat; Providierung mit der Präpositur) in Halberstadt, in Worms (Kanonikat), in der Klosterkirche der Zisterzienserinnen in Plötzky (Kaplanei) und an der Pfarrkirche in Everswinkel (Jahrgeld) nachweisen. Über Qu.s Leben in Rom und seine Stellung innerhalb der deutschen Kolonie gibt es nur wenige Informationen: 1509 stiftete er 100 Dukaten für den Bau der Kirche S. Maria dell’Anima, und im Okt. 1513 gehörte er zu den Vorstehern der Bruderschaft des Campo Santo, die den Papst um eine Bestätigung ihrer Statuten und Privilegien baten. Er zählte zum Kreis der gelehrten Freunde des Johannes Goritz, die ihm ihre Epigramme auf die Skulptur der Anna Selbdritt darbrachten (J Suchten). Verbindungen scheint Qu. auch zu Angelo Colocci unterhalten zu haben. Bekanntheit

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Questenberg, Jakob Aurelius

hat Qu. aber vor allem als Unterstützer Reuchlins im Prozeß gegen den Kölner Theologen und Inquisitor Jacobus J Hoogstraeten erlangt. Reuchlin und Qu. waren 1490 in Verbindung getreten; mit diesem Jahr begann eine bis 1520 reichende Korrespondenz, die jedoch offenbar immer wieder durch längere Phasen des Schweigens unterbrochen wurde. Zudem rühren die meisten erhaltenen Schreiben von Reuchlin her; nur drei Briefe aus den Jahren 1490, 1498 und 1505 stammen aus der Feder Qu.s (Reuchlin-Br., Nr. 37, 91 u. 134). Neben den Dedikationsschreiben zu seinen Übersetzungen (s. II.C.1.) sowie zu der für B. Dalberg verfaßten Münzschrift (s. II.B.) und zu den für diesen erstellten Bücherverzeichnissen (s. II.C.2.b) sind es die einzigen brieflichen Zeugnisse Qu.s. In den Korrespondenzen anderer Humanisten (z. B. Michael J Hummelbergs) wird er ⫺ meist im Zusammenhang des Reuchlinprozesses ⫺ jeweils nur erwähnt (vgl. auch J ‘Epistolae obscurorum virorum’, II 10 u. II 53). Mit dem Ende des Prozesses versiegen die Nachrichten über Qu. dann weitgehend. So ist auch das Datum seines Todes nicht bekannt; es muß nach 1524 liegen, da Georg Agricola in diesem Jahr noch mit ihm in Rom zusammentraf. I I. We rk e. Qu. ist durch eigene Werke kaum hervorgetreten; als selbständige Schriften sind nur einige wenige Gedichte und eine Abhandlung über antike Münzen überliefert. Große Bedeutung kommt Qu. dagegen als Kopist griech. und lat. Hss. sowie als Übersetzer griech. Texte zu. A . G ed ic ht e. In einem dem Wormser B. Dalberg als Dank für dessen Förderung gewidmeten Carmen heroicum preist Qu. die Geisteskraft und Tüchtigkeit des Bischofs, der die verlorengegangene Beredsamkeit der Deutschen wiedererweckt und Bildung und Gelehrsamkeit an die Ufer des Rheins zurückgebracht habe (Edition des in einer Abschrift Adam J Werners von Themar

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überlieferten Gedichts in F. J. Mone [Hg.], Quellenslg. d. badischen Landesgesch., Bd. 3, 1863, S. 156 f.). An Dietrich Block, ein Mitglied des Erfurter Kreises von Frühhumanisten um Heinrich J Boger und Heinrich J Fischer, später Professor der Medizin in Rostock und Wittenberg, richten sich ein Gedicht in 21 Asklepiadeen und eine sapphische Ode (9 Strr.), beide im Codex 37.34 Aug. 2°, Bl. 65, der HAB Wolfenbüttel. Eine Invektive gegen Konrad J Celtis enthält Wolfenbüttel, HAB, 58.6 Aug. 2°, 70v; Qu. wirft Celtis darin vor, ein Gedicht des Gregorios Tiphernas auf die Jungfrau Maria unter eigenem Namen veröffentlicht zu haben und vergleicht ihn deshalb mit dem in Martials Epigrammen als Plagiator verspotteten Fidentinus. In einem Gedicht von 33 Hexametern (Clm 716, 162r⫺v) lobt Qu. den Haushofmeister Alexanders VI., Lorenz Behaim, wegen seiner umfassenden Kenntnisse, warnt ihn aber zugleich, über seinen zahlreichen Studien das Leben nicht zu vergessen (Edition der vier Gedichte bei G¸ldner, S. 272⫺ 276). Von Qu. stammen möglicherweise auch zwei sapph. Strophen zum Lob Ks. Maximilians I. in der Hs. Vat. lat. 2934, 573r (Abdruck bei Campanelli, S. 46 Anm. 67). Das Epigramm, das er zu den ‘Coryciana’ beitrug, ist in deren Überlieferung nicht erhalten (s. IJsewijn, S. 242, Nr. 367F, u. S. 399, der in Ia. Aurelius Orodrynus Germanus allerdings Qu. nicht erkannte). B . M ün zs ch ri ft . Im Auftrag von B. Dalberg verfaßte Qu. 1499 eine kurze Abhandlung über Münzen. Darin stellt er die Aussagen antiker Schriftsteller zu Gestalt, Gewicht und Wert der Münzen zusammen und vergleicht den Wert des antiken mit dem des zeitgenössischen Geldes. Die Schrift, die auch ein kurzes Elogium auf Reuchlin enthält, sollte Dalberg als Grundlage für ein eigenes Werk über Münzen dienen (ein solches erwähnt Trithemius, jeweils mit einem anderen Titel, in den ‘Annales Hirsaugienses’ und dem ‘Catalogus illustrium virorum’). Qu.s Abhandlung selbst trägt keinen Titel, wird aber nach einer Angabe im Dedika-

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tionsschreiben unter der Bezeichnung ‘De sestercio, talento, nummis et id genus’ geführt. Das in dem Cod. Vat. lat. 3436, Bl. 243⫺252 überlieferte Autograph des Werkes ist unvollständig; den vollständigen Text bietet eine aus dem ersten Viertel des 16. Jh.s stammende Abschrift im Vat. lat. 3906; darüber hinaus gibt es noch eine Kopie aus dem 18. Jh. (Vat. lat. 14871); Auszüge aus der Schrift bei Mercati, S. 453⫺ 459. C . Tät ig ke it al s Ü be rs et ze r u nd Kop is t. Durch den Unterricht bei Johannes Argyropulos und Giovanni Lorenzi besaß Qu. sehr gute Kenntnisse der griech. Sprache, die er für die Übersetzung griech. Texte ins Lateinische nutzte. Wegen seiner schönen Schrift (manus artifex) war er darüber hinaus als Kopist lat. und griech. Hss. sehr begehrt. Während der ersten Jahre in Rom, vor der Erlangung kirchlicher Pfründen und Ämter, dürfte diese Tätigkeit eine wichtige Einnahmequelle gewesen sein. Die Auftraggeber waren Kuriale wie Francisco de Roias, Domenico della Rovere und Ardicino della Porta, aber auch Auswärtige wie der Wormser B. Dalberg und Johannes Reuchlin. Die griech. Schrift Qu.s weist einen “für einen Westeuropäer erstaunlich ungezwungenen Duktus” auf (Harlfinger, S. 219); sie ähnelt sehr stark der Schrift des Demetrios Chalkondyles, was die jeweilige Zuweisung erschwert. Große Unsicherheit besteht auch bei der Zuschreibung lat. Hss., da Qu. ⫺ durch seine Tätigkeit an der Kurie ⫺ über verschiedene Schriftformen verfügte (s. Campanelli, S. 42). 1. Übersetzungen. Von Qu. stammen die Übersetzung von Proklos’ ’De eclypsibus’ (Kommentar zu Euklid) in der Bibl. dei Conti Capialbi in Vibo Valentina (ms. 15), die Kardinal Domenico della Rovere gewidmet ist, und die Übertragung des pythagoreischen ‘Carmen aureum’ in der Bibl. governativa in Lucca (ms. 3002), die Papst Alexander VI. zugeeignet ist (neben der Übersetzung enthält diese Hs. auch den griech. Text). Für den

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Magdeburger Eb. Ernst von Sachsen bestimmt war die Übertragung des ‘Pinax’ von Ps.-Kebes (‘Tabula Cebetis’) im Clm 924, Bl. 129⫺144 (Abdruck des Dedikationsschreibens bei G¸ldner, S. 271 f.). Darüber hinaus werden Qu. die Übersetzungen von Stobaios im Vat. lat. 2938 (Mercati) und von Demosthenes’ ‘Pro Ctesiphonte’ in der Hs. F VI 31 der UB Basel (Sicherl) zugeschrieben. Verloren scheint hingegen die Übersetzung einer Schrift des Astrologen Vettius Valens (erwähnt in der Münzschrift, s. Mercati, S. 458). 2. Kopien. a) Griechische Handschriften. Auf einem verlorengegangenen Codex der Vatikanischen Bibliothek beruht die 1494 von Qu. erstellte Abschrift der Epitome von Athenaios’ ’Deipnosophistai’ in der Bibl. Laurenziana in Florenz (Nr. 60.2). Von der Florentiner Hs. fertigte Qu. dann wiederum eine Kopie der Epitome, die heute zum Bestand der UB Würzburg (M. p. Gr. f. 1) gehört; diese Kopie war ursprünglich für B. Dalberg bestimmt, kam jedoch in den Besitz Reuchlins und aus dessen Nachlaß noch im 16. Jh. an die Grafen von Erbach. Der genannte vatikanische Codex bildete vermutlich auch die Vorlage für die Abschriften zweier Werke des Corpus Aristotelicum, der ‘Mirabilia’ und ‘Physiognomonica’, in der Hs. Havn. Fabr. 60⫺4° der Kgl. Bibl. Kopenhagen (Bl. 1⫺49). Diese werden wie die in der gleichen Hs. enthaltenen Kopien von Kolluthos’ ’De raptu Helenae’ und Tryphiodoros’ Kurzepos ‘Ilii excidium’ (Bl. 140⫺164) heute zumeist Qu. zugewiesen (so Canart und Harlfinger; B. Schartau, Codices Graeci Haunienses, Kopenhagen 1994, S. 389 f., nennt dagegen Chalkondyles als Schreiber). Von der Hand Qu.s stammen auch ein Index zum ‘Florilegium’ des Stobaios in der Bibl. Nazionale Florenz (Magliabech. XXI 114) sowie Auszüge aus Porphyrios’ ‘Sententiae’ und Proklos’ ‘Institutio theologica’ und ‘Theologia Platonica’ in der BN Paris (Suppl. gr. 450, Bl. 161⫺178). Nicht mehr erhalten ist Qu.s Abschrift der ‘Orationes adversariae’ von

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Aischines und Demosthenes, die vermutlich als Vorlage für Reuchlins 1522 bei Thomas Anshelm in Hagenau publizierte Ausgabe diente, ebensowenig wie die Kopie von Proklos’ Paraphrase zu Ptolemaios’ ‘Tetrabiblos’, die Melanchthon 1555 für seine Basler Edition benutzte (Dˆrner, S. 167 f.). Verloren gingen wohl auch Qu.s Kopien des Proömiums von Alexanders von Aphrodisias Kommentar zu Aristoteles’ ‘Sophistici elenchi’ (erwähnt in Reuchlin-Br., Nr. 37), von Porphyrios’ ‘De abstinentia animalium’ und Libanios’ Briefen (s. Berto` la, S. 83 u. 86) sowie der Werke Epiktets und Arrians (s. Mercati, S. 455). b) Lateinische Handschriften. Für seinen Lehrer Pomponio Leto fertigte Qu. die Hs. Vat. Ottobon. lat. 2989 an, die Abschriften der Werke Sallusts, der unter Sallusts Namen überlieferten ‘Epistulae ad Caesarem senem’ und Letos Vita Sallusts enthält. Der Inhalt des Codex stimmt mit Letos 1490 in Rom bei Eucharius Silber herausgegebener Sallustausgabe überein (ein ursprünglich im Besitz Letos befindliches Exemplar dieses Drucks mit Einträgen von Qu. befindet sich heute in der Sammlung Vat. Stamp. Ross. 441). Verbindungen zu Pomponio Leto ergeben sich auch bei Qu.s Abschrift der 1474 in Bologna erschienenen Editio princeps der ‘Argonautica’ des Valerius Flaccus in Vat. Reg. lat. 1831, da Qu. in das Manuskript Marginal- und Interlinearglossen mit den Erläuterungen seines Lehrers zu diesem Werk eingetragen hat. Für Kardinal Domenico della Rovere (s. auch C.1.) bestimmt war die Kopie von Senecas ‘De ira’ in Vat. Reg. lat. 1545. Im Besitz Kardinal Francesco Todeschini Piccolominis (Pauls III.) befand sich der Papiercodex Vat. Chig. F VIII 198 mit Qu.s Abschrift der ‘Vitae summorum pontificum’ des Iacopo Zeno, einer Geschichte des Papsttums von Petrus bis auf Clemens V. Vermutlich für eigene Studien legte Qu. den Codex Vat. lat. 2934 an (Campanelli, S. 44), der eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Stücke umfaßt, darunter u. a. Übersetzungen der Briefe des Libanios und des Ps.-Dionysios Areopagita, von Platons ‘Phaidon’ und von Xeno-

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phons ‘Hieron’ und ‘Memorabilia’, des weiteren Ramo´n Llulls ‘De probatione articulorum fidei’ und Schriften italienischer Humanisten wie Francesco Cardulo, Giovanni Gatti, Giovanni Battista Petrucci, Sigismondo dei Conti oder Niccolo` Perotti. Den Abschluß des Bandes bilden Perottis ‘Refutatio deliramentorum Georgii Trapezuntii’ und Briefe von Humanisten (u. a. Filelfo, Argyropulos, Ficino) zum Lob von Bessarions ‘In calumniatorem Platonis’; diese sind auch Teil der Hs. Vat. lat. 3399, für die (ab Bl. 41) Campanelli, S. 50, Qu. als Schreiber reklamiert. In dem Codex Vat. Ottobon. 1732 stammt zumindest die Abschrift von Nikolaos Sagundinos’ Übersetzung der Kranzrede des Demosthenes von dem deutschen Kurialen und in Vat. lat. 2990 die Kopie der Übersetzung von Sextus Empiricus’ ‘Adversus mathematicos’ (bei den anderen in diesem Band enthaltenen Übersetzungen, nämlich von Aristoteles’ ‘De anima’ und ‘Magna moralia’ und Alexanders von Aphrodisias ‘Problemata’, finden sich zahlreiche Anmerkungen von seiner Hand). Ebenfalls zugewiesen werden Qu. die Bll. 180⫺190 in dem aus Angelo Coloccis Besitz stammenden Vat. lat. 2847 (Gionta, S. 410 f.) Aus den Beständen der British Library schließlich schreibt A. Fairbank Qu. die Kopien von Plinius’ d. J. ‘Epistulae’ (Add. 23777), von Ciceros ‘De amicitia’ (Harl. 2690) und von Corvinus Messalas ‘Panegyricus’ (Harl. 2708) zu (vgl. P. O. Kristeller, Iter Italicum, Bd. 4, Leiden 1989, S. 112 u. 148). Wie umstritten die Zuweisungen sein können, zeigt auf eindrückliche Weise das Beispiel des von Qu. für B. Dalberg angelegten Ms. XLII 1845 der LB Hannover. Der Codex enthält den von Platina verfaßten Katalog der Vatikanischen Bibliothek, Verzeichnisse der von Ianos Laskaris für Lorenzo de’ Medici erworbenen Manuskripte und der von Giorgio Merula in Bobbio entdeckten Hss., eine Zusammenstellung der Plutarchcodices der Vaticana sowie die lat. Kapitelüberschriften des Stobaios-Florilegiums. Während Gebhardt, S. 245, und Harlfinger, S. 222 (so auch H. H‰rtel / F. Ekowski, Hss. d. Niedersächs. LB Hannover, Teil 2, 1982, S. 281⫺

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283), neben dem Dedikationsschreiben an Dalberg (113v) nur die lat. und griech. Korrekturen und Randbemerkungen in den Verzeichnissen Qu. zuweisen und als Schreiber den Padovaner Kopisten Bartolomeo Sanvito identifizieren, sieht Morelli, S. 14 Anm. 2, hingegen in Qu. den Schreiber des gesamten Codex (mit Ausnahme des Dedikationsbriefes). Zusätzlich zu den genannten Verzeichnissen in der LB Hannover wird Qu. von Gionta, S. 1006, die Kopie des Inventars der Bibliothek von Giovanni Pico della Mirandola in der Hs. Vat. lat. 3436, 263r⫺294v (s. o. II.B.) zugeschrieben (Edition des Inventars bei P. Kibre, The Library of Pico della Mirandola, New York 1936, S. 115⫺297). Neben den Hss. mit Kopien vollständiger Werke gibt es eine Reihe von Manuskripten, in denen sich lediglich Einträge von der Hand Qu.s finden. Dazu zählen z. B. die beiden Codices E III 25 und E III 27 der Bibl. Nazionale in Turin (Argyropulos’ Übersetzung von Aristoteles’ ‘Ethica Nicomachea’ und ‘De anima’ mit Annotationen Qu.s), die Hs. Vat. lat. 5641 (verschiedenartige Einträge auf den Bll. 8, 54, 96⫺100, 180, 183, 216 und 233⫺236) und die Hs. Vat. Borg. lat. 336, die Bl. 33 Qu.s Kopie von Inschriften des Gioconda da Verona enthält. In den letzten Jahren hat Gionta darüber hinaus in einer Reihe von Inkunabeln umfangreiche hsl. Einträge Qu.s nachweisen können, so in Paris, BN, Re´s-R-13 (Apuleius, Opera, Vicenza 1488) und in der Bibl. Apostolica Vaticana Inc. II 13 (Eusebios, ‘Praeparatio evangelica’, Venedig 1497), Inc. II 20 (M. Manilius, ‘Astronomica’, Rom 1484), Inc. II 116 (Theophrast, ‘Historia plantarum’, Treviso 1483), Inc. II 301 (Ammianus Marcellinus, Rom 1474) und Inc. III 19 (Claudianus, Opera, Vicenza 1482 ⫺ es handelt sich hierbei um eine vollständige Kopie des Kommentars von Pomponio Leto im Vat. lat. 3311). Literatur. E. Jacobs, in: ADB 27, 1888, S. 45⫺47; Bauch, Erfurt, S. 99 f. u. 121⫺123; O. v. Gebhardt, Eine verlorene u. eine wiedergefundene Stobaeus-Hs., in: Beitr. z. Bücherkunde u.

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Philologie. A. Wilmanns [...] gewidmet, 1903, S. 243⫺264; F. G¸ldner, J. Au. Qu., ein dt. Humanist in Rom, Zs. d. Harz-Ver. f. Gesch. u. Altertumskunde 38 (1905) 213⫺276; Cl. Aldick, De Athenaei Dipnosophistarum Epitomae codicibus Erbacensi Laurentiano Parisino, Diss. Münster 1928; G. Mercati, Questenbergiana, in: ders., Opere minori, Bd. 4 (Studi e testi 79), Citta` del Vaticano 1937, S. 437⫺459; M. Berto` la, I due primi registri di prestito della Biblioteca Apostolica Vaticana (Codices e Vaticanis selecti 27), Citta` del Vaticano 1942, S. 79 f., 82 f., 85 f.; H. Hommel, Der Würzburger Athenäus-Codex aus Reuchlins Besitz, in: ders., Symbola, Bd. 1 (Collectanea 5), 1976, S. 411⫺428; P. Canart, De´me´trius Damilas, alias le ‘Librarius Florentinus’, Rivista di Studi Bizantini e Neoellenici NF 14⫺16 (1977⫺79) 287⫺307, 319 f., 329 u. 336; M. Sicherl, Joh. Cuno, 1978, S. 28, 81, 115 u. 117; Th. Frenz, Die Kanzlei d. Päpste d. Hochrenaissance (1471⫺ 1527) (Bibl. d. Dt. Hist. Inst. in Rom 63), 1986, S. 358; D. Harlfinger (Hg.), Graecogermania. Griech.stud. dt. Humanisten, 1989, S. 218⫺223; E. Gamillscheg / D. Harlfinger, Repertorium d. griech. Kopisten 800⫺1600, Teil 2, 1989, S. 86 f.; G. Morelli, Le liste degli autori scoperti a Bobbio nel 1493, Rivista di filologia e di istruzione classica 117 (1989) 5⫺33; P. Walter, Joh. v. Dalberg u. d. Humanismus, in: 1495 ⫺ Ks., Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms, 1995, S. 139⫺171, hier S. 148 f. u. 167 f.; M. Campanelli (Hg.), Andrea Brenta, Discorso sulle discipline. Per l’inaugurazione dell’anno scolastico nello studio urbis (Roma nel Rinascimento. Inedita 11), Rom 1995, S. 39⫺ 55 u. 141⫺143; D. Gionta, Il Claudiano di Pomponio Leto, in: V. Fera / G. Ferrau´ (Hgg.), Filologia umanistica per G. Resta, Padua 1997, Bd. 2, S. 987⫺1032; J. IJsewijn (Hg.), Coryciana, Rom 1997, S. 242 u. 399; G. Dˆrner, J. Qu. ⫺ Reuchlins Briefpartner an d. Kurie, in: Reuchlin u. Italien (Pforzheimer Reuchlinschr. 7), 1999, S. 149⫺179; D. Gionta, Tra Qu. e Colocci, Studi medievali e umanistici 3 (2005) 404⫺412; ders., Un Apuleio postillato da Giacomo Aurelio Qu., in: I classici e l’universita` umanistica, Messina 2006, S. 261⫺ 304.

Gerald Dˆrner

R Rack J Rhagius, Johannes, Aesticampianus Reisach (Rey-, -sacher, -schach, Ryszich, Ries, Risch; Rysicheus), Dietrich I . L eb en . R.s Name erscheint in den Quellen (dt. Autographen, Ingolstädter Matrikel und Univ.akten, Prozeßakten u. a.) weitaus häufiger in der zweisilbigen Form Reisach (Rey-, -schach) als in der dreisilbigen Reisacher (Rey-), in den lat. Drucken, in seiner lat. Korrespondenz und in den Besitzvermerken seiner Bücher aber regelmäßig latinisiert als Rysicheus (Risichaeus). Auch dem latinisierten Namen liegt die zweisilbige Namensform zugrunde. In der Korrespondenz mit Celtis und in seinen lat. Veröffentlichungen führt er den Beinamen Germanus.

R., geb. zu Bruchsal wohl in den späteren 1460er Jahren, studierte in Heidelberg seit 1482 die Artes (immatr. 2. März 1482: Theodricus Riszich de Prosella dyoc. Spir.) und anschließend in Italien die Rechte ⫺ nach der prosopographischen Tradition (Reisach, Rieder), deren Quellen unbekannt sind, in Bologna und Padua, wo er angeblich 1496 den Dr. iur. utr. erwarb. In den durchweg sorgfältig geführten Akten der Universitäten Bologna (s. Knod, Bologna) und Padua (s. E. Martellozza Forin, Acta graduum academicorum gymnasii Patavini ab anno 1471 ad annum 1500, Rom/Padova 2001) ist weder eine Immatrikulation noch eine Graduierung R.s verzeichnet. Er selbst verweist nur auf Filippo Beroaldo d. Ä., der in Bologna sein (humanistischer) Lehrer gewesen sei (Peutinger-Br., S. 124). Für einen längeren Aufenthalt in Italien spricht nicht zuletzt sein humanistisch geschultes Latein, das ihm auch J Stabius zubilligte, während er seine Eignung als juristischer Universitätslehrer in Zweifel zog (Celtis-Br., S. 351). R., der auf seine Titel viel Wert legte, zeichnete erstmals in einem Brief an Konrad Celtis vom 31. März 1498 als I*uris+

U*triusque+ doctor und so auch in den späteren Briefen; zuvor, 1496 und 1497, hatte er mit ihm ohne Titel korrespondiert. Die genannten Befunde lassen an einem bereits in Italien erworbenen Doktorat zweifeln.

Spätestens im Herbst 1495 befand sich R. wieder in Deutschland. Er hielt sich damals in Heidelberg auf, gehörte der Sodalitas litteraria Rhenana an (vgl. Celtis-Br., S. 171) und hatte offenbar zu J Celtis selbst ein besonders nahes Verhältnis, das noch Jahre anhielt. Pfalzgraf Philipp bestellte ihn, sicherlich nicht ohne Celtis’ Rat (vgl. Celtis-Br., Nr. 103), zum Lehrer seines zweiten Sohnes Ruprecht, der, erst 14jährig, am 1. Aug. 1495 zum Bischof von Freising gewählt worden war; R. unterrichtete ihn, wie er am Ende seiner Trauerrede auf Hedwig von Polen (s. u. II.A.2.) erwähnt, in den bonae artes. Von 1496 bis zur Berufung auf den Ingolstädter Lehrstuhl für Zivilrecht im März 1498 hielt er sich daher bald in Freising, bald in Heidelberg auf. Den Ruf nach Ingolstadt verdankte er der Fürsprache des oberbayerischen Hzg.s Albrecht; als neuer ordinarius iuris ciuilis matutinus immatrikulierte er sich dort am 22. April. Im Okt. 1498 erreichte ihn ein Ruf auf die kanonistische Professur in Wien, den er aber ablehnte. R. war ein Mann, der Ansprüche stellte. Sein Professorengehalt, das zunächst 100 fl. betrug, vermochte er bald auf 125 und 1503 auf 180 fl. zu steigern. Ämter im Dienste der Universität oder seiner Fakultät übernahm er nicht, wohl aber betrachtete er seinen Auftritt als Redner bei prominenten Gelegenheiten als seine Sache. Fürstengunst und Fürstendienst prägten R.s weitere Karriere. 1502 ernannte ihn der niederbayerische Hzg. Georg zum Rat. Nach Georgs Tod 1503 trat R. in den

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Reisach, Dietrich

Dienst Hzg. Albrechts, nach dessen Tod 1508 in den seines Sohnes Hzg. Wilhelm. Im Prozeß zwischen Graf Wolfgang von Öttingen und Hzg. Albrecht um die Stadt Wemding (1506⫺08) war er zusammen mit seinem Ingolstädter Kollegen Johannes Lupfdich Anwalt des Herzogs; über eine gütliche Einigung verhandelte er damals mit dem Richter des Schwäbischen Bundes Johannes J Reuchlin. 1509 wurde er zum Assessor des Reichskammergerichts in Worms berufen. Den Ingolstädter Lehrstuhl (samt Besoldung) behielt er jedoch bei; die Universität müßte für Vertretungen und deren Kosten einstehen. In seiner Tätigkeit am Reichskammergericht zog er sich, anscheinend auch durch mißliebiges Gebaren, Feindschaften zu und wurde bereits im Herbst 1511 vorläufig suspendiert, konnte aber trotz Unterstützung durch Ks. Maximilian nicht mehr in sein Amt zurückkehren. Maximilian hat ihm 1511 sein Wohlwollen sichtbar durch den unter dem 1. März ausgestellten Wappenbrief bekundet (vgl. Rieder, S. 20 f.) und am 22. Sept. durch die Bestellung zum ksl. Rat. Nach Mederer (S. 81) erhielt R. 1513 den Auftrag, die Heirat Hzg. Wilhelms mit der Königin von Schottland, der Schwester des engl. Kg.s Heinrich VIII., in die Wege zu leiten; seine Reise nach England blieb jedoch erfolglos. Nach der Rückkehr fertigte er unter dem 26. Nov. 1513 für Hzg. Wilhelm einen Bericht über die Praxis der Besteuerung in verschiedenen deutschen und ausländischen Ländern an (Abdruck bei Reisach, S. 75 f.). R.s Mißgeschick am Reichskammergericht folgten weitere in Bayern. 1514 verlor er auf Betreiben der Landstände von PfalzNeuburg das Amt des hzg.lichen Rates, und Ende 1515 konnte der mächtige Rat Leonard Eck Hzg. Wilhelm bewegen, R. wegen seiner überhöhten Gehaltsansprüche die Ingolstädter Professur nicht länger zu belassen (s. Seifert). Aller Ämter und Einkünfte ledig, trat er 1515 in hessische Dienste über ⫺ die ältere Forschung bis einschl. Lieberich, 1964, wußte trotz Gundelach, 1930, davon nichts ⫺, war 1515 auf ein Jahr hessischer Advokat, 1516⫺19 Assessor am Hofgericht zu Mar-

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burg, vertrat 1519⫺20 Hessen beim Schwäbischen Bund, nahm 1521 im Gefolge des Lgf.en Philipp am Wormser Reichstag teil. Er starb am 1. März 1523 (in der älteren Forschung als Todesjahr irrig stets 1517 genannt). R. heiratete 1490 Dorothea Dorfbeck und nach ihrem Tode 1500 Felicitas Peringer († 1540), die Tochter des Ingolstädter Bürgermeisters, mit der er fünf Kinder hatte. R. betrachtete sich, wie man seinen Reden entnimmt, als humanistisch kultivierten Gelehrten und suchte den Umgang mit Personen entsprechender Geistesart. Neben Celtis und den Heidelberger Sodalen zählte er schon 1497 auch J Cuspinian zu seinen Freunden. Mit Konrad J Peutinger stand er spätestens 1502 in Verbindung, und er kannte in Augsburg auch Adolf D Occo. 1510 gratulierte er Peutinger zur Geburt seines Sohnes Claudius Pius und bat ihn gleichzeitig um Auskunft über die Bedeutung des kaiserlichen Beinamens Augustus (Peutinger-Br., Nr. 75); Peutinger antwortete ihm mit einer förmlichen Abhandlung über den Namen Augustus (Nr. 77). Von irgendeinem Kontakt R.s zu seinem Ingolstädter Kollegen Jakob J Locher hört man freilich nichts. R. kooperierte universitätspolitisch mit Lochers erbittertem Gegner Georg Zingel, hatte dessen Vertrauen und gehörte zu seinen Testamentsvollstreckern. Von R.s Bibliothek sind in Stift Wilhering der dortige Cod. 125 (14. u. 13. Jh., Ambrosius) mit dem Besitzvermerk Liber Theoderici Rysichei Germani J. V. doctoris und etliche Inkunabeln erhalten (s. Die Hss.-verzeichnisse d. Cistercienser-Stifte, Bd. 2, 1891, S. 64). I I. We rk . Die Veröffentlichungen R.s, sämtlich Hzg. Georg d. Reichen gewidmet, fallen in die Zeit 1501⫺1502, in der R. Verbindung zu Hzg. Georg suchte und dann auch zum hzg.lichen Rat ernannt wurde. Die drei Reden stellen mehr oder minder aufdringlich rhetorischen Aufputz und humanistische Gelehrsamkeit zur Schau. Unveröffentlicht blieben R.s historische Arbeiten.

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A . Red en . 1. Trauerrede auf Pfalzgräfin Margaretha. R. hielt die Trauerrede auf Pfalzgräfin Margaretha, die Schwester Hzg. Georgs d. Reichen, am 19. Febr. 1501 in der Ingolstädter Marienkirche vor der, wie er betont, mit allen Fakultäten versammelten Universität. Die Rede gibt kein individuelles Bild der Verstorbenen, sondern kennt nur epideiktische Pflichten, ergeht sich im Preis der fürstlichen und weiblichen Tugenden Margarethas, bezieht in die Eloge auch ihre acht Söhne wie eingangs schon Hzg. Georg ein. Widmung an Hzg. Georg mit den fälligen Trostworten unter dem 28. Febr. 1501. Druck. Theodorici Rysichei | Germani Oratio.|. Nürnberg: Balthasar Schleiffer, 15. April 1501. VD 16, R 4015.

2. Trauerede auf Herzogin Hedwig. Die feierliche Trauerrede auf Hedwig von Polen, die im Februar 1502 verstorbene Gemahlin Hzg. Georgs, hat R. aufgrund der Intervention mißgünstiger Konkurrenten, wie er sagt, nicht halten können. Er beschwert sich darüber in der Widmung des Druckes an Hzg. Georg (Ingolstadt, 25. Febr. 1502) und einem beigedruckten Brief an Konrad Peutinger (28. Febr. 1502, fehlt im Peutinger-Br.), mit dem er ihn und Adolf Occo um Vermittlung der Drucklegung in Augsburg bat. Druck. Theodorici Rysichei Germani | Oratio. Augsburg: Joh. Schönsperger d. J., 20. Mai 1502. VD 16, R 4016.

3 . ‘ In la ud em s. Iv on is or at io ’. Die Rede auf den hl. Ivo Helory (†1303), den Patron der Ingolstädter Juristenfakultät, die R. am 19. Mai 1502, dem Festtag Ivos, in Ingolstadt vor der versammelten Universität hielt, folgt in ihrem Aufbau nach weitschweifigem Exordium sehr einfach der Biographie des Heiligen. Sie berichtet knapp über seine Herkunft, sein Studium der Artes in Paris, der Rechte und der Theologie in Orle´ans, seine Gelehrsamkeit und Züge seiner frommen und asketischen Lebensführung, hebt seine Tätigkeit als Richter hervor, sein Eintreten für die Armen gegen die Reichen (aduoca-

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tus pauperum), schließt mit seinem Tod, der Kanonisation und einer Peroratio, die zur Imitatio auffordert. Erst die opulente rhetorisch-literarische Ausstattung brachte die nur spärlich mitteilsame Biographie auf den stattlichen Umfang der Oratio, die im Druck 10 Folioseiten umfaßt. Die ausgearbeitete, sicherlich nicht in gleicher Form gehaltene Preisrede prunkt mit humanistischem Wissen, für dessen selbstgefällige Präsentation sie keine Verbrämung, keine Digression scheut. Neben Stichwörtern zum Inhalt füllen Namen beigezogener antiker Autoritäten die äußeren Ränder der Folioseiten, so viel sich dort unterbringen ließ. Widmung mit einer panegyrischen Vorrede unter dem 21. Juni 1502 an Hzg. Georg, der als Förderer der Wissenschaft und mustergültig gerechter Herrscher gepriesen wird. Druck. Theodorici Rysichei germani in | laudem sancti Hyuonis Oratio. | […]. Augsburg: Joh. Rynmann, 8. Dez. 1502. VD 16, R 4014.

B . Ü be rs et zu ng de s s og . A ri st ea sB ri ef s. Erste dt. Version des zwischen 130 und 100 v. Chr. entstandenen Berichts eines heidnischen Beamten Aristeas an seinen Bruder Philokrates über die Übersetzung des Pentateuchs ins Griechische. R.s Vorlage war die lat. Übersetzung des griech. Originals durch Matteo Palmieri (Drucke: GW 2330⫺32). Er widmete sie Hzg. Georg unter dem 1. Jan. 1502 als persönliche Gabe für dessen Lektüreinteresse. Druck. Aristeas zu seinem bruder philocratem | von den ain vnd sibentzigen auslegern. |. Augsburg: [Joh. Schönsperger d. Ä.], 3. Jan. 1502. VD 16, A 3261.

C . H is to ri sc he Ar be it en . 1. ‘Deutsche Kaiserchronik’. Die bisher so gut wie unbekannte Kaiserchronik, gewidmet Hzg. Albrecht am 1. Sept. 1504, abgeschlossen aber erst nach der Schlacht von Wenzenbach (12. Sept.), dem letzten berichteten Ereignis, ist ein Katalog kurzgefaßter Porträts der römischen Kaiser von Iulius Caesar bis zu Maximilian I. Sie vertritt den Gedanken der

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Kontinuität des römischen Kaisertums und kennt als deren Bedingung die Translatio des Imperium (hier unter Konstantin d. Gr.) nach Byzanz und seine Rückkehr ins Abendland unter Karl d. Gr. Die Porträts bestehen typisch aus kurzen Angaben jeweils zur Herkunft und zu den Taten der Kaiser, geben vielfach nur ein summarisches Urteil, vornehmlich über ihre Herrschermoral; bisweilen ist eine Anekdote eingeflochten oder ein bezeichnender Ausspruch; nahezu konstant aber sind angegeben die Zahl der erreichten Lebens- und die Dauer der Regierungsjahre. R.s ‘Kaiserchronik’ ist in dieser ihrer Art nicht von ihm selber geschaffen, ist vielmehr eine Übersetzung des ‘Liber Augustalis’ Benvenutos von Imola, immer wieder, wenn auch oft nur geringfügig, angereichert aus anderen Quellen, selten, und dann nur spärlich, gekürzt. R.s Auskunft, er habe seine Chronik ausz viel lateinischer geschicht schreiber gezogen (Bl. 3 r), verbirgt die tatsächliche Quellenlage. Nach welchen Quellen R., da Benvenuto mit Kg. Wenzel schließt, die Abschnitte von Sigismund bis Friedrich III. verfaßte, ist noch nicht geklärt; die von Aeneas Silvius besorgte Fortsetzung des ‘Liber Augustalis’ (Text: (NA 29 [1904] 263⫺265) kannte er nicht. Gegen Benvenuto ließ er den nur zwei Monate regierenden Florianus (nach Tacitus) aus, fügte aber eigene Abschnitte über Maxentius und Maximianus II. vor Konstantin d. Gr. ein. Während die Abschnitte über die Kaiser von Octavianus Augustus bis Hadrian und später von Heinrich II. bis Lothar von Supplinburg sich fast ganz mit der bloßen Übersetzung des ‘Liber Augustalis’ begnügen, erweiterte R. die Abschnitte über Iulius Caesar, Heliogabal, Karl d. Gr., Otto d. Gr., Friedrich Barbarossa mit erheblichen Ergänzungen. Regelmäßig werden Zusätze erst von den staufischen Kaisern an. Mit erkennbarer Aufmerksamkeit fügte R. Notizen zur bayerischen Geschichte bei.

Das Projekt eines Kaiserbuchs hatte im deutschen Humanismus der Zeit besonderes Interesse (vgl. Joachimsen, Gesch.auffassung, S. 202 f.). Peutinger arbeitete an seinem Kaiserbuch schon vor 1502; R. wußte wahrscheinlich davon. Gleichwohl wird man R.s Kaiserchronik, die keinen Ansatz zu kritischer Geschichtsforschung zeigt, nicht auf Urkunden, auf Inschriften-

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und Münzfunde zurückgreift, keinesfalls in eine Reihe mit Peutingers und Cuspinians Unternehmen stellen. R. trägt mit Benvenuto noch die Mär weiter, Karl d. Gr. habe das Hl. Land von den Sarazenen befreit, und auch, was er über Benvenuto hinaus über Iulius Caesar vermeldet, gehört in die Legende. Handschrift. Stuttgart, Württ. LB, HB V 29. Pergament, 41 Bll., illuminiertes Widmungsexemplar für Hzg. Albrecht (vgl. Rohr). Die Hs. wurde schon früh erheblich beschädigt. Nicht nur wurden einige der 121 teilweise auf Goldgrund gemalten Initialen, welche die einzelnen Abschnitte der Chronik eröffnen (dazu eine Initiale der Widmung und eine weitere Bl. 3 r), ausgeschnitten, vor allem gingen mindestens drei Pergamentbll. verloren; sie wurden durch neue Pergamentblätter, die heutigen Bll. 12⫺13, 30⫺31 und 38⫺39, ersetzt, diese von einer zweiten Hand beschrieben, aber nicht mit R.s Text, vielmehr füllte der Schreiber die entstandenen Lücken nach einer gänzlich anderen Quelle als dem ‘Liber Augustalis’ mit deutlich breiter gefaßten Kaiserporträts aus. Die Einpassung der Ersatzstücke blieb provisorisch.

2. Am 20. Juni 1511 vollendete R. unter dem Titel Gesta quorundam Francorum regum seine Abschrift der ‘Annales Fuldenses’ (ed. F. Kurze [MGH SS rer. Germ. 7], 1891) aus einem Codex der Wormser Dombibliothek. Die Personennamen und Inhaltsverweise, die er neben den Jahreszahlen auf den Randspalten jeder Seite eintrug, standen vielleicht schon in der Vorlage. Eigene Beigabe R.s aber sind die wappenartigen Zeichen, mit denen er dabei Personen und Ereignisse der bayerischen Geschichte ⫺ häufig Hzg. Tassilo III. ⫺ markierte. Die Abschrift entstand nicht im Fürstendienst, sondern diente offenbar dem eigenen Gebrauch. R. fügte ihr am Ende (Bl. 77 v) eine autobiographische Notiz bei, die sie als Autograph deklariert, ihr Abschlußdatum angibt und zu diesem mitteilt, daß am selben Tage sein Sohn Dietrich getauft worden sei, den er gut sechs Monate später durch den Tod verloren habe. R. hat seine Abschrift mit einem Anhang zur Geschichte Tassilos III. versehen (Bl. 78 r⫺v). Einer genealogischen Skizze zu den Karolingern von Karl Martell an und zugleich zu Tassilo und seiner weiteren

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Verwandtschaft folgt in dt. Sprache eine vielleicht von R. selber verfaßte kurze Biographie Tassilos III., deren Quellenspektrum über die ‘Annales Fuldenses’ und die hier nicht minder wichtigen ‘Annales regni Francorum’ deutlich hinausgeht. An sie schließt sich eine wiederum persönliche Mitteilung R.s an: Er habe häufig Tassilos Grab (in Kloster Lorsch) besucht und am 10. Mai 1511 auch das Epitaph seines Sarkophags notiert, das er nun zitiert: Thessilo Dux primum post Rex Monachus et ad imum etc. Zu dem auch andernorts überlieferten Epitaph, das ausweislich der leoninischen Hexameter aus späterer, nicht aus Tassilos Zeit stammt, s. F. Falk, Gesch. d. ehem. Klosters Lorsch, 1862, S. 155 f. Handschrift. München, Clm 1226, 2°, Pap., Ausschnittling mit alter Blattzählung (43⫺78). ⫺ Kopie (17./18. Jh.) von R.s autobiographischer Notiz, die seine Abschrift abschließt, und des Anhangs zur Geschichte Tassilos III. samt R.s Schlußnotiz im Clm 1371 (Konvolut verstreuter hsl. Miscellanea aus Kloster Polling), Bl. 198 r⫺200 v. Literatur. J. N. Mederer, Annales Ingolstadiensis Academiae, Pars I, 1782, S. 53, 62, 81, 83; H. A. v. Reisach, Versuch einer Gesch. d. Hzg.tums Neuburg, Neuburger Taschenbuch 3 (1810) 8⫺149, hier S. 62⫺76; C. Prantl, Gesch. d. MaximilianLudwigs-Univ., 1872, Bd. 1, S. 105, 117 f., 129; Bd. 2, S. 140 f.; S. Riezler, Gesch. Baierns, Bd. 4, 1899, S. 4⫺8; R. Smend, Das Reichskammergericht, 1. Teil: Gesch. u. Verfassung, 1911 (ND 1965), S. 102 u. 106; O. Rieder, Die Familie v. Reisach. Geschichtl. Überblick mit Stammbaum, Kollektaneen-Bl. f. d. Gesch. Bayerns insbes. d. ehemal. Hzg.tums Neuburg 75/76 (1911/12) 1⫺88. hier S. 13⫺21 (irrig in der Frage der Abstammung); Peutinger, Br., S. 123 f., 125 f., 128 f.; F. Gundlach, Die hessischen Zentralbehörden von 1247⫺ 1604, Bd. 3: Dienerbuch, 1930, S. 203 f., 346, 363; Celtis-Br., S. 164, 171, 235, 240⫺245, 248 f., 323, 338, 342, 351, 374 f., 399; H. Lieberich, Landherren u. Landleute. Zur polit. Führungsschicht Baierns im SpätMA, 1964, S. 56, 90, 100; ders., Die gelehrten Räte. Staat u. Juristen in Baiern in der Frühzeit d. Rezeption, Zs. f. Bayer. Landesgesch. 27 (1964) 120⫺189, hier S. 142 u. 180; ders., Klerus u. Laienwelt in d. Kanzlei d. baier. Herzöge d. 15. Jh.s, ebd. 29 (1966) 239⫺258, hier S. 257; A. v. Rohr, Bemerkungen zu einer Kaiserchronik von 1504 f. Hzg. Albrecht v. Bayern, Sammelbl. d. Hist. Ver. Ingolstadt 81 (1972) 197 f. u. Taf. XX; A. Seifert, Die Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Texte u. Regesten, 1973, S. 77 f.; H. Wolff,

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Gesch. d. Ingolstädter Juristenfakultät 1472⫺ 1625, 1973, Reg. (sehr fehlerhaft, für R. unbrauchbar); R. Stauber, in: Biogr. Lex. LMU, S. 325 (lükkenhaft); Reuchlin-Br., Bd. 2, S. 507 f., 521 f. u. ö. (Reg.).

F. J. Wors t b ro c k

Reisch (Reusch, Rusch; Rei-, Rieschius), Gregor (Georg, Jörg) I . L eb en . Gregor R. wurde um 1467 in Balingen geboren. Über Herkunft und Schulbildung ist nichts bekannt. Am 25. Okt. 1487 nahm ihn die Freiburger Matrikel als Kleriker der Diöz. Konstanz auf (Gregorius Rusch de Balingen). 1488 folgte das Bakkalaureat, 1489 das Magisterexamen (Cedulae bei Bodemann, S. 447⫺449). Lehrtätigkeit schloß sich an. Am 9. Mai 1494 wurde R. in Ingolstadt inskribiert, am selben Tage wie der junge Franz Wolfgang von Zollern, vielleicht als dessen Mentor (R. war den Zollern als seinen Gönnern verpflichtet, s. das R., generosi Comitis de Zolrn alumno, zugeeignete Gedicht Adam J Werners in der ‘Margarita philosophica’ [II.A.a.1.⫺5.]). Zurück in Freiburg, erhielt R. als dritter Kandidat das Stipendium der Stiftung Konrad Arnolds für ein Studium der Theologie an der Freiburger domus Carthusiana. Ein Studium in Heidelberg, das Andreini für die Zeit zwischen 1496 und 1498 “con sicurezza” erschließen möchte (S. 9), läßt sich ebenso wenig belegen wie die der Kartäuserannalistik geläufige Doktorpromotion “iuris utriusque” (Petreius, S. 109; vgl. Le Vasseur, Bd. 2, S. 78). Letztere könnte auf Verwechselung mit dem 1584 in Ingolstadt inskribierten Monacensis famulus Georgius Reisch (Matr. Ingolstadt, Bd. 1, S. 1142), iuris utriusque doctor, beruhen (vgl. R. A. M¸ller, Universität u. Adel, 1973, S. 200). Spätestens mit Erhalt des Stipendiums muß sich die Beziehung R.s zur Kartause intensiviert haben. Der genaue Zeitpunkt, an dem R. dort die Profeß ablegte, ist nicht bekannt. Es kann frühestens 1496 und wird noch vor 1500 (Mertens, S. 76) der Fall gewesen sein. Selbst bei einem Eintritt i. J.

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1496 (Stˆhlker, S. 787) käme das Priorat, das R. zwischen Mai 1501 und Jan. 1502 anstelle Jakob Loubers in der Kartause Buxheim versah, recht früh. In der Baseler Kartause hingegen ist er zu keiner Zeit Prior gewesen. Mit der Wahl zum Prior der Freiburger Kartause am 19. Jan. 1502 begann R.s eindrucksvolle Karriere innerhalb des Ordens. 1507 wurde er Mitglied des Generalkapitels, in dessen Auftrag er 1510 für die Drucklegung der Ordensstatuten bei Amerbach in Basel sorgte (vgl. II.C.2.). Als Franc¸ois du Puy, Generalprior des Ordens und Verfasser der ‘Tertia compilata’ der Statuten, im Sept. 1521 verstarb, wurde R. zu seinem Nachfolger gewählt. Seit 1510 zog ihn Ks. D Maximilian I. öfter ins Vertrauen. Anfang Jan. 1519 nach Wels beordert, nahm er dem Kaiser die letzte Beichte ab (8. Jan.) und erhielt genaue Anweisungen über die Behandlung des kaiserlichen Leichnams. Maximilian bestimmte R. zu einem seiner Testamentsvollstrecker. Am 11. Jan. reichte R. dem Sterbenden die letzte Ölung. In spannungsreichen Zeiten amtierte R. wiederholt als Mediator. Als 1520 der Prior der Benediktiner von Alpirsbach, Ambrosius Blarer, als Kryptolutheraner angeklagt werden sollte, bestimmte man R. zum Schiedsrichter. Im Dez. 1521 vermittelte er im Streit zwischen Ulrich von J Hutten und der Straßburger Kartause. 1523 vom Bischof von Konstanz zu Hilfe gerufen, um die in Zürich mit den Anhängern Zwinglis ausgebrochenen Streitigkeiten beizulegen, spürte er bereits die Vorboten des schweren Schlaganfalls, der ihn im selben Jahr ereilte. Die Umstände, in die die Kartause durch den Bauernkrieg geraten war, waren dem geschwächten Prior ungünstig. Er starb, evakuiert, am 9. Mai 1525. Sein Grabmal hat sich nicht erhalten. Der Nekrolog der Kartause weist auf Einnahmen in Höhe von 800 fl. hin, die R. dem Kloster als Beichtvater Maximilians und als Schriftsteller bescherte (Bl. 128 r). Angesichts der vielfältigen Aktivitäten R.s und der symbiotischen Beziehung zwischen Kartause und Universität hat man annehmen wollen, R. sei lehrend ans Ka-

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theder getreten. Dies ist positiv nicht zu erweisen, vor dem Hintergrund kartäusischer Lebensweise und Lehrgewohnheit, die sich auf das ‘Predigen mit den Händen’ beschränkte, auch unwahrscheinlich. Jedenfalls erklärt Johannes J Eck, er habe R. um 1502 in Cartusia aufgesucht, um sich von ihm in Mathematik und den Feinheiten der Theologie unterrichten zu lassen. Zuvor scheint schon Matthias J Ringmann bei R. gewesen zu sein, dem er wegweisende mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse verdankt. So wird sich R.s Auftreten an der Albertina auf Administration beschränkt haben. Die beiden Stiftungen der Artes-Professoren Johannes Kerer und Konrad Arnold sahen ein Mitwirken des Kartäuserpriors als Exekutor vor. Hier amtierte R. als praesidens mit dem von ihm mitbestellten Poetik- und Juraprofessor Caspar Baldung. Als Prior war R. in seiner literarischen Aktivität keinen Einschränkungen unterworfen. Eine geordnete Korrespondenz hat sich nicht erhalten. Vereinzelte Briefe lassen indes auf ausgedehnten Schriftverkehr schließen. Im September 1514 unterrichtete ihn J Erasmus von Rotterdam, der R. als Philologen schätzte, von Basel aus über seine Arbeiten an der Edition der Briefe des Hieronymus (Erasmus, Op. epist., Ep. 308 f.). Im Brief vom 5. Juni 1516 an John Fisher zählte er R. zu jenen gebildeten und aufrichtigen Theologen, die sich über die Ausgabe des NT anerkennend geäußert hätten; R. sei ein vir summae autoritatis apud suos (Ep. 413); seine sententia besitze bei den Deutschen oraculi pondus (Ep. 456). In der Tat muß R. weit über die Grenzen seines Ordens hinaus Freunde und Bewunderer gehabt haben (s. u. IV.). Paul Volz, Prior in Schuttern, der zur ‘Margarita philosophica’ ein Gedicht beigesteuert hatte, besaß ein Widmungsexemplar (Straßburg 1504; Sack, Nr. 84). Jakob Otther widmete R. seine Ausgabe von D Geilers von Kaysersberg ‘Navicula penitentie’ (Augsburg: Joh. Otmar, 1511); im einleitenden Brief (15. Nov. 1510) hob er die Freundschaft zwischen R. und dem Straßburger Domprediger hervor. Gelegentlich mag für

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eine Huldigung an R. auch der Kontakt der Beiträger zum Drucker ausschlaggebend gewesen sein. Für den Freiburger Juristen Ulrich J Zasius, mit dem er in Stiftungs-Angelegenheiten zusammenarbeitete, steht die Bekanntschaft mit R. ebenso außer Frage. wie für Dietrich J Ulsenius, der sein Gedicht auf die ‘Margarita’ (in deren 2. Druck von Joh. Schott, 1504, Bl. [tt5]r; s. II.A.a.3.) Ex gymnasio Friburgensi unterschrieb. I I. We rk . A . ‘ Ma rg ar it a p hi lo so ph ic a’ . Ausweislich des Gedichts Adam Werners, das der ‘Margarita’ (⫽ ‘M.’) in ihrer Erstausgabe vorgedruckt und in Johann Schotts zweiter Ausgabe (s. u. a.3.) auf den 30. Dez. 1496 datiert ist, lag das Manuskript der ‘M.’ Ende 1496 vor; Werner drängte in seinem Gedicht (v.11 f.) R. zur Veröffentlichung des Werks. Wohl noch 1497 übergab R. es dem Basler Drucker Johann Amerbach, der im Herbst 1498 eine Ausgabe vorbereitete (Amerbach-Korr., Nr. 76 u. 84), sie aber nicht realisierte. Mit der Wahl zum Prior in Freiburg forcierte R. die Drucklegung, bei der ihn Konrad J Pellikan unterstützte; dieser erbat namens des Druckers Johann Schott im Mai 1502 von Amerbach die Rückgabe des Manuskripts (Amerbach-Korr., Nr. 153). Wie das in der Brieflehre der ‘M.’ (Buch II 2, 6) für ein Datierungsbeispiel gewählte Jahr 1502 wahrscheinlich macht, hat R. damals das Manuskript zumindest noch einmal durchgesehen. R. konnte in der Kartause auf keine Druckerpresse zurückgreifen, und ob der Straßburger Johann Schott, der sich seit Anfang 1502 in Freiburg aufhielt, 1503 bereits im Kloster druckte, läßt sich nicht nachweisen. Makulierte Probedrucke in den Typen Schotts aus der hauseigenen Buchbindewerkstatt deuten indes darauf, daß R.s Plan, die marianischen Tagzeiten direkt in der Kartause aufzulegen, spätestens 1508 möglich war (vgl. II.C.1.). a ) D ru ck üb er li ef er un g. Zwischen 1503 und 1600 entstanden 10 vollständige Drucke, eine Übersetzung ins

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Italienische (1599, 21600) und zwei Teildrucke. Grundlegend geprägt ist die Druckgeschichte bis 1517 durch die Konkurrenz der autorisierten Drucke von Johann Schott (u. Michael Furter) und der nicht-autorisierten, jedesmal durch Schriften anderer erweiterten Drucke von Johann Grüninger. Zur Erdbeschreibung innerhalb des VII. Buches gehörte in allen Drucken bis 1535 eine als Faltblatt eingeheftete Weltkarte. Ein umfangreiches alphabetisches Register (im Erstdruck 58 Sp.) machte das Werk auch zum Nachschlagen geeignet. Beschreibung der Drucke bei J. Sabin, A Dictionary of Books relating to America from its Discovery to the Present Time, Bd. 16, New York 1886, S. 508⫺515; ergänzend: Hartfelder, S. 192⫺200; J. Ferguson, The Margarita Philosophica of G. Reisch. A Bibliography, The Library, 4 th ser., 10 (1930) 194⫺216.

1. Margarita Philosophica. Freiburg i. Br.: Joh. Schott, um den 15. Juli 1503. VD 16, R 1033. Bl. [3]v: 11 Dist. von Adam Werner an R. mit der Aufforderung zur Veröffentlichung der ‘M.’. Am Ende 4 sapph. Strr. von Paul Volz an R. Faksimile der Weltkarte, die in Schotts / Furters Drucken 1504, 1508, 1517 und noch von Petri 1535 wiederverwendet wurde: Die große Weltkarte aus Reisch, Gregorius, Margarita philosophica zu den Ausgaben Freiburg, Joh. Schott, 1503 […], München [1926]. 2. Aepitoma omnis phylosophica. ali⫽| as margarita phylosophica tractans | de omni genere scibili: Cum additionibus: Que˛ in alijs non habentur [...]. Straßburg: Joh. Grüninger, 23. Febr. 1504. VD 16, R 1034. Mit den Carmina von Adam Werner u. Paul Volz. Variante: VD 16, ZV 25532. Faksimile der Weltkarte, die der Karte von Schotts Druck 1503 getreu nachgeschnitten ist und von Grüninger in seinen Drukken von 1508 und 1512 wiederverwendet wurde: Die große Weltkarte aus Reisch, Gregorius, Margarita philosophica zu den Ausgaben Straßburg, Joh. Grüninger, 1504, 1508, 1512, München [1926]. In Grüningers Raubdruck ⫺ selbst den Titelholzschnitt kopierte er ⫺ ist auf Bl. F ixr⫺F xxviii v eingeschoben Konrad Pellikans ‘De modo legendi et intelligendi He-

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braeum’. Diese Einführung in die Elemente des Hebräischen erschien, mit Ergänzungen, Umstellungen und Kürzungen, auch in den späteren Grüninger-Drucken der ‘M.’ sowie 1535 im Basler Druck Heinrich Petris. 3. Margarita philosophica. [Straßburg]: Joh. Schott, 16. März 1504. VD 16, R 1035. Titelbl.v: Die 11 Distichen von Adam Werner (wie Nr. 1) nur hier mit dem Datum Ex Heydelberga. iij. Kl’ Ianuarias M:CCCC.lxxxxvi (bei Weihnachtsstil: 30. Dez. 1495!) versehen. 4. Margarita philosophica | cum additionibus nouis: ab auctore suo | studiosissima reuisione tertio superadditis [...]. Basel: Michael Furter u. Joh. Schott, 16. Febr. 1508. VD 16, R 1036. Titelepigr. von Joh. Schott. Titelbl.v: 21 Distichen Matthias Ringmanns auf die ‘Margarita’. Am Ende Carmina von Adam Werner (wie Nr. 1), Dietrich J Ulsenius, Jakob J Locher. 5. Margarita philosophica nova. Straßburg: Joh. Grüninger, 31. März 1508. VD 16, R 1037. Reprint: Andreini, 2002. Titelbl.v⫺A iiijv: Epigrammata commendaticia operis von Ulrich Zasius, Dietrich Ulsenius, Adam Werner, Jakob Locher, Peter D Schott († 1490), Matthias Ringmann, I*ohannes+ A*delphus+ (J Muling), Paulus Wolff (irrig für: Volz). Die Epigramme von Ringmann (gekürzt um 2 Dist.) und Locher sind aus Nr. 4 übernommen. Durch inserierte Schriften anderer Autoren stark vermehrte Ausgabe: Der ‘Institutio grammaticae Latinae’ sind angefügt Pellikans ‘Institutio hebraica’ (s. o. Nr. 2) sowie eine von Adelphus Muling besorgte kurze Unterrichtung über das griech. Alphabet und seine lat. Wiedergabe; der Rhetorik ist angehängt die Gedächtniskunst des Petrus Ravennas, der Brieflehre der ‘Epistolandi modus’ des Filippo Beroaldo; die Musiklehre ist erweitert durch die als musica figurata übernommenen Teile 3 und 4 des ‘Opus aureum musicae’ Nikolaus Wollicks, die Melchior Schanppecher zum Autor haben; an die Geometrie sind angeschlossen Martin J Waldseemüllers ‘Introductio architecturae’ und seine Perspektivik; neues Schlußstück ist das ‘Pan-

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epistemon’ Angelo Polizianos, eine summarische Enzyklopädie. 6. Margarita Phi|losophica noua cui insunt | sequentia. | Epigrammata in | commendationem operis. | Institutio Grammatice˛ Latine˛ | Pre˛cepta Logices | Rhetorice˛ informatio | Ars Memorandi Rauennatis | Beroaldi modus componendi Epi*stolas+. | Arithmetica | Musica plana | Geometrie principia | Astronomia cum quibusdam de⫽|Astrologia | Philosophia Naturalis | Moralis Philosophia cum figuris […]. Straßburg: Joh. Grüninger, 31. Mai 1512. VD 16, R 1038. Bl. A ijr⫺A iijr die Carmina von Peter Schott, Ringmann, Adelphus Muling. Die dem Druck Grüningers von 1508 inserierten Stücke anderer Autoren sind nun, bis auf Beroaldos ‘Epistolandi modus’ und der Gedächtniskunst des Petrus Ravennas sowie Polizianos ‘Panepistemon’, das gestrichen wurde, in einer separaten Appendix Matheseos in Margaritam philosophicam zusammengefaßt, die außerdem weitere neue Lehrstücke zur Geometrie und Astronomie enthält, darunter die von Martin Waldseemüller verfaßte ‘Astrolabii novi geographici compositio’ und einen Auszug aus Walter J Luds ‘Speculi orbis declaratio’. 7. Margarita Phi/|losophica noua Cui annexa | sunt sequentia. | Grecarum literarum institutiones | Hebraicarum literarum rudimenta | Architecture rudimenta | Quadrantum varie compositiones [...] Cartha vniversalis terre marisque [...]. Straßburg: Joh. Grüninger, 1515. VD 16, R 1039. Mit den Carmina von Schott, Ringmann, Adelphus Muling. Die Appendix entspricht der des Grüninger-Druckes von 1512. Es fehlt aber die ‘Musica figurata’, und zwei kleine Stücke zur Geometrie kommen hinzu. ⫺ Neben der Weltkarte der bisherigen GrüningerDrucke eine neue, von Martin Waldseemüller gezeichnete Weltkarte mit der Überschrift: Typus vniversalis terrae, iuxta modernorum distinctionem et extensionem per regna et provincias, die auch unter den Namen Zoana Mela und Paria seu Prisilia die neuentdeckten Erdteile im Westen berücksichtigt. Faksimile: Weltkarte aus

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Reisch, Gregorius, Margarita philosophica, Straßburg, Joh. Grüninger, 1515, München [1926]. 8. Margarita | Philosophica cum | additionibus nouis: | ab auctore suo studiosissima | reuisione | quarto super|addi|tis […]. Basel: Mich. Furter, 5. März 1517. VD 16, R 1040. Mit den Carmina von Ringmann, Werner, Ulsenius, Locher. Reprint: L. Geldsetzer (Instrumenta Philosophica. Ser. Thesauri 1), 1973. 9. Marga-|rita philosophica Rati/|onalis, Moralis philosophiae princi/|pia, duodecim libris dialogice comple/|ctens, olim ab ipso autore recognita: | nuper autem ab Orontio Fineo Delphi|nate castigata et aucta, una cum ap/|pendicibus itidem emendatis et quam | plurimis additionibus et figuris, ab | eodem insignitis [...]. Basel: Heinr. Petri u. Konr. Resch, 1535. VD 16, R 1041. Mit den Carmina von Adelphus Muling (hier anonym) u. Peter Schott. Bl. a 2 r⫺v: Widmungsbrief des Pariser Mathematikers Orontius Fineus Delphinas an Michel Boudet, B. von Langres (Paris 1523). Die Appendix enthält alle zuvor gedruckten Anhänge und außerdem neue Stücke zur Arithmetik und Geometrie. 10. Margarita Philo⫽|sophica, | hoc est, | habitvvm sev disciplinarvm omnivm, | qvotqvot philosophiae syn⫽|cerioris ambitu continentur, perfectißima | kyklopaideia […]. Basel: Seb. Henricpetri, 1583. VD 16, R 1042. Mit Carmina von Peter Schott, Hermann J Buschius, Johannes J Caesarius. 11. Margarita filosofica del R.do P. F. Gregorio Reisch, nella quale si trattano con bellissimo, & breve metodo non solo tutte le dottrine comprese nella Ciclopedia degli antiqui cioe` Cerchio, over Rotolo delle scienze, ma molte altre ancora aggiuntevi di novo da Orontio Fineo [...] Tradotta nuovamente dalla lingua Latina nell’Italiana da G. P. Galluci. [Venezia 1599]. 12. Dass., [Venezia 1600]. 13. Einen nicht-autorisierten Auszug der ‘M.’ (Buch I) stellt der Druck dar, den Benedikt Teil bei Jakob Thanner für den Leipziger Universitätsbetrieb veranlaßte. Der Text wurde weitgehend treu

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übernommen, vermutlich aus Grüningers Druck von 1504 (Nr. 2). Es fehlen alle griech. und hebr. Passagen. Grammatica sub forma dia|logi a Gregorio Reischio no|stra etate in omnium scibilium genere sane doctissi|mo Edita / Omnem grammatice discipline mate|riam cum succinte tum compendiose | complectens Philosophice Margari|te veluti ianua ac Introduc|torium. Leipzig: Jak. Thanner, 1511. Fehlt in VD 16. Geiss, Petrarcarezeption, S. 338. Mit einleitendem Gedicht ad lectorem von B. Teil und Widmungsvorrede an Magister Dominicus Frouis de Felkirch (!). 14. Nur die Geometrie (Buch VI) wurde 1549 in Paris sub imagine D. Stephani ex adverso scholae Remensium gedruckt. Die Anregung scheint auf Orontius Fineus (Nr. 9) bzw. dessen Wirken zurückgegangen zu sein. Artis metiendi seu Geometriae liber, ex Gregorii Reischii Margaritaˆ Philosophicaˆ. Paris: G. Morelius, 1549. Maittiare III/2, S. 576. Hartfelder, S. 200, Nr. 10. Ex.: Paris, BN. Handschriften. Die hsl. Überlieferung der ‘M.’, meist Exzerptüberlieferung oder bereits redaktionellen Charakters, beruht stets auf Drucken. Sie ist nicht einmal in Ansätzen gesichtet. Ich nenne nur Fundsachen: Gent, UB, ms. 7, vollst. Text, geschr. 1505 für Abt Raphael de Marcatellis von St. Bavo in Gent (A. Derolez, Inventaris van de Handschriften in de Universiteitsbibliotheek te Gent, 1977, S. 1); Herzogenburg, Stiftsbibl., Ms. 81, Exzerpte, 17. Jh. (Kristeller, Iter Italicum, Bd. 6, S. 428a); Solothurn, ZB, S 322, Collecta aus Buch VI, geschr. 1530/31, 1534 Besitz des Basler Studenten Jakob Ney (Scarpatetti, Nr. 367, Abb. 618).

b ) A uf ba u u nd In ha lt . R.s ‘Margarita’ präsentiert auf ihren ersten Blättern ‘Philosophia’ als zusammenfassenden Begriff verschiedener Systeme von Wissenschaft. Während sie in einer schulmäßigen aristotelischscholastischen Philosophiae partitio, die allen Ausgaben eingangs beigegeben ist, philosophia in eine theorica und eine practica, die theorica in eine realis und eine rationalis, die practica in eine actiua und eine factitiua teilt und alle diese noch weiteren Teilungen bis hin zu den Einzelfächern unterzieht, erfaßt sie in der Überschrift des Inhaltsverzeichnisses, die wiederum in allen Ausgaben wiederkehrt, das Ganze der Philosophia mit der stoisch-neuplatonischen Trias Philosophia rationalis, naturalis, moralis. In einer dritten Version, im Titelholzschnitt der ersten vier Drucke, bildet die Philosophia triceps: naturalis, rationalis, moralis mit den

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Sieben freien Künsten einen geschlossenen Kreis. Wiederum anders erhebt sich im Holzschnitt zur Grammatik (Buch I) der Bau der Wissenschaften in Gestalt eines Turms über die Sieben freien Künste und über die phisica und die moralis (philosophia) hinauf bis zur Theologia seu Methaphi*sica+.

Aussagefähig für den Aufbau der ‘M.’ ist keine dieser miteinander inkompatiblen Vorstellungen der Philosophia, sondern allein die Strukturierung des in 12 Bücher geteilten Werks selbst: Die Bücher I⫺VII sind je einer der sieben Artes liberales gewidmet ⫺ R. spart sich am Schluß von Buch VII nicht den Vermerk Finis septem artium liberalium ⫺, die Bücher VIII⫺XI der Philosophia naturalis, nämlich den Naturalis philosophie˛ principia (VIII), dem Ursprung und der Erzeugung aller natürlichen Dinge (IX), der Anima vegetatiua und sensitiua (X), der Anima intellectiua (XI); Gegenstand von Buch XII ist die Philosophia moralis. Dieses Fächerspektrum, das R. freilich sowenig erläutert wie seinen Begriff von Philosophia, bildet nicht ein striktes System, gibt vielmehr den praktischen Lehrbereich des allgemeinbildenden Artes-Studiums der Zeit wieder. Die ‘M.’ strebt als kompendienhaft gefaßte Enzyklopädie nicht zur Höhe der Wissenschaft, will vielmehr Einführungen liefern, rudimenta, wie es öfter heißt. Sie ist adolescentes zugedacht und verläuft wie viele Schulschriften seit Donats ‘Ars grammatica’ durchgehend als Lehrgespräch zwischen dem fragenden discipulus und dem autoritativ über das Wissen verfügenden magister. Der Grad der fachlichen Ansprüche ist von Buch zu Buch verschieden, dürfte bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen höher liegen als bei den Fächern des Triviums. Desungeachtet hat jedes der Bücher seinen wissenschaftsgeschichtlichen Ort. Über diesen ist Fall für Fall freilich nicht sicher zu befinden, solange es an zureichenden Quellenstudien und vergleichenden Analysen noch fehlt. In den Grammatice˛ rudimenta (Buch I), welche die Buchstaben, Morphologie, Syntax und Prosodie des Lateins umfassen, legt R. bewußt auf eine leicht faßliche, von der Fracht der ‘Doctrinale’-Kommentare

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gänzlich entlastete Darstellung Wert, zieht Beispiele fast ausschließlich aus antiken Autoren heran und beansprucht, non barbaro, sed latino sermone zu unterweisen. Er versteht sich demnach zu humanistischen Grundsätzen der Spracherziehung. Die Kapitel über Deklination und Konjugation bestreitet er mit einer versifizierten Lehre in der Art von Alexanders ‘Doctrinale’; die Versform soll wie dort auch hier der Einprägsamkeit des Stoffes dienlich sein. Zur Verdeutlichung von Sachverhalten der Elementargrammatik greift R. ab und an auch zur Volkssprache. Die didaktische Aufmerksamkeit, die sich hier zeigt, zeichnet die ‘M.’ insgesamt aus. Für den Anfängerunterricht in der Logik war nach J Wimpfelings Urteil neben den ‘Summulae’ des Petrus Hispanus auch die Logik (Buch II) der ‘M.’ geeignet (vgl. Wimpfeling-Br., S. 863). R. hat in ihr “Hauptlehren der Logik aus Aristoteles, Petrus Hispanus und den modernen Terministen unter überwiegender Bevorzugung des Aristoteles” (Prantl) zusammengestellt. Die Rhetorik (Buch III) bietet, vornehmlich auf der Grundlage der D ‘Rhetorica ad Herennium’, einen Abriß der klassischen Rhetorik einschl. einer Ars memorativa (Abdruck bei J. J. Berns / W. Neuber [Hgg.], Documenta mnemonica, Bd. 2, 1998, S. 2⫺5). Zweiter Teil ist eine Brieflehre, die sich deutlich auf J Celtis’ ‘Tractatus de condendis epistolis’ stützt. R.s Behandlung der quadruvialen Disziplinen Arithmetik (IV), Musik (V) und Geometrie (VI) fällt durch die Neuerung auf, daß er ihrem traditionellen theoretischen Teil (speculativa) jeweils einen anwendungsbezogenen Teil (practica) anschließt. Durch den Anwendungsbezug nähert er sie jedoch keineswegs, wie Meier, 1995, nahelegt, den Artes mechanicae an. Die Astronomie (VII) schließt wie im herkömmlichen Kanon die Kosmographie ein und diese die Geographie als Beschreibung des sublunaren Raums, der sich aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft, Feuer aufbaut. R.s geographische Vorstellungen sind, mit wenigen Korrekturen, durchweg die alten ptolemäischen. Über die neuen

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ultramarinen Entdeckungen und Erfahrungen fällt kein Wort. Grundlage für R.s Beschreibung der drei Kontinente Europa, Asien, Afrika und ihrer bewohnten Länder und Inseln ist die bei Kap. 48 beigeheftete Weltkarte, nachgebildet der Karte der Ulmer Ptolemäus-Ausgabe von 1482; sie weist in verschiedenen Randlegenden auf eine Kenntnis der Erde über Ptolemäus hinaus hin. Teil 2 der Astronomie gehört der Astrologie, geht aber über eine Einweisung in die astrologische Praxis weit hinaus. Hauptgewicht hat eine ausgedehnte, mit Stimmen der Kirchenväter, v. a. Augustins, und anderer Theologen vielfältig bestückte Diskussion des konfliktreichen Verhältnisses von Astrologie und christlicher Lehre. Nicht zu den geschlossen aristotelischscholastisch konzipierten natur- und moralphilosophischen Büchern VIII⫺XII, sondern allein zu den Büchern I, III, V und VI haben der Drucker Grüninger und seine gelehrten Helfer Anhänge beigebracht und sie sukzessiv vermehrt. Es sind Beiträge, die auf einen jüngst erst aufgekommenen Bedarf eingehen (Einführung ins Hebräische, das griech. Alphabet, Gedächtniskunst des Petrus Ravennas, Brieflehre Beroaldos), vor allem aber mathematische, kosmographische und geographische Beiträge neuesten Datums; dazu gehören als die wichtigsten die Beiträge Waldseemüllers, seine neue Weltkarte, seine ‘Novi geographici astrolabii compositio’, die erstmals Richtlinien für ein mathematisches Kartennetz entwirft, und seine Einführungen in die Architektur und in die Lehre der Perspektive. Sie alle konnten die ‘M.’ aktualisieren, sie über ihr eigenes Niveau hinaus modernisieren, damit aber auch das Werk R.s zu einem Teil entstellen. Vielleicht hat R. selber darauf gedrungen, alle die neuen Beiträge nicht mehr der ‘M.’ zu inserieren, sondern sie getrennt von ihr in einer Appendix zusammenzustellen, wie es dann 1512 (Nr. 6) geschah. c ) I ll us tr at io ne n. Bis zu Nr. 9 (1535) wurden in der S ch ot t-Tradition für die Bilder der Septem artes die Druckstöcke von 1503 verwendet. Ab Nr. 3 (1504) wurde der in der

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ersten Auflage vergessene Holzschnitt der Geometrie eingefügt. Nr. 3 bietet auf der Titelseite noch wie Nr. 1 die dreifache Philosophie im Kreis der Artes. Sie ist in Nr. 4 (1508) durch einen in der Philosophia wurzelnden Baum der Wissenschaften ersetzt. Dagegen wurde das sowohl Buch VIII als auch Buch IX einleitende Bild von der Erschaffung des Weibes aus Adams Rippe, obwohl Verlegenheitslösung, durch alle Ausgaben weitergereicht (Nr. 3, 4, 8). Die Bücher X⫺XII erhielten keine eigenen Titelholzschnitte, wurden auch sonst spärlich illustriert. Innerhalb der Schott-Tradition ist im übrigen eine relative Festigkeit des Bilderbestandes erkennbar. Daß etwa der ursprünglich ganzseitige Vermesser mit dem Jakobsstab in Buch VI 2,4 (Bl. [l4]r) ab Nr. 4 (1508, Bl. q vv) auf den Randstreifen gedrängt wurde, hat v. a. ökonomische Hintergründe. Die meisten Textillustrationen enthält Buch IX, dessen bemerkenswerteste Innovation vielleicht die ab Nr. 4 neu geschnittene Badeszene ist, in der nun außer Flötenspiel auch Rezitation (oder Gesang vom Blatt?) geboten wird. Allein mit der Freude am Außergewöhnlichen wären die ohne erkennbaren Grund erneuerten Meerwunder (ab Nr. 4) und die Wiederholung der Fabelwesen (aus Buch VIII, Nr. 4, Bl. A iiijr, bzw. Nr. 8, Bl. z iijr) direkt vor der ganzseitigen Niederkunft am Schluß des Buches zu erklären. Als Verfertiger der Holzschnitte gelten traditionell, doch ohne detaillierte Zuweisungen, Martin Obermüller und Michael Wolgemut. Die Holzschnitte, die G rü ni ng er neu herstellen mußte, sind im Bereich der Septem artes exakt an denen Schotts orientiert, korrigieren diese aber in Details. So sind auf dem Logik-Bild die Albertisten, Thomisten und Occamisten nun sinnvoll auf die Baumstämme der silva opinionum verteilt. Neu geschnitten wurde das Titelbild der Musik, in dem entsprechend den Polizian-Zusätzen in räumlicher Zweiteilung zwischen musica naturalis (Schmied Tubal, im Freien) und artificialis (Poeta, unter einem Dach) unterschieden wird und deren Bildauffassung insgesamt moderner wirkt als ihr Gedankenbild-Pendant von 1503 (vgl. Schmid, S. 250⫺253). Neu er-

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scheint auch das Titelbild der Geometrie in Nr. 7 (1515). Zwar verzichtete Grüninger auf ein Bild zu Buch VIII, doch ließ er die Erschaffung Evas aus Adams Rippe in Buch IX neu, wenn auch kleiner, schneiden. In Nr. 6 und 7 ersetzte Grüninger den bildlichen Holzschnitt der Titelseite des Werks durch einen ornamentalen, der den Werktitel Margarita philosophica noua und ein kurzes (unvollst., in Nr. 7 verändertes) Inhaltsverzeichnis einfaßt. B . The ol og is ch e S ch ri ft en . 1. ‘Argumenta super libros De civitate Dei’. In einer Niederschrift, die den Verfasser R. als priorem nostrum anspricht und also wohl (wie die ursprünglich beigebundene Ink. 4° K 2140,bb der UB Freiburg: GW 2928) aus der Freiburger Kartause stammt, haben sich S. Augustini super libros XXII De civitate dei argumenta erhalten. Die mit einem Prolog (1v) anhebenden ‘Argumenta’, denen sich ein Verzeichnis der Kapitel von ‘De civitate Dei’ I anschließt, zerfallen als Text durch Nachträge theologischer Notizen auf ursprünglich frei gebliebenen Blättern. Eine Untersuchung des Textes, der bisher allein von der Augustinus-Forschung bemerkt wurde (Kurz, S. 60), fehlt. Die ‘Argumenta’ bieten eine Materialsammlung, wie R. sie in der ‘Margarita’ verwendet haben dürfte. Aus keinem anderen Werk wird dort in vergleichbarer Frequenz zitiert wie aus ‘De civitate Dei’. Da die Zitate oft mehrere Bücher auseinander liegen, scheint R. über eine entsprechende Sammlung, wie sie die ‘Argumenta’ darstellen, verfügt zu haben. Überlieferung. Freiburg, UB, Hs. 666, 1r⫺50 r.

2. Auslegung des Prologs zum Johannesevangelium. Die kleine exegetische Arbeit, die nur in einer 1520 vom Bibliothekar der Basler Kartause, Georg J Carpentarius, geschriebenen Hs. überliefert ist, wurde von der Forschung bisher nicht erfaßt. Entstehungszeit und -kontext bleiben unklar. R. stand mit Carpentarius u. a. wegen der Basler Hieronymus-Ausgabe in Verbindung (bis 1514).

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Überlieferung. Basel, UB, A N VI 54, 63 r⫺ 66 v. Scarpatetti, Bd. 1, S. 230, Nr. 641; Abb. des Textanfangs: Bd. 1/2, S. 260 Nr. 636.

3. Sermones. Wie die meisten schreibenden Kartäuser hat R. Sermones-Reihen zu den kirchlichen Festtagen abgefaßt. Sie sind in zwei Hss. aus den Kartausen Basel und Thorberg b. Bern überliefert. Eine inhaltliche Erschließung der beiden von der Forschung bisher übersehenen, schwer zugänglichen Sammlungen steht aus. Überlieferung. Basel, UB, Cod. A VIII 3.

Kristeller, Iter Ital., Bd. 5, S. 44b. ⫺ La Val-

sainte, Bibl. d. Kartause, 48/T I 4, 1r⫺69 r u. 73 r⫺ 118 v. Geschr. zwischen Juni 1521 und März 1524 vom Thorberger Kartäuser Johannes Hurer. Gruys, S. 240; Scarpatetti, Bd. 3, Nr. 411. C. Herausgeber und Korrektor. 1. Cursus beatae Mariae virginis. Septem psalmi poenitentiales. Agenda mortuorum. [Freiburg, Kartause: Joh. Schott, 1508]. Nicht VD 16. Von R. im Kloster veranstalteter, zweifarbiger Druck mit einer von Peter Thaler, dem Vikar R.s und späteren Prior von Ittingen (1511), ins Auge gefaßten Auflage von 400 Exemplaren (Amerbach-Korr., Anh. Nr. 2, S. 473, Z. 16 ff.). Probedrucke fanden sich als Makulatur aus der Buchbinderwerkstatt der Kartause (Sack, Nr. 2704). Die marianischen Tagzeiten hatten auch die Stipendiaten der domus Carthusiana an Samstagen zu beten (Schaub, S. 86; Mertens, S. 79 f.). 2. Statuta ordinis cartusi|ensis a domno Guigone | priore cartusie edita [...]. Basel: [Froben und Petri], [Februar] 1510. VD 16, G 4071. Als Ergänzung der Consuetudines Guigos (12. Jh.), der ‘Statuta antiqua’ (13. Jh.) und der ‘Statuta nova’ (14. Jh.) fertigte der Generalprior des Kartäuserordens, Franc¸ois du Puy, die sog. ‘Tertia compilata’ an. Die vier Schriften wurden um ein Repertorium von Peter Thaler und einen 60 Blatt starken, separat gezählten Anhang ‘Privilegia ordinis Cartusiensis’ ergänzt, zu dem R. ein Vorwort (30. Nov. 1509) verfaßte. Im Auftrag des Generalkapitels gab er die Textsammlung in den Druck, organisierte und finanzierte sie (Amerbach-Korr., Nr. 431). Die Laienbrüder-Statuten übersetzte der Basler Kartäuser J Carpentarius ins Deutsche. 3. Bis 1514 begleitete R. als Berater die von Amerbach ins Werk gesetzte, von Froben gedruckte Hieronymus-Ausgabe (VD 16, H 3482). Als Prior scheint er zumal bei der Beschaffung geeigneter Vorlagen auf die Hilfe seines Ordens zurückgegriffen zu haben; Carpentarius schickte R. einen ‘Elenchus operum B. Hieronymi’ (Basel, UB,

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Cod. G II 52). Aus einem Brief an Amerbach vom Okt. 1513 geht hervor, daß R. auch Dubia und unechte Werke ⫺ darunter das ‘Martyrologium Hieronymianum’ ⫺ drucken lassen wollte (Amerbach-Korr., Nr. 488). Die Editoren, die später vor allem R.s textkritische Verdienste hervorhoben (Amerbach-Korr., Nr. 551, Z. 5 ff.), entschieden sich anders (Vorwort zu Bd. 9 der Ausgabe, 26. Juni 1516). R. wurde, nachdem er noch am 12. Aug. 1514 Druckbogen inspiziert hatte (Amerbach-Korr., Nr. 498), vor Ablauf des Monats von dem bei Amerbach logierenden Erasmus abgelöst, der sich in Briefen durchaus anerkennend über den Vorgänger äußerte (Epp. 308, 309). 1522 wurde R. noch einmal von Alciato wegen einer Chrysostomus-Ausgabe Cratanders kontaktiert (AmerbachKorr., Nr. 860). 4. Über R.s Beteiligung an der Entstehung des bis 1782 in der Freiburger Kartause und seit 1874 in Nürnberg (GNM, Inventar-Nr. Gm 580) befindlichen Buxheimer ‘Kartäusertryptichons’, auf dessen Innenseiten alle um 1510 existierenden 192 Kartausen stammbaumartig dargestellt sind, ist viel spekuliert worden. Als Indizien werden die identische Abfolge der Kartausen im Basler Druck der ‘Tertia compilata’ (Stˆhlker, 1984, s. II.C.2.), R.s (kurzes!) Priorat in Buxheim sowie der von R. geförderte reiche Bildschmuck der Freiburger domus (vgl. Mertens, S. 76 f.) angeführt. 5. Wohl aufgrund der sprichwörtlichen “Bücherpflege” der Kartäuser (P. Lehmann), worunter man zumal textphilologische Kompetenz verstand, wurde R. in die Projekte des Freiburger Professors und Beraters Ks. Maximilians, Jakob D Mennel (um 1460-1526), verwickelt. In dessen mehrbändiger ‘Fürstlicher Chronik Kaiser Maximilians’ ist R.s Hand mit Kontrollvermerken im Rubrum nachweisbar (Wien, ÖNB, Cod. 3072*, 67 r u. 101r; Cod. 3073*, 254 v; Cod. 3074*, 179 v; Cod. 3075*, 192 v; Cod. 3076*, 144 v u. Cod. 3077*, 490 r). R. muß also, wenn er schon nicht selbst die “Reinschrift” veranstaltete (so noch 2VL, Bd. 6, 1987, Sp. 392), als Aufseher der Kopisten gewirkt haben. Es ist umstritten, inwieweit er in der ‘Chronik’ auch inhaltliche Korrekturen vornahm. Seine Eingriffe sind jedenfalls in Mennels ‘Zeiger’ erkennbar (Wien, ÖNB, Cod. 7892, 111v; v. J. 1518). Im Zusammenhang der Hieronymus-Ausgabe (vgl. II.C.3.) scheint R. selbst Abschriften von dessen Hohelied-Homilien angefertigt zu haben (Amerbach-Korr., Nr. 501, Z. 16 ff.).

I II . Wir ku ng . Das Ansehen R.s war schon zu Lebzeiten außerordentlich. Bereits 1509 zählte ihn der Bosauer Benediktiner Paul J Lang unter die herausragenden Autoren des

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Kartäuserordens. Willibald J Pirckheimer nominierte ihn unter den durch geistliche und humanistische Bildung und Studien gleichermaßen ausgezeichneten Theologen (Pirckheimer-Br. 3, Nr. 464, Z. 572 f.), Eck nahm ihn in sein ‘Album nobilium scriptorum’ auf (München, UB, 2° cod. ms. 125, 231r⫺232 r). Außer persönlichem Kontakt, der für den einen oder anderen ein Erlebnis darstellte, verdankt sich dieser Ruf vor allem der ‘Margarita’. Während des gesamten Jahrhunderts blieb sie das “verbindliche [...] Kompendium schlechthin” (Schmid, S. 247). Der Straßburger Kartäuser und Kryptolutheraner Otto Brunfels, der R. seine ‘Aphorismi institutionis puerorum’ (Straßburg: Joh. Schott, 1519) widmete, empfahl sie den Studierenden neben den Kartäusern D Ludolf von Sachsen und D Jakob von Paradies als Lektüre. 1517 drängte die Univ. Ingolstadt auf Einführung der ‘Margarita’ anstelle des ‘Liber Isagogicus’ des Alcabitius als Pflichtlektüre für mathematische Studien (A. Seifert, Die Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Texte u. Regesten, 1973, S. 87). Die Zahl der von der ‘Margarita’ direkt oder mittelbar abhängigen Schriften dürfte, obwohl nicht immer leicht als solche zu identifizieren (vgl. zu Veit J Bilds ‘Stella musicae’, 1507), beträchtlich sein. Unter dem Druck des Wissensfortschritts wurden außer Überarbeitungen auch kritische Auseinandersetzungen, Exzerpte usw. unumgänglich. Eine Hs. aus dem Basler Studienbetrieb überliefert Dictata aliqua collecta in Geometriam et in Margaritam philosophicam des Ulrich Regius von Ehingen (s. o. II.A.b). Jedenfalls erhielt die ‘Margarita’ noch der Nachwelt den Namen ihres Urhebers, als diverse Zusätze, die allesamt als moderner als das Werk selbst gelten können, dessen Zeitgebundenheit offenlegten. Als Leopold Mozart aus ihr zitierte (Gründliche Violinschule, Augsburg 1756; Schmid, S. 257 Anm.), hatte sie eigentlich längst ausgedient. Alexander von Humboldt setzte R., dessen “grossen Einfluss auf die Verbreitung mathematischer und physikalischer Kenntnisse im Anfang des 16. Jh.s” er im ‘Kos-

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mos’ (Bd. 1, 1845, S. 52, 73) hervorhob, ein wissenschaftsgeschichtliches Denkmal. Literatur. T. Petreius, Bibliotheca Cartusiana, 1609, S. 109⫺112; K. Prantl, Gesch. d. Logik im Abendland, Bd. 4, 1870, S. 294; ders., in: ADB, Bd. 28, 1889, S. 117; M¸ller, Quellenschr., S. 259 f.; L. Le Vasseur, Ephemerides Ordinis Cartusiensis, 3 Bde, 1890, Bd. 2, S. 78; K. Hartfelder, Der Karthäuserprior G. R., ZGO NF 5 (1890) 170⫺200; F. Schaub, Die älteste Stipendienstiftung d. Univ. Freiburg i. Br. u. ihr Stifter Konrad Arnolt von Schorndorf, Zs. d. Ges. f. Geschichts-, Altertums- u. Volkskunde von Freiburg 38 (1925) 53⫺ 88; G. M¸nzel, Der Kartäuserprior G. R. u. die Margarita philosophica, Zs. d. Freiburger Gesch.vereins 48 (1938) 84 f; R. Ritter von Srbik, Die Margarita philosophica des G. R. († 1525), Denkschrr. d. Akad. d. Wiss. in Wien, Math.-Naturwiss. Kl., Bd. 104, 1941, S. 83⫺206; AmerbachKorr., Bd. 1, 1941, u. 2, 1943, Reg.; H. Gericke, Zur Gesch. d. Mathematik an d. Univ. Freiburg i. Br., 1955, S. 11⫺27; R. Ritter von Srbik, Maximilian I. u. G. R., AÖG 122 (1961) 1⫺112; H. Menhardt, Verz. d. altdt. lit. Hss. d. ÖNB, 3 Bde 1961; L. Choulant, History and Bibliography of Anatomic Illustration, New York/London 1962, S. 126⫺129; J. Dolch, Lehrplan d. Abendlandes, 2 1965, S. 184⫺186; A. Weisbrod, Die Freiburger Sapienz u. ihr Stifter Johannes Kerer von Wertheim (Beitrr. z. Freiburger Wissenschafts- u. Univ.gesch. 31), 1966, S. 51, 119, 211; F. Stˆhlker, Die Kartause Buxheim, 4 Bde, 1974⫺1978; U. Becker, Die erste Enzyklopädie aus Freiburg um 1495. Die Bilder der ‘Margarita philosophica’ des G. R., Priors d. Kartause, 21976; U. Dierse, Enzyklopädie (Archiv f. Begriffsgesch., Beih. 2), 1977, S. 11⫺13; K. Hoheisel, G. R., in: M. B¸ttner (Hg.). Wandlungen im geographischen Denken von Aristoteles bis Kant, 1979, S. 59⫺67; H. Wiesflecker, Ks. Maximilian, Bd. 1, 1981; Bd. 4, bes. S. 424⫺432; K.-A. Wirth, Von mal. Bildern u. Lehrfiguren im Dienste d. Schule u. d. Unterrichts, in: B. Moeller u. a. (Hgg.), Studien z. städtischen Bildungswesen, 1983, bes. S. 292⫺294; F. Stˆhlker, Das Kartausenstammbaum-Triptychon im Germanischen Nationalmuseum u. sein Abhängigkeits- u. Funktionsverhältnis z. Basler Statutencodex d. Jahres 1510, in: J. Hogg (Hg.), Spiritualität gestern u. heute (Analecta Cartusiana 35/4), 1984, S. 21⫺41; P. Bastin, Chartreuse du Mont St. Jean Baptiste pre`s Fribourg en Brisgau 1345⫺1782, hg. v. J. Hogg (Analecta Cartusiana 76), 1987; E. Wennekes, De ‘Margarita Philosophica’. Een vergeten vraagbaak uit de zestiende eeuw, Mens en melodie 45 (1990) 622⫺629; H. Gericke, Mathematik im Abendland, 1990, S. 219⫺224; B. v. Scarpatetti u. a., Katalog d. datierten Hss. in d. Schweiz in lat.

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Schrift vom Anfang d. MAs bis 1550, Bd. 3, 1991; M. H. Schmid, Die Darstellung d. Musica im spätmal. Bildprogramm d. ‘Margarita philosophica’ von G. R. 1503, in: H. Heckmann u. a. (Hgg.), Musikalische Ikonographie (Hamburger Jb. f. Musikwiss. 12), 1994, S. 247⫺261; H. Puff, “Von dem schlüssel aller Künsten / nemblich der Grammatica” (Basler Studien zur dt. Sprache u. Lit. 70), 1995, S. 13⫺18; Ch. Meier, Der Wandel d. Enzyklopädie d. MAs vom Weltbuch z. Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens, in: F. M. Eybl u. a. (Hgg.), Enzyklopädien d. Frühen Neuzeit, 1995, S. 19⫺42, hier S. 38 f.; L. Andreini, G. R. e la sua Margarita Philosophica (Analecta Cartusiana 138), 1997; Ch. Meier, Die Musik in d. Enzyklopädie d. SpätMAs u. d. frühen Neuzeit, in: Grenzgebiete. Fs. K. Hortschansky, hg. v. M. Zywietz (Schriften z. Musikwiss. aus Münster 15), 2000, S. 72⫺85; U. Bodemann, Cedulae actuum, in: K. Grubm¸ller (Hg.), Schulliteratur im späten MA (MMS), 2000, S. 435⫺499, hier S. 447⫺449; S. HeimannSeelbach, Ars und scientia, 2000, S. 39 f., 447; K. W. Niemˆller, Die musica figurata des M. Schanppecher, Opum aureum, Köln 1501, pars III/ IV, 1961, S. 41⫺46; D. Mertens, Zum Buchbesitz d. Kartause Mons Sancti Johannis b. Freiburg i. Brsg., in: S. Lorenz (Hg.), Bücher, Bibliotheken u. Schriftkultur d. Kartäuser (Contubernium 59), 2002, S. 65⫺81; G. Hess, in: NDB, Bd. 21, 2003, S. 384⫺386; J. Follak, Wissen, Erinnern u. Kombinieren im frühen 16. Jh., in: U. Zeller (Hg.), 400 Jahre Suso-Bibliothek 1604⫺2004, 2004, S. 121⫺138; E. Wennekes, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 13, 2005, Sp. 1537 f.; Ch. Fasbender, in: 2 Killy, Lit. lex., Bd. 9, 2010, S. 543 f.

Christoph Fasbender (I., II.A.c⫺B., III.) / F. J. Worstbrock (II.A.a⫺b)

Reitter (Reuter, Fossor), Konrad (Conradus Caesariensis) I . L eb en . Geb. um 1470 in Nördlingen als Sohn eines Metzgers, trat R. um 1491 als Novize in das Zisterzienser-Reichsstift Kaisheim ein. Er hatte zuvor in Nördlingen bei dem Priester Johannes Schatt vorzüglichen Unterricht erhalten, der ihm als Grundlage für seinen weiteren Lebensweg bewußt blieb (‘Mortilogus’ [s. u. II.2], Bl. [e6]). Der für die Talente seiner jungen Mönche aufmerksame Kaisheimer Abt Georg Kastner schickte R. 1494 zum Studium nach Heidelberg; R. immatrikulierte sich dort

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am 24. Sept. als Fr. Conradus Ruther professus in Cesaria. Er wohnte im zisterziensischen St. Jakobsstift vor den Toren der Stadt, das mit der Universität seit alters verbunden war. Hier studierte auch der wenig ältere Aldersbacher Confrater Wolfgang J Marius, der mit ihm seither eng befreundet war. Unter den Lehrern im Jakobsstift war Adam J Werner von Themar, dessen er in 22 panegyrischen Hendecasyllabi gedenkt (‘Mortilogus’, Bl. f r⫺v; Abdruck bei Hartfelder, S. 186). Ihm verdankte er wohl eine fortgeschrittene Praxis in der Ars versificandi und das besondere humanistisch-literarische Interesse. Auch J Celtis scheint er bereits in Heidelberg kennengelernt zu haben (s. ‘Mortilogus’, Bl. f ii v: In librum sodalitatis Conra. Celtis). Nachdem er 1497 den Grad des Magister artium erworben hatte, kehrte er 1498 nach Kaisheim zurück. In den folgenden Jahren mehrte er seine Verbindungen zu namhaften deutschen Humanisten. Mit Celtis korrespondierte er und schickte ihm eine von humanistischer Freundschaftsrhetorik blühende Elegie (‘Mortilogus’, Bl. g ii r⫺v). Nicht minder tauschte er sich mit Jakob J Locher Philomusus aus, wechselte mit ihm Epigramme (ebd., Bl. [e6]r⫺v, f v, [g4]r) und gewann ihn für das Geleitgedicht zum ‘Mortilogus’. Auch an Konrad J Peutinger adressierte er Gedichte (ebd., Bl. [e6]v, [g4]r). Ungeachtet seiner anhaltenden literarischen Neigungen und Beziehungen empfahl er sich in Kaisheim bald als Führungskraft des Klosters. Spätestens z. Zt. des Bayer. Erbfolgekriegs (1503/05) war er ausweislich des an ihn gerichteten ‘Elegon’ des Wolfgang Marius (Clm 1851, 149 r⫺ 151r; Abdruck mit Übers.: M. Gloning, Stud.Mitt.OSB 33 [1912] 81⫺84) Prior des Kaisheimer Konvents. Als Prior legte er ein Kopialbuch der Urkunden des Klosters an. Am 28. Febr. 1509 wurde er selber zum Abt gewählt. Die Sicherung der Unabhängigkeit und des Besitzes der Abtei wurde ihm nicht erst in den Jahren der Reformation und der Bauernkriege zur Aufgabe. Seine gesamte Amtszeit hindurch hatte er gegen die Versuche der Herzöge von Pfalz-

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Neuburg zu kämpfen, die Schirmvogtei über das Reichsstift Kaisheim zu erlangen; Unterstützung fand er beim Schwäbischen Bund, dem er 1513 auf Empfehlung Ks. Maximilians beitrat, und er demonstrierte Kaisheims Reichsunmittelbarkeit durch vielfache Teilnahme an den Reichstagen seit 1510. Karl V. ernannte ihn 1532 zum ksl. Kaplan. Wie zahlreiche Urkunden belegen, regierte er in Kaisheim drei Jahrzehnte hindurch politisch und ökonomisch mit Erfolg, wußte die Interessen der Abtei in einer Zeit beständiger Konflikte entschlossen und geschickt zu verteidigen. Hervorzuheben ist seine umfangreiche Bautätigkeit. Schon bald nach seiner Wahl ging er an die Renovierung der Abtei. In den Jahren 1513⫺21 sorgte er für eine wehrhafte Erneuerung ihrer Ummauerung. 1527 ließ er für die Aufnahme hoher Gäste den sog. Fürstenbau errichten. Auch die verbesserte Ausstattung der Kirche und ihrer Altäre gehörte zu seinen beständigen Anliegen. In einen theologischen Disput mit Willibald Pirckheimer geriet er, als er 1527 an dessen zweiter Schrift gegen Oecolampadius’ Eucharistielehre Kritik übte und die Deutung von 2 Cor 12,2 ⫺ Paulus sei leiblich in den dritten Himmel entrückt worden ⫺ als häretisch verwarf. Nach Pirckheimers abweisender Reaktion (vgl. Pirckheimer-Br., Bd. 6, Nr. 1084) bat R. Konrad Peutinger um Entscheidung in der Streitfrage (Peutinger-Br., Nr. 276). Doch dieser schickte ihm als Antwort eine mit exzerpierten Autoritäten gefüllte Abhandlung (Augsburg, SStB, Cod. 2° Aug. 400: In diui Pauli apostoli raptum et de vero in eucharistia corpore et sanguine Christi conlectiones), in der er, um weiterem Streit zuvorzukommen, am Ende beiden Seiten Recht gab (vgl. Joachimsen). Im Brief vom 12. März 1530 an Pirckheimer (Pirckheimer-Br., Bd. 7, Nr. 1280) trat er freilich dessen Ansicht bei und unterbreitete ihm zugleich seinen in dieser Angelegenheit angefallenen Schriftwechsel mit R. Daraufhin formulierte Pirckheimer an R.s Adresse ein harsches Schlußwort (ebd., Nr. 1283). R. hatte anfangs auch bei dem ihm befreundeten Nürnberger Patrizier Clemens Volckamer, einem Anhänger Luthers, Unterstützung gesucht. Sein Brief an diesen, in dem er kurz seinen Standpunkt begründet, gedr. bei F. A. Veith, Historia vitae atque meritorum Conradi Peutingeri […], Augsburg 1783, S. 95⫺98.

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R. starb am 6. Nov. 1540. Im Jahr zuvor hatte er Besuch von Kaspar Brusch, der später voller Bewunderung von der umfassenden Gelehrsamkeit und Bildung des Abtes sprach, insbesondere seine Musikalität rühmte. Eine Porträtmedaille R.s prägte Mathes Gebel (Abb. b. Schiedermair, S. 281.

I I. We rk . Literarisch tätig war R. nach Ausweis der Überlieferung einzig vor seiner Wahl zum Abt. Alles, was von ihm aus der Zeit vor 1509 überkommen ist, entstand während der Heidelberger Studienjahre oder, anknüpfend an diese, im Kontakt mit seinen humanistischen Freunden. Manche Gedichte sind verloren, so das Carmen de gestis diui patris nostri Bernhardi, das, größtenteils vollendet, er seinem Bruder dem Widmungsbrief des ‘Mortilogus’ zufolge (Bl. [a4]r) demnächst zuschicken wollte, oder die Carmina an Peutinger und an Schatt, von denen man nur durch die Geleitverse im ‘Mortilogus’ (Bl. [e6]v⫺f r) weiß. Als Abt beauftragte er in späteren Jahren den Confrater Johannes Knebel mit der Abfassung einer deutschen Chronik des Klosters Kaisheim, die von dessen Gründung i. J. 1134 bis 1531 reicht. 1529/ 30 ließ er ein Antiphonale (heute Clm 28150) und ein Missale (Clm 7901) anfertigen, deren Ausmalung 1531 der bedeutende Schweizer Buchmaler Nikolaus Bertschi (Berschin) besorgte (Abb. b. Schiedermair, S. 161 u. 256). Von R.s Briefwechsel ist fast nichts erhalten (s. o. zur Korrespondenz mit Pirckheimer, Peutinger und Volckamer). Lebhafte Korrespondenz mit Johannes J Eck bezeugt dieser im ‘Chrysopassus’ (Bl. xiijv). An R. gerichtet ist Ecks brieflich gefaßter Bericht über seine Zinsdisputation zu Bologna (‘Orationes tres’, Augsburg: Joh. Miller, 1515, Bl. [D4]r⫺F r). An Widmungen, die R. erhielt, sind sonst nur die von Lochers ‘Poematia’ (1513) und von Wolfgang Marius’ ‘Christi fasciculus’ (1514) bekannt. 1. Die Heidelberger Vergil-Handschrift. 1496 fertigte R. als Heidelberger Student eine Abschrift der Dichtungen Vergils

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an (Clm 8042), der ‘Bucolica’ (Bl. 5 r⫺ 29 v), der ‘Aeneis’ (Bl. 30 r⫺288 v), der ‘Georgica’ (Bl. 289 r⫺344 r). Der ‘Aeneis’ geht ein Resümee ihrer 12 Bücher in 12 Hexametern voran (Schaller/Kˆnsgen, Initia carminum latinorum, Nr. 12542); die einzelnen Bücher der ‘Aeneis’ und der ‘Georgica’ sind mit den ps.-ovidischen Argumenta (Schaller/Kˆnsgen, Nr. 363) versehen. Vorlage der gesamten Abschrift wird eine Inkunabel gewesen sein. Den 344 gez. Bll. umfassenden Folioband leitet ein sicherlich nach vollendeter Arbeit verfaßtes Preisgedicht R.s auf das Werk Vergils ein (Bl. 2 r, 30 Hex., inc. En decus en solus honor en facundia tota), das am Ende Ort und Zeitpunkt der Abschrift und den Namen des Schreibers, Conradus Cesariensis, nennt. Bl. 2 v trug R. Auszüge aus dem ‘Speculum historiale’ des Vinzenz von Beauvais und aus Hieronymus ein, Texte zur Rechtfertigung der Lektüre antiker Autoren, Bl. 3 r eine Vita Vergils und Bl. 3 v Epigramme über ihn. Aus R.s eigener Feder stammt noch der Schreiberspruch (4 Hex.) am Ende der ‘Bucolica’ (Bl. 29 v) und sein Besitzvermerk (Bl. 1r, 2 Hex.). R. schrieb mit gleichmäßiger Sorgfalt in einer vorhumanistischen Textschrift und schmückte den Text auch mit zahlreichen Initialen, deren Kolorierung mit braunen und grünen Tuschen jedoch nur bis Bl. 53 r gedieh; daneben wurden große rote und grüne Lombarden verwendet. Die Hs. weist von Anfang bis Ende durchweg den gleichen Schriftspiegel mit großzügigen Rändern und die gleichen weiten, einer Glossierung dienlichen Zeilenabstände auf und wurde so auch in einer kleinen Kommentarschrift durchgehend marginal und interlinear glossiert (bisweilen mit dt. Interpretamenten). Die Hand des Glossators, der vielleicht R. selber war, ist nicht identifiziert. Spätere Einträge auf Bl. 4 r⫺v (Notizen zu Vergil, eine weitere Vita u. a.) stammen vielleicht von der Hand des Frater Michael Fald, dem einer Notiz auf Bl. 5 r zufolge, 1547 die Hs. Ad Vsum überlassen wurde.

2. ‘Mortilogus’. R.s ‘Mortilogus’ ⫺ der sprachlich hybride Titel meint ‘Rede über den Tod’ ⫺ ist eine polymetrische Gedichtsammlung, in deren Zentrum 13 größere und kleinere Carmina stehen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten den Tod zum Thema haben: eine Elegie über die Hinfälligkeit des

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Reitter, Konrad

Menschen, inbesondere die Beschwernis des Alters (39 Dist.), ein Auftritt der personifizierten Mors, die ihre Macht über jedermann vor Augen hält (58 Hex.), ein Elegidion, klagend, daß alles dem Tode verfallen sei (12 Dist.), ein Monocolon choriambicum über die Unerbittlichkeit des Todes (17 Asklepiadeen), eine an die fratres gerichtete Rede einer adligen Leiche über die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen (42 Hex.), eine Betrachtung, daß den Lasterhaften der Tod am schlimmsten treffe (43 Hex.), und das Gegenstück, daß der Tod der Guten ohne Schrecken sei (20 Hex.), 18 Glyconeen zum gleichen Thema, eine Bitte an Maria um Beistand im Tode (8 Dist.), eine ähnliche Bitte an den Schutzengel (8 Dist.), gestreut dazwischen einige kleine Epigramme de morte. Einen “humanistischen Todtentanz”, wie F. Bezold (Anz. f. Kunde d. dt. Vorzeit NF 29 [1882] 94) gänzlich abwegig meinte ⫺ ähnlich E. Kˆnig, Peutinger-Br., S. 439 Anm. 2 ⫺, bilden diese Carmina des ‘Mortilogus’ nicht, erst recht findet man dergleichen nicht in den übrigen. Der weitaus größte Teil der 48 Gedichte zählenden Sammlung berührt die Todesthematik nicht oder reiht sich ihr mit allenfalls drei oder vier Stücken und einigen Epitaphien mehr oder minder entfernt an. Es ragen heraus die dialogische TrostElegie an den Bruder Heinrich zum Tode der Mutter (32 Dist.) und zwei große Oden, ein Gebet an Maria in 30 sapph. Strr., daß sie uns vor der Franzosenkrankheit (morbus Gallicus) schützen möge, und eine Betrachtung der Passion Christi in 21 sapph. Strr. Ein volles letztes Drittel des Druckes füllen fast ausschließlich Gedichte an Personen, an Ks. Maximilian ein Dank für ein Goldgeschenk an Kaisheim, Freundschaftsgedichte an Jakob Locher (der auch mit eigenen Versen vertreten ist), Adam Werner, Konrad Celtis, Konrad Peutinger, den Heilsbronner Abt Sebald Bamberger (21 sapph. Strr.) u. a., ein Hecatostichon an Wolfgang Marius, eine Exhortacio zum eifrigen Studium an Heidelberger Kommilitonen. R. widmete den ‘Mortilogus’ seinem Bruder Heinrich, Zisterzienser in Maul-

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bronn, der ihn zum Druck seiner Carmina gedrängt hatte. Der Widmungsbrief (o. D.) hat Gewicht wegen R.s Begründung der Beschäftigung eines Mönchs mit den weltlichen Litterae. Sosehr er jene Poeten, die nur verführen, und ebenso ein Studium, das um seiner selbst willen betrieben wird, verwirft, läßt er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß die studia litterarum das bene beateque vivere fördern; Wißbegier, die der aedificatio anderer diene, sei ein Akt der charitas, und diene sie der eigenen aedificatio, ein Akt der prudentia. Der scharfen Zäsur von Kloster und Welt, auf der sein Freund Marius bestand, redet er nicht das Wort, und so rühmt er in seinem Brief neben J Brant und J Wimpfeling als Poetae auch J Bebel, Celtis und Locher ohne jede Reserve. Druck. Mortilogus. F. Conradi Reitterii Nordlingensis | Prioris monasterii Caesariensis […]. Augsburg: Erh. Öglin u. Georg Nadler, 10. Febr. 1508. VD 16, R 1519. Wimpfeling nahm die Ode an Maria, daß sie nos a gallico morbo intactos preseruet incolumes, sowie das ihr folgende Hexastichon ad Eandem in eine private Sammelhs. (Chicago, Newberry Library, ms. 63, Bl. 59 r⫺61v) auf. Vgl. O. Herding, Zu einer humanist. Hs. 63 der Newberry Library Chicago, in: E. Hassinger u. a. (Hgg.), Gesch. ⫺ Wirtschaft ⫺ Gesellschaft. Fs. C. Bauer, 1974, S.153⫺187, hier S. 159 m. Anm. 12. Literatur. F. H¸ttner (Hg.), J. Knebel, Die Chronik d. Klosters Kaisheim, verfaßt i. J. 1531 (StLV 236), 1902, S. 368⫺511; K. Bruschius, Monasteriorum Germaniae [...] centuria prima, Ingolstadt: Weissenborn, 1551, Bl. 24 v; A. Steichele, Das Bisthum Augsburg, Bd. 2, 1864, S. 646⫺648; Th. Wiedemann, Dr. Joh. Eck, Prof. d. Theol. an d. Univ. Ingolstadt, 1865, S. 402 f.; K. Hartfelder, Adam Werner v. Themar, Zs. f. vergl. Litt.gesch. NF 5 (1892) 214⫺235, wieder in: ders., Studien z. pfälzischen Humanismus, hg. v. W. K¸hlmann / H. Wiegand, 1993, S. 175⫺192, hier S. 185 f.; P. Joachimsen, Peutingeriana, in: Fg. K. Th. v. Heigel, 1903, S. 266⫺289, hier S. 281⫺285; M. Gloning, K. Reuter, Abt von Kaisheim 1509⫺ 1540, Stud.Mitt.OSB 33 (1912) 450⫺492; Peutinger-Br., S. 439 f. u. 444⫺446; Ellinger, Bd. 1, S. 434 f.; Celtis-Br., Nr. 324 u. 332; Hans Holbein d. Ä. u. d. Kunst d. späten Gotik, Katalog, Augsburg 1965, Nr. 112 mit Abb. 118; Pirckheimer-Br., Bd. 7, S. 323 f.; W. Schiedermair (Hg.), Kaisheim ⫺ Markt u. Kloster, 2001, S. 52, 57, 70 f., 78, 164, 171. 257 f., 280 f.; M. K. Hauschild, Abt Wolfg. Marius v. Aldersbach (1514⫺44) u. sein

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Resch, Thomas

Regelkommentar, Analecta Cisterciensia 55 (2005) 179⫺267, hier S. 189 f.

F. J. Worstbrock

Resch (Aretius, Roscius, Velocianus), Thomas I . L eb en . 1. Der Wiener Humanist und Theologe R. ist nicht, wie die ältere Forschung (noch Preiss, 1958) annahm, mit dem im SS 1481 in Wien, am 5. Juli 1484 in Ingolstadt immatrikulierten Thomas Rösch aus Grieskirchen identisch. Er stammte aus Krems und begann im SS 1491, immatrikuliert als Thomas Resch ex Krembs, mit dem Studium der Artes in Wien. Unter dem 5. Mai 1497 erscheint er in den Akten der Wiener Artistenfakultät erstmals als Magister. Er war in der Fakultät bis 1513 als Lehrer und Prüfer tätig und bekleidete alle Ämter, war im SS 1504, WS 1509/10 und SS 1513 Dekan, war mehrmals Deputierter der Fakultät, seit etwa 1507 einige Jahre ihr Bibliothekar, 1513 Schatzmeister, daneben 1506 Prior des Herzogkollegs, 1508⫺09 Vizekanzler. 1501 war er mit der Rede zum Fest der Patronin Katharina beauftragt; 1508 hielt er die quodlibetarische Disputation ab. Über seine Lehrangebote ⫺ u. a. ‘Elegantiolae’ des Augustinus Datus, ‘Doctrinale’ (Teil I) D Alexanders de Villa Dei, ‘Sphaera mundi’ des Johannes de Sacrobosco, ‘Isagoge Porphyrii’ ⫺ unterrichten die Fakultätsakten nur sporadisch. Bald nach Absolvierung der Artes muß er das Theologiestudium aufgenommen haben. Schon am 12. März 1501 ist er als theol. Baccalaureus formatus bezeugt. Den Grad eines theol. Licentiatus erwarb er jedoch erst spät, 1517. Im SS 1509 amtierte R. als Rektor der Universität und erneut im WS 1511/12, diesmal aber unter Protest der theol. Fakultät, die den nur als theol. Baccalaureus ausgewiesenen R. nicht anerkennen wollte (zum Streit mit den Theologen, der wegen deren Exkommunikation durch den Rektor schließlich vor der Kurie ausgetragen wurde, das Nähere bei Uiblein, S. 249⫺

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252). Später, für Johann J Ecks Wiener Disputation (1517), benannte die theol. Fakultät R. als einen der Opponenten, und Eck lernte ihn dabei als amenissimi ingenii vir schätzen (Joh. Eck, ‘Disputatio [...] Viennae Pannoniae habita’, Augsburg 1517, Bl. B ijv ). Nachdem R. am 8. Jan. 1513 Domherr von St. Stephan geworden war, zog er sich von den Diensten und Geschäften in der Universität zurück. In den Akten der Artistenfakultät tritt er nach 1513 nicht mehr in Erscheinung. Über sein Wirken in der theol. Fakultät ist bisher nichts bekannt. 2. R.s Tätigkeit in der artistischen Fakultät war charakterisiert durch sein Bestreben einer moderaten humanistischen Reform des Artesstudiums. Er war Schüler und Freund von Konrad J Celtis und blieb ihm über seinen Tod hinaus verbunden. Obwohl längst amtierender Magister trat er in die 1. Klasse von Celtis’ Collegium poetarum et mathematicorum ein und trug 1503 zu den Preisepigrammen der Schüler des Poetenkollegs auf Maximilian bei, die Celtis 1504/5 im zweiten Teil der ‘Rhapsodia’ veröffentlichte; sein Epigramm ist freilich weit mehr eine Eloge auf Celtis als auf den Kaiser (s. u. II.B.1.). Nach Vadians Mitteilung (‘De poetica’ hg. v. P. Sch‰ffer, 1973, S. 61) vertrat er Celtis bei dessen Abwesenheit in den Vorlesungen. Er gehörte 1508 zu Celtis’ Testamentsvollstreckern (Celtis-Br., S. 606) und dichtete ihm ein Epitaph (II.B.2.). Maßgeblich ist ihm die posthume Veröffentlichung von Celtis’ Oden und Epoden zu verdanken (II.A.2.). Auch seine nächsten Freunde in Wien hatte er im Celtis-Kreis gefunden: Joachim J Vadianus, Andreas J Stiborius, Georg J Tannstetter. Zum Kreis der Celtis-Freunde und -Schüler um 1511 vgl. Vadians Pamphagus-Gedicht (Arbogast Strub, ‘Orationes duae […]’, Wien 1511, Bl. [F3]v, vv. 205⫺214). In R.s erstem Dekanat ersetzte die Fakultät mit Beschluß vom 3. Juli 1504 das ‘Doctrinale’ des Alexander de Villa Dei durch die ‘Rudimenta grammatices’ Perottis als nunmehr obligatorisches Lehrbuch. Der Ablösung der herkömmlichen spätscholastischen Logik, die den Studienbe-

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Resch, Thomas

trieb unmäßig beherrschte, durch ein stark reduzierendes faßliches Lehrbuch diente die kompendiöse Neubearbeitung des Petrus Hispanus durch den Magister Konrad Pschlacher (II.B.4.), die auf Anregung R.s entstand und 1512 von der Fakultät finanziert wurde. Zuvor schon hatte R. die von Magister Konrad Edlinger wiederum kompendiös gefaßte Ausgabe der Logik-Traktate des Johannes Holandrinus (II.B.3.) mit einem Schreiben an den Hg. begleitet, das die bisherige Unterrichtspraxis der Logik scharf angriff. Man muß freilich beachten, daß die Reform gerade der Logik seit längerem schon, in Monita von 1492 und 1499 (vgl. Bauch, S. 30 f. u. 95), von der Regierung, vertreten durch den Superintendenten Bernhard D Perger, gefordert worden war. Doch in der artistischen Fakultät war R. zeit seiner Mitgliedschaft für Initiativen der Erneuerung die treibende Kraft. 1509 wurde er von Maximilian zum Poeta laureatus gekrönt; Celtis führte ihn als solchen freilich schon in seinem Testament vom 24. Jan. 1508, während R. selbst mit diesem Titel, auf den er ⫺ in der Fakultät, als Rektor, in seinen Veröffentlichungen ⫺ stets Wert gelegt hat, zuerst 1509 zeichnete. 3. Von Wien aus hielt R. Verbindungen auch zu seiner Heimatstadt. Er war befreundet mit dem Kremser Arzt Wolfgang Wintperger (II.B.5.). Wie dieser gehörte er der Kremser Fronleichnamsbruderschaft an, die 1516 vom Papst bestätigt wurde (vgl. Preiss, S. 22). R. siegelte unter dem 30. Juni 1517 sein Testament (Archiv d. Univ. Wien, Testamentenbuch I, S. 85⫺90). Er starb am 2. März 1520 in Wien und wurde im Stephansdom bestattet. Sein Epitaph, das die Begegnung des Thomas Didymus mit dem auferstandenen Christus (Io 20,27f.) darstellt, ist erhalten (s. Oettinger). I I. We rk . Nur wenigen Autoren steht der Titel des Poeta laureatus, gemessen an der vorgelegten literarischen Leistung, so zweifelhaft zu Gesicht wie R. Er hat Verdienste als Anreger und Vermittler. Am wichtigsten war sein Einsatz für die Ausgabe von Celtis’

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Oden. Die kleinen Beiträge spiegeln deutlich den Kreis der Interessen, der ihn bestimmte. A. Ausgaben. 1. Enee Silvii poete alias | pape Pii secundi | proverbio-|rum libel-|lus: |. Wien: Joh. Winterburger, 1509. VD 16, P 3133. Titelbl.v: Widmung der Ausgabe an Andreas Stiborius. 2. Conradi Celtis | Protucij, primi in Germania | poete˛ coronati, libri Odarum | quatuor, cum Epodo, et saeculari carmine […]. Straßburg: Matth. Schürer, Mai 1513. VD 16, C 1906. Bl. a 4 r⫺a 5 r: Philipp J Gundel, elegidion an R. (25 Dist.), dessen Verdienst um die Bewahrung von Celtis’ Oden durch deren Drucklegung er preist. Bl. [a7]v⫺[a8]v: Widmungsschreiben R.s an Christoph Rauber, B. von Laibach u. Seckau und ksl. Rat (Wien, 17. Febr. 1513): Den Dichter überdauert sein Werk und kann ihn unsterblich machen; R. hat Celtis’ Oden dem Vergessen entreißen wollen; R. bedauert, daß der frühe Tod Celtis gehindert habe, seinen Dichtungen die letzte Hand anzulegen. Es folgt auf Bl. [a8]v ein Epigramm R.s auf Celtis (2 Dist.; wider die musenfeindlichen Kritiker des Dichters, dessen Ruhm in der Nachwelt bis zu den Sternen steigt). Am Ende, Bl. [O7]r: An Wolfgang Edelbauer, den am 13. Juni 1511 gewählten Abt des Zisterzienserstifts Lilienfeld, über Celtis’ Tod, sein Leichenbegängnis und sein u. a. von Johannes Krachenberger, Martin Capinius, Andreas Stiborius, R. und Stephan J Rosinus gestiftetes Grabmal sowie die auf Celtis verfaßten Epitaphien (von R., Cuspinian und Camers), um deren Mitteilung der Abt gebeten hatte. Abdruck der Texte: Celtis-Br., S. 623 f., 630⫺ 634. Ob Vadian an der Vorbereitung und der Ausstattung des Druckes beteiligt war (so u. a. W. N‰f, Vadian u. seine Stadt St. Gallen, Bd. 1, 1944, S. 167 f.), ist aus den brieflichen Zeugnissen und den Carmina, die dem Druck beigegeben sind, nicht sicher erkennbar. R. galt in Wien als verantwortlich. Ihm trug der Druck der angeblich z. T. anstößigen Oden in der theol. Fakultät Kritik ein. Am 13. Okt. 1514 wurde er vor die Fakultät zitiert und bekam am 24. Nov. Gelegenheit zur Rechtfertigung (Acta Facultatis theol., Bd. 3, Bl. 31v, 34 v). B. Kleine Beiträge. 1. In hoc libello continentur. | Divo Maximiliano augusto Chunradi Cel|tis racvDia laudes et victoria de Boe-|mannis […]. Augsburg: Joh. Otmar, 1505. VD 16, C 1897. Bl. B II v⫺B III r: Thomas Aretius Cremisanus, acht Distichen, die Celtis als humanistischen Dichter im Sinne seiner ApolloOde feiern.

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Resch, Thomas

Abdruck mit dt. Übers.: Preiss, S. 18 f. 2. Cuspinianus Celti | ultimum vale | […] Magister Thomas Velocianus in | busta Conradi Celtis Protucii |. O. O., Dr. u. J. [1508]. VD 16, R 1170. Zwei Bll. in Folio. Bl. [1]v: Cuspinians ‘Ultimum vale’ (6 Dist.) und R.s Epitaph (3 Dist.). Bl. 2 r: Celtis’ sog. Sterbebild, 3. Zustand des Holzschnitts Hans Burkmairs d. Ä., auf dem die römische VII des ursprünglich vorgegriffenen Todesjahres zur VIII ergänzt ist. Nach Celtis’ Tod versandten Cuspinian und R. die Blätter zusammen mit dem von Dürer geschaffenen Widmungsbild zu den ‘Amores’ und Burgkmairs Abbildung der Insignien des Poeta laureatus an die Freunde. Ex.: München, Bayer. SB, Rar. 585. Weitere Drucke von R.s Epitaph in der Ausgabe von Celtis’ Oden 1513 (s. o. II.A.2.) und in der von Johannes Menzinger hg. Epitome in rhetoricam Cicero⫽|nis vtranque […] Autore | Conrado Celte, Ingolstadt: Apian, 1532, Bl. [E6]v. Abdruck von R.s Epitaph: Celtis-Br., S. 633 f. 3. Magistri Joannis Holandrini | dialectici argutissimi Obligati⫽|onum et Insolubilium tractatulus | In epitomatis compendium | facili breuitate redactus […]. Wien: Joh. Winterburger, 28. Juli 1509. VD 16, H 4334. Titelbl.v: Beifälliges Schreiben des Rektors R. zu Konrad Edlingers kommentierter Ausgabe der logischen Traktate des Johannes Holandrinus. Er verurteilt scharf die herkömmliche Logik, die sich in leeren Sophistereien ergehe und die Studenten am Studium der vera sapientia hindere. 4. Compendiarius par⫽|uorum logicalium li⫽|ber continens perutiles Petri | Hispani tractatus priores sex et Clarissimi philosophi Mar⫽|silij dialectices documenta: cum vti⫽|lissimis commentarijs: per virum pre⫽|clarum Chunradum Pschlacher | […]. Wien: Hier. Vietor u. Joh. Singriener, 1. Juli 1512. VD 16, J 666. Empfehlendes Titelepigr. von R. (3 Dist.). Titelbl.v⫺a 2 r: Brief R.s an Pschlacher; gemäß Aristoteles (Rhet. 1,1) seien Dialektik und Rhetorik, eng miteinander verknüpft, Grundlage aller anderen Disziplinen; Lob Pschlachers für die Wiederherstellung einer brauchbaren Dialektik wider deren Entartung in fruchtlose Weitschweifigkeit. ⫺ ND: Paruorum logicalium liber: succincto | epitomatis compendio […]. Wien: Joh. Singriener, 1516. VD 16, J 672. 5. De thermis & earum origine ac natura/ quibusque morbis | sint salubres […] Libellus Vuolfgangi Anemorini Medi/|cinae Doctoris: tam frugifer/ quam breuis. Wien: Hier. Vietor u. Joh. Singriener, 13. Mai 1511. VD 16, ZV 19873. Zu Wolfgang Wintpergers Schrift, angeblich dem ersten Versuch einer medizinischen Unterrichtung über Heilbäder, hatte seinem Widmungsbrief an R. (o. D.) zufolge ein Gespräch zwischen ihnen über die

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Bäder in Baden b. Wien den Anstoß gegeben. Bl. A 3 r⫺v: Brief R.s an Wintperger (o. D.) über die Medizin als göttliche Gabe und die Fülle heilsamer Kräfte, die sich in Gottes Schöpfung finden, deren Anwendung aber, damit sie nicht schaden, ärztlichen Rates bedürften; Wintperger habe in seinem Büchlein eine den Besuchern von Bädern hilfreiche Instruktion geliefert. Dt. Übers. von Georg Wagner: Ein Tractat der | Badenfart dur|ch doctor Wolffgang Wint|perger von etlichen Hewtl genant zu˚ Krembs | in Latein beschribenn/ vnnd von Georgen | Wagner Burger des Rats zu˚ Stain auß Latein in Tewtsche sprachen getzogen. Straßburg: Martin Flach, 21. Aug. 1512. VD 16, W 3553. ND: Ebd., 17. Nov. 1512. VD 16, W 3552; davon Faksimiledruck: [Wien, um 1965]. 6. Ioachimi Vadiani Helvetii mythi/|cum syntagma, cui titulus | Gallus pugnans. | […]. Wien: Hier. Vietor u. Joh. Singriener, 11. Jan. 1514. VD 16, V 24. Bl. A 2 v: Zwei Distichen R.s eröffnen die Reihe von zehn Lobepigrammen der Wiener Freunde und Schüler Vadians auf seinen satirischen Redestreit ‘Gallus pugnans’. 7. Tabulae Eclypsium Magistri | Georgij Peurbachij. […]. Wien: Joh. Winterburger, 13. April 1514. VD 16, P 2056. Bl. aa 3 r: Widmungsbrief Georg Tannstetters an R. (Wien, 7. Jan. 1514); er dankt für R.s vielfältige Unterstützung während dessen Amtszeit als Vorstand der Bibliothek der Artistenfakultät und hebt an ihm das besondere Interesse an den mathematischen Disziplinen hervor. Bl. [aa6]v: Brief R.s an Tannstetter (Wien, 16. Febr. [1514]); er erinnert an die bedeutende Wiener Mathematiker-Tradition und lobt Tannstetters wissenschaftlichen Eifer. Darunter: Drei Distichen R.s auf das edierte Werk der ‘Tabulae’. 8. In divum | imp. Caes. Maximili⫽|anum. P. P. Augus. | Epicoedion […] Autore | Philippo Gundelio […] Epitaphia item quadam | Graeca atque Latina eidem | principi ab eruditis qui⫽|bisdam pie posita. Wien: Joh. Singriener, Jan. 1520. VD 16, G 4117. Unter den acht Epitaphien auf Maximilian im Anhang von Gundels ‘Epicoedion’ eines von R. 9. Ioannis | Camertis minori|tani, artium, et sa⫽|crae theologiae | doctoris, in C. Iulii | Solini polyistvra | enarratio⫽|nes. […]. Wien: Joh. Singriener, 1520. VD 16, S 6970. Bl. V v: unter Beigaben etlicher anderer zwei empfehlende Distichen des Viennensis ecclesie˛ Canonicus, sacre˛ Theologie˛ Licentiatus und Poeta Laureatus R. Literatur. J. Aschbach, Gesch. d. Wiener Univ., Bd. 2, 1877, S. 409⫺414; Bauch, Wien, S. 105⫺112, 165 f. u. ö.; Vadian-Br. I, Nr. 1 u. 34; II, Nr. 187 u. 194; III, Nachträge Nr. 12 u. 60; J. Kraupp, Wolfgang Windbergers Badenfahrt, 1929; H. Gˆhler, Das Wiener Kollegiat-, nachmals

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Reuchlin, Johannes

Domkapitel zum hl. Stephan in seiner persönlichen Zusammensetzung […], Diss. (masch.) Wien 1932, S. 470⫺472, Nr. 293; Celtis-Br., S. 608, 623 f., 629⫺634; K. Oettinger, Anton Pilgram u. d. Bildhauer von St. Stephan, 1951, S. 57, 83, 110 f., Abb. 127; K. Preiss, Th. R., ein Kremser Humanist zwischen MA u. Renaissance, in: Jahresbericht d. Bundes-Gymnasiums u. Realgymnasiums in Krems, 1957/58, 1958, S. 12⫺24 (fehlerhaft); H. Ankwicz-Kleehoven, Der Wiener Humanist Joh. Cuspinian, 1959, S. 43, 90, 144, 146, 189; K. Ginhart, Die gotische Bildnerei in Wien (Gesch. d. Stadt Wien, Neue Reihe VII,1), 1970, S. 61; P. Uiblein, Dr. Georg Läntsch von Ellingen, Domherr u. Prof. in Wien, Stifter d. Pfarrbibl. zu Aschbach, Jb. f. Landeskunde v. Niederösterr. NF 40 (1974) 57⫺107, wieder in: ders., Die Univ. Wien im MA. Beiträge u. Forschungen (Schriftenreihe d. Univ.archivs Wien 11), 1999, S. 233⫺286, hier S. 245 Anm. 62, 249⫺252, 258 f., 270 f., 276 Anm. 243, 523; W. Goldinger, Das Domkapitel zu St. Stephan in d. Humanistenzeit, Jb. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Wien 34 (1978) 89⫺105, hier S. 94⫺96; P. Uiblein (Hg.), Die Akten d. Theol. Fakultät d. Univ. Wien, Bd. 1, 1978, S. 205, 211, 213, 214; Bonorand II, S. 362 f.; J. L. Flood, Poets laureats in the Holy Roman Empire, Bd. 3, 2006, S. 1651 f. (fehlerhaft).

F. J. Worstbrock

Reuchlin (Rochlin, Roechlin; Capnion), Johannes Inhalt. I. Leben. ⫺ II. Werk. A. Briefwechsel. ⫺ B. Reden. ⫺ C. ‘Vocabularius breviloquus’. ⫺ D. Poetische Werke. 1. Komödien. 2. Gedichte. ⫺ E. Graeca. 1. ‘De quattuor Graecae linguae differentiis’. 2. ‘Cottidiana colloquia Graeca’. 3. Ausgaben. ⫺ F. Übersetzungen griech. und lat. Texte. ⫺ G. Hebraica. 1. ‘De rudimentis Hebraicis’. 2. ‘De accentibus et orthographia linguae Hebraicae’. 3. Ausgaben und Übersetzungen. ⫺ H. Theologische Werke. 1. ‘De arte praedicandi’. 2. Kommentar zur Sequenz ‘Ave virginalis forma’. ⫺ J. Die ‘Tütsch missive’ und die Schriften des Bücherstreits. 1. ‘Tütsch missive’. 2. ‘Augenspiegel’. 3. ‘Ain clare verstentnus’. 4. ‘Defensio’. 5. ‘Acta iudiciorum’. ⫺ K. Die Hauptwerke. 1. ‘De verbo mirifico’. 2. ‘De arte cabalistica’. ⫺ Literatur.

I . L eb en . R. wurde am 29. Jan. 1455 in Pforzheim als Sohn des Verwalters des Dominikanerklosters Georg Reuchlin und seiner Frau Elisabeth (beide † nach 1474) geboren. Zwei

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Geschwister R.s sind bekannt: 1. Dionysius, ab 1488 Studium in Basel, dort Bacc. art., ab 1491 in Florenz, im Jan. 1493 Immatrikulation in Tübingen, dort im Jan. 1494 Mag. art., Priester, nach 1516 in Waiblingen Lateinschullehrer; 2. Elisabeth, † kurz vor 1552, über ihren früh verstorbenen Gatten mit den Großeltern Philipp Melanchthons verwandt. R. selbst war zweimal verheiratet: Die erste Frau, Tochter aus der Stuttgarter Bürgerfamilie der Müller von Ditzingen, brachte größeren Grundbesitz in der Umgebung von Ditzingen mit in die Ehe. Die zweite Frau stammte vermutlich aus der Familie DeckerVautt aus Bad Cannstatt; ein Kind aus dieser Ehe starb früh. Nach dem Besuch der Lateinschule seiner Heimatstadt wurde R. am 19. Mai 1470 an der Univ. Freiburg i. Br. immatrikuliert. 1473/74 begleitete er als Präzeptor Friedrich, den Sohn des badischen Mgf. Karl I., zum Studium nach Paris. Dort hörte R. Grammatik bei Johannes D Heynlin, Rhetorik bei Guillaume Tardiff und Robert Gaguin. Mit Heynlin ging er nach Basel, wo er sich zum SS 1474 einschreiben ließ. Im Sept. 1474 wurde er dort zum Baccalaureus und 1477 zum Magister artium (via moderna) promoviert. Das Jahr 1478 verbrachte R. in Paris, wo er sich intensiv dem Erlernen des Griechischen widmete, möglicherweise aber auch schon mit seinem Rechtsstudium begann. Von Jan. 1479 an studierte er in Orle´ans römisches Recht; als er dort im Jan. 1480 zum Prokurator der Deutschen Nation gewählt wurde, war er bereits Baccalaureus legum. Zum WS 1480/81 bezog R. die Univ. Poitiers, wo er am 14. Juni 1481 das Lizentiat im kaiserlichen Recht erwarb. Kurze Zeit später kehrte er nach Deutschland zurück und ließ sich im WS 1481/82 in die Matrikel der Univ. Tübingen aufnehmen (vgl. II.B.). Einträgen in den württembergischen Landschreiberrechnungen läßt sich entnehmen, daß er zwischen dem 12. Okt. 1484 und dem 13. Jan. 1485 zum Dr. iur. civ. promoviert wurde. Bereits 1482 war R. in die Dienste des Grafen von Württemberg Eberhard im Bart getreten, an dessen Hof Humanisten

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Reuchlin, Johannes

wichtige Positionen bekleideten (die Gebrüder Vergenhans [J Nauclerus], Martin D Prenninger, Petrus Jakobi). Er gehörte zum Gefolge des Grafen für die Verhandlungen mit Papst Sixtus IV. in Rom. Ein Jahr später, 1483, findet R. erstmals als Rat Eberhards (mit einer Besoldung von 50 Gulden) in den Landschreiberrechnungen Erwähnung. In den folgenden Jahren war er in wichtigen Missionen für seinen Landesherrn tätig: 1486 nahm er am Reichstag in Frankfurt und an der Krönung Maximilians I. in Aachen teil (R.s Berichte in: Dt. Reichstagsakten unter Maximilian I., MR Bd. I 2, 1989, S. 812⫺839); 1488 gehörte er zu den Räten, die im Streit zwischen Eb. Johann von Trier und Pfalzgraf Philipp vermittelten; im Frühjahr 1490 begleitete er den illegitimen Sohn Eberhards, Ludwig Wirtemberger, zum Studium nach Italien; 1492 verhandelte er im Auftrag Eberhards und des Schwäbischen Bundes am Kaiserhof in Linz. Als Auszeichnung für seine Verdienste erhob ihn Ks. Friedrich III. am 24. Okt. 1492 in den Adelsstand und verlieh ihm das kleine Palatinat. Neben seinen Aufgaben als Rat Graf Eberhards und als Beisitzer am württembergischen Hofgericht ⫺ dort findet er in den Jahren 148385, 1489 und 1493 urkundliche Erwähnung ⫺ war R. als Anwalt tätig. In dieser Funktion arbeitete er seit Mitte der 1480er Jahre auch für den Dominikanerorden (s. Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 128⫺130). Nach dem Tod Eberhards im Bart am 25. Febr. 1496 verließ R. Württemberg, da er Nachstellungen durch den Augustiner Konrad Holzinger, den Berater Hzg. Eberhards d. J., befürchtete (R. hatte 1488 für die Inhaftierung Holzingers gesorgt). Auf Einladung des Bischofs von Worms und pfälzischen Kanzlers Johann von Dalberg kam R. nach Heidelberg, wo er Aufnahme in die Sodalitas litteraria Rhenana fand. Dalberg hatte R. zunächst die Leitung seiner Bibliothek in Ladenburg übertragen, vermittelte ihm Ende 1497 aber die Bestallung als pfälzischer Rat und oberster Erzieher der Kinder Pfalzgraf Philipps des Aufrichtigen. Im Auftrag Philipps reiste R. im Sommer 1498 nach Rom, um dort von Papst Alexander VI. die Aufhebung der ge-

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gen Philipp verhängten Exkommunikation und einen Dispens für die Hochzeit Ruprechts, des dem Priesterstande angehörenden Sohnes Philipps, zu erwirken. Im Sommer 1499 kehrte R. aus Heidelberg nach Württemberg zurück, wo im Jahr zuvor die Landstände Hzg. Eberhard d. J. zum Herrschaftsverzicht gezwungen hatten. R. scheint sich zunächst ⫺ neben der Anwaltskanzlei ⫺ überwiegend seinen Studien gewidmet zu haben; für eine Tätigkeit als Rat in dieser Zeit gibt es keine Nachrichten. Im Jan. 1502 wurde R. als Nachfolger seines Förderers Johannes Vergenhans zum Richter der Fürstenbank des Schwäbischen Bundes bestellt. Am Sitz des Gerichtes in Tübingen bildete sich um ihn und die beiden anderen Bundesrichter ein kleiner humanistischer Kreis (s. Michael J Köchlins Schrift ‘De imperii a Graecis ad Germanos translatione’). Zumindest von drei unter R.s Stabführung stehenden Prozessen besitzen wir Zeugnisse (ReuchlinBr., Bd. 2, App. I⫺III). R. übte das Amt bis zum Jahr 1513 aus, dann gab er es wie die anderen Bundesrichter wegen der Verlegung des Gerichtes nach Augsburg auf (Austritt Hzg. Ulrichs von Württemberg aus dem Bund). Wenigstens zeitweise scheint R. auch in Diensten Hzg. Ulrichs gestanden zu haben. Die Jahre nach der Aufgabe des Bundesrichteramtes, die durch die Auseinandersetzungen um die jüdischen Bücher und den Prozeß um den ‘Augenspiegel’ (s. II.J.) geprägt sind, verbrachte R. überwiegend in Stuttgart oder auf dem Landgut in Ditzingen. Einen Ruf Kf. Friedrichs d. Weisen auf die Professur für Griechisch und Hebräisch an der Univ. Wittenberg lehnte er 1518 ab; statt seiner empfahl er Philipp Melanchthon und Paulus J Ricius als Lehrer der beiden Sprachen. Wegen des Krieges zwischen Hzg. Ulrich und dem Schwäbischen Bund verließ R. 1519 Württemberg und ging nach Ingolstadt. Dort ernannte ihn Hzg. Wilhelm IV. von Bayern, in dessen Dienst R. als Rat während der Besetzung Stuttgarts durch die Truppen des Bundes getreten war (vgl. Pirckheimer-Br., Bd. 4, Nr. 602), am 29. Febr. 1520 zum Professor für Griechisch und Hebräisch. R. las im Hebräischen

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Reuchlin, Johannes

über die Grammatik des Moses Kimchi und im Griechischen über Aristophanes’ ‘Plutus’ (Mitschriften der Vorlesungen in der Prädikantenbibl. Isny bzw. der UB Salzburg). Bereits Mitte Mai 1521 verließ R. wegen der Pest Ingolstadt jedoch wieder und nahm eine Professur für Griechisch und Hebräisch in Tübingen an. Neben der schon in Ingolstadt behandelten Grammatik Kimchis las er im Hebräischen über die biblischen Bücher Genesis, Ruth und Psalmen; im Griechischen traktierte er die ‘Erotemata’ des Manuel Chrysoloras (s. auch II.E.3.). Am 30. Juni 1522 verstarb R. in Stuttgart; dort ist er in der Leonhardskirche begraben. I I. We rk . Das Œuvre R.s zeichnet sich durch eine große Spannbreite aus: Philologische Schriften, die Frucht jahrelanger Beschäftigung mit einer Sprache, stehen dabei neben oft in großer Hast aufs Blatt geworfenen poetischen Erzeugnissen wie Gedichten und Komödien, rhetorische und theologische Werke, Spiegel von R.s Belesenheit in der antiken Literatur und der Bibel, neben Beleidigungen und Beschimpfungen aneinanderreihenden bitterbösen Streitschriften. Wenn Ulrich von J Hutten in seinem Bild von den “zwei Augen Deutschlands” R. auf eine Stufe mit J Erasmus von Rotterdam hebt (ähnlich J Irenicus, ‘Germ. exeg.’ II 37 u. 39), ist dies sicherlich überzogen. R.s Schriften waren mit wenigen Ausnahmen zu ihrer Zeit nie die Erfolge beschieden wie den Werken des Erasmus, von der langfristigen Wirkung zu schweigen. Doch ging von ihnen eine Reihe wichtiger Anstöße ⫺ z. B. für das Studium der griech. und hebr. Sprache oder die Entwicklung des Bühnenspiels ⫺ aus. Aufgrund seiner philologischen Studien kann R. auch als einer der Wegbereiter der Reformation gelten; er selbst hat sich jedoch von der neuen Glaubensrichtung distanziert. A . B ri ef we ch se l. R.s Briefwechsel gehört zu den wichtigsten Zeugnissen der Früh- und Blütezeit

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des Humanismus nördlich der Alpen. Zu seinen Briefpartnern zählten im deutschen Raum Gelehrte wie Rudolf D Agricola, Sebastian J Brant, Johann von Dalberg, J Mutianus Rufus, Erasmus von Rotterdam, Joachim J Vadianus, Konrad J Peutinger und Willibald J Pirckheimer, in Italien Marsilio Ficino, Gianfrancesco Pico della Mirandola, Aldo Manuzio, Pietro Galatino und Egidio da Viterbo, in Frankreich Jacques Lefe`vre d’Etaples und in England B. John Fisher. Die erhaltene Korrespondenz beginnt im letzten Basler Studienjahr und reicht bis kurz vor R.s Tod; am dichtesten ist die Überlieferung in den Jahren des Bücherstreits nach 1510. Innerhalb der Gesamtkorrespondenz gibt es einige Schwerpunkte; dazu gehören die Briefwechsel mit dem Ottobeurener Mönch Nikolaus J Ellenbog und dem Ravensburger Humanisten Michael J Hummelberg (je 24 Briefe), mit dem deutschen Kurialen Jakob J Questenberg (16 Briefe), dem Nürnberger Ratsherrn Willibald Pirckheimer (15 Briefe) und dem Basler Drucker Johannes Amerbach (13 Briefe). Die wichtigsten hsl.en Sammlungen finden sich in den Kodizes Basel, UB, G II 13a, Berlin, SBPK, lat. fol. 239, Frankfurt, StUB, lat. oct. 8, München, Clm 4007, Paris, BN, lat. 8643 Bd. 1, St. Gallen, Vadianische Bibl., Ms. 469, Stuttgart, Württ. LB, Cod. hist. in 4° Nr. 99, und Uppsala, UB, C 687. Weit größere Bedeutung für die Überlieferung der Korrespondenz als den genannten Kodizes kommt aber den in den Jahren 1514 und 1519 von R. selbst in die Wege geleiteten Briefausgaben zu. Beide verdanken ihre Entstehung dem Bücherstreit und dem Prozeß um R.s ‘Augenspiegel’ (s. u. II.J.). Die Ausgabe der ‘Clarorum virorum epistolae’ von 1514 enthält insgesamt 107 Briefe: Von diesen stammen 7 Briefe aus R.s Feder; die 100 an ihn gerichteten Briefe verteilen sich auf 62 Korrespondenzpartner. Eingeleitet wird die Sammlung von Empfehlungsschreiben Johannes J Hiltebrants und Philipp Melanchthons. Die Briefe der Ausgabe sind nicht “wahllos aneinandergefügt”, wie Benzing, S. 42, meint, sondern nach personalen, thematischen und formalen Gesichtspunkten geordnet: Die Schreiben eines Briefpartners stehen zusammen und sind in der Regel chronologisch gereiht. Auch nach Stellung oder Stand ihrer Verfasser sind

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Briefe zusammengefügt, wie die Briefe der kaiserlichen Räte Johannes Krachenberger, Johannes Fuchsmagen und Bernhard Perger oder die der Mönche Konrad J Leontorius und Nikolaus Ellenbog. Darüber hinaus sind inhaltlich verwandte Schreiben einander zugeordnet, wie z. B. die Briefe über R.s Griechischstudien und seine Bemühungen um griech. Bücher. Gesondert hinter den lat. Briefen abgedruckt sind die Schreiben in griech. und hebr. Sprache; ihnen ist jeweils eine lat. Übersetzung beigegeben. Den Abschluß des Bandes bilden das Lizentiatsdiplom und die Ernennungsurkunde zum Hofpfalzgrafen. Die Ausgabe von 1514 floß als erster Teil in die 1519 gedruckten ‘Illustrium virorum epistolae’ ein. In deren zweitem Teil sind weitere 71 Briefe versammelt, 12 von R. und 59 von anderen Verfassern. Die meisten dieser Schreiben stammen aus den Jahren 1514 bis 1518 und nehmen Bezug auf den Bücherstreit und den Prozeß um den ‘Augenspiegel’. Auch enthalten ist die Korrespondenz zwischen R. und der theol. Fakultät der Univ. Köln und ihren Mitgliedern Konrad Kollin und Arnold von Tongern. Eröffnet wird der zweite Teil durch R.s Rede vor Papst Alexander VI. v. J. 1498 (s. u. II B.). Wohl aus apologetischen Gründen nahm R. auch vier Briefe von Mitgliedern des Dominikanerordens auf, worin sich diese in überschwenglichen Worten für seine Arbeit im Dienst des Ordens bedanken. Die Ausgabe beschließt ein Brief Ks. Maximilians I. mit der Bitte an Papst Leo X., den Prozeß gegen den ‘Augenspiegel’ niederzuschlagen und R. (innocentissimus vir ille) von allen böswilligen Nachstellungen zu befreien.

Besitzen die ‘Clarorum virorum epistolae’ den Charakter einer überwiegend den Bonae litterae gewidmeten Briefsammlung, die R.s hohe Wertschätzung innerhalb der humanistischen Gemeinschaft bezeugen soll, sind die ‘Illustrium virorum epistolae’ deutlich von R.s Besteben beherrscht, sich gegen die Vorwürfe seiner Widersacher zu verteidigen und seine Treue zur Kirche zu betonen. Auf dem Titelbl.v der ‘Illustrium virorum epistolae’ und an ihrem Ende (Bl. F v) wird ein drittes Briefbuch mit weiteren Schreiben in Aussicht gestellt. Ein solches, das vermutlich die Korrespondenz aus der Zeit des Prozesses an der Kurie in Rom enthalten sollte, ist nicht mehr erschienen. Drucke. Clarorum Virorum Epistolae | latinæ graecæ & hebraicæ variis temporibus missæ | ad Ioannem Reuchlin Phorcensem | LL. Doctorem. Tübingen: Th. Anshelm, 1514. VD 16, R 1241. ⫺ Illustrivm | Virorvm Episto|læ, Hebraicæ, Græ|

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cæ Et Latinæ, Ad | Ioannem Reuchlin Phorcensem | virum nostra ætate doctissimum | […], qui-| bus iam pridem additus est Liber Secundus nunqua`m antea editus. [...]. Hagenau: Th. Anshelm, 1519. VD 16, R 1242. ⫺ Clarorum | Virorum Episto-|lae Latinae, Graecae, | et Hebraicae, variis temporibus mis-|sæ ad Ioannem Reuchlin | Phorcensem LL. | Doctorem. ND Zürich: Chr. Froschauer, 1558. VD 16, R 1243. Ausgaben. Reuchlin-Br., bisher 3 Bde.; Geiger , Briefwechsel; Friedl‰nder, S. 1⫺124. ⫺ Übersetzung: Joh. Reuchlin. Briefwechsel. Leseausg. von A. Weh u. G. Burkard, 3 Bde., 20022007.

B . Red en . Von R. sind zwei Reden vollständig und eine weitere fragmentarisch erhalten. Die älteste Rede aus dem Jahr 1477 (‘Oratio probatissimi magistri Ioannis Reuchlin’) ist überliefert in der Hs. St. Gallen, Vadianische Bibl., Ms. 469, Bl. 38 r⫺41r (hg. in Geiger , Briefwechsel, Nr. Ia, S. 340⫺ 345). In ihr wendet sich R. als Promotor der Baccalaureandi der Univ. Basel an seine aus den Lehrenden und Studierenden der Universität bestehende Zuhörerschaft. Er bemüht das Bild der zwei Wege: des mühsamen, der zur Tugend führt, und des leichten, der den Menschen der Lasterhaftigkeit verfallen läßt. Die Baccalaureandi hätten den schweren Weg nicht anders als durch das gründliche Studium der Philosophie bewältigen zu können geglaubt. Nicht wenige hätten für dieses Studium ihre Eltern und das Vaterland verlassen und sich nach dem Vorbild Platons und des Apollonios von Tyana auf eine akademische peregrinatio begeben (s. u. II D.2.). Nur fragmentarisch überliefert in der Hs. Paris, BN, Suppl. gr. 212, Bl. 238 v⫺ 239 r, ist eine Rede, die R. kurz nach seiner Immatrikulation an der Univ. Tübingen gehalten hat, vermutlich zu Beginn einer geplanten Lehrtätigkeit. Das Fragment (hg. in M. Sicherl, Zwei Reuchlin-Funde aus d. Pariser Nationalbibl., Akad. d. Wiss. u. Lit. Mainz, Abh. d. Geistes- u. sozialwiss. Kl. 1963, S. 774⫺777) umfaßt den Beginn der Rede und enthält die Disposition, die R. seinen Zuhörern gibt: Demnach wollte er zunächst über den Grund seines Kommens sprechen (hiervon

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ist ein Teil erhalten), dann den Zuhörern erläutern, inwieweit sie aus seiner Lehre Vorteil ziehen könnten, und schließlich ausführen, was sie um ihrer Ehre und ihres Vergnügens willen tun sollten. R.s bedeutendste Rede ist die 1498 vor Alexander VI. gehaltene ‘Oratio pro Philippo Bavariae duce’. Ihr Ziel ist die Aufhebung der vom Papst gegen Kf. Philipp wegen seiner Übergriffe auf das Kloster Weißenburg im Elsaß verhängten Exkommunikation. R. betont zunächst die Verantwortung des Papstes für den Frieden im Reich und erinnert ihn an die von Christus geübte Sanftmut und Güte. Dann hebt er die enge Verbindung zwischen Papst und Fürst (Vater-Sohn) hervor und schildert den Gehorsam Philipps und seine Verdienste um die Kirche und den Hl. Stuhl. In das einträchtige Verhältnis sei die teuflische Schlange in Gestalt der Weißenburger Mönche eingedrungen. Anstatt dem Fürsten ihre Dankbarkeit für seine Fürsorge zu erweisen, sei Philipp von den Mönchen beim Auditor des Papstes angezeigt worden, der ihn ohne Rücksicht auf seine Würde und gegen alle Zuständigkeit exkommuniziert habe. Die Rede endet mit der Bitte, die unrechtmäßige Exkommunikation aufzuheben und den Streitfall an den Kaiser als dem für beide Seiten (Reichsvasallen) zuständigen Herrn zu übergeben. In seinem Brief vom 27. Juni 1502 (ReuchlinBr., Bd. 1, Nr. 115) erwähnt der Kardinal und päpstl. Legat Raimund Peraudi eine von R. verfaßte Oratio de Germania et eius principibus. Diese wohl gedruckte Rede scheint nicht erhalten zu sein. Drucke. Ad Alexandrum Sextum pontificem maximum pro Philippo Bava|riæ duce Palatino Rheni […] | Joannis Reuchlin […] oratio. vii. idus Sex|tiles. Anno. M.IID. Romae. Venedig: Aldo Manuzio, 1498. Hain 13883. Nochmals abgedruckt in: Illustrium virorum epistolae [...]. Hagenau: Th. Anshelm, 1519 (s. o. II.A.), Bl. n iii v⫺ [o4]r. Übersetzung eines größeren Auszugs in: J. R., Briefwechsel. Leseausg., Bd. 1, hg. v. A. Weh, 2000, S. 248⫺254.

C . ‘ Vo ca bu la ri us br ev il oq uu s’ . Der ‘Vocabularius breviloquus’ erschien in allen Ausgaben seit 1478 ohne Angabe

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eines Verfassers; im Widmungsbrief zu den ‘Rudimenta Hebraica’ von 1506 (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 138) bestätigte R. jedoch, das Werk seinerzeit in Basel zusammengestellt zu haben (apud Rauracos dictionarium collegi, quem appellavi Breviloquum). Es handelt sich bei ihm um ein lat.lat. Wörterbuch, das in drei jeweils alphabetisch geordnete Teile ⫺ Nomina, Verba, Indeclinabilia ⫺ gegliedert ist. Der erste Teil mit den Nomina, der auch die Eigennamen enthält, nimmt dabei mehr als zwei Drittel des Werkes ein. Dem Wortverzeichnis vorangestellt sind drei Abhandlungen: die ‘Ars diphtongandi’ des Guarino da Verona, der Johannes Heynlin bzw. Guillaume Fichet zugeschriebene ‘Dialogus de arte punctandi’ und der ‘Tractatus utilis de accentu’ eines unbekannten Verfassers. Der ‘Voc. breviloquus’ basiert weithin auf dem im letzten Viertel des 14. Jh.s von einem Anonymus verfaßten und in über 40 Hss. verbreiteten D ‘Vocabularius brevilogus’. Aus diesem übernahm R. einen großen Teil der Einträge entweder unverändert oder in leicht gekürzter Form. Auch das Vorwort des ‘Voc. brevilogus’ erscheint bei R. fast ohne Veränderungen. Neben dem ‘Voc. brevilogus’ bediente sich R. ⫺ vor allem für die Wörter aus dem Bereich des Rechts (vgl. die Liste bei Akkermann, S. 214⫺219) ⫺ beim ‘Vocabularius iuris utriusque’ des Jodocus von Erfurt. Drucke. Vocabularius breviloquus. Basel: [Joh. Amerbach], 1478. Cop. 6285. Benzing, Nr. 1. Weitere 21 Drucke bis 1504 bei Benzing, S. 1⫺5.

D . P oe ti sc he We rk e 1. Komödien. R. hat während seiner Zeit in Heidelberg zwei Komödien verfaßt, den ‘Sergius’ und die ‘Scaenica progymnasmata’; letztere tragen nach der Übersetzung von Hans Sachs auch den Titel ‘Henno’. Als Vorbilder dienten R. die Komödien des Plautus und des D Terenz (vgl. Seb. J Brants Titelepigramm zum ‘Henno’: Quo duce Germanos comoedia prisca revisit / Et meruit soccis Rhenus inter novis). Aus der römischen Palliata übernahm er die

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Akt- und Szeneneinteilung; ebenfalls enthalten die Komödien Prologe, in denen der Titel des Stücks erläutert, eine kurze Zusammenfassung des Inhalts (argumentum) gegeben und der Zuschauer um eine günstige Aufnahme des Stückes gebeten wird. In der Erstausgabe des ‘Henno’ findet sich darüber hinaus wie bei Terenz eine Didaskalie mit der Angabe des Spielortes und den Namen der Schauspieler und der für die Inszenierung Verantwortlichen. Auch einzelne Figuren aus der Palliata haben den Weg in R.s Komödien gefunden (Dromo). Unübersehbar sind die sprachlichen Anleihen bei den antiken Vorbildern; eine Liste der dort entlehnten Wörter und Redensarten bei Holstein, Komödien, S. 140 f. Zeitgenossen wie Konrad J Celtis, Sebastian Brant, Adam J Werner von Themar oder Ulrich von J Hutten sahen in R. den Begründer der Komödie in Deutschland. Gemessen an der Anzahl der Drucke waren die beiden Komödien ⫺ neben dem ‘Vocabularius breviloquus’ ⫺ R.s erfolgreichste Werke. a) ‘Sergius’. Seine erste Komödie (V. 21: primitiae) verfaßte R. Ende 1496. Sie trägt den Titel ‘Sergius vel capitis caput’: Sergius ist der Name eines in der Komödie vorkommenden Apostaten (V. 370 u. a.), der Lehrer des Propheten Mohammed gewesen sein soll; mit dem capitis caput (V. 344) wird hingegen auf den Berater des Hzg.s von Württemberg, Konrad Holzinger, angespielt. Im Prolog bezeichnet R. sein in iambischen Trimetern verfaßtes und knapp 500 Verse enthaltendes Stück als iocus (V. 1), ludicrum (V. 2) und comoedia (V. 11). Sich selbt nennt er ⫺ wie auch im Prolog zu den ‘Scaenica progymnasmata’ ⫺ einen novus poeta. 1. Akt: Heluo (s. Terenz, Heaut. 1033: ‘Schwelger und Prasser’) stimmt einen Lobgesang auf das Alter, den Glanz und die weite Verbreitung seines Geschlechtes an. Mit seinen Freunden Salax, Lixa und Aristophorus trifft er auf den Fremden Buttubatta, der ihnen nach langem Drängen sein bis dahin sorgsam unter dem Mantel verborgenes Geheimnis preisgibt: einen schmutzigen und stinkenden Totenschädel. Die Freunde beschließen, den Schädel als Reliquie auszugeben, um damit nach

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Art der Bettelmönche den Bauern und Alten das Geld aus der Tasche zu ziehen, indem man ihnen vorgaukelt, daß der Schädel Sünden vergeben und Nachlaß von Sündenstrafen gewähren kann. Zur nötigen Reinigung und Salbung des Schädels entfernen sich zwei von ihnen mit Buttubatta. ⫺ 2. Akt: Die auf dem Schauplatz zurückgebliebenen Lixa und Heluo geraten in eine Auseinandersetzung mit einem Pharisäer über die Dichtkunst. Lixa verteidigt sie gegen die Angriffe des Pharisäers mit dem Hinweis auf die Hochschätzung der Dichtkunst bei Mose und Paulus. ⫺ 3. Akt: Nachdem der gesäuberte Schädel, dessen Macht als caput capitis Buttubatta in eindrücklichen Worten schildert, von den Freunden in Verehrung geküßt worden ist, eröffnet er ihnen, daß es sich um das Haupt des Sergius handele, eines aus seinem Kloster entwichenen Mönches, der vom Christentum abgefallen sei und sich Mohammed angeschlossen habe. Die Freunde bereuen nun, den Schädel geküßt zu haben, und verfluchen ihn. Im Epilog ergeht die Aufforderung, nichts mit einem caput vanum zu schaffen zu haben. Vor dem Epilog ist in der Erstausgabe eingeschoben ein siebenstrophiger gereimter Chor mit den wiederkehrenden Anfangsversen: Musis poetis et sacro / Phoebo referte gratias. Teile dieses Chores verwandte R. für den dritten Chorgesang der ‘Scaenica progymnasmata’ wieder.

Die Komödie verteidigt die Poesie gegen die Angriffe scholastischer Gelehrter; dieses Anliegen tritt besonders im 2. Akt und im abschließenden Chorgesang hervor. Deutlich ist auch die Kritik am herrschenden Reliquienkult und an den Mendikanten zu spüren. Zugleich rechnet das Stück mit R.s Gegner Holzinger ab. Die Komödie kam auf Dalbergs Rat hin nicht zur Aufführung. Möglicherweise wollte Dalberg Konflikte mit Württemberg wegen der deutlichen Anspielungen auf den Berater Hzg. Eberhards vermeiden oder er fürchtete, die Kritik an den Bettelorden und am Reliquienwesen könne Mißfallen erregen. Gerade diese Kritik verlieh dem Stück später aber große Beliebtheit. Die Komödie ist in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. Die erste Fassung lag der Erstausgabe von 1504 (sie benutzte Hieronymus J Emser bei seiner in Erfurt gehaltenen Vorlesung über den ‘Sergius’) und dem Wittenberger Druck von 1505 zugrunde. Alle weiteren Ausgaben basieren auf der zweiten, um 1505 erschienenen

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Recensio (Holstein, Komödien, S. 163 f.). 1507 veröffentlichte der Präzeptor der Pforzheimer Lateinschule Georg J Simler einen Kommentar zum ,Sergius’, den er R. widmete (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 144). 1538 erschien bei Philipp Ulhart d. Ä. in Augsburg eine dt. Übersetzung von Martin Roet (Ain Schöne kurtze | Comedi/ […] | Johannis Reüchlins / Sergius vel capitis caput / im Latein genandt | verteutscht […]. VD 16, R 1300). Drucke. I. Fassung: Comoedia cui no⫽|men Sergius Ioannis | Capnionis vulgo Reuch|lin phorcensis LL. doc|toris [...]. [Erfurt: Wolfg. Schenk, um 1504]. VD 16, R 1283. Ein weiterer Druck: Wittenberg: Herm. Trebelius, [1505]. VD 16, R 1285. ⫺ II. Fassung: Ioannis Reuch|lin Phorcensis Sergius vel | Capitis caput. Heidelberg: [?, um 1505]. VD 16, R 1284. Neun weitere Drucke, bis 1527, bei Benzing, S. 8 f. ⫺ Mit dem Kommentar Georg Simlers: Joannis Reuchlin Phor|censis Sergius uel Capitis ca|put cum commentario | Georgij Symler. Pforzheim: Th. Anshelm, 1507. VD 16, R 1286. Drei weitere Drucke bei Benzing, S. 9 f. VD 16, R 1287⫺1289. ⫺ Zu den gemeinsamen Drucken des ‘Sergius’ und der ‘Scaenica progymnasmata’ s. dort. Ausgabe. Holstein, Komödien, S. 107⫺126. Übersetzung: Schwab, S. 58⫺74.

b) ‘Scaenica progymnasmata’ (‘Henno’). Die ‘Scaenica progymnasmata’ sind ein in regelmäßigen iambischen Trimetern verfaßtes Drama in fünf Akten. Zwischen die einzelnen Akte hat R. jeweils Chorgesänge eingefügt. Die Komödie ist für die Schulbühne bestimmt, wie ein hsl.er Eintrag R.s zeigt: pre˛exercitamenta, quibus adolescentes comice˛ pronunciationis et gestus de se periculum faciant. Im Prolog bezeichnet R. seine Komödie als ludum anilem (Altweiberspiel), quem vocat progymnasmata. Sie kam am 31. Jan. 1497 im Haus B. Dalbergs in Heidelberg zur Aufführung. Schauspieler waren Studenten der Univ. Heidelberg (s. die Didaskalie). 1. Akt: Der Bauer Henno entwendet seiner Frau acht Goldstücke, um damit heimlich Tuch für einen neuen Ausgehrock zu kaufen. Der Knecht Dromo, dem er das Geld anvertraut, beschließt, dieses für sich zu behalten und dem Tuchhändler Danista zugleich das Tuch abzuschwatzen. ⫺ 2. Akt: Die Bauersfrau wendet sich an den Astrologen Alcabicius, um von ihm etwas über den Dieb

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zu erfahren. In dessen Beschreibung (Bauer, dem Trinken zugetan, häufiger Besucher des Badhauses) meint sie zunächst ihren Mann zu erkennen, zu dem aber der beschriebene Eifer im Bett nicht passen will. ⫺ 3. Akt: Als der Bauer und der Tuchhändler bei einem Treffen in der Stadt erkennen, daß sie von Dromo betrogen worden sind, und der Danista den Knecht als trilitterus (Neubildung R.s nach Plautus, Aul. 2,4,46) beschimpft, gibt sich dieser beleidigt und fordert eine gerichtliche Entscheidung. ⫺ 4. Akt: Der Advokat Petrucius rät Dromo, auf alle Fragen des Richters mit ble zu antworten. Der Plan gelingt; der Richter Minos hält den Knecht für einen Taubstummen und spricht ihn frei. ⫺ 5. Akt: Als der Advokat den vereinbarten Lohn kassieren will, antwortet Dromo auf dessen Forderungen mit ble. Der Bauersfrau gegenüber gesteht er den Betrug ein, behauptet aber, aus gutem Grund gehandelt zu haben: Den Bauern habe er wegen des Diebstahls betrogen, den Tuchhändler wegen seiner Wucherei und den Advokaten, weil dieser ein meineidiger Schelm sei. Dromo erhält die Tochter Hennos zur Frau und die Goldstücke als Mitgift. Von den Chorgesängen dienen der erste und der letzte der moralischen Ausdeutung der vorhergehenden Handlung (Glück ist vergänglich; setze Dein Vertrauen auf Gott und nicht auf Geld. / Wenn Du Ruhe und Frieden suchst, meide Streitigkeiten vor Gericht). Die beiden anderen Chöre nach dem 2. und 3. Akt sind Lobgesänge auf die Dichtkunst und die Poeten (s. ‘Sergius’).

In der Forschung hat die Frage nach den zeitgenössischen Vorbildern des ‘Henno’ eine große Rolle gespielt. Dabei stand insbesondere die Frage der Abhängigkeit des Stückes von der um 1465 entstandenen frz. Farce ‘Maıˆtre Pierre Pathelin’ (vgl. LexMA, Bd. 6, Sp. 1782 f.) im Vordergrund. Neben den Verbindungen zu der frz. Farce wird in neuerer Zeit aber auch der Einfluß der Commedia dell’arte betont, vor allem bei der Ausgestaltung der Personen: Demnach trägt der Knecht Dromo Züge des brighella, der Tuchhändler Danista des pantalone und der Astrologe Alcabicius des Wissen vortäuschenden dottore. Von der Beliebtheit der ‘Scaenica progymnasmata’ in der ersten Hälfte des 16. Jh.s zeugen die fast 30 Einzelausgaben; vor allem die Verwendung für die Lektüre und die Aufführung an den Lateinschulen und Universitäten trug zu diesem Erfolg bei. Hinzu kommen zwei 1614 und 1615 von Schulmännern besorgte Ausgaben. R.s

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Stück fand Aufnahme noch in Johann Christoph Gottscheds ‘Noethigen Vorrat zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst’, in dem er es als “erste Probe des fast regelmäßigen deutschen Witzes” hervorhob. Wie der ‘Sergius’ erhielt auch der ‘Henno’ einen Kommentator, Jakob J Spiegel, der an der Aufführung im Hause Dalbergs mitgewirkt hatte. Spiegel konnte für seine Arbeit auf R.s eigenen Kommentar zurückgreifen, der in Form von Marginalien zum Text der Komödie im Kodex Uppsala, UB, C 687 überliefert ist (hg. von Holstein, Komödien, S. 98⫺106). Den Erfolg der ‘Scaenica progymnasmata’ belegen auch die dt. Bearbeitungen des Stücks. Eine erste, kurz nach 1500 wohl in Frankfurt entstandene Übertragung, die ‘Comedia Jo. Reuchlin traducta vulgariter’ ist in der Hs. Hamburg, SUB, Sup. epist. 4° 47, Bl. 199⫺220, erhalten (hg. von Beutler , S. 205⫺224). Den ‘Frankfurter Henno’ mit seiner Einteilung in sieben statt fünf Akte benutzte der unbekannte Verfasser des ‘Luzerner Spiels vom Klugen Knecht’, das in der Hs. Luzern, ZB, Ms. 182 fol., Bl. 49 r⫺61r, überliefert ist und um 1505⫺10 angesetzt wird (hg. von W. Haas / W. Stern, Fünf Komödien d. 16. Jh.s, 1989, S. 15⫺ 52). Die weiteren Bearbeitungen greifen auf R.s lat. Text zurück: Die größte Bekanntheit von diesen genießt Hans Sachs’ 1531 vollendete Übertragung Eine Comedi mit X Personen zu Recidiern, Doctor Reuchlins im Latein gemacht, der Henno (nicht in VD 16). Es folgten Johann Betz’ Ein Comedi, die | sich mit dem Sprich⫽|wort vergleicht, do gesagt wirt. | Ein betrug betreugt den andern […] (Nürnberg: Georg Wachter, 1546, VD 16, ZV 16145) und Gregor Wagners Ein hübsche | deutsche Comedi, | die da leret das Vn⫽ | trew seinen ei⫽ | gen Herrn schlecht’ (Frankfurt a. d. O.: Nik. Wolrab, 1547. VD 16, W 113). Nach Chr. Fr. Schnurrer , Biograph. u. litt. Nachrichten [...], Ulm 1792, S. 51, soll es noch eine Übertragung der ‘Scaenica progymnasmata’ von Jakob Klyber aus Volkach mit einer Einleitung und einem Schluß von Fabian Kürßner gegeben haben; von diesem 1558 in Straßburg erschienenen Druck sind jedoch keine Exemplare erhalten. Handschriften. Berlin, SBPK, lat. fol. 872; Uppsala, UB, C 687, Bl. 8 r⫺21v. Beide Hss. stammen aus d. J. 1497. Drucke. Joannis Reuchlin Phor⫽|censis Scenica Progym⫽|nasmata: Hoc est: Ludicra | pre˛exercitamenta [...]. [Basel: Joh. Bergmann von Olpe, 1498]. Hain 13882. Titelepigr. von Seb.

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Brant. Widmung des Druckers Bergmann an Dalberg. Auf den Text der Komödie folgen die Didaskalie, ein Panegyricus Jakob Drachs auf R. und ein Carmen Adam Werners auf den Regisseur der Aufführung, Johannes Richartshauser. ⫺ 30 weitere Drucke bei Benzing, S. 12⫺20. ⫺ Zusammen mit dem Kommentar Jakob Spiegels: Ioannis Revchlin Phorcensis | scænica progymnasmata […] cum explanati|one Iacobi Spiegel Selestani. Tübingen: Th. Anshelm, 1512. VD 16, R 1260, u. Hagenau: Th. Anshelm, 1519. VD 16, R 1270. Gemeinsame Ausgaben von ‘Sergius’ und ‘Scaenica progymnasmata’: O foelix Colonia | Ioan. | Revchlin | […] comœdiae duae, | Scaenica Progym|nasmata, hoc est, ludicra praeex-|ercitamenta, Et | Sergius Vel Capi|tis caput. Köln: Euch. Cervicornus, 1519. VD 16, R 1272. Sechs weitere Drucke bei Benzing, S. 21 f. Ausgaben. Holstein, Komödien, S. 11⫺34; J. R., Henno. Eine lat. Komödie aus d. 15. Jh., hg. v. U. Frings, 1987. Ausgabe mit Übersetzung: J. R., Henno. Komödie, lat.-dt., übers. u. hg. v. H. C. Schnur , 1970, 21981.

2. Gedichte. Johannes J Trithemius erwähnt im ‘Catalogus illustrium virorum’ sowie im ‘Liber de ecclesiasticis scriptoribus’ (Opera, S. 171 u. 389) unter den Werken R.s ein Buch Epigramme und Elegien (Epigrammaton et elegiarum, lib. I). Von diesem gibt es keine Spur mehr und auch von den carmina multa et iucunda, die Konrad Leontorius dazu bewogen hatten, Trithemius die Aufnahme R.s in die Kataloge zu empfehlen (Wimpfeling-Br., Bd. 1, Nr. 40), ist nur ein schmaler Rest von 29 Gedichten erhalten, der sich zudem auf einen Zeitraum von über 40 Jahren (1477⫺1520) verteilt. Bei vielen Gedichten handelt es sich um kleine poetische Beigaben zu eigenen Werken ⫺ zu den ‘Cottidiana colloquia Graeca’ (metrische Übersetzung von Hesiod, Erg. 361 f.), den ‘Rudimenta Hebraica’ (Erläuterung der Leserichtung in hebr. Werken) und den Übersetzungen der ps.-homerischen ‘Batrachomyomachia’, zu Ps.-Hippokrates’ ’De praeparatione hominis’ und Ps.-Athanasios’ ’De variis quaestionibus’ ⫺ oder zu Werken anderer Autoren wie etwa zu Trithemius’ verlorener Schrift ‘De miseriis prelatorum’ (Uppsala, UB, C 687, Bl. 211v), zum Druck von D Hrabanus’ ’De laudibus sanctae crucis’, zu Johannes Cellarius’ ’Isagogicon in He-

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Reuchlin, Johannes

braeas litteras’ oder der Basler Ausgabe von ‘De animabus a corporibus exutis’ des D Jakob von Paradies. Das früheste Zeugnis von R.s poetischen Versuchen bilden die 17 Distichen in der ‘Oratio probatissimi’ von 1477 (s. II.B.), in denen er den Professoren der Univ. Basel seine Dankesschuld abträgt. Ebenfalls noch aus Studienzeiten rührt eine poetische Einladung zum Mahl an Peter D Schott her. Über die Belastungen des Hofdienstes, welche die Hinwendung zur Dichtkunst hindern, führt R. zusammen mit Johannes Krachenberger gegenüber Celtis Klage (Nürnberg, StB, Cent. V, Anh. 3, Bl. 73 v). In einem Hans von J Hermansgrün zugesandten Gedicht kontrastiert er die Pracht des Wormser Reichstages seiner mühevollen Arbeit bei Gericht. Die Tätigkeit als Richter ist auch Thema eines undatierten Briefgedichts an Leontorius (Basel, UB, C VI 33, Bl. 15 r). In die Zeit am Hof Graf Eberhards lassen sich das anläßlich eines Kuraufenthaltes in Wildbad entstandene Rätselgedicht ‘Aenigma in thermis Hercyniis’ (ebd., Bl. 17 r) und die an den eigenen Bruder Dionysius gerichtete Ermahnung zur Abkehr von Müßiggang und Genußsucht (Stuttgart, Württ. LB, Cod. hist. fol. 1116, Bl. 47 v) datieren. Wohl aus Dankbarkeit für die Erhebung in den Adelsstand und die Verleihung des Titels eines Hofpfalzgrafen entwarf R. beim Tode Ks. Friedrichs III. ein Epitaph (Innsbruck, UB, Cod. 664, Bl. 89 r). Als er 1517 den Tod von Johannes Casselius betrauerte, benutzte er stattdessen das Kunstmittel eines Briefgedichts an den als Sterbenden dargestellten Freund (Wien, ÖNB, Cod. 9889, Bl. 1r). Das von dem Regensburger Augustinereremiten Hieronymus D Streitel (Proeliolinus) angelegte Kollektaneenbuch (Hamburg, SUB, Hist. 31e, Bl. 208) enthält ein von R. zum Karfreitag 1492 entworfenes fiktives Epitaphium für das Grab Christi in Jerusalem in 25 Distichen und ein als Akrostichon gestaltetes Marienlob in 8 Distichen, deren jeweilige Anfangsbuchstaben den Namen des Verfassers ergeben. Nur im Kreise der Sodalitas litteraria Rhenana scheint R. (vgl. auch die Komö-

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dien) regelmäßig gedichtet zu haben: Den von Trauer bestimmten Abschied aus Württemberg markiert ein Briefgedicht, das er dem alten Weggefährten Petrus Jakobi sendet (Darmstadt, Hess. LB, Cod. 2533, Bl. 115 r). Dagegen spiegelt das sog. ‘Zorngedicht’ auf Heinrich von Bünau die fröhliche Stimmung eines Ausflugs der Sodalitas wieder (Uppsala, UB, C 687, Bl. 234 r). Den Wein und seine Folgen beschreiben Johannes von Lamberg gewidmete Verse (München, Bayer. SB, Einblattkalender 1489 aw). Jakob Wimpfeling zugeeignete Zeilen besingen den Aufbruch zu einem Gastmahl auf dem Heidelberger Schloß (Uppsala, ebd., Bl. 234 v). In der ‘Metamorphosis Petri Bolandi’ schließlich wird die überraschende Wandlung eines Mitglieds der Sodalität vom Handwerker zum Musensohn besungen (ebd., Bl. 236 r; auch in Eichstätt, UB, Cod. st 519, Bl. 166 r⫺ 167 r). Möglicherweise entstanden während der Heidelberger Zeit auch das nur fragmentarisch erhaltene ‘Carmen theologicum’ für D Geiler von Kaysersberg (Einblattdruck abgelöst vom Band Augsburg, SStB, Sign. 2° RW) und eines von zwei überlieferten griech. Gedichten R.s., dessen Verse (mit lat. Übersetzung) Johannes J Cuno die gebräuchlichsten Versmaße vermitteln sollten (Modena, Bibl. Estense, Autografoteca Campori: Giovanni Biffi). Ein weiteres Gedicht in griech. Sprache (v. J. 1514) ist Konstanze Peutinger zugeeignet; es entsprang einem dichterischen Wettstreit zu Ehren der Tochter des Augsburger Stadtschreibers (Berlin, SBPK, lat. fol 239, Bl. 25 r). Ausgaben. Geiger , Briefwechsel, Nr. Ia; Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 6, 60, 65, 75, 80, 87, 93 u. 122; Bd. 2, Nr. 73a u. 166; Holstein, Gedichte, 1890; Rhein, Dichter, 1989; P. Geissler, Ein unbekannter R.-Wiegendruck, in: Fs. Josef Benzing, 1964, S. 120⫺126; Dall’ Asta, Christi Grab, S. 384⫺388.

E . G ra ec a. R. kommt für die Einführung der griech. Sprache in Deutschland eine bedeutende Rolle zu; seinen Rang des Archegeten der griech. Studien betont er selbst im Widmungsschreiben zu ‘De arte cabalistica’:

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Reuchlin, Johannes

Ego primus omnium Graeca in Germaniam reduxi. Den ersten Unterricht erhielt R. 1473 von Schülern des Gregorios Tiphernas in Paris (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 227); danach waren Andronikos Kontoblakes in Basel und Gregorios Hermonymos in Paris seine Lehrer (ebd., Bd. 1, Nr. 3, 7 u. 8). Bereits während des Studiums der Jurisprudenz in Orle´ans und Poitiers erteilte R. selbst Griechischunterricht. Das wohl zu diesem Zweck verfaßte Lehrbuch ‘Mikropaideia’ ist nicht mehr erhalten. Während des Aufenthaltes in Heidelberg zählten Dalberg, Trithemius, Cuno, Jodocus J Gallus und Thomas Truchseß von Wetzenhausen zu seinen Schülern. Kurz vor Ende seines Lebens übernahm R. noch Professuren für Griechisch in Ingolstadt und Tübingen. Er besaß eine große griech. Bibliothek, zu deren Beständen neben den Drucken vor allem aus der Offizin Aldo Manuzios (ebd., Bd. 1, Nr. 116, 118 f.) auch zahlreiche bedeutende Handschriften zählten (vgl. Christ, S. 51⫺81). Von diesen stammten viele aus dem Legat, das der Kardinal Johannes Stojkovicˇ von Ragusa dem Basler Dominikanerkloster während des Konzils dort gemacht hatte. Neben der ‘Mikropaideia’ und zwei kleineren Traktaten hat R. vor allem durch seine Übersetzungen und seine Ausgaben griech. Texte gewirkt. Innerhalb der Klassischen Philologie ist sein Name heute noch mit der von seinen byzantinischen Lehrern übernommenen sog. itazistischen Aussprache des Griechischen verbunden. 1. ‘De quattuor Graecae linguae differentiis’. Die Schrift ist eine kurze Einführung in die morphologischen Besonderheiten der vier wichtigsten griech. Dialekte im Vergleich mit der herkömmlichen Sprache der Koine. Laut Widmungsbrief an B. Dalberg von 1489 (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 33) hatte R. die Schrift bereits während seines Aufenthalts in Paris im Jahr 1478 abgefaßt. Zunächst wird ausführlicher der ionische Dialekt behandelt, danach sehr kurz das Äolische und Dorische und zum Schluß wieder ausführlicher das Attische. R.s Traktat basiert auf einem anonymen byzantinischen Dialektkompendium. Eine sehr

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enge Verbindung ergibt sich vor allem zur Hs. München, Bayer. SB, cgrm 529; R.s Text nimmt sich fast wie eine Übersetzung des Münchener Kompendiums aus. Handschriften. Basel, UB, F VI 54, Bl. 36 r⫺ 42 v, Kopie des Speyerer Johannes Drach v. J. 1498; Stuttgart, Württ. LB, Cod. poet. et. phil. 4° 76, Bl. 6 r⫺10r, Kopie von Nik. Basellius v. J. 1508. Ausgabe. A. Horawitz, Griech. Studien. Beitr. z. Gesch. d. Griechischen in Dtld., I. Stück, Berliner Studien f. class. Philologie u. Archäologie 1 (1884) 445⫺450 (nach der Stuttgarter Hs.).

2. ‘Cottidiana colloquia Graeca’. Bei den ‘Cottidiana colloquia Graeca’ handelt es sich um eine Sammlung kurzer, zu Übungszwecken verfaßter Schülergespräche in griech. Sprache, denen eine lat. Ad-verbum-Übersetzung beigegeben ist. R. sandte sie 1489 an B. Dalberg (Dedikationsschreiben: Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 34). Sie sollten Dalberg und dem in seinem Haus weilenden Adolf D Occo bei der praktischen Einübung griech. Konversation behilflich sein. Die ‘Cottidiana colloquia’ sind eine gekürzte Fassung der vermutlich aus der Spätantike stammenden ‘Hermeneumata Pseudodositheana’. R. hatte sich 1478 während seines Aufenthaltes in Paris eine Kopie der ‘Hermeneumata’ von einer Abschrift seines Lehrers Hermonymos gemacht, die wiederum auf dem von Marsilio Ficino geschriebenen Text des Kodex Florenz, Bibl. Laurenziana, Ashburn. 1439, beruht. R.s Kopie, welche die Vorlage für die gekürzte Fassung von 1489 bildete, ging vermutlich im 30jährigen Krieg unter; von ihr gibt es aber zwei zeitgenössische, von Schülern angelegte Kopien, die eine von Matthias Dietrich aus Wolfach im Kodex Einsiedeln, Stiftsbibl., cod. 19, die andere von Johannes Cuno im Kodex Se´lestat, Bibl. Humaniste, ms. 343, sowie eine spätere von Martin Crusius stammende Abschrift (Tübingen, UB, Mb 10). Handschriften (s. o. E.1.). Basel, UB, F VI 54, Bl. 25 v⫺35 r (Joh. Drach); Stuttgart, Württ. LB, Cod. poet. et phil. 4° 76, Bl. 1r⫺5 v (Nik. Basellius). Ausgaben. B. Wyss, Pseudo-Dositheus bei R., Museum Helveticum 27 (1970) 273⫺287 (nach der Basler Hs.); A. Horawitz, Griech. Studien (s. oben unter 1.), S. 441⫺445 (nach der Stuttgarter. Hs.).

3. Ausgaben griechischer Texte. Die Herausgabe griech. Texte hängt mit R.s Tätigkeit als Professor für Griechisch

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Reuchlin, Johannes

an den Univ.en Ingolstadt und Tübingen zusammen. Die Hörer seiner Vorlesungen benötigten brauchbare Textausgaben; aus diesem Grunde wandte sich R. um Unterstützung an seinen Hausdrucker Thomas Anshelm. So erschien im Juli 1520 eine Ausgabe mit drei Texten Xenophons, der ‘Apologie’, dem ‘Agesilaos’ und dem ‘Hieron’; mit Schreiben vom 12. April 1520 widmete R. die Ausgabe Johannes Setzer (Secerius), dem Schwiegersohn Anshelms. Dem Drucker selbst ist die Ausgabe der ‘Orationes adversariae’ von Aischines und Demosthenes zugeeignet, die im April 1522 in Hagenau herauskam (Dedikationsbriefe: Reuchlin-Br., Bd. 4, Nr. 390 u. 401). Drucke. JENO|FVNTOS | Apologi¬a Svkra¬toyw pro¡w toy¡w | dikasta¬w. | Aghsi¬laow. | Ie¬rvn h Tyra¬nnikow . Hagenau: Th. Anshelm, 1520. VD 16, X 18. TVN THS EL|LADOS EJOXVN RHTO|rvn aiœsxi¬noy kai¡ dhmosue¬noyw, lo¬goi aœnti¬paloi. |

Graeciæ Excellen|tium Oratorum Æschinis et Demosthe|nis orationes adversariæ. Hagenau: Th. Anshelm, 1522. VD 16, A 397. NDe: Paris: Chr. Wechel 1531 u. 1543. Benzing, Nr. 154 f.

F. Ü be rs et zu ng en gr ie ch is ch er u nd la te in is ch er Te xt e. Von R. sind insgesamt elf Übersetzungen griech. Texte erhalten, davon neun ins Lateinische und zwei ins Deutsche. Fünf der Übersetzungen in die lat. Sprache wurden gedruckt, die dt. sind nur hsl. überliefert. 1. Lateinische Übersetzungen griechischer Schriften. a) R.s erste Übersetzung, die von X en op ho ns ‘Apologie’, entstand noch während der Zeit in Basel, kurz nach Abschluß des artistischen Studiums im Jahr 1477, oder, wenn man der Argumentation von Sicherl, Cuno, S. 176, folgen will, der auf das Fehlen einer griech. Vorlage in Basel hinweist, sogar schon während des ersten Aufenthalts in Paris 1473/74. Die Übersetzung ist Jakob Hugonis aus Maursmünster gewidmet (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 4), der im WS 1477/78 als Rektor der Univ. Basel amtierte. Erwähnung findet sie in einem Brief des Konrad Leontorius an Jakob

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Wimpfeling vom 21. April 1494 (Wimpfeling-Br., Bd. 1, Nr. 40). Handschrift. Karlsruhe, Bad. LB, Aug. 127, Bl. 45 v⫺51v. Anfangszeilen und Schlußabschnitt gedr. bei Geiger , Ungedrucktes, S. 222 f.

b) Übersetzung des 2. Briefes des Nes to ri os an Kyrillos von Alexandrien, der zu den wichtigsten Dokumenten der christologischen und mariologischen Auseinandersetzungen in der Alten Kirche zählt; in ihm verteidigt Nestorios die antiochenische Auffassung von Maria als Christusgebärerin (xristoto¬kow ) gegen die alexandrinische von der Gottesgebärerin (ueoto¬kow ). Die griech. Vorlage entnahm R. einem aus dem Basler Dominikanerkloster stammenden Kodex mit Schriften des Ephesinischen Konzils (Vernet, Nr. 50). In seinem Widmungsschreiben an den soeben gewählten Dominikanerprovinzial der Teutonia Jakob D Sprenger (ReuchlinBr., Bd. 1, Nr. 24) kündigte R. die Übersetzung auch des 2. Briefes des Kyrillos von Alexandrien an Nestorios an, dessen griech. Text sich ebenfalls in dem genannten Kodex befand; die Übersetzung läßt sich jedoch nicht nachweisen. Handschrift. Paris, BN, Suppl. Gr. 212, Bl. 222 r⫺231v. Der Kodex enthält auch das Fragment von R.s Tübinger Antrittsrede (s. o. II.B.). Hinter der Übersetzung für Sprenger stand R.s Bestreben, die Erlaubnis des Provinzials für die Entleihung griech. Kodizes aus dem Nachlaß des Kardinals von Ragusa im Basler Dominikanerkloster zu erhalten. Dieses Motiv lag auch den beiden Übersetzungen für die Kartäuser Jakob Lauber und Johannes D Heynlin zugrunde, da der Kardinal seinerzeit die Basler Kartause mit der Aufsicht über die Einhaltung der Testamentsbestimmungen betraut hatte.

c) Dem Prior Jakob Lauber sandte R. am 22. Juli 1488 seine Ad-verbum-Übersetzung der ‘Laudatio in sanctissimam Dei genetricem Mariam’ (or. I) des B. P ro kl os von Konstantinopel (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 25 f.). Die Schrift des Proklos feiert Maria als ueoto¬kow und bildet somit die Gegenposition zur Auffassung des Nestorios, die auch R. als häretisch ansah (vgl. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 4/1, S. 294). Die griech. Vorlage entstammte dem in b)

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genannten Kodex mit Schriften des Ephesinischen Konzils. Handschrift. Basel, UB, E III 15, Bl. 201r⫺ 297 r. Druck. Sermo | Procli Cyzicen|sis Episcopi, habitus Constan⫽|tinopoli, in die nativitatis Do⫽|mini / interprete […] Iohanne Reuchlino Phorcen|si / […]. Accesserunt Corollarij vice di⫽| versa diversarum fide et religio⫽|ne nationum / de Beatiss. vir⫽|gine testimonia. Tübingen: Ulr. Morhart, 1529. VD 16, P 4979. Hg. von Hieronymus Lamparter, Sohn des Gregor Lamparter, eines alten Weggefährten R.s am Hof Graf Eberhards im Bart. Ihm hatte R. am 25. Dez. 1521 die Übersetzung zugeeignet.

d) Johann Heynlin war 1487 in die Basler Kartause eingetreten und konnte daher für R. nützlich sein. Als Text für die ihm zugedachte Übersetzung wählte R. die 41. Dissertatio Toy˜ ueoy˜ ta¡ aœgaua¡ poioy˜ ntow. pouen ta¡ kaka¡ des Platonikers Max im os v on Ty ro s. Die griech. Vorlage fand R. in einem Kodex, der unter den Graeca von R.s Bibliothek bei Christ die Nr. 40 trägt. Dieser Kodex, der noch Werke von Marc Aurel, Alkinoos und Xenophon umfaßte, ist verloren; Auszüge aus ihm in der Hs. München, BSB, cgrm. 323 (vgl. Sicherl , Reuchliniana, S. 77 f.). Handschrift. Basel, UB, E III 15, Bl. 298 r⫺ 304 v.

e) Ad-verbum-Übersetzung der ps.-homerischen ‘B at ra ch om yo ma ch ia ’ in Prosa, mit poetischer Widmung an den Dominikaner Erhard von Pappenheim (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 73a). Griech. Vorlage nach der Ausgabe des Laonikos von Kreta (1486). Handschrift. München, cgrm 582a, Bl. 206 r⫺207 v, geschr. von dem Benediktiner Johannes von Grafing. Die 1510 in Wien fälschlich unter R.s Namen (und mit dem genannten Widmungsgedicht) von Joachim Vadian hg. metrische Übersetzung der ‘Batrachomyomachia’ ist die des Florentiners Carlo Marsuppini ([Wien: Joh. Winterburger, um 1510] und vier weitere Drucke. Benzing, Nr. 109⫺112a).

f) Nach dem Aufenthalt in Heidelberg scheint R. eine lange Pause in seiner Übersetzungstätigkeit aus dem Griechischen eingelegt und sich in der Folgezeit stattdes-

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sen intensiv den hebr. Sprachstudien zugewandt zu haben. Erst aus dem Jahr 1512 liegt wieder eine Übersetzung vor, die von Ps.-H ip po kr at es ’ in Form eines Briefes entworfenen Traktat ‘De praeparatione hominis’. Sein Thema ist die Lehre von den vier Körpersäften, die in Analogie zu den vier Elementen, den vier Jahreszeiten und vier Temperamenten gesetzt wird. Woher R.s griech. Vorlage für die Übersetzung stammte, ist nicht bekannt; es könnte sich aber um die Abschrift eines in der Bibliothek Dalbergs befindlichen Hippokrateskodex gehandelt haben. Gewidmet war die Übersetzung dem Ulmer Stadtphysikus Johannes Stocker (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 192), den R. häufiger konsultiert hatte (ebd., Bd. 2, Nr. 153). R. nutzte das Widmungsschreiben ⫺ wie auch bei allen folgenden Übersetzungen ⫺ zu Angriffen auf seine Gegner im Bücherstreit. Druck. Hippocrates De Praeparatione | hominis, ad Ptolemæum regem, nuper e` graeco in | latinum traductus a Ioanne Reuchlin […]. Tübingen: Th. Anshelm, 1512. VD 16, H 3781. Weitere Ausg. Frankfurt a. M.: Nik. Basse, 1562. VD 16, H 3783.

g) Zum Dank für die Unterstützung, die Kf. Friedrich d. Weise ihm in der Auseinandersetzung mit seinen Widersachern im Bücherstreit gewährt hatte, widmete R. dem sächsischen Landesherrn im Aug. 1513 den Druck seiner Übersetzung des ‘C on st an ti nu s Mag nu s’ . R. hatte die Übersetzung der anonymen Lebensbeschreibung Ks. Konstantins bereits 1496 in Heidelberg angefertigt (s. Celtis-Br., Nr. 110), diese aber unter Verschluß gehalten. In seinem Widmungsschreiben (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 220) vergleicht er Friedrich mit Konstantin: Er wisse, daß Friedrich dessen Regierungsstil nachahme, auch was den Umgang mit verleumderischen Schmähschriften angehe (gemeint sind die Schriften Pfefferkorns und der Kölner Theologen). R. bat den Kurfürsten, ihn gegen weitere Angriffe zu schützen, und unterwarf seine Bücher dessen Urteil und dem der Univ. Wittenberg. Druck. Constantinus Magnus Ro|manorum imperator Ioanne Reuchlin | Phorcensi interprete. Tübingen: Th. Anshelm, 1513. VD 16, C 4938.

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h) Zu den wichtigsten Unterstützern R.s in dem seit 1514 an der päpstlichen Kurie in Rom ausgetragenen Prozeß zählte der Kuriale Jakob J Questenberg. Aus Dankbarkeit dedizierte ihm R. im Aug. 1515 seine Übersetzung der ‘Epistola ad Marcellinum in interpretationem psalmorum’ des Kirchenvaters A th an as io s. Die griech. Vorlage dieser Schrift, die sich mit der Bedeutung der Psalmen für das christliche Leben und das persönliche Gebet beschäftigt und im letzten Teil die Frage der metrischen Form der Psalmen und ihren Gesang behandelt, entnahm R. dem Kodex Basel, UB, A III 4. In seinem Widmungsschreiben (Reuchlin-Br., Bd. 3, Nr. 273) befaßt er sich zunächst mit den Verdiensten der die praktische Anwendung des Psalters in den Vordergrund rückenden Auslegung des Athanasios. Daran schließt sich, ausgehend von der Behauptung, Athanasios bringe den Psalter zum Klingen, eine Abhandlung über die Musik und die ihr zugrundeliegenden harmonischen Gesetze an, die sich hauptsächlich auf Boethius’ ‘De musica’ stützt. Das Dedikationsschreiben enthält überdies einen vollständigen Abdruck des Speyerer Urteils (s. II.J.).

ihm in dieser Auseinandersetzung zum Sieg zu verhelfen (Abdruck in Hutten, Opera, Suppl.bd. 2, S. 789⫺795 mit Auslassungen). Die Auswahl der Schrift, deren Übersetzung auf Bl. C ii r⫺Gr folgt, begründet R. damit, daß auch Athanasios Nachstellungen erduldet habe, als er sich gegen die Arianer wandte. R.s Vorlage war wiederum der Kodex Basel, UB, A III 4. An die Übersetzung schließen sich Bl. Gv⫺ P iii v Erläuterungen zu der Schrift an (Annotationes Capnioniae).

Druck. S. Athanasius In | Librum Psalmorum | nuper a Ioanne Reuchlin | integre translatus. Tübingen: Th. Anshelm, 1515. VD 16, A 3989. Auszüge davon in: [Johannes Campensis:] Psalmo|rvm Omnivm | Iuxta Hebraicam ve|ritatem paraphrastica interpretatio. Antwerpen 1532 (weitere Auflagen: Benzing, Nr. 119⫺128), und in [Reiner Snoy:] Psalterium Davidicum | Paraphrasibus brevibus illustratum. Antwerpen: Joh. Steels, 1542. Benzing, Nr. 129.

2. Deutsche Übersetzungen griechischer Texte. Von R.s Übersetzungen ins Deutsche sind nurmehr zwei erhalten; beide sind Graf Eberhard im Bart zugeeignet (Dedikationsschreiben in Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 70 u. 73) und Teil der breitangelegten Übersetzungstätigkeit für den des Lateinischen und Griechischen unkundigen Fürsten. Mit seiner Übertragung direkt aus dem Griechischen ins Deutsche kam R. eine Vorreiterrolle zu, da bis dahin Übersetzungen von Schriften griech. Autoren nur anhand der lat. Vorlagen ital. Humanisten angefertigt worden waren. Die beiden Übersetzungen R.s stammen aus dem Jahr 1495 und verstehen sich als Stellungnahmen zum politischen Geschehen auf dem Wormser Reichstag. Beide hatten hsl.e Vorlagen, da entsprechende Drucke noch nicht vorlagen.

i) Einen Förderer seiner Sache erblickte R. auch im Mainzer Eb. Albrecht von Brandenburg, nachdem dieser 1516 die Zueignung von Johannes Pfefferkorns ‘Beschyrmung’ abgelehnt hatte. R. widmete ihm aus Anlaß der Erhebung zum Kardinal die Übersetzung der dem A th an as io s zugewiesenen Schrift ‘De variis quaestionibus’. Im Dedikationsbrief (Bl. A ii r⫺C v) gibt er eine ausführliche Schilderung des Bücherstreits und erläutert die seinerzeit im Gutachten für Ks. Maximilian eingenommene Haltung zur jüdischen Literatur. Die Schilderung mündet in die Bitte ein,

Druck. Liber S. Athana|sii De Variis | Quaestionibus | nuper e Graeco in | Latinum tradv| ctus, Iohanne | Revchlin in|terprete. | Adhuc item | Annotationes Capnioniæ. Hagenau: Th. Anshelm, 1519. VD 16, A 3996. Eine weitere Ausgabe: Rom 1523. Benzing, Nr. 131. Die Ausgaben ohne die Anmerkungen R.s in: Athanasii | Episcopi Alexandrini [...] Opera nennt Benzing, Nr. 132⫺135. Am 23. Jan. 1520 sandte R. Willibald Pirckheimer als Anhang eines Briefes eine Übersetzung von Athanasios’ Lobpreis der Jungfräulichkeit aus dessen Schrift Logow svthriaw prow thn paruenon (‘De virginitate’) zu, die für Pirckheimers Schwestern und Töchter im Nürnberger Kloster St. Klara bestimmt war (Pirckheimer-Br., Bd. 4, Nr. 661, S. 179). Die Übersetzung scheint nicht erhalten zu sein.

a) D em os th en es , ‘1. Olynthische Rede’, in der er für ein entschiedeneres Vor-

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Reuchlin, Johannes

gehen seiner Heimatstadt gegen die expansiven Bestrebungen Philipps von Makedonien und für Athens Hilfeleistung zugunsten der von Philipp bedrohten Stadt Olynth plädiert. Umstritten ist, ob sich R.s Übersetzung gegen Frankreich oder das Osmanische Reich richtet. Handschrift. Dresden, Sächs. Hauptstaatsarchiv, Bibl. Bd. 184a. Noch während des Reichstags angefertigte Abschrift. Ausgabe. F. Poland, R.s Verdeutschung d. ersten olynthischen Rede d. Demonsthenes (1495), 1899. R. übersetzte 1495 mit der 1. und 2. ‘Philippika’ noch zwei weitere Schriften des Demosthenes; auch bei ihnen zielte er auf die Parallelität zum aktuellen politischen Geschehen. Die nicht erhaltenen Übersetzungen sind erwähnt in einem Brief des Reichstagsgesandten Hans von Hermansgrün (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 76).

b) Am 21. Juli 1495 war Eberhard im Bart von Ks. Maximilian auf dem Wormser Reichstag zum Herzog erhoben worden. Als Glückwunsch zur Verleihung der Herzogswürde sandte R. seinem Herrn am 1. Aug. die Übersetzung von L uk ia ns 12. ‘Totengespräch’, dem Streitgespräch zwischen Alexander d. Gr., Hannibal und Scipio um ihren Vorrang. R. faßt die Reden der drei als exemplarische Äußerungen zur Herrscherethik auf, nimmt den satirischen Charakter des Totengesprächs nicht wahr. Handschrift. Dresden, Sächs. Hauptstaatsarchiv, Bibl. Bd. 184b. Ausgabe. Th. Distel, Die erste Verdeutschung d. 12. lukianischen Totengesprächs […], Zs. f. vergleichende Litt.gesch. u. Renaissance-Litt. 8 (1895) 408⫺417.

Vor den Übersetzungen d. J. 1495 hatte R. bereits die Szene des Zweikampfes zwischen Paris und Menelaos aus dem 3. Gesang der ‘Ilias’ ins Deutsche übertragen. Vermutlich handelt es sich um eine Versübersetzung, da Trithemius im ‘Catalogus illustrium virorum’ (Opera, Bd. 1, S. 172) bemerkt: Monomachiam [...] in linguam Germanicam metrice vertit. Diese nicht erhaltene Übersetzung dürfte auch in dem Brief Dalbergs an R. vom 12. Dez. 1491 gemeint sein, in welchem sich der Bischof für die aus dem Griechischen übertragenen Verse bedankt (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 50).

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Während des Aufenthalts in Heidelberg scheint R. dann weitere Stücke aus Homer übersetzt zu haben, da Heinrich Spieß in einem Brief an Konrad Celtis meldet: [R.] item transtulit aliquos libellos ex Homero (Celtis-Br., Nr. 110). 3. Übersetzung von Ciceros ‘Tusculanae disputationes’, Buch I. Als Trostschrift für Kf. Philipp von der Pfalz, der im Jan. 1501 seine Gemahlin Margarete von Bayern-Landshut durch den Tod verloren hatte, widmete R. ihm unter dem 23. Juni 1501 (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 112) seine Übersetzung von Ciceros erstem Tuskulanen-Buch (‘De morte contemnenda’). Die sich eng an das Original anlehnende Übersetzung ist überliefert in dem prächtig gestalteten und in einer regelmäßigen gotischen Bastarda geschrieben Pergamentkodex Heidelberg, UB, Cpg 482, Bl. 1v⫺86 v. Auf die Übersetzung folgt eine Papierhs (Bl. 87 r⫺100 v) mit R.s Anmerkungen, die in einer freieren Bastarda geschrieben ist. Die Anmerkungen stützen sich weitgehend auf den Kommentar Filippo Beroaldos, der den 1496 in Bologna bzw. 1499 in Venedig erschienenen Ausgaben der ‘Tusculanae disputationes’ (GW 6899 f.) beigegeben war; R. traf eine Auswahl, faßte Informationen des Kommentars zusammen und vereinfachte sie. Ein Großteil der Anmerkungen besteht aus Erläuterungen zu antiken Personen, die vor allem als Stifter oder Repräsentanten einer Disziplin (der Musik, Bildhauerei, Rhetorik etc.) vorgestellt werden. Auszug aus R.s Übersetzung (Kap. 1⫺10) und seinen Erläuterungen bei K. Hartfelder, Dt. Übersetzungen klass. Schriftsteller aus d. Heidelberger Humanistenkreis (Beilage z. Jahresber. d. Heidelberger Gymnasiums f. 1883/84), 1884, wieder in: ders., Stud. z. pfälzischen Humanismus, hg. v. W. K¸hlmann / H. Wiegand, 1992, S. 291⫺341, hier S. 311⫺324.

G . H eb ra ic a. Zu den größten Verdiensten R.s zählen die Propagierung der hebräischen Studien in Deutschland und die Erarbeitung ihrer Grundlagen durch die Lehrbücher ‘De rudimentis Hebraicis’ und ‘De accentibus et orthographia’. Ein erstes Zeugnis für R.s

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Beschäftigung mit dem Hebräischen bietet die Korrespondenz mit Rudolf Agricola aus den Jahren 1484/85 (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 12 f.). Zentrales Thema ist darin das Tetragramm IHWH und seine Erweiterung durch den Buchstaben Schin zu IHSWH; der heilbringende Gottesname steht dann 1494 im Mittelpunkt der Schrift ‘De verbo mirifico’ (II.K.1). Anregungen zur Beschäftigung mit dem Hebräischen könnte R. bei seinem ersten Aufenthalt in Italien an der päpstlichen Kurie erhalten haben, wo Sixtus IV. hebr. Schriften, darunter auch kabbalistische Werke, sammeln und übersetzen ließ. Von R.s erstem jüdischen Lehrer ist nur der Name, Calman, bekannt; er schrieb 1486 für seinen Schüler das Wörterbuch des Menachem ben Saruk ab (München, chm 425, Bl. 136 r⫺167 v). Während R.s Aufenthalt am Hof Friedrichs III. in Linz unterrichtete ihn der jüdische Leibarzt des Kaisers, Jakob ben Jechiel Loans. Neben Loans erwähnt R. noch Obadja Sforno aus Cesena als Lehrer. Bei ihm nahm er 1498 während der Gesandtschaft zu Papst Alexander VI. Unterricht. Darüber hinaus erschloß er sich die Sprache weitgehend autodidaktisch. Wie die griech. zählte auch die hebr. Bibliothek R.s zu den bedeutendsten Sammlungen der ersten Hälfte des 16. Jh.s (von den erhaltenen Bänden befindet sich heute ein großer Teil in der Bad. LB Karlsruhe). Bevor er ab 1520 an den Univ. Ingolstadt und Tübingen Hebräisch lehrte, hatte er privatim in Heidelberg und Stuttgart Schülern die hebr. Sprache zu vermitteln versucht. Zu ihnen zählten u. a. Konrad J Pellikan, Johannes J Böschenstein, Philipp Melanchthon, Johannes Oekolampad, Johannes Cellarius und Johannes Forster. 1. ‘De rudimentis Hebraicis’. Die ‘Rudimenta’, an denen R. spätestens 1501 arbeitete (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 110), erschienen im März 1506 in Pforzheim und waren R.s Bruder Dionysius gewidmet (ebd., Bd. 2, Nr. 138). Als Motive für ihre Veröffentlichung nennt R. in der Praefatio, mit der Vermittlung der hebr. Sprache der Vernachlässigung der Hl. Schrift entgegenwirken, dem Wirrwarr der unterschiedlichen Schriftauslegungen ein Ende bereiten

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und die notwendigen Voraussetzungen für den Zugang zu den kabbalistischen Werken schaffen zu wollen. Die ‘Rudimenta’ sind in lat. Sprache abgefaßt, aber wie ein hebr. Buch von hinten nach vorne zu lesen (darauf weist ein Gedicht den Leser auf dem ersten Blatt hin). Sie sind gleichzeitig Wörterbuch und Grammatik. Auf S. 1⫺31 wird der Leser zunächst in die Elemente der hebr. Grammatik eingeführt: in die Buchstaben des hebr. Alphabets (u. a. mit Matres lectionis, Final- und BegadkefatBuchstaben, Sin und Schin), die Vokale und die Regeln der Vokalisation und Aussprache. Zur Vertiefung des Stoffes dienen die in der Genealogie der Maria erscheinenden Namen. An die Einführung schließt sich auf S. 32⫺545 das alphabetisch geordnete Wörterbuch an, welches auf das erste (a⫺k) und das zweite Buch (l⫺t) der ‘Rudimenta’ verteilt ist. Ab S. 550 folgt dann im dritten Buch der restliche Teil der Grammatik mit den Erläuterungen zu den Nomina und ihrer Deklination, den Verben und ihrer Konjugation (als Paradigmen dienen l[p und dqp) sowie zu Pronomina, Adjektiven und Adverbien. Quelle für R.s grammatikalische Ausführungen in ‘De rudimentis Hebraicis’ waren Moses Kimchis ‘Mahalakh Shevilei ha-Daat’ und der erste Teil des ‘Mikhlol’ (‘Chelek haDikduk’) von dessen Bruder David. Die Vorlage für den lexikalischen Teil bildete David Kimchis ‘Sefer ha-Shorashim’ (‘Chelek ha-Inyan’), also der zweite Teil des ‘Mikhlol’. Beim Aufbau der ‘Rudimenta’ orientierte sich R. nach den Untersuchungen von Greive, S. 397 f., an der ‘Institutio de arte grammatica’ Priscians. R. hatte das Buch auf eigene Kosten in einer Auflage von 1500 Exemplaren drucken lassen. Wegen des schleppenden Absatzes war er gezwungen, 700 ihm zustehende Exemplare zu einem verbilligten Preis an den Basler Drucker Johannes Amerbach zu veräußern (s. Reuchlin-Br., Bd. 2). Nachweislich benutzt wurde R.s Werk von Erasmus von Rotterdam, Johannes Eck, Martin Luther, Ulrich Zwingli, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen und Andreas Osiander. Drucke. Principium | Libri. | [Bl. 1v] Ioannis Revchlin [...] De Rvdimentis | Hebraicis [...]. Pforzheim: Thomas Anshelm, 1506. VD 16, R

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1252. Neuausgabe von Sebastian Münster: rps ≥çdqh ˆwçlb ˚axmnç | twbyth lkhw qwdqdh | Ioannis Revchli|ni Phorcensis […] Lexicon Hebraicum, et in Hebræorum | Grammaticen commentarii, [...] Sebastiani Munsteri opera [...]. Basel: Heinr. Petri, 1537. VD 16, R 1253. Münster nahm Umstellungen vor, welche die Benutzung erleichtern sollten. Er änderte die Ausrichtung des Textes und paßte sie der bei lat. Büchern gewohnten an. Darüber hinaus führte er die beiden in der ersten Auflage getrennten Teile der Grammatik als Buch I zusammen (Liber prior de grammaticae institutione) und faßte auch das ursprünglich auf zwei Bücher verteilte Wortverzeichnis in einem Buch II (Liber posterior de vocum expositionibus) zusammen.

Drucke. De Accen|tibvs, Et Orthogra|phia, Linguae Hebrai|cæ, a` Iohanne Reuchlin Phorcensi | LL. Doctore Libri tres Car|dinali Adriano dicati. Hagenau: Th. Anshelm, 1518. VD 16, R 1234.

2. ‘De accentibus et orthographia linguae Hebraicae’. Bereits in der Ausgabe der Sieben Bußpsalmen von 1512 (s. II.G.3.) hatte R. ein Werk über die prosodia im Hebräischen angekündigt (Bl. [F8] v); es dauerte jedoch noch sechs Jahre, bis das Werk erschien. Gewidmet war es Kardinal Adriano Castellesi de Corneto, der R. in seinem Prozeß an der Kurie unterstützt hatte. R. sah in dem Werk eine Fortsetzung der ‘Rudimenta Hebraica’, auf die er auch häufig zurückverweist. Im ersten von drei Büchern behandelt er zunächst den gewöhnlichen Akzent, wobei er mit Hilfe des Paradigmas l[p die einzelnen Akzente und ihre Stellung anführt und anhand von Bibelstellen erläutert. Nach den einfachen Wörtern mit drei Buchstaben werden die dreibuchstabigen mit den Endungen h, t, w und y behandelt, dann die vier und mehr Buchstaben umfassenden, schließlich die mit einer Vorschlagsilbe vor dem eigentlichen Stamm und die mit einem fehlenden Stammbuchstaben. Im zweiten Buch verdeutlicht R. zunächst, daß es im Hebräischen keine eigentlichen Versmaße und Reime gibt, jedoch ein rednerisches, aus langen und kurzen Silben bestehendes Maß. Dann folgen Erklärungen zum rednerischen Akzent. Ausführlich werden Meteg und Dagesch behandelt. Im dritten Buch schließlich kommt R. auf die musikalische Betonung (Neginoth) zu sprechen. Er zählt die Namen der musikalischen Zeichen auf, übersetzt diese und erklärt ihre Verwendung anhand von Beispielen.

a) Im März 1512 veröffentlichte R. eine lat., in katalektischen iambischen Trimetern abgefaßte Übersetzung von Joseph ben Chanan Ezobis (Hyssopaeus) ‘Lanx argentea’ (s. Num 7,13⫺85). Bei diesem Werk handelt es sich um ein 130 Verse umfassendes protreptisches Hochzeitsgedicht, in welchem Ezobi seinen in den Ehestand eintretenden Sohn zum eifrigen Studium der Thora und des Talmuds auffordert. Da es keinen zeitgenössischen hebr. Druck gibt, muß R. für seine Übersetzung eine hsl.e Vorlage benutzt haben. Möglicherweise handelt es sich um die im Besitz des Johannes J Boemus befindliche Hs. (oder eine Kopie davon), die auch Konrad Pellikan im Jahr 1514 verwendete (Pellikan, Chron., S. 46 f.). Im Widmungsschreiben an die “Liebhaber fremdartiger Bücher” (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 194) entwickelt R. ⫺ mit Bezug auf Eusebios ⫺ seine These vom jüdischen Ursprung der Philosophie. Dabei ordnet er die drei klassischen Bereiche der Philosophie ⫺ Logik, Physik, Ethik ⫺ den drei Hauptgruppen des palästinensischen Judentums, den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern, zu. Daß den Juden auch eine Vorreiterrolle in der Dichtung zukomme, habe er wegen der phonetischen Besonderheiten der hebr. Sprache zunächst nicht für möglich gehalten, sich aber durch Ezobis Gedicht eines besseren belehren lassen müssen.

3. Ausgaben und Übersetzungen. Im Hebräischen scheint R. nicht in dem gleichen Maße als Übersetzer und Herausgeber hervorgetreten zu sein wie im Griechischen. Erhalten sind im Druck die Übersetzung eines hebr. Gedichts und die Ausgabe der Bußpsalmen mit Übersetzung sowie hsl. die Übersetzung der Ps 110⫺115 (Vesperpsalmen) mit Kommentar.

Druck. Rabi Ioseph Hyssopaevs Parpi|nianensis iudæorum poeta dulcissimus ex he|braica lingua in latinam traductus a Ioanne | Reuchlin [...]. Tübingen: Th. Anshelm, 1512. VD 16, J 951. K. Steiff, Der erste Buchdruck in Tübingen, 1881,

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Nr. II 8 u. 13, verzeichnet darüber hinaus zwei zweifelhafte Drucke des Werkes Tübingen 1514 u. 1516.

b) Als ‘Übungsbuch’ zu den ‘Rudimenta Hebraica’ erschien im Aug. 1512 eine Ausgabe der Sieben Bußpsalmen; neben dem hebr. Text der Psalmen enthält sie eine lat. Übersetzung und einen Kommentar. Die Übersetzung lehnt sich, um dem Lernenden einen leichteren Zugang zum Original zu ermöglichen, eng an den hebr. Text an. An einigen Stellen weicht R. dabei deutlich vom Verständnis des Hieronymus ab. Der Kommentar erschöpft sich weitgehend in philologischen Erklärungen und dem Anführen biblischer Parallelstellen. Immer wieder wird auf das entsprechende Lemma in den ‘Rudimenta’ verwiesen. In seinen Interpretationen stützt sich R. vielfach auf die jüdische Auslegungstradition und hier vor allem auf Moses und David Kimchi (s. o. 1.) und ihren Vater Joseph sowie auf Aben Esra, Raschi, Moses Gerundensis und Moses Maimonides. Gewidmet war die Ausgabe dem Rektor der Univ. Tübingen Jakob Lemp (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 206). Drucke. Ioannis Revchlin Phor⫽|censis. ll. doctoris in septem psal⫽|mos pœnitentiales hebraicos interpretatio | de verbo ad verbum, et super | eisdem commentarioli sui, ad | discendum linguam hebrai|cam ex rudimentis. Tübingen: Th. Anshelm, 1512. VD 16, B 3406. Ein weiterer Druck: Wittenberg: Jos. Clug, 1529. VD 16, B 3407.

c) Nur hsl. überliefert sind R.s Übersetzung und Erklärung der Ps 110⫺115. Sie befinden sich im Kodex Paris, BN, lat. 7455, Bl. 273 v⫺276 v und sind überschrieben: Sequitur interpretatio Iohannis Reuchlin phorcensis super vespertinos psalmos dominicae diei de hebraico verbum e verbo transferens. Der Kodex enthält weitere Exzerpte aus Werken R.s; sie stammen von dem Ottobeurener Mönch Nikolaus Ellenbog. Dessen Abschrift der Psalmenübersetzung nebst Erklärungen basiert wiederum auf den Aufzeichnungen, die sich Jakob Gruerius im WS 1521/22 in den Vorlesungen R.s in Tübingen gemacht hatte und die er Ellenbog 1526 für einige Monate zur

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Verfügung stellte (Ellenbog-Br., Nr. IV 47⫺ 51). Ausgabe. Roth, S. 95⫺105.

H . The ol og is ch e Wer ke . 1. ‘De arte praedicandi’. Zum Dank für die Aufnahme in das Stift Denkendorf während der in Stuttgart und anderen Teilen Schwabens grassierenden Pest verfaßte R. Ende 1502 für die Kleriker der zum Kapitel vom Hl. Grabe in Jerusalem gehörenden Chorherrengemeinschaft eine Predigtlehre und eignete sie dem Propst Peter Wolf zu (Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 121). In ihr versucht er die antike Rhetorik für die Predigt fruchtbar zu machen. Er stützt sich dabei vor allem auf Aristoteles’ ’Rhetorica’ und ‘Topica’, auf die D ‘Rhetorica ad Herennium’ (NB) sowie auf Ciceros ‘Partitiones oratoriae’ und ‘De inventione’. Die ars praedicandi definiert R. als facultas hominem alliciendi ad virtutes et contemplationem divinam ex sanctarum scripturarum promulgatione, ihr officium als dicere apposite ad persuasionem und ihre materia als omnes res, quae se offert ad faciendum nos quottidie meliores. Gegliedert ist die Schrift in die drei Teile Inventio, Memoria und Pronuntiatio. Der Prediger hat zu bedenken, an wen er seine Rede richtet und entsprechend zwischen einer tropologischen, allegorischen oder anagogischen Auslegung zu wählen. Die Predigt selbst setzt sich aus principium, lectio, divisio, confirmatio, confutatio und conclusio zusammen. Das principium soll der Prediger benutzen, um den Hörer zu gewinnen; es besteht aus drei Teilen: der den Gläubigen belehrenden propositio, der ihn für die göttliche Gnade empfänglich machenden supplicatio und aus dem praeludium (⫽ Proömium), in dem es gilt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bei der lectio soll der Prediger auf alle Effekthascherei verzichten und den Text klar und verständlich vortragen. In der divisio gibt der Prediger eine kurze Zusammenstellung der Gegenstände, die er in seiner Ansprache behandeln will. Die confirmatio umfaßt die eigentliche Auslegung der Perikope mit der Erläuterung der einzelnen Teile des Textes. In diesem Rahmen geht R. insbesondere auf die Topik ein, auf die attributa bzw. circumstantiae. In einem eingeschobenen Abschnitt über die argumentatio bespricht R. die fünf Teile, die für eine gelungene

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Beweisführung notwendig sind (propositio, ratio, confirmatio rationis, exornatio und complexio; vgl. Cic. inv. 1,37). Die confutatio der Gegenargumente vollzieht sich auf dem Wege der promissio, attenuatio, admonitio, quaestio und retorsio. In der conclusio schließlich faßt der Prediger das Gesagte zusammen und hebt noch einmal die Punkte hervor, auf die er besonderen Nachdruck legen will. Im zweiten Teil der ‘Ars praedicandi’ behandelt R. unter Rückgriff auf die ‘Rhetorica ad Herennium’ und Quintilian die memoria. Ihre Methode besteht entsprechend ex locis et imaginibus, sicut tabulae scriptura ex cera et litteris. Der dritte Teil, die pronuntiatio, schließlich enthält die Ratschläge zur Vortragsweise, zur Gestik und zur Modulation der Stimme. Drucke. Ioannis Reuchlin Phorcensis | LL. doctoris Liber Congesto⫽|rum de arte praedicandi […]. Pforzheim: Th. Anshelm, 1504. VD 16, R 1250. Weiterer Druck: Pforzheim: Th. Anshelm, 1508. VD 16, R 1251. Die Schrift ist ferner enthalten in: De Arte Concionandi Formu|læ […]. Basel: Balth. Lasius, 1540. Benzing, Nr. 88. Weiterer Druck: London: Henry Bynneman, 1570. Benzing, Nr. 89.

2. Kommentar zur Mariensequenz ‘Ave virginalis forma’. R. verfaßte den Kommentar zu D Jakobs von Mühldorf Sequenz 1495 auf Bitten des Kaplans Johannes Wieland für die Geistlichen des Hl. Kreuz Stiftes in Stuttgart; sie verwendeten die Sequenz an Mariä Empfängnis, hatten aber wegen der zahlreichen in ihr enthaltenen griech. und hebr. Begriffe Verständnisschwierigkeiten. R.s Kommentar beschränkt sich weitgehend auf lexikalische Erläuterungen. Die zahlreichen biblischen Verweise zeigen seine ausgezeichneten Kenntnisse der Hl. Schrift. Neben der Bibel zitiert er aber auch antike Autoren. Zur Erklärung des Begriffs virgo zieht er das ‘Corpus iuris’ heran. Auf dogmatische Fragen geht der Kommentar nicht ein, wenn er auch R.s Befürwortung der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens spüren läßt. Handschrift. Wien, ÖNB, Cod. 3116, Bl. 79 v⫺85 r.

J . D ie ‘Tüt sc h m is si ve ’ u nd di e S ch ri ft en de s B üc he rs tr ei ts . Der Nachwelt im Gedächtnis geblieben ist R. hauptsächlich durch sein Eintreten

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für die Bewahrung der jüdischen Literatur. Vielfach wird er deshalb zu einem Vorläufer aufgeklärter Toleranz und zu einem Vater der Judenemanzipation stilisiert. Literarisch beschäftigt hatte sich R. mit der Stellung der Juden erstmals 1505 in seiner ‘Tütsch missive’. Im Juli 1510 beauftragte ihn der Mainzer Eb. Uriel von Gemmingen in Ausführung eines ksl.en Mandats mit einem Gutachten zu der Frage, ob sollicher bücher, so die iuden über die bücher […] des alten testaments gebrauchen, ab zu˚e thun gottlich, loblich unnd dem hailigen cristglauben nützlich sei (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 170). Neben R. wurden vier Universitäten, der Kölner Theologe Jakob J Hoogstraeten und der Konvertit Viktor von Karben um eine Stellungnahme gebeten. Als Gutachter war R. von Johannes J Pfefferkorn vorgeschlagen worden, der seit Aug. 1509 mit Erlaubnis Ks. Maximilians in Frankfurt a. M. und in anderen Orten Bücher der jüdischen Gemeinden beschlagnahmt hatte. Durch die Beseitigung der jüdischen Schriften, insbesondere des Talmuds, erhoffte er sich, der selbst erst 1504 zum Christentum konvertiert war, eine schnellere Bekehrung seiner ehemaligen Glaubensgenossen. Während die Universitäten (mit Ausnahme Heidelbergs) und Jakob Hoogstraeten eine Beschlagnahme und Vernichtung der jüdischen Schriften befürworteten (die Stellungnahme Karbens fehlt), lehnte R. ein solches Vorgehen in seinem Gutachten ab (s. I.2.). Damit geriet er in Konflikt mit Pfefferkorn, der sich von ihm hintergangen fühlte und R. nun in einer während der Frankfurter Frühjahrsmesse 1511 publizierten Schrift mit dem Titel ‘Handt Spiegel’ persönlich angriff (u. a. zog er R.s Rechtgläubigkeit in Frage und sprach ihm auch seine Hebräischkenntnisse ab). Zur Wiederherstellung seiner Ehre veröffentlichte R. im Herbst 1511 den ,Augenspiegel’, dessen Kernstück das Gutachten für den Kaiser ist. Mit den beiden Werken begann eine literarische Auseinandersetzung, die Schwitalla, S. 251, als den ersten großen Flugschriftenstreit in der deutschen Geschichte bezeichnet (eine Liste der Publikationen ebd., S. 252⫺255). Auf die Initiative Hoogstraetens nahm die theol.

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Fakultät der Univ. Köln eine Untersuchung des ‘Augenspiegel’ vor und sandte R. eine Liste mit Stellen, bei denen sie eine Abweichung von der kirchlichen Lehrmeinung erblickte. R.s im Frühjahr 1512 veröffentlichte Erläuterung seiner Positionen in der Schrift ‘Ain clare verstentnus’ (I.3.) befriedigte die Fakultät nicht; sie ersuchte den Kaiser um ein Verbot des ‘Augenspiegel’, das dieser am 7. Okt. 1512 auch erließ. Die im März 1513 von R. publizierte ‘Defensio contra calumniatores suos’ (I.4.) heizte die Stimmung weiter an. Nachdem die theol. Fakultät der Univ. Köln ein Verbot der ‘Defensio’ erwirkt hatte, verurteilte sie am 13. Aug. 1513 offiziell R.s ‘Augenspiegel’: Die Schrift enthalte Stellen, welche die jüdische perfidia begünstigten und den Verdacht der Ketzerei nährten. Dem Urteil der Kölner schlossen sich weitere theol. Fakultäten an. Hoogstraeten eröffnete daraufhin in seiner Eigenschaft als Inquisitor der Kirchenprovinzen Mainz, Köln und Trier im Sept. 1513 einen Inquisitionsprozeß gegen R.s ‘Augenspiegel’, der vom Mainzer Eb. Uriel von Gemmingen aber suspendiert wurde. Der von Papst Leo X. mit der Weiterführung des Prozesses beauftragte Bischof von Speyer sprach im März 1514 den ‘Augenspiegel’ von den erhobenen Vorwürfen der Ketzerei und Judenbegünstigung frei, worauf Hoogstraeten an den Hl. Stuhl appellierte. Die Verlegung nach Rom verschaffte dem Prozeß große Aufmerksamkeit; die ihn begleitende literarische Auseinandersetzung erreichte mit den J ‘Dunkelmännerbriefen’ ihren Höhepunkt. Im Juli 1516 erklärte eine von Leo X. eingesetzte Kommission alle gegen R.s Schrift erhobenen Vorwürfe für nichtig und bestätigte das Speyerer Urteil; durch ein päpstliches Mandat wurde das Votum der Kommission aber praktisch außer Kraft gesetzt. Am 23. Juni 1520 hob der Papst ⫺ unter dem Eindruck des Auftreten Luthers ⫺ die Speyerer Entscheidung auf und verurteilte den ‘Augenspiegel’ als scandalosus ac piarum aurium Christi fidelium offensivus ac non parum impiis Iudaeis favorabilis. Er verbot die Verbreitung und Lektüre des Buchs und erlegte R. Stillschweigen auf. Neben dem ‘Augenspiegel’

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gelangten in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s weitere Werke R.s (die Komödien, die Predigtlehre, ‘De verbo mirifico’ und ‘De arte cabalistica’) in Rom, Venedig, Spanien und Portugal auf den Index verbotener Bücher (s. Index des livres interdits, Bd. 10, 1996, S. 335 f.). 1. ‘Tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind.’ In der ‘Tütsch missive’ nahm R. 1505 Stellung zu der Anfrage eines unbekannten Adeligen, wie er die Juden in seiner Herrschaft behandeln solle. R. empfiehlt darin dem Adeligen, die Juden an ihre mehr als 1300 Jahre dauernde Verbannung zu erinnern und sie über den Grund für diese Strafe zu belehren. Dabei soll er ihnen drei Gesichtspunkte vor Augen führen: 1. Die Verbannung dauere länger als die Babylonische Gefangenschaft; entsprechend müsse die Sünde, die zu dieser Strafe geführt habe, größer sein. 2. Im Gesetz habe Gott angekündigt, die Missetat eines Einzelnen nur bis in die dritte oder vierte Generation verfolgen zu wollen; da die Strafe nun aber bereits auf mehr als hundert Generationen liege, handele es sich um eine Sünde des gesamten Volkes und nicht um die eines Individuums. 3. Daß die Juden den Grund ihrer Bestrafung nicht erkennten, liege an der durch Gott über sie verhängten Verstockung (Verweis auf Jes 6,8⫺12). Die Sünde aber, wegen derer Gott sie verstockt habe, sei ihre Gotteslästerung, die in der Mißachtung Jesu als des vom Vater gesandten Messias liege. Auch jetzt noch hielten sie an dieser Sünde fest, da sie täglich Jesus, Maria, die Apostel und die Kirche schmähten, wie ihre Schriften (Nizzachon, Bruder Fol) bewiesen. Die einzige Möglichkeit, die Strafe Gottes aufzuheben, sieht R. in der Anerkennung Jesu als des von Gott gesandten Messias und damit in der Bekehrung. Dem Adeligen weist er die Aufgabe zu, Bekehrungswillige zu ermuntern und ihnen Versorgung für den Fall der Konversion zuzusichern. Die ‘Tütsch missive’ spielte im Bücherstreit eine große Rolle, da sich R.s Gegner, vor allem Johannes Pfefferkorn, immer wieder auf sie beriefen. R. selbst rückte von den hier vertretenen Positionen in sei-

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nem Gutachten für den Kaiser und in seinen späteren Schriften ab. Druck. Doctor iohanns | Reuchlins tütsch missiue. warumb die Juden | so lang im ellend sind. Pforzheim: [Th. Anshelm], 1505. VD 16, R 1246. Ausgabe. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 4/ 1, hg. von W.-W. Ehlers u. a., 1999, S. 3⫺12.

2. ‘Augenspiegel’. Der ‘Augenspiegel’, “die politisch bedeutsamste Schrift des zweiten Jahrzehnts des 16. Jh.s im deutschen Sprachraum” (Schwitalla, S. 262), ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil (Bl. Ar⫺[A5]v) enthält eine Schilderung der Auseinandersetzungen bis zur Veröffentlichung des Werkes. Darin eingefügt sind als Dokumente der Brief Ks. Maximilians an Eb. Uriel von Gemmingen vom 6. Juli 1510, mit dem er ihm die Leitung der Untersuchung übertrug, das ksl. Mandat vom 26. Juli an die Universitäten und Gelehrten zur Erstellung der Gutachten und die entsprechende Weisung Eb. Uriels an R. vom 12. Aug. 1510 (Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 169 f.). Als zweiter Teil (Bl. I r⫺XX v) schließt sich das Gutachten R.s an (Ratschlag). Darin führt er zunächst vier Argumente für und sechs Argumente gegen eine Vernichtung der jüdischen Bücher auf. R. unterscheidet zwischen sieben Gruppen von jüdischen Schriften (Bibel, Talmud, kabbalistische Werke, Glossen und Kommentare zu den biblischen Büchern, Midraschim, philosophische Werke, literarische Werke). In einem ersten Schritt untersucht er für jede Gruppe, ob deren Schriften den christlichen Glauben schmähen oder gefährden; besonders ausführlich geschieht dies beim Talmud. In einem zweiten Schritt widerlegt er die vier anfangs genannten Argumente für eine Vernichtung des jüdischen Schrifttums: Die Juden hätten ihre Werke nicht wider die cristen gemacht, sondern aus eigenem Interesse und zum Schutz ihres Glaubens. Mit Ausnahme der Schriften ‘Nizzachon’ und ‘Toldoth Ieschu’ gebe es keine Werke, die Jesus, Maria, die Apostel oder die Kirche schmähten. Daß die Juden Jesus nicht als göttliche Person ansähen, liege in ihrem Glauben begründet. Wie das Beispiel des Paulus zeige, seien die jüdi-

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schen Bücher kein Hindernis für eine Konversion. Es gelte die Juden zu bekehren, indem man sie vom christlichen Glauben überzeugt, und nicht, indem man sie in diesen hineinpreßt. Den Vorwurf der Häresie weist R. für das Judentum zurück, da die Voraussetzung dafür der Abfall vom christlichen Glauben ist. Als Mitbürger des Reiches genießen die Juden und ihr Eigentum Schutz. Nach Römischem Recht unterstehen sie in Angelegenheiten ihres Glaubens nur ihren eigenen Oberen und keinem anderen Richter. R. gelangt zu dem Ergebnis, daß es weder göttlich loblich noch dem hailigen cristglauben nützlich […] e sei / wa man den iuden ire bücher wollt ab reissen undertrucken oder verbrennen (Bl. XIIII v). Er nimmt davon Schmähschriften und Werke über verbotene Künste wie Hexen-, Teufels- oder Zauberbücher aus. Der dritte Teil (Bl. XXI r⫺XXXII r) ist in der Form einer scholastischen Disputation gehalten; im Unterschied zu den beiden vorhergehenden und dem folgenden vierten Teil schreibt R. hier in lat., nicht in dt. Sprache. In insgesamt 52 argumenta führt er mögliche Einwände gegen seine im Gutachten aufgeführten Positionen an und widerlegt diese. Nur zum geringeren Teil handelt es sich dabei um Einwände aus dem ‘Handt Spiegel’ Pfefferkorns. Der Aufbau der einzelnen argumenta gleicht sich: Einem ausführlichen arguitur […], quod wird ein kurzes ad haec respondeo bzw. dico entgegengestellt oder eine solutio angefügt. Der vierte Teil (Bl. XXXII v⫺XLI v) enthält die eigentliche Verteidigung gegen die im ‘Handt Spiegel’ erhobenen Vorwürfe. R. lastet Johannes Pfefferkorn, den er als Taufjuden bezeichnet und mit Judas Ischariot vergleicht, insgesamt 34 Unwahrheiten an. Zunächst nennt er ⫺ jeweils mit Blattangabe im ‘Handt Spiegel’ ⫺ die von Pfefferkorn erhobene Beschuldigung und weist diese dann, oft durch Anführung seines Gutachtens, zurück. Polemik und Beschimpfung nehmen dabei breiten Raum ein (Pfefferkorn wird z. B. Geldgier als Motiv für sein Handeln unterstellt).

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Druck. Doctor Johannsen Reuchlins | [...] warhafftige entschuldigung | gegen vnd wider ains getaufften iuden | genant Pfefferkorn vormals ge| truckt vßgangen vnwarhaf|tigs schmachbüchlin | Augenspiegel [...]. [Tübingen: Th. Anshelm, 1511]. VD 16, R 1306. Ausgaben. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 4/1, hg. von W.-W. Ehlers u. a., 1999, S. 15⫺ 168. Faksimile, hg. von B. Wendt (Quellen z. Gesch. d. Humanismus u. d. Reformation in Faksimile-Ausgaben 5), [1961].

3. ‘Ain clare verstentnus’. Aufgrund der Forderung der theol. Fakultät der Univ. Köln, seine Haltung zur christlichen Lehre klarzustellen und die im Gutachten vertretenen Positionen genauer als in den ‘Argumenta’ des ‘Augenspiegel’ zu erläutern (s. Reuchlin-Br., Bd. 2, Nr. 190, 197 f.), sah R. sich genötigt, zur Frankfurter Frühjahrsmesse 1512 eine weitere Verteidigungsschrift zu veröffentlichen. Entgegen dem Wortlaut des Titels handelt es sich nicht einfach um eine Übersetzung der ‘Argumenta’; vielmehr hat R. hier die Form der scholastischen Disputation aufgegeben. In der Vorrede bietet er eine Erzählung des bisherigen Geschehens, beginnend mit dem Auftrag für das Gutachten; die Auseinandersetzung mit den Kölner Theologen erwähnt er dabei nicht; vielmehr erklärt er, die Schrift frywilliglich und on bezwungen zu veröffentlichen (Bl. A 2 r). Zunächst verwahrt er sich gegen die Vorwürfe, der Kirche gegenüber ungehorsam gewesen zu sein und in seinem Gutachten die Juden begünstigt zu haben: Er habe das Gutachten dem Urteil der geistlichen Oberen unterworfen und habe weder vor noch nach dessen Abfassung mit Juden in Kontakt gestanden. Dann stellt er anhand von Definitionen der Begriffe Schmach, Schande, Unehre und Ketzerei die seiner Bewertung der jüdischen Schriften zugrundeliegenden Kriterien dar. Nur Bücher, die zu schmach gemacht syen / oder die so gots lesterung inn sich halten / oder so irrig glauben vnd ketzeryen leern […] oder die so verbotten […] künsten oder zaubereien anzaigen vnd practiciern, sollen unterdrückt werden (Bl. A iijr). Anhand dieser Kriterien will R. auch beim Talmud entschieden wissen, welche Teile aus diesem zu vernichten seien und welche

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nicht. Es folgen Erläuterungen zu einzelnen Stellen des Gutachtens, die ein unuolkumner oder klainmütiger on vnderricht e vnrecht verstanden han, begin[…] mocht nend mit der Erklärung der Begriffe secta, e glider des romischen richs und burger. Anscheinend genügten R.s Klarstellungen der Kölner theol. Fakultät nicht, denn ihr Mitglied Arnold Luyde von Tongern publizierte im Aug. 1512 mit den ‘Articuli sive propositiones’ eine Gegenschrift: Im ersten Teil führt er 44 Behauptungen aus R.s Gutachten auf, die zu mißbilligen sind; im zweiten Teil folgt eine Liste mit 22 Anschuldigungen gegen die Juden und im dritten eine Widerlegung der Erläuterungen R.s in den ‘Argumenta’. Vorangestellt ist Tongerns Schrift ein Gedicht von Ortwin J Gratius, das “im […] Versmaß der Elegie um R.s Untergang betet” (Brod, S. 234). Druck. Ain clare verstentnus in tütsch vff | doctor Johannsen Reüchlins ratschlag von den iuden büchern vor|mals auch zu˚ latin imm Augenspiegel ußgangenn. [Tübingen: Th. Anshelm, 1512]. VD 16, R 1249. Ausgabe. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 4/ 1, hg. von W.-W. Ehlers u. a., 1999, S. 171⫺196.

4. ‘Defensio contra calumniatores suos Colonienses’. Die Ks. Maximilian gewidmete ‘Defensio’ war in erster Linie eine Reaktion auf Tongerns ‘Articuli sive propositiones’, erst in zweiter Linie eine auf Pfefferkorns kurz zuvor veröffentlichten ‘Brantspiegel’. Wie in den vorangegangenen Schriften bietet R. auch hier zunächst eine Erzählung des Streits. In diesem Rahmen gibt er einen kurzen Abriß seines Gutachtens, wobei er nochmals auf die fehlende rechtliche Grundlage in der Frage der jüdischen Bücher abhebt: Weder im kaiserlichen noch im kanonischen Recht oder bei den Kirchenvätern gebe es eine Vorschrift oder ein Urteil zu den jüdischen Büchern; aus diesem Grund seien diese wie die Bücher anderer Bürger des Reiches zu schützen; nur Schmähschriften dürften vom rechtlichen Standpunkt aus vernichtet werden. R. insistiert darauf, sein Gutachten als Rat des Kaisers auf dessen ausdrücklichen Befehl hin verfaßt, der Entscheidung des Herrschers aber nicht vorgegriffen zu haben. Den Kölner Theologen bestreitet er das Recht, gegen ihn vorzugehen: Diese hätten die Angelegenheit entweder auf der Ebene brüderli-

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cher Liebe klären oder ihn beim zuständigen Diözesanbischof anzeigen müssen; ein Inquisitor wie Hoogstraeten sei nur bei einer haeresis expressa et explicite condemnata zuständig. Mit Berufung auf das römische Recht wendet sich R. gegen das von den Kölnern bei der Beurteilung seines Gutachtens angewandte Prinzip des prout verba sonant: Nicht die Worte, sondern die Auffassungen des Schreibers seien zu beurteilen, und bei einer nicht eindeutigen Äußerung müsse diese zu Gunsten des Angeschuldigten interpretiert werden. Ausführlich widerlegt R. in der ‘Defensio’ die beiden Hauptvorwürfe aus Tongerns ‘Articuli sive propositiones’, nämlich der Begünstigung der Juden und der Verfälschung von Stellen aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter und Kirchenlehrer. Als Begünstiger des Judentums will R. sich nur bezeichnen lassen, wenn dieser Titel auch Paulus, Hieronymus und Päpsten wie Alexander III. und Clemens III. beigelegt werde. Neben den Päpsten hätten auch zahlreiche römische Kaiser den Juden Privilegien verliehen. Die Juden unterständen dem Schutz und Schirm des Reiches. Sie seien rechtlich gesehen nicht Sklaven, wie von Tongern behauptet, sondern Bürger des Reiches und dürften nach den Entscheidungen der Rechtsgelehrten erben und mit Schenkungen bedacht werden. Die Kirche habe Juden immer geduldet, und das kanonische Recht verfüge, sie in menschlicher Weise zu behandeln und nicht mit Gewalt zum christlichen Glauben zu bekehren. Zum Vorwurf der Verfälschung von Schriftstellen bemerkt R., daß es nirgendwo verboten sei, ein Werk in einer anderen Weise als der ursprünglichen zu zitieren oder anzuführen; die Kirche selbst verwende Stellen aus der Bibel und den Werken der Kirchenväter in einem anderen als dem buchstäblichen Sinne. Die einzige Forderung sei, die Bibel nicht bösartig zu verfälschen. R. erhebt nun seinerseits gegen Tongern und die anderen Kölner Theologen den Vorwurf, die Hl. Schrift in böser Absicht verdreht zu haben. Tongern wirft er außerdem vor, Passagen aus dem ‘Augenspiegel’ in seinen ‘Articuli’ falsch zu übersetzen und sich auf Einwände zu stützen, die er selbst in den ‘Argumenta’ des ‘Augenspiegel’ genannt und dort auch bereits widerlegt habe.

Allenthalben führt R. in der ‘Defensio’ Klage über die ihm zuteil gewordenen Angriffe, spart selbst aber nicht mit Verunglimpfungen der Gegner. So ist das Werk eine reiche Fundgrube skatologischer Ausdrücke. Die Kölner Theologen allgemein qualifiziert R. als theologistae ab; darüber

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hinaus greift er Johannes Pfefferkorn, Arnold von Tongern und Ortwin Gratius auch persönlich an. Letzteren z. B. beschuldigt er offen der Ketzerei wegen des in den ‘Articuli’ abgedruckten Gedichts, in welchem Gratius für Maria die Bezeichnung alma Iovis mater verwendet hatte. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schmähungen und Verunglimpfungen des Gratius’ und der Kölner Theologen floß aus R.s ‘Defensio’ in die ‘Dunkelmännerbriefe’ ein. Druck. Defensio Joannis Reuchlin | Phorcensis LL. Doctoris | Contra Calumniato|res Svos Colo|nienses | [...]. Tübingen: Th. Anshelm, 1513. VD 16, R 1244. Weiterer Druck: Tübingen: Th. Anshelm, 1514. VD 16, R 1245. Ausgabe. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 4/ 1, hg. von W.-W. Ehlers u. a., 1999, S. 197⫺443. In seinen Briefen erwähnt R. eine von ihm verfaßte ‘Historia de temporibus meis’ (Reuchlin-Br., Bd. 3, Nr. 303 u. 309), bei der es sich vermutlich um eine Darstellung des Bücherstreits handelt. Diese Schrift ist nicht mehr erhalten.

5. ‘Acta iudiciorum’. Bei den 1518 gedruckten ‘Acta iudiciorum’ handelt es sich um eine Sammlung von Dokumenten zum Prozeß um den ‘Augenspiegel’, die auf den Originalakten basiert und bis zur Entscheidung der päpstlichen Kommission vom 2. Juli 1516 reicht. Die Auswahl der Dokumente sowie die Darstellung des Prozeßverlaufs legen es nahe, daß R. selbst oder ein enger Vertrauter das Werk angelegt hat. Nach der Zuschrift an den Leser handelt es sich um eine Sammlung juristischer Lehrtexte, utilis […] studentibus in iure canonico et civili, in quo videbunt practicam in materia inquisitionis, citationis, recusationis, appellationis […]. Zu den wichtigsten in den ‘Acta iudiciorum’ enthaltenen Dokumenten zählen die Klageschrift Jakob Hoogstraetens (Bl. A ii r⫺Bv), das Breve Papst Leos X. mit der Berufung der Bischöfe von Speyer und Worms zu Kommissaren (Bl. [B8] v⫺ Cr), die ‘Sententia condemnativa Coloniensium’ vom 10. Febr. 1514, aufgrund dessen der ‘Augenspiegel’ verbrannt wurde (Bl. [C7]v⫺8 r), R.s Verteidigungsschrift gegen die von Hoogstraeten vorgebrachten Anschuldigungen (Bl. Dv⫺[E4]r), das Urteil des Speyerer B. Georg samt Ausführungs-

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schreiben (Bl. F iii r⫺[F6]r) sowie eine Urkunde Kardinal Domenico Grimanis vom 8. Juni 1514 mit der päpstlichen Delegation des Prozesses (Bl. [F7]v⫺G ii v). Als Besonderheit enthalten die ‘Acta iudiciorum’ darüber hinaus den Brief eines ‘Reuchlinisten’, in welchem der Schreiber seine Verwunderung über das Vorgehen der Kölner gegen den ‘Augenspiegel’ äußert (Bl. [C8]v⫺Dv, hg. in Reuchlin-Br., Bd. 2, App. VI). In den ‘Acta iudiciorum’ findet Bl. [C8]r auch ein nicht mehr erhaltenes Flugblatt in dt. Sprache Erwähnung, in welchem R. seinen Protest gegen die Kölner ‘Sententia condemnativa’ publizierte; gedruckt wurde das Flugblatt vermutlich bei Thomas Anshelm (vgl. K. Steiff, Der erste Buchdruck in Tübingen, 1881, Nr. 55). Druck. Acta Judiciorum inter | F. Iacobum Hochstraten Inquisito|rem Coloniensium et Iohan|nem Reuchlin […] | ex Registro publico | autentico et sigil|lato. Hagenau: Th. Anshelm, 1518. VD 16, A 150.

K . D ie Ha up tw er ke . R.s Hauptwerke gehören in den Zusammenhang der Suche nach dem uralten und heiligen Wissen, nach einer prisca philosophia bzw. theologia, und dem Bestreben, mit Hilfe dieses Wissens, das sich vielfach aus neuplatonisch, hermetisch-gnostischen und kabbalistischen Quellen speist, die Grenzen des rationalen Denkens zu überwinden und zur unendlichen Gottheit aufzusteigen. Besonderen Einfluß auf R. übten D Nikolaus von Kues und die Florentiner Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola aus. Durch letzteren kam R. auch in Kontakt mit der jüdischen Kabbala, die in ihrer messianischen (A. von Gerona, A. Abulafia) und intellektsmystischen Ausprägung (J. Gikatilla) eine zentrale Stellung in seinem Denken einnimmt. 1 . ‘ De ve rb o m ir if ic o’ . Die B. Dalberg gewidmete Schrift (Dedikationsbrief in Reuchlin-Br., Bd. 1, Nr. 64) ist als Dialog zwischen dem Griechen und Epikureer Sidonius, dem Juden Baruchias und dem Christen Capnion gestaltet. Im Vorwort nennt R. als Ziel der Schrift die Darlegung aller wirkungsmächtigen Namen, derer sich die weisen und in die Geheimnisse eingeweihten Männer in alten Zeiten bei ihren Kulthandlungen bedien-

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ten, und die Erforschung des Namens, der als im höchsten Maß wundertätig und beglückend gelten kann. Im ersten von insgesamt drei Büchern wird die von Sidonius aufgestellte Behauptung, wonach wahre Wissenschaft auf der sinnlichen Wahrnehmung beruht und nur die Physik (die Lehre von Körper und Stoff) den Namen Wissenschaft verdient, mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß die Unbeständigkeit der Natur und die unserer Wahrnehmung nicht Grundlage einer beständigen und vollkommenen Wissenschaft und Erkenntnis sein kann. Ihr gegenübergestellt wird eine auf göttlicher Offenbarung beruhende Wissenschaft: Erkenntnis und Fähigkeit zur Entscheidung sind göttliche Gaben und gehen auf göttliche Belehrung zurück (in der hebr. Sprache als cabala, in der lat. als receptio bezeichnet). Entsprechend grenzt R. die Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung, die stets “Meinung” (ratio opinabilis) bleibt, von der Wissenschaft der göttlichen Wahrheit ab. Während die Vernunft (ratio) das Behältnis der veränderlichen Wahrheiten bildet, ist der Geist (mens) das der ewigen Wahrheiten. Gott hat sich dem Menschen durch die Liebe verbunden und gewährt der menschlichen mens Teilhabe an seinen Geheimnissen. Zeugnis für die menschliche Teilhabe aber ist das wunderwirkende Wort. Einst sind die Juden im Besitz wunderwirkender Worte gewesen, und die bedeutendsten Philosophen (Thales, Pythagoras, Platon) sind aus diesem Grund zu ihnen gereist; da die Juden aber den rechtmäßigen Gottesdienst verlassen haben, ist die heilbringende Macht der Worte von ihnen auf die Christen übergegangen. Im zweiten Buch setzt R. sich zunächst mit der Frage auseinander, was unter Wunder zu verstehen sei, und grenzt die Kunst des wundertätigen Wortes von Nachbardisziplinen wie der Astrologie und Magie ab. Jedes vom Menschen vollbrachte Wunder, wenn es nicht auf Einbildung beruhen soll, muß auf Gott bezogen werden, da Gott der einzige ist, der selbst oder mittels seiner Geschöpfe solche Dinge tun kann. Gott sucht den Menschen, insofern sich dieser in seinem Glauben gehorsam er-

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zeigt, in sich selbst umzuformen, so daß der Mensch in Gott übergeht und Gott im Menschen Wohnung nimmt. Das Band zwischen Gott und Mensch ist die Sprache. Nicht allen Worten aber kommt die gleiche Kraft zu. Göttliche Macht besitzen nur gewisse geheime und heilige Worte bzw. Namen, die geoffenbart worden sind und in denen sich die Harmonie der Ewigkeit widerspiegelt. Die heiligen Worte sind ursprünglich, einfach und unverdorben (barbara verba); solche Qualitäten aber besitzen sie nur in der hebr. Sprache. Sie ist die von Gott geschaffene Sprache; in ihr hat er zuerst mit den Menschen geredet; von ihr leiten sich die anderen Sprachen ab. Für das Bewirken wunderbarer Handlungen muß man die uralten Worte hebräisch aussprechen, da sie nur in der ursprünglichen Sprache ihre göttliche Kraft vollkommen bewahren. Im weiteren geht R. auf die verschiedenen göttlichen Namen ein, die Gott dem Menschen offenbart hat und die seinen verschiedenen Erscheinungsformen (essentia, virtus, operatio) entsprechen, zunächst auf ehjeh (hyha, s. Ex. 3,14; nach R. das platonische to¡ on), dann auf hu (awh, im Griechischen als tayœto¡n wiedergegeben) und esch (ça, Gott als verzehrendes Feuer) und schließlich auf die zehn Sephirot als den zehn Emanationen, welche die jeweilige Zustandsform der göttlichen Wesenheit anzeigen. Über allen Namen Gottes aber steht das unaussprechbare Tetragramm IHWH. Die Übersetzer haben das Tetragramm mangels eines passenden Ausdrucks mit ‘Herr’ wiedergegeben. Adam und Eva wurde dieser Name eingehaucht, und den Patriarchen wurde er von Gott selbst mitgeteilt. Die Urväter verehrten ihn aber noch unterschiedslos neben den anderen göttlichen Namen. Erst Mose wurde beim Bundesschluß das Geheimnis dieses Namens offenbart und gelehrt, den unaussprechbaren Namen auszusprechen. Das Tetragramm aber entspricht der pythagoreischen Tetraktys, welche die Ordnung der Welt in sich birgt. Im dritten Buch findet durch Capnion die Enthüllung des wundertätigen Wortes statt. Den Ausgangspunkt dafür bildet die

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Logosperikope in Joh 1. Das “Wort” ist das Heraustreten der in sich selbst ruhenden Göttlichkeit aus der Immanenz. Durch den Sohn, das fleischgewordene Wort, der das vollkommene Abbild des Vaters ist (ein Abbild von wesensmäßiger Identität), erhalten wir eine Anschauung von dem, der uns bisher verborgen war. Da durch den Sohn auch das Hindernis der von den Vorvätern ererbten Verdammnis beseitigt ist, können wir durch seinen Namen zu Gott aufsteigen und ihm ähnlich werden. Von den zahlreichen Namen, die der Sohn trägt, hat Gott einen hervorgehoben; es ist der Name, den der Engel Gabriel der Jungfrau Maria geoffenbart hat: IHSWH. Dieser nimmt die Stelle des vierbuchstabigen Namens ein, da durch den Ungehorsam der Juden das nichtig geworden ist, was Gott mit Israel beim Bundesschluß hinsichtlich des Tetragramms vereinbart hatte. Der Name IHSWH ist der höchste und alle anderen überragende Name. Er ist mit der menschlichen Stimme mitteilbar, da bei der Fleischwerdung des Wortes die Buchstaben die Gestalt von Lauten annahmen. Mit Hilfe dieses wundertätigen Wortes können die Sterblichen über die Natur und über das Schicksal herrschen und Wunder vollbringen. Wirkmächtigkeit besitzt das wundertätige Wort jedoch nur in Verbindung mit dem Kreuz, wie umgekehrt das Kreuz nur Kraft durch den Namen IHSWH besitzt. Druck. De verbo mirifico. [Basel: Joh. Amerbach, 1494]. Hain 13880. Fünf weitere Drucke bis 1587: Benzing, Nr. 24⫺28. Ausgabe. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 1, hg. von W.-W. Ehlers u. a., 1996.

2. ‘De arte cabalistica’. Das häufig als “Bibel der christlichen Kabbala” bezeichnete Werk (zur Rezeption s. Schmidt-Biggemann) ist Papst Leo X. gewidmet und wird von R. als Plädoyer im Bücherstreit verstanden, als Plädoyer für die Bewahrung der jüdischen Kabbala als eines Zeugnisses für die Wahrheit der christlichen Botschaft. Wie ‘De verbo mirifico’ ist das Werk als Dialog angelegt, hier zwischen dem Juden Simon, dem Pythagoreer Philolaus und dem Muslim Marranus. Im Dedikationsschreiben erklärt R. die Er-

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neuerung der pythagoreischen Philosophie durch die Kabbala als Ziel seiner Schrift: Nachdem der Vater des Papstes, Lorenzo de’Medici, mit Hilfe der von ihm nach Florenz berufenen Gelehrten die durch das Wirken der Sophisten am Boden daniederliegende Philosophie neu belebt habe und nachdem die Schriften Platons und Aristoteles’ durch Marsilio Ficino bzw. Faber Stapulensis jetzt allen zugänglich seien, harrten die Schriften des Pythagoras und seiner Schüler noch der Wiederbelebung. Eine solche Aufgabe lasse sich jedoch nur mit Hilfe der jüdischen Kabbala bewältigen, in welcher die pythagoreische Philosophie ihre Wurzeln besitze. Im ersten von drei Büchern seines Werkes präsentiert R. die Kabbala als Weg zur Vergöttlichung des Menschen. Das Verlangen nach der deificatio ist allen Menschen gemeinsam; ermöglicht wird sie durch die dem Menschen von Gott während der Schöpfung eingehauchte Erleuchtung. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch wie auf einer symbolischen Leiter von der Wahrnehmung über die Vorstellungskraft (imaginatio), das Urteilsvermögen (existimatio), die Vernunft (ratio), den Verstand (intellectus) und den Geist (mens) zu dem ihn erleuchtenden Licht aufsteigen. Das Wort Kabbala leitet R. vom hebr. lbq (‘empfangen’) ab und definiert Kabbala entsprechend als “das vom Himmel Empfangene”. Sie ist Gabe Gottes und damit dem menschlichen Verstand nicht von sich aus zugänglich. Durch die Kabbala verkündet Gott die Wiederherstellung des gesamten menschlichen Geschlechts nach dem Sündenfall. Aus Adams Nachkommenschaft wird ein Gerechter und ein Mann des Friedens hervorgehen, ein himmlischer Adam, der mit Gott eins ist und dessen Name sowohl das Tetragramm IHWH als auch das Wort “in Gnade” enthält. Das “in Gnade” (berachmim) aber entspricht mit seinem Zahlenwert 300 dem hebr. Buchstaben Schin (ç), womit R. wieder beim “wundertätigen Wort” IHSWH angelangt war. Das Wirken des IHSWH, des Messias, der das von Gott gesandte Licht ist, erfolgt durch die Macht seines Namens. Mit Hilfe der Buchstaben dieses machtvollen Namens, die mit ihrer

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Energie den menschlichen Geist bewegen, kann sich der Kabbalist von der unteren zur oberen Welt und weiter zum Messias erheben, der das höchste Ziel der mens ist. Und durch den Messias geht er in den nicht begreifbaren Gott über. Unter Rückgriff auf Vorstellungen der Merkaba (s. Ez 1), aber auch auf die Lehre von der Coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues, entwickelt R. eine kabbalistische Kosmologie. In dieser Konzeption nimmt die ausgedehnte Welt, welche die Erde und den Himmel umfaßt, die unterste Stufe ein. Über die Erde gebietet die mens, über den Himmel Metathron. Umgeben ist die ausgedehnte Welt von der Welt der ersten Formen, dem Bereich der intelligiblen Wesen; diese wird von der Seele des Messias, der urbildhaften Idee aller Lebensformen, umfaßt und beherrscht. Über beide erhebt sich die dritte, ungeformte und übernatürliche Welt (supersupremus), welche allen Bestimmungen entzogen ist, die Welt des göttlichen Wesens, das als IHWH und als der Eine bzw. als der Urgrund des Einen umschrieben wird. Thema des zweiten Buches ist die Übereinstimmung zwischen Kabbala und Pythagoreismus (Pythagoreorum et Cabalistarum similis doctrina). R. führt zunächst den Nachweis, daß die pythagoreische Lehre historisch von der Kabbala abstammt; er stützt sich dabei vornehmlich auf Eusebios’ ‘Praeparatio evangelica’. Demnach hat Pythagoras die Kabbala, die er bei jüdischen Brahmanen und dem Syrer Pherekydes kennengelernt hatte, nach Griechenland gebracht und ihr dort den Namen ‘Philosophie’ gegeben. Der Ursprung der Philosophie liegt also nicht bei den Griechen, sondern bei den barbari. Nach der historischen Ableitung der pythagoreischen Philosophie von der Kabbala unternimmt R. einen systematischen Vergleich der beiden Lehren: Beide stützen sich auf eine Autorität: Der Berufung der pythagoreischen Schüler auf das ayœto¡w efa des Lehrers entspricht dem jymkh wrma der Kabbalisten. Bei beiden sind die Studien auf die Erlösung des Menschen ausgerichtet. Beide erkennen die Unsterblichkeit der Seele an und glauben an eine Wiederaufer-

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stehung. Das in Buch I entwickelte (kabbalistische) Modell der drei Welten findet R. im pythagoreischen Konzept der drei Sphären wieder. Und wie in ‘De verbo mirifico’ betont er die Übereinstimmung von Tetragramm und pythagoreischer Tetraktys. Im dritten Buch behandelt R. die Hauptinhalte der Kabbala und die zu ihr gehörenden Techniken. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht zunächst die Jakobsleiter (Gen 28), die von der Welt der Engel und intelligiblen Wesen auf die Erde herabreicht und auf welcher der Mensch zur Gottheit emporsteigen kann. Zu den Aufstiegswegen gehören die 50 Pforten der Erkenntnis, die Mose auf dem Berg Sinai offenbart wurden. Das Wissen um die 50 Pforten ⫺ es gibt fünf Klassen der erkennbaren Dinge, und jedes Ding ist auf zehn Arten zu erkennen ⫺ läßt sich mittels verschiedener allegorischer und mathematisch-esoterischer Techniken aus der Thora gewinnen. Nur auserwählte Menschen können die Pforten der Erkenntnis durchschreiten, aber auch ihnen bleibt die letzte Pforte, das Wesen Gottes, verschlossen; sie ist nur dem Messias zugänglich. Neben den 50 Pforten der Erkenntnis gibt es die 32 geheimen Pfade der Weisheit, auf denen der Mensch zum Ursprung des Lichts vordringen kann. Diese Pfade setzen sich aus den 22 Buchstaben des hebr. Alphabets und den 10 Sephirot zusammen. Helfer des Kabbalisten auf dem Weg durch die Pforten der Erkenntnis und auf den Pfaden der Weisheit sind die 72 Engel des göttlichen Namens, welche die Jakobsleiter hinabund hinaufsteigen; ihre Zahl entsteht durch die Zuordnung der 22 Buchstaben des hebr. Alphabets zu den 50 Pforten der Erkenntnis. Die Namen der Engel werden aus den drei Versen Ex 14,19⫺21 gebildet, die in der hebr. Bibel jeweils 72 Buchstaben zählen. Durch die Anrufung dieser Namen erhebt der Kabbalist seine Seele zu Gott. Im Anschluß kommt R. auf die zehn Sephirot zu sprechen, zunächst auf deren Darstellung in Form des Baumes und der Gliedmaßen des Menschen, dann auf die Bedeutung der einzelnen Sephira. Die ersten drei Sephirot interpretiert er als Ausdruck der Trinität (Keter als Vater, Chochma

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als Hl. Geist und Binah als Sohn), während er die übrigen sieben Sephirot als Typen der Schöpfung und des Heilsgeschehens auffaßt. Ausführlich behandelt R. die kabbalistischen Techniken der allegorischen Auslegung. Entsprechend der dreifachen Natur der Dinge (Zahl, Form, Gewicht) gibt es drei Methoden der Kabbala: die Gematria (Ersetzung eines Wortes durch ein anderes, dessen Buchstaben den gleichen Zahlenwert besitzen), das Notarikon (die einzelnen Buchstaben eines Wortes werden als Abkürzungen für andere Wörter verstanden) und die Temura (Umstellung der Buchstaben eines Wortes, so daß ein neues Wort entsteht). Die Grundlage der kabbalistischen Kunst sind die Buchstaben des hebr. Alphabets. Sie sind für R. wie die pythagoreischen Zahlen dynamische und kosmische Kräfte und Archetypen des Seins. So symbolisieren die Buchstaben a⫺y die Welt der Engel, die Buchstaben k⫺s die durch die Engel gelenkte Welt der Gestirne und Sphären und die Buchstaben [⫺t schließlich die Elementarwelt (das Zeichen des Menschen ist das t). Die Macht und Ordnung des Universums liegt in den Händen der Engel, die jedoch nur Ausführende des göttlichen Willens sind. Ihnen stehen die Dämonen gegenüber, die unter den Menschen Furcht erzeugen. Ihre Machenschaften aber können mit Hilfe der geheiligten Worte und Zeichen, welche den Kabbalisten bekannt sind, abgewehrt werden. Über allen Worten und Zeichen der Kabbalisten aber stehen das Wort und das Zeichen, in deren Besitz sich die Christen befinden: der Name IHSWH und das Kreuz. Einen mächtigeren Namen und ein mächtigeres Zeichen gibt es nicht. Drucke. Ioannis | Revchlin Phorcensis, LL. Doc. | De Arte Cabalistica Li-|bri tres Leoni | X. dicati. Hagenau: Th. Anshelm, 1517. VD 16, R 1235. Sechs weitere Drucke bis 1587 bei Benzing, Nr. 100⫺105. Ausgabe. Joh. Reuchlin, Sämtl. Werke, Bd. 2/ 1, hg. von W.-W. Ehlers, 2010. Literatur. Werkbibliographie: J. Benzing, Bibliographie d. Schriften J. R.s im 15. u. 16. Jh. (Bibliotheca Bibliographica 18), 1955. ⫺ Forschungsbericht: St. Rhein, Reuchliniana I⫺III, in: ND d. 1955 v. M. Krebs hg. Festgabe, 1994 (s. u.), S. 277⫺327.

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633

Reuter, Kilian

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Gerald Dˆrner

Reuter (Eques, Frangke, Reuther), Kilian (Chilian) I . L eb en . K. R. aus Mellrichstadt (Ufr.) absolvierte sein Studium bis zum Magistergrad

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an der Univ. Köln (aus Kölner Akten nicht belegt; vgl. Matr. Köln, Bd. 3, S. 75), offenbar ⫺ da er in Wittenberg als Thomist auftrat ⫺ in der Bursa Montana (Tewes). Als Kölner Magister wurde er gemeinsam mit seinem Freund Georgius J Sibutus im WS 1505/06 an der Univ. Wittenberg immatrikuliert und am 10. Febr. 1506 von der Artistenfakultät rezipiert (Kˆstlin, S. 23). Neben der Lehrtätigkeit bei den Artisten setzte R. sein Studium in der juristischen Fakultät fort. Christoph J Scheurls ‘Rotulus’ führt ihn 1507, nun iuris utriusque baccalaureus, als thomistischen Lektor für die ‘Summulae’ des D Petrus Hispanus (Friedensburg, S. 16); Andreas J Meinhardi erwähnt im ‘Dialogus illustrate urbis Aliborene’ (1508) neben der Lehrtätigkeit und dem juristischen Bakkalaureat seine carmina (Reinke, S. 104). R. bewegte sich im Kreis der jungen Wittenberger Magister um Richardus J Sbrulius. Er nahm 1506 in der Rolle der Caliope an der Darbietung von Sibutus’ Huldigungsspiel ‘Silvula in Albiorim illustrata’ teil; im Druck nennt das Huldigungsgedicht der Caliope R. als Autor (Bl. a ijr). Sibutus verfaßte 1507 über eine mißglückte Zeichnung R.s sein scherzhaftes ‘Carmen de musca Chilianea’, das Lucas Cranach d. Ä. mit einem Holzschnitt nach R.s Zeichnung illustrierte (Koepplin/ Falk, Abb. 118), und er richtete auch in seinem ‘Gaudium in studentibus’ (1507) ein Gedicht an ihn (Bl. [A5]r). R. stand ferner in Beziehungen zu Petrus Tomasi von Ravenna, Meinhardi und Andreas J Krapp, und er trug eine literarische Fehde mit dem Inhaber der Lektur für Rhetorik und Poetik, Balthasar Fabritius Phacchus, aus (s. u. II.5.). 1509 versah er das Dekanat der philosophischen Fakultät (Kˆstlin, S. 9) und wurde am 26. Febr. 1511 als Doctor in den Senat der Juristenfakultät aufgenommen (Halle, Univ.archiv, Wittenberg, Rep. 1,XXXXIII,1, S. 140; Mitt. v. R. Haasenbruch, Halle). Nähere Beziehungen zu seinem Landsmann Martin J Polich sind nicht nachweisbar; die an den gemeinsamen Herkunftsort geknüpften Vermutungen ⫺ R. verdanke Polich sein Wittenberger Lehramt, dieser habe ihn gar in den Celtis-Kreis

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Reuter, Kilian

eingeführt (Robertini, S. 209) ⫺ sind Spekulation. Vom SS 1513 an versah der Jurist R. während der Vakanz der Syndikatur des Allerheiligenstifts die Lektur über die ‘Institutiones Iustiniani’ (Friedensburg, S. 74 u. 77), bis Otto J Beckmann 1515 das Amt übernahm. R. starb kurz vor dem 18. Okt. 1516, wie ein Eintrag in der Wittenberger Matrikel festhält, der ihn nun iuris utriusque doctor nennt (C. Foerstemann, Album academiae Vitebergensis ab a. Ch. MDII usque ad a. MDCII, Bd. 1, Leipzig 1841, S. 63). Er hinterließ ein Legat für arme Studenten (vgl. Luther-Br., Nr. 37). I I. We rk . Die Heuristik zu R.s Schriften ist in den meisten Arbeiten mangelhaft. Obwohl Meinhardi bereits im ‘Dialogus’ (1507/08) R. als Poeten pries (hg. v. E. Reinke, 1976, S. 105), werden seine Leistungen als Schriftsteller gering eingeschätzt (Robertini). Die akademischen Reden (2. u. 3.) sind Gelegenheitsschriften; J Mutianus Rufus kritisierte eine ihm im Frühjahr 1508 übersandte Schrift ⫺ wahrscheinlich die ‘Comedia’ (1.) ⫺ vernichtend (vgl. MutianusBr., Nr. 66: [...] Chiliani opus, plenum erroribus, refertum vitiis, scatens barbarismis). 1. ‘Comedia gloriose parthenices et martiris Dorothee’. Legendendrama über die hl. Dorothea, inspiriert von der von J Celtis 1501 edierten und dem sächsischen Kf.en Friedrich d. Weisen gewidmeten Werkausgabe D Hrotsvits. Im einleitenden Widmungsbrief (o. D.) und einem panegyrischen Gedicht (50 Dist.) an Kf. Friedrich preist R. mit Bezug auf Celtis’ Apollo-Ode ⫺ die griechischen Musen seien bis an die Elbe gelangt ⫺ Friedrichs Förderung der Wissenschaft und Künste und bekennt offen die Unselbständigkeit seines Stücks (Titelbl.v: non ex mea sed aliorum sententia ferme cuncta emanauerunt). Im metrischen Prolog spricht R. die Mustergültigkeit von Hrotsvits stilus für seine comedia an ([A5]v). Das Drama selbst ist in fünf Akte ohne Szenen einge-

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teilt. Die Dialoge sind in Prosa verfaßt, nur Argumentum und Prolog in iambischen Trimetern. Die Forschung hat zahlreiche Entlehnungen aus Plautus’ ‘Amphitruo’, aber auch aus Apuleius’ ‘Metamorphosen’ festgestellt (Spengler, S. 125; Robertini); auch Hrotsvits Dramen, besonders ‘Dulcitius’ und ‘Sapientia’, werden benutzt. Einzelne Szenen sind regelrechte Montagen aus Hrotsvit und Plautus (Spengler, S. 128). Im vierten Akt (Bl. C i r⫺ijv) sind als Beschreibung des Himmels, den Dorothea vor der Hinrichtung schaut, 50 Hexameter aus Baptista Mantuanus’ ‘Parthenice secunda sive Cathariniana’ (Paris: Jean Petit [1502], Bl. LXXIII v⫺LXXIX r) inseriert, deren Herkunft durch die Überschrift Mantuanus angedeutet wird. Das “Legendendrama mit komödiantischen Einlagen aus der antiken Komödie und Übernahmen aus weiteren antiken und zeitgenössischen Texten” (Kipf, S. 49 f.) ist ein Anfängerwerk und repräsentiert in der Dramengeschichte “eine eigene Richtung [...], die später keine Vertreter mehr gefunden hat” (Spengler, S. 129), weist jedoch auf das katholische Märtyrerdrama der frühen Neuzeit voraus. Druck. Chiliani Equitis Mellerstatini | Comedia gloriose parthenices et | martiris Dorothee agoniam pas⫽|sionemque depingens. Leipzig: Wolfg. Stöckel, 1507. VD 16, R 1516.

2. ‘Oratio in vigilia diuae Catherinae’. 1508 hielt R. am Vorabend ihres Gedenktages (24. Nov.) die akademische Festrede auf die Patronin der Artistenfakultät. Die Oratio ist in zwei Teile gegliedert, Preis der Tugenden Katharinas einschließlich deren peripatetischer Definition und Vita der Heiligen. Ein Widmungsgedicht Otto J Beckmanns, ein längeres Epigramm und ein Einzeldistichon R.s leiten den Druck ein. Bezüge zu Baptista Mantuanus’ ‘Parthenice Cathariniana’ wären zu untersuchen. Drucke. Oratio […] | habita in Gymnasio Vittenburgensi | in vigilia diuae Catherinae parthenices | Anno 1508 […]. Wittenberg: Joh. Rhau-Grunenberg, 1509. VD 16, R 1518. Ein zweiter Druck ebd. 1510. VD 16, R 1519.

3. ‘Oratio de musicae laudibus’. Lobrede auf die Musik anläßlich der Magisterpromotion im WS 1510/11, am

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Reuter, Kilian

31. Dez. 1510 sechs Wittenberger Magistern, darunter einem Andreas Reuter, gewidmet. Die Musik ist für R. die wertvollste der disciplinae, da sie Elemente der Grammatik, Rhetorik und Poetik vereine. Zusätzlich besitze die virtus harmonica ([A6]v) politische, ethische und theologische Relevanz. Als Förderer der Musik preist R. u. a. Ks. Maximilian, besonders aber Kf. Friedrich, der die Wittenberger Schloßkirche mit einer unvergleichlichen Orgel ausgestattet habe ([A5]r). Angehängt sind ein Panegyricon de mirabilibus Musices von R. (85 Dist.), ein Carmen in laudem Musices von Sibutus, ein Gedicht an die Hofkapelle Ks. Maximilians von Heinrich J Bebel, von R. ein Epigramm an die kurfürstlichen cantores Conradus Rupitius, Erhardus Paulus und Johannes Coburgensis (7 Dist.), zwei Epigramme eines M. C., eine poetische Huldigung der Schloßkirche (19 Dist.) sowie ein In laudem Musices extempore des Tilmann J Conradi. Die Schrift und die Gedichte haben bisher allein wegen ihres Zeugniswerts für das Wittenberger Musikleben Beachtung gefunden (s. Schl¸ter). Druck. Elegans oratio de musice disci|pline laudibus habita in Acha|demia Albiorensi in promotione | Magistrorum. […] Wittenberg: Joh. Rhau-Grunenberg, 1510. VD 16, R 1517 (vorhanden in Cambridge, UL, Syn. 6.51.1). 4. Kleine Beiträge. Bereits 1507 empfahl R. den Wittenberger Druck des ‘Compendium iuris canonici’ des Petrus von Ravenna (1504, Ff iijr); vgl. Th. Muther, Aus d. Universitäts- u. Gelehrtenleben im Zeitalter d. Reformation, 1867, ND 1966, S. 97. Poetische Beiträge R.s finden sich in J Sibutus’ ‘Silvula in Albiorim illustratam’ (1506, a ijv: Panegiricum […] in recommendationem Georgij Sibuti poete laureati) und in dessen Turniergedicht (1511), ferner in Meinhardis ‘Dialogus’ (1508; bei Reinke, S. 83) sowie in Andreas J Krapps ‘Carmen de duobus amantibus’ (1508). Etliches trug er zur Gedichtsammlung in Dietrich Blocks Sammelhs. (Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56.8 Aug. fol., 80 r⫺108 v) bei, darunter Gedichte über Blocks Dienstmägde Gesa und Anna (94 r), über Blocks Gastfreundschaft (94 v) und ein Consolatorium an Sibutus, den procelloso vento distractum (90 r). 5. Ausgabe und Kommentar. Liber de anima Aristotelis [...] per | Ioannem Argiropilum [...] in | Romanum sermonem elegan-

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tissime tra⫽|ductus commentariolis diui Thome | Aquinatis iterum explosa barbarie casti⫽|gatis et reuisis iuxta ordinarium proce⫽|ssum [...] Achademie. | Wittenburgensis. Wittenberg: Joh. RhauGrunenberg, 1509. VD 16, A 3331. R. ließ die humanistische Übersetzung von ‘De anima’ des Argyropoulos (Erstdruck Venedig 1496 in den ‘Opera latina’, GW 2341) auf eigene Kosten für den Wittenberger Vorlesungsbetrieb (vgl. seine Vorrede an die Reformatoren der Universität) drucken. Er fügte einen ganz aus D Thomas von Aquin gezogenen Kommentar an, in dem er sich bemühte, die unklassische Fachterminologie möglichst zu vermeiden; vgl. Bauch, S. 323 f.; Tewes, S. 628. 6. Indirekt Bezeugtes. Bald nach seiner Ankunft in Wittenberg attackierte R. Balthasar Fabritius Phacchus, den Nachfolger des Hermann J Buschius auf der Wittenberger Poetiklektur, in Gedichten. Im Druck erschien nur dessen Verteidigungsschrift ([Wittenberg: Herm. Trebelius, 1505/06]; VD 16, F 493; s. Treu); sie enthält neben einem Brief des Fabritius an Hermann J Trebelius und dessen Antwort Epigrammata Phacchi in Rheuterum, eine Recriminatio Baltassaris Fabritii [...] in Chilianum Rheuterum und Annotationes Baltassaris Phacchi in Eundem aduersarium. Aus den ‘Annotationes’ (A iijv⫺[A6]r), in denen Fabritius grammatische und metrische Unzulänglichkeiten von R.s Carmina vorführt, läßt sich eine Vorstellung derselben gewinnen. In der ‘Recriminatio’ nennt er R. einen versificator, der den Titel eines vates nicht verdiene (A iijv). Eine direkte Überlieferung der Gedichte, die Fabritius in einer Hs. las (A iijv), ist nicht bekannt. Literatur. J. Kˆstlin, Die Baccalaurei u. Magistri d. Wittenberger Artistenfakultät, T. 1, 1887, S. 9, 23 f., 28; G. Bauch, Wittenberg u. d. Scholastik, NA f. sächs. Gesch. 18 (1897) 285⫺338, hier S. 313, 323 f.; F. Spengler, K. R. v. Melrichstadt [!], in: Forsch. z. neueren Litt.gesch. Fg. R. Heinzel, 1898, S. 123⫺129; W. Schacher, Das Dorotheenspiel, ZfdPh 35 (1903) 157⫺196, hier S. 159; W. Friedensburg, Ukb. d. Univ. Wittenberg, Bd. 1, 1926, S. 16, 74 u. 77; D. Koepplin / T. Falk, Lukas Cranach, 1974, Bd. 1, S. 214⫺217, 252, Bd. 2, S. 794 u. 796; E. C. Reinke (Hg.), The Dialogus of Andreas Meinhardi, Ann Arbor 1976, S. 83, 104, 195, 220; Martin Luther u. d. Reformation in Dtld., Kat. d. Ausstellung im GNM Nürnberg, 1983, S. 106, Nr. 110; F. Machilek, G. Sibutus Daripinus u. seine Bedeutung f. d. Humanismus in Böhmen, in: H.-B. Harder / H. Rothe (Hgg.), Stud. z. Humanismus in d. böhm. Ländern, 1988, S. 207⫺241, hier S. 222, 224 f.; M. Treu, Bathasar Fabritius Phacchus ⫺ Wittenberger Humanist u. Freund Ulrichs v. Hutten, in: ARG 80 (1989) 68⫺87, hier S. 70⫺77; G. Wolf, in: Killy,

639

Rhagius, Johannes

Lit.lex. 9, 1991, S. 406; L. Robertini, K. R., imitatore di Rosvita, in: Res publica litterarum 14 (1991) 209⫺215; G.-R. Tewes, Die Bursen d. Kölner Artisten-Fakultät bis z. Mitte d. 16. Jh.s, 1993, S. 619⫺624 u. ö. (Reg.); ders., Weisheit versus Wissen. Beobachtungen zur philosophischen Prägung dt. Humanisten, in: G. Huber-Rebenich / W. Ludwig (Hgg.), Humanismus in Erfurt, 2002, S. 55⫺90, hier S. 79 f.; J. K. Kipf, Der Beitrag einiger Poetae minores z. Entstehung d. neulat. Komödie im dt. Humanismus, in: R. F. Glei / R. Seidel (Hgg.), Das neulat. Drama d. Frühen Neuzeit, 2008, S. 31⫺57, hier S. 47⫺51; M. Schl¸ter, Musikgesch. Wittenbergs im 16. Jh., 2010, S. 165⫺171 u. ö.

J. Klaus Kipf

Reuter, Konrad J Reitter, Konrad Rhagius (eigentl. sorb. Ra[c]k ‘Krebs’), Johannes, aus Sommerfeld/Niederlausitz (daher auch: Aesticampianus, Lusatius) I . L eb en . Der um 1457 in Sommerfeld geborene R. kam erst spät zum Studium. Er ist erstmals am 19. Mai 1491 in der Krakauer Matrikel als Johannes Johannis de Zommerfelth dioc. Mysznensis bezeugt. In Krakau studierte er unter Konrad J Celtis, mit dem er freundschaftliche Kontakte knüpfte und später in Briefwechsel stand (s. u. II.F.). 1499 war er bei Celtis in Wien und unternahm von dort zusammen mit Vinzenz J Lang eine Italienreise. Nach Aufenthalten in Venedig, Padua und Ferrara hörte er in Bologna Philippus Beroaldus d. Ä. und Antonius Codrus, betrieb Studien zu Plautus und Plinius d. Ä. sowie zur griech. Sprache. Umgang hatte er hier u. a. mit Johannes Sturnus, Christoph J Scheurl, Thomas J Wolf d. J. (s. auch II.C.1. u. E.1.) und Albrecht von Ratsamhausen. In Rom traf er mit dem an der Kurie tätigen Jakob Aurelius J Questenberg zusammen. Nach der Rückkehr aus Italien führte er den Titel eines Poeta laureatus; vermutlich hatte ihm der Papst den Lorbeer verliehen; anscheinend aber ist er “noch einmal von Maximilian zum Dichter gekrönt worden” (Mertens, 1983,

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S. 155 f.); von beiden Krönungen spricht auch sein Epitaph (s. u.). R. machte Station in Basel, hielt sich in Straßburg bei Jakob J Wimpfeling und in dessen Kreis auf ⫺ er trug damals zu deren Invektiven gegen Thomas J Murner (s. II.C.1.) bei ⫺, wirkte dann von Ende 1501 bis 1506, berufen von Eb. Berthold von Henneberg, als erster Professor der Rhetorik und Moralphilosophie an der Univ. Mainz. Im Aug. 1502 lud ihn auf Celtis’ Empfehlung Johann von Dalberg nach Oppenheim ein, doch nahm R. eine ihm von Dalberg offenbar angebotene Stelle nicht an. Dietrich von Bülow (1460⫺1523), B. von Leubus, Mitbegründer, Kanzler und Konservator der 1506 eröffneten Univ. Frankfurt/O., berief R. 1506 dorthin als Professor für Rhetorik und Poetik; sein Famulus Heinrich Bruman und Johannes J Huttich folgten ihm. Zu seinem Frankfurter Schülerkreis zählten Ulrich von J Hutten, die Neffen Dietrichs von Bülow, Joachim von Bülow und Dietrich von Maltzan, und R. sorgte auch für die Ausbildung seiner verwaisten Neffen Georg und Johannes, die er bei sich aufgenommen hatte. Schon zum WS 1507/08 wechselte er indes, enttäuscht über die feste scholastische Formierung des Artesstudiums in Frankfurt, auf einen Lehrstuhl für Rhetorik in Leipzig. Über seine Leipziger Lehrtätigkeit, die ganz antiken Autoren und daneben Augustin und Hieronymus gewidmet war, berichtet er zusammenfassend in seiner ‘Oratio Lypsi habita coram universitate’ (s. II.D.). Zu seinem Schülerkreis gehörten u. a. Johannes Heß aus Nürnberg, Kaspar Velius Ursinus, Kaspar Borner, Johann Köchel, Veit Werler, Johann und Wolfgang von Vitzthum sowie die aus Frankfurt mitgezogenen Johannes Huttich, Christoph Jahn und Ulrich von Hutten; dieser trennte sich jedoch nach kurzer Zeit von ihm. War R.’ Abschied von Frankfurt/O. freiwillig gewesen, so traf ihn 1511 in Leipzig eine förmliche Vertreibung von der Universität. Durch seine humanistische und dabei unnachsichtig antischolastische Programmatik, die er auch in den Vorreden seiner Leipziger Textausgaben (s. u. II.A.4.⫺7.) formulierte, hatte er sich eine wachsende Gegnerschaft zugezogen, der mißgün-