Die Deutsche Geschichte. Band 4. 1945 - 2000 3828904130, 9783828904132

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Die Deutsche Geschichte. Band 4. 1945 - 2000
 3828904130, 9783828904132

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'E L T B IL D

DIE DEUTSCHE GESCHICHTE

DIE DEUTSCHE GESCHICHTE

DIE DEUTSCHE GESCHICHTE Band 4

I945-2000

WELTBILD

Impressum Die vorliegende Buchausgabe basiert auf dem Begleitmaterial zu einer Fernsehreihe zur deutschen Geschichte des Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Proske, die im Jahre 1989 bundesweit1ausgestrahlt wurde. Das offizielle Begleitmaterial zur Sendereihe wurde unter der Leitung Rüdiger Proskes sorgfältig zusammengestellt und mit zahlreichen interes­ santen Abbildungen und Zusatzinformationen attraktiv gestaltet. Die nunmehr vorliegende Ausgabe wurde um die neuesten Kapitel der deutschen Geschichte erweitert.

Mitarbeiter:

W ilhelma von Albert, Dr. Jochen Gaile, Mathias Forster, Anke Meyer, Josef Nyary, Dr. Joachim Rehork, Volker Schütte, Michael

Schulte, Ingrid Schulze-Bidlingmaier, Dr. Gerhard Steinborn, Guido Thiemeyer, Bettina von Wedel, Dr. Christian Zentner

Gestaltung:

Lutz Kober, St. Goarshausen

Organisation der Neuauflage: Einbandgestaltung:

Studio Höpfner-Thoma, München

Einbandmotive: AKG, Gesamtherstellung:

Michael Schmidt, Braunschweig

Berlin

Druckerei Appl, Wemding

Printed in Germany ISBN 3-8289-0413-0 Bildquellen: Archiv für Kunst und Geschichte l; 492 o.; 494; 496 o.; 497; 499 r.; 501 o.; 502; 503; 510 o.; 529; 650 r. *Archiv Verlag 498; 651 * Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz 489 o.; 499 l.;, m.,

m.

* Peter Blachian, München 506; 508; 509 o., u.; 510 u.; 512; 513; 514; 515;5 l 6; 517;

518; 519; 520 1. o„ r. o., u.; 521; 522; 523; 524; 525; 526; 527; 528; 530; 53 l ; 532; 533 o., u.; 534; 535 o., u.; 536 o., u.; 537 o., u.; 538; 540; 542; 543; 544; 545 o., u.; 546; 548; 549; 550; 55 l o., u.;552; 553 o.; 554; 555; 556; 557 o., u.; 560; 561; 562; 563; 564; 565; 566; 567; 568 o., u.; 570; 571 o., u.; 572; 573; 574; 575; 576; 577; 578 o., u.; 579; 583; 589; 591u.; 597 u.; 598; 599; 605; 609; 610; 613; 616; 617; 621; 622 * dpa, Frank­ furt a.M. 572; 580; 581; 582; 584; 585; 586; 587 o., u.; 590; 591 o.; 592; 593; 594; 595; 596; 597 o.; 600; 601; 602; 603; 604 o., u.; 606; 607; 608;

611; 612; 615; 618; 619; 626; 627 o., u.; 628; 629; 630 o., u.; 632; 633 o., u.; 634; 635; 636; 637; 638; 639; 640; 641; 650 1., m. *Lorenz Baader, München 614; 620; 624; 625 * Rüdiger Proske, Hamburg 507; 553 u. *TIME magazine, New York 623 * Ullstein Bilderdienst 489 u.; 490 o., u.;

492 u.; 493; 49 6 u.; 504; 511; 547; 569. Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg Copyright der aktualisierten Ausgabe © 2001 by Archiv Verlag GmbH, Braunschweig

2004 2003 2002 Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.

Inhalt Zeittafel

486

Vorwort

487

Das Ende des „Dritten Reiches"

488

Volk ohne Staat

494

Zwei Staatsgründungen auf deutschem Boden

505

Das deutsche „Wirtschaftswunder"

531

Die geteilte Nation

539

Mauer und Kathedrale

554

Aufbruch und Umbruch

580

Die

Ära Schmidt

599

Von der „Wende" bis zur Wiedervereinigung

612

Auf dem Weg zur inneren Einheit

626

Auf dem Weg in ein zusammenwachsendes Europa

634

Chronik Kultur und Sport 1945 - 2000

642

Register

652

Zeittafel 1945

(8. Mai) Die Kapitulation der Wehr-

1962

macht in Karlshorst (7. 5. in Reims) beendet die Kriegshandlungen in Europa;

(2. August) Potsdamer Abkommen 1946

1963

bleibt Kanzler;

(1. Dez.) Kiesinger Bundeskanzler einer

(September) Besuch des DDR-Staatsrats-

(1. Januar) Abkommen über die Bizone 1967

(20. Juni) Währungsreform;

(5. März) Gustav Heinemann (SPD) wird

„Montagsdemonstrationen" in

mit den Stimmen der FDP 3. Bundes-

mehreren Städten teil; Sturz Erich

präsident;

Honeckers;

den

1998

Euro-Währung wird vom Bundestag ver­

(14. Au�ust) Erste Bundestagswahl;

Brandt-Scheel

(22. Dezember) Das Brandenburger Tor

abschiedet und passiert ebenso den

(19. März) Erfurter Treffen

wird wieder geöffnet

Bundesrat;

1970

Stoph - Brandt;

1971

(9. Mai) Schumann-Plan für eine (2. Mai) Bundesrepublik Vollmitglied im Europarat

mente billigen Einigungsvertrag;

(3. Oktober) Die DDR tritt dem

(3. September) Viermächte-Abkommen

Geltungsbereich des Grundgesetzes nach

Berlin

vollendet;

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut

(19. November) Bei den Wahlen zum 7. Fraktion.;

(21. Dezember) Grundlagenvertrag mit

1953

(17. Juni) Volksaufstand in der DDR

der DDR unterzeichnet

1954

(Oktober) Pariser Verträge unterzeichnet

1955

(5. Mai) Deutschlandvertrag in Kraft;

Oktober Rückkehr der restlichen Kriegs-

(16. Mai) Helmut Schmidt neuer 1976

1992

8. Bundestag

rücken zur Bundeswehr ein;

höhe unter Druck. Zur Aufdeckung der

(17. Januar) Helmut Kohl wird zum

Sachverhalte wird ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingesetzt

1994

(11. Januar) Der Europäische Gerichts­ hof entscheidet, daß Frauen in der

sein soll

Bundeswehr �b 2001 auch Waffendienst

(27. April) Außenminister Hans-Dietrich Genscher kündigt nach 18 Dienstjahren

1993

2000

Sitz von Regierung und Parlament

seinen Rücktritt an.

(3. Oktober) Knapper Sieg der sozialliberalen Koalition bei den Wahlen zum

(1. Januar) Die ersten Freiwilligen

und Waffenhandels-Affare in Millionen­

daß die deutsche Hauptstadt Berlin

Bundeskanzler

(23. Oktober) Rückgliederung des

Kohl gerät wegen einer Parteispenden­

Bundestagswahl

vierten Mal zum Bundeskanzler gewählt;

(25. April) Verhaftung des DDR-Spions (6. Mai) Rücktritt Brandts als Kanzler;

(2. Dezember) Erste gesamtdeutsche

(20. Juni) Der Bundestag beschließt,

Guillaume;

gefangenen Saargebietes an die Bundesrepublik

1991

(18. September) BRD und DDR Mitgliedstaaten der UNO

(September) Adenauer in Moskau; ab

(19. April) Eröffnung des Reichstages in

Artikel 23 bei, die deutsche Einheit ist

(14. August) Lastenausgleichsgesetz;

1974

neuer Bundeskanzler

1999

(20. Oktober) Friedensnobelpreis für

politik

1973

Bundestagswahl; Gerhard Schröder wird

über Berlin; Willy Brandt

1972

(April) Das Gesetz zur Einführung der

(27. September) Die SPD gewinnt die

(20. September) Beide deutsche Paria-

(3. Mai) Honecker löst Ulbricht ab;

Bundestag wird die SPD stärkste

Aufhebung des Besatzungsstatuts

1990

(12. August) Moskauer Vertrag

( 10. März) Stalin-Note zur Deutschland-

leisten dürfeq .

(18. Januar) Wegen der CDU- Spenden­ affäre legt der jahrzehntelange Vor­ sitzende und Altbundeskanzler Helmut

(13. März) Die Regierungskoalition

Kohl den Ehrenvorsitz der Partei nieder.

verabschiedet gemeinsam mit der

(2. Februar) Die Transrapidstrecke

SPD-Opposition den „Solidarpakt

zwischen Hamburg und Berlin wird aus

zur Finanzierung der Deutschen Einheit"

Kostengründen nicht gebaut.

(16. Oktober) Bei den Wahlen zum deut-

(10. April) Mit Angela Merkel wird zum

sehen Bundestag gewinnen die

ersten Mal eine Frau zur Vorsitzenden

(September/Oktober) Entführung des

Koalitionsparteien die knappe Mehrheit

der CDU gewählt.

der DDR;

Arbeitgeber-Präsidenten Schleyer, der

von zehn Stimmen

(7. Juli) Allg. Wehrpflicht in der BRD

Lufthansa-Maschine „Landshut",

(18. Januar) „Nationale Volksarmee" in

1977

Erstürmung der Maschine in Moga-

(15. September) Wahlen zum

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

SPD (13. August) Mauerbau in Berlin

Innerdeutscher Gipfel zwischen Bundeskanzler Schmidt und dem DDR-

(EWG) in Kraft (November) Godesberger Programm der

Rahmen der NATO in Bosnien-Herzegowina

Raspe und Ermordung Schleyers

1981

Staatsratsvorsitzenden Honecker

1982

(1. Okt.) Helmut Kohl (CDU) wird durch konstruktives Misstrauensvotum zum 6. Bundeskanzler gewählt

(6. Dezember) Der Bundestag beschließt den Einsatz von deutschen Soldaten im

Freitod der Anarchisten Baader, Ensslin,

Absolute Mehrheit für die CDU/CSU

(1. Januar) Vertrag über die

1995

dischu,

3. Bundestag.

486

Anrainerstaaten Polen und Tschechien schwer in Mitleidenschaft gezogen wer­

nach Westberlin werden geöffnet;

Montanunion

1961

der Oder verhindert werden, während die

DDR-Bürgern nehmen an den

(9. November) Grenzübergänge von Ost-

(7. Oktober) Gründung der DDR

1959

eine größere Hochwasserkatastrophe an

regelung zu; Hunderttausende von

lag. Bildung der linksliberalen Koalition

Bundeskanzler;

1958

Bundeswehr und örtlichen Hilfsdiensten kann bei schweren Überschwemmungen

(28. September) Wahlen zum 6. Bundes-

präsident; Konrad Adenauer erster

1957

(Juli) Durch massiven Einsatz von

(Oktober) Nach Massenansturm auf

billigt das Grundgesetz;

republik; T heodor Heuss erster Bundes-

1956

zunehmend auch finanziell in die Kritik geraten;

(8. Mai) Der Parlamentarische Rat

(September) Konstituierung der Bundes-

1952

neben ökologischen Gesichtspunkten

schau stimmt DDR-Regierung Ausreise-

Ohnesorg. Beginn der Studentenunruhen

1969

(25. Januar) Bundestagswahl; Kohl

BRD-Botschaften in Prag und War-

(Apo).

(23. Juni) Beginn der Berliner Blockade

1951

1989

(2. Juni) Tod des Studenten Benno

(20. März) Ende der ViermächteVerwaltung (Kontrollrat);

(19. April) Tod Adenauers

(März) Die großen Polizeiaufgebote bei den „CASTOR"-Transporten lassen diese

vorsitzenden Erich Honecker in der BRD

großen Koalition. Brandt Außenminister

(ERP)

1950

der Arbeitslosen in Deutschland auf Rekordhöhe;

(15. Oktober) Adenauer tritt zurück.

1987

(28. Februar) Mit 4,67 Mio. ist die Zahl

CDU/CSU und FDP; Grüne erstmals im

Erhard Nachfolger

1966

1997

Bundestag

BRD;

(5.Juni) Marshallplan proklamiert

1949

(Juni) US-Präsident Kennedy in der

(6. März) Vorgezogene Bundestagswahl bestätigen die Regierungskoalition aus

(22. April) SED-Gründung in der SBZ;

in Kraft;

1948

1983

(13. Oktober) Erste NachkriegsLandtagswahl (in Hamburg)

1947

Regierungskrise aufgrund der SPIEGELAffäre

1996

(15. Juni) In einem historischen Einigungsprozeß zwischen Industrie und Regierung wird ein „Fahrplan zum Ausstieg aus der Atomkraft" beschlossen

(22. September) Die Bundesregierung

(5. Mai) Ein möglicher Weg zur Neu-

schnürt ein Paket zur Abfederung

ordnung der Länderstruktur in der

sozialer Härten wegen der hohen

Bundesrepublik scheitert nach dem Nein

Ölpreise.

der Volksabstimmung zur Fusion der

(3. Oktober) Mit einem Festakt in der

Länder in Berlin und Brandenburg;

Semperoper in Dresden begeht

Die deutschen Ladenschlusszeiten werden

Deutschland den zehnten Jahrestag der

gelockert

Einheit.

Vorwort

T

schows, seit 1985 Generalsekretär der

heodor Heuss, ein Kind des Kaiser­

Trotz dieser weltweiten Spaltung zwi­

reiches und Mann der Weimarer

schen Ost und West, die 1961 bis 1989 in

KPdSU und seit 1989 auch Staatsober­

Republik, der 1949 mit 65 Jahren

der

haupt der Sowjetunion, waren von ursäch­

Berliner

Mauer

ihren

sichtbaren

erster deutscher Bundespräsident wurde,

Ausdruck gefunden hat, sahen sich die

hat

beiden Führungsmächte Sowjetunion und

einmal

seine

Trauer

über

das

licher Bedeutung für diese Entwicklung.

Schicksal der Deutschen in den Gedanken

USA seit den sechziger Jahren zuneh­

Im Oktober 1989 gab Gorbatschow bei

gefaßt, daß mit dem Aufstieg und Fall des

mend zu einer Zusammenarbeit gezwun­

seinem Besuch anläßlich des 40. Jahres­

Dritten

deutschen

gen. Im Rahmen dieser größeren Ent­

tags der Gründung der DDR in Ost-Berlin

Teilung »die deutsche Geschichtsmelodie

spannungspolitik ist auch das Bemühen

mit den Worten »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« das Aufbruchsignal

Reiches

und

der

zerbrochen« sei. Nun, nachdem Deutsch­

von

land wiedervereinigt und souverän ist,

sehen, nach der Aussöhnung mit dem

Bundeskanzler

Willy

Brandt

zu

für die

hebt seine Geschichtsmelodie wieder an.

Westen auch den Brückenschlag

Demonstrationen von Hunderttausenden

Osten zu suchen. Historisch betrachtet

von Menschen, die von der SED über­

Nach der bedingungslosen Kapitulation

waren Brandts »Ostverträge« die notwen­

stürzt mit einem Wechsel der Führungs­ spitze und Zusagen für innere Reformen

zum

Opposition in der DDR.

Die

im Jahre 1945 wurde Deutschland in vier

dige Ergänzung zu Adenauers »Westver­

Besatzungszonen aufgeteilt. Die alliierten

trägen«. Beides zusammen erst rundete

beantwortet

Sieger übernahmen die Regierungsge­

das Bild Deutschlands nach 1945. Das

einer »friedlichen Revolution« aus; der

walt. W ährend man in den westlichen

Vertrauen des Auslands in den Friedens­

Ruf »Wir sind das Volk« fegte erst Erich

Besatzungszonen Schritt für Schritt die

willen der Deutschen wuchs. Das Nobel­

Honecker und seine Mafia hinweg, bald

politischen und organisatorischen Vor­

komitee in Oslo ehrte Willy Brandt dafür

auch den kraftlosen Nachfolger.

bereitungen zur Gründung der Bundes­

1971 mit dem Friedensnobelpreis.

wurden,

wuchsen sich zu

Beim Treffen Gorbatschows mit Bun­

republik Deutschland traf, wurde in der sowjetischen Zone unter Kontrolle der

Die Anerkennung der deutschen Zwei­

deskanzler

Sowjets

SED­

staatlichkeit im Grundlagenvertrag (1972)

Genscher im Kaukasus im Juli 1990 wur­ den die letzten außenpolitischen Hürden

von

den

ostdeutschen

Kohl

und

Außenminister

Funktionären Zug um Zug die Errichtung

bedeutete einen Abschied von Illusionen.

der Deutschen Demokratischen Republik

Damit war in der politischen Philosophie

auf dem Weg zur Wiedervereinigung

eingeleitet. Die Teilung der Welt in Ost

Brandts nicht die »Illusion« der Wieder­

Deutschlands genommen. Am 3. Oktober

und West ging mitten durch Deutschland.

vere1mgung Illusion,

gemeint,

sondern

die

die Wiedervereinigung durch

wurde

die

alte

DDR

in

Form

eines

Beitritts der neuen fünf Bundesländer, zurückgeführt auf die Form, die sie bis

Konrad Adenauer, der erste Kanzler der

Sprachlosigkeit

1949 gegründeten Bundesrepublik, suchte

erreichen.

die

die

Regime praktische, spürbare Erleichte­

Bundesrepublik,

Aussöhnung mit Frankreich. Im Rahmen

rungen für die Menschen im geteilten

Europäischen Gemeinschaft.

der NATO erklärte sich die Bundesre­

Deutschland

publik Deutschland auch bereit, mit eige­

abhandeln, um Begegnungen zu fördern

Dem vereinten Deutschland waren für die

nen Streitkräften für die Verteidigung des

und das Zusammengehörigkeitsgefühl der

letzten Jahre des 20. Jahrhunderts zwei

Westens einzutreten. Innenpolitisch fand

Deutschen

Adenauer in Ludwig Erhard den Mann

Nation zu wahren. Die Geschichte hat

inneren

einer erfolgreichen W irtschaftspolitik.

Brandts Konzept mit der Wiedervereini­

Deutschen in den alten und den neuen

Erhards soziale Marktwirtschaft führte

gung Deutschlands zwei Jahrzehnte nach

Bundesländern sowie die Erlernung des

zum

seinen ostpolitischen Vorstößen glanzvoll

richtigen Umgangs mit dem immensen

bestätigt.

Machtzuwachs, der gestiegenen europäi­

Zur Überraschung mancher Beobachter

tung, die Deutschland tragen muß, wenn

der«.

Freundschaft

Amerikas

vielgerühmten Mit

der

und

»Wirtschaftswun­

Gründung

der

EW G

und

Brandt

Abschottung

wollte

und im

dem

zu

SED­

Schritt zur Vereinigung Europas getan.

gehabt

hatten, der

ein NATO

Teil

der

und

der

geteilten Berlin

zu stärken - also, um die

Grundthemen vorgegeben: der Prozeß der W iedervereinigung

der

schen und weltpolitischen Verantwor­

(Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) im Jahre 1955 wurde der erste große

1952

setzte die Regierung Kohl/Genscher die

seine W iedervereinigung zugleich ein

Ost- und Deutschlandpolitik der Vor­

Kapitel in der Geschichte der Einigung

Als Gegenstück zur EWG organisierten

gängerregierungen Brandt/Scheel (1969 -

Europas sein soll. Denn jene Präambel

sich die

zum

1974) und Schmidt/Genscher (1974- 1982)

des Grundgesetzes, die die Deutschen von

COMECON. Von vornherein hatte die

nahtlos fort. Dabei entwickelte sich die

der Gründung der Bundesrepublik an zur

DDR keine andere Chance gehabt, als

weltpolitische »Großwetterlage« zuneh­

Einheit ermahnt hat und die nun erfüllte

sich den innen- und außenpolitischen

mend günstig. Der Abbau der Konfron­

Geschichte ist, enthält auch den Hinweis

W ünschen

Unter

tation zwischen den Supermächten USA

auf Europa:

Walter Ulbricht wurden Landwirtschaft,

und UdSSR und den beiden großen poli­

besondere Verpflichtung.

Staaten

des

Moskaus

Ostblocks

zu

fügen.

Handel und Industrie verstaatlicht. Die

tisch-militärischen Blöcken

DDR gliederte sich folgerichtig dem mili­

machte in den späten achtziger Jahren

Er bleibt den Deutschen

insgesamt

tärischen Bündnissystem des Warschauer

erstaunliche Fortschritte. Die bahnbre­

Pakts ein.

chenden Abrüstungsinitiativen Gorbat-

487

Um die Jahreswende 1942/43 hatten sich die Offensivkräfte der deutschen Armeen erschöpft. Doch Hitler war entschlossen, auch um den Preis der völligen Vernichtung Deutschlands, weiterzukämpfen. Das war in gewisser Weise eine Kriegserklärung gegen das „eigene Volk", dessen politische und moralische Kräfte zum Widerstand indes nicht völlig gebrochen werden konnten. Daraus erwuchs die moralische Kraft zur Fortsetzung der deutschen Geschichte nach 1945 ...

Das Ende des ,,Dritten Reiches''

1

m Spätsommer des Jahres 1942 hatte Hitler-Deutschland seine größte Ausdeh­ nung erreicht. Deutsche Truppen standen am Nordkap und entlang der Atlantikküste bis hinab zur spanischen Grenze, dazu in Finnland, auf dem gesamten Balkan und in Nordafrika, wo das Afrika-Korps des Gene­ rals Erwin Rommel (1891- 1944) die briti­ schen Truppen über die ägyptische Grenze bis nach EI Alamein zurückdrängen konnte. Im Osten hatte die Wehrmacht die Grenzen nach Asien überschritten, im Süden wehte die Hakenkreuzfahne auf dem Elbrus, dem höch­ sten Berg des Kaukasus. Und Einheiten der 6. Armee hatten die Wolga bei Stalingrad erreicht. Adolf Hitler (1889 - 1945) glaubte, der Krieg werde zu Ende sein, wenn er das sowjetische »Ruhrgebiet« erobert habe. So setzte er massierte Kräfte gegen die Indu­ striestadt Stalingrad ein, aber der deutsche Angriff blieb stecken. Die militärischen Kräf­ te des Deutschen Reiches hatten sich ver­ braucht, der Nachschub an Menschen und Material stockte, und im Herbst 1942 trat die Rote Armee mit frischen Divisionen aus der Kalmückensteppe heraus zum Angriffan. Am 22. November war die 6. Armee mit drei­ hunderttausend Mann eingekesselt. Ein Aus­ bruch wäre möglich gewesen, aber Hitler befahl Standhalten um jeden Preis. Das En­ de der 6. Armee dauerte quälend lange. Erst am 2. Februar 1943 kapitulierte Feldmarschall Friedrich Paulus (1890 - 1957). Nur einhun­ derttausend deutsche Soldaten traten den Weg aus der Hölle der Schlacht in das Inferno der sibirischen Gefangenenlager an. Ein zweites »Verdun« habe er verhindern wol­ len, sagte Hitler. In Wirklichkeit war Stalin­ grad etwas weitaus Schlimmeres als Verdun, 488

Im Anfang entschied die Stärke des Angreifers. Auf die Dauer gab das größere Reservoir den Ausschlag, das seit Herbst 1942, nicht zuletzt dank amerikanischer Hi(feleistungen, bei den Russen lag. Diese Hilfen hatte das Wehr­ wirtschaftsamt im OKW nicht einmal berücksichtigt, aber den­ noch Anfang Oktober 1941 fest­ gestellt, daß mit einem „Nieder­ bruch" der russischen Verteidi­ gungskraft erst nach dem Verlust des Industriegebietes im Ural ge­ rechnet werden könne. Hieran war jedoch niemals zu denken. Die Vereinigten Staaten lieferten vom Jahresende 1941 bis zum Frühjahr 1944 für etwa 10 Milli­ arden Dollar 15 Millionen Ton­ nen Rüstungsgüter an die Sowjet­ union, darunter fast 15 000 Flug­ zeuge, 13 000 Panzer, 427 000 Lastkraftwagen, Lokomotiven, Stahl und Leichtmetall; hinzu ka­ men englische Lieferungen. Der größte Teil erreichte die Sowjet­ union über die Häfen von Ar­ changelsk und Murmansk, die die deutsche Wehrmacht niemals unter ihre Kontrolle zu bringen vermochte. (Gerhard Schulz)

es war eine jähe Katastrophe, von der das Reich sich nicht mehr erholen sollte. Noch suchte das Regime, den Anfang vom Ende mit Pathos zu schönen: »In Stalingrad heftet die 6. Armee in heldenhaftem und auf­ opferndem Kampf gegen erdrückende Über­ macht unsterbliche Ehren an ihre Fahnen«, tönte der Wehrmachtsbericht. Doch die Wirk­ lichkeit sah anders aus: »Der Tod«, schrieb ein junger Soldat in seinem letzten Brief aus dem Kessel nach Hause, »mußte immer hero­ isch sein, begeisternd, mitreißend für eine große Sache und aus Überzeugung. Und was ist er in Wirklichkeit hier? Ein Verrecken, Ver­ hungern, Erfrieren, nichts weiter als eine bio­ logische Tatsache wie Essen und Trinken. Sie fallen wie die Fliegen, und keiner kümmert sich darum und begräbt sie.« Seit der Jahreswende 1942/43 war die Kriegs­ führung des Deutschen Reichs auf die Defensive beschränkt. Tatsächlich aber war die Wende im Krieg bereits im Dezember 1941 eingetreten, als sich die deutschen Ar­ meen vor Moskau festgerannt hatten. Doch war das den Miterlebenden nicht so klar ge­ wesen. Seit der Kapitulation der 6. deutschen Armee in Stalingrad aber wurde es auch der deutschen Bevölkerung allmählich klar, daß der Sieg vertan war, und von nun an reihte sich Niederlage an Niederlage. Das Konzept einer »Festung Europa«, das die deutsche Führung nun kreierte, kam viel zu spät, wenn es denn jemals Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Die nationalsozialistische Europa-Pro­ paganda suchte jetztFreiwilligenverbände aus allen Teilen des Kontinents für den Kampf gegen die Sowjetunion zu gewinnen, aber ohne großen Erfolg. Den V ölkern Europas, auch und gerade den nichtrussischen V ölkern der Sowjetunion, die anfangs auf ihre Be­ freiung durch die deutschen Truppen gehofft

Grauen des Krieges. Auf breiter Front setzte die russische Armee seit Frühjahr 1943 zur Gegenoffensive an. - Unser Bild vermittelt das Elend, das der Eroberer nach dem erzwungenen Rückzug von der Krim zurückgelassen hatte.

hatten, war längst klargeworden, daß die neu­ en Herren nicht weniger grausam herrschten als Josef Stalins (1879 - 1953) Schergen. Auch im Koalitionskrieg scheiterte das deut­ sche Heer: Die Verbündeten des Dritten Reichs fielen nach und nach von der Vormacht ab, traten aus dem von Hitler geführten Krieg aus oder gingen zum Gegner über. So war Hitler gezwungen, seine Herrschaft auf noch weitere Territorien auszudehnen, so im Sep­ tember 1943 auf Italien oder im März 1944 auf Ungarn. Und die »Festung Europa« besaß kein schüt­ zendes Dach. Seit 1942 hatten die Briten mit der Flächenbombardierung von Städten und

Insgesamt kamen bei den Luftangriffen auf

Konferenzen das Konzept für die Nach­

Industrieanlagen begonnen. Ein Jahr später

Deutschland ungefähr eine halbe Million

kriegsordnung Europas heraus. Im Januar

besaßen die Anglo-Amerikaner die Luft­

Zivilisten ums Leben, rund vier Millionen

1943 einigten sich der amerikanische Präsi­

herrschaft über Deutschland. Seit der Zer­

Wohnungen wurden zerstört, die Bevölke­

dent Franklin D. Roosevelt ( 1882 - 1945)

störung von Rostock im April 1942 sprach

rung der großen Städte wurde evakuiert. Das

und der britische Premierminister Winston

die deutsche Propaganda von »Terrorangrif­

Gesicht des deutschen Alltags änderte sich

Churchill (1874 - 1965) in Casablanca auf

fen«, was die Absicht der anglo-amerikani­

völlig.

die Formel der »bedingungslosen Kapitula­

gab, denn mit diesen Angriffen sollte die

Was wollten die Alliierten? W ährend Bom­

liierten den Krieg nach Deutschland hinein­ tragen und sich selbst dort festsetzen. Nie

schen Luftkriegsstrategen treffend wieder­

tion« Deutschlands. Diesmal wollten die Al­

Moral der deutschen Bevölkerung untergra­

berflotten Deutschland in Schutt und Asche

ben werden. Das gelang allenfalls begrenzt,

legten und damit, wenn auch über alle Pro­

wieder sollte der Frieden von der Mitte Eu­

doch die materielle Wirkung des Bomben­

portionen hinaus, zurückzahlten, was die deut­

ropas aus bedroht werden können. Freilich

kriegs war verheerend. Der Höhepunkt des

schen Bomber während des Westfeldzugs und

haben die Alliierten durch ihre frühe Festle­

Grauens war am 13./14. Februar 1945 er­

der »Luftschlacht um England« begangen

gung indirekt das Konzept Hitler-Deutsch­

reicht, als britische und amerikanische

hatten, schälte sich in einer Folge alliierter

lands gestärkt, den »totalen Krieg« zu führen.

Bomberflotten das von Flüchtlingen über­ quellende Dresden angriffen. Stalin hatte um die Bombardierung gebeten, weil sich in der Stadt angeblich deutsche Truppen auf dem Weg zur Ostfront befanden. Nachdem drei Stunden lang Phosphorkanister und Sprengbomben auf die Stadt geregnet waren, waren mehr als hunderttausend Menschen tot, verbrannt, erstickt, zerrissen. Unter den Toten waren nur ungefähr zwanzig Soldaten.

'' Stalingrad machte die Wende des Krieges sichtbar... '' Stalingrad. Die 6. deutsche Armee mußte am 2. Februar des Jahres 1943 kapitulieren. 100 000 Soldaten kamen in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

489

Konferenz von Jalta. Vom 4. -11. Februar des Jahres 1945 kamen in der sowj etischen Stadt Jalta die Vertreter der Alliierten zu einer Gipfelkonferenz zusammen. Ihr Ziel war es, die politischen und militärischen Maßnahmen angesichts des bevorstehenden Kriegsendes zu vereinbaren. So beschlossen die Konferenzpartner unter anderem, das deut­ sche Gebiet in vier Besatzungszonen aufzu­ teilen. Das Bild zeigt von links: Churchill, Roosevelt und Stalin.

''Die Alliierten bespra­ chen die Grundzüge einer Nachkriegspolitik... '' wenn ich ihm nun alles gebe, was in meiner Macht steht, und keine Gegenleistung verlan­ ge, dann wird er sich- noblesse oblige-nichts einzuverleiben versuchen und für eine Welt der Demokratie und des Friedens arbeiten.« Tm November 1943 folgte die Konferenz der

legt. Teheran war die Zeit des sowjetisch­

Im Februar 1945 schließlich einigten sich die

»Großen drei«, neben Roosevelt und Churchill

amerikanischen Frühlings. Roosevelt hoffte,

Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition in

auch Stalin, in Teheran. Man beschloß

nach gewonnenem Krieg die amerikanischen

Jalta auch öffentlich auf die Zerstückelung

zugunsten der Sowjetunion die Westver­

Truppen wieder nach Hause bringen zu

des Reichs, die Aufteilung des Sonderterri­

schiebung Polens bis an die Oder und schlug

können, und war voller Illusionen über die

toriums Groß-Berlin und die Zulassung Frank­

das nördliche Ostpreußen der Sowjetunion

sowjetischen Ziele: »Mir ist so«, vertraute er

reichs als vierte Besatzungsmacht. So waren

zu, und wenige Wochen darauf wurden die

dem amerikanischen Botschafter in Moskau

die Umrisse der europäischen Nachkriegs­

Demarkationslinien zwischen den künftigen

an, »als ob Stalin nichts anderes wünscht als

ordnung im wesentlichen abgesteckt. Der Weg

Besatzungsgebieten in Deutschland festge-

Sicherheit für sein Land, und ich sage mir,

bis dahin war ständig von tiefgreifenden Zer­ würfnissen zwischen den Westmächten und

Der totale Krieg Nach der Niederlage von Stalingrad schwand in der Bevölkerung zunehmend die Bereitschaft zum Kult um die Person Hitlers und das blin­ de Vertrauen in einen Sieg. Goebbels inszenierte für die Öffentlichkeit nun ein neues Bild des Führers. Der immer seltener in den Medien auf­ tretende Hitler wurde durch geschickte Propaganda zum aufopfernden und einsamen „Führer des Volkes" stilisiert. Am 18. Februar des Jahres 1943 hielt Goebbels in seiner Funktion als Reichspropa­ gandaminister seine berühmt­ berüchtigte Rede im „Berliner Sportpalast". Sie wurde im Rundfunk übertragen und ein Film über dieses genau ge­ plante Spektakel gedreht.Vor ausgewählter Zuschauer­ menge hielt er jene Rede, die als Proklamation des „Totalen Krieges" in die Geschichte ein­ gegangen ist. Dem frenetisch

490

jubelnden Publikum stellte Go­ ebbels zehn Fragen: „Er­ stens... ich frage Euch: Glaubt Ihr mitdem Führer und mit uns an den endgültigen totalen Sieg des deutschen Volkes? Ich frage Euch: Seid Ihr ent­ schlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Auf­ nahme auch der schwersten persönlichen Belastung zu folgen? Zweitens: Ich frage

Joseph Goebbels

Euch: Seid Ihr bereit, dem Führer als Phalanx der Hei­ mat hinter der kämpfenden Wehrmacht stehend, diesen Kampf mit wilder Entschlos­ senheit und unbeirrt durch alle Schicksalsfügungen fort­ zusetzen, bis der Sieg in un­ seren Händen ist? Drittens: ...Ich frage Euch: Seid Ihr und ist das deutsche Volk ent­ schlossen, wenn der Führer es befiehlt, zehn, zwölf und wenn nötig vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte herzugeben für den Sieg?" Und die vierte Fra­ ge lautete: „Wollt Ihr den tota­ len Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?" Sinn dieser demagogischen Mas­ senveranstaltung war es zum einen, den Alliierten die Kampf­ bereitschaft des deutschen Volkes zu zeigen, und zum an­ deren, der deutschen Bevöl­ kerung selbst Durchhaltever­ mögen einzuimpfen.

der Sowjetunion gefährdet gewesen, aber die deutsche Gefahr veranlaßte die Westalliier­ ten immer wieder, dem sowjetischen Dikta­ tor um des gemeinsamen Sieges willen Zu­ geständnisse zu machen. »Was wäre gesche­ hen«, schrieb später Churchill, »wenn wiruns mit den Russen überworfen hätten, als die Deutschen noch zwei- bis dreihundert Divi­ sionen an den Fronten stehen hatten?« Zu­ dem spukte in den Hinterköpfen der westli­ chen Politiker immer noch die alte, historisch begründete Gefahr einer Übereinkunft zwi­ schen Rußland und Deutschland, die ja am Vorabend des Krieges durch das Hitler­ Stalin-Abkommen einiges an Evidenz ge­ wonnen hatte. Mit Hitlers W ünschen hatten solche Befürchtungen allerdings wenig zu tun - der Diktator hoffte zwar auf den Zerfall der gegnerischen Koalition, doch bis in die letzten Tage vor seinem Selbstmord im Berliner »Führerbunkern klammerte er sich an die lllusion, gemeinsam mit Groß­ britannien die Sowjetunion niederwerfen zu können. Im Reich nahm der Druck des Regimes in dem gleichen Maße zu, in dem sich die

militärischen Niederlagen häuften. Um der Niedergeschlagenheit entgegenzuwirken, die sich in der deutschen Bevölkerung nach der Niederlage von Stalingrad ausbreitete, such­ te Joseph Goebbels (1897 - 1945) mit seiner Sportpalast-Rede vom 18. Februar 1943 den Fanatismus und Durchhaltewillen der Be­ völkerung mit einer Rede anzuheizen. Sie gipfelte in den Worten: »Wollt Ihr den tota­ len Krieg?«, was die Versammlung mit frenetischem Jubel quittierte. »Die Narren«, sagte Goebbels danach voller Verachtung, »sie hätten sich auch vom Fenster herabge­ stürzt, wenn ich es ihnen befohlen hätte.« Nicht nur die Propaganda, auch der Terror wurde verschärft:Die »Aktion Gewittern vom

22. August 1944 beispielsweise richtete sich gegen rund 5 000 ehemalige Politiker und po1itische Beamte der Weimarer Republik, unter ihnen beispielsweise Konrad Adenauer

( 1876 - 1967) und Kurt Schumacher ( 1895 1952), die verhaftet und in Konzentrations­ lager eingeliefert wurden. Mit der Einführung von »NS-Führungsoffizieren«, einer Kopie der Politkommissare der Roten Armee, wur­ den die letzten innenpolitischen Reservate in der Wehrmacht beseitigt. Indem die Gaulei­ ter zu Reichsverteidigungskommissaren er­ nannt wurden, kam der Vorrang der Partei vor der Wehrmacht auch nach außen hin zur Geltung. Im September 1944 kulminierte die Entwicklung zum »totalen Krieg« in der Bildung des »Deutschen Volkssturms«, zu

In Perspektive gerückt... „Es begannen furchtbare Ta­ ge. Es war ein blutiger Kampf, von vornherein entschieden, aber ein Kampf. Wir standen zwar mit dem arischen Stadt­ teil in Verbindung, aber wie sollte man es bewerkstelli­ gen, daß es uns nicht an Waffen fehlte? ... In der zweiten Kampfwoche nahmen wir die Lesznostraße ganz ein, verdrängten die Deutschen von der anderen Straßenseite und eroberten Waffen und Uniformen. Es brannte. Wir hatten alle La­ ger im Ghetto in der Gewalt, samt Kleidung, Maschinen und Zubehörteilen. Immer mehr deutsche Abteilungen wurden an unsere Front ge­ schickt, aber wir waren be­

ließen nicht einen Augenblick im Kampf nach. Durch die ganze Welt ging das Echo: Das Warschauer Ghetto kämpft schon zwei Monate, und die Deutschen verlieren, ohne Erfolg zu haben, Waf­ fen, Panzer und Menschen; eine Schande ... und da ent­ schlossen sichdie Deutschen, mit uns auf eine andere Weise Schluß zu machen... Warum sollten sie kämpfen, da sie uns verbrennen konn­ ten! Ein schrecklicker, schrecklicher Gedanke, aber eine noch schrecklichere Verwirklichung. Wir hatten kein Wasser. Haus um Haus, Straße um Straße wurden von Flammen ergriffen. Feuer!!! Die Menschen erstickten,

Weise dennoch ein gewisser Prozentsatz von Juden dem Tode entrann? Man floh aus den in voller Fahrt dahinei­ lenden Zügen, obwohl sie unter Bewachung fuhren und die bei jedem Wagen ste­ henden Litauer ohne Unter­ brechungschossen.Man floh durch unterirdische Gänge und über Mauern, die immer von SS-Männern bewacht waren, durch Kanäle voll übel­ riechender Abwässer, die schwarz waren wie die Nacht, durch Kanalisationen, in denen man womöglich drei Tage lang umherirrte und dann halb tot, halb erstickt wieder dorthin geriet, wo man eingestiegen war oder in der Stadt herauskam und sich

festigt, wir hatten Kraft, wir waren verbissen und hatten nur den einen Gedanken: Wir müssen uns rächen!... Zwei Monate währte der Kampf gegen einen starken Feind, gegen immer neue Abteilun­ gen. Wir waren ohne Wasser und ohne Licht, denn die Deutschen hatten die Lei­ tungen durchgeschnitten; die Waffenlieferung war sehr un­ zureichend; man hatte einen der Laufgräben im Bezirk Prezbieg entdeckt. Das war ein großes Unglück, aber wir

aber sie kämpften noch, die Menschen brannten, aber sie verteidigten sich noch. Mau­ ern stürzten ein. Mochte ei­ nen die Mauer begraben, wenn man nur nicht gefan­ gen wurde! Die Ausbeute an Lebenden war kläglich -aber trotz allem gelang es den Deutschen, einen Teil der Menschen abzutransportie­ ren und die leergewordenen Plätze in Treblinka, Majdanek, Poniatow und Trawniki zu füllen. Ihr werdet fragen, auf welche

Auge in Auge mit dem Fein­ de sah. Dies waren die Flucht­ möglichkeiten für wenige. Ich würde sagen, dass sich auf diese Weise etwa ein Prozent Juden retten konnte. Nun war alles aus. Die letz­ ten Flammen waren erlo­ schen. Der Wind hatte die letzten Rauchschwaden ver­ weht. Die Ruinen zeigten, wo das Warschauer Ghetto ge­ standen hatte... (Bericht von Noemi Szac­ Wajnkranc aus dem War­ schauer Ghetto, April 1943) "

dem alle waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren aufgerufen wurden. der militaristischen Gleichschaltung der Men­

Und dennoch fühlte sich das Regime auch

Zugleich verstärkte sich der totalitäre Zugriff

schen fanden allenthalben, in Behörden, Schu­

von innen bedroht. Gewiß hat es nie einen

des Staats. Nach dem W illen Hitlers und

len, Betrieben, »Appelle« statt, auf daß das

einheitlichen, geschlossenen Widerstand ge­

seiner Partei wurde das Volk vollständig nach

ganze Volk den rechten Schritt und Tritt er­

gen die Herrschaft des Nationalsozialismus

militaristischen Grundsätzen organisiert, es

lerne. Im Originalton Goebbels hieß das:» Im

in Deutschland gegeben. Nicht zuletzt des­

wurde gewissermaßen als Ganzes aus dem

neuen Deutschland kenn en wir nur eine

halb bleibt es schwierig, aus der Rückschau

verachteten Stand des Zivils zum Soldati­

Marschordnung, die Marschordnung Adolf

zu bestimmen, was »Widerstand« damals

schen befördert. Wer eine öffentliche T ätig­

Hitlers. Die Kompanie heißt Deutschland!«

war, wo er begann und in welchen Formen

keit ausübte, trug selbstverständlich Uniform,

er sich vollzog. Die Übergänge zwischen

und wenn seine Arbeit auch noch so bürger­

Das totale politische Soldatentum sollte nach

lich erschien. Im Kleiderschrank eines Be­

dem Willen des »Führers« zur Lebensform

ler Gesinnung, aktivem Widerstand und

amten hingen neben dessen Dienstuniform

aller Deutschen werden. In diesem militari­

direkter Verschwörung zum Sturz Hitlers waren gleitend. Nichtjedermann, der die Mit­

privatem Nonkonformismus, oppositionel­

noch die Uniformen, die er beispielsweise als

stischen Führerstaat verschmolz altpreußi­

SA-Mitglied, als Mitglied der Unterorgani­

sches Soldatenerbe und deutsch-romantisches

gliedschaft in der Partei ablehnte, zählte zum

sation der Partei sowie beispielsweise als Re­

Nationalbewußtsein zum Zerrbild eines tota­

Widerstand, während manche Parteimitglie­

serveoffizier besaß. Juristen wurden im offi­

litären Terrorregimes. »Innere Wehrhaftig­

der zur Opposition fanden, wenn sie nicht

ziellen Propaganda-Jargon zu »Offizieren des

keit« mit Terror und Konzentrationslagern

sogar aus diesem Grund der Partei beigetre­

Rechts« gemacht. Gelehrte wurden »Solda­

und »äußere Wehrhaftigkeit« mit dem Vor­

ten waren. Mit einfachen Schwarz-Weiß­

ten der Wissenschaft«, und kein Bereich, von

satz zum Angriffskrieg gleichzusetzen, das

Maßstäben kann das Verhalten der Menschen

der Universität über die Redaktionsstube bis

war die paranoide Zerrmaske des soldatischen

unter den Bedingungen der Diktatur selten

zum Kaninchenzüchterverein, entzog sich den

Preußen und des nationalen Deutschland, strikt

gemessen werden. Widerstandsgruppen gab

Grundsätzen von »Befehl und Gehorsam«

ausgerichtet auf die Person des »Führers«,

es, so viel ist jedenfalls sicher, in allen Klas­

im Namen des Führerprinzips. Im Zeichen

des vollkommenen Übermilitaristen.

sen und Schichten des deutschen Volkes.

491

20. Juli 1944. Von vornherein im aktiven Kampf gegen das

Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg verübte am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler. Er gehörte dem Widerstandskreis um den Generaloberst a.D. Ludwig Beck, dem Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben und dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler an.

Regime standen die Kommunisten, die ihre Tätigkeit allerdings vorübergehend in der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts eingestellt hatten. Zu ihren namhaften Parteigängern gehörte die »Rote Kapelle« um den Oberregierungsrat Arndt Harnack und den Oberleutnant Harro Schulze-Boysen. Beide wurden nach ihrer Enttarnung im August 1942 hingerichtet. Der sozialdemokratische W iderstand war, ent­ sprechend der SPD-Organisation in den

terstützung rechnen konnte. Entscheidend für

Jahren des Exils, zersplittert und daher ins­

die heutige Beurteilung ist jedoch nicht ihr

gesamt weniger effektiv. Namen wie Julius

politisches Programm, sondern die Bereit­

Leber (1891 - 1945) und Adolf Reichwein

schaft, für das Eintreten gegen Hitler und des-

(1898 - 1944) stehen für viele andere, die im

sen Regime jedes Opfer zu bringen, und dies

Kampf gegen die Diktatur ihr Leben aufs Spiel

nicht in erster Linie aus Zweckmäßigkeits­

setzten und verloren.

überlegungen, sondern aus ethischen Motiven.

Es liegt jedoch in der Natur totalitärer Regi­

Daß der minutiös geplante Putschversuch vom

me, daß sie nicht aus der Bevölkerung, son­

20. Juli 1944 scheiterte, lag teils an der Un­

dern stets nur aus dem Machtapparat selbst

gunst der Umstände, teils aber auch an der

heraus zu erschüttern sind. Führende Beam­

Pläne dieser Gruppen für die Zukunft

Natur der Verschwörer. Als der Oberst Claus

te und Militärs, meist auf der Grundlage kon­

Deutschlands erscheinen manchem nachträg­

Schenk Graf von Stauffenberg ( 1907 - 1944)

servativer Staatsethik und christlicher Moral,

lichen Betrachter im Licht der Grundwerte

im ostpreußischen »Führerhauptquartier«, der

fanden sich um den ehemaligen Leipziger

des Bonner Grundgesetzes als restaurativ,

»Wolfsschanze«, die Aktentasche mit der dar­

Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler

wenn nicht reaktionär. Sie standen eher in den

in befindlichen Bombe an den Tisch stellte,

(1884 - 1945), den Botschafter Ulrich von

Traditionen des Bismarck-Staates als der

neben dem Hitler stand, konnte er nicht vor­

HasseII ( 1881 - 1944) und den ehemaligen

Weimarer Demokratie, und da dies auch für

aussehen, daß ein General etwas später die

Stabschef des Heeres, Ludwig Beck (1880 -

ihre außenpolitischen Ziele galt, erschien sie

Tasche, weil sie im Wege war, in eine ande­

1944), zusammen. Zu dieser Gruppe stießen

den Alliierten kaum weniger gefährlich als

re Ecke stellen würde. Da erst detonierte die

auch Vertreter des christlich-sozialistischen

das herrschende Regime in Deutschland-ge­

Höllenmaschine, es gab Tote und Verletzte,

Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf

wiß ein problematisches Mißverständnis. Es

aber Hitler entkam.

von Moltke ( 1907 - 1945) und Peter Graf

führte dazu, daß die einzige handlungsfähi­

Yorck von Wartenburg (1904 -1944). Die

ge deutsche Opposition nicht auf alliierte Un-

In der Reichshauptstadt lief zunächst alles wie geplant, es gingen Telegramme an die Ober­ befehlshaber hinaus, Hitler sei tot, der Um­ sturz gelungen, die Wehrmacht den Verschwörern unterstellt. Die putschenden Ge­ neralstäbler handelten generalstabsmäßig, und das war ihr Verderben. Sie glaubten, man brau­ che nur zu befehlen, und alles werde gehor­ chen. Sie vergaßen, daß der Keil, den der Na­ tionalsozialismus in das Offizierskorps ge­ trieben hatte, bereits tief eingedrungen war. Der Kommandeur des Berliner Wachregiments, ein Major Remer, ließ das Unternehmen auf­ fliegen. Er erhielt den Befehl, Propaganda­ minister Goebbels festzunehmen, fühlte sich Goebbels aber eher zugetan als den Putschi­ sten und fragte ihn daher erst einmal um Rat.

Invasion. Am 6. Juni des Jahres 1944 begann in der Normandie die großangelegte Invasion der alliierten Truppen. 5134 Schiffe landeten an der Nordküste Frankreichs mit rund 850 000 Soldaten und 148 800 Fahrzeugen.

492

Wären die Putschisten, Offiziere wie Beck

Das mllltärlsche Ende. Nach 16tägigem Kampf um die Reichshauptstadt fiel Berlin am 2. Ma i 1945 endgültig in die Hände der Roten Armee.

und Erwin von Witzleben (1881- 1944), Graf Stauffenberg oder Henning von Tresckow (1901 - 1944), wirkliche Revolutionäre ge­ wesen, dann hätten sie Major Remer einen eingeweihten Offizier mitgegeben, der ihn im Falle des Versagens ausgeschaltet hätte. So

''Dem »totalen Krieg« folgte die »totale Niederlage«, die keinen Raum zur Legendenbildung ließ... ''

konnte Remer jedoch Goebbels alarmieren, der rief in der Wolfsschanze an und bekam die Antwort, dem Führer« sei am Leben. Auch hier wieder das konspirative Versagen der Ver­ schwörer: Ein Feldwebel mit einer Kneif­ zange hätte genügt, die Verbindung mit dem Führerhauptquartier durchzuknipsen. Ohne einen lebenden Hitler wären dessen Paladi­ ne in Berlin eingeknickt wie Streichhölzer. Der Gegenschlag des Regimes war furchtbar. Nicht nur die Verschwörer, auch ihre An­ gehörigen zahlten einen hohen Blutzoll. Sie wurden mit bösartiger Wut verfolgt und in ausgeklügelt viehischer Manier liquidiert.

ber 1918 die Erkenntnis der Niederlage ak­

sten Weiterleben braucht, Rücksicht zu neh­

Nur das nahe Kriegsende verhinderte, daß

zeptiert und so die staatliche und territoriale

men.«

mehr als 160 der unmittelbar Beteiligten ster­

Substanz des Reichs bewahrt hatte, war Hit­

ben mußten. Es waren preußische Konserva­

ler entschlossen, auch um den Preis der völ­

W ährend im Westen der Einsatz der »Wun­

tive gewesen, die einst Hitler zur Macht ver­

ligen Vernichtung Deutschlands weiterzu­

derwaffen« V 1 und V 2 nochmals nebelhaf­

holten hatten. Jetzt waren es wieder Angehörige

kämpfen - seinem Lieblingsbaumeister und

te Siegesillusionen hervorrief und im Osten

dieser Schicht, die den Versuch unternahmen,

Rüstungsminister Albert Speer (1905-1981)

die russische Kriegsmaschinerie das ausge­

den furchtbaren Fehler ihrer Standesgenos­

erklärte er: »Es ist nicht notwendig, auf die

blutete deutsche Ostheer zwischen Memel

sen vom Januar 1933 gutzumachen. »Ich ha­

Grundlagen, die das Volk zu seinem primitiv-

und Karpaten überrollte und,

be von Anfang an gewußt, wer die Verräter sind«, sagte Hitler am Abend des 20. Juli, »es ist mein tiefer Glaube, daß meine Feinde die „Vons" sind, die sich Aristokraten nennen.«

gewaltig

anschwellende F lüchtlingslawinen vor sich

Menschenverluste im Zweiten Weltkrieg

herschiebend, die deutschen Ostgrenzen erreichte, führten Hitler und seine Trabanten mit Standgerichten, Aushalte- und Vernich­ tungsbefehlen den Krieg auch gegen das

Daß preußische Aristokraten sich mit Vertre­

Deutschland

5,25 Millionen

tern des zuvor von ihnen bekämpften Stan­

Sowjetunion

20,6 Millionen

nern, Engländern und Russen nur eine

des, mit Arbeitern, Sozialisten und Gewerk­

USA

259 000

W üste.« Es gab glücklicherweise genügend

schaftern, nicht weniger als mit Bürgerlichen

Großbritannien

3 86 000

Bürgermeister und Wehrmachtskomman­

Frankreich

810000

deure, die den Vollzug der »Nero-Befehle«

zusammenfanden, um den Nationalsozialis­ mus bis zur letzten Konsequenz zu bekämp­ fen, bot in der Zeit nach 1945 allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen Deutschlands

Polen Ostpolen*

4,52 Millionen 1,5 Millionen

eigene Volk: »Wir überlassen den Amerika­

unter Lebensgefahr verweigerten, bis die Alliierten einmaschiert waren. So war die Be­ setzung Deutschlands durch alliierte Trup­

einen gemeinsamen Richtpunkt, - den der

Italien

330000

pen nicht nur für die Insassen der Konzen­

Bewahrung der Menschenwürde nämlich als

Rumänien

378000

trationslager, sondern für das deutsche Volk

4 20 000

insgesamt ein Akt der Befreiung.

der obersten Maxime des Handelns. In einem solchen Bekenntnis der Gemeinsamkeit für die politischen Ziele aller Schichten und Klas­ sen der Bundesrepublik Deutschland liegt das Vermächtnis der Männer des 20. Juli.

Ungarn Jugoslawien Finnland

84 000

Norwegen

10 000

Dänemark

1400

Mittlerweile hatten die Westalliierten mit

Bulgarien

ihrer Landung in der Normandie am 6. Juni

Griechenland

1944 die dritte Front- nach ihrer Invasion in

Belgien

Sizilien und Italien - eröffnet. Der Mehr­ frontenkrieg, der die Ressourcen des Reichs

1,69 Millionen

Niederlande

20 000

wurde,

war

auch

zugleich

für

unab­

sehbare Zeit das Ende des deutschen Natio­

88000

nalstaats. Darin lag eine »tiefe Paradoxie«.

2 10 000

Japan

1,8 Millionen

gültig W irklichkeit, die deutsche Kriegs­

unbekannt

niederlage besiegelt. Aber anders als Erich

*die von der Sowjetunion 1939 annektierten polnischen Ostgebiete

Ludendorff(1865 - 1937), der Ende Okto-

in Berlin mit der bedingungslosen Kapitu­ lation der deutschen Wehrmacht besiegelt

1 60 000

China

in jedem Fall überforderte, war damit end­

Doch die deutsche Kriegsniederlage, die am 7. Mai 1945 in Reims und am 9. Mai 1945

Der Historiker

Hans

Rothfels ließ

sie

anklingen: »Es waren deutsche Patrioten, die

den

Tag

der

Kapitulation

herbei­

flehen mußten, so wenig sie sich über das dann Kommende Illusionen machen mochten.« 493

Die Veränderungen, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Mitteleuropa vollzogen, waren kaum minder einschneidend als der Weltkrieg selbst. Denn die Spaltung Europas in zwei Blöcke begann sich abzuzeichnen, - eine Spaltung, von der Deutschland unmittelbar betroffen sein sollte. Aber politisch beteiligt war es an dieser Entwicklung nicht. Die Deutschen hatten statt dessen mit Hunger und Not zu tun, bald aber auch mit dem Neuaufbau eines in d

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haupt ex1st1erte, war nach der Gefangen­ nahme der Regierung Dönitz am 23. Mai

1945 eine offene Frage. Und ringsum hatten die europäischen Nachbarn nach Besatzung und Gewaltherrschaft durch die Hitlerdiktatur ihre eigenen Neuordnungsnöte. Aus dem politischen und rechtlichen Vakuum der Deutschen half die öffentliche Erklärung der vier Siegermächte vom 5. Juli 1945, in der

sie

bekanntmachten:

»Die

deutschen

Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der

ohne Staat

Luft sind vollständig geschlagen und haben bedingungslos kapituliert und Deutschland, das für den Krieg verantwortlich ist, ist nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen.« Deutschland habe also bedingungslos kapituliert und müsse sich nun allen Forderungen unterwerfen. »Es gibt«

inen Zusammenbruch wie den des Jah­

Koch- und Schlafstelle, wärmender Kleidung

- so wird weiter erklärt - »in Deutschland

res 1945 hatte es in der deutschen Ge­

und dem Schicksal von Familienangehörigen­

keine zentrale Regierungen oder Behörde, die

schichte noch nicht gegeben. Der einzel­

vermißten, verwundeten, schuldig geworde­

fähig wäre, die Verantwortung für die Auf­

ne Mensch war auf sich gestellt wie nie zuvor.

nen oder inhaftierten, den vielen Vertrauten,

rechterhaltung der Ordnung, für die Verwal­

- Ob Kriegsheimkehrer oder Zivilist, ob Sol­

von deren Überleben man ohne Postdienste

tung des Landes und für die Ausführung der

dat oder Angehöriger der SS, Einheimischer,

keine Nachricht hatte.

Forderungen der siegreichen Mächte zu über­ nehmen. « Deshalb wurde ausdrücklich festge­

Evakuierter, ob Flüchtling oder Ausgebomb­ Es gab erschreckend

gene Schulkind, der Dienstverpflichtete wie

Kommendes hätte gründen können: Die Ge­

ten von Amerika, der Union der Sozialisti­

der Volkssturmmann, die aus Internierungsla­

meindeverwaltungen hatte Hitler in zwölf

schen Sowjet-Republiken und des Vereinigten

gern und Konzentrationslagern Befreiten und

Jahren durch seine Parteiorganisationen aus­

Königreichs und die Provisorische Regierung

die neuerdings Internierten, - Entwurzelte

gehöhlt und

der

waren sie alle, die Menschenmassen, die sich

macht, die alten Länder durch »Gleichschal­

hiermit

Deutschlands, einschließlich aller Machtvoll­

ihrer

wenig,

weitgehend

worauf man

stellt: »Die Regierungen der Vereinigten Staa­

ter, das in der» Kinderlandverschickung« erzo­

unbrauchbar

ge­

Eigenständigkeit beraubt. Die

Französischen die

höchste

Republik

übernehmen

Autorität hinsichtlich

auf Straßen und Schienen ohne funktionieren­

tung«

de Transportsysteme durchschlugen, und die,

Staatsführung

Regierung

kommenheiten, die der deutschen Regierung,

die in dem, was der Krieg übriggelassen hatte,

Dönitz überantwortet, die wenige Tage in

dem Oberkommando der Wehrmacht und

zu Hause waren.

Plön und Mürwick bei Flensburg amtierte. Hit­

allen staatlichen, städtischen oder örtlichen

ler selbst hatte sich am 30. April 1945 im

Regierungen oder Behörden zustehen.« Die

hatte

Hitler

der

Ihre einzige Sorge galt dem Überleben: dem

Bunker der Reichskanzlei in Berlin das Leben

Übernahme

Broterwerb, dem Dach über dem Kopf, der

genommen. Ob Deutschland als Staat über-

Deutschland solle jedoch nicht die Annektie­

der

Regierungsgewalt

in

rung Deutschlands bewirken. An die Stelle der deutschen Staatsgewalt trat mit Sitz in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin der Alliierte Kontrollrat, bestehend aus den Oberkommandierenden der vier Be­ satzungszonen. Diese deutsche Staatsführung ohne Beispiel war zuständig für die »Deutsch­ land als ein Ganzes betreffenden Angelegen­ heiten« und sollte ihre Entscheidungen eigent­ lich einstimmig treffen. Wo die Siegermächte

Flüchtlinge. Während des Zweiten Weltkrieges wurden von den deutschen Eroberern etwa neun Millionen Menschen nach Deutschland verschleppt. Im Zuge des Vordringens der Roten Armee auf das Reichsgebiet floh die Zivilbevölkerung etwa seit Jahresbeginn 1945 in großen Jrecks" nach Westen (12 Millionen). 494

Folgen des deutschen Zusammenbruchs (1945-1950)

aber nicht übereinstimmten, wurde es ihnen bald zur Gewohnheit, jeweils für die eigene »Zone« zu handeln.

Damit wurden diese

Staatengruppen:

Zonen zu Territorien, aus denen sich alles weitere staatliche Leben entwickeln sollte. Groß-Berlin bildete ein Sondergebiet, seiner­

Westlich orientierte Staaten

Sowjetunion !==:J Volksdemokratien

i=i

seits in vier Besatzungssektoren geteilt und als

Neutrale Staaten

Deutschland

[==:J

Österreich

Ganzes von den Befehlshabern der Berliner

Auswanderung von Juden nach Israel 1945 - 50

Besatzungstruppen gemeinsam in Gestalt der

119 000 aus Polen

Alliierten Kommandantur Berlin verwaltet. Auf der Potsdamer Konferenz

2.

August

der

1945)

(17.

Juli bis

33 000 aus der Türkei

91 000 aus Rumänien

22 OOOaus derTschechoslow.

37 000 aus Bulgarien

17 000 aus Ungarn

gelangten die »Großen drei«

Anti-Hitler-Koalition

zu

zielsetzenden

Entscheidungen über die deutsche Zukunft. Im Schloß Cecilienhof bei Potsdam versam­ melt, verhandelten der amerikanische Präsi­ dent Harry S. Truman

(1884 - 1972),

der

britische Premierminister Winston Churchill

(1874 - 1965) und nach dessen Wahlniederla­ (1883 1967) mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin (1879 - 1953) über Deutschland. Sie ge sein Nachfolger Clement Attlee

gelangten schließlich zu einer Übereinstim­ mung auf dem kleinsten gemeinsamen Nen­ ner. Nachdem der gemeinsame Feind besiegt war, brachen nun alte politische Gegensätze und ideologische Unterschiede zwischen den Siegermächten auf. Ein Bündel von Kompro­ missen zur Lösung der anstehenden »deutschen Frage« half der Konferenz ohne Eklat über die Runden. Deutschland sollte als wirtschaftli­ che Einheit

bestehenbleiben,

vorerst

aber

keine Zentralregierung erhalten. Dafür sollten dem »Alliierten Kontrollrat« einige »wichtige zentrale deutsche Verwaltungsstellen« mit »Staatssekretären« an der Spitze unterstellt werden. Gedacht war an Staatssekretäre für das Finanz-, Transport- und Verkehrswesen, für den Außenhandel und die Industrie. Diese Pläne gingen noch von der Einheit

•Serben D Türken • Italienern D Baltischen Völkern • Völkern der Sowjetunion

Deutschlands aus, während in der Frage der Reparationen die Kompromißformel zur Her­ ausbildung von zwei unterschiedlichen Wirt­ schaftszonen führte: Die Sowjets, die die Hälfte der insgesamt vorgeschlagenen Repara­

350

-

Anzahl der Vertriebenen und Umgesiedelten in Tausenden

tionsleistungen gefordert hatten, sollten ihre Ansprüche im wesentlichen aus ihrer Besat­ zungszone und aus Auslandsguthaben in den

len Einheit« Polens anerkannt, und so regelte

Ländern ihres europäischen Machtbereichs

man in Potsdam auch die Frage der deutschen

Die Vertreibung nahm ihren unerbittlichen

befriedigen.

Ostgrenzen und die Aussiedlung, wenn auch

Fortgang und forderte noch einmal einen

Stalin hatte vor, deutsche Ostgebiete (Pom­

Tschechoslowakei und Ungarn legitimiert.

die Westmächte formal auf einer »vorläufigen

hohen Blutzoll:

Entscheidung« bestanden. Stalin konnte den

Menschen sind bei dieser Aktion auf die eine

fast anderthalb Millionen

oder andere Weise umgekommen.

mern, Schlesien und Westpreußen) Polen als

westlichen Alliierten dennoch vieles aufzwin­

Ausgleich für die von der Sowjetunion annek­

gen. Die Oder-Neiße-Linie, schon auf der

tierten polnischen Gebiete zuzuschlagen. Er

Konferenz von Jalta als Westgrenze Polens

Zur

wollte derart den polnischen Staat einfach

festgelegt, wurde mit Vorbehalt bestätigt, und

Deutschlandpolitilk einigte man sich auf die

nach Westen verschieben. Inzwischen hatten

die längst in vollem Gang befindliche Flucht

gemeinsame Richtlinie, Deutschland zu demi­

die Westmächte die »Regierung der nationa-

und Ausweisung der Deutschen aus Polen, der

litarisieren,

Lösung

der

Tagesprobleme

in

der

denazifizieren, desindustrialisie-

495

Potsdamer Konferenz. Vom 17. Juli bis 2. August 1945 verhandelten die Siegermächte über die Zukunft des besiegten Deutschland. Ort der Zusammen­ kunft war das Schloß Cecilienhof in Potsdam.­ Das Bild zeigt den Konferenztisch mit den „Großen drei" Churchill, Truman und Stalin sowie deren Berater.

--�

" Die Alliierten wollten dem deutschen Volke die Möglichkeit zu einem Neuaufbau auf friedlicher und demokratischer Grundlage geben ... "

listische »Hauptkriegsverbrecher«. Im Ram­ penlicht der Weltöffentlichkeit ging es um die Kriegspolitik und millionenfachen Verbre­ ren und zu dezentralisieren. Der deutsche

zeigte es sich, daß das Wort »demokratisch« in

chen der Hitlerdiktatur. Die vier Siegermächte

Militarismus und Nazismus sollte ausgerottet

Ost und West einen sehr unterschiedlichen

hatten mit dem »Internationalen Militärge­

werden, damit »Deutschland niemals mehr

Inhalt hatte. Im ideologisch-gesellschaftspoli­

richtshof« erstklassige Juristen zu Anklägern

seine Nachbarn oder die Erhaltung des Frie­

tischen Spannungsfeld drifteten die Zonen

und Richtern bestellt und ihrem Tribunal

dens in der ganzen Welt bedrohen kann«. Mit

durch eine Reihe unterschiedlicher Auslegun­

eigens ein Rechtsinstrumentarium geschaffen,

diesem Ziel sollte Deutschland völlig abgerü­

gen des Potsdamer Abkommens im Kielwas­

in dessen Rahmen Anklage erhoben wurde

stet und entmilitarisiert werden, die gesamte

ser der Siegermächte immer weiter nach Ost

wegen der »Verbrechen gegen den Frieden«,

für eine Kriegsproduktion geeignete Industrie

oder West auseinander.

aus allen Ämtern entfernt, das politische

»Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

war zu beseitigen, Nationalsozialisten sollten

Am 20. November 1945 begann in Nürnberg,

Leben auf demokratischer Grundlage durch­

dem Ort der nationalsozialistischen Reichs­

Mehr als zehn Monate später erging das

greifend erneuert werden. Sehr bald indes

parteitage, der Prozeß gegen 23 nationalsozia-

Urteil:

Am

1. Oktober 1946 verkündete

dieser Militärgerichtshof zwölf Todesurteile, von denen zehn vollstreckt wurden - Her­ mann Göring hatte am Vorabend der Hinrich­ tung Selbstmord verübt, (geboren

Martin Bormann

1900, für tot erklärt 1954), Hitlers

Leiter der Parteikanzlei, wurde in Abwesen­ heit verurteilt. Hitlers ehemaliger Vizekanz­ ler, Franz von Papen freigesprochen.

(1879 - 1969), wurde

Im übrigen verhängte das

Gericht hohe Freiheitsstrafen , unter anderem lebenslängliche Haft für den ehemaligen Hit­ ler-Stellvertreter Rudolf Hess

(1894-1988).

Die Trümmerfrauen wurden in den ersten Nachkriegsjahren zum Symbol des beginnenden Wiederaufbaus. Sie klopften den alten Mörtel von den Ziegelsteinen, um verwendbares Baumaterial zu schaffen. Die Tätigkeit ging auf einen Beschluß des Alliierten Kontrollrats vom Oktober 1945 zurück. Er verfügte die ,Arbeitspflicht" für alle Männer und Frauen.

496

Bei dem Prozeß gegen die Hauptkriegsverbre­ cher saßen die Alliierten noch gemeinsam zu Gericht. Bei den zwölf Nachfolgeprozessen gegen Verantwortliche aus Politik, Diploma­ tie, Wirtschaft, Militär und der Vemichtungs­ maschinerie war diese Gemeinsamkeit zerbro­ chen. Bis Mitte des Jahres 1949 urteilten die Amerikaner in Nürnberg, die Briten in Lüne­ burg, die Sowjets vor ihren Militärtribunalen über »Euthanasie« und Menschenversuche, über Kriegsrüstung, Zwangsarbeit und Raub ausländischen Eigentums, über Geiselerschie­ ßungen auf dem Balkan, die Ausrottung der Juden

und

Vernichtung

der

Polen,

über

Mordaktionen in den besetzten Ostgebieten. Weitere Prozesse gab es vor Gerichten anderer ausländischer Staaten. Wenn es auch Fälle gab, in denen die Besatzungsmacht deutsche Gerichte ermächtigte, so blieben sie doch bis zum Ende der Besatzungszeit von der Strafver­ folgung

nationalsozialistischer

Verbrechen

weitgehend ausgeschlossen. Die juristischen wie die moralischen Positi­ onen des Gerichtsverfahrens gegen die Haupt­ kriegsverbrecher in Nürnberg sind bis heute umstritten geblieben. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß die herkömmlichen deutschen Strafgesetze völlig zur Verurteilung der Männer auf der Anklagebank ausgereicht hätten. Ungeschminkt waren einer breiten Öffentlichkeit auf diese Weise die Verbrechen, die Deutsche im Krieg und in den Vernich­ tungslagern begangen hatten, vor Augen ge­ führt worden. Die Alliierten sorgten für eine ausführliche Berichterstattung in Rundfunk

Ein wirklich großer Gedanke liegt dem Nürnberger Straf verfahren zugrunde: Wer als Treuhänder für Staat und Volk tätig wird, soll die Verantwortung für sein Tun nicht auf den Staat, dieses abstrakte unpersönliche Gebilde, abwälzen können. Er soll selbst mit Leib, Leben und Ehre dafür einstehen müssen, daß die Schranken und Gebote nicht mißachtet werden, die Mo­ ral und Recht aufgerichtet haben. Das bezieht sich auf den, der sich schuldhaft an der Entfesselung eines Angriffskrieges beteiligt, vor allen Dingen auch auf jene, welche Unmenschlichkeiten be­ fehlen, ausführen oder dulden, obgleich ihnen die Verhinderung solcher Missetaten möglich war. Wir denken dabei besonders an Massendeportationen, Rassen­ verfolgung, Zerstörung von Städ­ ten, Konzentrations/agergreuel, Bluturteile oder »Euthanasie«. (Herbert Kraus, ehern. Verteidiger beim Internationalen MiliJärgerichJshof Nürnberg)

genheit zu stellen. Spruchkammern entschie­ den

nach

diesen

»hauptschuldig«,

Unterlagen, »belastet«,

ob

jemand

»minderbela­

stet«, »Mitläufer« oder »entlastet« war. Für die weitere Verwendung konnte das von großer Bedeutung sein. Das Verfahren wurde in den verschiedenen Besatzungszonen aber unter­ schiedlich gehandhabt, am rigorosesten in der amerikanischen Zone, denn die Amerikaner waren mit dem größten demokratischen Sen­ dungsbewußtsein ausgerüstet. Aus sehr unter­ schiedlichen Gründen führte diese gewaltige Gesinnungsprüfung zu unzähligen Fehlurtei­ len. Die oft willkürlich erscheindende Praxis der Spruchkammern rief auch bei zuverlässigen Antifaschisten Unmut hervor, zumal die über­ wältigenden Massen von Einzelverfahren in den Spruchkammern dazu führte, zunächst über die leichteren Fälle zu urteilen. Während sich der »kalte Krieg« zunehmend verschärfte, erlahmte das alliierte Interesse an der Durch­ führung der Entnazifizierung, und nun waren es oft gerade die schwerer Belasteten, die ungeschoren davonkamen. Daß solche Unge­ rechtigkeiten bei der deutschen Bevölkerung auf Unverständnis stießen, lag auf der Hand. Auch die oft rigoros durchgeführte Repara­ tions- und Demontagepolitik der Alliierten, die von der erbitterten Bevölkerung als eine Vernichtung von Arbeitsplätzen in schwerer wirtschaftlicher Notzeit empfunden wurde, löste tiefe Unzufriedenheit aus. Allmählich erwachte innerhalb der deutschen Bevölkerung wieder das Bedürfnis nach eige­ ner Gestaltung des politischen und wirtschaft-

und Presse, ohne jedoch bei der deutschen Bevölkerung das Bedürfnis nach ernsthafter Auseinandersetzung mit den zwölf Jahren der Hitlerdiktatur dauerhaft wecken zu können. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg aber war diesmal den Deutschen die Flucht in Dolchstoß- und Verratslegenden verlegt. Jeder erwachsene Deutsche hatte sich indes mit seiner eigenen Haltung in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur auseinander­ zusetzen. Es bedurfte eines politischen Reini­ gungsprozesses, der »Entnazifizierung«, be­ vor man der Bevölkerung den Wiederaufbau ihres Staates zutrauen mochte. Jeder erwach­ sene Deutsche hatte sich zu diesem Zweck den

131 Fragen eines Fragebogens und damit der eigenen Verstrickung in die jüngste Vergan-

Der Nürnberger Prozeß (20.11.1945-1.10.1946). Blick auf die Angeklagten während der ersten Sitzung des Militärtribunals am 20. November 1945. 497

durch ein Kontrollratsgesetz das Land Preu­

BILIT.&llY GOVEBIWJIEIWT OF GBBDA.lWY

ßen aufgelöst. Die neuen Länder entstanden vom Grundsatz her unabhängig von histori­ scher Legitimität: zuerst in der sowjetischen Besatzungszone, Sachsen,

und

Thüringen,

zwar

Mecklenburg,

Sachsen-Anhalt

und

Brandenburg. Es folgten in der britischen Zone Niedersachsen (aus dem Zusammen­ schluß von Hannover, Braunschweig, Olden­ burg und Schaumburg-Lippe), dann Schles­ wig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Ham­ burg. In der amerikanischen Zone war Bayern in den historischen Grenzen erhalten geblie­ ben. Die Amerikaner schufen dann die Län­ der (Nord-)Württemberg-Baden, Hessen und später Bremen. In der französischen Zone entstand ein (Süd-)Baden und (Süd-)Würt­ temberg-Hohenzollem, das im April

1952

dem neugebildeten Bundesland Baden-Würt­ temberg angegliedert wurde, sowie Rhein­ land-Pfalz, das sich, aus vielen Territorial­ splittern zusammengefügt, dennoch als lebens­ fähig erwies. Nach den im »Potsdamer Protokoll« festge­ legten

Vorstellungen

der

Alliierten

sollte

Deutschlands Verwaltung »in Richtung auf eine Dezentralisation der politischen Struktur und auf die Entwicklung örtlicher Selbstver­ waltung hin angelegt werden.« Deshalb för­ derten die Alliierten das Wiederaufleben eines breiten und vielseitigen Parteienspektrums: Da war die SPD, für die der ehemalige Reichstagsabgeordnete

(1895 - 1952),

Kurt

Schumacher

von zehnjähriger Konzentra­

tionslagerhaft gezeichnet, noch vor der Kapi­ tulation einen Ortsverein Hannover am liehen Lebens. Aus der Emigration, den KZs oder Zufluchtsorten fanden sich verläßliche Demokraten, die im kommunalen Bereich und in der Parteiarbeit ans politische Werk gingen. Die deutschen Politiker, die zunächst auf Befehl der lokalen, regionalen oder zona­ len Dienststellen der Besatzungsmächte in die Bürgermeister-, Landrats- und Ministerpräsi­ dentenämter einrückten, waren zum größten Teil schon in der Weimarer Republik als Kommunisten,

Sozialdemokraten, Liberale,

April

Entnazifizierung.

1945

19.

gegründet hatte. Er setzte seinen

Führungsanspruch zumindest in den Westzo­

Das Faksimile zeigt einen Auszug aus dem 131 Fragen enthaltenden ,Fragebogen", in dem jeder Deutsche über 18 Jahren Angaben zu seiner Person und Vergangenheit machen mußte.

nen durch, auch gegen den sozialdemokrati­

"Von diesem Fragebogen hing für viele Deutsche ihr weiteres Schicksal ab.„ "

Anfang Oktober

schen Exilvorstand in London, und erteilte der Idee einer Einheitsbewegung der Sozialdemo­ kraten mit den Kommunisten eine frühe und entschiedene Absage.

1945 waren die Verhältnisse 120 Dele­

soweit gediehen, daß Schumacher

gierte aus Ortsvereinen nach Wennigsen bei Hannover zur Wiedergründung der Partei ein­ laden konnte. Die FDP, in der sowjetischen

Christlich-Soziale oder Konservative geprägt worden und fanden sich jetzt meist in ihren

Die Hitler-Diktatur hatte von den alten deut­

Zone LDPD genannt, übernahm das Erbe der

alten, nunmehr auf zonaler Grundlage neuge­

schen Staaten nicht viel übriggelassen. Sie

ehemaligen DDP und DVP der Weimarer Zeit

griindeten Parteien wieder zusammen. Nach

waren zu Verwaltungseinheiten geschrumpft.

und gruppierte sich zunächst hauptsächlich in

und nach wurde seit

Fast drei Fünftel der Fläche des Deutschen

1946

auch wieder ge­ auch für

Zonengrenzen waren ohne große Berücksich­

Osten um Eugen Schiffer (1860- 1954). Einen

die Länderparlamente. In den drei anderen

tigung der alten Ländergrenzen gezogen wor­

völligen Neuanfang dagegen wagte die CDU

Zonen standen im September

den; und nun lag in jeder Zone ein Stück

mit

wieder Wähler an den Wahlurnen.

498

erstmals

Preußen

ehemaliges Preußen. Im Februar

gehört.

Die

im

auf kommunaler Ebene, Ende

1946

einst

1963) und Reinhold Maier (1889 - 1971),

Reiches

1946

hatte

Südwestdeutschland um Theodor Heuss ( 1884-

wählt, - in der amerikanischen Zone zuerst

1947 wurde

ihrer

Gründung

im

Juni

des

Jahres

1945. Eine SammJungsbewegung christlicher,

Führende Politiker der deutschen Nachkriegsjahre

Konrad Adenauer

Kurt Schumacher

Wilhelm Pieck

Otto Grotewohl

konservativer und liberaler Kräfte, die aus der

einige Tage vor Kriegsende in Deutschland

s arnrnenschluß mit der KPD zur

Erfahrung des Widerstandes gegen den Natio­

eingetroffen war, um seiner Partei den Boden

listischen Einheitspartei« (SED) beschlossen

»Sozia­

nalsozialismus die Konfessionalisierung im

zu bereiten. Er suchte eine zivile politische

und zwei Tage später vollzogen. Die solcher­

alten Parteiensystems zu überwinden strebte

Führung mit gesamtdeutschem Anspruch und

maßen ins Leben gerufene SED wandelte sich schnell in eine der Sowjetunion untergeordnete

und nun für Katholiken wie für Protestanten

nach außen hin zunächst ohne einseitiges

wählbar sein sollte, war mit dieser Partei ins

sozialistisches oder kommunistisches Konzept

Kaderpartei leninistischen Typs. Damit war

politische Leben getreten. Die Partei sprach

zu verwirklichen. So entstand auch hier die

eine Tatsache geschaffen, die die Spaltung

das gesamte Spektrum von christlichen Ge­

gleiche Parteienvielfalt wie in den Westzonen,

Deutschlands wesentlich fördern sollte.

werkschaften über Liberale bis hin zu gemä­

und zwar mit der ausdrücklichen Zielsetzung,

ßigten Konservativen an. Frühzeitig bildete

den Nationalsozialismus zu beseitigen und den

Auf dem ersten Nachkriegsparteitag der West­

sich hier eine rheinisch-westfälische Vorherr­

Wiederaufbau zu fördern. Dabei stellte sich

zonen-SPD

schaft unter dem damals 70jährigen Konrad

jedoch heraus, daß die KPD einen sehr viel

Ersten Vorsitzenden und Erich Ollenhauer

wurde

Kurt

Schumacher zum

Adenauer (1876 - 1967) heraus, dem Ober­

geringeren Zulauf als die SPD oder die bürger­

(1901 - 1963) zu seinem Stellvertreter ge­

bürgermeister von Köln in den Jahren 1917

lichen Parteien aufzuweisen hatte. Die KPD,

wählt. Der Parteitag verurteilte den Zusam­

bis 1933. Das war ein Führungsanspruch, den

SPD, CDU und LDPD schlossen sich daher

menschluß mit der KPD und schwenkte auf

er erst gegen die Berliner CDU unter Jakob Kai­

zunächst im Juli 1945 auf Anweisung der

einen deutlich antikommunistischen Kurs ein.

ser (1888 - 1961), den Kopf der christlichen

sowjetischen Besatzungsmacht zu einer »Ein­

Die Spaltung zwischen der sowjetischen Be­

Gewerkschaftsbewegung, durchsetzen mußte.

heitsfront« gegen den Faschismus zusarnrnen.

satzungszone auf der einen und den drei

Thre Beschlüsse mußten einstimmig sein, so

Westzonen auf der anderen Seite zeichnete sich auch auf anderen Gebieten ab. Dahinter

Solche Schwierigkeiten gab es auch in ande­

daß keine Partei majorisiert werden konnte.

ren Parteien: So stand etwa die hannoversche

Darin lag eine deutliche Unterstützung für die

stand der zunehmende weltpolitische Gegen­

SPD-Zentrale in starkem Spannungsverhält­

Kommunisten.

satz zwischen der Sowjetunion und den West­

nis zur Berliner SPD-Führung unter Otto Grotewohl

(1894 - 1964),

und

auch

mächten, der eigentlich viel älter und nur eine

die

Ende des Jahres 1945 war die KPD organisa­

Zeitlang durch den gemeinsamen Kampf ge­

LDPD unter Wilhelm Külz in Berlin fühlte

torisch soweit gerüstet, daß sie ihre Vereini­

gen Hitler-Deutschland überdeckt gewesen

sich in der Vorreiterrolle der Liberalen. Das

gung mit der SPD forderte. Der Berliner SPD­

war. Jetzt wurde dieser Gegensatz noch zu­

hing zum einen mit der nach wie vor ungebro­

Zentralausschuß unter Otto Grotewohl ge­

sätzlich verstärkt durch die Politik der Sowjet­

chenen Symbolkraft Berlins als Reichshaupt­

riet unter schweren sowjetischen Druck, wi­

union in Osteuropa. Thre beherrschende mili­

stadt zusarnrnen, zum anderen aber mit der

derstrebende sozialdemokratische Funktionä­

tärische Position in dieser Region nutzte die

raschen und zielbewußten Politik der Sowjets,

re verschwanden auf Nimmerwiedersehen,

Sowjetunion nämlich, um ihr geostrategisches

die die Bildung von Parteiorganisationen in

andere sollten erst viel später aus sibirischen

Vorfeld auszubauen und sich mit einem Gürtel

ihrer Zone besonders frühzeitig gefördert und

Lagern oder dem (den neuen Umständen

von Satellitenstaaten zu umgeben, ohne daß

von oben eingesetzt hatten.

angepaßten) KZ Buchenwald zurückkehren.

eine

Bei der einzigen Urabstimmung in den West­

sionswünsche zu erkennen gewesen wäre.

Den Sowjets ging es in erster Linie um die

zonen Berlins im März 1946 entschieden sich

Stärkung der

mehr als 82 Prozent der

KPD,

deren

Führer

Walter

Ulbricht (1893 - 1973) als Mitbegründer des

Begrenzung

der sowjetischen Expan­

Sozialdemokra­

Im Iran, in der Türkei und in dem vom

ten gegen den Zusarnrnenschluß mit der KPD.

Bürgerkrieg zerrissenen Griechenland gerie­

Nationalkomitees »Freies Deutschland « (ge­

Dennoch wurde auf einem »Vereinigungs­

ten sowjetische und anglo-amerikanische In­

gründet 1943) mit der Roten Armee bereits

parteitag«

teressen so aneinander, daß sich hinter diesen

(19./20.

April

1946)

der

Zu-

499

Umgekehrt wurde in Washington die sowjeti­

Rede des US-Außenministers Bymes Wir treten für die wirtschaftli­ che Vereinigung Deutsch­ lands ein. Wenn eine völlige Vereinigung nicht erreicht werden kann, werden wir al­ les tun, was in unseren Kräf­ ten steht, um eine größtmög­ liche Vereinigung zu sichern. Der Hauptzweck der militäri­ schen Besetzung war und ist, Deutschland zu entmilitari­ sieren und zu entnazifizieren, nicht aber den Bestrebungen des deutschen Volkes hin­ sichtlich einer Wiederauf­ nahme seiner Friedenswirt­ schaft künstliche Schranken zu setzen. (... ) Die amerikanische Regie­ rung steht auf dem Stand­ punkt, daß jetzt dem deut­ schen Volk innerhalb ganz Deutschlands die Hauptver­ antwortung für die Behand lung seiner eigenen Angele•

genheiten bei geeigneten Si­ cherungen übertragen wer­ den sollte. (. . ) Die Vereinigten Staaten tre­ ten für die baldige Bildung einer vorläufigen deutschen Regierung ein. Fortschritte in der Entwicklung der öffentli.

James F. Bymes

sche Deutschlandpolitik als Versuch verstan­

chen Selbstverwaltung und der Landesselbstverwaltun­ gen sind in der amerikani­ schen Zone Deutschlands erzielt worden, und die ame­ rikanische Regierung glaubt, daß ein ähnlicher Fortschritt in allen Zonen möglich ist. ( .) Während wir darauf beste­ hen, daß Deutschland die Grundsätze des Friedens, der gutnachbarlichen Bezie­ hungen und der Menschlich­ keit befolgt, wollen wir nicht, daß es der Vasall irgendeiner Macht oder irgendwelcher Mächte wird oder unter einer in- oder ausländischen Dik­ tatur lebt. Das amerikanische Volk hofft, ein friedliches und demokratisches Deutsch­ land zu sehen, das seine Freiheit und seine Unabhän­ gigkeit erlangt und behält...· (12. Juli 1946) . .

den, ganz Deutschland für den sowjetischen Einflußbereich

zu

vereinnahmen.

Deshalb

entschied sich die amerikanische Führung, den Einigungsprozeß in den Westzonen auch auf die Gefahr einer Zerreißprobe für Deutsch­ land voranzutreiben. Am 12. Juli 1946 sprach sich Bymes zum ersten Mal für einen wirt­ schaftlichen Zusammenschluß der übrigen westzonalen Besatzungszonen mit der ameri­ kanischen aus. Am 1. Januar 1947 wurde die

Am 8. April 1949

»Bi-Zone« eingerichtet.

fand sich die französische Regierung zur Bil­ dung einer »Tri-Zone« bereit, und damit war der wirtschaftspolitische Vorläufer der Bun­ desrepublik Deutschland ins Leben getreten. Vorerst sorgte Frankreich für eine Einbezie­ hung

des

erweiterten

Saarlandes

in

sein

eigenes Zoll- und Wirtschaftsgebiet. In seiner vielbeachteten Rede vom 6. Septem­ ber 1946 vor den Ministerpräsidenten der süddeutschen Länder in Stuttgart kündigte der amerikanische Außenminister Bymes unter­ dessen

neue

amerikanische

Initiativen an,

legt, daß Deutschland als eine wirtschaftliche

indem er für eine zentrale deutsche Verwal­

tation zwischen dem Sowjetblock und den

Einheit zu behandeln sei und daß die Reparati­

tung und einen »Deutschen Nationalrat« als

Westmächten auftat: Die USA fühlten sich

onen es dem deutschen Volk nicht unmög­

Vorstufe zu einem Parlament plädierte. Den

bedroht durch das nicht einzudämmende und

lich machen dürften, aus eigener Kraft zu

französischen

die vereinbarten Interessensphären nicht re­

leben. Mit dem politischen Alltag sollten sich

zwar zu, lehnte aber die Abtretung des Rhein­

spektierende Vordringen des Sowjetkommu­

diese Grundsätze nicht vereinbaren lassen.

und Ruhrgebietes ebenso ab wie die endgülti­

nismus. Vor allem an den alten neuralgischen

Auf Außenministerkonferenzen in London, in

ge Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. »Das

Punkten im Femen Osten, im Iran, auf dem

Moskau und schließlich im Juni/Juli 1946 in

amerikanische Volk,

Balkan und in Osteuropa brachen die Gegen­

Paris bemühte man sich vergeblich um eine

gekämpft hat, hat nicht den Wunsch, das

sätze auf. Schon die Regierungsbeteiligung

Einigung über Reparationszahlungen - zehn

deutsche Volk zu versklaven«, erklärte er. Der

der kommunistischen Partei in vielen europä­

Milliarden Dollar forderten allein die Sowjets

sowjetische

ischen Ländern wie in Frankreich, Italien oder

aus ganz Deutschland und darüber hinaus die

Molotow

Konflikten nun auch die weltweite Konfron­

Saarforderungen

das

stimmte

er

für die Freiheit

Außenminister

Wjatscheslaw

Belgien war aus dieser Sicht verdächtig. Die

Beteiligung der Sowjetunion an einer Vier­

(1890 - 1986) erklärte daraufhin am 16. September 1946, die Oder-Neiße­

Sowjetunion sah sich gefährdet durch die

mächtekontrolle

Linie sei endgültig, und abweichend von der

Wirtschaftsmacht USA und deren militäri­

Frankreich stellte nun seine Forderungen und

Haltung

sche, durch das Atombombenmonopol ge­

wollte durch ständige Anwesenheit französi­

schloß sich die SED der sowjetischen Auffas­ sung von der »Friedensgrenze« an.

des

Ruhrgebiets.

Auch

aller

übrigen

deutschen

Parteien

stärkte Überlegenheit. Der wirtschaftliche Ge­

scher Truppen an der Rheinlinie und die

gensatz - Planwirtschaft in der Sowjetunion

Abtrennung des linken Rheinufers und des

und freie Marktwirtschaft, die freie Märkte

Ruhrgebiets abgesichert werden. Das alles

brauchte, im Westen - tat ein übriges. Die

gefährdete die Versorgung der deutschen Be­

sie aufzuhalten, lud die bayerische Landesre­

Zeit des kalten Krieges brach an, und der

völkerung. Deshalb hatten die USA die Repara­

gierung alle deutschen Länderregierungschefs

damalige britische Oppositionsführer Winston

tionslieferungen aus ihrer Zone an die So­

zu einer gesamtdeutschen Ministerpräsiden­

Churchill prägte am 5. März 1946 in einer

wjetunion bereits eingestellt. Als sich das

tenkonferenz über Wirtschafts-, Emährungs­

vielzitierten

vom

Scheitern der Außenministerkonferenz von

und Flüchtlingsprobleme vom 5. - 8. Juni

»Von Stettin an der

Paris bereits abzeichnete, forderte der ameri­

1947 nach München ein. Allzu hochgespannt

kanische Außenminister James

F. Bymes

waren die Erwartungen nicht, mit denen man

ein >Eiserner Vorhang< über den Kontinent

(1879 - 1972) zur Verbesserung der Versor­

den Versuch einer deutschen Initiative zur

gezogen.«

gung der Bevölkerung im Juli 1946 im Alliier­

Wahrung der Einheit der Nation unternahm.

ten Kontrollrat den wirtschaftlichen Zusam­

Die Länder der französischen Zone hatten sich

Rede

das

»Eisernen Vorhang«:

Schlagwort

Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist

Die drohende Spaltung kündigte sich an. Um

Nirgendwo wirkte sich der kalte Krieg so

menschluß aller vier Besatzungszonen. Die

nur unter der Bedingung beteiligt, daß politi­

unmittelbar aus wie im besetzten Deutsch­

Sowjetunion lehnte ab und bezeichnete den

sche Probleme ausgeklammert bleiben soll­

land. Im Potsdamer Abkommen hatten sich

westlichen Vorstoß als gezielte Maßnahme des

ten. Damit aber wollte sich die Delegation aus

die vier Alliierten grundsätzlich darauf festge-

amerikanischen »Wirtschaftsimperialismus«.

der sowjetischen Zone nicht abfinden und

500

Lebensmittelkarte. Die Militärregierungen hielten die aus den letzten Kriegsjahren stammende Bewirtschaftung der Konsumgüter („Rationierung") aufrecht. Eine Lebensmittelkarte für den Erwachsenen über zwanzig Jahre erbrachte eine Tagesration von 350 g Brot, fünf g Butter, 14 g Fleisch, 43 g Gemüse, 1/8 Liter Magermilch, zwei Kartoffeln und 52 g Käse (amerikanische Zone, Oktober/ November 1947).

reiste bereits am Vorabend der Konferenz wieder ab. Vielen schien die deutsche Teilung damit besiegelt. Noch immer war politisches Engagement in Deutschland nicht jedermanns Sache. Zu sehr hatte »Otto Normalverbraucher«, der statisti­ sche

Durchschnittsbürger

also,

eigenen wirtschaftlichen Notlage

mit zu

seiner ringen.

An Nahrungsmitteln und Heizstoffen herrsch­ te großer Mangel, der Bedarf konnte aus der eigenen daniederliegenden Produktion nicht gedeckt werden, und für Importe hatte man keine Devisen.

So wurde mit Hilfe von

oder sammelte kiloweise Bucheckern, für die

von rationierten Zigaretten zu. Da aber nicht

Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen die

sich 100-Gramm-Marken zum Bezug von

jeder Raucher war, konnten solche Anrechts­

Annut verwaltet.Wer allein darauf angewie­

Margarine eintauschen ließen, - zeitraubende

scheine gegen die für Milch oder Butter

sen war, hatte zum Leben zuwenig, zum

Arbeiten, die bei der großen Konkurrenz der

getauscht werden. Wer darüber hinaus meist in alliierten Dienststellen zu »Ami-Zigaretten«

Sterben aber zuviel. Geld war nicht viel wert.

Hungernden in diesem Geschäft nur geringe

Zu viel war infolge der Kriegswirtschaft im

Erträge brachten. Neben solchen Aktivitäten

kam, konnte Eier, Butter und Wurst erstehen.

Umlauf. Wer in den zerbombten Städten nicht

auf dem Lande bildete sich in den Städten ein

Und seit dem Jahre 1946 rettete die Hilfe des

gerettete Wertgegenstände - Teppiche, Tafel­

üppig blühender Schwarzmarkt heraus, an

amerikanischen Steuerzahlers mit dem Pro­

für Tauschgeschäfte auf

dem der Großteil der Bevölkerung sich betei­

gramm »Govemment Aid and Relief in Occu­

die Bauernhöfe tragen konnte, mußte zur

ligte. Gegen viel Geld oder im Tauschhandel

pied Areas« sowie auch die Hilfe der amerika­

silber oder Schmuck

-

Erntezeit Ähren, Rüben oder Kartoffeln von

war hier sehr vieles zu bekommen. Eine große

nischen Wohlfahrtsverbände mit Schulspei­

den abgeernteten Feldern nachlesen, konnte

Rolle spielte die »Zigarettenwährung«: Je­

sungen und Care-Paketen in der Bi-Zone

Torf stechen und ließ sich mit Torf entlohnen

dem Erwachsenen standen Marken zum Bezug

Hunderttausende vor dem Verhungern.

" Auf dem Schwarzmarkt der Nachkriegszeit war fast alles zu haben vorausgesetzt, man hatte sehr viel Geld oder selbst etwas zu verkaufen ... " Schwarzmarkt· Razzia. Auf die Zwangsbewirtschaftung der Militärregierungen reagierte die Bevölkerung mit illegalem Handel. Besonders in den Städten blühte der Schwarzmarkt, gegen den die Behörden im Grunde machtlos waren. Das Bild zeigt eine Polizei-Aktion in Berlin (März 1946). 501

Der Historiker urteilt „Die Wirkung der Währungs­ reform war schlagartig zu be­ obachten. Von einem Tag zum anderen waren die Schaufenster wieder gefüllt. Es zeigte sich, daß noch mancherlei an Waren und Gütern gehortet gewesen war. Der Schwarze Markt ver­ lor seine Attraktivität. Aufge­ staute Arbeitsenergien wur­ den freigesetzt. Gleichzeitig mit der Währungsreform wur­ de die Wirtschaftspolitik neu orientiert. Die Ablösung des bisherigen wirtschaftlichen Dirigismus durch Marktwirt­ schaft war nicht zwangsläu­ fig, sondern das Ergebnis ei­ ner leidenschaftlich umstritte­ nen, im Wirtschaftsrat mit nur knapper Mehrheit gefällten Grundsatzentscheidung ge­ gen die von Sozialdemokra­ ten und Gewerkschaften ver­ tretene Planwirtschaft. Am 17./ 18. Juni 1948, unmittel­ bar vor der Verkündung der Währungsreform durch die Militärregierungen, nahm der Wirtschaftsrat ein durch Lud­ wig Erhard für den Verwal­ tungsrat eingebrachtes »Ge­ setz über die wirtschaftspoliti­ schen Leitsätze nach der

Geldreform« mit 50:37 Stim­ men an. Soweit irgend mög­ lich, sollten Warenbewirt­ schaftung und Preisvorschrif­ ten beseitigt werden. Der Di­ rektor für Wirtschaft erhielt den Auftrag, die hierfür not­ wendigen Maßnahmen zu treffen. Hunderte von bisherigen wirt­ schaftsdirigistischen Verord­ nungen wurden aufgehoben, u.a. die Lebensmittelratio­ nierung, wenn auch die Prei­ se für Grundnahrungsmittel ebenso wie für Wohnungs­ mieten zunächst kontrolliert blieben. In den freigegebe­ nen Bereichen der Wirtschaft stiegen in den ersten Mona­ ten nach der Währungsre­ form durch eine das Angebot übersteigende Nachfrage die Preise an. Daß diese Preis­ bewegung nicht in eine aber­ malige Inflation ausartete, ist nicht zuletzt darauf zurückzu­ führen, daß erst im Oktober der bis dahin geltende Lohn­ stopp aufgehoben wurde und daß sich auch danach die Gewerkschaften in der For­ derung von Lohnerhöhungen verhielten. zurückhaltend Auch die Arbeitslosigkeit

stieg. Die Arbeitslosenquote sollte 1950 den hohen Stand von 10,3 Prozent erreichen, um danach stetig abzusin­ ken. Das Steigen der Arbeits­ losigkeit nach dem Wäh­ rungsschnitt erklärt sich aus mehreren Gründen: Viele, die wertloser Lohn nicht gelockt hatte, meldeten sich jetzt bei den Ämtern als Arbeitssu­ chende; die Belegschaften waren in der Zeit des wertlo­ sen Geldes zum Teil stark überbesetzt gewesen; der Zuwanderungsüberschuß in den westlichen Besatzungs­ zonen war auch in den Jah­ ren 1949 und 1950 noch er­ heblich, wenn auch nicht mehr so hoch wie in den Jahren 1947/48 (in 1000: 1947=882;1948=85 1;1949 = 447; 1950 = 4 10). Dabei stieg aber die Zahl der be­ schäftigten Arbeitnehmer ste­ tig an (1948 =14,2 Millionen; 1949 = 14,9 Millionen; 1950 = 15,5 Millionen). Im Jahre 1949 hatte das Bruttosozial­ produkt der drei Westzonen 98 Prozent des Standes von 1936 {in konstanten Preisen) erreicht." {Karl Dietrich Erdmann)

Währungsreform. Am 20. Juni 1948 wurde die DM als neue Währungseinheit eingeführt. Die Reichsmarkguthaben wurden im Verhältnis 10:1 umgestellt. Das Bild zeigt eine Hamburger Umtauschstelle am Morgen des 20. Juni.

502

Die amerikanische Regierung sah die wirt­ schaftliche Not, wie sie in mehr oder weniger krasser Form in ganz Europa herrschte, mit einiger Besorgnis. Man fürchtete im State Department nämlich, dem Kommunismus werde auf diese Weise der Boden bereitet. So bot der neue US-Außenminister Georg C. Marshall (1880- 1959) am 5. Juni 1947 allen europäischen Nationen ein Programm aus Kre­ diten, Lebensmittel- und Rohstofflieferungen an, das als eine Art »Hilfe zur Selbsthilfe« geplant war. Die Sowjetunion wies dieses Angebot sogleich für die Länder ihres Machtbe­ reichs scharf zwück, für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas einschließlich der deutschen Westzone hingegen erwies sich die­ ser Marshall-Plan als äußerst hilfreich. Neue Hoffnungen bei der von großer Not bedrückten Bevölkerung erweckte auch der »Revidierte Industrieplan« für die Bi-Zone vom 29. August 1947. Der alte, für alle vier Zonen gültige Industrieplan des Alliierten Kon­ trollrats vom März 1946 sollte das deutsche Industriepotential, sorgfältig geplant und kon­ trolliert, auf ein Existenzminimum zu­ rückführen, und die daraus folgenden De­ montagen von Industrieanlagen sollten gleich­ zeitig die Reparationsansprüche von 18 Staa­ ten gegenüber den Westzonen befriedigen. Ausdrücklich wurde nun aber erklärt, daß dieser Plan nicht durchführbar sei. Statt der 5,8 Millionen Tonnen Stahl, die die Deut­ schen in allen vier Zonen produzieren durften, sollten sie künftig allein in der Bi-Zone 10,7 Millionen Tonnen Stahl erzeugen dürfen. Aber die neuen Demontagelisten forderten immer noch den Abbau von 682 Industriebetrieben der Bi-Zone, die als Reparationsgüter erforder­ lich waren. Der Abbau weiterer Produktions­ stätten wurde als eine unverständliche Härte der Alliierten empfunden. Die eigentliche Lei­ stungsfähigkeit der Deutschen, so dachte man, lag in ihrer Arbeitskraft. Aber so manche Maschine, die jetzt als Reparationsgut abge­ baut wurde, konnte wenig später durch eine neue, leistungsstärkere ersetzt werden. Bevor die deutsche Wirtschaft sich deutlich erkennbar erholen konnte, bedurfte es einer grundlegenden Veränderung des Währungs­ systems, um das Verhältnis von Warenange­ bot und Geldmenge zu normalisieren. Die Währungsreform vom 20. Juni 1948 schuf in den Westzonen die Voraussetzung für den Wirtschaftsaufschwung. Für die Währungsre­ form gab es deutsche Experten, allen voran Ludwig Erhard (1897 - 1977), Direktor der Verwaltung für Wirtschaft im vereinig-

ten Wirtschaftsgebiet, dessen Namen mit dem Erfolg

der Währungsreform

in

legendärer

Weise verbunden blieb. In Wirklichkeit hat­ ten die Alliierten das Geldwesen in ihrer Planung bereits weitgehend geordnet und druckten seit Oktober 1947 in den Vereinig­ ten Staaten das neue Geld, das, in geheimen Transporten von New York über Bremerha­ ven im Frühjahr 1948 nach Frankfurt gelangt, in Kisten für die Ausgabe am geheimgehalte­ nen »Tage X« bereit lag. Geheimhaltung war eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen; und so wurden die deutschen Experten mit ihren Mitarbeitern auch am 20. April 1948 in einem Bus mit undurchsichtigen Fenstern an einen ihnen unbekannten Ort zu einer ab­

Marshall ·Plan. Der von dem amerikanischen Außenminister George C. Marshall im Jahre 194 7 entworfene Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas erwies sich als hilfreich für die Bevölkerung der deutschen Westzone. Unser Bild zeigt West­ berliner Arbeiter beim Aufbau von Wohnungen, deren Bau durch die Marshall-Plan-Hilfe unterstützt wird.

schließenden Arbeitstagung mit den Alliierten verfrachtet. In klösterlicher Abgeschiedenheit übersetzten sie bis zum 8. Juni 1948 Gesetzes­ texte und Verordnungen, arbeiteten Formulare aus und taten Hilfsdienste. Eine wirkliche Chance zur Mitgestaltung bot sich nicht mehr in diesem »Konklave von Rothwesten« auf dem Flugplatz der US-Luftwaffe in der Nähe von Kassel. Bestgehütetes Geheimnis der Alliierten war der Ausgabetermin. Gerüchten folgend, hor­ teten manche Geschäftsleute ihre Waren, die Regale in den Läden blieben leer, und vorsor­

"„. um der weiteren Ausbreitung des Kommunismus wirksam entgegentreten zu können "

Geld

noch

schnell

auf

ten.

Durch zweierlei Währungen lag die

Spaltung des deutschen Wirtschaftsgebietes

gende Bürger versuchten ihr bald wertlos werdendes

wurde nun mit neuem Geld zur Kasse gebe­

für jedermann nun offen zu Tage.

dem

Schwarzen Markt umzusetzen, diesem zu

Vorerst änderte sich in den Westzonen nun die

einer letzten Blüte verhelfend. Am Abend de�

Situation schlagartig, weil Ludwig Erhard,

In Berlin sollte es zu einem Währungs­

18. Juni 1948 erfuhr die Bevölkerung, was am

der Wirtschaftsdirektor der Bi-Zone, eigen­

kampf kommen, der sich zum Kampf um

Sämtliche

mächtig über Nacht Bezugsscheine und Le­

Berlin auswuchs. Die Verwaltung der Sowjet­

Reichsmarkbestände mußten abgeliefert und

bensmittelkarten, die so lange wertvoller ge­

zone versuchte nämlich, der Ostmark in ganz

eingetauscht

Das neue Geld, die

wesen waren als das Geld, abschaffte und die

Berlin Gültigkeit zu verschaffen, während die

»Deutsche Mark«, die in einer beispiellosen

Preisbindungen aufhob. Die Warenlager bo­

Westmächte in ihren Sektoren die D-Mark­

20. Juni

1948

erfolgen

werden.

sollte:

Transportaktion in die Ausgabestellen gelangt

ten tatsächlich mehr, als der Bürger für das

Währung einführten, wobei sie die Ostmark

war, wurde zugeteilt: Die Bürger erhielten ein

knapp gewordene Geld kaufen konnte, Ange­

in ihrem Bereich anerkannten. Die Sowjets

Kopfgeld von 60 DM im Verhältnis 1 : 1

bot und Nachfrage hießen die neuen Richtli­

nahmen dies zum Vorwand für eine totale

umgetauscht, 40 DM davon im Juni, den Rest

nien des Marktes, der wieder zu funktionieren

Blockade Berlins (24. Juni 1948 - 12. Mai

im August. Die Erstausstattung der öffentli­

begann. Die Marshall-Plan-Hilfe tat ein übri­

1949). Das ganze Frühjahr 1948 hindurch

chen Hand war bemessen nach dem jeweili­

ges, der von Ludwig Erhard propagierten

hatte es Schikanen auf den Zufahrtswegen

gen Monatsbetrag der Einnahmen. Für Spar­

»Sozialen Marktwirtschaft« zum gewaltigen

nach Berlin gegeben: Da wurden Frachtschif­

guthaben von 100 Reichsmark gab es 6,50

Aufschwung, zum »Wirtschaftswunder« zu

fe nicht abgefertigt, weil angeblich die Papiere

DM, und die Hälfte davon galt als Sperrgutha­

verhelfen. Im Sog dieses Aufschwungs ging es

nicht in Ordnung waren, Militärzüge der

ben. Gehälter und Löhne aber wurden im

allen, selbst den Verlierern der Währungsre­

Briten und Amerikaner an der Zonengrenze

Verhältnis 1 : 1 weitergezahlt, die Arbeitgeber

form, wieder besser. - Drei Tage später kam es

zurückgeschickt oder tagelang festgehalten,

erhielten für jeden Beschäftigten einen Kredit

in der sowjetisch besetzten Zone zu einer

oder der Schienenverkehr mußte plötzlich

von 60 DM. Die Währungsreform bestrafte

improvisiert wirkenden Währungsreform: Es

ausschließlich über Helmstedt geleitet wer­

die Sparer, indem sie die Geldwertbesitzer

gab noch keine neuen Geldscheine, die alten

den - die Nachrichten berichteten fortgesetzt von solchen Vorfällen. Die völlige Abriege­

sie

Reichsmarkscheine wurden, mit Kupons ver­

die Besitzer von

sehen, zum volkstümlich »Tapetenmark« ge­

lung aller Land- und Wasserwege kam den­

Produktionsmitteln und Waren begünstigte.

nannten neuen Zahlungsmittel. Grundsätzlich

noch überraschend.

Nach den Vorstellungen aller Parteien war ein

wurde hier im Verhältnis 1 : 1 umgestellt,

Berliner Magistrats an die UN vom 29. Juni

sehr

weitgehend

Haus- und

enteignete,

Grundbesitz,

während

In einem Appell des

gerechter Lastenausgleich dringlich, doch der

Bargeld und Bankguthaben aber wertete man

1948, der die UN nie erreichte, hieß es zur

sollte noch auf sich warten lassen.

im Verhältnis 1: 10 ab. Wer Schulden hatte,

Lage in der Stadt: »Die gesamte Berliner

503

Trotzdem war die Arbeitslosigkeit in Berlin gewaltig gestiegen. Im Mai 1948 hatte der Produktionsindex infolge der Kriegsschäden und Nachkriegsdemontagen noch 42 Prozent des Standes von 1936 betragen, während der Blockade schrumpfte er auf 17 Prozent. Fast elf Monate hielten die Berliner durch und lebten von Trockenkartoffeln, Trockengemüse und -obst, von Ei- und Milchpulver, das die »Rosinenbomber« einflogen, bis Stalin seine Bereitschaft zu Berlinverhandlungen signali­ sierte. Am 4. Mai 1949 wurde in New York ein Viermächteabkommen unterzeichnet, das die sowjetische Blockade Berlins aufhob. Für dieses

unglaubliche

hatten die

britischen

Transportunternehmen und

amerikanischen

Steuerzahler tief in die Tasche greifen müssen. Aber auch die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen

brachten

seit

November

1948 eine Sondersteuer »Notopfer Berlin« auf - das waren ein Prozent aller Lohn- und Gehaltszahlungen - und einen Zuschlag von Bevölkerung wird nach Erschöpfung der noch in der Stadt vorhandenen Kohlenvorräte, das heißt nach Ablauf einer nur wenige Wochen betragenden Frist, vor dem Erliegen der Gas-, Elektrizitäts- und auch Wasserversorgung ste­ hen. (... ) Etwa um die gleiche Zeit wird auch die Möglichkeit der geordneten Ernährung für die Bevölkerung dieser drei Sektoren aufhö­ ren, da die jetzt vorhandenen Vorräte durch­

zwei Pfennig für jede innerdeutsche Postsen­

Berliner Luftbrücke. Die Sowjetunion verhängte am 24. Juni 1948 eine totale Sperre der Schienen- und Straßenwege von und nach Berlin, als die Westalliierten die neue DM-Währung auch in West-Berlin einführten. Bis zum Ende der Blockade (12. Mai 1949) wurde Berlin durch eine beispiellose Luftversorgungs-Aktion („Berliner Luftbrücke") wirtschaftlich lebensfähig gehalten.

dung: Mit der kleinen, blauen Briefmarke ne­ ben der Postgebühr unterstützte nun beinahe jeder den Kampf der Berliner. Während der Blockade vollendete sich die Spaltung der Stadt: Am 16. Juni 1948 hatte der sowjetische Stadtkommandant die Alliierte Kommandantur

schnittlich nur bis zu dieser Zeit reichen und

und

anschlie­

wählte Berliner Magistrat wurde im Herbst

da ins Gewicht fallende Zufuhrmöglichkeiten nicht bestehen.«

verlassen

ßend die Mitarbeit aufgekündigt. Der freige­

1948 durch einen kommunistischen Putsch rung hatten der Berliner Magistrat und das

aus seinem Sitz im Berliner Rathaus vertrie­

amerikanische Militär eine tägliche Transport­

ben und fand ein neues Domizil im West­

An eine schnelle Abhilfe war nicht zu denken.

leistung von 6000 Tonnen aus den Statistiken

Berliner Rathaus Schöneberg, wo er, nunmehr

Nach kurzem Zögern beschlossen die West­

der Vorjahresversorgung errechnet, für Le­

unter der Bezeichnung »Senat«, am 5. De­

mächte, nicht zu weichen. Die treibende Kraft

bensmittel, Kohle zur Elektritzitäts- und Gas­

zember

dabei war der Militärgouverneur der amerika­

gewinnung wie für den Hausbrand und die

Berliner Westsektoren bestätigt wurde. Wäh­

nischen Besatzungszone, General Lucius D.

Industrie, für Rohstoffe, Halbfabrikate, Bau­

rend

1978), der erklärte: »Die Tsche­

material und Güter des industriellen Bedarfs.

(1889

choslowakei haben wir verloren. Norwegen

Einen sehr großen Einsatz angenommen, ver­

rung dem Druck der sowjetischen Blockade

schwebt in Gefahr. Wir geben Berlin auf.

fügte General Clay anfangs bestenfalls über

erfolgreich Widerstand entgegensetzte, instal­

Clay (1897

-

1948 durch Wahlen in den drei

unter -

der

Führung

Ernst

Reuters

1953) die Westberliner Stadtregie­

Wenn Berlin fällt, folgt Westdeutschland als

ein Zehntel der notwendigen Transportkapa­

lierte die sowjetische Besatzungsmacht in Ost­

nächstes. Wenn wir beabsichtigen, Europa

zitäten,

hatten seit

Berlin einen eigenen Magistrat unter der Führung des SED-Politikers Friedrich Ebert

denn

die

Amerikaner

gegen den Kommunismus zu halten, dürfen

Kriegsende alles abgerüstet, was nicht für die

wir uns nicht von der Stelle rühren.« Zur

Besatzung erforderlich war. In einer einmali­

(1894 - 1979), eines Sohnes des einstigen

Abschreckung verlegten die Amerikaner ein

gen organisatorischen und menschlichen An­

Reichspräsidenten. Auch andere Institutionen

Geschwader der als »Atombomber« bekann­

strengung wurden während der elfmonatigen

und Organisationen teilten sich im Laufe des

ten B 29 nach England, also in Angriffsweite

Blockade mit fast 200 000 Flügen ungefähr

Jahres 1948. So kam es etwa zur Spaltung der

von Moskau, um Festigkeit zu demonstrieren. Stalin hatte auf den Winter und den Hunger

anderthalb Millionen Tonnen Güter eingeflo­

Berliner Gewerkschaften in den von der SED

gen. Alle zwei bis drei Minuten landete eine

beherrschten

M�schine auf einem der drei West-Berliner

schaftsbund« (FDGB) und die Westberliner

1949

Deutschen

Gewerk­

gesetzt, die Westalliierten aber begannen die

Flughäfen.

Versorgung der Stadt auf dem Luftwege, - ein

überstieg die Transportleistung der alliierten

(UGO)

gigantisches Transportunternehmen, das in

Flugzeuge sogar die Tonnage, die vor der

Universität« im Westteil der Stadt. Die poli­

der Geschichte der Luftfahrt nicht seinesglei­

Blockade über Straßen, Schienen und Wasser

tische Spaltung der alten Reichshauptstadt

chen hatte. Als Minimalbedarf der Bevölke-

nach Berlin gelangt war.

war nun im Grunde schon vollzogen.

504

Im Frühjahr des Jahres

»Freien

»Unabhängige oder

Gewerkschaftsorganisation« zur

Gründung

der

»Freien

z

Seit Griindung der Bundesrepublik Deutschland und seit Grundung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 lebten die Deutschen vierzig Jahre lang in staatlichen ,,Provisorien". 1 Die „deutsche Frage" blieb ungelöst und offen, ein neuer Zustand, den die Deutschen aus ihrer Geschichte freilich kannten...

we1 Staatsgründungen auf deutschem Boden -

ier Jahre auf den Tag waren seit der

bedingungslosen Kapitulation Deutsch­

ands vergangen, als der Parlamentari­ sche Rat-eine aus Mitgliedern der elfLandtage der westlichen Besatzungszonen gebildete Ver­ sammlung - am 8. Mai 1949 zur dritten Lesung des Grundgesetzes zusammentrat. Acht Mona­ te hatte das Gremium in Bonn über das Verfas­ sungsdokument beraten, nun mußten die 65 Abgeordneten sich entscheiden. Die Spannung war nicht allzu groß, weil die Fronten zwischen Für und Wider sich schon geklärt hatten. 53 Parlamentarier stimmten mit ja

(26

von der

SPD, 21 von der CDU/CSU, fünfvon der FDP und ein Parteiloser), zwölf sagten nein (sechs von der CSU, zwei vom Zentrum, zwei von der Deutschen Partei und zwei von der KPD). Die fünf weiteren, nicht stimmberechtigten Berli­

ner Mitglieder des Rates bekannten sich in einer eigenen Erklärung zum Grundgesetz. Nach der Annahme erhob sich der Vorsitzende Konrad Adenauer, würdigte die geleistete Arbeit, bat um Gottes Segen und schloß die Sitzung. DasGrundgesetz. Daswar noch nichtdie Staats­

gründung, aber der entscheidende Schritt dazu. Nun mußten noch die elfLänderparlamente das Grundgesetz ratifizieren. Das geschah vom 16. bis 22. Mai 1949. Schwierigkeiten gab es nur in Bayern. Mit der Annahme war dort nicht zu rechnen, weil sich die entschiedenen süddeut­ schen Föderalisten daran stießen, daß das Grund­ gesetz zu zentralistisch sei. Deshalb erfolgte schon die Teilablehnung im Parlamentarischen Rat. Nach tumultartigen Auseinandersetzun­ gen im Bayerischen Landtag entschied die Mehrheit sich für die flexible Formel des Mini­ sterpräsidenten Hans Erhard: »Nein zum Grund­ gesetz.Ja zu Deutschland.« Bayern werde sich,

Im Bewußtsein seiner Verant­ wortung vor Gott und den Men­ schen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in ei­ nem vereinten Europa. dem Frie­ den der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Liindern Baden, Bayern, Bremen, Ham­ burg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rhein­ land-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Würt­ temberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben far eine Über­ gangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassung­ gebenden Gewalt dieses Grund­ gesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch far jene Deutschen gehan­ delt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Ein­ heit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. (Grundgesetz, Präambel)

wenn die Mehrheit der Länder zustimme, loyal

verhalten. Am

Ländern mit

23.

Mai wurde das von den

10: 1 ratifizierte Grundgesetz

(zwei Drittel hätten genügt) in einer fest­ lichen Sitzung des Parlamentarischen Rates verabschiedet. Am Ende erklärte Ratspräsident Konrad Ade­ nauer: »Heute wird

„.

die Bundesrepublik

Deutschland eintreten in die Geschichte. Wir sind uns der Bedeutung dieses Tages bewußt. Wer die Jahre nach 1933, wer den völligen Zusammenbruch staatlicher Ordnung 1945, die Übernahme aller staatlichen Gewalt durch die Siegermächte seit 1945 bewußt erlebt hat, ist im tiefsten Innern dadurch bewegt, was heute sich ereignet. Der Anfang dieses Geschehens be­ ruht auf den Beschlüssen der Londoner Konfe­ renz des Jahres 1948

„.

Durch Kräfte, die stär­

ker sind als der Wille des deutschen Volkes, ist es auch unmöglich gemacht worden, daß dieses Grundgesetz schon jetzt für das gesamte deut­ sche Volk Geltung erhält.« 41 Jahre später, am 3. Oktober 1990, sollte mit dem Beitritt der neuen Bundesländer, wie die aufgelöste DDR nun hieß, zur Bundesrepublik das ganze Deutschland Geltungsbereich des Grundgesetzes werden. Der Parlamentarische Rat hatte seine Arbeit am 1. September 1948 in Bonn begonnen. Neben Adenauer waren der spätere Bundespräsident Heuss und Carlo Schmid (SPD), der Justizmi­ nistervon Württemberg-Hohenzollern, heraus­ ragende Persönlichkeiten. Ilun, dem habilitier­ ten Völkerrechtler und weltbürgerlichen Lite­ raten, verlieh HeinrichJaenecke den Ehrentitel »Vater des Grundgesetzes«. 505

hauptes einschränken, um nicht noch einmal Hindenburg-Zeiten zu erleben. Hindenburgs zuletzt übermäßiger Einfluß hatte zwar weni­ ger an seinem Machtwillen gelegen als viel­ mehr an der Machtlosigkeit des Parlaments, aber unleugbar besaß er eine staatsrechtlich starke Stellung, war eine Art Ersatzkaiser. Jetzt wurden die Parlamentarier sich einig, daß das Staatsoberhaupt den Kanzler nur noch vor­ schlagen, nicht mehr ernennen dürfe (außer dem formaljuristischen Akt der urkundlichen »Ernennung«). Auch wurde verankert, daß der Bundespräsident nicht vom Volk direkt gewählt wird, sondern indirekt durch die Bundesversammlung (die Bundestags- und Landtagsabgeordneten). Ein weiterer Kernpunkt des Grundgesetzes ist die Verankerung der bun­ desstaatlichen (föderalen) Ordnung der Bundes­ republik. Sie wird von Ländern gebildet, deren Hoheitsmacht sich nicht vom Bund ableitet, auch wenn sie zugunsten des Bundes beschränkt ist. Durch die Länderkammer, den Bundesrat, wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung mit. Das bedeutet für den Bürger einen zusätzlichen Schutz seiner Freiheits­ rechte, weil die Verteilung von Zuständig­ keiten zwischen Bund und Ländern eine über­ große Staatsmacht verhindert. Eine gelungene Bestimmung des Grundgeset­ zes - und wohl vorbildlos in der Welt- ist die Wollte man dem Grundgesetz einen Titel ge­ ben, dürfte er lauten: So viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich. Nach der wahnsinni­ gen Übersteigerung der Staatsautorität, der

Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat in Bonn mit großer Mehrheit angenommen. Gegen die Vorlage stimmten neben der CSU auch die Abgeordneten der KPD (sitzend vorn links).

Heiligung der Macht im Dritten Reich, befrei­ ten sich die menschlichen Grundrechte aus der Knebelung. Der Mensch wollte wieder dort stehen, wo er erstmals in der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 gestanden hatte: ganz oben. Jene Deklaration unterstreicht im allerer­

Klausel, die als Artikel 67 segensreiche Wir­ kung geübt hat und übt: »Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt...« Auch hier schwang die Erinnerung mit, daß ein Vier­

'' Man wollte nicht noch einmal Hindenburg-Zeiten erleben ... ,,

sten Satz, »daß alle Menschen von Natur aus

tel aller Weimarer Kabinettskrisen daraus ent­ standen war, daß es eben noch kein »konstruk­ tives Mißtrauensvotum« gegeben hatte. Zu­ fallsmehrheiten, die sich über Tagesprobleme zusammenfanden, manchmal über ganz be­ langlose, konnten einen Kanzler stürzen; für

gleichermaßen frei und unabhängig sind«. Im

Meinung, des Gewissens, der Kunst und Wis­

den Nachfolger mochte der Reichspräsident

Entwurf hieß der erste Artikel: »Der Staat ist

senschaft, Unverletzlichkeit der Person, der

sorgen. Das sollte es nicht mehr geben.

um des Menschen willen da, nicht der Mensch

Wohnung, Asylrecht, Recht auf Wehrdienst­

um des Staates willen« - eine Umkehrung

verweigerung. Erfahren und gereift an dem

langwährender Auffassungen um hundertacht­

Unglück der Weimarer Republik, drohten die

desrepublik beruht nicht zuletzt darauf, daß

zig Grad. Im Grundgesetz findet sich der Satz

Grundgesetz-Konstrukteure den Verlust der

noch ein weiterer Haltegriff in ihr Verfassungs­

nicht mehr, aber es fehlt nichts, was die angel­

Grundrechte dort an, wo sie mißbraucht wür­

leben eingebaut worden ist. Nicht im Grundge­

sächsische, die französische, die deutsche Phi­

den. Nicht ein zweitesmal sollte der Staat sich

setz selber, dafür in dem zur selben Zeit ausge­

losophie in zweihundert Jahren erarbeitet hat­

an

Die verfassungsrechtliche Solidität der Bun­

ungezügeltem Haß inwendig vergiften.

arbeiteten Wahlgesetz heißt es im Paragraphen

Wie die Konstruktionsfehler der so human ver­

zahl weniger als fünf von hundert der gültigen

10 Absatz 4: »Parteien, deren Gesamtstimmen­

ten, rühmt Golo Mann. So vereinigten sich Abwehrreaktionen gegen

standenen Weimarer Verfassung mitgeholfen

Stimmen im Lande beträgt, werden ... nicht

die Maßlosigkeit der jüngsten Vergangenheit

haben, die erste Republik zu ruinieren, so hat

berücksichtigt.« Damit sollte den Splitterpar­

mit alten Selbstverständlichkeiten liberaler

die »Rheinschrift« von Bonn sehr zur Stabilität

teien ohne ausreichenden Rückhalt im Volk

Staaten: Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichran­

der zweiten Republik beigetragen. Zunächst

verwehrt werden, an der politischen Willens­

gigkeit aller in Rasse und Glauben, Freiheit der

einmal wollte man die Macht des Staatsober-

bildung im Parlament teilzunehmen.

506

Was den Wählerwillen betrifft, so war Weimar

Die Verfassung der Bundesrepublik

gerechter. Das Verhältniswahlrecht nach Arti­ kel 22 sicherte auch die politische Meinung von Minderheiten (soweit sie wenigstens 30 000 Stimmen in einem Wahlkreis errangen) und

BUNDES­ VERSAMMLUNG 518 ABGEORDNETE

vervielfältigte die Koalitionsmöglichkeiten alJerdings auch die demagogischen Handha­ ben. Die gutgemeinte Absicht der damaligen Verfassungsjuristen, voran der Staatsrechtler

Der Bundesprasidenl hOchster ReprAsenlant, schligl Kanzler vor, ernennt Minister, unterzeichnet Gesetze

und zeitweilige Reichsinnenminister Hugo Preuß, hat sehr zur inneren Zerrissenheit der ersten Republik beigetragen. Unser heutiges Wahlsystem stellt eine äußerst geglückte Mi­ schung dar zwischen dem ungerechten, aber stabilen Mehrheitswahlrecht englischen Mu­ sters und dem gerechten, aber unstabilen Ver­ hältniswahlrecht.

Die ersten Bundestagswahlen. Wie der erste

Parlament

deutsche Bundestag zusammengesetzt sein wür­

(Bundestag)

de, stand vor dem Wahltag (14. August 1949) natürlich noch in den Sternen, aber wo er sich

Gesetzgebung

Bundesral

konstituieren und hernach tagen würde, das

Wahl des Kanzlers Mißtrauens­ votum

wußte man schon seit 1948. Berlin als Haupt­ stadt war nicht in Frage gestellt, aber solange die Stadt der Viermächteverantwortung unter­ stand und ihre politische Zukunft vom Kreml abhängig war, brauchte man ein »Provisori­

Bundesrechnungshof

Länderregierungen Bundeskanzler

übelwacht unabhängig

Regierung

Versammlungs-, Rechts· und Haushaltskontrolle aller Staatsorgane

um«. Eigentlich wollte Karl Arnold, CDU­

die Haushaltung des Bundes

Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, mit dem Vorschlag Bonn seinem Parteivorsit­ zenden Adenauer nur einen Gefallen tun; der wohnte ja nebenan in Rhöndorf und war nicht mehr der Jüngste. Der Plan kam überraschend, aber die meisten hatten nichts dagegen.

Wahlberechtigte Bevölkerung

Der WahJkampffür den ersten Bundestag war eine Mischung von weltanschaulichen Gegen­ sätzen und persönlichen Diffamierungen, be­ stückt mit einer Fülle von Tagesproblemen: Aufbau des zertrümmerten Landes, Wohnungs­ not, Arbeitslosigkeit, Eingliederung der Flücht­ linge, Demontagen, Entnazifizierung, Kriegs­ verbrecher-Prozesse, kommunistische Gefahr, Wiedervereinigung, Westintegration. Adenauer und Schumacher schlugen verbissen drein, der SPD-Vorsitzende noch leidender, noch bitterer geworden durch eine zweite Am­ putation. Kein Zweifel, daß die CDU-Propa­ ganda geschickter und wirksamer war. Innen­ politisch arbeitete sie mit dem Slogan der »so­ zialen Marktwirtschaft«, die sich von den Pla­ nungsthesen der SPD ebenso wie vom eigenen Ahlener Programm - hinsichtlich Planung und Verstaatlichung-distanzierte. Als Paradepferd wurde Ludwig Erhard gesattelt, der von ihm eingeleitete Wirtschaftsaufschwung besaß na­

Der Parlamentarische Rat Er wurde aus den 11 deutschen Landtagen gebildet. Die 65 Ländervertreter traten am 1. September 1948 im Museum Alexander König in Bonn zusammen, um das »Grundgesetz" der Bundesrepublik Deutschland auszuarbeiten.

türlich starken Werbeeffekt. Dagegen stießen

507

tag«, so lobte die amerikanisch geleitete »Neue Zeitung«, »ist für die Sache der deutschen Demokratie ein historisches Datum. Deutsch­ land hat eine saubere Visitenkarte abgegeben, zum ersten Mal seit >tausend< Jahren.« Und dann rühmt das Blatt den »deutlichen Vor­ sprung der drei großen demokratischen Par­

Kurt Schumacher, Kriegsinvalide des Ersten Weltkrieges, gezeichnet von langer KZ-Haft unter dem Nationalsozialismus, wurde erster Vorsitzen­ der der West-SPD in Nachkriegsdeutsch­ land. Unter ihm erlebte der Bundestag Stern­ stunden der Rhetorik. Anhänger liebten seine werbende Überzeu­ gungskraft, Gegner fürchteten seinen scharfen Witz.

teien CDU/CSU, SPD und FDP.« Der Teilstaat, wie er jetzt beinahe fertig da­ stand, wäre von den meisten einige Zeit vorher noch nicht einmal erträumt worden; so schnell hatte sich unter dem Zeichen des kalten Krieges ein Wandel in der Behandlung Westdeutsch­ lands ergeben, waren aus verachteten Besieg­ ten kommende Partner geworden. Natürlich war diese Partnerschaft noch mit vielen Vorbe­ halten verknüpft. Im Besatzungsstatut vom 10. April 1949 (in Kraft getreten am 21.9.49) be­ schränkten die Siegermächte die künftige west­ deutsche Republik von vornherein auf eine Teilhoheit. Sie blieb vorerst völkerrechtlich handlungsunfähig, konnte keine Verträge schlie­ ßen oder diplomatische, konsularische Bezie­

Schumachers Thesen gegen das Besitzbürger­ tum in dieser Habegern-Gesellschaft ins Leere. Seine zugleich patriotischen und klassenkämp­ ferischen Töne wirkten in der Situation von

"Beider Sozialdemo­ kratie war die Person des Vorsitzenden sehr viel zugkräftiger alsdas Parteiprogramm ... ''

hungen aufnehmen, mußte ein allüertes Veto­ recht gegenüber ihren eigenen Gesetzesent­ würfen hinnehmen, Währung, Produktion, For­ schung kontrollieren lassen, weiterhin Demon­ tagen dulden; in wichtigen Industriezweigen (Stahl, Chemie, Maschinenbau, Schiffahrt) blieb die junge Republik Erzeugungsbeschränkun­ gen unterworfen. War das Glas nun halbvoll oder halbleer? Hat­ ten die Westdeutschen schon so viele oder erst

1949 anachronistisch. Schumachers leiden­ schaftliches Eintreten für die Einheit der

grarnm, während man bei der Union umgekehrt

so wenige Rechte? Gemessen am Zustand von

Nation zahlte sich nicht in Wählerstimmen aus,

vermuten kann, daß das Programm einstwei­

1945 bis 1947, ja selbst 1948, war der Wandel

die Furcht der Deutschen vor der sowje­

len die Wähler mehr ansprach als ihr führender

erstaunlich, wirkten die Vorbehalte im Besat­

tischen Gefahr, die vor allem die Union poli­

Wahlkämpfer Adenauer.

zungsstatut nicht allzu schwerwiegend. Mit der Zeit würden dieEinschränkungen sicher schwin­

tisch zu nutzen verstand, saß zu tief. Der kom­ munistische Umsturz in der Tschechoslowakei

Noch waren es nicht »Kanzlerwahlen«. Die

den. Viel schmerzlicher war, daß der ganze

im Vorjahr zum Beispiel gab der Union frisches

weiteren Ergebnisse: FDP 11,9 Prozent, DP 4,0

Neuaufstieg mit der Hinnahme der Trennung

Material dafür in die Hand.

hinter der KPD mit 5,7. Das Zentrum erreichte

erkauft wurde: Der andere Teil Deutschlands

damals immerhin noch 3,1 Prozent. Die Fünf­

blieb draußen vor der Tür.

Es war schlimm, daß die Sowjets eine solch

prozentklausel verwehrte doch der DP und dem

ungute Propaganda möglich machten durch

Zentrum den Zugang zum Bundestag? Nein, es

Konstituierung der DDR. Stalin wird die Äuße­

ihre Politik, und es war gleichermaßen schlimm,

öffnete sich eine Hintertür: das Direktmandat.

rung zugeschrieben, der Kommunismus passe

daß viele Deutsche dadurch Deutschlands

Nach dem Wahlgesetz kam eine Partei mit

auf Deutschland wie der Sattel auf die Kuh.

Schuld gegenüber Rußland verdrängten. Man

ihrem gesamten Prozentanteil in den Bundes­

Trotz solcher Einsicht haben die Sowjets ihre

glaubte, sich durch Aufrechnung aus der Ver­

tag, wenn sie mindestens einen Kandidaten

deutsche Besatzungszone, wenn auch verschlei­

antwortung stehlen zu können.

direkt durchgebracht hatte.

ert, konsequent sowjetisiert. Im Frühjahr 1945, als gerade der Schlachtenlärm in Berlin verebbt

Bei einer Wahlbeteiligung von 78,5 Prozent

Und so verteilten sich die Mandate unter den

war, hatte Stalin führende deutsche Exilkom­

siegte am 14. August 1949 die CDU/CSU mit

402 stimmberechtigten Abgeordneten des er­

munisten in ihre Heimat zurückgeschickt. Es

der relativen Mehrheit von 31,0 Prozent der

sten Deutschen Bundestages: CDU/CSU 139,

war die »Gruppe Ulbricht«. Walter Ulbricht,

Stimmen. Die SPD, ähnlich wie schon in den

SPD 131, FDP 52, DP und Bayernpartei je 17,

Jahrgang 1893, gelernter Tischler aus Leipzig,

ersten Nachkriegsjahren, folgte dichtauf mit

KPD 15, Wirtschaftliche Aufbauvereinigung

wegen seine Bartes der »sächsische Lenin«

29,2 Prozent. Die Person ihres Vorsitzenden

(nur in Bayern) 12, Zentrum 10, Deutsche

genannt, vor der Hitlerzeit Chef der KPD­

war mit Sicherheit zugkräftiger als ihr Pro-

Reichspartei 5, Sonstige 4. »Der letzte Sonn-

Bezirksleitung

508

Berlin-Brandenburg,

besaß

dank seiner Anpassungsfähigkeit das Vertrau­ en des Kremlherrn. Zweifellos war er damals von allen deutschen Kommunisten am erfah­ rensten, vor allem im Überleben. Während eine Vielzahl seiner mitemigrierten Genossen in Stalins Säuberungsorgien untergegangen war, hatte der Virtuose der kommunistischen Kulis­ senkämpfe die schlimmsten Verfolgungen schadlos überstanden. Das Talent, das dafür nötig ist, sollte man nicht unterschätzen - und Ulbricht wurde lange unterschätzt. Die Ver­ achtung für seine inhumanen Methoden ver­ sperrte den Blick auf sein politisches Format. Der in allen Feuern gehärtete Funktionär, hochintelligent, hellwach, bienenfleißig, uner­ schöptbar in seiner Arbeitskraft, war von höch­ ster Sensibilität gegenüber dem atmosphäri­ schen Druck in den Klimazonen des Ostens. Sein Urinstinkt war Macht. Als erstes ging Ulbricht in Berlin daran, den KPD-Parteiapparat wieder zum Funktionieren

Konrad Adenauer, erster Kanzler der zweiten Republik, der Mann, der einer ganzen Epoche seinen Stempel aufdrückte. Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft und Bindung an den Westen hießen die Hauptziele seiner Partei, der CDU. Die gleichfalls propa­ gierte Wiedervereini­ gung (Plakat unten) geriet dagegen in den Hintergrund.

zu bringen. Dann folgten die generalstabs­ mäßig geplante Durchdringung von Verwal­ tung und Gesellschaft, die Zwangsfusionie­ rung von KPD und SPD zur SED. Die nichtkommunistischen

Parteien

und

die

Massenorganisationen (Einheitsgewerkschaft FDGB, Kulturbund, Demokratischer Frauen­ bund, Staatsjugend FDJ usw.) zappelten bald alle als Marionetten an den Fäden des russi­ schen und deutschen Stalinismus, pluralistisch in den Namen, konform im Gefüge. Die Gleichschaltung war nur ein Akt in diesem dramaturgisch

"Der östliche Teil Deutschlands bezahlte allein weiter für Hitlers Schuld am Zweiten Weltkrieg ... ''

Dazu kam die materielle Ausplünderung. Als in Westdeutschland die kurzsichtige Morgen­ thau-Politik der Re-Agrarisierung und der Demontagen schon im Aktenschrank geschicht­

einfallsreichen, unermüdlich

lichen Vergessens abgelegt war, bezahlte der

geprobten, für diktaturerfahrene Zeitgenossen

östliche Teil Deutschlands allein weiter für

aber allzuoft plump und durchsichtig inszenier­

Hitlers Schuld am Krieg. Während der Mar­

ten Trauerspiel. Schon im September 1945

shallplan im Westen verlorene industrielle Sub­

hatte die Bodenreform begonnen. Grundbesitz

stanz rasch erneuern half, blieb er den Deut­

über hundert Hektar wurde entschädigungslos

schen in der Ostzone auf Stalins Geheiß ver­

enteignet (die glücklichen Neusiedler sahen

sagt. So quälten sich seine deutschen Unter­

sich bereits fünfzehn Jahre später zwangs­

tanen noch bis zur Mitte der fünfziger Jahre

kollektiviert). Die Fabriken und zahllosen

auf einem Existenzniveau von erschütternder

Privatunternehmen anderer Art - aber längst

Trostlosigkeit.

nicht alle - wurden »volkseigene Betriebe« (VEB).

Je aufdringlicher der Unterschied in der Le­

Zehntausende Mißliebige - längst nicht nur

bürger wechselten zum Westen über, meist via

frühere Nazis - füllten die gerade vorher von

Berlin. Dieser Weg blieb ihnen bis August

benshaltung wurde, desto mehr Sowjetzonen­

Hitlers Opfern entvölkerten Zuchthäuser und

1961 offen. Für den Osten war die Fluchtbewe­

KZs. Mit dieser schlimmen Parallele machte

gung ein zusätzlicher Aderlaß, für den Westen

sich das neue Regime am ungeniertesten zum

ein weiterer Aufstiegsimpuls.

Plagiator der überwundenen Diktatur. Unter unaufhörlichen Dankesbezeugungen an Stalin

Den sich abzeichnenden westdeutschen Sepa­

als den »Befreier von der Hitler-Tyrannei«

ratstaat versuchten die Sowjets mit allen Mit­

kopierte es getreulich Hitlers Herrschaftsstil

teln zu verhindern. Schon ehe dies mißlang,

- bis hin zum Staatssicherheitsdienst und der

bereiteten sie die Gründung einer Gegenrepu­

uniformierten Jugend; nur war die Uniform

blik vor. Das mußte natürlich im Gewande des

statt braun jetzt blau.

Volkswillens geschehen. Das Instrument dafür

509

ES LEBE DIE NATIONALE F RONT DES DEMOKRATISCH EN DEUTSCHLAND

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 nur wenig nach der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Fortan gab es 40 Jahre lang zwei Staaten auf deutschem Boden. - Das Bild zeigt Wilhelm Pieck (Bildmitte), den ersten Präsidenten, der die Proklamation der Deutschen Demokratischen Republik verliest.

'' Die Wähler konnten sich nicht zwischen einzelnen Parteien oder Kandidaten entscheiden '' „.

nur mit ja oder nein stimmen. Und erstaunli­ cherweise entschieden sich bei einer Wahlbe­

teiligung von 95 ,2 Prozent trotz des gewaltigen propagandistischen Aufwandes und emotiona­ len Drucks bei teilweise offener Stimmabgabe

33,9 Prozent für ein Nein. Das war der Gesamt­ durchschnitt. In Ost-Berlin waren es sogar war der »2. Deutsche Volkskongreß«, eine

wie erwähnt, hat das Volk die Verfassung nicht

41,9 Prozent; auch Sachsen - das »rote«

Massenbewegung aus allen Parteien, Massen­

direkt bestätigt, sondern indirekt durch die Län­

Sachsen! - und Thüringen lagen mit 37,7

organisationen, Großbetrieben, gedacht als re­

derparlamente. In der Ostzone sollte dagegen

beziehungsweise 37,3 Prozent über dem nega­

präsentativer Querschnitt aller politischen und

ein neuer deutscher Volkskongreß, der dritte,

tiven Durchschnitt. Das war kein guter Start in

gesellschaftlichen Kräfte. Eine Exekutive die­

das Verfassungswerk als unmittelbar vom

die Eigenstaatlichkeit. Der Eindruck muß für

ses Volkskongresses, der »Deutsche Volks­

Volkswillen getragen legitimieren. Die Wah­

die SED sehr ernüchternd gewesen sein. Ein

rat«, arbeitete eine Verfassung aus und billigte

len dafür fanden Mitte Mai 1949 statt.

sie im Oktober 1948, als die Blockade Berlins

Drittel der Bevölkerung zeigte nach vierjähri­ ger kommunistischer Indoktrination unverdros­

im Grunde gescheitert war, auch wenn sie wei­

Die Ergebnisse sind aufschlußreich. Die Wäh­

sen seine Ablehnung. Es war die letzte einiger­

ter andauerte.

ler konnten sich nicht zwischen einzelnen Par­

maßen »freie« Wahl. Künftig konnte nur noch

teien oder Kandidaten entscheiden, sondern Die Unterschiede beider Konstitutionen waren

mit den Füßen abgestimmt werden, zwölf Jahre lang. Dann war es auch damit vorbei.

eklatant. Oberstes Organ der Staatsgewalt soll­ te eine Volkskammer von vierhundert Abge­

Trotz der Wahlschlappe war natürlich die Ver­

ordneten sein. Eine zweite Kammer, wie der

fassung somit angenommen. Jetzt mußte der

westdeutsche Bundesrat als Ländervertretung,

Staat nur noch äußerlich installiert werden. Der

war nicht vorgesehen. Das Prinzip der Gewal­

3. Deutsche Volkskongreß, gewähl t Mitte Mai

tenteilung

entfiel.

Einen

Katalog

gleicher

1949, billigte formal die Verfassung; das war

Rechte für alle gab es natürlich auch, aber er

seine erste Aufgabe. Alsdann wählten die zwei­

ging nicht von dem betonten Prinzip aus, »erst

tausend Volkskongreß-Abgeordneten, darun­

der Mensch und dann der Staat«, und stand

ter etwa sechshundert westdeutsche Delegier­

folgedessen auch nicht am Anfang.

te, zumeist von der KPD, jene vierhundert

Umgekehrt proportional zur geringeren bür­

kammer vorgesehen waren. hn Gegensatz zur

gerlichen Freiheit ging die Staatsgründung mit

Bundesrepublik fand somit eine indirekte Par­

weit größerem Spektakel vor sich. hn Westen,

lamentswahl statt.

Männer und Frauen, die für die erste Volks­

Vereinigung von SPD und KPD. Das Plakat der SED feiert den historischen Händedruck zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Wilhelm Pieck (KPD) und Otto Grotewohl (SPD) führten am 22. April 1946 ihre Parteien zur SED zusammen. 510

In der zweiten Jahreshälfte 1949 war die Ent­ wicklung in Deutschland also so weit gediehen, daß unter den teils argwöhnischen, teils wohl­ wollend-aufmunternden Blicken der Besat­ zungsmächte zwei Republiken im Entstehen waren. Der Verfassungsrahmen war gezogen, die Volksvertretungen waren gewählt, nur die

Parlamente fehlten noch. Die Sowjets, obwohl

Konrad Adenauer, geboren am 5.

Januar

Am 1. September 1948 wählte der Parlamenta­

sie auf dem innerdeutschen Schachbrett zuletzt

1876 in Köln als Sohn eines Kanzleirats, hatte

rische Rat Adenauer zu seinem Präsidenten und

rascher gezogen hatten, ließen den Westmäch­

sich nach dem Studium der Rechte und Volks­

damit zum federführenden Vater des Grundge­

ten den Vortritt. Sie sollten den allerletzten, den

wirtschaft der Zentrumspartei angeschlossen

setzes, mit dessen Verkündigung am 23. März

parlamentarischen Schritt zuerst tun, vor aller

und der Kommunalpolitik verschrieben. Im

1949 die Bundesrepublik Deutschland aus der

Welt das Odium der Spaltung tragen. Dann, mit

September 1917 trat er das Amt des Ober­

Taufe gehoben wurde.

geziemendem Abstand von einem Monat, folg­

bürgermeisters von Köln an, als das Kaiser­

te die DDR-Proklamation: am7. Oktober 1949.

reich noch zu siegen hoffte; im März 1933

Nach der Bundestagswahl vom 14. August

Erstes Staatsoberhaupt wurde Wilhelm Pieck,

schied

1949 sah er sich ausreichend gerüstet, den

erster Ministerpräsident Otto Grotewohl. Unter

Republik schon zugrunde gegangen war. In

entscheidenden Vorstoß zu tun: zu einer Koali­

den Linden bewegte sich

dieser Zeit wurde Adenauer eine weit über

tionsbildung unter seiner Führung, unter seiner

am

Abend ein großer

er

Fackelzug, unseligen Angedenkens an einen

den

Rhein

ähnlichen, noch größeren, knappe siebzehn Jah­

man

über

aus dem Amt, als die Weimarer

hinaus die

populäre

Parteigrenzen

Person,

der

Kanzlerschaft. Der Turnierplatz für diesen po­

hinaus

das

litischen Waffengang war nicht der Bundestag,

zuvor. Der FDJ-Vorsitzende Erich Honecker

Zeug zum Reichskanzler bescheinigte. Aber

sondern sein eigenes Haus. Hierhin lud er am

hatte schon beim Taufakt der DDR seinen Part

der katholische Zwangspreuße, der von 1920

Sonntag, dem 21. August, führende Mitglie­

re

und rief in die Oktobernacht: »Wir grüßen aus

bis 1933 auch als Präsident des Preußischen

der von CDU und CSU. Im XII. Kapitel des

tiefstem Herzen das Neue, unsere strahlende,

Staatsrats (einer ArtLänderk arnrner) fungierte,

1. Bandes der »Erinnerungen« (1945-1953)

sollte die deutschen Geschicke erst lenken, als

wird darüber berichtet:

freudige Zukunft!«

Preußen von der Landkarte verschwunden war. »Als Hausherr ergriff ich als erster das Wort

Mit einer Stimme Mehrheit. Er war der jüngste Oberbürgermeister Deutschlands und wurde

Im März 1945 zitierten ihn die Amerikaner ins

und erklärte, daß ich es für falsch hielte, eine

der älteste Regierungschef der Welt. Er war

Kölner Rathaus, im Mai hieß Kölns Oberbür­

Koalition mit der SPD einzugehen

wegen schwächlicher Gesundheit vom Wehr­

germeister wieder Konrad Adenauer - für fünf

in meinen Ausführungen von der gleichsam

„.,

ich ging

dienst befreit worden und ging mit 87 Jahren

Monate. Der britischen Besatzungsmacht, die

beschlossenen Tatsache aus, daß eine Regie­

nur widerstrebend in Pension. Hitler hatte ihn

die Amerikaner am Rhein abgelöst hatte, war

rung mit der FDP und DP gebildet würde. Eine

aus dem Amt gejagt - ihm aber zugleich Re­

der kantige Kölner mit dem Indianerprofil et­

solche Koalition ergab 208 Sitze

spekt gezollt -, die Amerikaner setzten ihn

was zu selbstbewußt aufgetreten: Er wurde

ten wir eine gute Regierungsmehrheit.

„.

Damit hat­

wieder ein. Die Engländer warfen ihn abermals

»wegen Unfähigkeit« entlassen. Eine andere

hinaus. Am Ende vereinigte sich die Welt an

Wertung nahm Jahre später Englands Welt­

Ich schnitt dann die Frage der Besetzung der

seinem Sarg. In solchen Kontrasten hat sich der

kriegspremier Churchill vor: »Der größte Deut­

Ämter

Lebensgang Konrad Adenauers vollzogen. Die

sche seit Bismarck.« Adenauer nutzte seine

Bundeskanzlers an. Ich war überrascht, als

des

Bundespräsidenten

und

des

Stationen vor 1949 enthalten schon alle politi­

zweite Zwangspensionierung, um die CDU

einer der Anwesenden meine Ausführungen

schen Leitgedanken, die für den ersten Kanzler

Rheinland ins Leben zu rufen und wenig später

unterbrach und sagte, daß er mich als Bundes­

der Bundesrepublik Deutschland maßgebend

den Vorsitz der Union in der britischen Be­

kanzler vorschlage. Ich sah mir die Gesichter an

wurden.

satzungszone

und meinte dann: >Wenn die Anwesenden alle

zu

übernehmen.

'' In Adenauers Haus in Rhöndorf wurden :--r-:o;;; :�---�� ;:die Weichen für eine � Koalitionsregierung gestellt„. '' Das erste Kabinett Adenauer. Erste Reihe (von links): Anton Storch (Arbeit, CDU), Ludwig Erhard (Wirtschaft, CDU), Konrad Adenauer (Kanzler, Auswärtiges, CDU), Franz Blücher (Vizekanzler, Landwirtschaft und Forsten,FDP), Jakob Kaiser (Gesamtdt. Fragen, CDU), Thomas Dehler (Justiz, FDP), Hans Lukaschek (Vertriebene, Flüchtlingswesen, CDU); zweite Reihe (von links): Wilhelm Niklas (Ernährung, Marshall-Plan, CDU), Eberhard Wildermuth (Wohnungsbau, FDP); dritte Reihe (von links): Heinrich Heilwege (Bundesrat, DP), Hans Schuberth (Post und Fernmeldewesen, CDU), Gustav Heinemann (Inneres, CDU), Fritz Schäffer (Finanzen, CSU), Hans-Christoph Seebohm (Verkehr, DP). 511

Zeitzeugnis: Adenauers erste Regierungserklärung „Meine Damen und meine Herren! Das Werden des neuen Deutschlands hat sich nach den langen Verhand­ lungen im Parlamentarischen Rat und den Wahlen zum Bundestag am 14. August mit großer Schnelligkeit vollzo­ gen. Am 7. September haben sich der Bundestag und der Bundesrat konstituiert; am 12. September hat der Bun­ destag den Bundespräsiden­ ten gewählt, am 15. Septem­ ber den Bundeskanzler. Der Bundespräsident hat mich dar­ aufhin am gleichen Tage zum Bundeskanzler ernannt. Heu­ te, am 20. September, hat er auf meinen Vorschlag die Bundesminister ernannt. Mit der Konstituierung der Bun­ desregierung, die am heutigen Tage erfolgt ist, ist auch das Besatzungsstatut in Kraft ge­ treten. Wenn auch die Zustän­ digkeit des Bundestags und der Bundesregierung durch das Besatzungsstatut be­ schränkt ist, so darf uns doch diese Entwicklung, dieses Wer­ den des deutschen Kernstaa­ tes mit Freude erfüllen. Der Fortschritt gegenüber den Verhältnissen, die seit 1945 bei uns bestanden, auch ge­ genüber den Zuständen des nationalsozialistischen Reichs, ist groß. Zwar müssen wir uns immer bewußt sein, daß Deutschland und das deutsche Volk noch nicht frei sind, daß es noch nicht gleichberechtigt neben den anderen Völkern steht, daß es - und das ist besonders schmerzlich - in zwei Teile zerissen ist. Aber wir erfreuen uns doch einer wenig­ stens relativen staatlichen Frei­ heit. Unsere Wirtschaft ist im Aufstieg. Wir haben vor allem aber wieder den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Nie­ mand kann bei uns, wie das im nationalsozialistischen Reich der Fall war und wie es jetzt noch in weiten Teilen Deutsch­ lands, in der Ostzone, zu un­ serem Bedauern der Fall ist, durch Geheime Staatspolizei oder ähnliche Einrichtungen der Freiheit und des Lebens beraubt werden. Diese Güter: Rechtsschutz, Schutz der per­ sönlichen Freiheit, die wir lange Jahre nicht besaßen, sind so kostbar, daß wir trotz allem, was uns noch fehlt, uns darüber freuen müssen, daß

Nl'IMEN DU ßVNDfSREPVBUK DEVTSCl-IU\ND IM

DR. Kc. KONRAD ADENAUER

Ernennungsurkunde für Bundeskanzler Adenauer. wir diese Persönlichkeitsrech­ te wieder besitzen. Meine Wahl zum Bundeskanz­ ler, meine Damen und Herren, und die Regierungsbildung sind eine logische Konse­ quenz der politischen Verhält­ nisse, wie sie sich in der Bizone infolge der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats her­ ausgebildet hatten. Die Politik des Frankfurter Wirtschafts­ rats, die Frage „Soziale Markt­ wirtschaft'' oder .Planwirtschaft" hat so stark unsere ganzen Verhältnisse beherrscht, daß eine Abkehr von dem Pro­ gramm der Mehrheit des Frank­ furter Wirtschaftsrats unmög­ lich war. Die Frage: „Planwirt­ schaft" oder .soziale Markt­ wirtschaft" hat im Wahlkampf eine überragende Rolle ge­ spielt. Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgespro­ chen... Ich habe dem Herrn Bundes­ präsidenten die Ernennung von 13 Bundesministern vor­ geschlagen. Ich bin mir be­ wußt, daß manchem diese Zahl auf den ersten Blick groß erscheinen wird. Demgegenüber weise ich dar­ auf hin, daß in unsern Zeiten Aufgaben, die der staatlichen Arbeit bedürfen, entweder ganz neu entstanden sind - ich weise hier auf die Frage der Vertriebenen hin - oder daß staatliche Aufgaben einen sol­ chen Umfang angenommen haben, daß sie den Rahmen der üblichen Ministerien spren­ gen würden. Ich nenne hier die Frage der Wohnungswirtschaft und des Wohnungsbaus. So

sind mehrere der Bundesmini­ sterien zeitbedingt, das heißt: wenn sie ihre Aufgabe erfüllt oder aber wenn ihre Aufgabe wieder einen normalen Um­ fang angenommen haben, werden sie wieder verschwin­ den, während die sogenann­ ten klassischen Ministerien, wie das Ministerium des In­ nern, der Finanzen, der Justiz, der Arbeit usw., ständig blei­ ben werden... Es besteht für uns kein Zweifel, daß wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropä­ ischen Welt gehören. Wir wollen zu allen Ländern gute Beziehungen, auch solche persönlicher Art, unterhalten, insbesondere aber zu unsern Nachbarländern, den Bene­ lux-Staaten, Frankreich, Itali­ en, England und den nordi­ schen Staaten. Lassen Sie mich in dieser Stunde mit besonderem Dank der Vereinigten Staaten ge­ denken. Ich glaube nicht, daß jemals in der Geschichte ein siegreiches Land es versucht hat, dem besiegten Land in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun. Der deutsch-französische Ge­ gensatz, der Hunderte von Jahren die europäische Politik beherrscht und zu so man­ chen Kriegen, zu Zerstörun­ gen und Blutvergießen Anlaß gegeben hat, muß endgültig aus der Welt geschafft wer­ den. Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa spreche, dann, meine Damen und Her­ ren, muß ich auf die Teilung Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird eines Tages - das ist unsere feste Uberzeugung - wieder verschwinden. Diese Teilung ist durch Spannungen herbei­ geführt worden, die zwischen den Siegermächten entstan­ den sind. Auch diese Span­ nungen werden vorüberge­ hen. Wir hoffen, daß dann die Wiedervereinigung mit unse­ ren Brüdern und Schwestern in der Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht."

(Konrad Adenauer im Bundes­ tag, 20. September 1949)

dieser Meinung sind, nehme ich an. Ich habe mit Professor

Martini,

meinem

Arzt,

ge­

sprochen, ob ich in meinem Alter dieses Amt wenigstens noch für ein Jahr übernehmen könne. Professor Martini hat keine Bedenken.

Er meint, auch für zwei Jahre könnte ich das Amt ausführen.< Keiner erhob Widerspruch. Damit war die Sache beschlossen.« Das war die Kanzlerwahl von 1949. Das weitere war nur noch Vollzug, wenn auch mit knappem Ausgang. Am 15. September wurde Konrad Adenauer im ersten Wahlgang von der absoluten Mehrheit der Bundestagsabgeordne­ ten zum Kanzler gewählt - mit einer Stimme Mehrheit. » ... Später fragte man mich, ob ich mich selbst gewählt hätte. Ich antwortete: >Selbstverständlich, etwas anderes wäre mir doch als Heuchelei vorgekommen.< «Aus den »ein bis zwei Jahren« wurden vierzehn, wurde eine der erstaunlichsten Alterskarrieren der Geschichte - die Ära Adenauer.

Der Landesvater. Das Grundgesetz bestimmt in Artikel 63: »Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bun­ destag ohne Aussprache gewählt.« Dazu mußte freilich erst einmal ein Bundespräsident vor­ handen sein. Sehr aufschlußreich ist, wie es zur Nominie­ rung von Theodor Heuss gekommen war. Auch dafür hatte die Rhöndorfer Zusammenkunft die Weichen gestellt. An jenem 21. August schlug Adenauer für das höchste Staatsamt Heuss vor, »da die zweitstärkste Fraktion in der Regierung die FDP sein würde«. Theodor Heuss, geboren am 3 1. Januar 1884 in Brackenheim, war Schwabe und Liberaler aus Leidenschaft. Sein Elternhaus gab ihm den schwäbischen Humor und die Ideale der Revo­ lution von 1848 auf den Weg, der ihn während der Schulzeit in den Kreis des großen Vorden­ kers des sozialen Liberalismus, Friedrich Nau­ mann, führte. Der Gründer des »Nationalsozi­ alen Vereins« wurde der väterliche Freund und erste Arbeitgeber von Heuss: Nach Studium und Promotion trat der junge Staatswissen­ schaftler bei Naumanns Zeitschrift »Die Hilfe« ein, für die er Jahrzehnte tätig war. Für das jahrzehntelange Eheglück seines wortgewalti­ gen Schützlings war Naumann auch »verant­ wortlich«: Beim Chef zum Abendessen gela­ den, lernte Heuss Elly Knapp kennen, die Toch­ ter eines bekannten Nationalökonomen, die

ihm eine ebenso intelligente wie engagierte Gefährtin wurde. Die Trauung vollzog im Bei­ sein Naumanns ein anderes Vorbild des auf-

512

strebenden Journalisten: der Theologe, Arzt

on war für Heuss keine Pflichtübung, sondern

Im Juli 1954 nahm die Bundesversammlung

und Philanthrop Albert Schweitzer.

die Kunst, Freiheit und Toleranz, den Gegen­

Heuss für weitere fünf Jahre in die Pflicht.

satz zur Arroganz der Macht, mit Würde zu

Der »Theodor im Bundestor«, so sein Spitz­

Von 1920 an lehrte Heuss an der Berliner

verkörpern; die Stiftung des Bundesverdienst­

name in Anlehnung an einen populären Schla­

Hochschule

nun

kreuzes und die Ernennung der 3. Strophe des

ger, war der Nation so sehr ans Herz gewach­ sen, daß 1959 gar eine Grundgesetzänderung

für

Politik

und

stand

»mit einem Bein in der Redaktion, mit dem

Deutschlandliedes zur Nationalhymne sollten

anderen am Katheder«; politisch stand er

demselben Anspruch genügen. Heuss war ein

ins Auge gefaßt wurde, um den Professor

den Fortschrittlich-Freisinnigen in der Deut­

Mittler zwischen den Parteien, aber mit eige­

noch länger im Amt zu halten. Heuss lehnte

schen Demokratischen Partei nahe, die sich

nem Profil; er war eine meinungsbildende Au­

dankend ab, wurde feierlich verabschiedet

1930 als Deutsche Staatspartei neu formierte.

torität, die indirekt auf die Gestaltung der Poli­

und kehrte als freier Schriftsteller an seinen

1924 ging der Dozent als Reichtstagsabge­

tik einwirkte.

geliebten Schreibtisch zurück.

ordneter in die aktive Politik; 1933, in der Todesstunde der Weimarer Republik, beging er den größten Irrtum seines Lebens: Obwohl Heuss

schon 1931 in seinem Buch »Hitlers

Weg«

die

Diktatur,

den

Krieg

Schändung des deutschen Namens

und

die

voraus­

gesehen hatte, stimmte er - nach erfolglosem innerparteilichem Kampf - aus falschverstan­ dener Fraktionsdisziplin mit den Liberalen

für Hitlers Ennächtigungsgesetz. Theodor Heuss unterwarf jedes Versagen, auch

" ... nur eine repräsentative Rolle für das höchste Staatsamt.„ '' Theodor Heuss bei seiner Vereidigung zum Bundespräsidenten. Der Schwabe, Urbild des Liberalen und von den Bundesbürgern bald liebevoll „Papa Heuss" genannt, repräsentierte zwei Amtszeiten lang, von 1949 bis 1959, die junge deutsche Republik.

Am 31. Januar 1984 feierte der Bundestag in Bonn den 100. Geburtstag des ersten Präsiden­ ten der zweiten deutschen Demokratie, Profes­ sor Theodor Heuss, der die Verkörperung des gütigen Landesvaters war, einer der Väter des Grundgesetzes und der Vater des Begriffes »Bundesrepublik Deutschland«. Bundestags­ präsidentRainer Barzel würdigte »Papa Heuss«, wie ihn der Volksmund liebevoll nannte, mit den Worten: »Wir danken, daß es ihn gab und wie es ihn gab: wegweisend, klug, liebenswür-

das seine, der persönlichen Verantwortung; nach der Stunde Null mochte er deshalb eine Kollektivschuld der Deutschen nicht gelten las­ sen und prägte das Wort von der »Kollektiv­ scham«. Über seinen letzten Lebensabschnitt schrieb er das Motto, der wiedergewonnenen Freiheit mit ganzer Kraft zu dienen: Der politi­ sche Liberale Heuss wurde Mitbegründer der Freien Demokratischen Partei, der liberale Po­ litiker Heuss erster Kultusminister von Würt­ temberg-Baden. Im Juni 1949 berief die FDP den seit einem Jahr in Stuttgart lehrenden Ge­ schichtsprofessor aus dem Hörsaal ab und nahm

ihn als Parteivorsitzenden in die Pflicht. In dieser Eigenschaft in den Parlamentarischen Rat

entsandt,

arbeitete

der

weißhaarige

Schwabe ebenso eifrig wie unbewußt mit, seine künftigen Befugnisse zu beschneiden: Die Erfahrungen von Weimar bewogen die Väter der neuen deutschen Verfassung, dem höchsten Staatsamt weitgehend die exekutive Gewalt zu entziehen und eine repräsentative Rolle zuzuweisen. Am 12. September 1949 wählte die Bundesver­ sammlung Theodor Heuss zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland; der unterlegene Gegenkandidat Kurt Schumacher, Vorsitzen­ der der SPD, gratulierte mit den Worten: »Machen Sie es gut, Professor.« Der Professor machte es gut. Sein selbstge­ stecktes politisches Feld überschritt er nicht, was die Beziehungen zu Bundeskanzler Ade­ nauer (fast) spannungsfrei hielt, aber wie er sein Amt ausfüllte, setzte Maßstäbe: Repräsentati-

513

dig, ungezwungen, heiter - einer zum Auf­

Mit seinen antikapitalistischen Attacken ge­

nauers kühler Abgründigkeit, seiner patriarcha­

schauen, mit Würde ohne Pathos, unverbrüch­

wann er die Massen im Rausch des Besitzer­

lischen Gemütsruhe, seinem kölnischen Mut­

lichem Gerechtigkeitssinn und glühender Lie­

werbs und des Wirtschaftswunders ebensowe­

terwitz brach sich der leidenschaftlich-gallige

be zur Freiheit.« Der SPD-Vorsitzende Willy

nig wie mit nationalen Thesen, nachdem den

Ansturm des Oppositionsführers.

Brandt gedachte des Mannes, »der jede partei­

meisten alles Vaterländische zu Asche ver­

liche Verklemmung oder ideologische Ver­

brannt war und phrasenhaft klang. Besonders

In einer dieser Auseinandersetzungen, in der

stocktheit mit einem röhrenden Baß einfach

die Art, in der Schumacher die nationalen Pro­

Überreiztheit bei stundenlangen Redegefech­ ten, fiel am frühen Morgen des 25. November

fortlachte«, der als »Entkrampfer der Nation«

bleme ansprach, ließ ihn bei der Mehrheit nicht

das böse Wort von Clemenceau vergessen

ankommen, vor allem nicht bei der europabe­

1949 Schumachers böses Wort, nachdem er

machte, daß die Deutschen das Leben nicht

geisterten Jugend in ihren Blütenträumen von

Adenauer wieder einmal zu kompromißbereit,

liebten, und nannte Heuss »einen nachkriegs­

europäischer Integration. Natürlich wäre es

zu nachgiebig gefunden hatte: »Bundeskanzler

deutschen Glücksfall«.

falsch, wenn man Schumacher nur Irrtümer

der Alliierten«. Das war nicht eine Entgleisung,

Das Petersberger Abkommen. Der Erfolg Ade­

vorwerfen würde; er hat zum Teil auch recht

ein augenblickliches Vergessen parlamentari­

gehabt. Europa, gewiß, das war die Parole der

schen Anstands, es war eine grundsätzliche Verkennung von Adenauers Taktik: durchKom­

nauers mit einer - seiner eigenen - Stimme

Stunde, Europa: das solle zuerst heißen, nie

Mehrheit bedeutete auf der Gegenseite die

wieder gegeneinander Krieg führen. Aber der

promißpolitik schneller die Fesseln des Besat­

Niederlage eines politischen Programms und

leidenschaftliche Anwalt der deutschen Einheit

zungsstatuts loszuwerden, aber bei aller Nach­

ihres Repräsentanten Kurt Schumacher. Für

fürchtete zu Recht, die Westintegration würde

giebigkeit die nationalen Interessen nicht aus

den SPD-Vorsitzenden stimmte die Welt nicht

die Spaltung vertiefen.

dem Auge zu verlieren. Diese Haltung Schu­

Diese Sorge erklärt Schumachers leidenschaft­

den Graben zwischen Regierungsparteien und

machers und seiner Anhängerschaft vertiefte

mehr. Ein Mann von gestern, ein Zentrumspo­ litiker der längst vergangenen ersten Republik, hatte wie selbstverständlich zur Macht gegrif­

lichen Widerstand gegen die engagierte West­

Opposition, machte die Gegnerschaft zur Feind­

fen und hatte sie bekommen; er, der Jüngere,

orientierung des Kanzlers. Wenn nach Rede­

schaft. Während Schumachers Lebzeiten - er

sah sich um den Lohn des Wartens und Leidens,

schlachten Schumachers leidende Inbrunst er­

starb am 20. August 1952- und lange darüber

der gerechten Anwartschaft gebracht. Eins sah

schöpft, das ciceronische Feuer erloschen war

hinaus ist der Bruch nicht mehr geheilt.

er nicht: daß der viel Ältere der Modernere war

und der zweifach Amputierte sich auf seinen

und er, Schumacher, statt dessen die Welt von

Sitz zurückschleppen ließ, dann blieb sein er­

Was eigentlich hatte Schumacher so zornig

gestern bauen wollte.

grauter Widersacher unerschüttert. An Ade-

gemacht? Der äußere Anlaß war das Petersber­ ger Abkommen vom 22. November 1949. Es ging vor allem um die Einschränkung von Demontagen, aber auch um Lockerung von Beschränkungen im Schiffbau und um Mög­ lichkeiten, im Ausland erste Konsulate zu er­ richten. Das Abkommen hatte nach Zugeständ­ nissen des Bundeskanzlers Erleichterungen von seiten der Alliierten gebracht. Die SPD wollte

Die Hohen Kommissare der Alliierten in West­ deutschland (v.l.n.r.): Sir lvone Kirkpatrick (Großbritannien), Andre

Frangois-Poncet (Frank­ reich) und John McCloy (USA). Die Einsetzung der Alliierten Hochkommission im September 1949 bedeutete das Ende der Militärregierung in Westdeutschland. Institutionen und politische Kräfte der Bundesrepublik erhielten weitgehend freie Hand.

"Das Petersberger Abkommen brachte die ersten Erleichterungen von seiten der Alliierten.„ '' 514

nur die Zugeständnisse sehen: vor allem im Beitritt der Bundesrepublik zur Internationalen Ruhrbehörde, einem alliierten Kontrollorgan der Ruhrwirtschaft. Wir müssen ein wenig zu­ rückblicken, um zu verstehen, was die Gemüter so erbitterte. Die Besatzungspolitik der unmittelbaren Nach­ kriegszeit hatte zum Ziel gehabt, Deutschland hinsichtlich wirtschaftlicher Energie und Lei­ stung so zu entmachten, daß nie wieder eine Bedrohung von ihm ausgehen könne. Beson­ ders Frankreich war ein engagierter Verfechter solcher Bestrebungen. Schon der Versailler Vertrag von 1919-ein Diktat der Sieger-hatte bewirkt, Deutschland als überlegenen Konkur­ renten so nachhaltig zu schwächen, daß Frank­ reich auf dem Kontinent wieder die erste Macht war. Ungeachtet der fatalen Folgen dieser Po­ litik - Ausplünderung, Verarmung, Inflation, Radikalisierung des öffentlichen Lebens und Niedergang der Demokratie, Aufkommen Hit­ lers und die Machtergreifung -, knüpfte die

westalliierte Politik 1945 zunächst und sicher mit größerer Berechtigung an jene von 1919 an. Daß sie nicht in gleichem Maß zu wieder­ holen war, lag an der Spaltung der Welt, lag am kalten Krieg. Westdeutschlands Rolle als Vor­ feld gegen die kommunistische Bedrohung

Spalier für Adenauer. Der Bundeskanzler nach dem Empfang bei den drei Hochkommissaren der Westalliierten auf dem Petersberg 1949. Die Ehrenbezeugung der Militärpolizei markiert unübersehbar die Aufwertung des jungen Staatswesens Bundesrepublik.

erleichterte die. Adenauersche Politik, schritt­ weise aus der Rolle des besiegten Landes in die eines Partnerstaates zu treten. Nun ist es aber im Mit- und Gegeneinander von Staaten und Gesellschaften so, daß ein Umden­

die dem Aufbau der künftigen Teilrepublik entzogen werden sollte. Während die Amerika­ ner am ehesten den Widersinn zwischen Marshallplan und gleichzeitigen Demontagen, zwischen Kräftigung und Entzug erkannten, beharrten England und vor allem Frankreich darauf, daß die ursprünglichen »Planziele« des

" ... schrittweise aus der Rolle des Besiegten in die des Partners hineingewachsen ... ''

Abbruchs und der Kapazitätsminderung erfüllt würden. Eine neue Übereinkunft im Sinn der Vernunft wurde unvermeidlich. Auf einer Kon­ ferenz in Paris im November 1949 konnten die Amerikaner ihre britischen Partner überzeu­

ken längere Wege braucht, bis es alle Schalthe­

schaft übertrug, baute das Besatzungsregime

gen, daß man die Westdeutschen nicht zugleich

bel des großen Apparates - Staat genannt -

noch Fabriken ab.

als zukünftigen Verbündeten betrachten und

Westdeutschland zu einem Baustein der ge­

Langsam nur paßte die Wirklichkeit sich den

französischen Bedenken und Konkurrenzäng­

meinsamen Abwehrfront gemacht werden sol­

Absichten der höheren Politik an. Im April

sten setzten sich die beiden angelsächsischen

le, vollzog die Behördenroutine noch brav und

1949 wurde die Liste der zu demontierenden

Mächte weitgehend durch. Ein Kompromiß

erreicht. Als schon längst entschieden war, daß

als Besiegten behandeln dürfe. Gegenüber den

konsequent die Richtlinien von gestern. Das

Betriebe von 1546 auf die knappe Hälfte, 744,

kam zustande. Jetzt sollten nur noch Rüstungs­

war am Beharren auf hemmenden Vorschrif­

zusarnrnengestrichen. Dazu gehörten weiter­

werke demontiert werden, ferner sollte Deutsch­ land der Internationalen Ruhrbehörde beitre­

ten, an der Entflechtung der einstigen Konzerne

hin Hüttenwerke, Kugellagerfabriken, Werf­

und besonders an den Demontagen zu beob­

ten, elektrotechnische und chemische Fabri­

ten, die die Aufteilung von Kohleförderung und

achten. Während der Marshallplan bereits bele­

ken. Das war irnrner noch eine imposante Kon­

Stahlerzeugung regelte. Bisher hatte die Bun­

bende Impulse an die entkräftete deutsche Wirt-

zentration von wirtschaftlicher Produktivkraft,

desrepublik sich geweigert, Vertreter zur Kon-

515

trolle - man konnte auch sagen: Drosselung

sich vielmehr vor Augen führen muß. Unter

besonders hakte die Opposition mißbilligend

- der eigenen Wirtschaft im Bereich der

Adenauers Kanzlerschaft öffneten die Parteien

ein; der Beitritt erschien ihr als Unterwerfung.

Schwerindustrie zu entsenden.

der Mitte und auf der Rechten den Blick auf

Mitte November 1949-der westdeutsche Teil­

Zusammenschlüsse, die Linke trieb nationale,

ätzender Schärfe entgegen, die SPD sei eben

staat bestand ein knappes halbes Jahr- mußte

gesamtdeutsch betonte Politik. Das war übri­

leider eher bereit, »die ganze Demontage bis zu

Adenauer neu überdenken, wie er sich zur

gens der genaue Gegensatz zu den Konstella­

Ende gehen zu lassen«, als daß sie Vertreter von

stellen habe. In dem gewiegten

tionen von Weimar. In der ersten deutschen

deutscher Seite in die Behörde zu entsenden

Europa, auf den Westen, auf übernationale

Ruhrbehörde

zu

Dem Vorwurf hielt der Kanzler mit kühler,

Taktiker gewann die Überlegung Oberhand,

Republik hatten die Linken, Halblinken und die

willens sei. In dem Zusammenhang scheute er

man würde durch Zugeständnisse auf diesem

Mitte verzweifelt mit den Siegern von 1918

sich nicht, ganz offen herauszustellen, daß die

Gebiet Erleichterungen auf anderem erhalten:

Vereinbarungen, Erleichterungen auszuhandeln

Alliierten Druck ausgeübt hatten: Beitritt der

Wären Deutsche erst einmal Mitglied des Kon­

versucht, die nationalen Rechtsparteien hatten

Bundesrepublik zur Ruhrbehörde oder »De­

trollorgans, dann könnte nicht mehr ohne sie

sie dafür geschmäht, sie zu »Verrätern am

montage bis zu Ende«. Adenauer hatte in dieser

entschieden und beschlossen werden; dann

Vaterland« gestempelt. Wenn, nach einem ge­

Lage ein Nachgeben für klüger gehalten. Und

könnte man vielleicht die Demontagen weiter

flügelten Wort, »Bonn nicht Weimar« ist, dann

das war der Reizpunkt der nächtlichen Debatte,

zu vermindern suchen. Für diese Politik ge­

lag gerade in diesem Frontwechsel der späten

an welchem Kurt Schumacher das Wort vom

wann er sein Koalitionskabinett. Immerhin

vierziger und der fünfziger Jahre einer der

»Bundeskanzler der Alliierten« gebrauchte.

konnte er auch auf das alliierte Zugeständnis

bemerkenswertesten Unterschiede zwischen

verweisen, daß die Bundesrepublik Deutsch­

erster und zweiter deutscher Demokratie.

Das Bundestagsprotokoll vermerkt an dieser

schen Dienst aufzubauen: Keimzellen einer

Als Adenauer nach der Unterzeichnung des

und rechts. Großer Lärm und Klappen mit

neuen Außenpolitik.

Abkommens vom Petersberg am 24. Novem­

den Pultdeckeln

ber 1949 vor den Bundestag trat, legte er dem

chen

Haus die Erfolgsbilanz seiner zähen Verhand­

zwanzig Sitzungen schloß er den Oppositions­

Abkommen ausgehandelt. Während die Sozi­

lungen vor: Eine Reihe großer Stahlwerke und

führer von den Sitzungen aus. Das Hohe

aldemokraten unter Schumachers Führung eine

Firmen der Chemieproduktion waren vor De­

Haus der jungen Demokratie hatte seinen

zunehmend härtere nationale Position einnah­

montage gerettet, damit auch Zehntausende

ersten großen Skandal.

men und den alliierten Zusagen mißtrauten,

Arbeitsplätze gesichert; der Schiffbau hatte et­

Stelle: »Stürmische Protestrufe in der Mitte

land das Recht erhalten solle, einen konsulari­

Auf dieser Grundlage wurde das Petersberger

„.

Anhaltendes Glockenzei­

des Präsidenten«

(Dr. Köhler). Für

Europarat und Montanunion. Der kalte Krieg

setzte Adenauer im außenpolitischen Roulette

was mehr Freiraum gewonnen; der konsulari­

beharrlich auf die Westbindung, die Integration.

sche Dienst durfte neu aufgebaut werden; die

wirkte spaltend und einigend zugleich. Wie

Zwischen ihm und dem Westpreußen Schu­

Bundesrepublik konnte einer Reihe internatio­

Deutschland im Vorfeld der Supermächte zer­

macher tat sich eine Kluft auf, die mehr als eine

naler Organisationen beitreten. Dazu gehörte

rissen war, so verstärkte sich im freien Teil

persönliche war, deren kollektive Aspekte man

nun freilich auch die Ruhrbehörde, und hier

Europas zur selben Zeit das Bemühen, die einzelnen Nationen zu einer größeren Einheit zu bringen, durch Partnerschaft stärker zu wer­

Protest gegen die Demontage. Je länger die Demontagen dauerten, desto deutlicher wurde ihr wirtschaftlicher Widersinn. Mit einer ausgeraubten Nation handelte man sich einen Almosenempfänger auf Dauer ein. Als erste stellten die Amerikaner im Mai 1946 die Demontage-Aktionen ein. In den anderen Besatzungszonen gingen sie jedoch noch jahrelang weiter.

'' Die Allüer­ ten üben Druck aus: Beitritt zur Ruhrbehörde oder »Demontage bis zum Ende«.„ '' 516

den. Sicher ist der Europagedanke älter als Churchills berühmter Aufruf vom 19. Septem­ ber 1946 in der Züricher Universität, aber dieses Datum ist ein Meilenstein der Annähe­ rung. Der günstige Zeitpunkt und das Ansehen des Redners riefen Energien wach, die, gelähmt vom Eisernen Vorhang und den Kriegszer­ störungen, auf solch erlösendes Wort gewartet hatten. »Wir müssen eine Art Vereinigter Staaten von Europaerrichten«, hatte der Kriegs­ premier der akademischen Jugend zugerufen und dabei bereits einem mit Frankreich ver­ söhnten Deutschland seinen Platz zugewiesen: »Es gibtkeine Wiedererweckung Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ohne ein geistig großes Deutschland.« Was schon in den zwanziger Jahren, ebenfalls nach einem verheerenden Krieg, als Ideal pro­ pagiert worden war, erwachte nun mit verstärk­ tem Willen neu. Einer der engagiertesten Wort­ führer war Graf Coudenhove-Kalergi, der 1923 in Wien eine Paneuropa-Bewegung gegründet hatte. Das Schicksal Europas, das war nicht nur

dem alten Winston Churchill klar, hing ent­ schieden vom deutsch-französischen Verhält­ nis ab. Und hier gab es nach 1945 gegenüber

1918 einen entscheidenden Unterschied. Haß­ und Rachegefühle waren ungleich schwächer geworden, als hätten sich die Energien der »Erbfeindschaft« nach Jahrhunderten

end­

lich erschöpft. So wäre es vier Jahre nach dem Ersten Weltkrieg unmöglich gewesen, was sich vier Jahre nach dem Zweiten an der deutsch-französischen Grenze abspielte: daß Jugendliche beider Nationen die Schlagbäume zertrümmerten und sich bei loderndem Feuer verbrüderten.

Europa-Gedanke. Das Plakat entwarf der Holländer Dirksen anläßlich eines Wettbewerbs des Rates für Europäische Zusammenarbeit. Für Nachkriegs­ deutschland, das gerade die Exzesse des Nationalismus hinter sich hatte, eröffnete der Europa-Gedanke die Chance zu einer friedlichen Rückkehr in die Völkergemeinschaft.

Der erste Stichtag auf dem Wege zu einem Europa der Institutionen, nicht nur der Worte oder Einzelhandlungen, war der 5. Mai 1949. Damals schlossen sich zehn Länder zum Euro­ parat zusammen, das heißt, sie nahmen in Lon­ don das Statut dieser Organisation an, unter­ zeichneten die Gründungsurkunde: Großbri­ tannien, Irland, Frankreich, die Benelux-Staaten, die drei skandinavischen Länder und Italien. Artikel l bestimmte, daß der Europarat »einen starken Zusammenschluß seiner Mitglieder zum Schutz und zur Förderung der Ideale und Prin­ zipien, die ihr gemeinsames Erbe sind, und zum Besten ihres wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts bezweckt«. Artikel 4 verpflichtete (und verpflichtet) die Mitglieder, die Men­ schenrechte und Grundfreiheiten im Bereich ihrer Grenzen zu achten. Als Hauptorgane des Europarates wurden ein­ gerichtet: die Beratende Versammlung in Straß­

''General de Gaulle wollte mit einer deutsch· französischen Union das Werk Karls des Großen fortsetzen ... ''

burg und der Ministerausschuß. In die Beraten­

werden zu lassen, schon deshalb, weil jede

rung kaum Vorstöße in Richtung Europarat

de Versammlung delegierten die nationalen

Teilnahme

unternehmen, obwohl die Westmächte dies

an

Kollektiveinrichtungen

ein

Parlamente Abgeordnete, und zwar nach einem

Schritt auf dem Wege zur Gleichberechtigung

sogar gern gesehen hätten. Jetzt aber zeigte

von der jeweiligen Größe abhängigen Länder­

war und die Beschränkungen der Souveränität

Adenauer sich wieder einmal auf der Höhe

schlüssel. Dazu kam 1958 das Europa-Parla­

lockern mußte.

seines taktischen Geschicks. Vier Tage nach

sammlung der EWG, Montanunion und Euro­

Auf dem Wege dieser logischen Folgerung lag

schen Journalisten ein Interview, worin er eine

dem Saar-Abkommen gab er einem amerikani­

ment, die gemeinsame parlamentarische Ver­ päischen Atomgemeinschaft (EURATOM).

jedoch ein sperriges Stück: die Saar. Die Fran­

deutsch-französische Union propagierte; sie

Auch diese zweite Körperschaft wurde von den

zosen hatten das Saarland 1947 aus ihrer Besat­

würde »einem schwerkranken Europa neues

Parlamenten der Mitgliedsländer beschickt,

zungszone herausgelöst und in das französi­

Leben und einen kraftvollen Auftrieb geben«.

gleichfalls mit Sitz in Straßburg. Einundzwan­

sche Wirtschaftssystem eingegliedert. Anfang

Er vergaß nicht zu erwähnen, daß die Saar vor

zig Jahre später, 1979, hat Europa einen großen

1950 gab Frankreich dem Saarland Autonomie

Gründung einer solchen Union an Deutschland

Schritt getan: von der indirekten Abgeordne­

und vereinbarte gleichzeitig eine langfristige

zurückgegeben werden müsse - aber das Pro­

tenwahl zur direkten, von der Entsendung durch

Ausbeutung der Kohlengruben.

blem würde sich in solchem großen Rahmen von selber lösen ... Die Flucht nach vorn ver­

die Parlamente zur Entsendung durch das Volk. So wurde das Europäische Parlament stark

Die institutionalisierte Verflechtung der Saar

schlug den Franzosen zunächst fast den Atem;

aufgewertet.

mit Frankreich wurde in Bonn mit Sorge gese­

sie hatten viel eher scharfen Protest aus Bonn

Die Bundesrepublik Deutschland gehörte nicht

hen. Es war ein Verstoß gegen das Potsdamer

erwartet. Der Protest kam auch, er wurde am 11.

Abkommen (das Frankreich freilich nicht mit

März 1950, abermals vier Tage später, offiziell

zu den Gründungsmitgliedern des Europarates,

unterschrieben hatte), denn der Saarvertrag

nachgereicht. Der Form war damit Genüge

denn sie bestand ja noch gar nicht. Kaum aber,

veränderte die Westgrenzen Deutschlands und

getan, aber die Verwahrung war nun so konzi­

daß sie konstituiert war, mußte es Adenauers

griff damit einem Friedensvertrag vor. Unter

liant verpackt, daß man zur europäischen

Bestreben sein, die junge Republik Mitglied

solchen Umständen konnte die Bundesregie-

Tagesordnung übergehen konnte.

517

Schuman-Plan. Frankreichs Außenminister Robert

Schuman (rechts) mit seinem deutschen Amtskollegen Heinrich von Brentano. Auf einen Plan des Franzosen ging die Gründung der Montanunion im April 1951 zurück, die ein einheitliches europäisches Wirtschaftsgebiet für Kohle, Stahl und Eisen schuf.

Grundidee zeitgemäß und geschichtlich not­ wendig erschien. Ein knappes Jahr nach dem Vorstoß

Schumans

unterzeichneten

sechs

Länder den Vertrag über die Montanunion: Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und die Benelux-Länder. »Mit der Unterzeichnung des Vertrages«, hieß es in einer Deklaration, »durch den die Europäische Kohle- und Stahlgemein­ schaft, eine Gemeinschaft von 160 Millionen Europäern, geschaffen wird, haben die ver­ tragschließenden Parteien bekundet, die erste übernationale Institution zu schaffen und dar­ über hinaus den Grundstein zu einem organi­ sierten Europa zu legen.« Als lenkendes Organ der Schwerindustrie­ Gemeinschaft wurde die internationale Hohe Behörde mit Sitz in Luxemburg geschaffen; ihr erster Vorsitzender:

Jean Monnet. Die

Hohe Behörde erhielt Lenkungsbefugnisse solcher Art: Investitionshilfen aus Anleihen, Anpassungshilfen bei Strukturkrisen, Erzeu­ gungsbeschränkungen bei Absatzmangel, Fest­

"Die Montanunion wurde zur Vorreiterin der europäischen Integration„. ''

setzung der Preise, Abbau von Wettbewerbs­ Hemrnnissen. Alles in allem hat die Montanunion, deren Vertrag im Januar 1952 vom Deutschen Bun­ destag ratifiziert wurde und der im Juli 1952 in Kraft trat, die Erwartungen erfüllt. Ohne die Überzeugung, daß das Wagnis gelungen sei, hätten die sechs Partnerstaaten kaum den Mut gefunden, fünf Jahre später, 1957, in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu grün­ den - die zwar schwere Mängel aufweist, die

Zunächst äußerte General de Gaulle beein­

blickend, ohne sein geistiges Erstgeburtsrecht

druckt, eine Union zwischen Frankreich und

an dem Plan sonderlich hervorzuheben: »Schu­

wir uns aber heute kaum mehr fortdenken kön­

Deutschland - er dachte immer weiträumig -

mans Plan entsprach voll und ganz meinen seit

nen. Dafür mußte die Montanunion der Vorrei­

würde das Werk Karls des Großen fortsetzen.

langem vertretenen Vorstellungen einer Ver­

ter sein, der Spähtrupp im unbekannten Gelän­

Konkreter war, was am 9. Mai 1950 geschah.

flechtung der europäischen Schlüsselindustri­

de der europäischen Integration.

Der französische Außenminister Robert Schu­

en. Ich teilte unverzüglich Robert Schuman

und

contra

Wiederbewaffnung.

man plädierte dafür, die deutsche und französi­

mit, daß ich seinem Vorschlag aus ganzem

Pro

sche Kohle-, Stahl- und Eisenproduktion zu

Herzen zustimme.« Unter diesen Umständen,

Kriegsende Mai 1945 hatte die Parole »Nie

vereinigen. Anderen europäischen Ländern solle

durch diesen außenpolitischen Durchbruch,

wieder deutsches Militär« zum Standard-Vo­

der Beitritt offenstehen. Jeder Krieg zwischen

konnte Bonn es trotz der ungeklärten Saarfrage

kabular nicht nur bei den Siegern, sondern

Frankreich und Deutschland, verkündete Schu­

wagen, dem Europarat beizutreten, zuerst als

auch bei den Besiegten gehört. Anfang der

man, werde durch die Montanunion nicht nur

assoziiertes Mitglied, 1951 als Vollmitglied.

fünfziger Jahre sah die Welt ganz anders aus.

Wesentlich beteiligt an dem Plan war der fran­

In den deutschen Zechen und Stahlwerken über­

sich binnen weniger Jahre so sehr verändert

zösische Wirtschaftspolitiker Jean Monnet, der

wogen die Bedenken. Würde der eben eingelei­

hatten, lag am Korea-Schock vom Sommer

aber nicht, wie Schuman, mit dem deutsch­

tete Aufschwung der heimischen Wirtschaft

1950. Am 25.Juni waren überlegene Streitkräf­

französischen Schicksal schon von Geburt ver­

vielleicht durch kommende Gemeinschafts­

te aus dem kommunistischen Nordkorea in den

bunden war; vielmehr stammte er aus dem

beschlüsse gedrosselt werden? Konnten zu vie­

unter dem Einfluß der USA stehenden südli­

berühmten französischen Städtchen Cognac.

le internationale Köche den nationalen Brei

chen Landesteil eingedrungen und hatten ihn

Das französische Projekt wurde nicht zuerst

verderben? War vielleicht schon Konkurrenz­

überrannt. Nur mit äußerster Anstrengung,

öffentlich verkündet, sondern war in zwei Brie­

denken im Spiel, das beginnende deutsche Wirt­

furchtbaren Opfern und Verwüstungen war es

undenkbar, sondern auch materiell unmöglich.

Seit

Daß die Welt und ihre Anschauungsweisen

fen enthalten, die per Boten überbracht und

schaftswunder nicht zu groß werden zu lassen?

der vor allem aus US-Streitkräften bestehenden

dem Kanzler am 9. Mai 1950 mit dem Vermerk

Der Vertrag über die Montanunion war trotz

UNO-Streitmacht gelungen, den ursprüngli­

»äußerst dringend« in eine Kabinettssitzung

solcher Sorgen und trotz des kleineuropäischen

chen Machtzustand wiederherzustellen. Der

hineingereicht wurden. Adenauer schreibt rück-

Anstrichs nicht aufzuhalten, weil er in der

Korea-Schock saß tief, und nicht wenige West-

518

deutsche - in einem gleichfalls geteilten Land

wollte nicht öffnen. Er ließ damals noch durch

mus, trotz des Sicherheitsbedürfnisses und

mit

gegenüberliegenden

Bundeskanzler Adenauer erklären: »Es muß

der täglichen wechselhaften Militärberichte

kommunistischen Landesteil, wo es inzwischen

ein für allemal in der Öffentlichkeit klargestellt

aus Korea wollte die große Mehrheit von

60 000 Mann kasernierter Volkspolizei gab -

werden, daß ich prinzipiell gegen eine Wieder­

einer

verglichen besorgt die ähnliche Ausgangslage

bewaffnung bin.« Im Bundestag blies die Op­

nichts wissen. Für den Schutz hatte man

und fragten sich: Wann sind wir an der Reihe?

position ins gleiche Horn. »Die Sozialdemokra­

ja die Amerikaner ...

einem

gleichfalls

Remilitarisierung

im

eigenen

Land

tische Fraktion«, so äußerte Erich Ollenhau­ Bundeskanzler Adenauer reagierte schnell. In

er, »lehnt es ab, eine deutsche Wiederaufrü­

Eine politisch deutliche Sprache redeten die

einer Sitzung mit den Hohen Kommissaren -

stung auch nur in Erwägung zu ziehen.«

Landtagswahlergebnisse in der Zeit von Ende

Und dann, wie gesagt, kam Korea, und der

für die Union gegenüber 52,3 Prozent vier Jahre zuvor; Hessen: 19,0(30,9); Württemberg­

vor Jahren hießen sie noch Militärgouverneure, bald würden sie Botschafter heißen - brachte er

1950 bis Frühjahr 1951. Bayern: 27,6 Prozent

am 17. August 1950 die Sicherheitsfrage zur

Kanzler änderte sein »ein für allemal« überra­

Sprache. Dabei schlug er vor, eine westdeut­

schend schnell, doch das wurde in der Öffent­

Baden: 26,3(38,3 ); Rheinland-Pfalz: 39,2(47,0)

sche Verteidigungsstreitkraft bis zu 150 000

lichkeit zunächst nicht bekannt. Aber die Dis­

Prozent. Die Tendenz war lebensbedrohend für die Union, doch Adenauer blieb unbeirrt.

Freiwilligen aufzubauen. Dabei hatte der Kanz­

kussion war nicht mehr aufzuhalten, zumal

ler von vornherein keine nationale Armee im

Winston Churchill schon im März, also vor

»Es gibt nur einen Weg, den Frieden zu retten«,

Auge, sondern eine Truppe im Rahmen euro­

dem Einfall Nordkoreas in den Süden der Halb­

äußerte er im Oktober 1951, »das ist der Weg

päischer Integration. Als Rückendeckung dien­

insel, im Unterhaus für eine deutsche Wieder­

zur Eingliederung Deutschlands in die Euro­

te ihm nicht nur die Aufrüstung in der Sowjet­

bewaffnung eingetreten war und nun vor dem

päische Verteidigungsgemeinschaft.«

zone, sondern auch Churchills Rede vom 11.

Europarat erneut. Der Kanzler, der bisher auf

August vor dem Europarat, worin der britische

der Woge der Volksströmung gesegelt war, der

Oppositionsführer sich für eine europäische

den Puls seiner Landsleute so sicher gefühlt

(EVG) war vom französischen Ministerpräsi­

Armee unter deutscher Beteiligung ausgespro­

und der erkannt hatte, wo ihre Interessen lagen

denten Pleven im Jahr zuvor, im Oktober 1950,

chen hatte. Der Plan war in den USA sehr

und wo nicht, der hatte plötzlich den Wind im

vorgeschlagen worden, als militärisches Ge­

begrüßt worden.

Gesicht. Trotz der Angst vor dem Kommunis-

Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft

genstück zur Montanunion. Dabei dachte er an eine Fusion von Truppen und Material unter

Die Anregung des Kanzlers fiel bei den Besat­ zungsmächten auf fruchtbaren Boden, wie er in seinen Memoiren schreibt. Aber nun geschah Überraschendes. Der Zivilist Adenauer, der nie eine Waffe getragen hatte, dem militärische Fragen völlig fremd waren und der eine deut­ sche Armee allein unter dem Sicherheitsaspekt und als Instrument westeuropäischer Annähe­ rung sah - dieser Staatsmann unterschätzte die Wehrmüdigkeit seiner Landsleute. Er wurde von Protesten gegen die Wiederbewaffnung

'' Die Deutschen wollten von einer Remilitarisierung nichts wissen ... '' Wiederbewaffnung. Der britische Premier Winston Churchill (im Bild rechts, mit dem Bundestagsabgeordneten Hermann Pünder) schlug im August 1950 die Aufstellung einer europäischen Armee mit deutscher Beteiligung vor.

einer übernationalen politischen und militäri­ schen Autorität. Leitgedanke war, es nicht zur Wiederbelebung einer selbständigen deutschen Armee kommen zu lassen; deutsche Truppen­ kontingente sollten von vornherein Teil eines größeren Ganzen sein. Da dies vollkommen im Sinne Adenauers war, hatte seine Zustimmung keine vierzehn Tage auf sich warten lassen, ungeachtet der Demission seines Innenmini­ sters Gustav Heinemann. Der wollte eine deut-

überschwemmt. War das verwunderlich nach dem Inferno, in das deutsche Waffen und Sol­ daten 1939 bis 1945 Europa und die halbe Welt gestürzt hatten? Doch ein Gespenst ging um in Europa, das Gespenst der Furcht vor derri Kommunismus. Der imperialistische Spätstalinismus erschreck­ te die westliche Welt, vor allem seit dem kom­ munistischen Umsturz in der Tschechoslowa­ kei im Frühjahr 1948

-

das war der Anstoß

für die Gründung der NATO ein Jahr später und seit der Berliner Blockade im Sommer desselben Jahres. Kaum zu glauben, aber Ende 1949war im Pariser »Combat« zu lesen: »Wir wollen uns nichts vormachen: Die Verteidi­ gung an der Elbe macht eine deutsche Armee unvermeidlich.« Erstmals pochte die Weltpolitik an die Einfrie­ dung, hinter der der abgerüstete deutsche Mi­ chel friedlichen Geschäften nachging. Michel

519

sehe Wiederbewaffnung nicht mitverantwort­ lich unterstützen. Heinemann, ein gottesfürch­ tiger Christ, warnte: Gott habe den Deutschen zweimal die Waffen aus der Hand geschlagen; ein drittes Mal dürften sie sie nicht ergreifen.

Die Stalin-Note. Mitten in der Debatte um die EVG, die später doch nicht zustande gekommen ist, weil die Franzosen Angst be­ kamen vor ihrer eigenen Courage und das Projekt im Parlament zum Scheitern brachten, mitten im leidenschaftlichen Für und Wider um einen deutschen Beitrag zur europäischen Verteidigung meldete sich eine unerwartete Stimme zu Wort. Stalin schickte eine Note an die drei Westmächte, in der er Verhandlungen über den Abschluß eines Friedensvertrages für Deutschland unter Beteiligung einer ge­ samtdeutschen

Regierung

anbot.

Weitere

Kernpunkte des sensationellen Dokuments: Deutschland wird als einheitlicher Staat wie­ derhergestellt; die Besatzungsmächte verlas­ sen das Land spätestens ein Jahr nach Inkraft­ treten

des

Friedensvertrages;

Deutschland

verzichtet auf Militärbündnisse gegen jede der Siegermächte; nationale Streitkräfte und die

Erich Ollenhauer (SPD) sagte in der Wehrdebatte: „Die Eingliederung Deutschlands in das militärische Verteidigungssystem des Westens kann zu einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands führen."

Herstellung der nötigen Waffen sind erlaubt. ter, am 14. März 1952, vor der Volkskammer Nachdem der Westen sich von seiner Überra­

erläuterte: »Freie Wahlen zur verfassungge­

schung erholt hatte, ging er an die Analyse und

benden Nationalversammlung sind der kürze­

Interpretation. Hilfestellung bot der DDR-Mini­

ste Weg zur Wiederherstellung der deutschen

sterpräsident Grotewohl, der vier Tage spä-

Einheit.«

Schreckbilder des Kommunismus,

Kein sowjetisches Angebot war bisher so weit

wie sie bereits in der Weimarer Zeit verbreitet worden waren, tauchten in der Wahl­ werbung der CDU wieder auf.

gegangen, kein sowjetisches Angebot - das wissen wir erst im Rückblick - reichte bis zu Gorbatschows Einverständniserklärung zu der deutschen Wiedervereinigung im Juli 1990 an dieses heran. Woher plötzlich diese Nachgiebigkeit, diese Zugeständnisse, die doch außerdem den Frei­ heitswillen der unterdrückten Ostvölker in ge­

Wehrdebatte im Bundestag. Adenauer am 7. Februar 1952 während seiner Regierungserklärung, die die Wehrdebatte einleitete. ,Wir werden sicher zunächst mit Freiwilligen anfangen", sagte der Kanzler, ,aber es wird der Zeitpunkt kommen, wo der Frage eines deutschen Wehrgesetzes näher getreten werden muß."

fährlicher Weise stimulieren und damit die Position der Sowjetunion in Osteuropa schwä­ chen mußten? Das wird sich kaum klarer beant­ worten lassen als durch einen Blick auf die Gedankengänge von Paul Sethe. Der große Kommentator der fünfziger Jahre veröffentlichte 1956 ein schmales Buch unter dem Titel »Zwischen Bonn und Moskau«. Der

'' Leidenschaftliches Für und Wider um den deutschen Beitrag zur europäischen Verteidigung.„ '' 520

Bewunderer von Adenauers Staatskunst und scharfe, aber immer vornehme Kritiker seiner Handlungsweise in der Deutschlandpolitik kommt darin zu dem Schluß, daß Stalin aus Gründen des sowjetischen Sicherheitsstrebens zu so weitgehenden Angeboten genötigt wor­ den sei. Augenreibend fragte sich vielleicht

mancher damalige Leser, ob der Verfasser bei Trost sei: das größte Land der Welt, waffenstar­ rend von der Elbe bis Wladiwostok, und dann Furcht vor einer Wiederbewaffnung in Deutsch­ land? Aber die Landkarte und die Stückzahlen von Panzern können leicht zu falschen Schlüs­ sen verführen. Stalin und das Politbüro betrachteten, wenn man sich diese Überlegungen zu eigen macht, eine deutsche Wiederbewaffnung durchaus nicht isoliert, sondern im globalen Zusammen­ hang »kapitalistischer Einkreisung« - sicher ohne hinreichend zu berücksichtigen, wie sehr jene »Einkreisung« Folge kommunistischer Weltrevolutionsvorstellungen war. Und dabei spielte so viel Irrationales hinein, daß die Note vom 10. März 1952 in ihren Zugeständnissen erheblich weiter ging, als nach der bisherigen harten Kreml-Politik zu erwarten gewesen wäre. Darin liegt die Bedeutung des sowje­ tischen Angebots. Wie reagierte der Westen? Die Alliierten wollten die beginnende militäri­ sche Zusammenarbeit angesichts des fortdau­ ernden Koreakrieges gar nicht erst durch di­ plomatische Störmanöver aus dem Osten - so wurde Stalins Intervention abgetan - aufhalten lassen. Sie ignorierten zwar nicht die diploma­ tische Aktion des Kreml, verlangten hingegen Vorleistungen, die die Sowjetunion nicht zu geben bereit war. In der Bundesrepublik Deutschland war die Reaktion auf Stalins Lockruf durchaus nicht allenthalben so eindeu­ tig abweisend wie Adenauers Meinung (»ein Fetzen Papier«). Viele sahen in dem Angebot zumindest eine Chance. Ob es ernst gemeint war, wußte keiner, aber um dies zu erkunden, gab es das altbewährte diplomatische Mittel der Verhandlungen. Dabei hätte der Integrati­ onsprozeß ruhig weiterlaufen können. Ein rei­ nes »Störmanöver«, sofern es eines war, konnte man dadurch leicht auflaufen lassen. Viele sag­ ten sich auch, daß die Interessen der Westmäch­ te nur zum Teil unsere Interessen seien. Ihnen ginge es allein um ihre Sicherheit, uns aber auch um unser geteiltes Land und um die Frage, ob die schon jetzt weit gediehene Spaltung auf­ zuhalten oder gar rückgängig zu machen sei. Dagegen stand allerdings die Mehrheit, die angesichts der latenten Dauerbedrohung durch den expansiven Kommunismus überhaupt kei­ ne ehrlichen Absichten bei den Sowjets in Rechnung stellte, die sich obendrein von Ade­ nauers zuversichtlichen Worten beschwichti­ gen ließ, die Festigung des Bündnisses, also eine Politik der Stärke, werde automatisch zur Wiedervereinigung führen. So blieben die

E J. Strauß in der Bundestagsdebatte wn die EVG ,,Wir müssen von der Gegen­ wart und ihren Notwendigkei­ ten ausgehen. An uns sind heute in dieser Situation, bei dieser Lage des deutschen Volkes von unserem Gewis­ sen bestimmte Fragen ge­ stellt. Wir müssen diese Fra­ gen beantworten, und die klare und nüchterne Entschei­ dung, die in absehbarer Zeit zu treffen sein wird, darf nicht, so groß die Verlockung auch wäre - Herr Kollege Ollenhau­ er, für Sie wie für mich-, durch den Blick nach rückwärts, mit den Gefühlen, die er auslösen könnte und zum Teil im lande ausgelöst hat, getrübt werden. Wenn ein Haus vom Feuer bedroht wird, ist der Streit unter den Mietparteien, wer das Feuer verschuldet hat, zwecklos. Das muß klar und rasch entschieden werden, wie man Einhalt gebieten kann, und dann müssen alle Hände zusammenhelfen, um das Haus zu retten. (Abg. Müller, Frankfurt: Aber Sie wollen es ja anzünden!) - Wer es anzünden will oder nicht, darüber sind wir uns sehr genau im klaren, lieber Freund. (Zuruf von der CDU: Lieber Freund?) Wenn Sie glauben, daß ein Brandstifter dann schon als harmlos gilt, wenn er als Brandversicherungsagent eine Zeitlang herumläuft, dann ir­ ren Sie sich. (Lebhafter Beifall in der Mitte. - Zuruf des Abg. Müller, Frankfurt) Ich gehöre zu denjenigen, die, wie wahrscheinlich die Mehr­ heit in diesem Hause, im letzten Krieg sechs Jahre lang Uniform getragen und das Grauen des Zweiten Welt­ kriegs, von dem Sie gespro­ chen haben - wenn auch persönlich mit viel Glück, und dafür gebührt der Dank nach meinem Glauben dem lieben Gott, es ist nicht mein Ver­ dienst - überstanden haben und durch diese Zeit hindurch­ gekommen bin. Ich bin mir dieser Vergangenheit und die­ ser Zeit so wohl bewußt, Herr Kollege Ollenhauer, daß ich von mir aus gesehen, wenn es um die Entscheidung ginge: sollen wir wieder Soldaten werden oder nicht, wenn es um die Frage ginge: neutral

Franz Josef Strauß, Abgeordneter der CSU. sein oder nicht neutral sein, wenn das die wirkliche Alter­ native wäre, sagen würde: Pack deinen Krempel ein, häng deinen Rucksack um und hau ab! Wir wollen nicht mehr. (Sehr gut! bei den Regierungs­ parteien.) Ich glaube, wir sollten auch nicht mit einem gefährlichen Argument operieren, das die Wachsamkeit einschläfert, eine richtige Entscheidung verzö­ gert und auch die Rückkehr Deutschlands zu Gleichbe­ rechtigung und Freiheit auf unabsehbare Zeit hinaus­ schiebt, nämlich von unserer Seite aus zu sagen: War es bisher nicht zu spät, dann kann es auch nie zu spät werden. (Sehr richtig! bei den Regie­ rungsparteien.) Wir sind uns sehr wohl darüber klar, wenn es in vier Wochen brennt, nicht in vierzehn Ta­ gen durch einen Verteidi­ gungsbeitrag eine wirksame Sicherung aus eigener Kraft schaffen zu können. Wir wis­ sen genau, daß das Ausmaß an aktivem deutschen Vertei­ digungsbeitrag, das diskutiert worden ist, eine sogenannte weiche Zeit oder Risikoperi­ ode von 18 bis 24 Monaten einschließt. Das nicht zu sagen, wäre verantwortungs­ los, wenn auch die Periode unter bestimmten Umständen verkürzt oder jedenfalls das Ausmaß und das Risiko der Gefahr während dieser Peri­ ode eingeschränkt werden kann. Wir sollen uns aber davor hüten, zu sagen: Es gibt

kein Zuspät. Es hat in der Weltgeschichte schon eine Reihe von Situationen gege­ ben, wo es zu spät war. (Sehr gut! bei den Regierungs­ parteien.) Ich glaube, die Damen und Herren von der SPD werden ein gewisses Verständnis für das haben, was ich jetzt sage. Wenn wir und manche von Ihrer Fraktion so direkte Nutz­ nießer oder direkte Leidtra­ gende der Entwicklung wäh­ rend des letzten Krieges gewesen sind, wir als Frontsol­ daten haben es in den ersten Jahren der Feldzüge aus menschlicher Natürlichkeit denkbar angene�m empfun­ den, daß wir die Uberlegenen gewesen sind, daß Deutsch­ land mit seiner Rüstung einen Vorsprung hatte, der einen Blitzkrieg ermöglicht hat. Aber haben wir nicht vor dem Krieg in Deutschland, und zwar vom General bis zum Fabrikarbei­ ter, manchmal gewünscht, daß das Ausland, bevor der Krieg ausbrach, eine so klare Sprache gesprochen hätte, daß uns der Gang als Frontsol­ dat erspart geblieben wäre? (Beifall der Regierungspartei­ en.) Gerade die Tatsache, daß es nicht geschehen ist, hat nach dem Kriege so stark dazu beigetragen, daß wir es uns nicht gefallen lassen konnten, die Kriegsschuld eindeutig auf uns zu nehmen. (Sehr gut! bei den Regierungs­ parteien.) Friedenspolitik heißt eines: klar erklärter Verzicht darauf, politische Ziele mit Gewalt durchsetzen zu wollen. (Sehr gut! in der Mitte) Friedenspolitik heißt aber auch, einem eventuellen Angreifer klarzumachen, daß sein An­ griff auf den organisierten Gesamtwiderstand Europas und Amerikas stoßen wird. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) So gern ich die beiden mitsammen sprechen sehe, so möchte ich doch Herrn Dr. Adenauer und Herrn Dr. Schu­ macher nicht gern hinter Stacheldraht im Ural sich darüber unterhalten sehen, was sie im Frühjahr 1952 hätten tun sollen!" (Stürmischer Beifall bei den Regierungsparteien.)

Skeptiker in der Minderheit.

521

In Perspektive gerückt: Kurt Schumacher unter Umständen an eine sozialistisch-katholische Ko­ alition nach den Wahlen von 1953 denken. Eine derartige Annäherung würde für die Pläne der Herstellung der Einheit Europas einen unge­ heuren Schritt vorwärts be­ deuten.

Er war Adenauers großer Widersacher; mit seinem Na­ men verbindet sich die Erinne­ rung an die ersten parlamenta­ rischen Schlachten der Bun­ desrepublik. Das wird deutlich in den Nachrufen, die das In­ und Ausland Kurt Schuma­ cher, dem Vorsitzenden der SPD, nach seinem frühen Tod im August 1952 widmete. „The Tlmes" (London): Die Persönlichkeit Dr. Schu­ machers hat die deutsche sozialdemokratische Bewe­ gung so beherrscht, daß es jetzt angebracht scheint, Ver­ mutungen anzustellen, daß die Partei ohne ihn vielleicht ihre Taktik ändert. Die festge­ legten Auffassungen der Par­ tei scheinen zu dem Schluß zu führen, daß Deutschland sei­ ne Verbündeten im Westen suchen muß und daß die einzigen Meinungsverschie­ denheiten (mit der Regie­ rungskoalition) über Fragen der Methoden und des zeitli­ chen Vorgehens bestehen. So wichtig diese Meinungsver­ schiedenheiten sein können, Dr. Schumacher hat sie in der letzten Zeit über Gebühr betont. Es ist gut möglich, daß seine Partei in absehbarer Zeit ihre extreme Position über­ prüft. „Manchester Guardian": Die SPD wird, nachdem sie ihren Steuermann verloren hat, über ihren weiteren Kurs nachdenken müssen. Sie kann die Linie beibehalten, die Schumacher festlegte - eine Linie unfruchtbarer Opposition zu einer Politik, die die Partei eingestandenermaßen selbst verfolgen müßte, falls sie an die Regierung käme. Die Partei kann aber auch einen Kurs anstreben, der, wenig­ stens auf außenpolitischem Gebiet, mehr an eine gemein­ same Politik mit den Regie­ rungsparteien herankommt. „New York Tlmes": Wenn alle Seiten berücksich­ tigt werden, hat Schumacher seinem lande und der Sache des freien Europa mehr zum Schaden als zum Nutzen gereicht. Er war das Beispiel eines Mannes, der Extremismus mit Extremismus bekämpfte. Lei-

Kurt Schumacher, 1946-1952 Vorsitzender der SPD. denschaftli�� kompromißlos gegen das Ubel des National­ sozialismus anzugehen, ist Tugend, aber dieselben Ei­ genschaften in einer Situation einzusetzen, die Geduld, Ver­ ständnis und schöpferische Kritik erfordert, ist ein Laster. Vielleicht wird er als ein Staatsmann von hohen Ga­ ben, der das Unglück hatte, physisch und ideologisch ein Opfer des Naziregimes ge­ worden zu sein, in die Ge­ schichte eingehen. „Le Combat" (Paris): Schumacher war gleichzeitig Egmont und Friedrich Wil­ helm, Freiheitsheld und Flü­ geladjutand der Sozialdemo­ kratie. Indem er gegen die Diktatur und gegen ein Regi­ me aufstand, das »den Mann auf der Straße« nicht an­ sprach, hielt er seine Partei unter einer eisernen Faust, unterwarf sie im Namen der Freiheit seinen Ansichten und wurde dem deutschen Sozia­ lismus ein wahrer Führer. „Le Matin" (Paris): Das Verschwinden Schuma­ chers hat in Deutschland ein erhebliches politisches Vaku­ um geschaffen. Es wird ent­ scheidende Folgen für die politische Zukunft der Bun­ desrepublik und ihre Bezie­ hungen zum Westen haben. Wenn 1949 die beiden großen Parteien keine gemeinsame Regierung bilden konnten, so lag das in der persönlichen Gegnerschaft zwischen Ade­ nauer und Schumacher be­ gründet. Jetzt könnte man

„Frankfurter Allgemeine Zeitung" Schumacher wollte gerade als internationaler Sozialist nicht, daß sein eigenes Volk ausge­ schlossen werde von den Ideen der Freiheit und der internationalen Gerechtigkeit, die den Kern der demokrati­ schen Ideenwelt bilden. Wo er die Bedrohung nur sah, hat er gesprochen. Er hat es oft in Tönen getan, die uns als zu schrill erschienen. Aber im ganzen hat er gewiß seinem lande einen Dienst erwiesen. Es war gut und sinnvoll, daß in den Jahren der deutschen Ohnmacht einer da war, der die Sieger davor warnte, zu weit zu gehen. Er hat auch seine eigenen Landsleute nicht geschont, er hat die Regierung und ihre Anhänger verletzt. Aber er hat, gerade weil er in der Opposition war, Deutsch­ land in den internationalen Verhandlungen genützt. Zu den diplomatischen Erfolgen der Bundesrepublik hat auch sein Eingreifen geholfen. Er war ein großer Patriot, er liebte sein Vaterland, er wollte es glücklich und in staatlicher Einheit sehen. Er hat niemals eine amtliche Stellung bekleidet, aber er hätte, als er in den letzten Monaten krank in seinem Gar­ ten lag, mit melancholischem Stolz von sich sagen können: Patriae in serviendo consu­ mor. Im Dienste des Vaterlan­ des und im Dienste seiner politischen Ideen hat sich Kurt Schumacher verzehrt. Mit ihm ist ein Wächter dahingegan­ gen, der unermüdlich über sein Land schaute und auf­ stand, wenn er Gefahren erblickte. Nicht ohne Bangen sieht man auf den verwaisten Platz. Ein Stück seines Mutes und seiner Leidenschaft, sei­ nes federnden Geistes und seiner Lauterkeit werden im Bundeshaus immer lebendig bleiben müssen, wenn dieses Land bestehenbleiben soll.

In Demokratien zählen Stimmen, sonst nichts. Spätestens 1953 konnte Adenauer sich wieder in der Sonne der Wählergunst wärmen und seinen streng antikommunistischen und pro­ westlichen Kurs für voll gerechtfertigt halten. Die geschichtliche Wertung sieht es vielfach anders. Sie glaubt, daß damals die Verantwor­ tungspflicht gegenüber dem ganzen Deutsch­ land nicht ernst genug genommen worden sei; stand doch der östliche Teilstaat, mindestens verbal, 1952 noch zur Disposition, so war das nach Stalins Tod und dem Erstarken der UdSSR im Zeichen der Wasserstoffbombe seit etwa

1953 auf unabsehbare Zeit vorbei. »Wiedergutmachung« und Lastenausgleichs­ gesetz. In der Zeit der heftigen Auseinanderset­ zungen um die Wiederbewaffnung mußte ein anderer Gegenstand, ein anderer Mischkomplex äußerer und innerer Politik, bewältigt werden. Er hatte viel mit Gewissenseinkehr zu tun und stieg wie ein schwerer Schatten aus der jüng­ sten deutschen Vergangenheit herauf. Es ging um Ersatzforderungen Israels für die Einglie­ derung deutscher Juden in den jungen Staat, aber auch um Wiedergutmachung an Juden außerhalb Israels für die materiellen Verluste, die sie in ihrer Heimat Deutschland erlitten hatten. Die »New York Times« war skeptisch. Am 16. März 1951 schrieb sie: »Es besteht nicht die Hoffnung, daß Deutschland irgend etwas in der Frage der allgemeinen Wiedergutmachung tun wird, es sei denn vielleicht aufgrund von An­ weisungen der vier Besatzungsmächte.« Vier Tage zuvor hatte Israel die Mächte in einer Note aufgefordert, israelische Ersatzansprüche in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar (nach damali­ gem Kurswert sechs Milliarden Mark) zu un­ terstützen. Dem Verlangen lag die Berechnung zugrunde, daß 450 000 deutsche Juden infolge der nationalsozialistischen Gewaltpolitik nach Israel beziehungsweise zuvor in das Mandats­ gebiet Palästina ausgewandert seien und daß jeweils Tausende Dollars hatten aufgewendet werden müssen, um sie in ihre neue Heimat einzugliedern. An die Stelle einstiger engster Verflechtungen zwischen dem Judentum und dem Gesamtbe­ griff Deutschland waren drei Nachfolgestaaten getreten, zwei in Europa, einer in Vorderasien, zwei aus den Trümmern des verlorenen Krie­ ges, einer aus den Trümmern tausendjähriger mittel- und osteuropäischer jüdischer Vergan­ genheit. Sechs Jahre nach dem Ende des orga­ nisierten Massenverbrechens schien ein Ge­ spräch schwer möglich zu sein. Israel war auch

522

wegen fehlender diplomatischer Beziehungen

sollte doch gerade als leistungsfähiger Bünd­

destag trat, wußte das Kabinett in Jerusalem

außerstande, Bonn offiziell anzusprechen. Die

nispartner in die westliche Allianz einrücken;

schon Bescheid über den Inhalt. »Im Namen

Sieger als Ersatzadressaten, wie reagierten sie?

Forderungen Israels minderten zwangsläufig

des deutschen Volkes«, sagte der Kanzler, »sind

den Verlustausgleich an die jüdischen Organi­

unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergut­

Die Sowjetunion antwortete überhaupt nicht.

sationen, die die Juden vor allem in Amerika

Sie hatte ja nicht einmal ihre eigenen Reparati­

und in England vertraten. Schließlich: Eng­

machung verpflichten.« Zwar seien hierbei

onsforderungen aus dem Bereich Westdeutsch­

lands Ölinteressen im Nahen Osten. Würden

Grenzen der Leistungsfähigkeit zu berücksich­

lands auch nur annähernd erfüllt bekommen,

die Araber nicht empfindlich reagieren, wenn

tigen im Hinblick auf die zahllosen Kriegsop­

statt dessen ihre Sowjetzone ausgeplündert -

der verhaßte Aufsteiger-Staat in ihrer Mitte mit

fer, Flüchtlinge und Vertriebenen im eigenen

und tat es immer noch. Dort war nichts mehr zu

deutschem Geld gepäppelt würde? Alles zu­

Land, die es zu versorgen gelte, doch erkläre die

holen, um Dritte zu befriedigen. Später ver­

sammen war so verknotet, daß die Westalliierten

Bundesregierung sich bereit, gemeinsam mit

schloß sich die DDR allen Forderungen Israels

den Gegenstand gern von sich schoben. Sie

Vertretern des Staates Israel und des außeris­

mit dem bequemen Argument, als antifaschisti­

antworteten auf das Ersuchen Israels, sie könn­

raelischen Judentums eine Lösung zu suchen.

scher Nachfolgestaat habe sie mit den Verbre­

ten der Bundesrepublik Zahlungen nicht direkt

Dem jüdischen Staat billigte Adenauer als Be­

chen des Hitler-Regimes nichts zu tun und sei

auferlegen.

rechtigung seiner Forderungen zu, daß er »so

Der israelischen Regierung blieb nichts übrig,

hat«. Damit war die Forderung vom März mit

aus, obwohl natürlich die Mehrzahl auch ihrer

als sich zu überwinden, ihre Forderungen auf

genau jener Begründung im Prinzip anerkannt.

Bürger dem Diktator Hitler zugejubelt hatte.

dem Wege informeller Kontakte zu Bonn vor­

Im Anschluß an Adenauers Erklärung fand

zubringen. Gespräche hinter den Kulissen er­

Bundestagspräsident Hermann Ehlers die wür­

daher für Ersatzleistungen nicht heranzuzie­ hen. Sie stieg schlichtweg aus der Geschichte

viele heimatlose Flüchtlinge aufgenommen

Die Westmächte standen aus unterschiedlichen

brachten die Zustimmung des Bundeskabinetts

dige Geste, die Abgeordneten aufzufordern,

Gründen vor einem Dilemma. Schadenersatz

zu Wiedergutmachungs-Zahlungen an Israel.

sich zu erheben »zum Zeichen dessen, daß sie

an Israel wäre ein Präzedenzfall für Ansprüche

Als Konrad Adenauer am 27. September 1951,

im Mitgefühl für die Opfer einig sind«. Die

anderer Länder gewesen; die Bundesrepublik

ein gutes halbes Jahr, nachdem die Forderung

eindeutige Stellungnahme der Regierung und

Deutschland mit ihren gewaltigen sozialen Pro­

von 1,5 Milliarden Dollar erhoben worden war,

des Parlaments wurde in der Welt stark beach­

blemen war nicht unbegrenzt belastbar und

mit einer Regierungserklärung vor den Bun-

tet, und selbst die israelische Regierung kom-

Wiedergutmachung. Konrad Adenauer unterzeichnet das deutsch-israelische Wiedergutmachungs­ abkommen im Rathaus zu Luxemburg. Später schrieb er darüber: ,,Für uns Deutsche ist es neben allen

Aufbauleistungen unseres Staates und den freundschaftlichen Verbindungen zu anderen Völkern nach der Katastrophe des National­ sozialismus die wichtigste politische Entwicklung, daß es uns möglich wurde, den Weg nach Israel und zum j üdischen Volk zu finden."

''Deutsch· israelische Direkt· verhandlungen, weil sich die Westallüerten nicht einmischen wollten„. '' 523

mentierte den Vorgang mit gemessener Aner­ kennung. Die Erklärung des deutschen Kanz­ Bundeskanzler Adenauer vor dem Deutschen Bundestag, 27. September 1951 .Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich des unermeßlichen Leidens bewußt, das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten ge­ bracht wurde. Das deutsche Volk hat in seiner überwiegen­ den Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen ver­ abscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt. Es hat in der Zeit des Nationalsozialis­ mus im deutschen Volke viele gegeben, die mit eigener Gefährdung aus religiösen Gründen, aus Gewissensnot, aus Scham über die Schän­ dung des deutschen Namens ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt ha­ ben. Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen wor­ den, die zur moralischen und Wiedergutma­ materiellen chung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind... Hinsichtlich des Umfangs der Wiedergutmachung - in Anbe­ tracht der ungeheuren Zerstö­ rung jüdischer Werte durch den Nationalsozialismus ein sehr bedeutsames Problem müssen die Grenzen berück­ sichtigt werden, die der deut­ schen Leistungsfähigkeit durch die bittere Notwendigkeit der Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertrie­ benen gezogen sind. Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel, der so viele heimatlose jüdische Flüchtlinge aufge­ nommen hat, eine Lösung des materiellen Wiedergutma­ chungsproblems herbeizufüh­ ren, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung un­ endlichen Leides zu erleich­ tern." Bundeskanzler Adenauer an den Vorsitzenden der Confe­ rence on Jewlsh Claims agalnst

rung des Staates Israel in ihrer Note vom 12. März 1951 gestellt hat, zur Grundlage der Besprechungen zu machen."

Nahum Goldmann, Präsident des Jüdischen Weltkongresses. Germany, Dr. Nahum Gold­ mann, 6. Dezember 1951 .Unter Bezugnahme auf die Erklärung, die die Bundesre­ gierung am 27. September 1951 im Bundestag abgab und in der sie sich bereit erklärt, mit Vertretern des jüdischen Vol­ kes und Israels Verhandlun­ gen wegen der Wiedergutma­ chung der unter dem nazisti­ schen Regime entstandenen Schäden aufzunehmen, möch­ te ich Ihnen mitteilen, daß die Bundesregierung den Zeit­ punkt für gekommen erachtet, in dem solche Verhandlungen beginnen sollten. Ich bitte Sie, in Ihrer Eigenschaft als Vor­ sitzender der Conference on Jewish Claims against Ger­ many sowohl dieser Konfe­ renz als auch der Regierung Israels von dieser Bereitschaft Kenntnis zu geben. Ich möchte dazu bemerken, daß die Bundesregierung in dem Problem der Wiedergut­ machung vor allem auch eine moralische Verpflichtung sieht und es für eine Ehrenpflicht des deutschen Volkes hält, das Möglichste zu tun, um das an dem jüdischen Volk began­ gene Unrecht wiedergutzuma­ chen. Die Bundesregierung wird in diesem Zusammen­ hang die Möglichkeit begrü­ ßen, durch Waffenlieferungen zu dem Aufbau des Staates Israel einen Beitrag zu leisten. Die Bundesregierung ist be­ reit, bei diesen Verhandlungen die Ansprüche, die die Regie-

Bundeskanzler Adenauer an den Bundesminister der Finan­ zen, Fritz Schäffer, 29. Februar 1952 „Wie Sie wissen, habe ich am 27. September 1951 namens der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag eine Erklärung über die Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden und dem Staat Israel abgegeben. Die Bun­ desregierung hat in dieser Erklärung u. a. die Verpflich­ tung zur materiellen Wieder­ gutmachung des den Juden angetanen Unrechts aner­ kannt. Den Grundsätzen dieser Er­ klärung entsprechend habe ich am 6. Dezember 1951 mit dem Vorsitzenden der Confe­ rence on Jewish Claims against Germany und Vertrauensmann der Regierung des Staates Israel, Herrn Dr. Nahum Geld­ mann, in London eine Unterre­ dung gehabt. Im Anschluß hieran habe ich Herrn Dr. Geldmann in einem Schreiben vom 6. Dezember 1951 mitge­ teilt, daß die Bundesregierung bereit ist, die Ansprüche, die die israelische Regierung in ihrer an die Regierungen der vier Besatzungsmächte ge­ richteten Note vom 12. März 1951 gestellt hat, zur Grundla­ ge der erstrebten Verhandlun­ gen zu machen. Am 9. Januar 1952 hat das Parlament des Staates Israel beschlossen, das Angebot der Bundesregierung zur Aufnah­ me von Verhandlungen anzu­ nehmen. Dieser Beschluß ist mir am 17. Februar 1952 während einer neuerlichen Unterredung in London durch Herrn Dr. Geldmann zur Kennt­ nis gebracht worden. Ich gebe dem Wunsche Aus­ druck, daß die Verhandlungen unter weitgehender Hintan­ stellung aller Bedenken, die in einem anderen Fall sehr verständlich wären, in einem Geiste vorbereitet und durch­ geführt werden, der dem moralischen und politischen Gewicht und der Einmaligkeit unserer Verpflichtungen ent­ spricht."

lers werde geprüft, hieß es dort. Im Januar 1952 beriet die Knesseth unter leidenschaftlicher Anteilnahme des ganzen Volkes drei Tage lang stürmisch; dann billigte sie mit 61 zu 50 Stim­ men bei fünf Enthaltungen die Absicht der Regierung Ben Gurion, mit Westdeutschland zu verhandeln. Unter Kompromissen beider Seiten wurde schließlich

am

10. September

1952 ein Abkommen zustande gebracht. Zwei Milliarden Mark wurden als nomineller Anteil der ostdeutschen Konkurrenz-Republik ausge­ klammert. Von den verbleibenden vier hatte Israel eine Milliarde gestrichen, Bonn sein Angebot von zwei auf drei Milliarden Mark erhöht. Die Summe wurde auf zwölf Jahres­ raten verteilt. Eine dreizehnte und vierzehnte Rate von zusammen 450Millionen Mark wur­ de als Entschädigung für die jüdischen Welt­ verbände vereinbart. Summen

solcher

Größenordnung

überwiesen, ohne daß nicht auch die eigene Wirtschaft einen Nutzen davon hat. Daher wurde vereinbart, daß Israel von dem Geld, soweit

möglich,

Produktionsgüter

in

der

Bundesrepublik: einkaufen werde. 30 Prozent mußten allerdings verwendet werden, Öl­ Einfuhren nach Israel zu bezahlen und Schulden bei der Shell in London zu begleichen. Vom übrigen Kapital kaufte der jüdische Staat Investitionsgüter, Schiffe und Materialien aller Art. Während Deutschland auf diese Weise über zwölf Jahre bis 1966 den Aufbau des Staates Israel mitfinanzierte, kamen dessen Einkünfte zum Teil in rückwirkendem Effekt der deutschen Wirtschaft zugute. Daß wiederum sowohl die Zahlungen als auch die gewaltige Transfusion in Form von Sachlie­ ferungen an Israel den Arabern nicht gefielen, liegt auf der Hand. »Die arabischen Staaten«, so hieß es in einem Memorandum jener Länder, »befinden sich mit Israel noch immer im Kriegs­ zustand. Da ein moderner Krieg von Wirt­ schafts- und Waffenüberlegenheit bestimmt wird, ergibt sich für die arabischen Staaten die groteske Situation, daß ausgerechnet unsere Freunde zu Helfern unserer Feinde werden wollen.« Recht hatten die Absender desMemo­ randums, daß läßt sich nicht leugnen. Doch gibt es im Leben des einzelnen wie der Völker Forderungen der Sittlichkeit, die zu mißachten in jedem Fall das größere Übel wäre. Es hat zum Ansehen der Bundesrepublik beigetragen, daß sie ihre moralischen Verpflichtungen höher stellte als jedes taktische Kalkül.

524

werden

natürlich nicht einfach auf fremde Konten

Am 27. März 1953 trat der Vertrag in Kraft. Mit den Ratifizierungen war ein erster Keimling für die politischen Beziehungen zwischen der Bun­ desrepublik und Israel gesetzt. Aber er gedieh nur langsam. Zu ausgedörrt war der Boden, in welchem er Wurzeln schlagen sollte.

In demselben Jahr, als die Überlebenden des Holocaust vernehmlich am Palais Schaumburg, dem Sitz des Bundeskanzlers, anklopften, packte die

Bundesregierung

Kriegsfolgelast

gerade

allergrößten

eine

andere

Umfangs

an.

Hitlers Ostkrieg hatte sich als ungeheurer Bumerang erwiesen. Als die Kriegswoge, die Hitler ausgelöst hatte, aus den Weiten des Ostens zurückflutete, riß sie den größten Teil der Bevölkerung der deutschen Ostprovinzen mit sich, die Einwohnerschaft der preußischen Länder

Ostpreußen,

Pommern,

Schlesien,

teilweise auch die aus Brandenburg. Dazu ka­ men die Sudetendeutschen und zahllose Volks­ deutsche aus Polen, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien. Zusammen verloren vierzehn Mil­ lionen Deutsche ihre Heimat, teils durch Flucht, teils durch Vertreibung. Rechnet man die zwei Millionen ab, die in den Wirren der letzten Kriegsmonate und der frühen Nachkriegszeit schlichtweg verschollen sind- zwar statistisch vorhanden, aber nie mehr auffindbar-, dann

Flucht und Vertreibung. Heimatlos, entwurzelt waren viele Deutsche nach dem Feuersturm des Krieges, allen voran die Vertriebenen, die nicht gerade mit offenen Armen im Westen empfangen wurden. Die sich neu formierenden politischen Parteien (SPD-Plakat} bemüh­ ten sich alle um die Neubürger.

bleiben zwölf Millionen übrig. Drei Viertel dieser Flüchtlinge wandten sich damals dem Westen des geteilten Landes zu, teils sofort, teils nach Zwischenaufenthalt in der Sowjetzone. Sie alle standen vor dem Nichts, eine riesige Menge Verarmter, Entwurzelter.

" Millionen von _..._ Verannten und Entwurzelten strömten in ein zerstörtes Land ... ''

Sie gesellten sich zu jenen der einheimischen Bevölkerung, die als »Ausgebombte« durch den Luftkrieg ebenfalls große Verluste erlitten

Umverteilung hieß natürlich nicht, daß einer,

Schmerzlich für die Familien, die abermals

hatten, jedoch im Umfeld ihrer bisherigen Exi­

der alles hatte behalten dürfen, von zwölf Stüh­

aufbrechen mußten, ehe sie ihren endgültigen

stenz meist leichter wieder auf die Beine ge­

len drei abgeben mußte oder von zwanzig Hek­

Platz in der Ersatzheimat fanden. Der Eindruck

kommen waren. Diese einheimische Bevölke­

tar Land fünf. Umverteilung des Besitzes,

bürokratisch verwalteter Schicksale drängt sich

rung mußte sich jetzt als Solidargemeinschaft

Lastenausgleich, hieß Finanzhilfe. Vor allem die

auf, aber anders konnte die relativ kleine Bun­

bewähren; die besser Davongekommenen muß­

Vermögen wurden kräftig besteuert, ferner

desrepublik Deutschland mit der vielfachen

ten den schlechter Davongekommenen helfen,

kamen Zuschüsse aus dem Staatshaushalt, mit

Millionenzahl nicht ohne soziale Explosion

ein neues Leben zu beginnen. Das war der Sinn

anderen Worten: über die Steuern aller Staats­

fertig werden.

des Lastenausgleichsgesetzes vom Mai 1952,

bürger. Erst nachdem das Notprogramm der Eingliede­

das, über viele Klippen hinweg entstanden, auch dann noch Monate bis zum Inkrafttreten

Anfänglich ging es um ein Notprogramm, um

rung die drückendsten Sorgen gelindert hatte,

gefährdet war.

dringliche Beihilfen zur Eingliederung. Nicht

wandte der Lastenausgleich sich dem Sektor

jeder, der aus dem Osten gekommen war, schlug

»Entschädigung« zu. Jetzt suchte das Gesetz

Am 1. September 1952 wurde das Lastenaus­

Wurzeln an Ort und Stelle. Ein großes, heute

einen Teil der Verluste materiell auszuglei­

gleichsgesetz verkündet. Einschließlich einer

fast vergessenes Umsiedlungsprogramm inner­

chen. Einleuchtend ist, daß einem Großgrund­

schon vorher gewährten Soforthilfe wurde

halb der Bundesrepublik wurde eingeleitet, um

besitzer aus Ostpreußen nur ein Bruchteil sei­

dadurch ein beispielloses soziales Hilfswerk

die übervölkerten Bundesländer zugunsten an­

nes Agrarvermögens erstattet werden konnte,

in Gang gesetzt. Die errechnete Gesamtsumme

derer zu entlasten. 1946 hatten 66 Prozent aller

selbst wenn er im besten Fall viele hunderttau­

beträgt 144 Milliarden Mark, mit einbezogen

Flüchtlinge und Vertriebenen in den drei Län­

send Mark bekam. Die normale Erstattung sah

jene Gelder, die auch künftig noch an Spät­

dern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und

bescheidener aus. Wer weniger verloren hatte,

aussiedler bezahlt wurden.

Bayern gelebt, 1959 waren es noch 40 Prozent.

erhielt im Verhältnis mehr. Da gab es dann

525

etliche tausend Mark, vielleicht zehntausend,

stark gemacht. Dies hätte schon der Tradition

sich zu einem Demonstrationszug und mar­

für den Verlust eines Geschäftes, eines Ein­

eines Landes widersprochen, das als erstes im

schieren in die Innenstadt. Immer mehr Men­

familienhauses, einer Arztpraxis, einer großen

vorigen Jahrhundert leistungsfähige Sozialge­

schen schließen sich dem Zug an.

Privatbibliothek.

Im Grunde konnten alle

setze geschaffen hatte.

diese Ausgleichszahlungen nur symbolische Gaben

für

den

Untergang

unermeßlicher

Sachwerte sein.

An der Ecke Wilhelm- und Leipziger Straße Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. In der

steht das graue Gebäude, das Göring als Luft­

Ostberliner Stalinallee, ehemals Frankfurter

fahrtministerium erbauen ließ. Es wurde 1949

Allee, entstehen Häuserfronten

kalten

zum Regierungssitz des Ostberliner Regimes

Für das soziale Klima der werdenden Bundes­

Prunk- und Monumentalstil der stalinistischen

umfunktioniert. Die ersten Demonstranten des

republik war aber der Akt der Solidarität von

Architekturschule. Hier wirken die Arbeiter

langen Zuges sehen eben noch, wie das

größter Bedeutung. Wir haben täglich vor Au­

der »Volkseigenen Betriebe der Bau-Union«.

schwere Scherengitter heruntergelassen wird

gen, welch sozialer und politischer Sprengstoff

Wer an einem Renommierprojekt des sozialisti­

und die wachhabenden Volkspolizisten sich

frei wird, wenn die Eingliederung von Millio­

schen Staates arbeitet, einem Aushängeschild

ins

nen Vertriebenen unterblieben ist. Das Pro­

des »demokratischen Berlin«, muß eigentlich

Ministerien« wird zur Festung gegen den Zorn

blem der Palästinenser, das hier zum Vergleich

besonders klassenbewußt sein. Genau auf die­

des eigenen Volkes. Die Wut hat sich gerade

dienen kann, war anfangs nur eine Sorge der

sen Gerüsten aber beginnt, was wir seither den

in

Region; heute ist es eine Sorge der ganzen Welt.

»siebzehnten Juni« nennen, der Volksaufstand

Schicht, die stets mit Worten umschmeichelt

im

Innere

der

zurückziehen.

Arbeiterschaft

Das »Haus

gesammelt,

in

der

der

In Deutschland hätte ja damals auch der Gedan­

in der DDR von 1953. Hier fällt am 16. Juni ein

wurde, für deren Rechte alle revolutionäre

ke zum Tragen kommen können, der in der

Funke ins Pulverfaß. Der Funke ist eine Rechtfer­

Umgestaltung überhaupt geschehen sein soll. Doch Wort und Wirklichkeit stimmen nicht

arabischen Welt zum Teil vorherrschte: das

tigung der erfolgten Normenerhöhung in der

Vertriebenen-Elend als Anklage und Druck­

Gewerkschaftszeitung»Tribüne«. Das Blatt mit

überein, die Lippenbekenntnisse werden von

mittel offenzuhalten; in unserem Fall als Hand­

dem aufreizenden Artikel wandert von Hand zu

den Tatsachen Lügen gestraft. Die jüngste

habe für die Rückgewinnung der Ostgebiete.

Hand, keiner arbeitet, alle diskutieren. Und

N ormenerhöhung bei gleichem Arbeitslohn be­

Aber niemand hat sich für solche Erwägungen

dann steigen sie von den Gerüsten, formieren

deutet schlicht Lohnsenkung.

Abstimmung mit den Füßen. Ein völlig überbelegtes Flüchtlingslager in Westberlin im Juli 1953, dem Jahr des größten Flüchtlingsstromes aus der DDR nach Westdeutsch­ land. Bis 1961 verließen ca. 3,6 bis 3,7 Mio. Menschen die DDR. Für den SED-Staat bedeutete die ,,Abstimmung mit den Füßen" gerade gutausge­ bildeter, beweglicher und entscheidungsfreudiger Kräfte einen ständigen, unerträglichen Aderlaß.

"Ein aufreizender Artikel in der Gewerkschaftszeitung wirkt als Funke im Pulverfaß.„ '' 526

Die rund zweieinhalbtausend Männer rufen in Sprechchören: »Nieder mit denNormen!« Und: »Wir wollen Grotewohl und Ulbricht sehen!« Schließlich verlassen zwei Funktionäre und eine Frau die Trutzburg und wagen sich unters Volk. Einer der Funktionäre ruft: »Hier ist die Staatssekretärin Walther, die will zu euch spre­ chen.« Im Lärm wird nur verstanden »Sekretä­ rin« und »Walther«. Das führt zu falschen Schlüssen. Einer ruft: »Die Sekretärin von Ul­ bricht will sprechen«, worauf andere antwor­ ten: »Wir wollen nicht seine Sekretärin hören, wir wollen den Spitzbart selber!« Und so kommt die Staatssekretärin gar nicht zu Wort. Nach einer Weile versucht, auf höherer Funk­ tionärs-Ebene, der Industrieminister Fritz Selb­ mann sein Glück. Er steigt auf einen Tisch, der aus dem Ministerium herbeigeschafft worden ist, und beginnt: »Kollegen!« »Wir sind nicht deine Kollegen«, tönt es.

Ein Staat hinter Stacheldraht. Die Karikatur beschreibt den Zustand der DDR: Von einem Wachtturm inmitten eines Meeres von Stacheldraht verkündet Ulbricht der Welt, die totale Sicherheit seines Staates sei nun erreicht. Von Jahr zu Jahr schuf sich die DDR stärkere Grenzsicherungen - um ausländische Agenten abzuhalten, wie die Führung versicherte, mehr jedoch, um die eigene Bevölkerung am Verlassen des „Paradieses der Werktätigen" zu

hindern.

»Ich bin auch Arbeiter!« Das dröhnende Gelächter zeigt, daß Selbmann zum Gespött geworden ist, ehe er noch irgend etwas Ernsthaftes hat sagen können. Schließ­ lich steigt ein älterer Steinträger mit nacktem Oberkörper auf den Tisch, schiebt den Minister mit einer Handbewegung beiseite und ruft:

"Die Parteikonferenz der SED hatte eine »Verschärfung des Klassenkampfes« propagiert ... ''

»Kollegen! Es geht hier nicht mehr umNormen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalinallee. Hier steht

stadt wälzt, während ein der Volkspolizei abge­

an den Rand ihrer Kräfte in die Riemen legen

Berlin und die ganze Zone.« Und zu Selbmann

nommener Lautsprecherwagen des »Kultur­

müssen. Der ganz konkrete Anlaß derNormen­

gewandt: »Was du hier siehst, das ist eine

bundes« die Generalstreikparole in alle Winkel

schinderei hätte vielleicht dennoch nicht zum

Volkserhebung!« Und wieder zu den Versam­

trägt.

Volksaufstand geführt, wenn es nicht zur sel­ ben Zeit Schwächezeichen des Herrschaftssy­

melten: »Die Regierung muß aus ihren Fehlern

stems gegeben hätte. Dazu ein Blick zurück.

die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie,

Generalstreik - ein Sakrileg in einem kommu­

geheime Wahlen!« Einen Augenblick herrscht

nistischen Staat; nach der Parteidogmatik völ­

Stille, als müsse das Unerhörte verarbeitet wer­

lig unlogisch, da ein Aufstand ja voraussetzt,

Im Juli 1952 hatte die II. Parteikonferenz der

den - und so ist es wohl auch. Dann, als sei ein

daß die Produktionsmittel Fremdbesitz sind,

SED die'»Verschärfung des Klassenkampfes«

Zündholz in Benzin gefallen, lodert die Flamme

während sie hier dem Volk gehören. Die These

propagiert. Für die Wirtschaft hieß das ganz

der Begeisterung hoch. »Das Geschrei wollte

ignoriert völlig die Tatsache, daß in bisher allen

unverblümt, die Arbeitsleistung sei zu steigern.

kein Ende nehmen«, berichtet ein Augenzeuge.

kommunistischen Staaten eine vom Volk weit

Die Parole wirkte auf das ausgepumpte, hun­

Zum ersten Mal seit Bestehen der Ostzonen­

abgerückte, durch Polizei geschützte Minder­

gernde, durch Demontagen leergeblutete Land,

Republik wird eine solche Forderung erhoben.

heit über die Produktionsmittel verfügt. Sie tut

das im Lebensstandard unseren Verhältnissen

Wie ein Jäger, der auf einen Hasen anlegt und

es - natürlich nur in der Theorie - zwar nicht

von 1947 glich, demoralisierend. Es war, als wenn man am Ziel einer langen Wanderung

dabei in der Feme einen Zwölfender erblickt, so

zum persönlichen, materiellen Nutzen (der ein­

richtet sich das Bewußtsein der Demonstranten

zige Unterschied zu früher), aber dafür zum

erfährt, daß die nächste Herberge leider noch

von ihrem unmittelbar drängenden Normen­

Nutzen einer anonymen Staatsmaschinerie und

drei Stunden entfernt sei. Die Folge war, daß die

problem übergangslos auf das weiterreichende

eines monströsen bürokratischen Apparats. Aus

Fluchtbewegung stark zunahm. Sie erreichte

Ziel einer grundsätzlichen Befreiung vom

den Unternehmern von einst ist die »Neue

im Januar 1953 die Monatszahl von 20 000, im Februar24000, im März 58 000!

zwangsstaatlichen Joch. Ein einfacher Bauar­

Klasse« geworden, aus dem individuellen Ka­

beiter hat ausgesprochen, was alle bedrückt, hat

pitalismus der Staatskapitalismus. Der einzel­

In diesem Monat starb Stalin. Sein Nachfolger

gesagt, wonach sich alle sehnen.

ne Arbeiter hat vom Volksvermögen so wenig

Malenkow sprach sich für ein mäßigeres Tem­

wie früher. Das geht schon daraus hervor, daß

po beim Aufbau des Sozialismus aus. Das

Als nächstes gibt es stürmische Zustimmung,

seine Arbeitskraft gegen seinen Willen und

Signal des Kreml vom 15. April wurde in

als einer für den nächsten Morgen zum Gene­

ungefragt ausgebeutet werden kann, indem die

Ostberlin überhört, sogar vom Meister der An­ passung, Ulbricht. Vielleicht wollte er testen,

ralstreik aufruft. Die nächsten Stunden verge­

Normenschraube angezogen wird; nicht an­

hen damit, daß sich eine Masse von schließlich

ders, als wenn auf einer Galeere das Rudertem­

wie weit er mit den neuen Kreml-Herren gehen

rund zehntausend Arbeitern durch die Innen-

po beschleunigt wird und die Sträflinge sich bis

könne und welchen Freiraum sie der DDR 527

gewähren würden. Die Regierung in Ostberlin

Am 9. Juni wurden im Politbüro der SED die

28. Mai »Maßnah­

neuen Direktiven festgelegt. Zwei Tage später

einem Rückgang der Preise für Zuckerwaren

men zur Überprüfung der Arbeitsnormen« an

konnten die Bürger Erstaunliches in ihren Zei­

und versprach, Verhaftungen, Strafverfahren

mit dem Ziel, diese um zehn Prozent zu erhö­

tungen lesen. Es seien »seitens der SED und der

und Urteile zu überprüfen.

hen. Ein großer Teil der Arbeiterschaft habe

Regierung der Deutschen Demokratischen

ordnete wie zum Trotz

am

blüffte Bevölkerung mit Fahrpreissenkungen,

erkannt, »daß die gegenwärtigen Normen ...

Republik in der Vergangenheit eine Reihe von

Da Stalins Tod ungeachtet offizieller Trauer

den Fortschritt hemmen«, hieß es zynisch. Die

Fehlern begangen« worden. »Die Interessen

selbst

Sowjets, die offenbar genauere Informationen

solcher Bevölkerungsteile wie der Einzelbau­

Erleichterung aufgenommen worden war und

über die aufkommende Unruhe in der Bevölke­

ern, der Einzelhändler, der Handwerker, der

offensichtlich

rung hatten und sie vor allem besser deuteten als

Intelligenz wurden vernachlässigt. Eine Folge

Moskau geführt hatte, wagte die »Tägliche

in

den

Bezirken zu

einem

der

Macht

Kurswechsel

mit in

die sturen Satrapen an der Spree, wurden nun

war, daß zahlreiche Personen die Republik

Rundschau«

massiv.

verlassen haben.«

sowjetische Kontrollkommission auszudeh­

Botschafter Semjonow brachte am 3. Juni, aus

Von den Arbeitern war nur indirekt die Rede:

die begangenen Fehler verantwortlich«, hieß

Moskau zurückgekehrt, die Weisung mit, den

Der 1. Fünfjahresplan (1951-55) sollte zu La­

es

starren Kurs zu mildem. Ulbricht warf das

sten der Schwerindustrie und zugunsten der

einem Punkt allerdings gab es kein amtliches

sogar,

ihre

Kritik

auf

die

nen. Sie sei »in gewissem Maße ebenfalls für am

1 3. Juni in dem Ostberliner Blatt. In

Ruder augenblicklich herum. Er konnte das

Lebenshaltung verlangsamt werden. Die Ent­

Wort der Mäßigung oder Selbstkritik: in der

verblüffend übergangslos und vermochte den

eignungen wurden ausgesetzt, private Ge­

Nonnenfrage. Daß die interne Diskussion das

jeweils neuen Kurs mit einer Ungerührtheit zu

schäftsleute sollten sogar Kredite erhalten, ihre

brisante Thema nicht aussparte, darüber aber

vertreten, als habe er nie anders gesprochen und

Steuer- und Sozialversicherungs-Rückstände

uneinig

gedacht.

wurden gestundet. Das Regime lockte die ver-

Stimmen hervor.

Volksaufstand. Mit rasch beschafften schwarz-rot-goldenen Fahnen marschieren Arbeiter des Berliner Ostsektors durch das Brandenburger Tor. Aus dem Protest gegen Lohnkürzungen ist ein politischer Aufstand geworden. - Nach der Niederschlagung der Volkserhebung durch Volkspolizei und sowjeti­ sche Panzer schrieb der Dichter Bertolt Brecht die bitteren Zeilen: ,,Wäre es nicht besser, die Regierung löste das Volk auf und wählte eine neues?"

" Die Sowjets wußten über die aufkeimende Unruhe besser Bescheid als ihre Satrapen an der Spree ... '' 528

blieb,

ging

aus

gegensätzlichen

Der 17. Juni 1953. In der gesamten DDR kam es am 17. Juni 1953 zu Arbeiteraufständen. Die SED-Führung wurde der Lage nicht Herr und ließ sowjetische Panzer auffahren. - Das Bild zeigt die Leipziger Straße in Ost-Berlin.

" An den Streiks und Demonstrationen waren insgesamt etwa 10 Prozent der Arbeitnehmerschaft beteiligt. Sie forderten »freie Wahlen«, die Ablösung Walter Ulbrichts und den Rücktritt der Regierung„. ''

Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« •

verwies am 14. Juni auf schon Ende Mai erfolg­





te Arbeitsniederlegungen-als die zehnprozen­ tige Erhöhung verfügt worden war-und schloß aus diesen »Signalen der Unzufriedenheit«, demonstriert, vielerorts gestreikt. Schon geht

daß die Arbeiter möglicherweise im Recht und

Die Sonne geht um drei Uhr achtundfünfzig

die Funktionäre im Unrecht sein könnten.

auf, aber heute sieht man sie nicht. Ein grauer

man

Regenhimmel hängt über Berlin. Bald gehen

riesige Sowjetstern vom Elektroturm des Lieb­

Ganz anders die Gewerkschaftszeitung »Tri­

Gewittergüsse nieder. Doch an diesem Mitt­

knechtwerkes abmontiert, in Leipzig das Haus

büne«. Sie hatte die Zeit verschlafen und mach­

woch nimmt keiner davon Notiz.

der FDJ-Bezirksleitung verwüstet, ebenso das

Henningsdorf liegt im Nordwesten jenseits der

nawerk »Walter Ulbricht« stürzt die Menge ein

Taten über. In Magdeburg wird der

Gewerkschaftshaus »Emst Thälmann«. Im Leu­

te sich zwei Tage nach der kritischen Einkehr der Rundschau für die Beschlüsse der Regie­

zu

rung vom Vormonat stark. Weil die beschlos­

Westberliner Stadtgrenze, aber Westberlin ist

acht Meter hohes »Götzenbild« des Generalse­

senen Verbesserungen der Lebensbedingun­

von der umliegenden DDR noch nicht un­

kretärs, inJena stürmen die Aufständischen das

gen vom fortgesetzten Anwachsen der Ar­

durchlässig abgeschnürt. Und nun marschieren

Gebäude des gefürchteten Staatssicherheits­

beitsproduktivität abhingen, gelte es, »den Be­

die Henn.igsdorfer Stahlarbeiter siebenund­

dienstes. Vor allem aber: Überall werden Ge­

schluß des Ministerrates über die Erhöhung der

zwanzig Kilometer zur Innenstadt, quer durch

fangene befreit, politische Häftlinge, Opfer des

Arbeitsnormen ... mit aller Kraft durchzufüh­

das nördliche Westberlin! Zum Teil gehen sie

verhaßten Systems. Das gilt für Brandenburg

ren.« Mit dieser verbohrten Logik traf die Zei­

barfuß, weil das schlechte Schuhwerk solchem

wie für Bitterfeld, für Gera und Görlitz, für

tung am 16.Juni voll ins Wespennest.

Gewaltmarsch nicht gewachsen ist. Die West­

Halle und Merseburg. Es gibt Tote auf beiden

berliner Verkehrsampeln sind für die sechs­

Seiten. Der Sturm auf das Zuchthaus Magde­

tausend auf Grün geschaltet. Die Bewohner der

burg-Sudenburg mißlingt. Im Feuer der Volks­

Nacht. Morgen früh wird sich zeigen, ob es zum

nordwestlichen Arbeiterviertel bringen Kaffee,

polizei bleiben zwölf Arbeiter liegen. Auch

Generalstreik kommt und wie die Regierung

Verpflegung, Obst. Es ist eine eindrucksvolle

in Weißenfels und Güstrow sind die Abwehr­

sich dazu stellt - und die Besatzungsmacht.

Verbrüderung.

kräfte stärker als die Angreifer. Bei den

Über Ostberlin und die DDR senkt sich die

Befreiungen wird sorgsam darauf geachtet,

Wird sie Ulbricht fallen lassen, oder ist sie in eigenem Interesse gezwungen, ihn zu halten?

Ganz anders in Treptow, südöstlicher Bezirk

daß nur »Politische« die Freiheit wiederer­

Nicht nur in Westberlin und Westdeutschland

des Ostsektors. Auf der einen Seite der Straße

langen - zwei- bis dreitausend.

werden die Vorgänge atemlos verfolgt. Auch in

ziehen Arbeiterkolonnen stadteinwärts, auf der

der DDR weiß man überall Bescheid. Der

anderen rollen Panzer. Die Besatzungsmacht

Zurück ins Zentrum nach Berlin. Der Zorn ist

RIAS, meistgehörte Rundfunkstation, hatte

ist erwacht. Ihre zwanzig Divisionen sind in

einmütig, das Ziel klar, der Weg dahin nicht.

schon um halb fünf nachmittags erstmals be­

Alarmbereitschaft. Zwischen Karlshorst, dem

Gewaltige Marschsäulen Werktätiger ziehen

richtet und- von den Demonstranten umsichtig

»Berliner Kreml«, und Moskau stehen die Te­

durchs Regierungsviertel, aber die Regierung

mit Informationen versorgt - die Resolution

lefone und Fernschreibleitungen nicht still.

stellt sich nicht. Noch immer fehlt der Ansatz­

In Ostberlin wird so gut wie nirgends gearbei­

nehmen, Versprechen zu erzwingen; die Aktio­

der Normerhöhung und auf freie und geheime

tet, außer daß die Verkehrsmittel am Morgen

nen laufen ins Leere. Panzer sind aufgefahren,

Wahlen. Es ist fast der längste Tag des Jahres.

noch fahren. In fast allen Städten der DDR wird

Kanonenrohre drohen.Noch schießen sie nicht.

punkt, jemanden abzusetzen, Macht zu über­

einer Arbeiterdelegation ausgestrahlt. Die For­ derungen lauteten auch hier auf Zurücknahme

529

Das drohende Schweigen reizt zu ohnmächti­

gen, indem sie einfach hineinrollen. Vor dem

In Wahrheit hatten Westberlin und Westdeutsch­

gen Ausbrüchen. Jugendliche schleudern Pfla­

Regierungssitz leitet ein General von seinem

land die Vorgänge lediglich emotional unter­

stersteine gegen die Stahlmonster. Das Foto

Befehlspanzer aus den Einsatz. Mit theatrali­

stützt. Einige Rundfundredakteure allerdings

geht bald darauf um die Welt. Kein großer

scher Geste dirigiert er die Volkspolizei an die

heizten aus sicherer Entfernung die Stimmung

zeitgeschichtlicher Bildband, der es nicht auf­

zivile Front: »Sabiraitje!« - Vorwärts!

bewahrt: Muskeln gegen Stahl, Symbol der Vergeblichkeit.

an. Aber nirgends stand hinter dieser fragwür­ digen Kriegführung auf Mittelwelle ein poli­

Auf der Gegenseite gibt es immer wieder kleine

tisch gesteuerter Angriff auf das ostdeutsche

Siege, der Ausgang des ungleichen Kampfes

Herrschaftssystem. Die Amerikaner hüteten sich

Die führerlose Menge wogt durch die Stadt und

aber steht fest. Als der regnerische Junitag

ganz bewußt, die empfindliche mitteleuropäi­

macht nun auch vor öffentlichen Einrichtungen

endet, sind nach (späterer) DDR-amtlicher

sche Balance durch eigene Aktivitäten zu ge­

nicht mehr halt. Auf dem Potsdamer Platz

Bilanz 19 Demonstranten getötet und 126

fährden.

brennt das Columbus-Haus, Sitz der Volkspo­

verletzt. Die wirkliche Zahl liegt weit höher.

lizei, vom Brandenburger Tor wird die rote

Genau lassen sich die Opfer nicht mehr er­

Die Machthaber in der Zone hatten lange gezö­

Fahne heruntergeholt und zerrissen. Während­

fassen. Hinzuzurechnen sind jedenfalls die 141

gert. Das verleitete viele zu dem Trugschluß,

dessen entschließen sich die Sowjets, Ernst zu

Menschen, die standrechtlich erschossen wurden,

mit dem Sowjetsystem sei es zwischen Ostsee

machen. Stadtkommandant General Dibrowa

unter ihnen 52 Volkspolizisten und SED-Leute,

und Erzgebirge vorbei. War diese Erwartung

befiehlt den Ausnahmezustand ab 13 Uhr:

die sich geweigert hatten, Befehle auszuführen.

auch nur einen Augenblick lang realistisch?

»Menschenversammlungen über drei Perso­

Eine rachedurstige Justiz brachte 1152 Perso­

Abgesehen davon, daß die Aufrührer keine

nen sind verboten, Verstöße werden nach dem

nen für zusammen 4000 Jahre hinter Gitter.

Anführer hatten, wäre auch ein organisierter

Kriegsrecht bestraft.«

Tragisch war die ruchlose Hinrichtung des

Aufstand gegen ein militärisch intaktes Re­

35jährigen Westberliners Willy Göttling. Der,

gime,

völlig unpolitisch, mußte bei einer Fahrt vom

Weltmacht, wie es die UdSSR 1953 war,

politische Kraftprobe ein. Da die Massen sich

Norden in den Süden Westberlins den Ostsek­

zum Scheitern verurteilt gewesen.

nicht zerstreuen wollen, schießen Sowjetsol­

tor durchqueren und wurde dabei festgenom­

daten und Volkspolizisten mit Karabinern und

men-willkürlich herausgegriffen, um die Paro­

Maschinengewehren zwischen die Demon­

le zu untermauern, Provokateure aus dem We­

wenn sie auf geschwächte, unsichere, demora­

stranten. Panzer zersprengen die Ansamrnlun-

sten hätten die Unruhen angezettelt.

lisierte Regierungen und Führungsschichten

Vom Nachmittag an greift Militär in die

gegen

eine

psychologisch

intakte

Revolutionen neuerer Zeit hatten nur Erfolg,

trafen, so 1789 in Frankreich oder 1917 in

Zentren des Aufruhrs vom 17. Juni 1953

SJ

AUFSTÄNDE, ARBEI TSNIEDER­ LEGUNG, DEMONSTRA­ T IONEN

*EINSATZ SOWJETISCHER T RUPPEN

530

Wirtschaftliches Elend und politische Knebelung brachten in der jungen DDR die angestaute Verzweiflung zur Explosion. Ein zweites Mal mußten die Sowjets das Land erobern. Ihre Panzer schütz­ ten den oktroyierten »Arbeiter­ und Bauernstaat« vor den Arbeitern und Bauern. Bundespräsident Prof. Theo­ dor Heuss sagte in seiner Gedenkrede am 21. Juni 1953: „Die Ostberliner und die Men­ schen in Jena, in Magdeburg, in Leipzig und sonstwo haben in der Spontaneität von Tau­ senden, deren reizbar ge­ spannte Seele plötzlich ange­ rührt wurde, einen seltsamen Geschichtsakt vollzogen. Sie konnten zwar die Regierung nicht zum Abtreten veranlas­ sen. Diese ist, wenn auch eingeschüchtert, noch vor­ handen und hat die formale Macht an die tatsächliche Macht - der russischen Panzer - abgetreten. Aber die moralische Macht ist ihr vollends weggezogen worden ... durch ein zwar rechtlich nicht paragraphiertes, aber im geschichtlichen Sinne unüber­ sehbares Plebiszit."

Rußland. Sie mißlangen, wo die Herrschenden stark und die Bajonette geschärft waren, so

1848 in Deutschland und Österreich und dann 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowa­ kei. Dort mußten die Sowjets im Interesse ihrer Vormachtstellung eingreifen, ob sie wollten oder nicht. Genauso mußten sie gerade 1953 im Zeichen des »neuen Kurses« handeln, sonst wäre möglicherweise ihr ganzes Satellitensy­ stem zusammengestürzt. War alles vergeblich? Wenn man den unmittel­ baren praktischen Erfolgt mißt, ja. Nimmt man Selbstachtung, Freiheitswillen, sittliche Nor­ men zum Maßstab, nein. Wie die Erhebung gegen Hitler im Juli 1944 behielt auch der Aufstand vom 17. Juni 1953 seinen zeitüber­ dauernden Wert, und der 17. Juni erhielt mit der »friedlichen Revolution« des Jahres 1989 sogar seinen geschichtsgültigen Sinn. Immerhin waren Ulbricht und seine neuen Auftraggeber im Kreml klug genug, die War­ nung des 17. Juni nicht zu ignorieren. Das politische Tauwetter hielt trotz allem an, die Normenschraube wurde zurückgedreht, die Konsumgüterproduktion verstärkt. In Moskau begann ein weitreichendes Umdenken. Aus der »Zone« sollte ein echter Staat werden, aus dem Reparationsobjekt ein sozialistisches Gegen­ modell zur Bundesrepublik Deutschland.

Heraus aus den Trümmern: fu der Nachkriegszeit stieß ungeheurer, in Jahrzehnten angestauter materieller Nachholbedarf auf ein Wirtschaftskonzept betonter Eigeninitiative und wurde von den Zuwendungen des Marshallplanes noch zusätzlich stimuliert. Westdeutschland setzte die Politik des Freihandels und die Segnungen des Dollarstroms um rauschhafte Produktivität. in

deutSChe ,�irtschaftswunder'' D as

M

it der Niederlage im Zweiten Welt­

Deutschland war 1945, wie der Historiker Fried­

krieg hatte Deutschland 1945 einen

rich Meinecke schreibt, »ein ausgebrannter Kra­

Unablässig strömten in die westlichen Gebiete

Tiefpunkt seiner Geschichte ohneglei­

ter der Machtpolitik«. Überall herrschten Hun­

Menschen aus dem Osten ein. Die Wohnungs­

waren kriegsversehrt, verwitwet, verwaist.

chen erlebt. In der Vier-Millionen-Stadt Berlin

ger und Elend. Nach Kriegsende wurde die Not

not war unvorstellbar. Das Elend dauerte Jahre

waren mehr Häuser zerstört, als es in München

zunächst nicht geringer, sondern größer. Zeit­

an. Noch in seiner ersten Silvesteransprache von 1949 sagte Bundespräsident Heuss: »Der

je gegeben hatte. Der Trümmerschutt, der in der

weilig mußten die Menschen mit 800 Kalorien

deutschen Hauptstadt wegzuräumen war, wur­

täglich leben, das war nur ein Drittel des norma­

Katalog der deutschen Not und Nöte ist unab­

de auf 80 Millionen Kubikmeter geschätzt.

len Nahrungsbedarfs. Millionen Menschen

sehbar.«

"Laut Potsdamer Abkommen sollte Deutschland eine wirt­ schaftliche Einheit bleiben ... ''

Aller

So erbärmlich es den Deutschen in allen Teilen des Landes ging: In der Sowjetzone vegetierten sie am dürftigsten. Gehungert wurde hier wie dort, aber im Westen wenigstens auf demokra­ tische Art. Besaß die westliche »Reeducation« als Demokratieunterricht mit dem Holzham­ mer ihre ausgeprägten Schwächen, so war die Sowjetisierung mit dem Brecheisen fast uner­ träglich, zumal sie auf deutschem Boden über­ haupt keine geistige und gefühlsmäßige Tradi­ tion hatte. Daher wanderten immer mehr Be­ wohner aus der Ostzone in den Westen ab. Vom letzten Viertel 1945 bis zum ersten Halbjahr

1946 waren es 1,6 Millionen - eine Massen­ flucht! Die neuen Machthaber mochten er­ leichtert sein, daß ihnen so viele ideologische Gegner den Rücken kehrten, hungrige noch dazu. Allerdings bedeutete gleichzeitig der

Symbol des Wirt· schaftswunders. Im weltweiten Erfolg des Volkswagens maß die Wirtschaftswunder­ Generation ihre Aufbauleistung. Vor allem die Tatsache, daß der Käfer in immer größerer Stückzahl Gährlich bis zu 400 000) in die USA, das Mutterland des Automobils, exportiert wurde, nährte bundesrepublikani­ schen Stolz.

Wegzug von Fachkräften einen solchen Ader­ laß, daß er den vermeintlichen Vorteil schnell aufwog. Und das war der Grund, weshalb das ostzonale Regime schließlich um Hilfe rief. Es beantragte bei der Besatzungsmacht, daß die Zonengrenze geschlossen werde. Die westli­ chen Vertreter im Kontrollrat stimmten dem sowjetischen Antrag zu, weil der Zustrom so vieler Menschen die Ernährungslage in ihren eigenen Gebieten noch weiter verschlechterte.

Am 30. Juni 1946 wurde die Grenze zwischen der Sowjetzone und der britischen und ameri­ kanischen Besatzungszone geschlossen.

Am 2. Dezember 1946 war die »Bizone« gebo­ ren. Das britisch-amerikanische Abkommen

531

bestimmte, daß beide Zonen vom

1. Januar 1947 an eine Wirtschaftseinheit darstellen wür­

den. Nur in dieser kleineren Hälfte des ehema­ ligen Deutschen Reiches also wurde nun die Absichtserklärung des Potsdamer Abkommens, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu be­ handeln, in die Tat umgesetzt. Deutsche Zen­ tralbehörden sollten die Vorbereitungen zur wirtschaftlichen Vereinigung koordinieren. Die nächste Entwicklungsstufe (Juni

1947) war

eine Art überregionales Parlament, der Zwei­ zonen-Wirtschaftsrat in Frankfurt. Die Landta­ ge der Bizonen-Länder, die schon

1946 in den

ersten freien Wahlen auf deutschem Boden seit

1933 gewählt worden waren, entsandten zu­ 52 Abgeordnete (die Zahl wurde im Frühjahr 1948 verdoppelt). Das Gesetzgebungs­ sammen

organ hatte außer wirtschaftlichen Befugnissen noch die Zuständigkeit für Verkehr, Post, Fi­ nanzen, Elektrizität, Gas, Wasser. Dem Wirt­ schaftsrat, dem Parlament also, gesellte sich eine »Regierung« hinzu, der Verwaltungsrat. Er wurde gebildet aus dem schon vorher exi­ stierenden Gremium von Verwaltungsräten, die nun als »Minister« die Bezeichnung Direkto­ ren erhielten. Wirtschaftsrat und Verwaltungs­ rat mit Direktoren: aus diesen zurückhaltenden, betont herunterspielenden Begriffen bestand die Keimzelle der Bundesrepublik. Zunächst brachte diese Entwicklung keinerlei Verbesserung. Im Gegenteil. Die Währung wurde aus Mangel an ausreichender Deckung durch Werte immer schwächer; wertvollere Nahrungsmittel und Sachgüter wurden als Schwarzmarkt-Tauschware zurückgehalten. Die »Ami-Zigarette« wurde zur Leitwährung. Einfallsreiche Schwarzhändler konnten in die­ ser Zeit zu gefährdetem Wohlstand kommen. Otto Normalverbraucher hingegen lebte von dem, was es auf Zuteilung gab, und das war herzlich wenig. Allein in Hamburg litten rund

10 000 Menschen an Hungerödemen. Im schlimmsten Wirtschaftsjahr

1947 erschien

plötzlich ein Hoffnungsschimmer. Der neue amerikanische Außenminister Marshall kün­ digte am 5. Juni in einer Rede vor der Harvard­ Universität ein Hilfsprogramm für Europa an. Indem der General - er war Stabschef der US­ Armee gewesen - den Zuhörern vor Augen hielt, daß Europa ohne umfassende Hilfe von außen »einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verelendung schwersten Ausma­ ßes entgegengehen« müßte, appellierte er ge­ schickt an den Eigennutz der Amerikaner. Ih­ nen mußte klar sein, daß ein wirtschaftlich brachliegendes Europa als Absatzmarkt immer mehr ausfiele. Außerdem stand im Hintergrund

532

In Perspektive gerückt: Ludwig Erhard Mit Professor Ludwig Erhard wurde am 16. Oktober 1963 ein Mann Bundeskanzler, dessen Verdienste als Wirtschaftsmi­ nister schon ein Stück Ge­ schichte der Bundesrepublik Deutschland waren. Als Kanz­ ler scheiterte Erhard. Hatte Adenauer, der ihm Führungs­ kraft absprach, recht behalten? Erhard selbst sagte an seinem 80. Geburtstag, er habe sich stets als Wissenschaftler, nicht als Politiker verstanden. Die historische Leistung des Professors bestand in der Durchsetzung liberaler Grund­ sätze in der Wirtschaftspolitik in einem Land, das eine fast 15jährige Phase staatlicher Wirtschaftslenkung hinter sich hatte, in dem das Verständnis für die Bedeutung marktwirt­ schaftlicher Regeln weitge­ hend verlorengegangen war und das sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Zustand tiefen Elends befand. Mit der Wäh­ rungsreform am .Tag X", dem 20. Juni 1948, legte Erhard die Kräfte frei, die den wirtschaftli­ chen Wiederaufstieg eines Teils Deutschlands zu einer der führenden Industrienatio­ nen der Welt bewirkt haben, die das Fundament des Wohl­ stands und damit indirekt des Gedeihens der demokratischen Ordnung legten. Er wagte den kühnen Schritt, die Zwangs­ wirtschaft niederzulegen, ge­ gen Widerstände der Besat­ zungsmächte, der Sozialde­ mokraten und der eigenen Partei, deren Arbeitnehmerflü­ gel die sozialen Grundsätze des Ahlener Programms in Gefahr sah. Das Ziel, dem Menschen ein menschenwür­ digeres Dasein zu verschaffen, wollte Erhard durch Freiset­ zung der Eigeninitiative errei­ chen. Er glaubte an die Person, an die Selbstverantwortung des einzelnen; indem er ihr die soziale Mitverantwortung zur Seite stellte, vereinigte er sein wirtschaftspolitisches Credo zum gesellschaftspolitischen Begriff: „soziale Marktwirt­ schaft". Erhards ganzes Den­ ken und Handeln gründet auf dem Glauben an die produktive Kraft der Freiheit. Der Aufstieg des am 4. Februar 1897 in Fürth geborenen

Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders". „

Sohns eines Textilwarenhänd­ lers zum „Vater des Wirt­ schaftswunders" begann 1945, als den Amerikanern ein Papier über wirtschaftspolitische Maß­ nahmen in Nachkriegsdeutsch­ land in die Hände fiel. Erhard, der als Autor verantwortlich zeichnete, hatte die 1943/44 verfaßte Denkschrift, die von der Prämisse der deutschen Niederlage ausging und die Vorzüge der freiheitlichen Marktwirtschaft herausstellte, an Carl Goerdeler geschickt, einen der Hauptverschwörer des 20. Juli 1944. Ein Wirt­ schaftsfachmann ersten Ran­ ges war der freiheitsliebende Franke schon damals; nach Abschluß der kaufmännischen Lehre und des Studiums der Betriebswirtschaft, National­ ökonomie und Soziologie hatte sich Dr. Erhard an der Handels­ hochschule Nürnberg mit Kon­ sumforschung befaßt und 1942 in einem eigenen Institut „ein­ geigelt'. Drei Jahre später nahm die amerikanische Be­ satzungsmacht in Franken den baldigen Honorarprofessor als Wirtschaftsberater in Dienst. Im Oktober 1945 trat Erhard als bayerischer Staatsminister für Handel und Gewerbe in das Kabinett Hoegner ein, bis ihn der zweite Ruf der Amerikaner in die Zweizonenverwaltung

nach Frankfurt zitierte; hier bereitete er als Vorsitzender der Sonderstelle „Geld und Kredit" den „Tag X" vor. Im Februar 1949 lernte Erhard Konrad Adenauer kennen, fand den Weg in die CDU und den Bundestag und wurde der erste Wirtschaftsminister der Bun­ desrepublik Deutschland. Der beste Mann saß am richtigen Platz - für 14 Jahre. Dann, als der erste Bundeskanzler wi­ derstrebend aus dem Amte schied, konnte die Union an dem langjährigen Vizekanzler und Vater so vieler Erfolge nicht vorbei: Ludwig Erhard setzte sich auf den Stuhl Konrad Adenauers. Der Wähler, der gern an das Naheliegende denkt, sah in dem wohlbeleibten Kanzler mit der dicken Zigarre zuerst die Verkörperung des eigenen Wohlstands und gewährte der Union 1965 stolze 47,6 Pro­ zent. Erst als auf Erhards ureigenem Feld, der Wirt­ schaft, Probleme sichtbar wur­ den, sank sein Stern. Der Professor hielt der steigen­ den Ausgabeflut zunehmend nur Maßhalte-Appelle entge­ gen, was ihm den Spitznamen „Gummilöwe" eintrug, und wur­ de mit seinem Gedanken einer .formierten Gesellschaft" dem Kräftespiel in der von ihm selbst postulierten freien Wirt­ schaft und Gesellschaft nicht gerecht. 1966 kam es infolge der Rezession, der Kohlenkrise und Stahlflaute in Nordrhein­ Westfalen zu einem triumpha­

len Wahlsieg der SPD (49,5%).

Der Erdrutsch von Düsseldorf alarmierte Bonn und insbeson­ dere die Liberalen; wegen Streits um die Deckung des Haushalts sprengte die FDP 1966 die Koalition, die Union machte die verlorene Mehrheit mit dem neuen Partner SPD mehr als wett. Erhard war nicht der Mann für eine Große Koalition. An seine Stelle trat Kurt Georg Kiesinger. Professor Ludwig Erhard blieb als lebendes Denkmal der sozialen Marktwirtschaft und Gralshüter seines Lebenswerks Abgeordneter im Bundestag. Der große Ökonom starb am 5. Mai 1977.

Die Amerikaner waren durch eine Denkschrift Erhards über den einzuschlagenden Wirtschafts­ kurs auf den Professor mit der Zigarre und dem Zuversicht ausstrahlenden Gesicht aufmerk­ sam geworden. Sie wußten also, welchen Kurs der neue Mann steuern würde. Über die Unbe­ irrbarkeit und Konsequenz, mit denen der Neo­ liberalismus, die freie, bald »Soziale Markt­ wirtschaft« genannt, hier verfochten wurde, waren sie aber doch besorgt - und nicht nur sie. Aber Erhard brachte im Frankfurter Bizonen­ Parlament eine Mehrheit hinter sich. Zeitgleich mit der von den Alliierten ausgelösten Wäh­ rungsreform am 20. Juni 1948 erließ der Wirt­

Wohnungsbau. Aus den Notquartieren und Behelfsheimen zog man in Wohnhochhäu­ ser um, und nach der Freßwelle und Kleidungswelle kam die Einrichtungswelle. Gigantische Leistungen vollbrachte der Wohnungsbau der Nachkriegszeit. In den Jahren zwischen 1949 und 1955 wurden mehr als drei Millionen Wohnungen neu , ••• ,•.,.. errichtet.

"Die Amerikaner waren über Erhards Neoliberalismus ernstlich besorgt ... ''

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das Gespenst des sowjetischen Vordringens. Die Hungernden könnten leicht eines Tages

schaftsrat ein Gesetz, das die meisten rationier­ ten Waren freigab; über Angebot und Nachfra­ ge soUte der Markt entscheiden. Dieses Gesetz war nicht alliierte, sondern deutsche Politik. »Die Währungsreform«, schreibt Heinrich Jae­ necke, »veränderte alles. Sie war ein Urerlebnis wie der Zusammenbruch, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Koppelung von harter Wäh­ rung und radikalem Freihandel hatte den Effekt eines Dammbruchs: Sie ließ die aufgestaute Energie von 40 Millionen hungrigen Deut­ schen los, die nur noch ein Ziel kannten aufbauen und leben. Das >Wirtschaftswunder< nahm seinen Anfang, die westdeutsche Lei­ stungsgesellschaft formierte sich ...« Die Marshallplan-Hilfe setzte im Frühjahr 1948 ein und war auf vier Jahre veranschlagt. Eine zuverlässige Statistik über ihren Gesamtum­ fang ist kaum zu gewinnen, weil auch die Rückzahlungen der Kredite, soweit überhaupt verlangt, wieder in den ökonomischen Kreis­ lauf hineingepumpt wurden. Es ist davon aus­

dem kommunistischen Werben erliegen, wenn

zugehen, daß zwölf bis sechzehn Milliarden

es im Westen überhaupt keine Hoffnung gebe.

Dollar zwischen 1948 und 1952 zur Verfügung

Einstweilen war Marshalls sensationelle An­

standen. Davon kauften die Empfängerländer

sprache nur ein Wechsel auf die Zukunft. Das

Rohstoffe, Nahrungsmittel, Investitionsgüter.

European Recovery Program (ERP), bald ein­

Deutschland dürfte ein Viertel der Gesamtsum­

fach Marshallplan genannt, konnte nicht per

me erhalten haben. Damit wurden unter ande­

Knopfdruck realisiert werden, weil zunächst

rem alle Demontageverluste durch nagelneue

die organisatorischen Voraussetzungen zu

Maschinen ersetzt: eine geschichtliche Ironie,

schaffen waren.

daß Kriegsbußen auch zum Nutzen ausschla­ gen können.

Was die drei Westzonen betraf, war noch eine wichtige politische Voraussetzung zu erfüllen: Die Währungsreform. Die Art und Weise ihrer Verwirklichung hing allerdings entscheidend von den Personen ab, die an den Schaltstellen saßen und die Besatzungsbehörden zu über­ zeugen vermochten. Ein glücklicher Zufall hatte denMann in die Schlüsselposition des Zweizo­ nenamtes für Wirtschaft gebracht, der die Wäh­ rungsreform zu einem geschichtlichen Wende­ punkt machte: Ludwig Erhard.

Der Nierentisch gab einem ganzen Einrichtungsstil den Namen. Den Zeitgenossen erschien er mit seiner spiegelnden Oberfläche und den dünnen, schräg angesetzten Beinen als Muster von Formschönheit und Nützlichkeit, ebenso modern wie materialsparend.

Die nächste Generation hatte nur Spott für das ausgezehrte Möbel und warf es in Massen auf den Müll. Heute werden die letzten Exemplare von Sammlern geschätzt und in Museen ausgestellt.

So faßte ein ganzer zerschlagener Kontinent in seinen politisch freien Teilen wieder Mut. Insbesondere

der

Patient Westdeutschland

entwickelte sich auf der ERP-Intensivstation zum medizinischen Wunder:

noch in der

zweiten Hälfte 1948 steigerte sich die indu­ strielle Erzeugung um glatte 50 Prozent. Nicht zuletzt

die

Vertriebenen,

eben

noch

für

Wohnungsämter und Ernährungsbehörden ein schwer verdaulicher Brocken, wurden ein

533

starker Motor des Aufschwungs. Die Gewerk­ schaften hielten sich mit Forderungen lange zurück. Die Unternehmer lenkten die Erträge sofort in Investitionen um. So griff ein Rädchen wie geölt ins andere, wozu auch gehörte, daß die Weltkonstellationen sich rapide änderten und Deutschland schneller, als es sonst geschehen wäre, vom Paria der Völker­ familie wieder zum Mitglied und Partner wur­ de, wenn auch nur in seinem westlichen Teil. Die von Ludwig Erhard vertretene Wirtschafts­ politik, die er seit der Konstituierung der Bun­ desrepublik Deutschland im Herbst 1949 als Wirtschaftsminister leitete, wurde unter der Bezeichnung »Soziale Marktwirtschaft« be­ kannt. Die »Soziale Marktwirtschaft« hat mit dem Laisser-faire-System des sogenannten »Manchester-Liberalismus« des 19. Jahrhun­ derts, nach dessen Grundsätzen sich der Staat prinzipiell aus dem wirtschaftlichen Gesche­ hen heraushalten sollte, zwar das Rechtsinstitut des Privateigentums und die Lenkung durch bewegliche Marktpreise gemeinsam, macht aber durch vier weitere Bauelemente, die nicht einer Marktautomatik überlassen bleiben können, sondern bewußte Tätigkeit des Staates erfor­ dern, diese beiden überkommenen Bauelemen­ te erst voll funktionsfähig. Die neuen Bauele­ mente sind a) Stabilität des Geldwertes und stetige konjunkturelle Entwicklung; b) ein Höchstmaß an Wettbewerb, der ein Wettbe­ werb der echten Leistungen sein muß und nicht zum gezielten Schädigungs- und Vernichtungs­ wettbewerb entarten darf. Der Staat hat Wett­ bewerbsbeschränkungen zu bekämpfen und die Fairneß der Wettbewerbsformen zu über­

„Freßwelle". Keine leeren Regale mehr, Lebensmittel in Hülle und Fülle. Nach Hunger und Rationierung in der Nachkriegszeit war die reich gefüllte Auslage, das üppig dekorierte Schaufenster, wie es die Währungsreform mit sich brachte, Symbol alles dessen, wofür es sich zu arbeiten lohnte.

''Zwischen 1950und 1955 verdoppelte sich das Bruttosozialprodukt '' .______:w........ ..

Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland war die

„.

weltwirtschaftliche

Konsequenz

des

Krieges in Korea. Die damit verbundene Be­

wachen. Er muß gleichzeitig durch Unterlassen

lebung der Wirtschaft der westlichen Hemi­

künstlicher Benachteiligungen und Begünsti­ gungen in seiner eigenen Tätigkeit für Sauber­

ten, heftig bekämpft wurde, war die Absicht der

sphäre gab der Wirtschaft der Bundesrepublik

keit und Gerechtigkeit der Startbedingungen

Bundesregierung, die D-Mark als Währung zu

Deutschland außergewöhnliche Chancen, die

sorgen; c) die Soziale Marktwirtschaft erfor­

sichern. Zur Erfüllung der außergewöhnlichen

diese unter Einsatz von Initiative, Fleiß und

dert, daß der Staat große strukturelle Anpassun­

Anforderungen - Besatzungskosten, Wieder­

Beharrlichkeit wahrnahm. Das Ergebnis war

gen nötigenfalls durch geeignete vorüberge­

gutmachungen, Leistungen für Kriegsgeschä­

die in dieser Zeitspanne und in diesem Umfang

hende Maßnahmen erleichtert, glättet und be­

digte, Kriegssachgeschädigte und Vertriebene

nicht erwartete Rückkehr Deutschlands auf

schleunigt; d) die Soziale Marktwirtschaft be­

und Kosten des Wiederaufbaues der vom Krie­

den Weltmarkt. Das Bruttosozialprodukt der

darf der Ergänzung durch eine wohl abge­

ge zerstörten oder auf Grund der Bevölker­

Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland

stimmte Politik in den an die Wirtschaft gren­

ungsumstrukturierung notwendig gewordenen

verdoppelte sich zwischen 1950 und 1956

zenden Bereichen, besonders den Gebieten des

öffentlichen Einrichtungen aller Art

wobei die Zunahme der Bevölkerung und die

-

mußte

-

Erhöhung des allgemeinen Preisniveaus zu

Sozialen, der Raumplanung und der Bildungs­

die

politik.

Bundesrepublik Deutschland voll in Anspruch

Verbunden mit der Durchsetzung der »Sozia­

mit dem »Petersberger Abkommen« und der

Bereits 1951 ließ die englische Zeitschrift »Fi­

len Marktwirtschaft«, die zunächst vor allem

ersten Revision des Besatzungsstatuts ausge­

nancial Times« die Frage: »Wie konnte sich ein

von der SPD und dem DGB, aber auch von

sprochenen Erleichterungen der noch Beschrän­

zerbombtes, demontiertes und desorganisiertes

Christdemokraten, die sich ihrem in der Ten­

kungen unterworfenen industriellen Produkti­

Industrieland so rapide erholen?« durch ihren

denz durchaus »antikapitalistischen« Ahlener

on gestatteten die erforderlichen Ausweitun­

Auslandsredakteur beantworten. Dieser führte

Programm vom Februar 194 7 verpflichtet fühl-

gen. Beschleunigend für den wirtschaftlichen

für die wirtschaftliche Entfaltung der Bundes-

wirtschaftliche

Leistungsfähigkeit

der

berücksichtigen sind.

genommen werden. Die im Zusammenhang

534

Motorisierung.

Behelf der Nachkriegs­ zeit: das Auto mit dem Holzvergaser. Beweglichkeit war lebenswichtig. Ein Volk war unterwegs, auf der Suche nach den Angehörigen, nach einer neuen Heimat, einer Arbeitsstelle oder um auf dem Land Nahrungsmittel zu ergattern. Und das bei weitgehend zerstörten Verkehrsmitteln und -wegen!

...._ �..-... ··

"Die wirtschaftli­ che Entfaltung der Bundes- lr:'ll���"9'Jim republik ' wurde mit wachsendem Staunen zur Kenntnis genommen ... ''

republik Deutschland, die von allen an der Weltwirtschaft beteiligten Staaten mit größter Aufmerksamkeit und wachsendem Staunen zur Kenntnis genommen wurde, folgende Gründe an: 1. Nagelneue oder modernisierte Maschi­ nen an Stelle der demontierten. 2. Staatlicher Ausfuhransporn a) durch Belassung von 4 v. H. des Dollaranfalls beim Exporteur, b) durch teilweise Umsatzsteuerrückvergütung bei der Ausfuhr. 3. Selbstfinanzierung der Industrie aus Gewinnen dank der Dividendenstillhal­ tung der Aktionäre, von denen viele im Interes­ se einer inneren Stärkung der Unternehmen seit Kriegsende überhaupt noch keine Dividenden bezogen haben. 4. Heilsamer Respekt der Öf­ fentlichkeit vor der Bank Deutscher Länder wegen der erfolgreichen Währungsschutzpoli­ tik, gestützt auf einen hohen Diskontsatz. Die

Autoflut.

Heute Symptom einer aus den Fugen geratenen Technisierung, in den fünfziger und sechziger Jahren aber der Garant einer kraftvollen Wirtschaft: die jährlich ansteigende Zahl privater Automobile (Bild: abge­ stellte Wagen bei einer Sportveranstaltung).

Tatsache, daß die Währungs- und Kreditlei­ stung in der Hand starker und unabhängiger Männer liegt, die notfalls auch der Regierung die Stirn bieten, wird als großer Vorteil angese­

����·

hen. 5. Wohnungsbauförderung aus öffentli­ chen Mitteln, einmal unter 7c des Steuergeset­ zes (steuerfreie Abschreibungsgrenze von 7000 DM bei

Neubauinvestierungen),

zweitens

durch Gewährung einer steuerfreien Abschrei­ bung bei Einkommen von Einzelpersonen im Falle einer Umwandlung in Sparkonten mit einer Laufzeit von drei Jahren. 535

Die Deutsche Lufthansa fliegtwieder. 1945 war auf Beschluß des Alliierten Kontroll­ rats den Deutschen jeglicher Luftverkehr untersagt worden. Erst 1954 wurde der Bundesrepublik die Lufthoheit zurückge­ geben. Mit vier Propellermaschinen nahm die Lufthansa im April 1955 ( Bild) den Flugbetrieb auf. Zwei Monate später flog die erste „Super­ Constellation" nach New York.

"Seit 1952 erzielte die deutsche Wirtschaft Exportüberschüsse ... '' Die wirtschaftliche Entfaltung der Bundesre­

gleichen Zeitspanne von 11,8 Milliarden DM

publik Deutschland ging nicht ohne temporäre

auf 44,3 Milliarden DM. Die größte und stärk­

und partielle Schwierigkeiten vor sich. Die

ste Ausdehnung der Leistungsbilanz wurde im

Gegner der »Sozialen Marktwirtschaft« be­

Wirtschaftsverkehr zwischen der Bundesrepu­

nutzten diese, um auf deren Unzulänglichkei­

blik Deutschland und den Ländern der »Euro­

ten zu verweisen. Ludwig Erhard hielt jedoch

päischen Zahlungsunion« (EZU) erreicht. Be­

an der Linie seiner Wirtschaftspoltik fest, die er

günstigt von dieser alle Bereiche des Wirt­

mit der Erklärung verteidigte: »Es ist meine

schaftslebens erfassenden Expansion stieg das

feste Überzeugung, daß die Welt gesunden

Volkseinkommen der Bundesrepublik Deutsch­

wird, daß alle Spannungen und Störungen über­

land von 75 Milliarden DM im Jahr 1950 auf

wunden werden können, daß Mißtrauen und

148 Milliarden DM im Jahr 1956 und auf230

Mißgunst schwinden und eine wirtschaftliche

Milliarden DM im Jahr 1961.

Befriedung Platz greifen wird, wenn wir nach so langer Verirrung endlich wieder zu einer

Im Jahr der Souveränitätserklärung der Bun­

guten internationalen Ordnung hingefunden

desrepublik Deutschland trat deren Wirtschaft

haben werden. Weil alle Volkswirtschaften zu

in eine bis Mitte der sechziger Jahre fast unver­

lange in einer unfruchtbaren Isolierung lebten,

ändert anhaltende Phase der Hochkonjunktur,

haben wir das Gefühl für die Funktion einer

deren Kennzeichen u. a.Vollbeschäftigung der

wirklich freien Weltwirtschaft verloren und

eigenen Arbeitskräfte und zunehmende Be­

überschätzen die Gefahren, die mit der Eröff­

schäftigung von Gastarbeitern waren, ein. Als

nungeiner vollenFreizügigkeitverbunden sind,

eindruckvollstes Beispiel dieser Entwicklung

bei weitem. Freiheit bedeutet nicht Gefahr,

wird mit Vorliebe die Entfaltung des Woh­

sondern Segen für alle!« Erhard verwies gerne auf die steigenden Exporterträge der Bundesre­ publik Deutschland. Deren Wirtschaft erzielte seit 1952 einen Exportüberschuß, der 1961 die Rekordhöhe von sieben Milliarden DM er­ reichte. Zwischen 1950 und 1956 erhöhte sich die Einfuhr von 13,0 Milliarden DM auf 37,9 Milliarden DM. Die Ausfuhr erhöhte sich in der 536

Ferienglück mit dem UKW-Empfänger. Nach Freß-, Kleidungs- und Einrichtungswelle kam schließlich auch die Reisewelle. Mit bescheidenen Zielen, noch im eigenen Land, fing es an, aber bald schon setzten die ersten den Fuß über die Grenze - das Kofferradio immer dabei.

nungsbaues angeführt. Fachleute waren der Ansicht, daß der Wiederaufbau der im Kriege zerstörten Häuser und Wohnungen mindestens 30, wahrscheinlich 40 Jahre in Anspruch nehmen werde. Tatsächlich war die Wieder­ instandsetzung in weniger als zehn Jahren be­ endet. Die Zahl der erstellten Neubauwoh­ nungen stieg von Jahr zu Jahr an; sie betrug

1949 215 000(1929: 197 000),1950 360 000, 1951 410 000, 1952 443 000, 1953 518 000, 1954 543OOOund1955 542 ()()()Wohnungen.

Besonders eindrucksvoll sichtbar wurde die

wirtschaftliche Entfaltung der Bundesrepublik

Deutschland in der Ausweitung der Industrie­

produktion, deren Anteil am Bruttoinlandpro­

dukt1956 40,3 Prozent betrug. Die Produktivi­

tät der Industrie in der Bundesrepublik Deutsch­

land lag 1956 je Beschäftigten um 34,2 Prozent

und je Arbeitsstunde um 39,1 Prozent über dem

Stand von 1950. Diese Expansion nahm einen

stürmischen Verlauf, nachdem der Wiederauf­

bau der kriegszerstörten oder demontierten Pro­ duktionsstätten beendet war und die Auswir­

kungen der Zerschneidung des früher ein­

heitlichen Wirtschaftsgebietes des Deutschen Reiches überwunden waren.

Die Grundstoffindustrie erfuhr eine beträchtli­

che Ausweitung. 1956 wurde in der Steinkoh­ lenförderung das Ergebnis von 1936 überschrit­

ten. Die Rohstahlerzeugung lag im gleichen

Jahr erheblich über der Vorkriegszeit (1936:

16,9 Mio. t, 1956: 22,6 Mio. t); sie übertraf sogar die Erträge im gesamten Reichsgebiet in den Jahren 1913 und1936. Die Investitionsgü­

terindustrie dehnte ihren Anteil der gesamten Güterindustrie von 28,9 Prozent auf 36,l Pro­

zent im Jahr 1956 aus. Die Beschäftigung in der

elektrotechnischen Industrie betrug 1956 mehr als das Fünffa che der Vorkriegszeit. Im Ma­

schinenbau stieg die Zahl der Beschäftigten von 302 000 im Jahr 1936 auf797 000 Perso­ nen im Jahr 1956. Ungewöhnlich war die Ent­ wicklung in dem Industriezweig, der als reprä­

Beitrag der Gewerkschaften. Bild oben: Ludwig Erhard, Wirtschaftsmi­ nister der Bundesrepublik, im Gespräch mit dem DGB-Vorsitzenden Ludwig Rosenberg. Im Rahmen der von Erhard konzipierten „Sozialen Marktwirtschaft" haben die Produktionsfaktoren „Kapital und Arbeit" in der Bundesrepublik erfolgreich zusammen­ gearbeitet. Rechts: Maiplakat des DGB von 1954. Heute gehören Achtstundentag und Fünftagewoche zu den sozialen Besitzständen der Arbeitnehmer.

sentativ für die moderne Wohlstandsgesell­ schaft angesehen wird, in der Autoindustrie.

Die Produktion von Personenwagen betrug im

Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im

Jahr 1936 224 289,imJahr1950 216 107,im Jahr 1953 369 140 und im Jahr 1956 847 829 Stück. Die weitere Entwicklung führte dazu,

daß die Bundesrepublik Deutschland im Ex­

port von Kraftwagen die Vereinigten Staaten von Amerika überflügelte und die Ausfuhr von

Autos jährlich mehr als fünf Milliarden DM

erbrachte. Der Volkswagen wurde zum Sym­

bol dieses stürmischen Aufstieges; er ist das

einzige Auto der Welt, von dem jährlich -

"Die Produktivität der Industrie stieg stürmisch an„. ''

erstmals im Jahr 1961 - mehr als eine Million

Hohen Kommission aufgelöst. Jede der drei

Diese stürmische Entwicklung, zunächst gerne

wiirde zur größten Autofabrik Europas. Eine

Nachfolgegesellschaften erzielte zehn Jahre

Reiches verglichen, erreichte ihren Höhepunkt,

Gesamtumsatz der IG-Farbenindustrie AG. Bei

1958 Großbritannien vom zweiten Platz des

Stück gebaut wurden. Das Volkswagenwerk

großen - der fünf rechtlich unabhängigen -

gleiche Entwicklung erlebte die chemische In­

später einen Umsatz, der größer war als der

der industriellen Macht Deutschlands und ne­

diesen Ergebnissen wirkten Initiative der Un­

Nemours & Co. das größte Chemieunterneh­

und Angestellten in der Wahrnehmung wirt­

dustrie. Die IG-Farbenindustrie AG, Symbol ben dem amerikanischen Konzern Du Pont de

men der Welt, wurde 1950 durch Gesetz der

ternehmer und disziplinierter Fleiß der Arbeiter schaftspolitischer Chancen zusammen.

mit den Gründerjahren des Bismarckschen als die Bundesrepublik Deutschland im Jahr Welthandels verdrängte. Der reiche Strom von

Gold und Devisen machte die D-Mark zu einer

der härtesten Währungen der Welt. In der

Finanz- und Wirtschaftspolitik

ging die seit

537

Zeitzeugnis: Umgestaltung der Arbeitswelt Heinz Nordhoff, geboren 1899 in Hildesheim, war eine der herausragenden Untern�hmer­ persönlichkeiten in der Ara des Wiederaufbaus. Bevor er 1930 zur Adam Opel AG nach Rüsselsheim ging, arbeitete er als Konstrukteur im Flugmoto­ renbau der Bayerischen Moto­ renwerke. 1947 beauftragen die britischen Militärbehörden den 48jährigen mit dem Wie­ deraufbau des zerstörten Volks­ wagenwerkes in Wolfsburg. Nordhoff läßt das VW-Vor­ kriegsmodell verbessern und entwickelt in einem Jahrzehnt VW zum größten Automobil­ konzern Europas und zum bedeutendsten Autoexporteur der Welt. Einen seiner spekta­ kulärsten Erfolge erringt Nord­ hoff mit der VW-Absatzstrate­ gie in den USA, die Gar/ Hans Hahn, Nordhoffs Wunsch­ Nachfolger, vor Ort in die Tat umsetzt. Im April 1968 erliegt Nordhoff einem Herzinfarkt. .Die Automatisierung der Pro­ duktionsvorgänge und in ho­ hem Maß auch die der zugehö­ rigen Büroarbeit ist - wie die Verwendung von Maschinen überhaupt - eines der Mittel, um die Produktivität, also die Erzeugung industrieller Güter, bezogen auf die dafür aufge­ wendeten Arbeitsstunden, zu steigern. Die Automatisierung, über deren Möglichkeiten und Grenzen noch zu sprechen sein wird, ist der letzte Schritt auf dem nun beinahe 200 Jahre alten Wege, der mit dem ersten Einsatz von Maschinen zur Steigerung des Ergebnis­ ses menschlicher Arbeit be­ gann. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Ergebnis menschlicher Arbeit im wesentlichen kon­ stant geblieben, und auch die Arbeitsmethoden und Techni­ ken hatten sich durch die Jahrtausende nicht wesentlich geändert. Obwohl die Zahl der die Erde bewohnenden Men­ schen nur geringen Schwan­ kungen unterlag, blieb der Lebensstandard so ziemlich gleich, und zwar abgesehen vom Reichtum einiger ganz weniger, niedrig und armselig. Die Anfangszeit der Industriali­ sierung war mühsam, und die ,finsteren Teufelsmühlen' der frühen englischen Textilindu­ strie waren kein Ruhmesblatt.

Weltweit begehrt als Symbol deutscher Wertarbeit: der große Mercedes. Die Entwicklung ging zähflüs­ sig weiter; um die Mitte des vorigen Jahrhunderts lag Eng­ land klar in Führung vor dem Kontinent und vor den USA, während im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Entwick­ lungsniveau der Industriestaa­ ten etwa auf gleicher Höhe lag. Am Anfang dieses Jahrhun­ derts beginnt dann die Füh­ rung der Entwicklung an die USA überzugehen. Die Me­ chanisierung der Produktion macht revolutionierende Fort­ schritte, die ersten Montage­ bänder entstehen, und in den letzten 25 Jahren nimmt die Produktivität rasch zu. Es ist das komplizierte Zusammen­ spiel von Anregung und Befrie­ digung des Bedarfs, das Wach­ sen des Produktionsvolumens, die Verringerung der Preise und das Ansteigen der Kauf­ kraft der Massen, das in einer von unserer Generation weit­ gehend selbst erlebten Weise eine vorher in Jahrtausenden nicht erreichte Hebung der Produktivität und zugleich des Lebensstandards zuwege ge­ bracht hat. Dies wesentlich höhere Lebensniveau, die Mög­ lichkeit der Befriedigung von Bedürfnissen, die noch vor 50 Jahren nur einigen wenigen vom Glück begünstigten Men­ schen möglich waren, für Millionen, ist nur möglich gewesen auf der Grundlage einer enormen Steigerung der industriellen Produktion, bezo­ gen auf die Arbeitsstunden des Menschen. In der Landwirt­ schaft ist diese Steigerung um vieles geringer und sicher noch sehr verbesserungsfähig; in

der Verwaltung verläuft die Entwicklung genau umgekehrt und negativ - nur der Aufwand wächst, der Wirkungsgrad fällt. Nur in ganz oberflächlichen Schlagworten wird heute noch die Behauptung aufgestellt, diese enorme industrielle Meh­ rerzeugung - absolut und bezogen auf die Arbeitsstun­ den - sei das Resultat einer entsprechenden Mehrbela­ stung der Arbeitenden. Gewiß werden Leerlauf und jede Reibung im Arbeitsprozeß aufs sorgfältigste vermieden, aber die arbeitsmäßige Inanspruch­ nahme des einzelnen ist nicht gestiegen, sondern zurückge­ gangen, und wird weiter zu­ rückgehen. Anstelle von 72 und mehr Stunden je Woche noch vor 50 Jahren ist jetzt die 48-Stunden-Woche die Norm, und die 40-Stunden-Woche liegt durchaus im Bereich des Möglichen, auch bei uns, nachdem sie in den USA seit 25 Jahren allgemein eingeführt ist. Körperliche Arbeit ist in größtem Umfange von Maschi­ nen übernommen, und die allgemeinen Arbeitsverhältnis­ se zeigen in den letzten 25 Jahren eine enorme Verbesse­ rung. Der immer weiter fortschreiten­ de Einsatz von Maschinen und Vorrichtungen anstelle der Handarbeit ist die Erklärung und Begründung dieser wahr­ haft revolutionären Entwick­ lung. Es ist nicht mehr nur ein Schlagwort, daß der Mensch im Betrieb vom Sklaven der Maschine zu ihrem Herrn geworden ist. In den Büros beginnt die Papierflut zu vereb­ ben, Maschinen, Lochkarten, Elektrogehirne ersetzen den Papierkrieg. Alle diese Ent­ wicklungen stellen ein Spiel viel-facher, sich überschnei­ dender Befruchtung und Anre­ gung dar: höhere Produktivität läßt höhere Löhne und niedri­ gere Preise zu, höhere Löhne steigern die Notwendigkeit, den Lohnanteil am Erzeugnis durch vermehrten Maschinen­ einsatz zu verringern, und über alledem steht als großer An­ trieb der freie Wettbewerb, der dem Tüchtigeren die größere Chance gibt." (Aus einem Artikel von Heinz Nordhoff, Generaldirektor des Volkswagenwerks, für den „Volkswirt", Mai 1956)

1914 beinahe ohne Unterbrechung andauernde Phase des staatlichen Dirigismus zu Ende-ein Vorgang, den die Generation, die die Auswir­ kungen der Inflation (1923) und der Währungs­ reform (1948) erfahren hatte, zunächst nicht ohne Besorgnis verfolgte. Seine Schattenseiten blieben nicht verborgen: einseitige -nach An­ sicht nicht weniger Kritiker:

zu

telständischen Industrie, überstürzte Verände­ rung der wirtschaftlichen Stellung der Land­ wirtschaft, die verstärkte Hilfe des Staates er­ forderlich macht, Vordringen von Gruppenstre­ ben

und

Gruppenegoismus,

zunehmende

Gleichgültigkeit gegenüber Gemeinschaftauf­ gaben. Diese nur skizzierte wirtschaftliche Entwick­ lung veränderte nicht nur die Städte und Dörfer der Bundesrepublik Deutschland; sie hatte auch auf die politische Situation der Bundesrepublik Deutschland und auf das Lebensgefühl ihrer Bewohner einen nachhaltigen, dem Beobach­ ter meist verborgenen Einfluß. Der rasche Wechsel von vorzivilisatorischer Armut zu hochzivilisatorischem Überfluß stellte an die tragenden Altersklassen große physische und psychische Anforderungen; er verdrängte das 1945 weithin anzutreffende Minderwertigkeits­ gefühl, das - ohne Umformung zu einem Be­ wußtsein geschichtlicher Verantwortung-eli­ miniert wurde. Der Bundesdeutsche, gern als »Wirtschaftswunderdeutscher« apostrophisiert, wurde von den argwöhnischen Beobachtern des Auslandes als Wiedergeburt des wilhelmi­ nischen Deutschen-»Es ist erreicht«-verstan­ den und bezeichnet. Sein Nachholbedürfnis tobte sich in sogenannten Wellen - »Freß­ welle«,

»Bekleidungswelle«,

»Reisewelle«,

»Motorisierungswelle«, »Antiquitätenwelle« usw. -aus. In dieser neuen Atmosphäre wurde der charakteristische deutsche Arbeitsdrang noch zusätzlich verstärkt, die Konzentration auf materielle Werte nahm noch zu. Kulturelle Interessen hatten im Hintergrund zu bleiben, während sämtliche Energien dazu dienten, von den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten Ge­ brauch zu machen. Die geistige Verarbeitung des raschen Wech­ sels der deutschen Situation erfolgte erst im Zuge der Ende der sechziger Jahre von der »Außerparlamentarischen Opposition« getra­ genen Wohlstandskritik und der mit ihr einher­ gehenden Schärfung des sozialen Bewußtseins und seit Ende der siebziger Jahre mit der alle gesellschaftlichen Schichten übergreifenden Herausbildung eines ökologischen und »me­ taökonomischen« Bewußtseins.

538

einseitige -

Vermögensbildung, Zurückdrängung der mit­

Hatte Adenauer 1949 noch von einem Jahr oder zwei Jahren gesprochen, die sein Arzt ihm für das Amt des Bundeskanzlers zutraute, so redete schon bald keiner mehr von einer Zeitbegrenzung. Für die CDU war der ,,Alte von Rhöndmf' wichtigstes Kapital; mit ihm als 1 Zugpferd errang sie in den fünfrigerJfilrren

����f;.

G

D Je geteilte Nation

raphische Darstellungen des Wähler­ verhaltens gleichen Fieberkurven am Krankenbett. Wie der Arzt daran seine

Rückschlüsse zieht, so studieren die Parteima­

nager und Politiker eifrig die Umfrageergeb­ nisse der Meinungsforscher. Von einem deutli­ chen Sinken der Wählergunst mußte Bundes­ kanzler Adenauer erfahren, als die Debatte um die Wiederbewaffnung einsetzte. In gleichem Maß gewann die Opposition an Boden. Zu Adenauers Glück beschränkten sich die Wah­ len 1951 auf die Bundesländer. Bei einer Bun­ destagswahl wäre er wahrscheinlich nicht Re­ gierungschef geblieben. Aber allmählich ver­ lor die »Ohne mich«-Parole ihre Wirkung, ließ der Widerstand gegen einen Verteidigungsbei­ trag nach. Ende

1951 stieg das Ansehen des

Kanzlers aus dem Stimmungstief wieder auf und erreichte, nicht ohne Rückschläge, im Spät­ jahr

1953 eine beeindruckende Höhe. 57 Pro­

zent aller Wahl berechtigten erklärten sich nun­ mehr mit seiner Politik einverstanden. Die Wählergunst beruhte vor allem auf folgendem: Er habe durch seine Politik Deutschlands Anse­ hen wiederhergestellt, er verschaffe Sicherheit vor dem Osten und habe den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht. Ansehen -Sicherheit -Aufschwung: Die Mehrheit der Bundesbür­ ger maß die Fähigkeiten des Patriarchen an diesen drei wünschenswerten Vorzügen des gegenwärtigen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland. Im Wahljahr

1953 konnte Adenauer einen ein­

drucksvollen persönlichen Erfolg verzeichnen. Präsident Eisenhower lud ihn nach Washington ein. Unter dem Vorgänger Harry Truman war dies noch nicht möglich gewesen. Jetzt aber empfing der einstige Oberkommandierende der alliierten Truppen in Europa, der sich als An­ führer eines Kreuzzuges verstanden hatte, den

„Die Bundesrepublik wird die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben ... Die Bundesrepublik wird ihre Politik im Einklang mit den Prinzipien der Satzung der Vereinten Nationen und mit den im Statut des Europarates aufgestellten Zielen halten. Die Bundesrepublik bekräftigt ihre Absicht, sich durch ihre Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, die zur Erreichung der gemeinsamen Ziele der freien Welt beitragen, mit der Gemeinschaft der freien Nationen völlig zu verbinden ... Art. 2. Im Hinblick auf die Internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrages verhindert hat, behalten die drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wieder­ vereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung. " (Deutschlandvertrag von 1952) in Kraft getreten am5. Mai 1955)

Repräsentanten des wiedererstandenen demo­ kratischen Deutschland auf den Stufen des Weißen Hauses. Das Ergebnis des Wahlkampfes

1953 sah so

aus: 45,2 Prozent (1949: 31,0) stimmten für die CDU/CSU, eine gewaltige Steigerung um 14,2 Prozentpunkte. Die SPD fiel zurück unter ihr Ergebnis der ersten Bundestagswahl und er­ reichte nur noch

28,8 Prozent (1949: 29,2).

Dies war, im Rückblick von heute, das schlech­ teste Ergebnis aller Wahlen seit

1949. Es war

ein schwacher Trost, daß der Stimmenanteil jetzt höher lag als im Durchschnitt aller acht Wahlen der Weimarer Republik. Auch das bessere Mittelergebnis aller Wahlen im Kaiser­ reich war noch um 1,2 Prozentpunkte übertrof­ fen. Dennoch: So wenig Fortschritt nach Jahr­ zehnten, weniger Zuspruch als

1907

-

das

war bitter. Die Freien Demokraten als drittgrößte Partei konnten ihre für sie hocherfreulichen 11,9 Pro­ zent von 1949 nicht halten, sie schrumpften auf 9,5 Prozent. Aber die Koalition ging völlig ungefährdet mit solidem Mehrheitspolster in die zweite Legislaturperiode. Auch wenn der Pluspunkt »Aufschwung« zum guten Teil das Verdienst von Ludwig Erhard war: angerechnet wurde es in erster Linie dem Regierungschef, und das gar nicht zu unrecht. Zum Geschick oder Ungeschick eines Staats­ mannes gehört ganz wesentlich seine Personal­ politik. Setzt er die richtigen Leute an den richtigen Platz, so sind ihre Erfolge seine Erfol­ ge. Schließlich werden ihm ja auch die Fehler seiner Mitarbeiter angekreidet. Von jetzt an begann in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, was man »Kanzlerdemokratie« zu nennen pflegt.

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Adenauers Besuch in den Vereinigten Staaten 1953 „Für den April 1953 war die erste Reise des Bundeskanz­ lers der Bundesrepublik Deutschland nach den Verei­ nigten Staaten von Amerika festgelegt. Es war die erste Reise eines deutschen Regie­ rungschefs in die Vereinigten Staaten. Ich folgte gern der Einladung. Ein Hauptzweck meines Besu­ ches sollte sein, das Vertrauen zu uns weiter auszubauen und zu stärken und die Bande der Sympathie zwischen den Ver­ einigten Staaten und Deutsch­ land noch fester und enger zu knüpfen. Sympathie und das Vertrauen auf Zuverlässigkeit spielen unter den Völkern in ihren gegenseitigen Bezie­ hungen eine entscheidende Rolle. In erster Linie jedoch fuhr ich in die Vereinigten Staaten, um den Dank des deutschen Vol­ kes zu bringen für alles, was die Bevölkerung der Vereinig­ ten Staaten für Deutschland nach dem Zusammenbruch getan hatte, in einer so groß­ zügigen und großherzigen Wei­ se, daß es dafür kein Beispiel in der Geschichte gab. Nach Anlegen der „United States" in New York kamen zahlreiche Reporter an Bord des Schiffes, um von mir ein Ankunftsstatement zu hören. Ich hielt eine kurze Pressekon­ ferenz an Bord des Schiffes ab und erklärte den Journalisten, daß ich bei der Landung in den Vereinigten Staaten vor allem eines empfände: ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem amerikanischen Volk. Wir Deutschen dankten von gan­ zem Herzen für die Wohltaten, die uns nach unserem Zusam­ menbruch erwiesen worden seien. Meine erste Reise nach Ame­ rika war einer der vielen Schritte auf dem Weg eines geschlagenen Volkes zurück in die Gemeinschaft der Völ­ ker. Dieser Weg mußte mit sehr viel Geduld, mit Umsicht und ohne jede Selbstüber­ schätzung zurückgelegt wer­ den. Man mußte immer wieder mit Rückschlägen und auch mit Störungsversuchen rech­ nen. Wir mußten wissen, daß wir noch viele Gegner hatten und daß es noch große psy­ chologische Hemmungen uns gegenüber zu überwinden galt.

Bundeskanzler Adenauer auf den Stufen des Kapitols. Das wichtigste war, unser Land nach seiner völligen Niederlage und seinem Zu­ sammenbruch aus der Isolie­ rung herauszuführen. Ich muß­ te alles versuchen, unsere Gegner aus dem Zweiten Weltkrieg zu Verbündeten und zu Freunden zu gewinnen. Das erforderte ein sehr vor­ sichtiges psychologisches Vor­ gehen. Mein Hauptanliegen war, Deutschland als gleich­ berechtigten Staat in die Völkergemeinschaft zurückzu­ führen und die Eingliederung Deutschlands in die freie Welt zu erreichen. Der Erfolg meiner Washing­ toner Besprechungen lag in erster Linie im schwer über­ schaubaren psychologischen Bereich. Mein Besuch in den Vereinigten Staaten bedeute­ te den Abschluß einer sehr unglücklichen Phase der deutsch-amerikanischen Be­ ziehungen. In dem Abschluß­ kommunique wurde ausdrück­ lich am Anfang und am Schluß das Wort Freundschaft ge­ braucht. Dieses Wort Freund­ schaft bedeutete sehr viel. Ich hatte die Absicht geäu Bert, am Grabmal des Unbekann­ ten Soldaten auf dem Natio-

nalfriedhof in Arlington einen Kranz niederzulegen. Die amerikanische Admini­ stration gestaltete die Kranz­ niederlegung zu einer über­ aus eindrucksvollen Zeremo­ nie. Sie nahm sie zum Anlaß, in einer sehr zu Herzen gehenden Weise einen Schluß­ strich zu ziehen unter die Jahre der Feindschaft, vor der gan­ zen Welt zu zeigen, daß diese Zeit vorüber sei, daß nunmehr eine Ära der Freundschaft begonnen habe und daß die Bundesrepublik Deutschland wieder aufgenommen sei in den Kreis und in die Gemein­ schaft der freien Völker. Arlington, der Nationalfriedhof der Vereinigten Staaten, liegt etwas abseits von Washing­ ton, in einer sehr schönen Gegend inmitten einer großen Parkanlage. Am 8. April 1953 brachte mein Besuch dort für mich den Höhepunkt meines Aufenthaltes in den Vereinig­ ten Staaten, symbolisch den Höhepunkt einer achtjährigen, harten Arbeit. Bei meiner Ankunft auf dem Friedhof wurde ich von einem amerikanischen General be­ grüßt. Er geleitete mich zu dem Grabmal. Hinter uns schritten drei amerikanische Fähnriche, der mittlere trug die deutsche Fahne. Der weite Platz vor dem Grabmal war umsäumt von Kompanien aller Waffen­ gattungen der amerikanischen Streitkräfte. Einundzwanzig Sa­ lutschüsse dröhnten über das Gelände, als ich mit dem Ge­ neral zu dem Grabmal schritt, die deutsche Fahne dicht hinter mir. Am Grabmal legte ich, während Kommandos durch die Luft hallten, einen Kranz mit schwarz-rot-golde­ ner Schleife nieder, er galt den Toten beider Völker. Eine amerikanische Militärkapelle spielte die deutsche National­ hymne. Ich sah, wie einem meiner Begleiter die Tränen herunterliefen, und auch ich war von tiefer Bewegung ergriffen. Es war ein weiter und harter Weg von dem totalen Zusammenbruch des Jahres 1945 bis zu diesem Augenblick des Jahres 1953, in dem die deutsche Nationalhymne auf dem Ehrenfriedhof der Verei­ nigten Staaten erklang."

(Konrad Adenauer, Erinnerungen)

Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO. Was die Bundesrepublik betrifft, so brachte die erste Hälfte der fünfziger Jahre,

mit

Hegel

gesprochen, »Fortschritte im Bewußtsein der Freiheit«. In kleinen Etappen, nicht ohne Rück­ schläge, gewann die Republik mehr und mehr Freiraum und Selbständigkeit. Ein bißchen Chronologie zeigt, wie ein Schritt dem anderen folgte. Im Juli

1951 erklärten England und Frankreich

den Kriegszustand mit Deutschland für been­ det, im Oktober folgten die Vereinigten Staaten. Damals amtierte noch Harry Truman im Wei­ ßen Haus. 1952 löste General Eisenhower ihn ab und blieb acht Jahre lang Präsident. Beson­ ders unter seinem Außenminister John Foster Dulles (1953-1959) entwickelte sich ein star­ kes Vertrauensverhältnis zwischen Bonn und Washington. Der Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 bildete den politischen Rahmen für die Gleich­ berechtigung der Bundesrepublik in der westli­ chen Gemeinschaft. Er löste das Besatzungs­ statut, also die Oberhoheit der Siegermächte über Westdeutschland, ab. Doch blieben auch jetzt noch alliierte Vorbehaltsrechte hinsicht­ lich der Deutschland- und Berlin-Frage und der Stationierung der bewaffneten Streitkräfte. Im Prinzip war mit dem Deutschlandvertrag die Souveränität der Bundesrepublik vertraglich hergestellt. Doch dauerte es drei Jahre bis zum Inkrafttreten des Deutschland-Abkommens. Bis dahin bestand die vereinbarte Souveränität im wahrsten Sinne nur auf dem Papier. Der Kanz­ ler und seine Koalition mußten eine quälende Wartezeit durchstehen, bevor sie der Oppositi­ on vollendete Tatsachen vorzeigen konnten. Das lag an dem Artikel 11 des Deutschlandver­ trages. Er verknüpfte das Inkrafttreten mit der gleichzeitigen Verwirklichung der Europäi­ schen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die aber kam nie zustande. Anfänglich schien dieses Projekt aussichtsreich zu sein. Die französische Nationalversamm­ lung befürwortete im Februar 1952 einen deut­ schen Verteidigungsbeitrag - natürlich unter Garantien und Sicherungen. Die EVG schien solche Garantien zu bieten. Abgesichert durch das grundsätzlich zustimmende Votum des fran­ zösischen Parlaments, schlossen die Regierun­ gen der Westmächte mit der Bundesregierung den Deutschlandvertrag, und einen Tag später, am 27. Mai 1952, unterzeichneten die Außen­ minister von acht Ländern in Paris den EVG­ Vertrag. Außer den Ministern der sechs (ge­ dachten) EVG-Partner Frankreich, Italien, den

540

Benelux-Ländern und der Bundesrepublik ge­ hörten dazu die Außenminister der USA und Englands, denn die beiden Länder waren ja Signatarstaaten des Deutschlandvertrages, Be­ satzungsmächte. Adenauers Zufriedenheit wich bald ärgerlichen Empfindungen. Die Anzeichen mehrten sich, daß Frankreich seine Zusage nicht einlösen würde. Zu groß war das Mißtrauen nach drei Kriegen binnen

75 Jahren, bei denen deutsche

Truppen jeweils in Frankreich gekämpft oder Frankreich erobert hatten. Der schwarze Tag für Adenauer in seiner bisher knapp fünfjähri­ gen Kanzlerschaft war der 30. August

1954.

Die französische Nationalversammlung ließ die EVG scheitern. Abstimmungsergebnis:

319

:

264 Stimmen.

Angesichts dieses Scherbenhaufens, Verspot­ tung jahrelanger Beharrlichkeit, ist es erstaun­ lich, wie rasch eine Ersatzlösung-der Nordat­

WOHLSTAND AUS EIGENER KRAFT Seil fünf Jahren wächst und erstarkt die deutsche Wirtschaft, so rasch, daß die Welt erstaunt.

lantikpakt, die NATO- gefunden wurde. Das

Am eigenen Leib, an Kleid und Nahrung, hat's jeder von uns erfahren. Verantwortlich

gute, nahezu freundschaftliche Verhältnis zwi­

für die

deutsche Wirtschaft steht vor uns Profe.sor Dr. Ludwig Erhard. Er hat für uns Enbcheidendes geleistet.

schen Adenauer und Dulles trug wesentlich dazu bei. Amerika war nun einmal entschlos­ sen, die Bundesrepublik fest in das westliche Bündnissystem einzuordnen. Nichts zugleich, was Adenauer sich sehnlicher wünschte. Ruß­ land als drohender Schatten ließ ihn alle Gedan­ ken und Projekte an eine neue eigenständige europäische Mitte, an einen ungebundenen deut­ schen Nationalstaat verwerfen; der hatte in seinen Augen nichts als Unglück gebracht. Darin lag aber auch die klare Entscheidung, für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands keine Opfer an die westliche Bindung zu brin­

1948

Ein UBIÖ.... t..nd, rit hatte ihrm Sinn wrloren. Mit schnellem Entsdi.luB urrei8t Ludwig Erhard am Tage der Wahrunpn:form die Karten und Bmapcheint der Zw&r1g5wirbchaft.

Seine ldttn kuan die Wlrtsc:Nft

an: Zeige }edtt, wu

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bnn! Slcherhdt des Daseins toll jedn a u• lieh selbst, aut

seiner schöpfemchm Atbdt gewinnen. Prokseor Erhard verkündd:: Nur ein frei.er Wettbewerb lteigert die Produktion Ul\d die OJialität W\ltrtt trzng. nlsse. Nur harte Xonkurmu:, nkht Polizri und Schnell• gnichtt, drüc:bn die Pret. und edt6hen die Kaufkraft des Geldet. 'Wir sdtaffen Arbeit, nkht durch. lnflaHon, t0ndnn durch Aulbau. Nur wmn soziale Gesinnung und penan. lic:hes Lmturigsstreben sida wrein"lgen, könnm wir cbu• emdmi Wohlstand entgegengehen.

1953

Rtnl Jolue lww Meit liegen hintu um, aber sie warm nlc:ht wrgtblidi.. o„ graue Gapentt der Arbeitslosigkeit wurde gebumt. F.ut dm Millionen. neue Arbeitsplätze wurden gnchaffen. Wohnunge:n für über 5 Millionen Mmsc:hen wurden neu orl>aut. Unerbittlich wacht Erlwd überdenf.esten WatdetGeldes. Die 0-Mark ht heutt so kerngesund wie der 0oD.ar und da Schweizer Franken. Der dwtsche Export, ohne dm wir hungern müikn, ht in vitT Jahrm um du 5'ebenfache ge:stiegtn. Wir wrfügm über 6 Milliarden 0-Mark an Gold und Dmten. In Oeubehland i•t der Mensch nicht vmtutllcht, sondern Staat und WlrttcN.ft sind dem Menschen dienttbu ge. macht tvorden 1 Du ist der ·�e Bankrott«, dtt Ludwig Erhard von leinen Gecnem vorausgeugt wurde. Aber er wei.8, daB er linpt die überwliltigende Mehrheit dn Volkes hinttt .;Staatsbürger in Uniform