Men with laced waists, bodies made of cotton wool and fabric shaped by tailors - this magic gave way to the modern pragm
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German Pages 234 Year 2019
Table of contents :
Inhalt
Dank
1. TEIL: Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
1.1 Wandel des männlichen Modekörpers 1780–1870
1.2 Modekörper
1.3 Stationen der Entwicklung der männlichen Taille
1.4 Thesen
1.5 Forschung zu Kleidung und Mode
1.6 Geschichte und Theorie der Männerkleidung
1.7 Aufbau und Quellen
2. TEIL: Die Taille im Fokus
2.1 Zur Taillierung als Merkmal der westeuropäischen Kleidung
2.2 Falten werden weiblich
2.3 Körpergrenzen, Modellierung der Taille und Männerkorsett
2.4 Das Sakko als sportliche Jacke
2.5 Einschub: Wolle – »Ursprüngliche Akkumulation« und englischer Tuchrock
2.6 Habit carré und Capote de guérite – Vorformen des Sakkos?
3. TEIL: Schneider formen Körper
3.1 Maß- und Zuschnittsysteme als »Hauptfactor« der Mode
3.2 Apoll in Hemd und Gilet – 48 cm »normaler« halber Brustumfang + 2 cm Stoff und Watte
3.3 Maßnehmen auf bekleideten Körpern
3.4 Entwicklung der Maß- und Zuschnitt-Systeme
3.5 Keilförmiger Torso – die Männlichkeit der schmalen Taille
3.6 Die Konstruktion der männlichen Taille
4. TEIL: Institutionalisierter Geschmack
4.1 Mode- und Fachmagazine
4.2 Modeverständnis und Aufbau der Magazine
4.3 Institutionalisierung des Geschmacks – Modekupfer, Patronen und die Interessen der Schneider
4.4 Das Genre systematisiert die Mode
4.5 Taillierung und »anschliessende« Passform
4.6 Begradigung der Silhouette
4.7 »Als wäre man ein freierer Mensch«
4.8 »Die Taille ist hinten ganz f lach«
5. TEIL: Effekte der Konfektion
5.1 Konfektion – Motor der Begradigung
5.2 Konfektion ist englisch
5.3 Begradigte Schnittmuster, Standardisierung und Konfektionsindustrie
5.4 Saisonalität und Moderisiko
5.5 Wer entwirft die Modelle?
5.6 Cheap tweed wrappers
5.7 Standardisierung als Motor der Begradigung
6. TEIL: Zusammenfassung und Fazit
6.1 Zusammenfassung
6.2 Fazit
Anhang
Bildnachweise
Bibliografie
Quellen
Abkürzungen
Julia Burde Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
Fashion Studies | Band 9
Editorial Mode ist Motor und Ergebnis kultureller Dynamiken. Kleider gehören der materiellen Kultur an; Mode ist Ergebnis des Handelns mit Kleidern und wird in ästhetischen und alltagskulturellen Praktiken hervorgebracht. Als omnipräsente visuelle Erscheinung ist Mode wichtigstes soziales Zeichensystem – und sie ist außerdem einer der wichtigsten globalen Wirtschaftsfaktoren. Die Reihe »Fashion Studies« versteht sich als Forum für die kritische Auseinandersetzung mit Mode und präsentiert aktuelle und innovative Positionen der Modeforschung. Die Reihe wird herausgegeben von Gertrud Lehnert.
Julia Burde, geb. 1962, ist Bühnen- und Kostümbildnerin sowie Dozentin im Fach Kulturgeschichte der Kleidung am Studiengang Kostümbild der Universität der Künste Berlin und lehrt u.a. an der Hochschule Hannover und der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Von 2015–2016 wurde sie vom Berliner Chancengleichheits-Programm für ausgezeichnete Lehre gefördert.
Julia Burde
Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
Dissertation an der Universität Potsdam 2018. Eingereicht unter dem Titel »Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode. Wandel des männlichen Modekörpers 1780–1870«. Erstgutachterin: Prof. Dr. Gertrud Lehnert. Zweitgutachterin: Prof. Dr. Lioba Keller-Drescher.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Gabriele Burde, Berlin Umschlagabbildung: Frack und Paletot 1852 »Le Progrès, Modes de Paris pour la Gazette des Modes Européennes publiée à Dresde par l’Academie Allemande de l’Art du Tailleur.« (Detail). Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1.1.1852. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. Fotograf: Dietmar Katz. Satz/Bild: Kurt Blank-Markard, Gabriele Burde, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4940-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4940-0 https://doi.org/10.14361/9783839449400 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Dank | 7 1. TEIL Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers 1.1 Wandel des männlichen Modekörpers 1780–1870 | 11 1.2 Modekörper | 16 1.3 Stationen der Entwicklung der männlichen Taille | 19 1.4 Thesen | 28 1.5 Forschung zu Kleidung und Mode | 32 1.6 Geschichte und Theorie der Männerkleidung | 41 1.7 Auf bau und Quellen | 52 2. TEIL Die Taille im Fokus 2.1 Zur Taillierung als Merkmal der westeuropäischen Kleidung | 55 2.2 Falten werden weiblich | 56 2.3 Körpergrenzen, Modellierung der Taille und Männerkorsett | 58 2.4 Das Sakko als sportliche Jacke | 63 2.5 Einschub: Wolle – »Ursprüngliche Akkumulation« und englischer Tuchrock | 65 2.6 Habit carré und Capote de guérite – Vorformen des Sakkos? | 68 3. TEIL Schneider formen Körper 3.1 Maß- und Zuschnittsysteme als »Hauptfactor« der Mode | 71 3.2 Apoll in Hemd und Gilet – 48 cm »normaler« halber Brustumfang + 2 cm Stoff und Watte | 76 3.3 Maßnehmen auf bekleideten Körpern | 81 3.4 Entwicklung der Maß- und Zuschnitt-Systeme | 82 3.5 Keilförmiger Torso – die Männlichkeit der schmalen Taille | 116 3.6 Die Konstruktion der männlichen Taille | 118
4. TEIL Institutionalisierter Geschmack 4.1 Mode- und Fachmagazine | 121 4.2 Modeverständnis und Auf bau der Magazine | 124 4.3 Institutionalisierung des Geschmacks – Modekupfer, Patronen und die Interessen der Schneider | 127 4.4 Das Genre systematisiert die Mode | 130 4.5 Taillierung und »anschliessende« Passform | 132 4.6 Begradigung der Silhouette | 143 4.7 »Als wäre man ein freierer Mensch« | 153 4.8 »Die Taille ist hinten ganz f lach« | 158 5. TEIL Effekte der Konfektion 5.1 Konfektion – Motor der Begradigung | 161 5.2 Konfektion ist englisch | 163 5.3 Begradigte Schnittmuster, Standardisierung und Konfektionsindustrie | 172 5.4 Saisonalität und Moderisiko | 180 5.5 Wer entwirft die Modelle? | 181 5.6 Cheap tweed wrappers | 183 5.7 Standardisierung als Motor der Begradigung | 184 6. TEIL Zusammenfassung und Fazit 6.1 Zusammenfassung | 187 6.2 Fazit | 203
Anhang Bildnachweise | 207 Bibliografie | 213 Quellen | 227 Abkürzungen | 231
Dank In der Rückschau gehört die Arbeit an diesem Buch zu den wichtigsten Phasen meines Lebens. Dass ich es schreiben konnte, verdanke ich vor allen anderen meiner Doktormutter Prof. Dr. Gertrud Lehnert. Als sie 2013 zugestimmt hat, mich in den Kreis ihrer Doktorandinnen aufzunehmen begann für mich eine lehrreiche Zeit mit vielen neuen Erfahrungen, Erkenntnissen, mit vielen Zweifeln und noch mehr Freude. Gertrud Lehnerts wissenschaftliches Werk, ihr Denken und nicht zuletzt ihre wegweisenden Konzepte zum »Modekörper« und zum »Grotesken Körper« waren und werden auch zukünftig Vorbild und Orientierung meiner eigenen theoretischen Arbeit sein. Für die vielen gemeinsamen Gespräche, ihre Kunst zuzuhören und genau die Hinweise zu geben, die weiterhelfen, ihre Freundlichkeit und ihre Ermutigungen danke ich Gertrud Lehnert von ganzem Herzen. Sehr bedanken möchte ich mich bei meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Lioba Keller-Drescher für ihre scharfsinnigen Fragen, ihre Anregungen und ihren Rat hinsichtlich der inhaltlichen Strukturierung der Arbeit. Wegweisend ist ihr Verständnis des Forschungsprozesses, den sie nicht als blosses Reagieren auf Überliefertes, sondern als Finden oder Entwerfen des Arbeitsfeldes anhand des vorgefundenen Materials versteht. Meinen Mit-Doktorandinnen danke ich für den hilfreichen und produktiven Austausch im Rahmen von Prof. Dr. Lehnerts Kolleg, das ich sehr vermissen werde. Am Beginn des Weges, der zu diesem Buch geführt hat, stand der Besuch des Kolloquiums »Was ist Kulturgeschichte?« von Prof. Dr. Wolfgang Ruppert (UdK), der mir grundlegende Kategorien für die kritische Arbeit mit Fachliteratur vermittelte und dem ich für seine Gesprächsbereitschaft und seinen Rat herzlich danke. Zu großem Dank verpflichtet bin ich Prof. Errico Fresis, Dekan der Fakultät IV der UdK Berlin. Ganz besonders danke ich Prof. Florence von Gerkan, Leiterin des Studiengangs Kostümbild der UdK, die durch ihre kontinuierliche Unterstützung und Einbindung meiner Arbeitsthemen in die Lehre im Studiengang Kostümbild maßgeblich zu diesem Buch beigetragen hat. Ich danke Dr. Adelheid Rasche und Dr. Britta Bommert sowie den Mitarbeiter*innen der Lipperheideschen Kostümbibliothek, besonders Herrn Fatke und Herrn Öhlmann, für die freundliche Unterstützung meiner Recherchen. Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Dagmar Neuland-Kitzerow und Dr. Gundula Wolter für ihre Unterstützung. Allen Kolleginnen, Freundinnen und Freunden, Nachbarinnen sowie der Wannsee-Clique, die sämtliche Phasen der Dissertation begleitet haben, danke ich für ihre Geduld und ihren Beistand. Besonders danke ich meiner Kollegin Prof. Lisa Meier für den jahrelangen wertvollen Austausch, meiner Kollegin Petra Peters, Dagmar Niefind-Marelli unter anderem für ihren Hinweis auf den Taillenab-
näher, Anna Eiermann und Martin Kohler sowie Jorge Jarafür die vielen Gespräche bei hervorragend gekochten Menüs, Prof. Horst Birr für die gemeinsame Lektüre historischer Texte und Isolde Wittke für ihr kritisches Hinterfragen meiner Argumentationen. Ein besonderer Dank gilt Kurt Blank-Markard für dessen Tatkraft und Sachverstand bei der Erstellung des Buchlayouts sowie Judith Kessler für ihre Geduld und ihren Humor. Meiner lieben Freundin Petra Grimm danke ich für ihren jahrelangen Beistand und Harald Grimm für seine Beratung. Meiner Cousine Prof. Dr. Angelika Linke danke ich sehr für ihren Rat und ihre wertvollen Anregungen und Hinweise insbesondere hinsichtlich der Kulturgeschichte des Bürgertums. Meiner Nichte Sophie danke ich für ihre aufmunternden Kommentare. Meinen Geschwistern Benjamin Burde und Dr. Rahel Burde danke ich zutiefst, dass sie immer für mich da waren und für ihre Wärme und Klugheit, mit der sie mich in allen Arbeitsphasen begleitet haben. Dem Bühnen- und Kostümbildner Prof. Martin Rupprecht, meinen Lehrer, Chef und zweiten Vater, der die Fertigstellung des Buches, an dem er größten Anteil hatte, nicht mehr erlebte, ist dieses Buch in Verehrung und Liebe gewidmet. Meinem Vater Prof. Dr. Wolfgang Burde, in dessen Andenken ich das Buch geschrieben habe, danke ich für seinen Scharfsinn, seinen Geist, sein Wissen und seine kompromisslose Klarheit, die er mir in vielen gemeinsamen Diskussionen zu seinen Lebzeiten vermittelt hat und die mich den Arbeitsprozess hindurch begleitet und geführt haben. Zutiefst danke ich meiner Mutter Gabriele Burde für den zutreffenden Buchtitel und ihre präzise Arbeit an Layout und Bildern. Ich danke ihr für ihre Ästhetik, ihren Sachverstand, ihre Engelsgeduld, ihre Stärke, ihren Witz.
Für Professor Martin Rupprecht
Bild 1 • Gerade und taillierte Kontur – Paletot und Frack 1850
1 Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers 1.1 Wandel des männlichen Modekörpers 1780–1870 Was meint Taille und warum ist es relevant, ihre Entwicklung in der Männermode zu untersuchen? Im Folgenden wird mit Taille als Gegenstand dieser Arbeit nicht eine Partie des physischen Körpers sondern die im Schnittmuster konstruierte und durch Bekleidung hervorgebrachte Kontur der Mitte des männlichen Modekörpers1 bezeichnet. Die Modekörper-Taille wird als Körper-Form im Sinne der H errenschneiderei des 18. und 19. Jahrhunderts verstanden, nach deren Verständnis mit Körper grund sätzlich der zweite, durch Bekleidung hervorgebrachte Körper bezeichnet wurde, und zugleich als Praktik der Konstituierung von Männlichkeit. Untersucht wird der Wandel der männlichen Taille zwischen 1780 und 1870. Der Zeitraum beginnt mit der sichelförmig gebogenen Kontur des späten 18. Jahrhunderts und umfasst mit den Wechseln zu einer stark taillierten Silhouette in der ersten und schließlich zur geraden Form des modernen Sakkos in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung, die um 1870 abgeschlossen ist. Trotz ständiger Wechsel des Schnittmusters sei das Jacke-Hose-Schema konstant geblieben: »Es waren der Kontext und die Konnotation von Herrenanzügen, die sich veränderten, nicht die Grundform«, so Anne Hollander 1995 in Anzug und Eros (Hollander 1995, 15). Das klassische Anzug-Design beschreibt Hollander als spezifische Anordnung aller Teile des Anzugs am Körper sowie als Effekt einer begradigten Passform: Der Anzug sei eine »vollständige Hülle für den Körper, die dennoch aus separaten, in unterschiedlichen Lagen angeordneten Einzelteilen besteht« (ebd., 19). Trotz Verzicht auf eine allzu enge Passform sind die Konturen von Armen und Beinen sichtbar. Das ermögliche Bewegungsfreiheit ohne Druck auf Nähte oder Verschlüsse, so Holländer. Besonders interessant ist Hollanders Beobachtung, dass begradigte Schnittmuster Asymmetrien der Individualkörper, ihrer Proportionen und Oberflächen kaschieren und so die Körper vereinheitlichen. 1 | Diese Untersuchung zum Wandel der männlichen Taille folgt dem Konzept Modekörper von Gertrud Lehnert. Vgl. Abschnitt 1.2.
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Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
Durch Überlappung seiner Teile kann »das gesamte Kostüm […] sich natürlich ordnen, wenn der Körper aufhört, sich zu bewegen [und] wieder eine glatte Form annehmen.« (Hollander 1995, 19) Damit ist der Sakkoanzug als neueste Form des Männeranzugs zwar treffend beschrieben, frühere Formen wie der »frac« des späten 18. und die taillierten Röcke des 19. Jahrhunderts allerdings nicht. Anders als das Anzug-Schema sind Passform und Modellierung der Körperform keineswegs kontinuierlich, sondern bedingt durch wechselnde Schnittmuster. Zweifelsfrei war die Kontinuität des von Holländer beschriebenen Schemas der überlappenden Anordnung von Jacke, Weste und Hose in der Männermode des 18., 19. und 20. Jahrhunderts vorherrschend und dominiert, wenn auch aus der alltäglichen Kleidung verdrängt, bis heute die Dresscodes in Politik und Business. Dieses Anzug-Schema verstehe ich als ein im 17. Jahrhundert in der Männerkleidung entwickeltes modisches Paradigma, das den weiteren Verlauf der Männermode und auch spätere Entwicklungen der Frauenmode (Schneiderkostüm) bestimmen sollte. Problematisch erscheint mir jedoch, wenn die Kontinuität des Anzugs zum Argument wird, seine erheblichen formengeschichtlichen Veränderungen zu marginalisieren. In der vorliegenden Arbeit soll daher die Entwicklung der männlichen Taille zwischen 1780 und 1870, die ich als Prozess ihrer Begradigung verstehe, aus der Perspektive der wechselnden Schnittmuster betrachtet und diesem Wechsel größere Bedeutung als bisher zugeschrieben werden. »Der moderne Straßenanzug – das Jackett beziehungsweise der Sakko – der […] auf die Taille verzichtete, [bestand] nur noch aus zwei wenig taillierten beziehungsweise sackartig geschnittenen Vorderteilen und entsprechenden Rückenteilen. Diese ›Demokratisierung des Schnittes‹ […] kam einer zweiten Revolution in der Männerkleidung gleich, deren Bedeutung kaum geringer als die in der Französischen Revolution erfolgte Demokratisierung des Stoffes einzuschätzen ist«, so Erika Thiel (Thiel 1960, 417). Gemäß der immensen Bedeutung, die Erika Thiel ihrem Wandel zuschreibt, verstehe ich die Taille als Zentrum des Wandels der Schnittmuster in der Männermode. Bislang wurde die Entwicklung der männlichen Taille zwar noch nicht explizit untersucht, ihre wechselnden Silhouetten und Proportionen werden jedoch durchaus diskutiert. Die taillierte Silhouette des Biedermeier liest man als Parallele zur Frauenmode oder gar als Effeminierung, wobei die Bezüge zwischen Männer- und Frauenmode entweder undefiniert bleiben oder wie selbstverständlich von einem Einfluss der Frauen- auf die Männermode ausgegangen wird. Die umgekehrte Möglichkeit, die Männermode könnte der Ausgangspunkt der Mode der schmalen Taille gewesen sein, wurde nach meiner Kenntnis bislang noch nicht erwogen. Fraglos dagegen scheint die Männlichkeit der geraden Taille des S akkoanzugs. Dass sich
Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
im konservativen Klima der Restauration nach dem Wiener Kongress eine Mode durchgesetzt haben soll, welche eine Verweiblichung der männlichen Silhouette intendierte, erscheint auf den ersten Blick wenig verständlich. Eine recht plausible Interpretation der männlichen Taillierung zur Biedermeierzeit entwickelt Sophie Lamotte: Dass der Biedermeierfrack eine dem Wams des 15. und 16. Jahrhunderts vergleichbare Querteilung in der Taille aufweist, deutet Lamotte als romantische Reminiszenz an das Mittelalter (Lamotte 2013, 202). Ein weiterer erwähnenswerter Ansatz findet sich bei Diana de Marly, der zufolge die Effeminierung der Männermode der 1830er bis 1850er Jahre mit der Krönung der englischen Königin Victoria I. im Jahr 1837 und der damit verbundenen machtpolitischen Relevanz weiblicher Kleidung in Zusammenhang steht (Marly 1989, 89). Diese Interpretation geht allerdings von einer uneingeschränkten Vorherrschaft der britischen Modeentwicklung in der europäischen Männermode aus, die jedoch angesichts des keineswegs geringen Einflusses der französischen Männermode nicht uneingeschränkt gelten kann. Die vorliegende Untersuchung zielt jedoch nicht in erster Linie auf eine Auseinandersetzung mit bisherigen Deutungen, sondern vielmehr darauf, deren kunstoder literaturgeschichtlichen Blickrichtungen eine Untersuchung zur Männermode als Praktik der zeitgenössischen Schneiderei entgegenzusetzen. Zentral ist die Frage, wie sich der beschriebene Wandel der Männertaille in Schnittmustern und Modebildern konstituierte und welche Ideen zum bekleideten Körper, zu Mode und Männlichkeit den Wechseln der männlichen Taillenkontur zugrunde lagen. Meine Analyse der Männertaille bezieht sich explizit auf Modebilder und Schnittmuster als Medien dieser Ideen. Eine wesentliche Funktion der Männerkleidung im Untersuchungszeitraum war die Normierung des Körpers nach kanonischen Proportionen. Entsprechend verwende ich die Begriffe Kleidung oder Be-Kleidung im Sinne einer Praktik der textilen Modellierung von Körpern und ihrer Angleichung an Normen der Mode und der Schnittkonstruktion. Das »Normalsystem«2 als Praktik der Normierung des männlichen Körpers in der Herrenschneiderei ist ein zentraler Referenzpunkt dieser Untersuchung. Es zeigt, dass Schnittmuster »männlichen« Proportionen folgen, die bis heute den Kleidergrößensystemen der Konfektion zugrunde liegt. Der Frage, ob sich die im Schnittmuster intendierten Taillenformen an den individuellen Körpern realisierten, deren Beantwortung ja eine Kenntnis der Passform-Begriffe des 18. und 19. Jahrhunderts voraussetzt, wird hier durch eine Analyse der Maß- und Zuschnitt-Systeme sowie der Systeme zur Klassifizierung der Körper und der altersbezogenen Kleiderwahl nachgegangen. Nach der Logik des Normalsystems stand die Taille in relationalem Bezug zur Brust, indem der Taillenumfang geringer zu sein hatte, als der Brustumfang. Das galt auch für Taillen, die heutigen 2 | Die Bezeichnung »Normalsystem« wurde von Kerstin Kraft übernommen. Kraft 2001, 76.
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Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
Erwartungen nach gar nicht übermäßig schmal waren. Insofern geht beispielweise die Frage, ob oder wie häufig männliche Taillen im Biedermeier nun tatsächlich extrem kleine Umfänge hatten oder dies lediglich die Modekupfer behaupten, am zeitgenössischen Verständnis des 19. Jahrhunderts vorbei. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass der Grad der Differenz oder Übereinstimmung der Proportionen von »Normal«- und Individualkörper darüber entschied, in welchem Grad sich die modebedingte Taillenkontur am Körper realisieren ließ. Mehr als solche Fragen stehen in dieser Untersuchung die Zielsetzungen, Normen und Normenwechsel im Vordergrund, die Herrenschneider zu den beschriebenen Schnittmustern und deren Änderungen veranlasst haben. Bedeutsam in diesem Zusammenhang sind die Körper-Konzepte der Schneiderei und ihre Einflussnahme auf das Modegeschehen durch Systematisierung von Anzug-Genres und Schnittkonstruktion. Mit dem Gegenstand »Männertaille« wird die Vorstellung einer essentiellen »Weiblichkeit« der schmalen Taille und zugleich das mit dieser Vorstellung verbundene Stereotyp, eine schmale Männertaille sei effeminiert, in Frage gestellt. Es ist ein Ziel der Arbeit, anhand des beschriebenen Wandels der männlichen Taille darzustellen, dass die geschlechtliche Konnotation einer im Schnittmuster erzeugten Körperform aus modehistorischer Perspektive nicht konstant sein muss. Daraus leite ich die Frage ab, welche Bezüge zwischen dem Wandel der männlichen Taillenkontur und dem der Normen und Vorstellungen »männlicher« Proportionen in der Herrenschneiderei bestanden, wie also das Schnittmuster der schmalen Taille im Prozess der Begradigung des männlichen Modekörpers verweiblichte und sich der männliche Modekörper mit einer geraden, körperfernen Passform als Leitmotiv der modernen Modeentwicklung (bis hin zur Casual-Kleidung der Gegenwart) verband.
1.1.1 Die Taille ist nicht die schmalste Stelle des Körpers Die vestimentäre Taille ergibt sich aus ihrer Konstruktion im Schnittmuster. Ihre Proportionen entstehen an der Schnittstelle von Mode und Schnittkonstruktion. Die Praktik des Maßnehmens auf Kleidung zeigt das in der Schneiderei des 18. und 19. Jahrhunderts vorherrschende Verständnis von »Körper« als bekleidetem Körper. Leitmotiv ist das Konzept eines fiktiven »Normalkörpers«, dessen Proportionen mittleren Körpern der Soldatenregimenter oder kanonischen Proportionsmodellen der akademischen Kunst entsprachen. Dazu gehörte, die individuelle Anatomie von der fiktiven »normalen« Proportion des bekleideten Körpers zu trennen. So wurde beim Maßnehmen für ein Justaucorps3 des 18. Jahrhunderts das Maß der 3 | Der Justaucorps (wörtlich »nah-am-Körper«) entspricht einer knielangen, im Rumpfbereich anliegenden Schoßjacke. Mit Weste und Kniehose getragen, war der dreiteilige Justaucorps-Anzug die absolutistische Hofuniform des 17. und 18. Jahrhunderts.
Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
Bild 2 ∙ Maßlinien am bekleideten Körper, nach Klemm 1858
»Körpermitte« (»grosseur du milieu du corps«) von dem des Umfangs der tiefen Taille des Kleidungsstücks (»grosseur du bas«) unterschieden. Mit der Idee des »Normalkörpers« verbunden war das Ziel, die im Vergleich defizitären Formen individueller Körper durch Angleichung an die »normalen« Proportionen zu »verbessern«. Im 19. Jahrhundert begann mit der Bezifferung aller Maße zur Schnitterstellung zugleich deren mathematische Berechnung. Dazu gehörten die Verhältnismaße zur Bestimmung von Proportionsverhältnissen, sodass die Proportionen des männlichen Modekörpers nun ein Resultat mathematischer Formeln waren. Verhältnismaße, so das »Avancement«-Maß (Bild 2, Punkte E–H) zur Bestimmung der Haltung und insbesondere die »Weichenbreite« (Bild 2, Punkte A–B) zur Ermittlung der Tailleneinbiegung, wurden entweder einer Maßtabelle entnommen oder auf dem bekleideten Körper – also anhand eines bereits vorhandenen Schnittmusters – gemessen und anschließend mittels Berechnung den »normalen« Proportionen angeglichen. Diese Praktik zeigt, dass die Taille als Bereich wechselnder Verhältnisse von Gürtellinie, Taillennaht und Einbiegung der Taille nicht von vorneherein mit der anatomisch schmalsten Stelle des physischen Körpers gleichsetzbar ist. Ihre Kontur und Proportion wurde von den Herrenschneidern nach der jeweils aktuellen Mode bestimmt. 1858 beispielsweise lag die Taille knapp oberhalb der Hüfte und wurde dort durch einen Gürtel markiert.
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Die Herrenschneider des 19. Jahrhunderts berechneten »Mann« als Norm und setzten »Männlichkeit« in standardisierte Grundschnitte um. Das Normalsystem impliziert, dass Schnittmuster auch in der Maßschneiderei keineswegs nach individuellen Direktmaßen sondern nach berechneten Maßen erstellt wurden. Maßanfertigung bedeutete zwar Einzelzuschnitt, jedoch keineswegs eine Anpassung der Kleidung an die individuelle physische Körperform. Während die »Verbesserung« des Körpers im 18. Jahrhundert noch ausschließlich auf Garnituren und Wattierung beruhte, wurde der Zuschnitt im 19. Jahrhundert mathematisiert. Im Übergang von der schmalen zur begradigten Taille wurden Praktiken der Körper-Korrektur – so die Modellierung von Rundungen durch gebogene Nähte und Wattierung – schrittweise durch Lösung des Schnittmusters von der Anatomie des Rumpfes verdrängt und »Männlichkeit« mehr und mehr mit einer eckig-geraden Kontur verbunden.
1.2 Modekörper Konzeptionell basiert die vorliegende Untersuchung der männlichen Taille auf Gertrud Lehnerts Konzept Modekörper. Der Begriff setzt sich aus den zwei Komponenten Körper und Mode zusammen. Vereinfacht gesagt, bezeichnet Modekörper einen Körper, der durch Bekleidung hervorgebracht wird und sich mit der Mode wandelt. Gertrud Lehnert definiert den Modekörper als Amalgamierung von anatomischem Körper und Kleidung: »In der Amalgamierung von lebendem Körper und leblosem Kleid entsteht ein Drittes, das mehr ist als die Summe seiner Teile: […] die Modekörper, die uns tagtäglich umgeben, sei es in der Alltagswelt, sei es als Bilder in den unterschiedlichen Medien. Darüber hinaus speichert das kulturelle Gedächtnis Bilder von Modekörpern früherer Zeiten und bringt sie mit der gegenwärtigen Seherfahrung in Verbindung. So werden visuelle Wahrnehmung und Auffassungen von Identität und Geschlecht, von Schönheit und Hässlichkeit, Angemessenheit oder Abweichung in hohem Maße von der Kleidermode geprägt und ständig verändert.« (Lehnert 2013, 51) Der Modekörper ist mehr als eine textil modellierte Körperskulptur. Er wird zur Substanz von Identität, indem er kulturelle Normen auf das Subjekt überträgt. So erzwingt ein langes steifes Korsett eine höfisch konnotierte, aufrechte und kontrollierte Körperhaltung und verhindert spontane Bewegungen, wie beispielsweise bei Sport oder körperlicher Arbeit. Insofern ist der Modekörper mit spezifischen habituellen Mustern der Selbstpräsentation verbunden, die substantieller Teil der der sozialen Identität und deren kultureller Konstituierung sind. Nach Lehnert
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wird der Modekörper »vom Subjekt als der seine angesehen, er wird performativ naturalisiert zum eigenen Körper.« Lehnert betont, dass der Modekörper kein »Ausdruck einer vorgängigen Essenz (z. B. Identität oder Charakter)« sondern ein »performativer schöpferischer Vorgang (im weitesten Sinne)« sei, der »modelliert und im Prozess des Modellierens und Zeigens hervorbringt« (ebd., 58). »Körper und Kleid« sind durch »Fühlen, Sehen, Wahrnehmen und Handeln miteinander verbunden«, so Lehnert. Das Konzept Modekörper schließt alle Sinneseindrücke und Wahrnehmungsmöglichkeiten sowie die mit diesen verbundenen Zuschreibungen und Wertungen von Ästhetik, Gender und sozialer Zugehörigkeit der Subjekte in das Verständnis der Kleid-Körper-Beziehung mit ein (ebd., 51–52). Die Wahrnehmung des eigenen wie auch anderer Körper ist schon ein Vorgang wechselseitiger Konstituierung des Modekörpers. »Menschen und Kleider inszenieren einander wechselseitig und verändern sich dabei, und es entsteht dabei immer ein drittes, der Modekörper.« (Ebd., 13)
1.2.1 Weitere Konzepte Der vorliegenden Arbeit liegt explizit das von Gertrud Lehnert entwickelte Konzept Modekörper zugrunde. Eine anderslautende Auffassung des Begriffs entwickelt Doris Schmidt in ihrem systemtheoretischen Konzept von Mode. Mittels »Modekörper« als »symbiotischem Symbol wird der Körper in das Funktionssystem Mode eingebaut« (Schmidt 2007, 58). Er ermöglicht die Realisierung des Modewandels hinsichtlich »modisch relevanter Körperveränderungen bzw. -kreationen«, so beispielsweise durch Schönheitsoperationen. »Modekörper« ist bei Schmidt nicht unbedingt ein bekleideter Körper. Nach Schmidt basiert der Modekörper auf »tatsächlich realisierbaren physisch-organischen Prozessen« (ebd, 59–60). Den Körper modelliert durch ein Korsett bezeichnet Schmidt als »In-Körper«. Das Korsett wiederum habe »unmittelbare physisch-organische Auswirkungen, nämlich sowohl auf die inneren (z. B. Gebärmutter) als auch auf die äußeren (z. B. Brust) Organe« (ebd.). Dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Konzept des durch Bekleidung hervorgebrachten Modekörpers kommt Schmidts Begriff »In-Körper« demnach näher, als ihre Definition des »Modekörpers« (Schmidt 2007, 58–60). Für Praktiken der Kompression und Verformung des Körpers wie beispielsweise durch Schnürung sowie der dauerhaften Verzierung der Haut durch Tätowierung oder Piercing verwendet David Kunzle den Begriff »body-sculpture« (Kunzle 1982, 3). In »The Fashioned Body« resümiert Joan Entwistle: »The dressed body is a product of culture, the outcome of social forces pressing upon the body.« (Entwistle 2000, 20) Nach Entwistle bedingt die soziale Konstituierung des Körpers durch Kleidung die Untrennbarkeit von Kleidung und Körper als Basis jeder Theorie zu Kleidung und Mode (ebd., 11).
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1.2.2 Der Modekörper als Raumkörper »Das Kleid ist ohne den dreidimensionalen Körper (und idealiter seine Bewegungen) keine Mode. Der Körper wiederum schafft sich durch das Kleid und im Kleid spezifische Räume: Spielräume und Handlungsräume. Das Kleid inszeniert sich als Körper, und es wird vom Körper inszeniert als räumliche, ephemere und vor allem körperkonstitutive Erscheinung.« (Lehnert 2013, 56–57) Nach Lehnert ist Mode »eines der bedeutendsten Mittel dafür […], wie Menschen sich selbst als Raumkörper konstituieren und sich als Körper im umgebenden Raum situieren« (Lehnert 2001, 529). Entsprechend impliziert das Konzept Modekörper die Untrennbarkeit von Körper, Kleidung, Mode und Raum. Der Modekörper kann dem anatomisch gegebenen Körperbau folgen, so der anthropomorph gestaltete Pullover »im Sinne von, der Mensch hat zwei Arme, ebenso muss der Pullover zwei Ärmel haben«. Bekleidung wie beispielsweise der Reifrock kann sich aber auch von der Körperform lösen und eigenen »Gestaltungsgesetzen« folgen, so Loschek (Loschek 2007, 19). Kompressionen des Körpers wie auch seine räumlichen Erweiterungen beispielsweise durch hohe Kopfbedeckungen oder raumgreifende Unterbauten könnte man mit Blick auf die Stilgeschichte als »neue architektonische Linie über der Linie des Körpers« (Gregor 1925, 13) und mithin als eine spezifische räumliche Disposition des Modekörpers verstehen. Der Modekörper als Raumkörper mit Aus- und Einbuchtungen der textilen Körperoberfläche, welche Bewegungs- und Handlungsspielräume des bekleide ten Körpers bestimmen, basiert auf der Aneignung des Modekörpers als eigenen Körper. Die Modekleidung erweitert oder verengt, polstert oder schnürt den Körper, sie modelliert ihn zu einem »fiktionalen prothetischen Modekörper« (Lehnert 2001, 530). Gertrud Lehnert verweist auf die Prägung der epochenspezifischen Wahrnehmung nackter Körper »durch fiktionale Körper, die sich an der Anatomie oft nur lose und nicht selten ironisch« orientiert. Solche modischen Körper korrespondieren mit der bildlichen Darstellung der Epoche: Lanciert die Damenmode eine flachgedrückte Brust oder ausladende Röcke, »werden auch nackte weibliche Körper mit winzigen Brüsten gemalt [...] haben plötzlich alle Frauen auf Gemälden, Fotos oder als Statuen enorm breite Hüften und Hinterteile« (ebd.).
1.2.3 »Disziplinierung der Körper im Prozess der Zivilisation«4 Disziplinierung bezeichnet die Funktion von Kleidung, Körpern Mode- und Gendernormen einzuprägen. Gertrud Lehnert betont, dass Mode jedoch auch Möglichkeiten bietet, Normen zu unterlaufen und Modekörper, Geschlecht und Identität »ungeachtet der Normativität« zu kreieren (Lehnert 2013, 52). 4 | Lehnert 2013, 52.
Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
»[Es] sind es die Formen der Kleidung, die Körper zu bestimmten Bewegungen nötigen oder andere verbieten, die befreien oder einengen, schützen oder exponieren. Diese Thematik hängt zusammen mit der Disziplinierung der Körper, die Norbert Elias im Prozess der Zivilisation als untrennbar mit der psychischen Zivilisierung beschrieben hat. Im Zusammenhang mit dem Korsett oder auch mit Schuhen ist exemplarisch darüber gearbeitet worden, denn das sind die spektakulärsten Fälle einer Veränderung der Körperformen und der Schaffung von Haltungen durch den Ausschluss anderer Haltungen und Bewegungsformen.« (Ebd.)
1.2.4 Modekörper und Gender »Visuelle Wahrnehmung und Auffassungen von Identität und Geschlecht« werden durch Mode »geprägt und verändert«, so Gertrud Lehnert (Lehnert 2013, 51). Demnach ist der Modekörper »in der Regel ein Geschlechterkörper« (ebd., 37). Er entsteht durch Kleidung »worn as a part of the body«,5 die dem Körper herrschende Gendernormen oktroyiert oder ihn aus diesen löst. In der aktuellen Genderforschung gilt Geschlecht als performativ hervorgebracht und daher als »instabil«. Das bedeutet, »dass Identität […] ein Prozess der Realisierung [ist], der nie zum Abschluss kommt.« Der Modekörper ist ein wesentliches Medium des performativen Gendering (vgl. Lehnert 2013, 37ff).
1.3 Stationen der Entwicklung der männlichen Taille Die Entwicklung der Männermode vom 17. Jahrhundert bis zur Moderne kennzeichnet eine paradigmatische Änderung des Zusammenwirkens der Kleidungsstücke: die Lösung des Oberteils von der Hose. Während im 16. und frühen 17. Jahrhundert die spanische Kombination aus Wams und Hose auf dem Ansatz des Hosenbunds an der Wams-Unterkante in der Körpermitte basierte (Bild 7, Figuren 1550 und 1630) brachte die Männermode mit dem Wandel vom Wams zur Jacke ein neues Prinzip hervor: Oberteil und Hose waren nun nicht mehr aneinander befestigt. So konnte sich die Passform der Jacke in der Körpermitte erweitern und die horizontale Trennung von Rumpf und Schoßteil entfallen. Nun gingen Rumpfteile nahtlos in die Schoßteile über, Vorder- und Rückenteile wurden in vertikal verlaufenden Seitennähten aneinandergesetzt. Auf diese Weise entstanden Jacken, deren lange, ausgestellte Schöße die Oberschenkel bedeckten. Es kam zu einer Überlappung von Oberteil und Hose, die Anne Hollander als Grundprinzip des »modernen« Anzugs beschrieben hat (Hollander 1995, 19). Dieses Jacke-Hose-Schema sollte den weiteren Verlauf der Männermode bestimmen. Durch die Loslösung der Hose vom 5 | Vgl. Geczy und Karaminas 2013, 6.
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Oberteil ergab sich die Zusammenstellung des Anzugs allerdings nicht mehr von selbst, sie verlangte nach gesonderten Regelungen. Um 1670 etablierte sich mit dem Justaucorps-Anzug (Bild 7, Figur 1700) der erste dreiteilige Anzug, dessen Zusammenstellung aus Jacke, Hose und Weste sich nicht mehr grundlegend änderte und den weiteren Verlauf der Männermode bis hin zu den Sakkoanzügen bestimmte. Entsprechend gilt die Invention des dreiteiligen Anzugs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beginn der Entwicklung zum modernen Anzug und die Männermode der letzten dreihundertfünfzig Jahre als Folge von Variationen eines konstanten Grundprinzips. Das Schnittmuster des Justaucorps, der langen Schoßjacke des 17. und 18. Jahrhunderts, ging aus den Lederwämsern der Soldaten des dreißigjährigen Krieges hervor, die wegen der Steifigkeit des Büffelleders lose geschnitten wurden. Nach dem Vorbild der schnittlosen Kaftan-Kleidung osteuropäischer Reiterregimenter, die am dreißigjährigen Krieg teilnahmen, verloren die »buff coats«
Bild 3 • Justaucorps: A Vorderteil, BB Tascheneingriff, E Patte, B Rücken, C & D Ärmel
Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
Bild 4 • Hohlkreuz beim Frac à la française 1787
ihre Taillendurchtrennung. So entstand ein Schnittmuster mit anliegender Passform im Rumpfbereich und knielangen überlappenden Schößen, deren Form mit der Mode wechselte. Mittels einer vertikalen Naht in der hinteren Mitte wurden die Rückenteile miteinander verbunden. Die Vorderteile wurden durch Seitennähte an den Rücken angesetzt. Ein Einschnitt trennte Rumpfteil und Schoß in der hinteren Mitte. Die Länge der Rückenpartie hing mit der tiefen Taille als konstantem Merkmal des Justaucorps zusammen, die entlang einer nach vorn geneigten Linie knapp über den Hüften verlief, wo die sitzende Haltung im Sattel den Körper abknickte. Ab etwa den 1690er Jahren saßen die Taschen der vorderen Schöße auf Taillenhöhe und markierten sie. Die tiefe Taille stand in Verbindung mit einer Passform »just au corps« (»nah am Körper«) und schuf eine länglich schmale Kontur des zurückgebogenen Oberkörpers, die zudem durch den tiefen Ansatz der Schöße modelliert wurde. Ausgehend von den Eingriffen der Taschen sollte sich später ein Taillen-
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abnäher bilden. Auch in den 1780er und 1790er Jahren beim Übergang des späten Justaucorps zum Frack saß die Taille weiterhin nur wenig oberhalb der Hüften. Die schrittweise Passform-Verknappung des Justaucorps im 18. Jahrhundert ging von der Uniform aus und gilt als Effekt des in der Uniformschneiderei herrschenden Sparzwanges. Um 1720 wurden die etwa 20 Schnitt-Teile des Justaucorps auf 6 reduziert, um bei der Herstellung Zeit zu sparen. Durch Verschmälerung der Rückenteile wurden die Armlöcher und mit diesen die Schultern nach hinten gezogen, sodass sich die Brust vorwölbte und sich der Rücken konkav einbog. Indem man den konkaven Schwung der hinteren Mittelnaht mehr und mehr betonte, trat das Hohlkreuz immer deutlicher hervor. Die Abweichung der gebogenen Naht von einer vertikalen Geraden ist anhand der gestrichelten Linie (Bild 3, B) gut zu erkennen. Auch die Vorderteile wurden schmaler geschnitten, sodass sich bei der einreihigen Jacke, die man im Gegensatz zu Zweireihern offen trug, die gewölbte Vorderfront der Weste zwischen deren Vorderkanten schob. Die Biegung des Rückens wurde durch die nach hinten ausschweifenden Schöße fortgeführt (Bild 4). In den 1770er und 1780er Jahren wandelte sich der Justaucorps zum Frack, indem die Jacke einen Kragen erhielt und die vorderen Schöße mehr und mehr weggeschnitten wurden. Das Schnittmuster des Justaucorps-Rückens ging unverändert auf den Frack über und blieb bei Frack und Gehrock im 19. und 20. Jahrhundert weiterhin erhalten (Bild 1, Figur rechts).Im Vergleich mit dem höfischen »frac à la française« mit bestickten und Strass-besetzten Oberflächen wirkte der englische Tuchfrack des späten 18. Jahrhunderts nackt. Da Dekorationen fehlten, die von ihnen ablenken könnten, begann man, sich an den zahlreichen Zugfalten zu stören. Die Herrenschneiderei suchte nun vermehrt nach Wegen, Falten zu vermeiden. Glatte Oberflächen wurden zu einem Qualitätsmerkmal (Waugh 1977 (1964) 112–13) (Byrde 1979, 86) (Hollander 1995, 15). Wurde der Zweireiher (Redingote) geschlossen getragen, ergaben sich bei knappem Sitz Zugfalten vor allem am untersten Schließknopf. Daher schnitt man um 1786 erstmals an dieser Stelle Ecken aus, die bald größer wurden und so den gesamten Taillenbereich des vorderen Schoßes aussparten, sodass der Unterkörper unbedeckt war (Bild 7, Figur 1786). Mit diesem Frack »coupé devant« war der erste Schritt zu einer horizontalen Querteilung der Vorderteile getan. Ab den 1790er Jahren war die weibliche Taille, die identisch ist mit der Qerteilung von Oberteil und Rock, deutlich erhöht. Die Taille des männlichen Frackes dagegen verlief weiterhin knapp oberhalb der Hüften entlang einer Linie, die durch Tascheneingriffe markiert ist. Vermutlich um Zugfalten zu vermeiden, vergrößerte sich der eckige Schoß-Ausschnitt. So entstand vorn eine waagrechte Kante knapp unterhalb der Brust, welche den Oberkörper optisch verkürzte aber nicht mit einer tatsächlichen Erhöhung der Taille zu verwechseln ist (Bild 5). Diese Vergrößerung des Ausschnitts zeigt, dass das Schnittmuster des Fracks eine seitliche Einbiegung im Taillenbereich noch nicht vorsah. Ob die erhöhte Frauentaille und der verkürzte männliche Oberkörper in Bezug zu einander standen, ließ sich anhand der zeitge-
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Bild 5 • Frackvorderteil um 1790
Bild 6 • Frackvorderteil mit Taillenabnäher 1825
nössischen Quellen allerdings nicht klären. In der Folge bildete sich bei Frack und Gehrock ein Taillenabnäher, der aus dem Tascheneingriff nach vorn verlängert ist. Schoß-Ausschnitt und Taille liegen fast auf einer Linie (Bild 6). Wie zuvor der eckige Schoß-Ausschnitt sollte er die Falten im Taillenbereich mindern. Waugh datiert den Abnäher auf 1818, als die Taillenlinie modisch bedingt sank (Waugh 1977 (1964), 112– 13). Den Hinweis auf den Taillenabnäher verdanke ich der Kostümbildnerin Dagmar Niefind-Marelli. Nach eigener Aussage begann der schottische Schneider Joseph Couts bereits 1812 aus dem horizontalen Taillenabnäher eine durchgehende Naht zu formen. Unbeirrt vom Spott der Kollegen habe er um diese Zeit erstmalig die Vorderteile eines »coats« entlang der Taille durchtrennt, um Faltenbildungen an den Körperseiten zu vermeiden.6 Der Zweck der Naht war demnach die Glättung der Stoffoberfläche. Ihren Beginn datiert Couts etwa auf das Jahr 1818. Bis 1820 verlor 6 | »The first attempt I made to remedy creasing in the sides of a coat by cutting it across the waist was in 1812. But though this is now the generally adopted method for remedying this defect, so little was it then understood that in my first attempt I destroyed the skirt upon which I was making experiments, and I am not aware that up to that time this method had been tried by any other person.« Ob Couts, der neben der Einführung der Taillennaht auch die des Bandmaßes, des Schnittmusterrädchens sowie der »stamped patterns« (Papier-Fertigmuster in allen Größen um 1818 eingeführt) für sich reklamiert, diese Leistungen berechtigterweise für sich in Anspruch nahm und inwieweit er über vergleichbare Innovationen in Paris informiert war, konnte hier nicht geklärt werden. Couts 1848, 5–7.
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die optische Verkürzung des Oberteils in der Männermode ihre Bedeutung. Der Abstich der vorderen Schöße des Frackes befand sich nun wieder auf einer Höhe mit der Taillenlinie. Ende der 1810er Jahre saß die Taille etwa in der Rumpfmitte. Die Rückenteile verschmälerten sich derart, dass die zuvor seitlichen Taschenklappen in den Rücken verschoben wurden. Parallel verlängerte sich der Taillenabnäher zu einer durchgehenden Taillennaht. Damit waren die wesentlichen Voraussetzungen für die deutliche Taillierung erfüllt, die Frack, Cut7 und Gehrock bis in die Jahrhundertmitte kennzeichnen sollte. Nach den 1830er Jahren, dem Zenit der schmalen Taille, begann die Taillenlinie unter die anatomische Taille zu sinken, bis sie ihre für die 1840er und 1850er Jahre charakteristische tiefe Position erreicht hatte. Oberkörper und Brustwölbung verlängerten sich. So wirkt die Tailleneinbiegung Mitte des 19. Jahrhunderts weniger akzentuiert. Ende der 1850er wurde die Taille mäßig weit geschnitten, bis sich die Tailleneinbiegung in der weiten Passform der 1860er Jahre allmählich verlor. Mit Aufkommen des Sakkos in der Jahrhundertmitte etablierte sich ein neues Passform-Konzept. Mit dem gerade und weit geschnittenen Sackpaletot zeigte sich bereits in den 1830er Jahren ein Vorbote des Sakkos. Nun kam eine gerade und lose Passform in Mode, die bis dahin als Merkmal der Arbeitskleidung gegolten hatte.8 Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten Rockjacketts als Mischformen von Jackett und Gehrock auf. Indem sie Paletots lancierte, die durch eingebogene Seitennähte nur noch leicht tailliert waren, trug die Maßbranche insgesamt zur Reduktion der Tailleneinbiegung bei. Die 1860er Jahre kennzeichnet eine aufgeblähte Passform. Die Begradigung der männlichen Silhouette erfasste Frack, Gehrock und Rockjackett, deren Passform sich durch körperfernen Schnitt und eine legere Trageweise lockerte. Rücken wurden häufig ohne die vertikale Naht in der hinteren Mitte geschnitten und begradigten sich auf diese Weise. Paletots wandelten sich in Jacken, indem sie immer häufiger auf der Weste getragen wurden, also die Jacke ersetzten. Sie verkürzten sich und verloren an Weite. 1857 zeigte die Europäische Modenzeitung eine kaum gesäßbedeckende Jacke, die als »Sacko« bezeichnet wurde. In den 1860er Jahren verbreitete sich das Sakko als Tagesanzug. Durch Plaques war eine faltenfreie Oberfläche auch ohne Taillennaht möglich. Die Taillennaht hatte ihre wesentliche Funktion, die Vermeidung von Falten verloren. 7 | Der im Deutschen üblichen Bezeichnung »Cutaway« entspricht der englische Begriff »morning coat«. »Morning« bezieht sich auf den morgendlichen Spazierritt, bei welchem dieser Anzug häufig getragen wurde. Die Form entspricht dem »frac à la française«, bei dem die Kanten der Vorderteile ohne eckigen Absatz in die rund weggeschnittenen vorderen Schöße übergehen. Ich vermute, dass seine »französische« Form der Grund war, weswegen Regency Dandys häufig im »morning coat« dargestellt wurden. 8 | »Der sackartige Schnitt war ja seit jeher – denken wir an den Bauernkittel des Mittelalters, die Carmagnole der Sansculotten – das typische Kennzeichen der Kleidung der arbeitenden Schichten.« Thiel 1960, 417.
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1550
1630
1700
1778
1786
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Bild 7 • Entwicklung der männlichen Taille 1550–1795
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1834
1843
1854
1839
1852
1856
Bild 8 • Entwicklung der männlichen Taille 1834–1856
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1859
1861
1872
1862
1878
1895
Bild 9 • Entwicklung der männlichen Taille 1859–1895
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Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
1.4 Thesen Die folgenden Thesen beziehen sich auf die wesentlichsten Stationen der Ent wicklung der Taillenkontur, sowie auf die faltenfreie Oberfläche als oberstem Ziel der Herrenschneiderei und Motor dieser Entwicklung. Sie war in der Sakkomode auch ohne Taillennaht gegeben, was die Naht in dieser Funktion überflüssig werden ließ.
1.4.1 Die Taille – Konstruktion von Männlichkeit im Schnittmuster Als Mitte des männlichen Modekörpers ist die Taille eine sich kontinuierlich wandelnde Praktik der Konstituierung von Männlichkeit. Ihre ästhetische Bestimmung als schmal oder breit, eingebogen oder gerade ergibt sich aus ihren proportionalen Relationen zu Brust und Hüften. Sie wird durch die Herrenschnei derei konstruiert, indem zur Schnitterstellung keine Individualmaße, sondern im 18. Jahrhundert die Maße der Bekleidung und im 19. Jahrhundert berechnete Maße verwendet wurden. Die Männertaille ist eine zeit- und modebedingte Praktik, deren Wandel dem Wechsel der geschlechtlichen Konnotationen der Körperkonturen sowie dem Übergang des »Körper«-Begriffs von einem zunächst grundsätzlich als bekleidet verstandenen zu einem muskulär geformten, unbekleideten Körper entspricht.
1.4.2 Die Einbiegung des Rückens im 18. Jahrhundert als Vorform der schmalen männlichen Taille Die These bezieht sich auf die kausale Bedeutung des Rückenschnitts für die assform. Verstanden als anliegende Passform, die eine Einbiegung des Körpers P modelliert, verstehe ich den Hohlkreuz-Rücken des 18. Jahrhunderts als Vorform der Taillierung der 1820er bis 1850er Jahre. Entsprechend ging die spätere Begradigung der Taille den Modeberichten zufolge vom Abflachen des Rückens aus. Am Übergang vom Justaucorps zum Frack ist die männliche Silhouette durch ein Hohlkreuz bestimmt, das man in der Diktion der Schneider des 19. Jahrhunderts als eine dem Militär zugeordnete, von der »normal geraden« abweichende »extrem aufrechte« Haltung bezeichnen kann. Den Ursprung dieser »männlichen« Hohlkreuz-Haltung vermute ich in der aufgerichteten höfisch-militärischen Reithaltung beim Paradieren oder beim eleganten Spazierenreiten. Das Schnittmuster des Hohlkreuz-Rückens ging auf den Frackrücken über. Aus der Einbiegung der Rückenpartie, die auf Höhe der vertieften Taillenlinie dem Körper glatt anlag, entwickelte sich die schmale Taille des 19. Jahrhunderts, indem sich die Einbiegung durch Taillenabnäher und schließlich Taillennaht um die Körperseiten nach vorne fortsetzte.
Paradigmen und Wandel des männlichen Modekörpers
Bild 10 • Abweichungen vom »Normalkörper«, nach Klemm 1858
1.4.3 Die schmale Taille der Männermode konstituiert »normale« Männlichkeit Kleidung ist keine passgenaue Hülle individueller Körper sondern bestimmt von im Schnitt verankerten zeitspezifischen Normen der Mode. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich mit dem Normalsystem der mathematischen Schnittkonstruktion die Idee eines fiktiven männlichen »Normalkörpers« nach den Maßen antiker Apollon-Statuen. Deren halber Brustumfang addiert mit 2 cm Stoff und Watte ergab 48 cm des »normalen« halben Brustumfangs als Basismaß des »Normalkörpers«. Der »normale« halbe Taillenumfang betrug 40 cm, war also 8 cm geringer. Der ganze Taillenumfang betrug demnach »normale« 16 cm weniger als der Gesamtumfang der Brust. Diese sichtbare Differenz von »breiter« Brust und schmaler Taille war das zentrale Merkmal der »normalen« Corsage, des Rumpfes der taillierten Fräcke und Gehröcke, die diesem Teil des Kleidungsstücks die Bedeutung »Körper« (»corps«) zuweist. Aufgrund ihrer zentralen Funktion bei der Modellierung der Brust-Taille-Differenz war die schmale Taille ein konstituierendes Element der »normalen« Männlichkeit, so meine These.
1.4.4 Körper-Korrektur — Watte als Muskeln und Stoffoberfläche als Haut Mit Bezug auf Gertrud Lehnerts Theorie des grotesken Modekörpers9 als Verschmelzung von lebendiger und »toter« textiler Körper-Substanz verstehe ich den buchstäblich textil modellierten Körper mit »Muskeln« aus Watte und einer »Haut« aus Stoff als Praktik der Körper-Korrektur, der »Verbesserung« des Körpers 9 | Vgl. die Ausführungen zum »grotesken Körper« in Abschnitt 2.3.
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Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
durch Bekleidung. Dazu gehört die Glättung des Tuches als Körperoberfläche, also die Vermeidung von Falten durch die Taillennaht als weiterem Daseinsgrund der schmalen Taille. Zugleich stellt die »taille plate«,10 die glattgespannte, eingebogene Taillenpartie die männlich konnotierte Exaktheit eines mathematisch erstellten Schnittmusters demonstrativ aus. Ihr entspricht die »poitrine plate«, die wattierte »breite« Brust mit glattgespannter Stoffoberfläche. Als Maßnahme zur Vermeidung von Zugfalten ging die durchgehende Taillennaht aus einem seitlichen Taillenabnäher hervor, dem der eckige Schoßausschnitt des Frackes voranging. Die Naht war die Voraussetzung der folgenden engen Taillierung, die insofern mit der Faltenvermeidung in einem kausalen Zusammenhang steht. In Kombination mit einer schmalen Taille diente die Wattierung von Brust und Rücken der Korrektur des Oberkörpers nach »normalen« Proportionen. Unter der glattgespannten Tuchoberfläche verborgen, sollte die Watte glaubhaft mit der Körpersubstanz zu einem anscheinend »natürlichen« männlichen Körperbau verschmelzen. Die textile Körper-Korrektur war demnach an eine glatte Stoffoberfläche gebunden. Der »Männlichkeit« faltenloser Oberflächen standen die kunstvoll drapierten »weiblichen« Falten gegenüber, die in der Frauenmode des 19. Jahrhunderts den weiblichen Körper überzogen.
1.4.5 »Unconspicuous waist« Im Unterschied zur Frauenmode, sollten Hilfsmittel zur Modellierung der schmalen Taille wie Korsettgürtel und Wattierungen in der Männermode von außen nicht erkennbar sein. »Männlich« ist ein bekleideter Körper, wenn seine Form als »natürlich« verstanden wird. Folglich wurde der Gebrauch von »zuviel« Watte heftig kritisiert und das Schnüren der männlichen Taille kaum erwähnt, während das Frauenkorsett ausführlich diskutiert wurde. Zur Bezeichnung der demonstrativ geschnürten Taille verwendet David Kunzle den Begriff »conspicuous waist« (Kunzle 1982, 115). Diesen Begriff aufgreifend, unterscheide ich die sichtbar geschnürte, weiblich konnotierte Korsett-Taille, die Thorstein Veblen als Zeichen des demonstrativen Müßiggangs bezeichnete (Veblen 2007 (1899), 178), von der diskreten »männlichen« Taillenmodellierung als Element der vestimentären Körper-Korrektur.
1.4.6 Begradigung der Taille In dem Maße, in dem Männlichkeit an eine gerade Kontur gebunden wurde, »verweiblichten« Biegungen und Rundungen des Körpers wie schmale Taille und wattierte Brust, so die These. Die Begradigung der männlichen Körperkontur durch das Sakko, die auch die Taillen von Frack und Gehrock abflachte, verstehe ich als 10 | Begriff aus: ÉjdT 20. 9. 1837, J 3, N 24, 190.
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Loslösung des Schnittmusters vom physischen Körper und mithin als Paradigmenwechsel des Modekörpers. Durch Begradigung der Nähte, Lockerung der Passform und Vereinfachung der Innenverarbeitung waren Sackpaletot und Sakko komfortabler für den Alltag berufstätiger und sportbegeisterter bürgerlicher Männer, als der eng taillierte Frack oder Gehrock: »Und wahrscheinlich dieser Commodität wegen werden [die Sackpaletots] von den Herren so gerne getragen«, so 1839 das Pariser Modenjournal (PJM 22. 12. 1839, N 51, 400). Die begradigte Form selbst verwies auf Tätig-Sein, Pragmatismus und Rationalität moderner Männlichkeit. Die Idee des »Normalkörpers« ging auf den unbekleideten Körper über. Entsprechend wandelten sich die Praktiken des Maßnehmens: Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf dem Hemd und im 20. Jahrhundert schließlich auf der Unterwäsche gemessen. Im körperfernen Schnittmuster des männlichen Sakkos sehe ich daher den Ausgangspunkt einer Fokus-Verschiebung der Mode von der textilen zur muskulären Korrektur des Körpers. So rückte im 20. Jahrhundert der durch Sport und Diät modellierte unbekleidete Körper in den Fokus der Mode.
1.4.7 Beeinflussung des Modegeschehens durch die Schneider Die Herrenschneider bestimmten Modewechsel, berechneten, klassifizierten und formten die Körper und waren auf diese Weise aktiv an den Paradigmenwechseln der »Männlichkeit« beteiligt, so die These. Nach dem Ende der Kleidergesetze wurde die Männermode durch ein System der Anzug-Genres sowie durch jahreszeitlich wechselnde Mode-Saisons neu strukturiert. Die verbesserte Überschaubarkeit des Modegeschehens und seine diskursive Lenkung durch Veröffentlichung von Modeberichten und -bildern in eigenen Fachmagazinen, ermöglichte der Maßschneiderei in Grenzen eine Handhabung der Modewechsel. Mit Genre-System und Saisonalität versuchten die Branchen der Kleidungsindustrie, aktiv in das Modegeschehen einzugreifen und es im Sinne eigener Interessenslagen zu beeinflussen. Das Genre, das Genus eines Anzugs, ordnet der Anzug-Form passende Altersklassen mit zugehörigen Körperformen und Brustumfängen zu. Keilform und schmale Taille gehörten zum schlanken Genre, das an eine jugendliche Körperform gebunden war.11 Dieses Genre stand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zentrum der Mode. Insofern galt die schmale Männer-Taille als hochmodische Form, auch wenn oder gerade weil ältere und breitere Körper aus dieser Mode ausgeschlossen waren. Nach meiner Überzeugung steht der Wechsel von der taillierten zur geraden Silhouette in der Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Wechsel der Mode vom jungen »genre élancé« zum mittelalten »genre ordinaire«, welches auch größere Brustumfänge und breite Körper einschloss. Mit der wachsenden Zahl der Büroangestell11 | Vgl. Abschnitt 4.4 zu Anzug-Genres.
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ten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückten im »genre ordinaire« deren Altersklassen und Körper-Konformationen ins Zentrum der Mode. Meine These ist, dass die mit der Modekonjunktur des mittelalten Genres verbundene Lockerung der Passform die Begradigung der männlichen Silhouette einleitete. Im System der Genres war es den Schneidern möglich, die Paradigmenwechsel in Gesellschaft und Männlichkeit zu erfassen und in die Entwicklung der Mode und der Schnittmuster einzubeziehen. Substantieller Teil des Genre-Systems waren die von Gremien und Fachmagazinen der Maßschneiderei lancierten Modeberichte. Dazu gehörten die Modebilder, welche die Genres und ihren Wandel visualisierten.
1.5 Forschung zu Kleidung und Mode Kleidungs- und Modeforschung sind interdisziplinäre Forschungsfelder (Ellwanger et al. 2010, 15) (Mentges 2010a, 17). Seit dem 19. Jahrhundert sind Kleidung12 und Mode13 Gegenstand der Kunstgeschichte, der Psychologie und seit den 1970er Jahren der Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie. Mode gilt als historisch und geografisch spezifisches System von Bekleidung, das an die sozialen und ökonomischen Strukturen westlicher Gesellschaften gebunden ist. Davon ist Kleidung als textile Hülle des Körpers mit einem impliziten ästhetischen Effekt (»adornment«) zu unterscheiden (Entwistle 2000, 53–55). Im Laufe der letzten zweihundert Jahre sind unterschiedlichste Begriffe von Kleidung- und Mode entwickelt worden, die nach Lioba Keller-Drescher durch die Kontexte ihrer Entstehungszeit geprägt sind: »Deshalb muss von einem jeweils aus dem Kontext festzustellenden Sinn zwischen historischem Gebrauch, wissenschaftlicher Abgrenzung und Alltagsbedeutung ausgegangen werden« (Keller-Drescher 2003, 11). Vieldiskutiert ist die Quellenfrage als zentrale methodische Kategorie. Einerseits greift Kleidungs- und Modeforschung auf den Wissensstand der Kostümgeschichte zurück (Loschek 2007, 19) (Mentges 2014, 16), andererseits wurde der Kostümgeschichte das Fehlen eines »wissen12 | Kleidung ist synonym für Tuch: »Das westgerm. Substantiv mhd kleit, mnd klet, niederl. kleed, engl. cloth ist [abgeleitet von] Klei ›fette zähe Tonerde‹[…]. Das Wort bedeutete früher – wie cloth [(Stoff), clothes (Kleidungstücke), clothing (Kleidung)] noch heute – ›Tuch‹, woraus sich die Bed. ›Kleidungsstück; Frauengewand‹ entwickelten. Da die Herstellung von Tuchen früher durch Walken unter Zusatz fetter Tonerde vor sich ging, ist das westgerm. Substantiv wohl seine Partizipialbildung mit der Bed. ›das mit Klei Gewalkte‹.« Duden, Das Herkunftswörterbuch, Dudenverlag 2001, 412. 13 | Der synonyme Gebrauch der Begriffe Mode und Kleidung ist eine moderne Verengung des Begriffs Mode, der ursprünglich allgemein die Art und Weise der inneren und äußeren Lebenshaltung bezeichnete. Bertelsmann Lexikon 1956, 1214. Mode ist abgeleitet von dem lateinischen Wort modus für »rechtes Maß, Art und Weise (des Lebens)« und wurde in Deutschland seit 1628 auf Kleidung angewendet »und zwar in der sprachlichen Form ›à la mode‹ und ›Alamode‹. Damit wurde eine stutzerhafte Übertreibung der französischen M. charakterisiert.« Vgl. Loschek 1987, 358–59.
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schaftlichen Apparats« und ein »unkritischer« Umgang mit dem Quellenmaterial (vgl. Kraft 2003, 77–79) attestiert. Lioba Keller-Drescher betont, dass überlieferte Texte und Abbildungen durch ihren »Einfluss auf die Wahrnehmung des Feldes selbst […] das Forschungsfeld der historischen Kleidung« (Keller-Drescher 2003, 35) überhaupt erst konstituieren: »Der Zugang zum Feld ist gleich zu Anfang [der individuellen Forschungsarbeit] auch eine Suche nach geeigneten Quellen und Methoden. […] Ging die kostümkundlich orientierte Forschung noch meist von einer gemischten Quellenlage aus erhaltenen Kleidungsstücken und medial vermittelten Überlieferungen aus, so ist die auf den historischen Alltag zielende Kleidungsforschung damit konfrontiert, dass sie der medialen Überlieferung mit Recht misstraut und die dinglichen Überbleibsel mit Alltag meist nichts zu tun haben. […] Die Tugend im Forschungsprozess besteht dann […] aus dem Finden eines solchen in einem Feld, das durch die Forschung selbst erst entworfen wird.« (Ebd., 21, 24) 2005 kritisierte der englische Anthropologe Daniel Miller den »Antagonismus« der Forschungsperspektiven: auf der einen Seite die Expert*innen (Kurator*innen, Restaurator*innen) für Textil und Technologie, auf der anderen Seite die multidisziplinären wissenschaftlichen Forschungen in Kulturwissenschaften, Ethnologie und Anthropologie (»cultural studies, sociology or social anthropology with training in semiotic and symbolic analysis«) und deren Interesse an dem, was Miller »the ›social life‹ of clothing« nennt. Miller zufolge ist gegenwärtige Kleidungsforschung der »material culture studies« bestrebt, diese Trennung zu überwinden (Küchler und Miller 2005, 1). Ähnlich kritisch argumentiert auch Kerstin Kraft: »So häufig Multidisziplinarität des Themas [Kleidung] benannt wird […], so selten wird sie umgesetzt.« (Kraft 2003, 79) Genderforschung und Konstruktivismus sowie Konzepte der Materiellen Kultur14 wurden seit den 1970er und 1980er Jahren in Kleidungsund Modeforschung wirksam. Indem der Konstruktivismus die »Abschaffung des psychokulturellen […] und sogar des biologischen Dualismus der Geschlechter« (Badinter 1993 (1992), 43–44) propagierte, veränderte er das modetheoretische Verständnis der Bezüge, von Körper, Geschlecht und Kleidung grundlegend. Konzepte von Kleidung als Medium der sozialen und geschlechtlichen Konstituierung des Körpers knüpfen zudem an französische Anthropologie und von Michel Foucault maßgeblich beeinflusste Diskurse zum Körper an (Entwistle 2000, 16–17). Im Folgenden wird eine Auswahl von Konzepten zu den Bezügen von Körper, Geschlecht und Kleidung sowie Forschungsansätze zu Männerkleidung und Kon14 | Die Materielle Kultur versteht »die in einer Gesellschaft verwendeten materiellen Dinge stets aus dem Kontext des Handelns heraus«. »Kultur und Materielles ist ohne einander nicht denkbar«. Hahn 2005, 7–9.
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zepte der Männergeschichte vorgestellt. Zunächst jedoch wird mit der Kostümgeschichte auf einen für die vorliegende Arbeit relevanten, älteren Zweig der Kleidungsforschung eingegangen.
1.5.1 Kostüm- und kunstgeschichtliche Kleidungsforschung Die »systematische Erforschung der Beziehung Körper, Geschlecht und Kleidung« unterscheidet die moderne Kleidungsforschung von der deskriptiven Kostümkunde15 (Mentges 2010c, 16). Die neuere Kleidungs- und Modegeschichte16 kennzeichnet die systematische Einbeziehung von »Kategorien wie soziale Hierarchie, Geschlecht, Alter, Milieu« (Mentges 2014, 17). Die Kuratorin Valerie Cumming setzt sich für die Einführung der New Dress History als »agreed method« der Kleidungsforschung ein (Cumming 2004). Unter New Dress History versteht Cumming eine objektbasierte Forschung, die kulturwissenschaftliche Methoden einbezieht. Die Methode werde bereits in Zeitschriften, Reihen17 und Einzelpublikationen von Kleidungshistoriker*innen18 wie auch in Ausstellungskonzepten und Katalogtexten europäischer und amerikanischer Modemuseen praktiziert, so Cumming. Als weltweit größte Kostümbibliothek ist die »Sammlung Modebild – Lipperheidesche Kostümbibliothek« ein Zentrum der kostümhistorischen Forschung (Rasche 1999). Als Fach in Design- und Kostümbild-Studiengängen wird das Gebiet heute auch als Kulturgeschichte der Kleidung, Modegeschichte oder Europäische Formengeschichte bezeichnet. In Kostümgeschichte steckt der Begriff Kostüm19, der im 17. Jahrhundert noch kaum von Mode unterschieden war. Seit dem 18. Jahrhundert wurde Kostüm synonym für Tracht im Sinne konstanter Kleidung gebraucht, daher die Bezeichnung Trachtenwerk für kostümhistorische Überblickswerke. Als Ursprung der Kostümgeschichte gelten die (ab 1560 auch gedruckten) Trachtenbücher des 16. Jahrhunderts, deren primärer Zweck die Information über Kleidung selbst sowie über Differenzen zeit- und ortsspezifischer Bekleidungsweisen war.20 Im nationalistischen Milieu der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert hatten Trachtenwerke Hochkonjunktur (Mentges 2014, 17). Wo keine authentischen Volksund Nationaltrachten zu finden waren, verstiegen sich die Reiseberichte eigens 15 | Publikationen des 20. Jahrhunderts u. a. Boucher 2004 (1966), Koch-Mertens 2000. 16 | U. a. Loschek 2001, Wolter 1991, Lehnert 2000, Bönsch 2001. 17 | Vgl. u. a. Fashion Theory sowie Textile: The Journal of Cloth & Culture sowie die Reihe Dress, Body, Culture. Oxford Berg. 18 | Nach Cumming u. a. die Beiträge des englischen Kulturwissenschaftlers und Modehistorikers Christopher Breward, Cumming 2004, 39, 45. 19 | Der Begriff Kostüm (franz./italien. costume), abgeleitet von lat. consuetudo für Gebrauch oder Gewohnheit bezeichnet »das Übliche« in Kleidung und Kleiderverhalten sowie seit den 1870er Jahren das Schneiderkostüm. Vgl. Loschek 1994, 319. 20 | Mehr zur Entwicklung der Kostümgeschichte vgl. Mayerhofer-Llanes 2006, 17ff.
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beauftragter Landeskundler zu »Erfindungen«. Auf diese Zusammenhänge hat Lioba Keller-Drescher in Die Ordnung der Kleider 2003 hingewiesen und eine begriffliche Differenzierung von Tracht und ländlicher Kleidung vorgeschlagen (Keller-Drescher 2003, 32ff). Beiträge zur systematischen Untersuchung historischer Originalschnittmuster als Teilgebiet der Kostümgeschichte leisteten Norah Waugh (Waugh 1994 (1968), Waugh 1977 (1964)) sowie Janet Arnold mit ihrer Reihe Patterns of Fashion (Arnold 1984 (1964), 1985, 1993 (1966), 2008). Stellvertretend für Beiträge zur kostümhistorischen Analyse von Inventaren sei hier zudem Arnolds Publikation Queen Elizabeth’s Wardrobe Unlock’d (Arnold 2014 (1988)) erwähnt. Besonders hervorheben möchte ich die Publikation Die Falte. Ein Konstitutivum menschlicher Kleidung?21, die mit der Analyse körpermodellierender Funktionen von Falten eine systematische Methode zur Erschließung der Kleidungs- und Modegeschichte aus der Materialität der Kleidung entwickelt. Meine Argumentation zu Gender-Konnotationen der Passform in dieser Arbeit basiert auf den Ausführungen zu den Sévigné-Falten der Frauenmode des Biedermeier in Die Falte. Die Kunstwissenschaft befasst sich mit der Darstellung von Kleidung und Mode in Bildern. Sie setzt Kostümgeschichte zu »Datierungszwecken und zur kulturhistorischen Kontextualisierung« ein (Mentges 2014, 16). Kunsthistoriker*innen verfassten wesentliche Kostümwerke, so die Geschichte des Kostüms der Kunsthistorikerin Erika Thiel (Thiel 1960). Während zuvor »außerhalb ästhetischer Kategorien angesiedelte Fragestellungen« weitgehend unbeachtet blieben, begann die kunsthistorische Kleidungsforschung seit den 1980er Jahren, die »komplexen soziokulturellen Bezüge« (Zander-Seidel 1988, 45–46) sowie Fragen der Authentizität oder Fiktion von Kleidung in bildlicher Darstellung vermehrt in ihre Beiträge einzubeziehen. So gilt die »transforming hand of the artist« (Ribeiro) als wesentliche kunstwissenschaftliche Forschungskategorie.22 Zur Deutung historischer Kleidung akzeptieren Kunsthistoriker*innen wie Aileen Ribeiro (u. a. Ribeiro 1983, 2005, 2017), Jane Ashelford (Ashelford 1983, 2000 (1996))23 oder Anne Hollander (Hollander 1993 (1975)) ausschließlich zeitgenössische Text- und Bildquellen. Das Kleidungsstück gilt als »reines Gebrauchsobjekt«, das »erst durch die künstlerische Vermittlung in Malerei und Literatur zu einem Aussagefähigen würde«, so Kerstin Kraft (Kraft 2003, 80). In Visions of Fabric (Hollander 2016 (2002)) zeichnet die Kunsthistorikerin Anne Hollander ein differenziertes Bild der Kontexte »gemalter Mode« (Lehnert) von Mittelalter bis Moderne. Durch ihre Visualisierung in Bildern werden zeitspezifische Konzepte von Kleidung und Mode verdeutlicht und kommuniziert (Hollander 2016 (2002)). 21 | Publikation der Hochschule für angewandte Kunst in Wien 1987. 22 | Vgl. Kraft 2003, 95, Fußnote 19. 23 | Ashelford und Ribeiro studierten »History of Dress and Textiles« am Londoner Courtauld Institute of Art, das auf der Verbindung von Kunst- und Kleidungsgeschichte gründet.
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1.5.2 »Normalkörper« – Zuschnitt-Systeme als Praktik der Verdatung und Normalisierung des Körpers Grundlagen der deutschsprachigen Arbeiten zur Entwicklung der Schnitt-Systeme und Konfektionsgrößen sind Erika Krauses Studie zur Altpreußischen Uniformfertigung als Vorstufe der Bekleidungsindustrie (Krause 1965) sowie Otto Niemanns Beitrag zur Entwicklung der Zuschnitt-Systeme (Niemann 1986). Auf beide bezieht sich u. a. Kerstin Kraft in Beiträgen zur historischen Entwicklung des Schneiderhandwerks und der Schnitt-Systeme (Kraft 1997, 2001). Relevant für die Geschichte der Männertaille sind Krafts Erkenntnisse zur Geschlechtertrennung im Zuschnitt und zu den Wechselbezügen von Schnittmustern, Körper- und Genderbildern (vgl. Kraft 2001, 85). Detailliert geht Kraft auf die Entwicklung der Maß- und Zuschnitt-Systeme in der modernen mathematischen Schnittkonstruktion des 19. Jahrhunderts ein, die sich in der seriellen Uniformschneiderei des 17. und 18. Jahrhunderts vorbereitete und in Konfektion und Maßkonfektion des 20. und 21. Jahrhunderts fortgeschrieben wurde. Kraft beschreibt die Vorgehensweisen in Proportionalsystemen und Corporismetrie. Mit dem Begriff »Normalsystem« (Kraft 2001, 76), der in dieser Arbeit übernommen wurde, bezeichnet Kraft die Berechnung von Maßen ausgehend von den Proportionen eines fiktiven »Normalkörpers« mit 48 cm »normalem« Brustumfang. In ihrer Dissertation Zeugende Zahlen (Döring 2011) hat Daniela Döring solche Praktiken der »Verdatung« und Abstrahierung des Körpers in der anthropometrischen Statistik des 19. Jahrhunderts sowie im Normalsystem der mathematischen Schnittkonstruktion und in Konfektionsgrößen-Systemen untersucht. »Normalsystem« und »Normalkörper« verweisen schon begrifflich auf interdisziplinäre Diskurse zu »Normalisierung« und »Normalität«, so auf Jürgen Links Standardwerk Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Link 2006). Links Definition von Normalität als »konstruierter Wirklichkeit« (ebd., 38) entspricht der Zuschnitt nach den Proportionen eines fiktiven »Normalkörpers«, der im konkretesten Sinn als ein Produzieren von »Normalität« zu verstehen ist. Wie Praktiken und Diskurse der Normalisierung überhaupt24, ist auch das Normalsystem ein explizit modernes Phänomen. Mit Verweis auf kleider.schnitte (Kraft 2001) erwähnt Link die »standardisierten Uniformgrößen« als Ursprung und »Voraussetzung industrieller Normung« in der Konfektion, »die mehr noch als andere Industrieprodukte den Körper im Wortsinne ›investiert‹ und daher entscheidend an der Bildung subjektiver Identität beteiligt ist« (Link 2006, 272). 24 | »Seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich ein explizit normalistischer Diskurs […] als eine Kombination aus spezialdiskursiven, mehr oder weniger operativen Dispositiven und kollektivsymbolischen, interdiskursiven Vorstellungen.« Link 2006, 53.
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1.5.3 Kulturanthropologie des Textilen und Modetheorie Im Vergleich mit Architektur, Skulptur oder Malerei wird dem Textilen als Forschungsfeld geringere Bedeutung beigemessen, so Leonie Wilckens 1997 (Wilckens 1997). Diese Geringschätzung führt Claude Fauque auf die Vergänglichkeit des textilen Materials und die »weibliche« Konnotation des Textilen zurück (Fauque 2011, 12). Inzwischen hat sich mit der Kulturanthropologie des Textilen ein umfangreiches interdisziplinäres Forschungsgebiet etabliert, dem sich u. a. ein gleichnamiger Studiengang der TU Dortmund widmet. Ein wesentlicher Forschungsgegenstand ist Kleidung als Medium der Konstituierung von Körper und Geschlecht (Nixdorff 1999) (Mentges u. a. 1989, 2014). Als »zweite Haut« ist Kleidung durch die dem »textilen Element« eigene, spezifische Bezogenheit auf den Körper gekennzeichnet (Mentges 2014, 21). »Kleidung ist historisch wie gegenwärtig eine diskursive Praxis, mit der Männlichkeit und Weiblichkeit erzeugt und in einer Dichotomie aufrechterhalten werden.« (Gaugele 2014, 305) Nach Ingrid Loschek liefert die Modetheorie die Deutungsinstrumente der Mode und ihrer Geschichte (Loschek 2007, 12). Eine »Modewissenschaft als klar umrissene Disziplin« existiert jedoch noch nicht (Lehnert 2013, 11). Modetheorie analysiert soziale und geschlechtliche Differenzierung in der Mode aus soziologischer, ökonomischer, philosophischer, semiologischer oder systemtheoretischer Perspektive. »Idealiter formieren sich alle diese Ansätze zu einem multidisziplinären Ansatz, denn als integrales Moment von Lifestyles im allgemeinsten Sinne können Mode-Kleider – die vestimentären Objekte – nur im gesamtkulturellen Kontext erfasst werden.« (Ebd.) Mode ist Teil »zeittypischer sozialer Muster« (Bertschik 2005, 4). Sie wird als ästhetisch aktuellste Kleidung (Entwistle 2000, 1), als System (Esposito 2004, 24–25) (Schmidt 2007, 46), Zeichen und Sprache (Barthes 1985 (1957), 13–28), als paradoxer Dualismus aus Imitation und Abgrenzung (Esposito 2004, 19–21, 29–33), sowie als soziokulturelle Praktik und performative Handlung (Entwistle 2000, 6–10) (Lehnert u. a. 2013) definiert. Der Beginn der Mode wird ins 12. Jahrhundert, dem Beginn des Gewandschnitts und des Schneiderhandwerks (Loschek 2007) oder ins 14. Jahrhundert (Kühnel 1992) (Schnierer 1995) als Epoche der Differenzierung von »männlicher« Hosen- und »weiblicher« Rocksilhouette datiert. Für Elena Esposito beginnt Mode im 16. und 17. Jahrhundert als Phase des Übergangs zur Moderne (Esposito 2004, 19–21, 29–33). Als Modebeginn gilt häufig auch das 18. Jahrhundert als Epoche der Verbürgerlichung und Individualisierung sowie als Ende der Kleidergesetze und Beginn des Industriezeitalters. Damit verbunden ist die Modernisierung des Modesystems, der Produktion und Verbreitung von Kleidung und Mode. Der Wechsel als zentrale Bedeutung von Mode (Kawamura 2005, 5) (Bieger, Reich und Rohr 2012, 9) ist ein
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Fokus der Modetheorie. Modewandel als »Codierung In/Out« markiert den »Übergang zur modernen Gesellschaft« (Schmidt 2007, 15). Mode im Sinne steter Wechsel ist an moderne individualistische Gesellschaften gebunden (Entwistle 2000, 44–45) (Lehnert 2006, 10) (Bieger, Reich und Rohr 2012, 9). Vielfach gilt Mode daher als ausschließlich modernes Phänomen (vgl. Mentges 2005, 21). Die Modetheorie der Gegenwart geht auf Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Als einer der ersten Modetheoretiker gilt der Philosoph Christian Garve (1742–1798), der mit seiner Theorie, Mode werde »in Prozessen der Nachahmung« konstituiert, »die Formulierung dieses zentralen Motors der Mode durch Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts« vorwegnahm (Lehnert, Kühl und Weise 2014, 13). Nach der Abschaffung der ständischen Kleidergesetze wurde Mode im 19. Jahrhundert als Chaos und willkürliche »Diktatur« wahrgenommen, welche die der bürgerlichen Gesellschaft »so teure Freiheit des Einzelnen« einschränkte (Mentges 2005, 22). Mit Haute Couture und Konfektion brachte das 19. Jahrhundert zudem neue Themenfelder der Modetheorie hervor (Lehnert, Kühl und Weise 2014, 13). Nach Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), der neben dem amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen (1857–1929) und dem deutschen Philosophen Georg Simmel (1858–1918) »als Begründer der Modetheorie« (Brändli 1998, 79) gilt, wird Mode durch schnelle Stilwechsel konstituiert und geht von der Großstadt aus. Wie schon Garve argumentierte auch Vischer im Sinne von Georg Simmels späterer »Formulierung des Dualismus von Differenzierung und Nachahmung« (Lehnert, Kühl und Weise 2014, 80). In der Ambivalenz westlicher Prestigenormen, die zwar Verschwendung verlangten, sie jedoch zugleich kritisierten, sah Thorstein Veblen 1899 die Ursache der permanenten Modewechsel (Veblen 2007 (1899)). 1905 veröffentlichte Georg Simmel unter dem Titel Philosophie der Mode drei grundlegende Essays zum Dualismus sozialer Anpassung und Abgrenzung durch den Trickle-down-Effekt: Aus dem Bedürfnis nach Distinktion lanciere die Oberschicht immer dann eine neue Mode, wenn die bislang gültigen Formen in die Unterschicht »durchgesickert« waren (Simmel 2013 (1905)). Elena Esposito sieht in dieser Dualität aus Abgrenzung und Nachahmung die grundlegende Paradoxie der Mode: Wenn »Übertreibung« der neuen Mode zur Norm wird, »büßt sie [die Mode] ihr Wesen ein« (Esposito 2004, 16). Mode ist an soziale und ökonomische Strukturen und Konjunkturen, an ein System von Vermarktung und Handel, an Rezeption und Verbreitung »ästheti scher Ideen« in Produktion und Konsum gebunden (Entwistle 2000, 47–48). Mode der Moderne kennzeichnet die Bezahlbarkeit modisch aktueller Kleidung, ihre Verbreitung in allen Schichten und die Angleichung der Erscheinungsbilder durch serielle Massenproduktion (vgl. Kosak, Kuntzsch und Laatz-Krumnow 1986). In Beiträgen zum Modekonsum wird vielfach auf Veblens 1899 erschienene Theory of the Leisure Class und seinen Begriff des demonstrativen Konsums (»conspiciuous consumption«) verwiesen. Veblen unterscheidet die demonstrative Verschwendung durch teure Kleidung, den demonstrativen Müßiggang durch unbequeme
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Kleidung und die Distinktion durch modische Kleidung (Veblen 2007(1899)). Von Veblens Begriff der »conspicuous consumption« leiten David Kunzle und andere den Begriff der demonstrativ modellierten Taille (»conspicuous waist«) ab, auf den ich mich in meiner These zur unauffälligen männlichen Modellierung der Taille beziehe. 1902 widmete sich Werner Sombart (1863–1941) in Wirtschaft und Mode dem »Massenbedarf«. Er differenzierte die Vereinheitlichung des Geschmacks durch ein begrenztes Produktangebot in der »Fabrikation« von der »spontanen Umformung des Bedarfs aus den Kreisen der Consumenten heraus« (Sombart 1902, 1).25 Dieser Vereinheitlichung des Geschmacks entspricht die Uniformisierung der Erscheinungsbilder durch das von standardisiertem Zuschnitt und simplifizierten Schnittmustern geprägte Angebot an Konfektionskleidung. »Umformung des Bedarfs« der Konsumenten zeigt sich in der regen Nachfrage nach Sackpaletots, welche zur schrittweisen Durchsetzung der geraden Passformen in der Männermode ab den 1830er Jahren maßgeblich beitrug. Auch im Passagenwerk Walter Benjamins (1892-1940) ist mit den Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts ein Ort des Konsums Ausgangspunkt der Betrachtung von Mode (Benjamin 1991 (1927–1940)). Seit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Streetstyles der Jugendkulturen zur wesentlichen Folie der Mode und der Konsum zum Ausdruck der Identität avancierte (Klein 2015 (Deutsche Erstausgabe 2001)), wurden die der Kleidung inhärenten »unsichtbaren Elemente« durch die ihr im Modekonsum zugeschriebene »Werte« bestimmt (Kawamura 2005, 4–5). In seiner »modernen Erweiterung« erschließt das Forschungsgebiet Modekonsumption diese »neuen Handlungsfelder des Kleiderverhaltens« (Mentges 2014, 20), so die Bedeutungsproduktion in der Markenkultur durch Masscustomization und Prosuming (vgl. Jenß 2005) und das Sampeln von Stilen und Looks (vgl. Gaugele 2005). Gegenwärtig widmet sich die Modetheorie mehr und mehr Themen rund um Eco Fashion, Nachhaltigkeit und Digitalisierung in Modeentwurf, Marketingkonzepten, Herstellungsprozessen sowie in Modeverhalten und Modekonsum.
1.5.4 Körper, Gender und Mode als kulturelle Praktik Während die Modetheorie des frühen 20. Jahrhunderts von einem psychologisch-subjektiven Prozess ausging, in dem das Subjekt selbst seine Bekleidung als organisch zum eigenen Körper gehörig akzeptierte oder ablehnte (John Carl Flügel 1986 (1930), 229), sind aktuelle Theorien zu Kleidung und Mode auf soziokulturelle Konstruktion des Körpers bezogen (Entwistle 2000, 15–16). Mode wird als »Körper technik« verstanden (vgl. Lehnert 2013, 58). In Zeiten des »Körperverlusts« durch 25 | www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/s/Sombart_Wirthschaft_und_Mode_1902.pdf. Internetdokument.
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neue Techniken der Konstruktion von Körpern in digitalen Medien sowie in Genetik, Medizin oder Kosmetik wachse die Bedeutung des Körpers als Diskursgegenstand, so Vicky Karaminas (Karaminas 2012, 133). Unter dem Einfluss der feministischen Theorie seit den 1970er Jahren rückten Fragen der diskursiven Produktion von Körper und Geschlecht und ihrer Verankerung in Machtverhältnissen ins Zentrum der interdisziplinären Genderforschung. Die »Rolle« der Mode im Kontext der »Polarisierung der Geschlechtercharaktere«26 wurde Thema der Modetheorie. Ende der 1990er Jahre erschien Doing gender der amerikanischen Philosophin Judith Butler, das seither als einflussreichstes Konzept der interdisziplinären Genderforschung gilt. Doing gender besagt, dass das biologische Geschlecht »nicht nur eine Norm, sondern Teil einer regulierenden Praxis« ist (Butler 2014 (1997), 21). Butlers Verständnis von Geschlecht »als etwas Fließendem und Interdependenten […] das sich in einem permanenten Konstruktionsprozess befindet«, inspirierte in der Folgezeit zu Konzepten, die auf die von Heteronormativität überdeckte Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und Praktiken verwiesen (Martschukat und Stieglitz 2005, 26–27). Nach Antke Engel hinterfragt die Queer-Theorie jegliche Form von Identitätskonstruktion (vgl. Engel 2009, 20). Die interdisziplinäre Modetheorie untersucht Mode als Konstituierung von Körper und Geschlecht: »›Fashion has turned the body into a discourse, a sign, a thing. A body permeated by discourse, of which clothes and objects are an intrinsic part‹.«27 »Mode entsteht dann, wenn wir etwas mit den Kleidern tun« (Lehnert 2006, 11). Verstanden als kulturelle Praktik dient Mode der ästhetischen, räumlichen und performativen Konstituierung des Körpers (vgl. Lehnert u. a. 2013, 37). Mode als »cultural performance« (Lehnert 2006, 13) stellt sich als »Übergangsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft […], Autonomie und Übernahme von Ideen und Normen« dar (ebd., 14) und ist substantieller Teil des Doing Gender (Entwistle 2000, 1–4) (Venohr 2010, 32–33) (Lehnert 2013, 58). Modehandeln impliziert Herstellung und Konsum von Kleidung als komplementäre und zugleich einander bedingende Bereiche des Modesystems (Venohr 2010, 34). Wesentliches Instrument der Medialisierung von Mode ist die Modezeitschrift, »die sich aus den Einzelmedien Fotografie [bzw. Modekupfer] und Schrift« sowie deren »gegenseitiger Bezugnahme« zusammensetzt (Venohr 2010, 31–32). Mode ist ein »Objekt der Medien, in denen sie produziert, rezipiert, kommentiert wird« und zugleich »selbst ein Medium (etwa der Selbststilisierung oder der Ausbildung kultureller Identitäten)« (Lehnert 2006, 11). 26 | Nach Karin Hausen bezeichnete das 18. Jahrhundert mit »Charakter« ein Konzept korrespondierender Physiologie und Psychologie, dem Vorstellungen von einem angeblichen Gegensatz des »männlichen« und »weiblichen« »Geschlechtercharakters« zugrunde lagen. Solche Vorstellungen wurden im 19. und 20. Jahrhundert beibehalten. Vgl. Hausen 1976, 363. 27 | Zitat Patricia Calefato in: Karaminas 2012, 134.
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1.6 Geschichte und Theorie der Männerkleidung 1848 berichtete der schottische Maßschneider Joseph Couts über seine Erfahrungen mit Kunden: Bevor ein Schneider mit dem Zuschnitt für einen neuen Kunden begann, sollte er dessen Vorlieben erfragen: Bevorzugt er einen spezifischen Bekleidungsstil, bestimmte Anzugformen? Welche Präferenzen bestehen bezüglich einer eher bequemeren oder aber engeren Passform? Möchte der Kunde »würdevoll« oder vor allem modisch aktuell gekleidet sein? Die Kunden der Schneider wollten das Unmögliche: einen Mantel oder Anzug nach der neuesten Mode, aber so, dass man das Modische nicht sieht. Zudem weigerten sie sich im Gespräch mit dem verzweifelnden Schneider, ihren Wunsch klar und deutlich auszusprechen: »Still there are many gentleman who, while they would wear a coat of the newest cut, will not confess, that they wish to be fashionably dressed. You will find some customers who will hedge about, bringing you nearer and nearer to the point they aim at, yet who are unwilling to say explicitly, ›make me a coat like the times‹ and who would rebel if you would ask them wether they wish their coat like the figures in the last monthly magazine of fashions.« (Couts 1848, 63) Der »unmännliche« Umgang mit Mode war den Männern peinlich. So propagierten die Magazine die »Befreiung« der Männermode vom »Modediktat«, um den Konsum nicht einbrechen zu lassen. Aus der Distanz der Männer zu Mode entwickelte Flügel 1930 seine These vom »Großen Verzicht«, die bis heute insbesondere die anglo-amerikanische Forschung zu Männermode prägt.
1.6.1 Genderpolarisierung der bürgerlichen Mode und Hegemoniale Männlichkeit Die Dichotomie der Geschlechter ist eine heteronormative Konstruktion, mit der die geschlechtsspezifische Zuordnung von Formen, Farben und Stoffen in der Mode korreliert. Im heteronormativen Zwei-Geschlechter-Modell sind Männlichkeit und Weiblichkeit ausschließlich in Relation und Differenz zueinander bestimmbar (vgl. Lehnert 2010, 452–53). Problematisch wird es, wenn Modediskurse, Kleidung und Mode früherer Epochen unhinterfragt nach dem Gender-Verständnis der eignen Zeit interpretieren, so Gertrud Lehnert: »Therefore: Jugding eigteenth-century masculine fashion as feminized […] is ahistorical, very much prejudiced in a heteronormative sense. […] The sumptuousness of eigteenth-century aristocratic masculine fashion cannot be considered feminine or effeminate since vestimentary sumptuousness was not defined as feminine at that time.« (Lehnert 2010, 453)
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Aufgrund der noch immer verbreiteten Gleichsetzung von Mode mit Frauenmode wurde die Männermode und ihre Geschichte lange Zeit wenig beachtet. Erst in jüngster Zeit, Unter dem Einfluss der Genderdebatten der 1980er und 1990er Jahre, erhielt sie wachsende Aufmerksamkeit, stieg die Zahl der Forschungsbeiträge, Ausstellungen und aufwändig gestalteten Ausstellungskataloge insbesondere amerikanischer Museen wie LACMA. In allen Epochen gingen entscheidende Impulse der Modeentwicklung von der Männermode aus. So ist auch der Unisex-Look im Mode-Mainstream der Gegenwart durch männlich konnotierte Formen wie T-Shirt oder Einzelhose bestimmt. Insofern verstehe ich die Männerkleidung als primäres Ereignisfeld der Mode. Die Relationalität komplementärer Männlichkeit und Weiblichkeit (u. a. Hausen 1976) ist der »forschungsstrategische Bezugspunkt« der Männergeschichte (Kühne 1996, 11–12). Eine bedeutende frühe Publikation dieses von Amerika aus entwickelten Zweigs der Geschlechterforschung war The Making of Masculinities, in der die Diversität kulturell hergestellter Männlichkeiten (»specific and varying social-historical-cultural formations«) propagiert wird (Brod 1987, 40). Anfang der 1990er Jahre plädierte Ute Frevert für ein Verständnis von »Männlichkeiten und Weiblichkeiten als komplementäre Elemente eines Systems« (Martschukat und Stieglitz 2005, 31). Pierre Bourdieus Habitus-Konzept28 ermöglichte den Begriff des »männlichen Habitus«, der insbesondere in »historischen Arbeiten« eingesetzt wird (ebd., 31), so u. a. von Sabina Brändli zur Bezeichnung des männlichen Kleiderverhaltens im 19. Jahrhundert (vgl. Brändli 1996, 105). Männlichkeit wird »hergestellt«, in der Sozialisation erlernt und kann sich auch ändern (vgl. Badinter 1993 (1992), 43–44). Den Wandel des männlichen Modekörpers verstehe ich als Element solcher Änderungen der Männlichkeit. »Die männliche Soziodizee29 legitimiert ein Herrschaftsverhältnis, indem sie es einer biologischen Natur einprägt, die selbst eine naturalisierte gesellschaftliche Konstruktion ist«, so Pierre Bourdieu (Bourdieu 2005, 44–45). Wolfgang Schmale betont: »Alles, wirklich alles: ideell, materiell, körperlich, moralisch, habituell, wird dichotomisch-geschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert.« (Schmale 2003, 154) Zur Bezeichnung dieser Übergeneralisierung des Männlichen entwickelte der australische Soziologe Robert William Connell 1987 das Konzept Hegemoniale Männlichkeit, das 1999 erstmals in Deutschland publiziert wurde. »Als Weiterentwicklung des Konzepts wurde schon vor Jahren von Michael Meuser ›geschlechtlicher Habitus‹ vorgeschlagen« (Dinges 28 | Habitus bezeichnet den klassenspezifischen Kanon von Wahrnehmung, Geschmack und Verhaltensnormen. Er ist Teil der »gesellschaftlichen Machtinstanz, deren Wirksamkeit zum Teil daher rührt, dass für denjenigen, der ihrem Einfluss unterliegt, genau die Wahrnehmungs- und Wertungskategorien verbindlich sind, die sie selbst ihm gegenüber anlegt.« Bourdieu 1987 (1979), 330. 29 | Herrschaftsanspruch.
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2005, 13). Hegemoniale Männlichkeit ist an Bürgerlichkeit, Kapitalismus, Nationalismus, Imperialismus und Militarismus gebunden (vgl. Schmale 2003, 153–154). Als wissenschaftliches Konzept verweist sie auf Bürgertumsforschung. Nach Wolfgang Schmale begann Hegemoniale Männlichkeit im 18. Jahrhundert und setzte sich im 19. Jahrhundert gesamtgesellschaftlich durch. Als Konzept der Geschlechter forschung basiert Hegemoniale Männlichkeit auf dem Grundsatz, dass Geschlechts identitäten innerhalb existierender Machtstrukturen etabliert werden und bezeichnet die »stete Reproduktion von Männerherrschaft« in Wirtschaft, Politik und allen Lebensbereichen (Martschukat und Stieglitz 2005, 53). Im Unterschied zu vormodernen, veränderbaren Männlichkeiten basiert moderne Hegemoniale Männlichkeit auf »Zwangsheterosexualität«, so Martin Dinges (Dinges 2005, 10). Der heterosexuelle Mann ist die bestimmende Norm der Moderne (vgl. Schmale 2003, 152–53), die sich im »Normalsystem« der Herrenschneiderei materialisierte. Den »normalen« männlichen Proportionen, die mit dem »Normalkörper« von einem (wenn auch idealisierten) Männerkörper abgeleitet waren, konnte kein Frauenkörper entsprechen. Dass Hegemoniale Männlichkeit mit Uniformität und Mode-Verzicht, dagegen Élégants mit hellen Farben, also Körperostentation verbunden wurden, zeigt eine zeitgenössische Beschreibung von 1834: In seinem Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur betont A. F. Barde die Geschmacksunterschiede, die Geschäftsleute, Juristen oder Ärzte vom müßiggängerischen Élégant trennten. In den Texten der Schneider bedeutet Geschmack jedoch nicht individuelle Präferenz, sondern eine vom Schneider durch Beratung zu vermittelnde Geschmacksnorm. Im Gegensatz zum Élégant, der sich für nicht-berufliche Anlässe wie das Flanieren in Straßen und Parks oder für Ballbesuche kleide, müsse der Schneider für die Kleidung Berufstätiger dezente Farben sowie Passformen wählen, die bei der Arbeit nicht hinderlich sein dürften, während bei Kleidung für Vergnügungen eine größere Varietät an Farben und Passformen erlaubt sei (Barde 1834, Livre II, 69).
1.6.2 »Weiblichkeit« der Mode Die Dichotomie der Geschlechter erreichte in der Kleidung des 19. Jahrhunderts eine neue Qualität, indem die vestimentäre Bezeichnung des Geschlechts der Standeskennzeichnung übergeordnet wurde. Die »Art sich zu kleiden […] hatte schichtübergreifend auf den postulierten ›Geschlechtscharakter‹ hinzuweisen« (Brändli 1998, 159). Mode war nun vor allem Frauenmode und demonstrativer Konsum. Der weibliche Körper wurde zum Sitz des Konsums (Breward 1999, 25). Wie Frauenmode repräsentierten auch prunkvolle Livreen, Paradeuniformen oder die von Veblen als »schmuckvoll, grotesk, unpraktisch und […] qualvoll unbequem« kritisierten Priester-Ornate den Status von Hausherrn und Vorgesetzten. Doch allein
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die Frauenmode ist durch Demonstration der Muße wenn nicht der »körperlichen Gebrechlichkeit« markiert (Veblen 2007, 178). Während die Körper-Ostentation der Aristokraten und Militärs des Ancien Régime durch »extravagante Kleidung, die ins Auge sticht« seit dem späten 18. Jahrhundert aus der Männermode verschwand, wurde dieses nun anachronistische Prinzip in der Frauenmode wie auch im Modeverhalten der Dandies fortgeschrieben, so Vinken (Vinken 2013, 26). Aufgrund ihres permanenten Wechsels wurde Mode seit dem 19. Jahrhundert mit Äußerlichkeit, Irrationalität, Inhalts- und Geistlosigkeit und all diese mit Weiblichkeit verbunden (Kawamura 2005, 9).
1.6.3 »Der Große Verzicht« Als »Great Masculine Renunciation« bezeichnete der Psychologe John Carl Flügel 1930 seine Theorie vom Mode-Verzicht der Männer als Verzicht auf Farbe und Dekoration in der schlichten, uniformen Männerkleidung. Das männliche »plain and uniform costume« versteht Flügel als Nivellierung sozialer Unterschiede und Hinweis auf Arbeit als zentralem habituellem Bezugspunkt (J. C. Flügel 1966 (1930), 112–13). Nach Flügel sind Kleidung und Mode mit spezifischen politischen Ordnungen assoziiert, resultiert der »Große Verzicht« also aus dem Wechsel zu einem neuen Herrschaftssystem. Schlichtheit und Uniformität von Kleidung und Mode visualisieren die Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Auf der psychischen Ebene begründet Flügel den Mode-Verzicht der Männer und die strengen Dresscodes männlicher Kleidung mit dem Moralzwang ihrer »sexual nature«. Durch schlichte, uniforme Kleidung werde Gemeinschaftssinn gefördert, jedoch alle emotionale Individualität und Spannung ausgeblendet, welche die variantenreichere Frauenmode dagegen zulasse. Im Gegensatz zu Hollander kritisiert Flügel den Männeranzug als bewegungshindernd (»ill-suited to movement«) (ebd., 113–14, 231–33). Bis in die 1970er Jahre galten Veblens Theory of the Leisure Class und Flügels Psychology of Clothes als einflussreichste Werke der Modetheorie, auf die sich die Publikationen zur Männerkleidung bis heute beziehen (Cumming 2004, 34). Noch immer gelten Schlichtheit, Funktionalität und Kontinuität als spezifische Kennzeichen der Männermode und Unterscheidungsmerkmale zur Frauenmode. Dem entspricht die Spaltung der Frauen- und Männermode als separate Forschungsfelder (Byrde 1979, 13–17). In direktem Bezug zu Flügel und Veblen steht die vielbeachtete These Christopher Brewards vom verborgenen männlichen Konsum (»hidden consumer«) (Breward 1999) (Ugolini 2007). Flügels ästhetischer Kritik widerspricht Breward. Trotz ihrer Austerität sei die moderne Männermode elegant. Diese Eleganz garantiert die modische Aktualität der Männerkleidung als Konsumartikel und stabilisiert die Nachfrage (Breward 1999, 25).
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1.6.4 Ruß aus den Kaminen Londons Mit der Verbreitung von Uniformen seit dem 17. Jahrhundert begann zugleich der dreiteilige Männeranzug. Flügels Kritik daran richtete sich insbesondere gegen den schwarzen Anzug als »depressing denial of human nature« (Breward 1999, 24). In Kombination mit weißem Hemd und weißer Weste geht er auf die Ordenskleidung der Dominikaner zurück, die das Schwarz außen als Zeichen der Buße, das der Haut direkt aufliegende Weiß darunter als Nachweis innerer Tugend verstanden (vgl. Harvey 1996). Zeitlich näher ist der schwarze Anzug des Tiers État in der französischen Generalversammlung 1789 (vgl. Bombek 2005 (1994)). Auf die industrielle Verschmutzung der Großstadt im 18. Jahrhundert und zugleich die neue kulturelle Bedeutung dieser modernen Phänomene reagierte die Mode durch Lancieren dunkler Tuche mit Bezeichnungen wie »Ruß aus den Kaminen Londons« oder »Pariser Schlamm«. Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts, so Baudelaire 184630, galt der »habit noir« als englische Mode, die den Nuancen der Schnittführung größere Bedeutung zuschreibe, als denen der Farbe. Nach diesem Verständnis steht das Schwarz, der Modekörper als Schattenriss, für eine Fokussierung auf Silhouette und Schnitt. Der Schwarze Anzug gilt als Ausdruck von Modeferne (u. a. Weinelt 2016) und Angleichung der männlichen Erscheinungsbilder seit im Klassizismus die Männer einander ähnlich wurden wie antike Statuen und Moral und Identisch-Sein mit sich selbst ausdrückten (Hollander 1995, 151, 154–56). Michael Zakim (Zakim 2003), Barbara Vinken (2013) und Anja Meyerrose (Meyerrose 2016) beziehen den uniformen Anzug auf moderne Machtstrukturen, demokratische Staatlichkeit und deren Bezug zu Männlichkeit: »Das Konstrukt der Zwei-Körper-Lehre verweist nicht mehr auf ein Jenseits wie im Gottesgnadentum, sondern auf die Beständigkeit der juristischen Personen in der Geschichte. Sie verkörpern in ihren Anzug tragenden Funktionsträgern und über deren individuelle Zufälligkeit hinaus Staat, Demokratie, Wissen, Macht und Geld.« (Vinken 2013, 36) Zakim geht davon aus, dass sich in Kleidung wie Toga, Werther-Anzug oder auch Mao-Jacke politische Systeme materialisieren. Im uniformen, seriell produzierten Konfektionsanzug sieht Zakim einen materiellen Ausdruck der amerikanischen Demokratie (Zakim 2003, 1). Dieser Demokratisierung der Mode entspricht ihre Kommerzialisierung in Produktion und Handel durch die »merchant tailors« (Zakim 2003, 46). Die Differenz der Schnittmuster von Frack und Sakko ignoriert Zakim zwar ebenso wie Flügel und Hollander, geht aber ausführlich auf die amerikanische Herrenschneiderei ein. Für die vorliegende Arbeit sind Zakims Recherchen zur Ausbildung der Schneider relevant. Sie belegen, dass amerikanische Maßschneider Kurse im Zuschnitt nach selbst entwickelten Systemen anboten und auch spätere Kon 30 | Zitiert nach Vanier 1960, 100. Angabe zur Originalquelle (Baudelaire) ebd. 260, Nachweis 79: Curiosités esthétiques. Salon de 1846, chapître XVIII.
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fektionsschneider ausbildeten, sodass von einem Wissenstransfer zwischen Maßund Konfektionsschneiderei und einer sich daraus ergebenden Vergleichbarkeit der Zuschnitt-Systeme ausgegangen werden kann. In ihrer soziologischen Untersuchung zum Herrenanzug und seinen Bezügen zur modernen Klassengesellschaft verweist Anja Meyerrose auf den englischen Ursprung der Demokratisierung in der Männermode. Bürgerliche Männerkleidung hatte in England schon früh einen anerkannten Status, weil die Kaufmannsschichten (»merchants«) hier bereits im 16. und 17. Jahrhundert Teil der Oberschicht und ihre Kleidung gesellschaftlich akzeptiert war (Meyerrose 2016, 30). Mit Verweis auf die Exklusion von Frauen und Unterschichten hält Sabrina Brändli die Demokratisierung durch Uniformität für einen »Mythos«. Die Gleichförmigkeit der Anzüge sei in erster Linie Zeichen des Ausstiegs der Männer aus der Mode, die zum Synonym für Frauenmode geworden war (Brändli 1998, 261). In der modernen und postmodernen Mode lässt Uniformität »›Masse‹ als Phänomen visuell fassbar« werden (Mentges 2005, 28). In der Kulturanthropologie werden »Uniformierungsprozesse« über eindeutig uniforme Bekleidungen in Orden, Militär oder Männermode hinaus auch in Massenmode, Jugendmoden, Berufs- und Künstlerkleidung oder Filmkostümen verortet. Uniformität wird »in ihrer besonderen materiellen Ausprägung, nämlich in ihrer Manifestation durch Kleidung und Körper« als »kulturelle Dynamik« betrachtet, indem nicht nur »gleichmäßige« Bekleidungen, sondern auch Verhaltensweisen und Bewegungen sowie räumliche und zeitliche Strukturen uniform sein können (vgl. ebd., 7–8, 19). Uniformen sind ein eigenes Forschungsgebiet, wobei militärische und zivile Uniformen (Jagd-, Hof- und Beamtenuniformen, Amtstrachten, Livreen) als separate Felder gelten. Der deskriptive Zugang der Uniformkunde31 ist von kulturwissen schaftlichen Analysen zu unterscheiden, denen ein Verständnis von Uniformen als »symbolische Kommunikation« und Differenzierung von Gruppenzugehörigkeit, Rängen und Funktionen zugrunde liegt (vgl. Hackspiel-Mikosch und Haas 2006) (vgl. Weißbrich 2011). In der Livree32 des 18. Jahrhunderts sehen Hackspiel-Mikosch und Haas den Ursprung der modernen zivilen Uniform. Nach Jochen Ramming waren Amtstrachten und Uniformen Ausdruck der Achtung gegenüber öffentlichen Ämtern (Ramming 2009, 161). Mit seinem Verständnis von Beamtenuniform, Rabbinertalar und Nationalkostüm als »Bekenntniskleidung« (Ramming 2009) setzt sich Ramming von der verbreiteten Vorstellung ab, Uniformität und Individualität seien unvereinbare Gegensätze. Beiträge zur Uniformschneiderei des 18. Jahrhunderts beschreiben die Entwicklung gleichförmiger, schmuckloser Uniformen 31 | Auf die stark spezialisierten Forschungszweige Militärsoziologie und Uniformkunde wird hier nicht näher eingegangen. 32 | Livree ist abgeleitet von franz. »livrer« für be- oder ausliefern.
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ausgehend von der »bürgerlichsten Waffengattung« Artillerie (Merta 1989, 65–66) sowie die rational-moderne Organisation der preußischen Uniformherstellung, die Gisela Krause in ihrer wegweisenden Studie als »Vorstufe der modernen Bekleidungsindustrie« untersuchte (Krause 1965).33 Die Militarisierung des männlichen Bürgers im 18. und 19. Jahrhundert ist ein etabliertes Forschungsgebiet (Frevert 1996, 78–84) (Hagemann 1996, 52–53). Eine eingehende Untersuchung der materiellen, schnitttechnischen Bezüge von Anzug und Uniform steht allerdings noch aus. Die Schnitte der Uniformen basierten auf der Anzugmode, wechselten stilistisch aufgrund behördlicher Regulierung jedoch langsamer. Daraus ergab sich im 19. Jahrhundert eine Konservierung modisch veralteter Stile in der Uniformherstellung. So wurden Taillierung und Taillennaht bei Uniformen länger beibehalten, als in der zivilen Männermode (Byrde 1979, 74). Der 1888 per Erlass Wilhelms II. angeordnete »altbrandenburgische Waffenrock« für preußische Beamte ist gar ein Beispiel für Historisierung der Uniform (Lüttenberg 2006, 134–35). Betrachtet man die Uniformkupfer genauer, zeigt sich jedoch: Auch hier folgte der Schnitt den geraden Konturen der Mode der 1880er Jahre. Die Ordonnanzen begrenzten sich auf Saumlängen, Stickerei und Details wie Taschenklappen.
1.6.5 Versailles nicht erwähnt – Geschichte der Männermode In ihrem Überblickswerk Geschichte des Kostüms verweist Erika Thiel auf die »Rückkehr zur Taille« in der »von England aus diktierten« Männermode zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die schmale Taille bezieht Thiel auf die englische »Forderung nach dem exakten Schnitt«. Das gerade Schnittmuster versteht Thiel als Merkmal der Kleidung der körperlich arbeitenden Schichten.34 Insofern ist der Sakko-Schnitt seinem Ursprung nach mit Arbeit verbunden. Im Sakkoanzug sieht Thiel einen Ausdruck der »Anonymität des modernen Geschäftslebens, das jedes Auffallen und Sichhervorheben als störend empfand« sowie ein Resultat der »Demokratisierung des Schnittes«. Wie zuvor schon erwähnt beschwört Thiel das Sakko als »zweite Revolution in der Männerkleidung« (Thiel 1960, 417–18). Die Überblickswerke The Male Image (Byrde 1979) sowie Fashion for Men (Marly 1989) zählen zu den wenigen, die sich ausschließlich auf Männermode beziehen. Beide Publikationen thematisieren den Zeitraum 1300 bis 1970 und sind kunsthistorisch ausgerichtet. Während sich Penelope Byrde im Wesentlichen auf die Darstellung historischer Fakten beschränkt, weist Diana de Marly jeder Epoche der Männermode einen männlichen oder weiblichen Charakter zu und projiziert so 33 | Auf Gisela Krauses Recherchen beziehen sich zahlreiche Publikationen u. a. Merta 1989, 63–66; Kraft 1997, 75–76; Burri 2012, 77–78; Döring und Draude 2012. 34 | Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden gerade geschnittene, ungefütterte Jacken für Arbeiter, Seeleute oder für Sklaven fertig produziert.
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das Genderverständnis ihrer Zeit auf vergangene Epochen: Mittelalter und Renaissance seien männlich, das 17. und 18. Jahrhundert dagegen effeminiert. Relevant für die vorliegende Arbeit ist Marlys Hinweis auf einen Paradigmenwechsel von der »Romantic Chivalry« zur »Muscular Christianity« in der Mitte des nach Marlys Verständnis männlichen 19. Jahrhunderts. Anglo-amerikanische Publikationen sind zumeist auf England und Amerika beschränkt, so The Three-Piece Suit and Modern Masculinity: England, 1550–1850 von David Kuchta (Kuchta 2002). Modeentwicklungen außerhalb des angloamerikanischen Sprachraums, selbst die in Frankreich, werden trotz ihrer erheblichen Bedeutung für die Modegeschichte marginalisiert oder gar ignoriert. So datiert Kuchta – wie auch Byrde und Marly – den Beginn des dreiteiligen Anzugs auf den 7. Oktober 1666, als nach Samuel Pepys der englische König Charles II. einen reglementierten Anzug (»three-piece-suit«) als »fashion which will never alter« an seinem Hof einführte.35 Obwohl der Anzug exakt dem französischen Justaucorps entspricht, fehlt – neben dem Begriff – jeglicher Hinweis auf die französische Männermode. Kuchtas Version basiert ausschließlich auf den Tagebuchberichten von Samuel Pepys (1633–1703) und John Evelyn (1620–1706). Trotz der immensen Bedeutung Versailles als Modell absolutistischer Repräsentation werden Ludwig XIV. und der französische Justaucorps bei Kuchta mit keinem Wort erwähnt. Dem französischen Modehistoriker François Boucher zufolge trugen Ludwig XIV. und Entourage den Justaucorps-Anzug jedoch schon 1662 (Boucher 2004 (1966), 258). In der französischen Version der Ereignisse, wie Boucher sie erzählt, bleibt wiederum der englische König Charles II. unerwähnt. In History of men’s fashion (Chenoune 1993) befasst sich der Historiker Fahrid Chenoune mit der Moderne der Männermode ab 1760 und in einem Kapitel auch mit der mathematischen Schnittkonstruktion. Wie auch die Kurator*innen der Sammlungen FIT New York und LACMA, die seit den späten 1980er Jahren mit aufwändigen Ausstellungen und Katalogen regelmäßig Beiträge zur Geschichte der Männermode leisten (Koda und Martin 1989) (Steele und Breward 2013) (Irvin 2013) (Takeda, Durland Spilker und Esguerra 2016), versteht Chenoune die subkulturellen Moden der Dandies als Motoren der modernen Männermode. Nach der meist ausschließlich auf England ausgerichteten Perspektive der englischen Modegeschichte weist Laver dem englischen Dandytum hegemoniale Bedeutung zu. Ursache sei die hohe Qualität der englischen Tuchschneiderei und 35 | Vgl. Kuchta 2002, u. a. 1–2. Eine andere Auffassung vertritt das Ehepaar Cunnington (Cunnington und Cunnington 1972 (1955), 133 ff), derzufolge sich in den 1660er Jahren eine Weste (»waistcoat«) entwickelte, über der ein »cassock«, ein weiter kaftanartiger Mantel getragen wurde. Aus diesem Mantel sei dann in den 1670er Jahren der dem Justaucorps entsprechende »Overcoat« hervorgegangen. Die »vest«, eine sehr lange, weite Weste, die Byrde, Marly und Kuchta als Beginn des modernen Anzugs verstehen, ist nach diesem Verständnis ein Zwischenstadium.
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Bild 11 • Dandy beim Flanieren um 1800
die Tadellosigkeit englischer Passform, die den Dandy ebenso charakterisierte wie seine steife, makellos weiße Krawatte als Praktik des arrogant erhobenen Kopfes (Laver 1970, 157–60). Nach Erika Thiel setzte die englische Mode mit dem Verzicht auf Prunk sowie mit der Perfektionierung des Zuschnitts eine unüberwindliche distinktive Grenze (Thiel 1960, 345). »Ein Dandy ist ein kleidertragender Mensch, […], er lebt, um sich anzuziehen.« (Carlyle 1991 (1833/34), 363) Dandies des 19. Jahrhunderts wie Barbey d’Aureville und Künstler wie Honoré Balzac oder Charles Baudelaire sowie später die Dadaisten beschrieben unterschiedliche Aspekte des Dandytums zwischen Rebellion, Künstlertum, aristokratischer Attitüde, Gentleman-Ideal und Nonkonformismus, die sie selbst lebten. Der Perfektionismus der Dandies gilt als Steigerung der strengen Dresscodes der bürgerlichen Männerkleidung. Die Rigidität der männlichen Kleiderregeln wurzelte in den Distinktionsproblemen, die soziale Mobilität in der Industriegesellschaft mit sich brachte. Die elitären Zirkel der Industriellen, Bankiers, Eisenbahn-Magnaten oder Fabrikbesitzer grenzten sich durch genaueste Vorschriften der Kleider-Etiquette, eine entsprechend reglementierte und trotz Prunkverzicht finanziell keineswegs unaufwändige Garderobe gegen die Arbeiterschicht ab (Marly 1989, 100). Die betonte Akuratesse ihrer Kleidung zeige, dass die Dandies des 19. Jahrhunderts den wirtschaftlichen Druck ignorierten, der auf der Mittelklasse lastete. Diese Haltung trugen sie durch demonstrativen zeitlichen und finanziellen Aufwand ihrer Kleidung täglich zur Schau, so Kunzle (Kunzle 1982, 114). Für Valerie
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Steele und Christopher Breward hingegen ist die Strategie überkorrekter Kleidung als Schutz männlicher wie auch weiblicher Dandies vor Homophobie zu verstehen (Steele und Breward 2013, 12–21). Inzwischen bildet subkulturelles Modeverhalten wie das der Macaronis und Dandies im 18. und 19. Jahrhundert (Kunzle 1982, 114) (McNeil 1999) (McNeil und Karaminas 2009) (Vainshtein 2002) (Grundmann 2007) (Steele und Breward 2013) bis hin zu den Subkulturen und Jugendmoden des 20. und 21. Jahrhunderts ein eigenes interdisziplinäres Forschungsfeld. In der kapitalistischen Ära wurde der »schöne« Aristokraten-Körper zu einem weiblichen Körper. In seinen maßgeblichen Beiträgen zur Dandy-Forschung hat Peter McNeil die aristokratische »Geziertheit« der Dandies als Fortschreibung des aristokratischen Habitus und subkulturelle Strategie der Irritation beschrieben.36 Im Anschluß an McNeil habe ich das »gezierte« Modeverhalten von Macaronis und Dandies als eine von heute aus queer lesbare Praktik des Unterwanderns zeitspezifischer vestimentärer Normen von Männlichkeit gedeutet (Burde 2016).37 Die sprichwörtliche Kälte der Dandies illustriert eine Begebenheit, die Fürst Pückler-Muskau in England erlebte: Ein Dandy und guter Schwimmer weigerte sich, einen Ertrinkenden zu retten. Mit der Dandy-typischen demonstrativen Langsamkeit habe er den Ertrinkenden durch sein Lorgnon betrachtet und erklärte ruhig, es sei ihm unmöglich zu helfen, denn der betreffende Gentleman sei ihm niemals offiziell vorgestellt worden (Grundmann 2007, 25). In Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde wird der Habitus der Dandies als »ästhetische Selbststilisierung« und »frühe Ausprägung von Coolness« beschrieben. »Cool« als individuelle Verhaltensstrategie strebe nach Kontrolle der eigenen Affekte und Aggressionen sowie nach Abgrenzung und Isolation, so die Herausgeber*innen. (Geiger, Schröder und Söll 2010, 7–15). Die »Verhaltenstechnik der Kälte« (Mentges 2010b, 28), zu der auch die erwähnten betont langsamen Bewegungen sowie gedehntes Sprechen gehören, geht auf höfische Verhaltenslehren des 16. Jahrhunderts zurück (ebd., 21–22) und setzte sich in den Verhaltensmustern späterer moderner und postmoderner Subkulturen fort (ebd., 28). Im Titel Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung verweist die amerikanische Kunsthistorikerin Anne Hollander auf die Modernität des dreiteiligen bürgerlichen Anzugs und seine »erotische« Wirkung (Hollander 1995, 15). Welche Form sie mit »suit« bezeichnet, erklärt Hollander nicht explizit, meint aber offensichtlich den Sakkoanzug. Für Hollander ist Sexualität der Ursprung und Motor aller »starken modischen Formen« (Hollander 1995, 15). In Abgrenzung zu Flügels »Verzicht« deutet Hollander den Anzug als materialisierte männliche sexuelle Sym36 | Vgl. u. a. McNeil 1999. 37 | Beitrag in »Ist Mode Queer?«, der bislang ersten deutschsprachigen Publikation, die sich explizit mit Queerness und Mode befasst. Lehnert und Weilandt 2016.
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bolik (ebd., 15). Diese Sichtweise bleibt allerdings hinsichtlich Kleidung und Modeverhalten nicht-heterosexueller Männer und Frauen indifferent und insofern hinter dem Stand aktueller Genderforschung zurück, so Gertrud Lehnert: »Mode ist zwar dominant, aber nicht zwingend der Heteronormativität verpflichtet. Ihr großes Potential liegt gerade darin, dass sie immer auch das von der Norm Abweichende inszenieren bzw. damit spielen kann.« Zudem existieren Kleidungen und Modestile, die »nicht an vergeschlechtlichten Körpern, sondern ausschließlich an Formen im Raum interessiert sind« (Lehnert 2013, 37). Heteronormative Konzepte verfehlen die Trends heutiger Mode wie Unisex oder Crossdressing. Avantgarde-Mode wie beispielsweise von Commes-des-Garçons liegen Genderbilder (»ideas of sex, gender, and desire«) zugrunde (Lehnert 2006, 460), die Heteronormativität hinter sich gelassen haben. Auch »homosexual styles« wie der einzeln getragene Ohrring sind wesentliche Einflüsse der neuesten Modeentwicklung, so Lehnert (ebd., 459). Modern ist laut Hollander die Abstraktion des Anzugs durch Reglementierung seiner Zusammensetzung sowie Bewegungsfreiheit durch Überlappung seiner Teile. Explizit erwähnt Hollander die Klassifizierung der Körper in der Herrenschneiderei, hält sie aber für ein von der Konfektionsschneiderei lanciertes Verfahren. Die Orientierung an antiken Proportionen sei eine »kaum wahrnehmbare selektive Formung«, um Männerkörper durch Kleidung »sexuell attraktiv« zu machen. Für die vorliegende Arbeit wesentlich ist Hollanders Beobachtung der Überlappung aller Anzug-Teile als Kennzeichen der Moderne in der Männermode wie auch ihr Begriff von Mode als Medium zeitspezifischer Geschlechterverhältnisse. Ruth Sprengers Die hohe Kunst der Kleidermacher (Sprenger 2009) hat die Herrenschneiderei des 19. und 20. Jahrhunderts, das Verdrängen der kleinen Maßateliers durch die Konfektion am Beispiel Wien, Arbeitsweisen und Ethos der Maßschneider wie auch die Schneidertechnik selbst zum Gegenstand. Für die vorliegende Untersuchung relevant sind Sprengers Ausführungen zur Beschäftigung ehemaliger »Kundenschneider« in Konfektionsbetrieben als Beleg für den Austausch von Wissen zwischen Maß- und Konfektionsschneiderei (ebd., 65). In ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse des bürgerlichen Anzugs (Brändli 1998) stellt Sabina Brändli die Bezüge von Kleidung, sozialer Hierarchie, Habitus und Geschlecht in den Vordergrund. Die Konstitution bürgerlicher männlicher Identität durch Kleidung basiert auf Abgrenzung zu Unterschichten, insbesondere aber zur Aristokratie (ebd., 33) sowie auf der männlichen Distanz zur weiblichen Mode. »Modisch sein heißt im bürgerlichen Diskurs unmännlich sein.« (Ebd., 69) Gesa Teichert (Teichert 2013) und Nora Weinelt (Weinelt 2016) knüpfen an Brändlis Ansatz an, dass die bürgerlichen Männer sich von weiblicher Mode distanzierten. Für die vorliegende Arbeit interessant ist Gesa Teicherts Verständnis spezifisch bürgerlich-männlicher Strategien der geschlechtlichen Modellierung des Körpers, die sie im Wandel von der geschnürten männlichen Silhouette im Biedermeier zum
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»Sackjackett« in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkennt. Den »Einfluss bürgerlicher Kleidung auf Körper und Leib« sieht Gesa Teichert in der »sukzessiven Veränderung der Herrenmode zugunsten eines Idealkörpers, der sich mehr und mehr vom realen Körper absetzte […]« (Teichert 2013, 227–28). Iris Vitzthum, Autorin der bislang einzigen Objektstudie zum Frack, versteht Kleidung als »Teilsegment der Kulturgeschichte«. Ihren Gegenstand, den Frack des »würdigen« Bürgers, untersucht sie u. a. hinsichtlich der von Bourdieu abgeleiteten Frage, inwieweit Kleidung ein »unwürdiges« Objekt sei. Den Frack beschreibt sie als dem Körper eng anliegende Form (Vitzthum 2006, 9, 98). Im Vergleich ist das Sakko komfortabler und bietet mehr Bewegungsfreiheit (Brändli 1998, 160, 322) und es ist gemäß der rationalistischen Geschäftswelt des Kapitalismus »sachlich«, »neutral« und »einfach«.
1.7 Aufbau und Quellen In der vorliegenden Arbeit wird der Wandel der männlichen Taille in vier Abschnitten unter folgenden Hauptaspekten untersucht: Körper-Grenzen, Konstruktion des Körpers im Zuschnitt, Mode-Einfluss durch Modeberichte und -bilder, Standardisierung der Größen sowie Begradigung der Schnitte in der Konfektionsindustrie. Der 2.Teil Die Taille im Fokus befasst sich mit Forschungen in der Kulturwissenschaft und interdisziplinären Modeforschung zu epochenspezifischen Konzepten der Silhouette des Körpers sowie zu Praktiken ihrer Modellierung. Zudem wird der Frage nachgegangen, auf welche Vorformen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts das moderne Sakko möglicherweise zurückzuführen ist. Der 3. Teil Schneider formen Körper ist der Konstruktion der schmalen Taille und der »normalen« männlichen Proportionen in der mathematischen Schnittkonstruktion gewidmet. Am Beispiel des corporismetrischen Systems A. F. Bardes von 1834 (Barde 1834, Livre II) und einer von Heinrich Klemm entwickelten Kombination aus Corporismetrie und Reduktionsmethode, wird das Normalsystem, die Berechnung von Maßen und die Klassifizierung der Körperformen und -haltungen erläutert. Im 4. Teil Institutionalisierter Geschmack – Diskurse der Fachmagazine zum Wandel der männlichen Taille werden die Modeberichte der Fachmagazine hinsichtlich des Einflusses der Herrenschneiderei auf die Modeentwicklung und die damit verbundenen Interessen und Intentionen der Herrenschneiderei untersucht. Im 5. Teil Effekte der Konfektion werden Konfektionsindustrie, Sakko-Mode und die mit ihr verbundene Begradigung der männlichen Silhouette in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug gesetzt. Aufgrund des Mangels an zeitgenössischen Quellen zur Konfektion des 19. Jahrhunderts stützen sich die Ausführungen auch auf Texte des frühen 20. Jahrhunderts sowie auf gegenwärtige Fachliteratur zur Konfektion.
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1.7.1 Zeitgenössische Text- und Bildquellen Insbesondere die Teile 3 und 4 beziehen sich auf zeitgenössische Diskurse der Herrenschneiderei zu Mode, Körper und Männlichkeit in Maß- und Zuschnitt-Systemen sowie in den von Maßschneidern verfassten Modeberichten. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert erschien eine Vielzahl von Lehrbüchern und Anleitungen zum Zuschnitt, die neben Systemen zur Schnittkonstruktion für ausgebildete Herren- und Damenschneider*innen auch Anleitungen zum Hausgebrauch und für den Selbstunterricht enthielten. Zudem wurden Lehrbücher für die Nadelarbeit zur Ausbildung von Frauen und Mädchen publiziert (Seligman 1996, 9–13). Die Ergebnisse der Recherchen zur mathematischen Schnittkonstruktion und der mit ihr verbundenen Herstellungspraxis werden im 3. Teil Schneider formen Körper im Hinblick auf das Verständnis und die Konstruktion männlicher Proportionen und Konturen beim Maßnehmen und in der Schnitterstellung analysiert und mit der Taillierung oder Begradigung des Schnittmusters verbundene Intentionen der Herrenschneiderei herausgestellt. Quellen dieser Untersuchung sind die zeitgenössischen Schnittdiagramme. Sie sind Abwicklungen des »Normalkörpers« und dessen Ableitungen in diversen Brustumfang-Größen. Die Schnittmuster sind das Medium der Übertragung der »normalen« Proportionen auf die Kleidungsstücke. Eine zweite, für diese Arbeit relevante Quelle sind die Modeberichte der Fachmagazine, die ab den 1830er Jahren von anerkannten Maßschneidern für ihre Fachkollegen veröffentlicht wurden. Untersucht werden Berichte zur französischen, englischen und deutschen Männermode vor allem in dem ab 1830 in Paris veröffentlichten Journal des Tailleurs, dem ab 1836 publizierten Magazin L’Élégant: journal des tailleurs, der ab 1846 in London erschienenen Gazette of Fashion and Cutting-room Companion sowie der Europäischen Modenzeitung für Herren-Garderobe. Die Veröffentlichung solcher Fachzeitschriften war an Institutionen und Verbände der Maßschneiderei gebunden. Ein Beispiel ist die zuletzt genannte ab 1851 von H. Klemm und G. A. Müller herausgegebene Europäische Modenzeitung, die als Organ der im selben Jahr von Klemm und Müller gegründeten »Europäischen Modenakademie« fungierte. Vorbild der »Modenakademie« war die 1834 in Paris gegründete »Société philanthropique des Maîtres-Tailleurs«. Auch in England und Amerika entstanden Bindungen zwischen Verlagsfirmen, Berufsverbänden und Ausbildungsstätten. Meine Ausführungen zur Mode der 1780er bis 1820er Jahre, als die erwähnten Fachmagazine noch nicht erschienen waren, beziehen sich auf zeitgenössische französi sche Modezeitschriften, so auf das bedeutende Magasin des modes nouvelles françaises et anglaises, das in den 1780er Jahren in Paris erschien, sowie auf das einflussreiche Journal des dames et des modes, das zwischen 1801 und 1839 ebenfalls in Paris herausgegeben wurde. Durch verbesserte Druckverfahren ermöglicht, brachte das 18. Jahrhundert eine Gründungswelle von periodisch erscheinenden Zeitschriften hervor. Ab den 1770er Jahren erschienen Magazine speziell für Mode, die aktuelle Modein-
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formationen in allen Gesellschaftsschichten verbreiteten. Sie lösten die modisch bekleideten Puppen ab, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Versailles und Paris aus der Lancierung aktueller Moden gedient hatten. Wesentlicher Teil der Modeberichterstattung sind die Modekupfer wie auch ihre Ergänzung durch Schnittdiagramme, die insbesondere in den Fachmagazinen unerlässlich waren. »Modenbilder« wurden von professionellen Modezeichnern oder Redakteuren der Fachmagazine gezeichnet und waren für die Branche existenziell wichtig. Sie sollten Nahtverläufe, Proportionen, Farben, Stoffoberflächen und Stil möglichst detailgetreu wiedergeben. Gründe für die deutlich stilisierte Darstellungsweise vor allem der Anatomie der Figuren werden u. a. in der Märzausgabe der Europäischen Modenzeitung 1872 diskutiert. Die Redaktion betont hier nachdrücklich, dass beim Zeichnen wie bei der anschließenden Herstellung der Druckplatte durch den Stecher äußerst sorgfältig gearbeitet werde. Das Modebild habe beiden Ansprüchen zu genügen, denen der Kunst wie denen der Schneider, die eine zuverlässige Modevorlage mit allen technischen Details erwarteten. Damit Modebilder jedoch nicht mit Kunstwerken verwechselt werden konnten, wurde die Anatomie der Figurinen bewusst verzerrt und beispielsweise die Füße extrem verkleinert, denn in der Männermode galten kleine Füße bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als elegant: »Es ist durchaus nicht leicht, in Bezug auf Modenbilder die zeichnende Kunst und sachgemäße Technik zu vereinen, […] mithin bestimmte Grenzen einzuhalten, die keineswegs überschritten werden dürfen, namentlich was die anatomische Genauigkeit betrifft. Ein […] anatomisch richtig gezeichnetes Modebild wäre für den Kleidermacher geradezu ein Unding, und es ist wahrhaft lächerlich, wenn ein Herren-Journal sich damit brüstet, dass ein berühmter Maler die Modebilder zeichne.« (EM, 1872, J 22, N 5, 1) Als Kunstwerk wäre das Modebild »lächerlich«, weil nach dem zeitgenössischen Kunstverständnis falsch ambitioniert. Nur ein in der Mode erfahrener und geschulter Zeichner sei in Sachen Modebild »ein wahrer Künstler«. Ohne diese Erfahrung entstünden »unter der Hand des größten Malers« keine Modedarstellungen , sondern lediglich »hübsche Genrebilder«. Doch wenn es von Nutzen für die Schneider sein solle, müssten beim Modebild »nicht nur schöne männliche Gestalten« sondern darüberhinaus auch »größte Genauigkeit in der Darstellung aller technischen Einzelheiten in Schnitt und Bearbeitung klar hervortreten« (ebd.). Die Qualifizierung des Modezeichners besteht demnach im Einhalten der Grenzen seines Feldes. Aufgabe des Modebildes ist es, den Modekörper zu zeigen. In der Männermode des 19. Jahrhunderts basiert dieser auf dem fiktiven »Normalkörper« und modebedingt sich wandelnden Proportionen der Passform, der Taille, der Saumlänge und der Schoßgestaltung. In diesem Sinne werden Modebilder in der vorliegenden Arbeit als Informationsquellen zum männlichen Modekörper verwendet.
2 Die Taille im Fokus 2.1 Zur Taillierung als Merkmal der westeuropäischen Kleidung Die Taille gilt als »Kennzeichen des modernen westlichen Kleidungssystems« (Mentges 1994, 9–10). Sie basiert auf dem Gewandschnitt als zentralem Prinzip westeuropäischer Kleidung und Mode. Der Gewandschnitt kam im späten 11. Jahrhundert auf, als durch Hineinschneiden in das Webstück, durch Abnäher und Teilungsnähte die textile Konturierung von Rumpf und Gliedmaßen möglich wurde. Ursachen dieses Anthropomorphismus westeuropäischer Kleidung werden in der Stigmatisierung des nackten Körpers durch das Christentum (Rudofsky 1972, 151–64) (Entwistle 2000, 19) und in der westlichen Dynamisierung aller Lebensbereiche im Zivilisationsprozess gesehen (Kühnel 1992) (Mentges 1994). So argumentierte Friedrich
Bild 12 • Taillierter Uniformfrack 1820–1840
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Theodor Vischer, dass durch am Körper anliegende Kleidung die im westlichen Alltag erforderliche Spontaneität und Effizienz der Bewegungen erst ermöglicht und der zeitliche Mehraufwand vermieden wird, den körperferne weite oder drapierte Kleidung mit sich bringt (vgl. Kraft 2001, 17). Körpernahe Kleidung dient zudem der Unterscheidung der Körper hinsichtlich Alter und Geschlecht. So ist die sichtbare Beinkontur männlich, das Verbergen der Beine weiblich konnotiert. Die Taillierung ist ein ebensolches Mittel, die Körperkontur zu akzentuieren und sie zu modellieren. Die erste deutliche Taillierung durch konkav geformte Teilungsnähte und einen horizontalen Taillenabnäher kam Mitte des 14. Jahrhunderts in der Männermode auf. So gesehen ist die taillierte Kontur ursprünglich männlich. Nach dem Vorbild der Plattenrüstung wurde erstmals der gesamte Männerkörper von enger Kleidung geformt: der Hals durch einen engen Stehkragen, Schultern und Arme durch tellerförmige Armlöcher, Brust und Bauch durch Polsterung aus Watte, die Taille durch konkave Seitennähte und einen Querabnäher im Rücken und die Beine durch enge Beinlinge.
2.2 Falten werden weiblich Wie gesehen stand die Entwicklung der männlichen Taille in Bezug zur Faltenvermeidung. Zur Straffung der Zugfalten am untersten Schließknopf schnitt man an dieser Stelle Ecken aus, die bald größer wurden und so den gesamten Taillenbereich des vorderen Schoßes aussparten. In einem nächsten Schritt wurde das Schnittmuster im Bereich der Taille vollständig durchtrennt. Die Taillennaht schuf die Voraussetzung einer markanten Einbiegung der Taille. Die Körper-Korrektur durch enge Passformen und völlige Faltenfreiheit (»l’à-plât absolu«) wird in der Mai-Ausgabe des Pariser Journal des Tailleurs 1843 als Prozess der Stabilisierung der Mode durch die mathematische Schnittkonstruktion dargestellt und liest sich insofern wie eine Vorausschau auf die in Teil 3 dieser Arbeit diskutierten späteren Kommentare Heinrich Klemms zur Entwicklung der Schnittkonstruktion im 18. und 19. Jahrhundert: Während die Proportionen des menschlichen Körpers unverändert seien, wechselten diese in der Mode früherer Epochen ständig und übergangslos von einem Extrem ins nächste. Diese »période monstrueuse« habe man jedoch hinter sich. Der Mode-Geschmack sei nun von Schlichtheit und Vernunft bestimmt und orientiere sich an Normen und Mehrheiten und modischer Unauffälligkeit. Diese Entwicklungen, zu denen auch das Aufkommen mathematischer Zuschnitt-Systeme gehöre, hätten mit der Verknappung der Kleidung durch Präzisierung der Passform (»vêtements ajustés«) begonnen. Ziel sei die völlig faltenfreie, enge Umhüllung des Körpers (»envelopper strictement le corps et ne pas laisser un pli«). Die Wattierung sei ein unverzichtbares Mittel, Faltenfreiheit zu gewährleisten und den Körperbau korrigieren zu können, so das Journal (JdT 1. 5. 1843, J 13, 133).
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Die Vermeidung von Falten in der modernen Herrenschneiderei war ein schrittweiser Prozess. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Falten auch in der Männerkleidung zur Überbrückung von Passformproblemen eingesetzt und durch modische Übersteigerung legitimiert. In diesem Sinne könnten die Oberarmpuffen in der Mode der 1820er Jahre ein Versuch gewesen sein, Mängel der Passgenauigkeit von Armloch und Ärmel auszugleichen. In gleicher Weise könnte auch der faltige Ansatz der Gehrockschöße der 1830er Jahre den Übergang von der extrem schmalen Taille zu einer Hüft- und Saumweite der Schöße gewährleistet haben. Beide Phänomene wurden aufgrund ihrer Faltenbildungen in zeitgenössischen Modediskursen der Maßschneider der 1840er und 1850er Jahre kritisiert, nach meiner Auffassung ein Indikator der wachsenden Bedeutung glatter Oberflächen in der Herrenschneiderei. Die weitere Entwicklung zeigt: Ab den 1840ern wurden Ärmel glatt eingesetzt und Schöße verloren ihr Volumen und ihre Falten. Der weibliche Körper hingegen war nach wie vor in Falten gehüllt. Die Arme verschwanden unter den Falten bauschiger Ärmel. Sorgsam gelegte Sévigné-Falten, so benannt nach der Marquise de Sévigné (1626–1696), der eine »Vorliebe für faltig antaillierte Manteaus« zugeschrieben wird, gewährleisten die Passform: »Die dominante Faltengestaltung befand sich im Bereich des Oberteils. Die Formenfassung des Oberkörpers und die Verschlussausbildung erscheinen hier als vordringliche Aufgaben. Beides konnte man mit Hilfe von Faltenpartien lösen.« (Institut für Kostümkunde, Hochschule für angewandte Künste Wien (1987), 90)
Bild 13 • Sevigné-Falten 1832
Die Sévigné-Falten zeigen sich vor allem an der Frontseite des Körpers, wo der Geschlechtsunterschied primär inszeniert wird. Die geschlechtlich n eutralere Rückseite der Frauenoberteile ist dagegen meist glatt und folgt häufig der
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charakteristischen Nahtführung des männlichen Frackrückens. Von dort aus sollte das Prinzip glatt gespannter Oberflächen und Knopfleisten auch die Vorderfront des weiblichen Oberteils erreichen, wenn auch in vielen Fällen, so bei eleganten Tageskleidern und bei Ballkleidern, Faltenbildungen partiell erhalten blieben. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die männliche Jackenmode und mit ihr das Prinzip einer durch Nähte und Abnäher konstruierten, glatten Oberfläche in der Frauenmode angekommen. Das Damenkostüm, ein Ensemble aus Jacke und Rock und häufig auch Weste, hatte sich als Analogie des zwei- oder dreiteiligen Männeranzugs seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem zentralen Thema der Frauenmode entwickelt. Kostümjacken wurden oft aus Herrenstoffen gefertigt und erhielten männliche Details: Knopfleisten, westenartige vordere Blenden, Reverskragen, Taschenpatten und Ärmelaufschläge. Konterkariert wurden die Schoßjacken von immer üppigeren Faltenwürfen und Schleppen der Röcke. Damit war der weibliche Körper zweigeteilt: der glatt bekleidete Oberkörper ragte aus einem altertümlich wirkenden Faltengebilde heraus, das den Unterkörper vollständig einhüllte.
2.3 Körpergrenzen, Modellierung der Taille und Männerkorsett Im Folgenden werden Konzepte kulturwissenschaftlicher Forschungen zu Konturen des Körpers und zu Körpergrenzen vorgestellt sowie Forschungen und Quellen des 19. Jahrhunderts zum Männerkorsett diskutiert. Für die vorliegende Untersuchung besonders relevant sind Beiträge, die auf die Bedeutung der Silhouette und Praktiken ihrer Modellierung Bezug nehmen und epochenspezifische Körperbilder und deren Wandel analysieren. Abschließend wird auf Körpermodellierung durch Sport und die Bezüge von Sport und Sakko sowie auf die Bedeutung des Materials Wolle in der englischen Reitkleidung eingegangen.
2.3.1 Groteske Körper und Körpergrenzen Wegweisend für die neueren kulturwissenschaftlichen Diskurse zu Körper und Körpermodellierung ist die Theorie des »grotesken Körpers«, die der russische Literatur- und Kunstwissenschaftler Michail Bachtin um 1940 anhand des Romanzyklus Gargantua und Pantagruel von François Rabelais (ca. 1494–1553) entwickelte. Bachtins grotesken Körper kennzeichnen Ausbuchtungen hervortretender Augen, dicker Nasen oder Bäuche sowie Einbuchtungen und Körperöffnungen wie aufgerissene Münder oder entblöste Öffnungen des Afters. »Der groteske Körper besteht aus Einbrüchen und Erhebungen, die schon den Keim eines anderen Körpers darstellen, er ist eine Durchgangsstation für das sich ewig erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß von Tod und Befruchtung.« (Bachtin 1995 (1940), 359). »Dieser groteske Darstellungsmodus war über Jahrtausende in Kunst und Literatur maßgeblich«, so
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Claudia Benthien und Christoph Wulf in Körperteile, einer »kulturellen Anatomie« zu den Körpergrenzen und ihren Verschiebungen zwischen Antike und Neuzeit (Benthien und Wulf 2001, 15). Bachtin wie auch Benthien und Wulf beziehen sich in ihren Aussagen auf den fleischlichen, unbekleideten Körper. In ihrem Kapitel »Groteske Modekörper« in Mode (Lehnert 2013, 74) wie auch in Die Kleider des Leigh Bowery (Lehnert 2015), dessen skulpturale Kreationen führende Modedesigner*innen wie Alexander McQueen, Rei Kawakubo oder Vivienne Westwood inspirierten, entwickelt Gertrud Lehnert ein Konzept des grotesken bekleideten Körpers: »Leben und Tod, Fleisch und Textil, Körper und Kleid: dieses die Mode wie Leigh Bowerys Kunst bestimmende Verhältnis fasse ich in Anlehnung an Michail Bachtins Theorie mit dem Konzept des Grotesken. Dessen wesentliche Elemente sind (1) das Prinzip der Hypertrophierung, (2) die Verbindung des Lebendigen mit dem Unlebendigen […], (3) die Vertauschung von Lebendem und Totem, Körper und Kleid, innen und außen, wozu auch Körperausscheidungen zählen, (4) das alles verbunden mit einem permanenten Werden und Vergehen. Hinzu kommt (5) eine sich verselbstständigende Lust am Ornament und am Stofflichen. […] Groteskes im skizzierten Sinne ist – so meine These – eines der Kennzeichen der Mode, ja die sie antreibende Kraft.« (Lehnert 2015, 77–78) An dieses Konzept eines Körpers, dessen Substanz sich aus der Verschmelzung von Textilem und Lebendem ergibt, knüpft meine These zur Körper-Korrektur durch wattierte, enge und taillierte Kleidung an. Dem »grotesken Motiv«, nach dessen Verständnis es »keinen individuellen Körper gibt«, stellt Bachtin einen »neuen Körperkanon« gegenüber: Es ist der »fertige, streng begrenzte, nach außen verschlossene, von außen gezeigte, unvermischte und individuelle ausdrucksvolle Körper«. Dessen »glatte Oberfläche […] erlangt zentrale Bedeutung als Grenze des mit anderen Körpern und der Welt nicht verschmelzenden Individuums« (Bachtin 1995 (1940), 359–61). Den »klar umgrenzten« Körper (Ebbing 2008, 35) kennzeichnet ein dem grotesken mittelalterlichen Körper entgegengesetztes, neuzeitliches Prinzip einer exakten Aussenlinie ohne Aus- oder Einbuchtungen, abgeschlossen durch eine glatte textile Oberfläche. »Es entsteht das Leitbild des abgeschlossenen, monadischen Körpers mit klar definierten Grenzen, die dessen Innen und Außen scharf trennen.« (Benthien und Wulf 2001, 15–16). Wesentliches Kennzeichnen des klar begrenzten Körpers ist das »redressement du corps« (Burri 2012), die aufrechte Körperhaltung. Am Beispiel der spanischen Hofkleidung des 16. Jahrhunderts schildert Marita Bombek das Aufrichten des Körpers durch Kleidung, indem sie dessen lotrechte Ausrichtung durch rigide Korsetts und schwere Gewänder als Element der »spanischen Gravität« beschreibt (vgl. Bombek 2005 (1994), 143–46). Seit dem Spätmittelalter diente die aufrechte Körperhaltung und ein schlanker, durch steife Kleidung exakt modellierter Körper der Abgrenzung
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der höfischen und bürgerlichen Oberschicht gegen die gebückten Körper der Unterschichten und kam auch den »Systematisierungsbemühungen des Schneiderhandwerks entgegen« (Burri 2012, 73). Dem Prinzip des »klar umgrenzten« Körpers entspricht die Modellierung des Oberkörpers durch das Korsett. »Die Bauchformung durch Kleidung verschiebt die äußere Körpergrenze. Das Korsett verleiht dem Bauch je nach Form eine gewünschte Wölbung und Abflachung«, so Tina Ebbing (Ebbing 2008, 219). Valerie Steele verweist auf die Bedeutung des Korsetts als orthopädische Schiene. Korsetts wurden mit Fischbeinstäben, verleimten Grasbündeln oder Holzleisten versteift oder gar aus Eisen gefertigt und dienten bis ins 18. Jahrhundert dem Zweck, verkrümmte Wirbelsäulen zu begradigen und den Oberkörper in eine aufgerichtete Haltung zu zwingen (Steele 2007, 5). Das höfische Korsett des 16. bis 18. Jahrhunderts schient den Oberkörper und geometrisiert ihn zugleich, indem es ihn mittels einer V-förmigen Schnebbenspitze zum Dreieck formt.
2.3.2 Männer im Korsett Nach Nora Waugh übernahm das enge, steif gearbeitete Männerwams des 15. bis 17. Jahrhunderts die modellierende Funktion eines Korsetts (Waugh 1977 (1964), 14) und kann insofern nach meiner Auffassung als solches verstanden werden. Das Korsett als separates Kleidungsstück und Teil der Unterkleidung entwickelte sich in der Spanischen Renaissance (Mentges 1994, 17) und wurde ausgehend von der Hofkultur im Laufe der Jahrhunderte in allen sozialen Schichten adaptiert (Steele 2007, 1). Im Gegensatz zu Frauenkorsetts sind historische Quellen zu männlichen Korsettpraktiken bis ins späte 19. Jahrhundert eher selten. Entsprechend ist die moderne Korsett-Forschung mehrheitlich auf Frauenkorsetts bezogen.1 Valerie Steele verweist immerhin darauf, dass sich die Korsettkritik des 18. und 19. Jahrhunderts auch gegen Korsett-tragende Männer richtete (Steele 2007, 2). Dandy- Karikaturen des 19. Jahrhundert, die sich über männliche Korsett-Praktiken lustig machen, zählen zu den wenigen Bildquellen, die Männer in Unterwäsche und Korsett abbilden. Ein Modebericht von 1836 verweist darauf, dass die Verwendung von Korsetts in der zeitgenössischen zivilen Männermode auf die Praktik russischer Offiziere der napoleonischen Ära zurückzuführen sei, ihre »Wespen«-Taillen mittels lederner Korsettgürtel zu formen: »Serré de la ceinture et le corps coupé comme une guêpe [quelque jeunes hommes] devraient avoir recours à la manière laniere de cuir que portaient les officiers russes en 1813.« (ÉjdT 20. 2. 1836, J 1, N 5, 35) Das männliche Korsett gilt als Erkennungsmerkmal des Dandys. David Kunzle bezeichnet den Typus des Offiziers mit geschnürter Taille als »military dandy«: »An important Sub-Species of dandy formed the military. The corsetting and other special, self–conscious sartorial effects cultivated by both the military and the civilian 1 | Vgl. u. a. Junker und Stille 1991 (1988). Salen 2008. Barbe 2012.
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dandy may derive from the social insecurity they shared.« (Kunzle 1982, 115) Sophie Lamotte geht davon aus, dass Korsettgürtel (»carcans«) bei Männern schon vor dem 18. Jahrhundert in Gebrauch waren. Als Objekte seien Korsetts, die nachweislich von einem Mann getragen wurden, aus dieser Zeit jedoch nicht überliefert (Lamotte 2013, 199–202). Konkrete Hinweise auf Herrenkorsetts des 19. Jahrhunderts finden sich in Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur von A. F. Barde (Barde 1834, Livre II) in Gestalt einer Tabelle berechneter Maße mit einer Aufstellung durchschnittlicher halber Taillenumfänge von 35 bis 43 Zentimetern, deren geringe Beträge aus meiner Sicht als Hinweis auf die Schnürung männlicher Taillen zu verstehen sind. Bardes Werk enthält zudem Abbildungen einer »caleçon« genannten Korsett-Unterhose mit einem breiten Bund, der in der hinteren Mitte geschnürt ist (Bild 14). Vorn wird die Unterhose, die auch ohne Schnürung sowie als Badehose gefertigt wird, mit einer vertikalen Knopfleiste geschlossen. Die Taillenpartie ist als breiter Gürtel mit einer rückwärtigen kreuzweisen Schnürung gearbeitet. Barde empfiehlt sie als sicherste Möglichkeit zur Verminderung der Bauchwölbung.2 Zudem wurde die Taillenpartie der Oberhose häufig in gleicher Weise gestaltet und ebenfalls im Rücken der Weste eine elastische Schnürung angebracht.3
Bild 14 • »Caleçon corset« 1834 2 | »Le caleçon-corset a une ceinture très large sur le ventre et étroite par derrière; il est fermé au moyen de cinq lacets qui, s’entrecroisant, sont attachés à chaque bout postérieur de la ceinture et réunis aux etrémités à une petite pate qui vient se boutonner sur le côté à une ligne horizontale de boutons destinés aux différents degrés de compression du ventre. Le caleçon-corset est le plus sûr moyen de dissimuler la grosseur du ventre.« Barde 1834, Livre II, 236. 3 | »Souvent, et dans certains cas, on peut employer avec succès les élastiques au dos des gilets et aux ceintures des pantalons, pour les personnes qui, aimant une taille serré, ont cependant besoin être à l’aise pour se bien porter.« Barde 1834, Livre II, 71.
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Die »caleçon-ouaté«, die wattierte Unterhose, empfiehlt Barde zur Verschönerung des Taillen-, Hüft- und Gesäßbereichs bei Personen, die, wie er sagt »ängstlich« im Bezug auf Verkühlungen oder deren Körperformen »von der Natur vernachlässigt« sind. Als »culotte à pont« war die Korsett-Unterhose schon im 18. Jahrhundert in Gebrauch und wurde weiterhin bis ins frühe 20. Jahrhundert getragen (Cole 2010, 50, 68–69). Nachweise solcher Korsettunterhosen oder Korsettgürtel, die zusätzlich durch Fischbeinstäbe verstärkt wurden, finden sich auch in zeitgenössischen Annoncen des 19. Jahrhunderts, so im »Magasin Doucet, Rue de la Paix«, das 1838 für seine »caleçons à corset pour homme« warb: »Ce sont des ceintures maintenues par des baleines, élargies par des goussets et serrés par un lacet.« (Le Messager des Salons, 10. Mai 1838, zitiert nach Vanier 1960, 56) Es ist wohl kein Zufall, dass die Fabrikation von Korsetts seit den 1820er Jahren einen signifikanten Aufschwung erlebte: Gummieinsätze und Patentverschlüsse ermöglichten das Anziehen des Korsetts ohne Hilfe, verbesserten Tragekomfort und Bewegungsfreiheit. Die Korsett-Industrie tat alles, um Korsetts für den bürgerlichen Alltag tauglich zu gestalten und in Mode zu halten. Auf diese Weise stabilisierten die Korsettproduzenten zugleich die Mode der schmalen Taille beider Geschlechter (ebd.).
2.3.3 »Weibliche« Kurven und »männliche« Geraden Bildtafel I in The Analysis of Beauty (1753), einer Schrift zu Kunsttheorie, Ästhetik und Proportionslehre des Malers William Hogarth (1697–1764), zeigt eine Folge von sechs Korsetts, die in einem Verlauf von sehr geraden (Nr. 1) bis stark gekurvten Konturen (Nr. 6) angeordnet sind. Hogarth kommentiert: »It may be worth our notice however, that the stay number 2 would better fit a well-shaped man than number 4; and that number 4 would better fit a well-formed woman, than number 2.« (Sorge-English 2011, 181) Nach Hogarths Verständnis sind Geraden männlich und Kurven weiblich konnotiert. Das lässt an spätere moderne Deutungen denken, die kurvige Silhouetten in der Männermode des 19. Jahrhunderts als »feminine lines« (Marly 1989, 89), als Effeminierungen oder Übertreibungen der »natürlichen« Körperkontur verstehen (Byrde 1979, 85–86). Etwas zurückhaltender deuten Erika Thiel und Sabina Brändli die taillierte Silhouette der Männermode als Parallele zur Frauenmode (Thiel 1960, 380) (Brändli 1998, 138). In ihrer Studie Stays and Body Image in London bezieht sich Lynn Sorge-English auf Hogarths Analysis: »Thus, stays were ›masculine in form‹ in that were linear and angular as opposed to curvaceous and rounded.« (Sorge-English 2011, 181) Ihre wegweisende These, das höfische Korsett des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit seiner flachen steifen Front diene der Abflachung und damit der Maskulinisierung des weiblichen Oberkörpers, leitet Sorge-English von Hogarths Analysis ab. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die Praxis
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der Schneiderei dieser Epochen, Schnittmuster der Bekleidung des Oberkörpers zuerst in der Männerkleidung zu entwickeln und anschließend auf die Frauenkleidung zu übertragen. Auf diese Weise wurde der Oberkörper der Frauen der flachen männlichen Form angeglichen (ebd., 180–181). Dass das Korsett der Eliminierung der Brustrundung und der Modellierung des Übergangs von der Brust zur Taille diente, zeigt die Innenpolsterung der Frauen-Korsetts des 18. Jahrhunderts, die den Hohlraum unterhalb der Brust am Übergang zu den Rippen ausfüllen sollte. Mit der Verbürgerlichung der Mode in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kam eine Form des Korsetts in Mode, welche die Brüste trennte und mittels Brustzwickel als zwei Rundungen formte. So wurde die runde »weibliche« von der flachen »männlichen« Brust im Sinne des bipolaren Geschlechtermodells unterschieden. Diese Einbeziehung der Brust und durchgehende Formung des Oberkörpers, die das Frauenkorsett bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, findet sich beim Männerkorsett des 18. und 19. Jahrhunderts nicht.
2.4 Das Sakko als sportliche Jacke Heute hat das »Muskelkorsett« das textile Korsett abgelöst. Der Muskelaufbau durch gezieltes Training dient der Modellierung des Bauches bei beiden Geschlechtern (Ebbing 2008, 283–84). In vormodernen Epochen war körperliche Betätigung wie Reiten, Fechten und Tanz Teil der körperlichen Schulung der Offiziere und Aristokraten und »orientierte sich am höfischen Ideal«, so Wolfgang Schmale. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Sport und militärischer Drill zu Erziehungsinstrumenten hegemonialer Männlichkeit (Schmale 2003, 174, 178). Davon zeugen die Turnerbewegungen des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zur höfischen Bewegungskultur und anders als das klassizistische Bild des muskulösen Herkules (Fuchs 1985 (1902–1912), 109–13) war der bürgerlich-kapitalistische Sportbegriff an Leistungssteigerung orientiert (Brändli 1998, 91–101) (Schmale 2003, 174, 178) (Teichert 2013). Sport-Treiben förderte Widerstands- und Wettbewerbsfähigkeit als neue virile Tugenden des kapitalistischen Zeitalters. »Männliche Konstitution«, Größe, Muskelkraft und Festigkeit des Körpers wurden »erstmals unter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit […] ausgeformt. […] So wurde auch der Zeitaufwand, der für eine Verrichtung nötig schien, genau gemessen und berechnet einschließlich der Überlegung, wie und wie sehr Leistung steigerbar sei« (Schmale 2003, 174, 178). Das moderne »Konzept Sport«4 und ein zugehöriger Kanon von Sportarten entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert aus der englischen Kultur öffentlicher sportlicher Wettbewerbe zur »Volksbelustigung«. Jagden, Wettrennen (Pferde, 4 | »›Sport‹ kommt vom französischen se disporter, […] sich (von der Arbeit) wegbewegen.« Sport ist »eine zweckfreie Betätigung, aber kein Spiel«. Meyerrose 2016, 66.
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Bild 15 • Faustkampfszene
Hunde) und Zweikämpfe (Tierkämpfe, Boxen, Ringen) boten Gewinnchancen durch Wetteinsätze und Lotterien quer durch alle sozialen Klassen (Maurer 2010, Absatz 40). Adelige und großbürgerliche Schirmherrn nutzten das Sponsering von Sportveranstaltungen zur öffentlichen Demonstration ihres hohen sozialen Status. Sport betonte »Mann-Sein« als schichtenübergreifende Gemeinsamkeit, ohne jedoch das soziale Gefälle tatsächlich außer Kraft zu setzen. Dieser Männlichkeit durch Sport und Muskeln entsprach das Sakko. Sportliche Betätigung, der Besuch von Sportveranstaltungen und die Teilnahme an Sportwetten war der Trageanlass für Tweed-»Sacs«. Um 1860 entwickelten sich Sport- oder Clubjacken in Form von Sakkos in den Farben der diversen Sportclubs häufig mit charakteristischen Paspelierungen oder Bordüren an den Saumkanten. Ihr Aufkommen deutet Diana de Marly als Paradigmenwechsel von aristokratischer Ritterlichkeit zu einem eher proletarischen Typus Mann, der seinen muskulösen, kräftigen Körper im Wettstreit mit anderen Männern einsetzt und Männer aller Schichten verbindet (Marly 1989, 103). De Marly unterscheidet »romantic chilvary« als romantische Männlichkeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der »muscular christianity«, der Verbindung von Körpertraining und Christentum in angloamerikanischen Turnerbewegungen der zweiten Jahrhunderthälfte. Der Verknüpfung von Sport, Muskelkraft und Männlichkeit entspricht eine Separierung der Geschlechter und ihrer Beschäftigungen: Der Besuch von Lesezirkeln oder Bällen und überhaupt das Zusammensein mit Frauen – noch im Biedermeier ein akzeptierter Bestandteil der männlichen Lebensführung – scheint in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als »unmännlich« gegolten zu haben.
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2.5 Einschub: Wolle – »Ursprüngliche Akkumulation« und englischer Tuchrock Ausgehend vom englischen Tuchfrack des späten 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Verbindung von Wolle mit Sport und Männlichkeit als Prinzip moderner Männerkleidung. Unter der Überschrift »Helden in Wolle« deutet Anne Hollander die Wolle als Material bürgerlicher Männlichkeit. Die wollenen Tuche der Männermode des späten 18. und 19. Jahrhunderts versteht Hollander als bewussten Rückgriff auf die von Wolle bestimmte Kleidung der demokratischen griechischen Antike (vgl. Hollander 1995, 143–51). Der männlichen englischen Wolle steht die im 19. Jahrhundert effeminierte französische Seide als Material höfischer Eleganz gegenüber. Seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der seidene französische Justaucorps-Anzug schrittweise durch den englischen Frack aus wollenem Tuch verdrängt: »Die essentielle Textur, nicht der oberflächliche Glanz, machten seinen ästhetischen Reiz aus. Das war eine sehr moderne Idee, und sie war nur in einer sehr alten Schneidertradition möglich, die sich auf den Gebrauch von Wolle gründete. Die englischen Schneider waren allen anderen in Bezug auf Schnitt und Sitz wollener Kleidung schon lange überlegen.« (Ebd., 143) Die Reitkleidungen der englischen Landlords avancierten im 18. Jahrhundert in Gestalt des englischen Tuchfrackes zu einer in ganz Europa adaptierten englischen Mode. Tuch wurde nun ebenso häufig getragen wie Seide (Waugh 1977 (1964), 53–54). Die Entwicklung führte zu einem Primat der englischen Herrenschneiderei, welche die Verarbeitung des Tuchs seit Generationen perfektioniert hatte. Erika Thiel betont, dass es sich bei der demonstrativen Schlichtheit der englischen Kleidung aus feinem, kostspieligem Tuch nicht um eine wirkliche Demokratisierung der Mode handelte, sondern um ein neues bürgerliches Mode- und Eleganz-Prinzip: »Wesentliche Teile der neuen bürgerlichen Mode wie der Frack, der hohe Hut und die Stiefel, wie überhaupt die Forderungen nach einer einfacheren und natürlicheren Mode [waren] englischen Ursprungs. Nach der französischen Revolution hieß bürgerliche Mode in England nicht nur Emanzipation von der höfischen Tracht, sondern richtete sich auch gegen alle während der Revolution unternommenen Versuche zu weiterer Vereinfachung der Kleidung. Die neue bürgerliche Eleganz, die nach englischer Auffassung nur noch auf der Qualität der – selbstverständlich englischen – Wollstoffe und dem tadellosen Schnitt der Kleidung beruhte, distanzierte [sich] daher in gleicher Weise nach ›oben‹ und ›unten‹.« (Thiel 1960, 344)
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Die Verwendung von Wolltuch und die mit diesem verbundenen spezifischen Möglichkeiten faltenfreier Modellierung von Körperrundungen durch Einbügeln spielt bei der Entwicklung der schmalen männlichen Taille eine zentrale Rolle. Wie kam es aber zu dieser Spezialisierung der englischen Schneiderei und Textilproduktion und zur Konnotation englischer Männermode mit Wolle? Hollander versteht die modernen Anzüge aus Wolltuch als Nachfahren der Tuchröcke der englischen Landlords und daher als »Apotheose ländlicher Kleidung« (Hollander 1995, 146). Die englische Gentry, die nicht verpflichtet war, sich am Hof aufzuhalten, lebte auf ihren Gütern und entwickelte seit dem 17. Jahrhundert einen ländlich sportlichen Bekleidungs- und Lebensstil. Sportliche Wettbewerbe und vor allem Reiten waren Teil dieses »countrystyle«. Nicht nur im Sattel trug man den englischen Riding coat aus Tuch. Im 18. Jahrhundert entsprach er der roten Uniform der englischen Kavallerie mit gekürzten oder nach hinten geknöpften Rockschößen (Meyerrose 2016, 53). Das Portrait5 des Thomas Fanshawe (1696–1758), 4th of Parsloes Manor,6 zeigt einen Landlord um 1720, der vermutlich einen solchen Tuchrock trägt (Bild 16). Sein Schnitt entspricht dem des französischen Justaucorps des frühen 18. Jahrhunderts. Englisch ist das Fehlen jeglichen Dekors. Als englisches Material war Wolltuch mit der Ablehnung alles Höfisch-Französischen verbunden. So forderte der Protestant Henry Peacham 1622 für die Gentry einfache Kleidung in grau oder »hair color«. Diese Schlichtheit bestand unter Charles I. (1600–1649)7 zunächst darin, »einfache« Wämser und Hosen aus teurem Satin ohne weitere Dekoration zutragen. Diana de Marly begreift diesen schlichten »new look« (Marly 1989, 51) als Vorformulierung schlichter moderner Männermode. Zur Zeit des englischen Bürgerkriegs 1642–1649 und Oliver Cromwells (1599–1658) anti-höfischer Politik ersetzten Tuch und Leder die dem Verständnis der Zeit nach französisch konnotierten Modestoffe aus Seide. So entwickelte sich eine im Vergleich zu Frankreich nüchterne englische Hofkleidung: »The plainness of english astounded foreign visitors, but they represented Protestant Clothing Ethic.« (Ebd., 49–60) In diesem Zusammenhang interessant erscheint der Umstand, dass die Landlords als Protagonisten des »countrystyle« selbst häufig Schafszucht betrieben. In seinem Radio-Essay Das Verhältnis von Kapitalismus und Gewalt befasst sich der Soziologe Wolfgang Streeck mit der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation«, die Karl Marx im 24. Kapitel des Kapitals als geschichtlichen Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise erläutert. Streeck hebt hervor: 5 | Maler: Jonathan Richardson the elder (ca. 1664–1745). 6 | »Manor« bedeutet ursprünglich feudalistische Lordschaft und wurde später zur Bezeichnung von Landbesitz, der dem der Lord das Recht verlieh, Abgaben zu erheben. 7 | Charles I. Stuart regierte ab 1625 bis zu seiner Verurteilung und Hinrichtung 1649 durch die Puritaner um Cromwell während des zweiten englischen Bürgerkriegs.
Die Taille im Fokus
Bild 16 • Portrait des Thomas Fanshawe (1696–1758) um 1720
»Wichtiger [als das Machtgebaren der Feudalherren] aber war für Marx die Einzäunung (enclosure) und Aneignung des mittelalterlichen Gemeindelandes (der commons) durch eine neue Generation des Landadels. Die neuen Landadeligen, auf dem Weg, die ersten Kapitalisten zu werden, erklärten das noch aus germanischer Zeit stammende Gemeindeeigentum der Dorfgemeinschaften für herrenlos und anschließend zu ihrem Privateigentum, um es als Weide für Schafe zu verwenden, deren Wolle bei den Teppichmanufakturen in Flandern Höchstpreise erzielte. Ohne ihre Gemeinschaftsfelder aber verelendeten die Bauern und verließen ihre Dörfer, so dass nun das Land insgesamt von seinen ›Usurpatoren‹ – so Marx – als Schafsweide genutzt oder verpachtet werden konnte.«8 Marx zufolge begann dieser Enteignungsprozess im Mittelalter und war im 17. Jahrhundert abgeschlossen. Er stand in Verbindung mit der Aneigung von Landbesitz der katholischen Kirche durch den englischen Thron, weswegen Marx auch 8 | Zitiert nach einer Tonaufnahme der Sendung »Essay und Diskurs«, 20. 11. 2016, Radiosendung Deutschlandfunk.
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Bild 17 • Habit carée – »La Réponce Incroyable« 1797
vom »protestantischen Geist« der »ursprünglichen Akkumulation« spricht (Marx 2013 (1890), 748–49 sowie Fußnote 197, 749). Die englischen Landlords trugen wollene Tuchröcke und trugen insofern das Material, das sie selbst produzierten. Der Tuchrock repräsentierte ihre Unabhängigkeit vom Hof in London durch Landbesitz und Schafzucht. Wollstoffe wie Tuch und später Tweed scheinen daher prädestiniert zur Demonstration einer »protestantischen« Würde, die nicht ausschließlich an einen adeligen Stammbaum, sondern – wie später die des kapitalistischen Bürgertums – an den Besitz von »Produktionsmitteln« (Marx 2013 (1890), 742) gebunden ist.
2.6 Habit carré und Capote de guérite – Vorformen des Sakkos? Im frühen 19. Jahrhundert kam ein gerade und weit geschnittener Mantel in Mode, der in der zeitgenössischen Modepresse als »paletot sac« bezeichnet wurde und im Kontext der Begradigung der männlichen Taille als unmittelbare Vorform des ebenfalls gerade geschnittenen Sakkos zu verstehen ist. Mit dem Sackpaletot kam eine pragmatische Passform in Mode, die zuvor die Arbeitskleidung der Unterschichten gekennzeichnet hatte: »Der sackartige Schnitt war ja seit jeher – denken wir an den Bauernkittel des Mittelalters, die Carmagnole der Sansculotten – das typische Kennzeichen der Kleidung der arbeitenden Schichten.« (Thiel 1960, 417) Insbesondere die lose geschnittene Wetterjacke der Matrosen und Fischer wird in zeitgenössischen Quellen als Ursprung des sackförmigen Paletots benannt.
Die Taille im Fokus
Solche in England als »slop« bezeichneten simplen und meist ungefütterten Joppen waren ein gängiges Produkt der frühen Konfektion. Die Lobby der Maßschneider lehnte den Sackpaletot aufgrund seines geringen sozialen Prestiges wegen seiner Eignung als Konfektionsartikel vehement ab. Eine Karikatur von 1797 zeigt die Begegnung des englischen Botschafters in Paris, der einen englischen Tuchrock trägt und eines anscheinend anglophilen Incroyablen gekleidet in einen »habit carré« (Bild 17). Kritisiert wird hier jedoch nicht (oder zumindest nicht direkt) das Verhalten des Incroyablen, der seinen Bekannten begrüßt und sich nach dessen Befinden erkundigt. Der Titel »Reponce incroyable« (unglaubliche Antwort) bezieht sich vielmehr auf das umständlich reservierte Gebaren des Engländers, der erklärt, die Frage nach seinem Befinden erst nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten in London beantworten zu können.9 Der »habit carré« besteht aus Redingote,10 Weste und Stiefelhose. Nach den Angaben eines französischen Online-Lexikons (Ortolang 2012) bezeichnet »la carré d’un habit« den eckig-quadratisch geformten Rumpf einer Jacke (»le haut de la taille d’un habit«). Die eckigen Konturen und die gerade weite Passform der kragenlosen »redingote carrée« sind in der Karikatur gut zu erkennen. Die Kleidung des Incroyablen zeigt, dass der Sackpaletot nicht die erste modische Verwendung der geraden Form darstellt. Im subkulturellen Modeverhalten der Incroyablen der 1790er Jahre diente der »habit carré« mit kastenförmig geschnittener Jacke der Abgrenzung gegen gängige Schnittmuster und Passformen der konformen Männermode. Eine andere mögliche Vorform des Sakkos ist die »Capote«, womit neben der Redingote auch andere weit geschnittene Formen bezeichnet wurden. Dazu zählt ein weit und gerade geschnittener militärischer Wettermantel, der häufig mit einer kurzen Schulterpelerine getragen wurde und im Feld, zu Pferde oder beim Wachdienst vor Regen und Kälte schützen sollte. Die französische Bezeichnung »capote de guérite« leitet sich von der »guérite«, dem hölzernen Wachhäuschen vor Palästen, Stadttoren oder Kasernen ab. In Histoire de ma vie (erstmals erschienen 1855) beschreibt George Sand (1804–1876) eine Form des Sackpaletots, die sie als »redingote-carrée«, »redingote-guérite« wie auch als »redingote à la propriétaire« (sinngemäß: »nach Art eines Gutsbesitzers«) bezeichnet. Ab 1831 lebte George Sand in Paris und hatte kaum Geld für Kleidung. Ihre Mutter riet Sand, die bereits in ihrer Kindheit Knabenkleidung getragen hatte, sich als Mann zu kleiden. Sand wählte die eckig-gerade geschnittene Mantelform (»redingote carrée«), die ihr die Möglichkeit der Verhül9 | Originaltext: »1. Bon jour Mylord! Je suis charmé de vous voir à Paris, comment vous portez-vous. 2. Je vous suis obligé de votre graçieuse demande, mais ne pouvant répondre de moi-même, je vais dépècher un courier à Londres et à son retour, je saurai la réponse que je dois vous faire.« 10 | »Redingote, die (von engl. riding coat ›Reitmantel‹), um 1800 auch Capote genannt. Englischer Reitmantel des Herrn im 18. Jh., der 1728 erstmals in Frankreich erwähnt […] und zu ›R.‹ umgewandelt wurde. Die R. war stets zweireihig […] mit vollen vorn übereinandergeschlagenen Schößen. […] Die R. wurde über dem Justaucorps bzw. Habit getragen.« Loschek 1994 (1987), 390.
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lung ihrer Körperform bot: »Les hommes portaient de longues redingotes carrées, dites à la propriétaire qui tombaient jusqu’aux talons et qui dessinaient si peu la taille que mon frère, en endossant la sienne à Nohant, m’avait dit en riant: Ce très jolie cela n’est-ce pas? C’est la mode et ça ne gêne pas. Le tailleur prend mésure sur une guérite […].«11 Sand beschreibt die »redingote-carrée« als weites, stoffreiches Kleidungsstück, das ohne Gürtel getragen wird (»vêtement ample, non cintré«). Fortan trug Sand eine solche Redingote statt einer Jacke direkt auf der Weste. Sand schwärmt, wie sehr ihr die Verschleierung ihres Geschlechts geholfen habe, gut zu Fuß zu sein und sich in der Öffentlichkeit frei bewegen zu können.12 Bevor sackförmige Passformen in Mode kamen, galten sie als Kleidung für körperliche Arbeit und militärischen Dienst im Freien. Aufgrund ihres Bewegungskomforts und ihrer Tauglichkeit für den bürgerlichen Berufsalltag hielt die gerade, sackförmige Passform im 19. Jahrhundert Einzug in die Männermode. Das Sackjackett wurde bis Ende des Jahrhunderts zur bestimmenden Form des Tagesanzugs.
Bild 18 • Capote der schwedischen Armee (Grenadier Regiment) um 1800 11 | »Die Männer trugen lange redingotes carrées à la propriétaire, deren Säume bis auf die Absätze hinunter reichten und die Taille derart wenig markierten, dass mein Bruder, seine […] überziehend lachend sagte: »Schön nicht? Das ist jetzt Mode und engt nicht ein. Der Schneider hat wohl die Maße eines Wachhäuschens genommen […]«. (Eigene Übersetzung). Vgl. http://george.sand.pagesperso-orange.fr/costume.html. 12 | Vgl. Sand 2019 (1856).
3 Schneider formen Körper 3.1 Mass- und Zuschnitt-Systeme als »Hauptfactor« der Mode Die mit dem kanonischen Maßsatz des fiktiven »Normalkörpers« verbundene Berechnung von Maßen zur Schnitterstellung veranschaulicht die Abstrahierung des Körpers in der mathematischen Schnittkonstruktion, die moderne Entwicklungen wie die Standardisierung von Größen einleitete und »normale« Passformen hervorbrachte, die allen Körpern einigermaßen und doch keinem wirklich genau entsprachen. Den »normalen« Proportionen immanent ist die Differenz von Brust und Taille, die nach meiner Auffassung durch das Prinzip der Körper-Korrektur mit der Mode der schmalen Taille verbunden ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Taille – unabhängig von ihrer jeweils modisch aktuellen Kontur – aus der Kombination von »normalen« Proportionen mit spezifischen, auf das Kleidungsstück selbst bezogenen und modebedingt wechselnden Maßen hervorgeht. Mit dem Niedergang des Ancien Régime im späten 18. Jahrhundert endeten auch die Zunftgesetze. Gewerbefreiheit und Industrialisierung der Kleidungsproduktion lösten eine umfassende Neustrukturierung des Schneiderhandwerks aus. Dazu zählte die Systematisierung der Maß- und Zuschnitt-Systeme durch die mathematische Schnittkonstruktion. Das Neue waren Maßangaben in Zahlen sowie die mathematische Berechnung aller Maße zur Schnitterstellung. Ab dem späten 18. Jahrhundert erschienen zahlreiche Lehrbücher zur mathematischen Schnittkonstruktion. Ihr Aufbau war stereotyp. Die Vorreden gleichen theoretischen Lektionen, die Schnittkonstruktion als wissenschaftliches Studienfach mit Verbindung zu Anatomie, Physiognomie, Geometrie, akademischer Kunst und Ästhetik propagieren.1 Auf den theoretischen folgte der praktische Teil mit Anleitungen zum Erlernen 1 | Da Kleidung und Mode mehr und mehr als »weibliche« Domäne galten, pochten die Schneider auf wissenschaftliche Exaktheit der Schnittkonstruktion und damit ihrer Profession. 1853 polemisierte Klemm gegen die »Fachgenossen«, die sich nicht darum kümmerten, ob ihr Zuschnitt »sowohl allen Eigenthümlichkeiten des zu bekleidenden Körperbaus, als den Anforderungen des herrschenden Geschmacks, sowie den individuellen Ansichten des Kunden, endlich aber auch der Beschaffenheit des zu verarbeitenden Stoffes entspricht. Oft stundenlang mit dem Zuschnitt eines Anzugs sich abquälend […] lassen dergleichen Fachgenossen die […] wissenschaftlich durchdachten Zuschnitt-Systeme unbeachtet.« EM 1853, J 3, N 4, 4.
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der in der betreffenden Publikation vorgestellten Maß- und Zuschnitt-Methode. Ein ungeplanter Effekt der Veröffentlichungen war der Wissenstransfer von der Maßschneiderei in die Konfektion. Durch ungehinderten Zugang und Verbreitung ihrer Details beeinflussten die Systeme die Modeproduktion auch außerhalb der Maßschneiderei. In einem seiner »Handbücher« schrieb Heinrich Klemm2 1856 über den Zusammenhang von mathematischer Schnittkonstruktion, Mode und Geschmack: »Das Studium der technologischen Literatur des Bekleidungsfaches und der Geschichte des Costüms würde […] ein treffliches Bildungsmittel für den jüngeren Fachgenossen abgeben, dessen Lebensberuf vor Allem einen feingebildeten Geschmack, ein gewisses ästhetisches Gefühl in der Wahl und Zusammenstellung der Kleidung […] umso mehr erfordert, als die Mode […] mehr und mehr jenen despotischen Charakter der früheren Zeiten verliert, dagegen dem Geschmacke des Einzelnen immer freieren Spielraum gestattet in der Wahl der Formen und Farben, daher auch die Aufgabe des Kleidermachers zwischen sonst und jetzt kaum noch zu vergleichen ist.« (Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär, Einleitung zur 10. Auflage, abgedruckt in: EM 1856, J6, N 7, 2–4) Wenn Klemm von »individuellem Geschmack« spricht, meint er nicht nur die Kunden, sondern bezieht sich auch auf die Schneidermeister seiner Zeit, die durch geschmackliche und handwerkliche Expertise in die Modeentwicklung steuernd eingriffen. Die Kompetenz der Schneider in Fragen der Mode gründe auf dem Selbstverständnis, selbst »Kleiderkünstler«, also schöpferische Kreateure der Mode zu sein und durch mathematische Konstruktion der Schnittmuster und Proportionen den Geist der Männermode zu bestimmen. Entsprechend bezieht Klemms höhnische Kritik an den »Fachgenossen« des 18. Jahrhunderts ihre Schärfe aus dem Fehlen mathematischer Zuschnitt-Methoden in dieser Epoche. Da noch kein »sicheres Maßsystem« vorhanden war, sei die Passform des 18. Jahrhunderts eine Sache des »Zufalls« und des »Augenmaßes« der Schneider gewesen. Man habe sich mit der »äußeren Verzierung« der Kleidung beschäftigt, statt an der Schnitt-Technik zu feilen. »Kein Wunder, dass die damaligen Röcke oder Fracks den männlichen Körper zu einer wahren Karikatur stempelten.« Der nun anachronistisch gewordenen »äußeren Verzierung« als Modemerkmal des Ancien Régime stellt Klemm den Zuschnitt als neues modernes Eleganz-Prinzip gegenüber gemäß seiner Überzeugung, dass die »mathematische Zuschneidekunst« der »Hauptfactor der Mode« ist. Mit der Verzahnung von Mode und Schnitt2 | Heinrich Klemm (1819–1886) war Schneidermeister und Verfasser einflussreicher Lehrbücher zum Zuschnitt nach der Reduktionsmethode. Gemeinsam mit seinem Kollegen Gustav Adolf Müller (1818– 84) gründete er 1851 die »Europäische Modenakademie« in Dresden und gab ab 1852 die Europäische Modenzeitung heraus.
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konstruktion eng verbunden war die Vermeidung von Falten als zentralem Ziel der Herrenschneiderei.
3.1.1 Indirekte Maßkonstruktion Die in der mathematischen Schnittkonstruktion vorherrschende Verwendung berechneter Maße bezeichnete Heinrich Klemm 1858 als »indirecte Maßcon struction«. Die Methode arbeitet mit berechneten Maßen und verwendet Direktmaße buchstäblich »indirekt« zur Klassifizierung des Körpers, zur Bestimmung von Kleidergrößen und zur Korrektur bereits vorhandener Schnittmuster. Sie stand im Gegensatz zu der eher seltenen »directen Maßconstruction« (Klemm 1874, 5–6), bei der die am Körper genommenen Direktmaße zur Schnittaufstellung selbst eingesetzt wurden. In den Texten der Schneider bedeutet »Körper« grundsätzlich bekleideter Körper. Entsprechend wurden Maße am bekleideten Körper genommen. Diese »Direktmaße« dienten lediglich einer Vorstufe des Zuschnitts: der Zuordnung des Körpers 1) zu einem der Größe nach passenden Fertigschnittmuster im 18. Jahrhundert, 2) zu einem halben Brustumfang im Sinne einer Größe und 3) zu einer Konformations-Klasse im 19. Jahrhundert. »Größe« bezeichnet die Körperhöhe sowie die Stärke eines fiktiven standardisierten Normkörpers, dessen Maße ausgehend von einem der halben Brustumfänge von 24 bis 60 cm berechnet wurden. »Konformation« bezeichnet eine typisierte Körperform im Sinne einer spezifischen Differenz des »Wuchses« und der Haltung des Körpers von den »normalen« Proportionen. Die Klassen dienten dazu, die Individualkörper nach ihrer Differenz zum »normalen« Proportionsschema zu sortieren. Jeder dieser Konformationen war ein mathematisch berechneter Maßsatz – eine vollständige Auflistung aller zum Zeichnen des Schnittmusters notwendigen Maße – sowie eine Reihe standardisierter Grundschnitte für gängige Kleidungsstücke der männlichen Garderobe zugeordnet. Die berechneten Maßsätze wurden heutigen Konfektionsgrößen vergleichbar in Maßtabellen systematisiert. Es waren also nicht individuelle sondern standardisierte Konformations-Maße, die zur Schnitterstellung verwendet wurden. Das Verfahren zielte darauf, den Körper durch Bekleidung dem »normalen« Proportionsschema soweit wie möglich anzugleichen.
3.1.2 Standardisierte »Individualität« Durch »verbesserten« Zuschnitt und in Kombination mit einer erweiterten Produktpalette – »Gehröcke, Fracks, Paletots, Twinen, Burnus, Mäntel, Jaquetten« (Klemm 1858, 8–9) – ermöglichte die mathematische Schnittkonstruktion, was zu Klemms Zeit unter »individueller Anpassung« der Kleidung an »Körperbau«, »Persönlichkeit« und Komfortbedürfnisse verstanden wurde. Es sei die Pflicht der Kleidermacher, nicht nur passende Kleidung zu liefern, sondern sie auch »streng
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mit der Individualität des Trägers, mit seiner ganzen äußern Erscheinung, seinem Alter und seiner gesellschaftlichen Stellung in Uebereinstimmung zu bringen« (EM 1858, J 8, N 6, 2). Voraussetzung dieser »Individualisierung« war die Ausrichtung der Schnittmuster an den unterschiedlichen »Bauarten« des Körpers. Die Diversität der Grundschnitte wie auch eine im Vergleich mit dem 18. Jahrhundert erweiterte Garderobe bot die nötigen Spielräume, eine an Körperform, Alter, Beruf und sozialem Status ausgerichtete Nomenklatur standardisierter vestimentärer »Individualitäten« zu schaffen. Wie sich an der Akribie ablesen lässt, mit welcher der Wuchs von Knaben, junger, mittelalter und älterer Männer unterschieden wurde, war die Differenzierung der Altersstufen ein wesentlicher Teil der Klassifizierungs-Praxis in der Herrenschneiderei. Durch Zuordnung der altersbezogenen Konformationen zu unterschiedlichen Anzug-»Genres«3 setzte sich die Klassifizierung auch nach dem Herstellungsprozess in der – vom Schneider durch individuelle Beratung gesteuerten – Auswahl der Kleidung fort. Die Unterschiede des Körperbaus eines »hübsch gestalteten Knaben« im Vergleich mit einem »wohlgestalteten Mann« gestatteten es nicht, »Kleiderschnitte« für erwachsene Männer lediglich maßstäblich zu verkleinern, denn dann würde man »aus dem Kinde gleichsam einen Erwachsenen im verjüngten Maßstabe« machen und dadurch gegen den »natürlich gefundenen Sinn« wie gegen den »guten Geschmack verstoßen«. Erstaunlich konkret sind die Vorgaben der Anpassung der Kleidungsstücke und damit der Mode an die Altersklassen, so 1834 in Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur. Der Autor und namhafte Pariser Schneider Fulerand-Antoine Barde (1779–?) gibt Längen für Fracks und Gehröcke nach der aktuellen Mode in Zentimetern pro Altersklasse vor: Für die Körperhöhe von 153 cm eines Zwanzigjährigen sollte die Länge 92 cm, für einen Dreißigjährigen 94, für einen Vierzigjährigen 96, für einen Fünfzigjährigen 101 und bei über siebzig Jahren 105 cm betragen. Schreibt eine Mode längere Säume vor, sei es im Ermessen des Schneiders, wie mit den Saumlängen umzugehen ist (Barde 1834, Livre II, 69).
3.1.3 Maskuline Konnotation des Zuschnitts Mit Zuschnitt und Passform erhoben die Herrenschneider ihr eigenes Arbeitsfeld zum zentralen Modethema. »Schneider« kommt von »schneiden«. Wie Kerstin Kraft ausführt, schlossen sich schon die Schneiderzünfte des Mittelalters »als Schneider zusammen, nicht als Kleidermacher oder Näher. Die englischen und französischen Begriffe ›tailor‹ oder ›tailleur‹ zeigen dieselbe Verbindung der Berufsbezeichnung mit dem Verb ›schneiden‹. Auch die Bezeichnungen ›cissori‹ oder der Gildenname ›Fraternitate Cissorem‹ finden sich noch in dem englischen und französischen Wort für ›Schere‹.« (Kraft 1997, 23) 3 | Vgl. 4.4.
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»Couturier« oder »Couturière« – im Französischen im Sinne von Damenschneider*in gebraucht – ist abgeleitet von »coudre« (nähen) und »la couture« (die Naht oder das Nähen). Der Begriff bezeichnet die von »Ungelernten« (nicht von einem Zunftmeister ausgebildeten) Modistinnen und Näherinnen geleistete Feinarbeit mit der Nadel. Auch die »Haute Couture«, die keinesfalls auf Nähen und Drapieren reduzierbar ist, bezieht sich begrifflich auf die Expertise des gehobenen Nähens. Sie begann um 1850 als reine Damencouture mit Charles Frederick Worth (1826–1895), der sich bezeichnender Weise eben nicht »tailleur« sondern »couturier« nannte, obwohl er komplexe Schnittführungen für Kleider entwickelte, so die Küraßtaille, die den gesamten Oberkörper bis über die Hüften eng umschloss. In der Unterscheidung von »couturier« oder »couturière« und »tailleur« wird die geschlechtliche Trennung von männlichem Schneide(r)n und weiblicher Nadelarbeit wirksam. Folglich bezogen Lehrbücher zum Zuschnitt für Herrenschneider lediglich die Genres der Frauenkleidung ein, die sich wie Reit- und Straßenkostüme direkt aus der Herrengarderobe ableiteten oder, wie bei Mädchenkleidung, Kenntnisse zu Größensystemen und altersbedingten Unterschieden des Körperbaus erforderten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfasste die mathematische Systematisierung des Zuschnitts auch die Damenschneiderei. Bis heute unterscheidet sich die Herren- von der Damenschneiderei durch ihre Fokussierung auf die mathematische Schnittkonstruktion. Dass diese Trennung der Schneiderei sich um 1820 bereits vollzogen hatte, zeigt eine Bemerkung Johann Samuel Bernhardts, Damenschneider mit zusätzlicher Ausbildung zum »Mannsschneider«, in der »Vorrede« zum »Zweiten Theil« seines Zuschnitt-Systems: »Als Damenschneider würde ich es nicht wagen, die Grundsätze der Bekleidung des männlichen Körpers aufzustellen, weil sich alles, was man darüber sagen kann, aus Erfahrung herleiten lässt; allein da ich nicht nur als Mannsschneider gelernt, und in diesem Fache ununterbrochen gearbeitet, sondern auch noch einige Jahre als Meister mir praktische Kenntnisse erworben habe, so glaube ich die darüber gesammelten Bemerkungen hier mittheilen zu dürfen.« (Bernhardt 1820, 3)
3.1.4 Ökonomie des Stoffverbrauchs Ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung des Zuschnitts war die Ökonomisierung des Stoffverbrauchs, denn die Stoffe des 18. Jahrhunderts – und mehr noch der Epochen davor – waren kostspielig. So sind die Schnitt-Teile möglichst raumsparend in die Stoffbahn eingezeichnet, zu sehen beispielsweise in Juan de Alcegas 15694 veröffentlichtem Libro de geometria practica y traça. Die seit dem 15. Jahrhundert fortschrei4 | Marita Bombek zufolge erschien die Erstausgabe 1569, die 2. Auflage 1589. Vgl. Bombek 2005 (1994), 407.
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tende Fragmentierung der Kleidungstücke in immer mehr Schnitt-Teile ermöglichte zudem die Kombination verschiedener Stoffe und die Verwendbarkeit kleinster Stoffreste. Die Entwicklung der Maß- und Zuschnitt-Systeme folgte also neben ästhetischen auch ökonomischen Zielen. Im späten 18. und 19. Jahrhundert hoffte man, sich durch Verbesserung des Zuschnitts vor den oft hohen finanziellen Verlusten durch »verpfuschte« Kleider schützen.5 Vorbilder der mathematischen Schnittkonstruktion, die sich schließlich im frühen 19. Jahrhundert entwickelte, waren Verfahren der seriell produzierenden Uniformschneiderei des 18. Jahrhunderts, die unter extremsten Sparzwängen entwickelt wurden. Ökonomisierung der Herstellungsprozesse war ein Motor der Entwicklungen im Zuschnitt, wenn nicht die Rationalität des ökonomischen Umgangs mit dem Material überhaupt ein übergeordnetes Leitmotiv der Herrenschneiderei des 19. Jahrhunderts ist.
3.2 Apoll in Hemd und Gilet – 48 cm »normaler« halber Brustumfang + 2 cm Stoff und Watte Die mathematische Schnittkonstruktion beeinflusste den Gang der Mode, indem sie mit dem »Normalkörper« eine übergeordnete Proportions-Norm etablierte. »Normal« meint jedoch nicht einen statistischen Durchschnitt, sondern ein fiktives Proportions-Schema, dem die Maße antiker Apollon-Statuen zugrunde lagen. Insofern ist der »Normalkörper« die Übertragung des auf den nackten Männerkörper bezogenen klassischen griechischen Körperkanons auf den bekleideten Körper: »Die Standardisierung des Körpers begann vor knapp zweieinhalb Jahrtausenden mit dem griechischen Bildhauer Polyklet.« (Hersey 1998, 62) Das kanonische Proportionsschema der griechischen Klassik mit sieben Kopflängen ist der Ausgangspunkt des »Normalkörpers«. Der griechische Begriff »Kanon« bezieht sich auf ein als Maßstab verwendetes Schilfrohr mit Einkerbungen und damit direkt auf Praktiken der Proportionsbestimmung (Hersey 1998, 61). Die klassische griechische Proportion als Verhältnis von Brustpunkt, Nabel, Knie und Ferse wird nach Kopflängen ermittelt. Die Schneider jedoch, denen es mit der Umsetzung dieses Körperkanons in Schnittmuster ernst war, entwickelten einen Kanon des bekleideten männlichen Körpers basierend auf einem Umfangmaß, indem sie nach der Proportionalmethode sämtliche kanonischen Proportionen, auch die Längenverhältnisse des »Normalkörpers«, aus dem halben Brustumfang errechneten. Auf den »normalen« Maßverhältnissen und Proportionen basierten alle Systeme der mathematischen Schnittkonstruktion. Zweck des Zuschnitts nach dem Normalsystem war nicht 5 | »Unser Gewährsmann erzählt, wie gar mancher damals berühmte Meister […] ganze Niederlagen mit total verpfuschten Kleidern angefüllt, die den Wert von mehrern tausend Pfund Sterling gehabt, […] für Personen von kleinerem Wuchse zurechtgemacht und verwerthet habe.« EM 1856 N 7, 4.
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die Anpassung von Kleidungsstücken an die individuelle Körperform, sondern die Angleichung der Körper an den »Normalkörper« durch Bekleidung, deren Schnitt auf den »normalen Proportionen« basiert. Ausgangspunkt der Berechnung »normaler« Proportionen war der halbe Brustumfang des »Normalkörpers«: 48 cm. Dieses Basismaß aller proportional berechneten Maße bezieht sich jedoch nicht auf den nackten sondern auf den bekleideten Apoll. Klemms Ausführungen ist zu entnehmen, dass den 92 cm Brustumfang der Apollon-Statue 4 cm Stoffschichten hinzugerechnet wurden:
Bild 19 • »Normalkörper« des Apoll in Zentimetern, nach Klemm 1858
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»Noch verweise ich auf […] Fig. 3, welche den unbekleideten Körper eines ganz wohlgestalteten und völlig ausgebildeten Mannes darstellt, an welchem zugleich die normalen Maßverhältnisse eines solchen Körpers dargestellt sind, wie sie sich ohne Bekleidung herausstellen. Die ganze Oberleibweite beträgt über dem nackten Körper 92 Centimeter; mit Hemd und Gilet bekleidet würden aber 96, also die normale halbe Oberweite von 48 Centimetern herauskommen. Ebenso ist’s bei den übrigen Maßverhältnissen. Diese anatomisch genau ausgeführte männliche Gestalt ist nach der berühmten antiken Statue des Apollo im Louvre zu Paris gezeichnet, ein Kunstwerk, welches in Bezug auf anatomische Genauigkeit der Verhältnisse und Schönheit der Formen so große Bewunderung erregt.« (Klemm 1858, 64–65) Wie beschrieben wurde die Proportions-Norm »Normalkörper« an Proportionslehren der akademischen Kunst ausgerichtet und in Modekupfer, Schneiderpuppen und Maßlinien-Mannequins der Lehrbücher umgesetzt. Doch kaum ein realer Körper entsprach der »normalen« Proportion und Symmetrie. Wesentlicher Zweck des Zuschnitts von Kleidung nach »normalen Proportionen« war daher die Korrektur von Schulterlinien, Taillenhöhen, Brustbreiten oder Rückenrundungen nach den Vorgaben des »Normalkörpers«: »An die Stelle des aufwendigen Maßnehmens tritt die ideale Proportion des Apoll.« (Klemm 1858, 64–65) In seinem 1834 erschienenen Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur bezog sich F. A. Barde auf einen Apollon, den er persönlich mit dem von ihm um 1810 eingeführten Zentimetermaßband vermessen hatte und der im Anhang mit zugehörigem »normalen« Maßsatz abgebildet ist. Es scheint sich um dieselbe Statue zu handeln, die Klemm später in mehreren Ausgaben seines Systems als Nachzeichnung abbildete, nicht ohne dem Apollon Frisur und Bart im Stil seiner Gegenwart zu verpassen (Bild 19). Noch 1893 sind die »Normalproportionen« des Apollon gültig: »Taillenlänge 48 cm [Schulter bis Taille] · Oberweite [Brustumfang] 96 cm [halber Brustumfang 48 cm] · Unterweite [Taillenumfang] 80 cm Seitenlänge [Hosenbein aussen] 109 cm · Schrittlänge [Hosenbein innen] 86 cm Länge des Körpers 7 1/2 Kopflängen« (Mottl 1893, 130–31, 138).
3.2.1 Mode nach »normalen« Proportionen Die »Oberweite« entspricht dem Brustumfang, die »Unterweite« dem Taillenumfang, gemessen auf der jeweils von der Mode vorgeschriebenen Höhe am Körper, die erheblich von der anatomischen Taille abweichen kann. Bei Barde wie bei Klemm und Mottl beruhen die normalen Proportionen auf dem halben Brustumfang von 48 cm. Wie von Klemm präzise beschrieben, ergab sich das Maß aus der Halbierung der 96 cm des ganzen »normalen« Brustumfangs, der wiederum aus der Addition der 92 cm BU des Apoll plus 4 cm Stoff und Watte resultierte. Der »normale« halbe
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Taillenumfang betrug 40 cm und ergab die »normale« Differenz von 8 cm zum halben Brustumfang von 48 cm. Die Höhe der Taille wurde 48 cm unterhalb der Schulter festgelegt. In der Schneiderfachsprache wurde diese Strecke als »normale Taillenlänge« bezeichnet. Sie entspricht der Regel, dass halber Brustumfang und Taillenlänge beim »Normalkörper« identisch sind. Beide betragen 48 cm und bilden
Bild 20 • »Normalkörper«: 48 cm halber Brustumfang und tiefe Taille 1852
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insofern ein Quadrat. Alle Abweichungen von der »normalen« Taillenhöhe – und somit auch der Brust-Taille-Differenz – sind also modisch bedingt. Die modisch jeweils gültige Höhe der Taille wird mittels eines gesonderten Maßes, der »verlängerten Taille«, berechnet. Wo die Taille sitzt, wird also zentimetergenau festgeschrieben. Der Betrag beziffert eine modisch bedingte Abweichung von der »normalen« Taillenlänge und kann insofern nur von dem Schneider exakt reproduziert werden, der nach dem Normalsystem arbeitet. Insofern sind die Proportionen der Mode – wenngleich als »Abweichung« – direkt auf den »Normalkörper« bezogen. Bis in die späten 1850er Jahre war die »normale« taillierte Kontur das zentrale Merkmal der Männermode. Dass dabei der Richtwert von 8 cm nicht an jedem Körper starr eingehalten wurde, wird zwar seltsamerweise in keiner der mir bekannten Quellen thematisiert, ergibt sich aber logisch aus der Erklärung Klemms, dass die hinzugerechneten 4 cm Stoff und Watte auf Hemd und Gilet bezogen sind. Die modebedingt wechselnde Stärke der Stoff- und Watteschicht der Jacke müsste folglich die Differenz zur Taille erhöhen. Modekupfer, Modelle und Schnitte basierten zwar auf dem Proportionsschema des »Normalkörpers«, jedoch auch auf zusätzlichen modebedingt wechselnden Maßen, welche die Partien der Kleidungsstücke bestimmten, die sich – wie beispielsweise Saumlängen – nicht direkt aus dem Normalkörper ergaben. Dazu gehört die erwähnte »verlängerte Taille«. Mit diesem Maß wurde der Abstand der Taillen-Linie zur Schulter bestimmt. Die modebedingte Variabilität dieses Maßes ermöglichte die Bewegungen der Taille, so auch ihr Absinken nach 1839. Von 1852 datiert das Bild eines fiktiven Herrn im hochmodischen Rockjackett mit den 48 cm des »normalen« halben Brustumfangs (Bild 20). Die Figur entspricht einem Modell des »normalen« Wuchses kombiniert mit einer modebedingt vertieften Taille: Die »dem Schnitte zugrundeliegende Körperconformation [lautet] schlanker gut gebauter Mann« (EM 1852, J 2, N4). Noch immer kennzeichnet den männlichen Modekörper eine sichtbare Differenz von Brust und Taille, die durch die Tailleneinbiegung und die Wattierung der Brust des zweireihigen, vorn geschlossen getragenen Rockjacketts akzentuiert wird. Der verlängerten Taille folgend scheint auch die wattierte Rundung der Brust leicht abgesunken oder zumindest bis zum Ende der Rippen auf Höhe des dritten Knopfpaares verlängert. Was aber, wenn der Kunde einen Bauch hatte? Durch ihre Klassifizierung konnten solche vom »Normalkörper« abweichenden Konformationen in das Normalsystem einbezogen werden, indem ihnen eigens erstellte Grundschnitte zugeordnet wurden. Auch bei großer Leibesfülle war es noch möglich, durch eine Tailleneinbiegung im Rückenteil die »normale« Differenz von Brust- und Taillenumfang zumindest anzudeuten. Ein Beispiel ist der »anschließende Winterrock für eine dicke Person« mit einem deutlichen Taillenknick der Rückenpartie (EM 1851, J 1, N 10).
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Bild 21 • »Anschließender Winterpaletot für eine dicke Person« 1851
3.3 Massnehmen auf bekleideten Körpern Bei der Messung auf Kleidung ergaben sich Meßpunkte aus Kreuzungspunkten von Nähten, aus Knopfleisten und Positionen der Taschen. Vermessen wurden die Längen, Breiten und Weiten des Kleidungsstücks, wie sie sich am Körper darstellten. Zur Herstellung von Jacken und Mänteln wurde bevorzugt »über dem Rock« gemessen, da die Weste zu wenig Anhaltspunkte für das Messen der Taillenlänge und der Rückenbreite bot (Mottl 1893, 121). In den 1830er Jahren – und vermutlich auch später – wurden die Stellpunkte mit Kreide direkt auf die beim Messen getragene Kleidung gezeichnet. In den Directions to take the measure George Walkers von 1838 findet sich ein Mannequin bekleidet mit einer Jacke nach der Mode der Zeit:
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der Kragen ist hoch, die Brust wattiert, die Taille sanduhrförmig. Auf der Jacke sind Meßlinien gezeichnet, die den Konturen des Kleidungsstücks folgen. Der korrekte Sitz der Jacke war eine Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche Messung »near to the size required«. Sie sollte zugeknöpft und so justiert sein, dass ihr Brustpunkt sich auf der gewünschten Höhe befand. Zunächst wurde der Wirbelpunkt am oberen Ende der Rückennaht getastet und mit Kreide auf dem Stoff markiert, um die Rückenlänge von dort bis zur Taillennaht zu messen. Dann wurde das Maßband an dem Punkt angesetzt, wo die Ärmelnaht auf das Rückenteil trifft und quer über den Rücken gemessen. Wo diese Querlinie die Rückennaht kreuzt, wurde ebenfalls eine Kreidemarke gesetzt. Nach dieser Methode wurden alle nötigen Maße vom Kragen bis zur Schoßkante gemessen (Shep 2001, 12). Beim Messen auf Kleidung bestand allerdings die Gefahr, dass sich modisch veraltete oder »fehlerhafte« Proportionen der beim Maßnehmen getragenen Kleidungsstücke in die Schnittzeichnung übertrugen. Bereits 1834 vertrat Barde die Ansicht, dass ein »wirklich guter« Schneider sich bei der Schnitterstellung nach den Proportionen des bekleideten Körpers und nicht nach denen der Kleidungsstücke zu richten habe. Mit Körper meinte Barde jedoch nicht etwa die individuelle Körperform, sondern die zu ihr passende Konformation und den zugehörigen vorgegebenen Maßsatz. Er empfahl, bei der Schnitterstellung grundsätzlich von den Konformations-Maßen auszugehen und nicht etwa von den Positionen der Nähte der beim Maßnehmen getragenen Kleidung (Barde 1834, Livre II, 83). »Das Straffziehen des Maßes beim Anlegen ist nothwendig, weil es über dem Rocke genommen wird, namentlich wenn dieser […] wattirt sein sollte.« (Klemm 1858, 4) Das Straffziehen des Maßbandes ist ein Leitmotiv in Klemms Anleitungen zum Maßnehmen. Es stellt sich dar als Kampf mit Watte, Stoff und Falten, durch deren Schichten hindurch zum physischen Körper vorgedrungen werden sollte. Im Vergleich mit der George Walkers zwanzig Jahre zuvor zeigt Klemms Methode einen Zuwachs des Interesses an den Maßen des Körpers unter der Kleidung. Und doch blieb es im gesamten 19. Jahrhundert beim Maßnehmen auf Kleidung.6 Diese Kontinuität erklärt sich aus der beschriebenen Funktion der Kleidung, die Proportionen des »Normalkörpers« auf den individuellen Körper zu übertragen, ihn also überhaupt erst zu konstituieren. Auf dem nackten Körper zu messen, ergab in diesem Kontext keinen Sinn.
3.4 Entwicklung der Mass- und Zuschnitt-Systeme Seit dem 15. Jahrhundert wurden Kenntnisse des Maßnehmens, des Nähens, der Handwerksordnung sowie des Zuschnitts offiziell als Prüfungskategorien der Prüfung zum Schneidermeister (»Materie«) eingeführt. Aufgabe der Meister war 6 | Vgl. z. B. die 26. Auflage von 1870.
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die zeichnerische Umsetzung kleidergesetzlicher Vorgaben in Schnittmuster. Die Regeln zur sachgerechten Schnitterstellung zielten auf die Vermeidung von Verschnitt, also auf eine effiziente Nutzung der Stoffbreite (Niemann, Otto C. J. 1986, 10). Noch im 16. und 17. Jahrhundert basierte der Zuschnitt auf Kreidezeichnungen, die auf einen Tafeltisch gezeichnet wurden. Die Schnittmuster-Teile wurden mit Hilfe von Zirkeln aus den verschiedenen Sektoren des Kreises entwickelt.7 Das Recht auf den Zuschnitt und das Wissen darum bildete die Expertise von Meistern und Gesellen und separierte diese von jenen, die lediglich nähten. Auf ihren Schnittmustern basierte die wirtschaftliche Existenz der Meister. Sie wurden in geheimen Musterbüchern gesammelt, die neben den Schnitt-Patronen auch die Handwerksordnung, die Kleiderordnung und Bilder bekleideter Figuren enthielten.8 Das Maßnehmen erfolgte auf dem bekleideten Körper. Die Beträge und auch Maße wie die Saumlänge wurden durch Knoten in einem Faden markiert. Im 18. Jahrhundert wurden die Maße des Kleidungsstücks am Körper durch Einkerbungen in Pergamentstreifen erfasst.
3.4.1 »Construction des Papiermodells« Durch das Papier-Schnittmuster konnte die ökonomische Verteilung der SchnittTeile auf der Stoffbahn optimiert und zudem die Schnitte aufbewahrt und mehrfach verwendet werden. Ein erster Schritt war die Vervielfältigung von Musterbüchern durch den Buchdruck und damit verbunden das Drucken von Schnittmustern verkleinert in Diagrammen, ökonomisch angeordnet auf der Stoffbahn (Niemann 1986, 5–9). Mit dem Libro de geometria practica y traça von Juan de Alcega erschien 1569 eines der ersten gedruckten Musterbücher. Deutsche Musterbücher der Zeit waren dagegen ausschließlich für den zunftinternen Gebrauch bestimmt und daher nicht öffentlich zugänglich. Die »geometria« der spanischen Mode formte den Körper nach einem Kanon symmetrischer Kugeln oder Kegel (Bombek 1994, 138f). Sie markiert einen wesentlichen Schritt der Körpernormierung im Zuschnitt. Die »blaue Patrone«, eine nach der Netzzeichnungsmethode in einem Linienraster erstellte Schnittmuster-Schablone auf blauem Zuckerpapier, bestimmte die Praxis des Zuschnitts im 18. Jahrhundert auch in der preußischen Uniformschneiderei (Krause 1965). Der schottische Schneider Joseph Couts behauptete 1818, ein gezahntes Rädchen zur Übertragung des Papiermusters auf den Stoff eingeführt zu haben. Dazu wurde 7 | Schnitte wurden aus dem Kreis und seinen diversen Sektoren entwickelt. »Durch die praktische Erfahrung des Schneidermeisters wurden dann der Halsausschnitt, das Armloch, die Schulterlinie usw. ausgezeichnet und so der Schnitt vervollständigt.« Niemann, Otto C. J. 1986, 9. 8 | Niemann unterscheidet Merkbücher für den täglichen Gebrauch (u. a. als Lehrbücher der G esellen) von »offiziellen Meisterstückbüchern, die in der Lade des Schneiderhandwerks verwahrt wurden.« Ebd.
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Bild 22 • Maßnehmen für den Zuschnitt eines Justaucorps 1769
mit Kreide beschichtetes Papier zwischen Papiermuster und Stoff gelegt, eine noch heute übliche Praxis (Couts 1848, 6). Die Proportionalmethoden des 19. Jahrhunderts ermöglichten die Erstellung von Schnittmustern aufgrund weniger Direktmaße. Daraus ergab sich ein neues Geschäftsmodell. Schneider verkauften ihre Modellschnitte als Papiermuster in Originalgröße auf Bestellung nach jedem gewünschten Maß, so bereits 1815 die Londoner Schneider Golding und Cook (Emery 2014, 8).9 Der Transfer des Schnittmusters auf Papier erleichterte die geometrische Konstruktion sowie die Abänderung vorhandener Grundschnitte erheblich und förderte so die Entwicklung mathematischer Zuschnitt-Systeme. Zur Präzisierung des Zuschnitts empfahl Klemm, die Papiermuster auf die fertig zugeschnittenen Stoff-Teile zu legen, um deren Genauigkeit zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Insofern ermöglichte die Anwendung von Papierschnittmustern ein präziseres Passform-Ergebnis.10 9 | Zur Entwicklung der Fertig-Schnittmuster im 19. Jahrhundert vgl. Emery 2014 sowie Abschnitt 5.3.2. 10 | Vgl. Klemm, Carl & Heinrich 1847, 105.
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3.4.2 »Conformations« und »Normalgrößen« – Maßnehmen, Zuschnitt und Körper-Korrektur im 18. Jahrhundert Den Schnittmustern des 18. Jahrhunderts lag bereits eine »Normalgröße« zugrunde. Das zeigen die Angaben zum Maßnehmen, das François-A. de Garsault 1769 in Art du tailleur im siebenten Kapitel »Prendre la Mésure« beschreibt.11 Garsault bezieht sich auf das Ausmessen eines Justaucorps. Gemessen wurden die Maße des am Körper getragenen Kleidungsstücks. Für den Rumpf einer Justaucorps-Jacke werden Rücken- und Brustbreite sowie Brustumfang gemessen. Der Umfang der »Körpermitte« (»grosseur du milieu du corps«) wird – bei angewinkeltem Arm – etwa auf Ellbogenhöhe, der Umfang der tiefen Taille des Kleidungsstücks (»grosseur du bas«) auf Höhe des Knopfes gemessen, der den Ansatz der Schoßteile markiert. Diese horizontalen Maßlinien werden von einer vertikalen Maßlinie, der Gesamtlänge der Jacke, gekreuzt. Aus den Kreuzungspunkten ergeben sich die Längenmaße zur Bestimmung der Taillenlänge von Schulter bis Jackentaille, der Position der Tasche und der Länge der Schöße. Die Verhältnisse dieser Längenmaße ergeben sich also aus den modebedingten Proportionen des Kleidungsstücks. Die Maße wurden mittels eines Pergamentstreifens ohne Maßeinteilung genommen. Er wurde am Körper angelegt und die Meßpunkte eingekerbt. Alle Maße pro Kleidungsstück wurden auf demselben Streifen markiert. So gab es für jeden Kunden eine Sammlung von Streifen: einen für die Jacke, einen anderen für die Hose und so fort. Die Ellenmaße des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts waren uneinheitlich. »So war in den frühen Meisterstückbüchern oder in den aufkommenden Fachbüchern und Zuschneidebüchern für Schneider im 18. Jahrhundert meistens eine lange Auflistung über die Benennung der Ellenmaße, der Name der entsprechenden Städte und Länder und der Gehalt der Ellenmaße« enthalten. Zum Maßnehmen wurden Fäden oder Papierstreifen ohne Maßeinteilung verwendet.« (Niemann, Otto C. J. 1986, 11) Erfahrene Schneider nutzten zudem ihr Augenmaß. Um 1800 erschienen erste Publikationen zu Proportionalsystemen, die auf der Berechnung der Proportionsverhältnisse des Körpers nach einem »Normalkörper« basierten. Diese Berechnung ging mit Brustumfang, Körperhöhe und ggf. Taillenumfang von lediglich zwei bis drei Direktmaßen aus. Beim Maßnehmen mit Papierstreifen sollte der Schneider auf den Körperbau (»structure du corps«) achten, so Garsault. Wie anhand des Maßvorgangs beschrieben, meint »corps« den bekleideten Körper. Die Gesamtheit der Proportionen des Rumpfes – hochgezogene oder hängende Schultern, flache oder 11 | Vgl. Garsault 1769, 14–15 sowie Maßfigur Bild 22.
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gewölbte Brust sowie Stärke und Form des Bauches – bezeichnet Garsault als »conformations«. Barde hat also möglicherweise diesen Begriff von ihm übernommen. »Fehler« (»défauts«) der Konformation habe der Schneider zu »verschönern«, indem er sie mit Garnituren überdeckt oder mittels eines gummierten Bandes sowie einer Watteschicht aus Roßhaar korrigiert. Bei Garsault wie später bei Barde ist der »Normalkörper« der zentrale Ausgangspunkt der Klassifizierung der Körper nach »conformations«, ihrer vestimentären Korrektur sowie der Bestimmung standardisierter »Normalgrößen«. Entsprechend wurde im 18. Jahrhundert nach Fertigschnittmustern aus Papier gearbeitet. Die Direktmaße, dienten lediglich der Auswahl des passenden Schnittmusters. Der Schneider besaß solche Papiermuster für jedes Kleidungsstück in mehreren »Größen«, d. h. in »Normalgrößen« für verschiedene Höhen und Stärken des Körpers. »Körper« bezieht sich auf die Teile der Bekleidung, deren Maße sich aus der Verbindung von lebendigem Körper und Kleidungsstück ergaben. Bei Vorder- und Rückenteil des Justaucorps bezeichnet das Schnittmuster ausschließlich »le corps«, die Corsage der Jacke und endet daher auf Höhe der Tascheneingriffe (»justqu’à la hauteur de la patte seulement«). Der körperferne Schoßbereich wird von vorhandenen Modellen übernommen. Nach den Direktmaßen des Körpers wählt der Schneider ein passendes Fertigmuster aus, dessen Form auf den – wie noch heute doppelt gelegten – Stoff mittels Kreidemarkierungen übertragen wurde.12 Wie in der späteren indirekten Maßkonstruktion, der Schnitterstellung mit berechneten – also »indirekten« – Maßsätzen, dienten Direktmaße schon im 18. Jahrhundert lediglich der Zuordnung des Körpers zu einer »Größe« in Form eines zuvor erstellten Schnittmusters. Kleider-»Größe« bezeichnet die Höhe und Stärke des fiktiven Normkörpers, dessen Proportionen der Corsage der Jacke zugrunde liegen. Das Verfahren der Fertigschnittmuster, nach dem blauen Papier – die Verpackung von Zuckerhüten – auch »Blaue Patrone genannt«, findet sich wie erwähnt auch in der Uniformschneiderei des 18. Jahrhunderts: Die Direktmaße von Personen, deren Körperbau als »normal« erachtet wurde, dienten als Vorlage für vier Grundgrößen, die nach wenigen individuellen Maßen variiert wurden. Die Einteilung der preußischen Regimenter in »Rotten«, also Gruppen von Soldaten mit annähernd gleicher Körperhöhe und durch den Drill einheitlich schlanken Figuren entsprach diesem Prinzip der »Normalgröße«. Uniformschneider gingen von einem mittleren Körper einer Rotte aus. Unter behördlich verordnetem Sparzwang wurden sämtliche Uniformen nach den Grundgrößen sowie unter Beachtung eines zuvor minutiös errechneten Stoffverbrauchs möglichst ökonomisch zugeschnitten. Wie beschrieben, wirkte sich die Verknappung der Passform bei Uniformen direkt auf die Männermode des späten 18. Jahrhunderts aus und führte zu einer 12 | Vgl. Garsault 1769, Kapitel VII–IX über Maßnehmen und Zuschnitt.
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nachhaltigen Verschlankung des Modekörpers. Anders als in der modernen Konfektion wurde jede Uniform einmal anprobiert. Diese individuelle »Adjustierung« war absolut notwendig, um das vage zugeschnittene Kleidungsstück einigermaßen tragbar zu gestalten. Aufgrund der Serialität des Zuschnitts nach Normgrößen versteht Erika Krause die »Militärkonfektion« als »Vorstufe der modernen Bekleidungsindustrie« (Krause 1965, 41–44).
3.4.3 Netzzeichnungs-Methode und Drittelberechnung Anfang des 19. Jahrhunderts war die Netzzeichnungs-Methode verbreitet. Auf ein Linienraster übertragen, konnten die Schnittmuster in Lebensgröße sowie in die verschiedenen Kleidergrößen übertragen werden. Ein Beispiel für diese Methode ist das von J. S. Bernhardt in Dresden 1810 veröffentlichte System. Die verkleinerten Schnittvorlagen (»Patronen«) basierten auf einem weiblichen und einem männlichen »Normalkörper« nach der Proportionslehre Dürers. Indem er sie mittels des Rasters streckte oder dehnte, verkürzte oder verkleinerte, passte der Schneidermeister die Patrone Zunächst dem Körper an, den er bekleiden wollte. Für den Zuschnitt übertrug er das abgeänderte Schnittmuster anschließend in die Original größe, in dem er wiederum das Raster nutzte (Niemann, Otto C. J. 1986, 12–14). Um 1818 erschien mit der »Drittelberechnung« ein erstes »Proportionalsystem«. Der Begriff bezeichnet Zuschnitt-Systeme, die bei der Erstellung des Schnittes von einem starren Schema »normaler« Proportionsverhältnisse ausgehen, die auf alle Schnitte übertragen werden. Lediglich der Brustumfang wird variiert. Das bedeutet, dass die »normalen« Proportionsverhältnisse auch bei Bauchgrößen erhalten bleiben, nur eben breit und aufgebläht. Bei der »Drittelberechnung« wurde der Brustumfang am Körper gemessen und anschließend halbiert. Der so ermittelte halbe Brustumfang wurde in drei Teile geteilt und so die Grundidee der Proportionalsysteme entwickelt, aus Bruchzahlen des halben Brustumfangs alle übrigen Maße zu berechnen. Das halbe Oberteil wurde aus diesen drei Dritteln konstruiert. Aus dem ersten Drittel ergab sich die Brustbreite für das Vorderteil, aus dem nächsten Drittel das sich anschließende Seitenteil mit Armloch und das dritte Drittel ergab die Breite des Rückenteils. Jedes Drittel wurde anschließend in 6 Teile geteilt. Ausgehend von einer Grundlinie auf Taillenhöhe wurden Breitenverhältnisse des Schnitts mit Hilfe dieser Sechstel eines Drittels des Brustumfangs berechnet und ein Raster aus Hilfslinien erstellt. Anschließend wurden die Schnittmuster unter Hinzuziehung von Maßtabellen gezeichnet und durch Vergrößerung oder Verkleinerung den individuellen Proportionen der Person angenähert. Die Methode entwickelte die »Grundidee aller folgenden Proportionalsysteme, welche die Oberweite [= BU] in 1/4, 1/8 oder 1/10 sowie 48 Teile geteilt haben« (Niemann, 1986, 18–19).
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Bild 23 • Reduktionsschema zum Ausschneiden 1841,
3.4.4 Proportionalsysteme und Corporismetrie Die weitere Entwicklung des Zuschnitts im 19. Jahrhundert prägten zwei Methoden, die innerhalb der Systeme unterschiedlich kombiniert wurden: I. Die Proportionalmethode basiert auf starren Proportionen des »Normalkörpers«. Am Körper selbst wurde lediglich der Brustumfang gemessen. Dieser wurde anschließend halbiert. Dieser halbe Brustumfang – bei der »normalen« Konformation 48 cm – war der Ausgangspunkt der Maßberechnung: Alle übrigen Maße wurden nach auf Basis dieses Wertes und auf der weiteren Teilung des halben Brustumfangs nach mathematischen Formeln proportional berechnet. Aus diesen Teilungen ergaben sich maßstäbliche Skalen, sodass eine Schnittmustervorlage für jeden halben Brustumfang – in Deutschland von 24 bis 62 cm – in Originalgröße umgesetzt werden konnte. II. Die »corporismetrische« Methode implizierte die Direktmessung zahlreicher Maße zur Differenzierung und Klassifizierung individueller Abweichungen vom »Normalkörper«. Jeder Individualkörper wurde einer Konformationsklasse also einem Grundtypus des Körperbaus sowie dem zugehörigen standardisierten Maßsatz zugeordnet.
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Horizontal übereinander angeordnete Reduktionsmaßstäbe
3.4.5 Reduktions-Methode – die »Indirecte Maßconstruction«13 1820 publizierten die Maßschneider Compaing und Fontaine in Paris erstmalig ein System nach der »Reduktionsmethode«, so genannt nach der maßstäblichen Verkleinerung der Schnittmustervorlagen. Da die Methode auf dem Zentimetermaß14 basierte, hieß sie auch »Zentimeter-Methode«. Erstmalig wurde der »normale« halbe Brustumfang (BU) mit 48 cm beziffert. Die Umfang- und Längenmaße des – fiktiven – »normalen« Rumpfes wurden nach mathematischen Formeln aus dem ½ Brustumfang von 48 cm berechnet. Diese Proportionsverhältnisse des »Normalkörpers« mit 48 cm ½ BU lagen allen Schnittmustern zugrunde. Sie konnten durch die Maßstäbe des Reduktionsschemas, Maßtabellen und standardisierten Grundschnitte auf jeden kleineren oder größeren halben Brustumfang von 24 cm (Kind) bis 60 oder 70 cm (stark gebaute Männer) übertragen werden. Zunächst wurde der Brustumfang direkt am Körper gemessen. Anschließend wurde er halbiert (½ BU) und gegebenenfalls zu einem geraden Betrag auf oder abgerundet. Basis der Reduktionsmethode ist das »Reductionsschema«. Der Begriff bezeichnet 13 | Klemm 1874. 14 | Ab etwa 1810 wurde die Praxis der Papierstreifen mit eingekerbten Meßmarkierungen durch das Maßband mit Zentimetereinteilung und somit durch Maßangaben in Zahlen verdrängt.
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das Schema, das sich aus der Gesamtheit der Maßstäbe für alle halben Brustumfänge ergibt. Diese in 48 Maßeinheiten eingeteilten Streifen dienten der maßstagetreuen Vergrößerung der »reducirten« Schnittvorlagen. Das 1841 im Pariser Moden Journal abgedruckte Reduktionsschema (Bild 23) zeigt: Für jeden halben Brustumfang gab es einen solchen Streifen, der in 48 Maßeinheiten geteilt war. Die Streifen wurden ausgeschnitten und wie Maßstäbe für Architekturzeichnungen zur Umsetzung der verkleinerten Patronen in Lebensgröße verwendet. Links stehen die Zentimeterangaben der ½ Brustumfänge, sodass man den passenden Streifen für den gesuchten ½ BU auswählen konnte. Nur bei dem Maßstreifen für 48cm ½ BU entspricht jede Maßeinteilung 1 cm: »Der Maßstab No. 48 [48 cm halber Brustumfang] […] ist das Normalmaß der Oberleibweite eines gut gewachsenen Mannes, weshalb man auch den Schnitt […] gleich mit dem bloßen Centimetre zeichnen kann. Für alle übrigen Körpergrößen [i. e. alle weiteren halben Brustumfänge] nimmt man aber den betreffenden Maßstab.« (Klemm 1847, 12) Die Maßstäbe für halbe Brustumfänge schmaler als 48 cm haben Maßeinheiten, die kleiner sind als 1 cm. Bei Maßstäben für ½ BU größer als 48 cm beträgt eine Maßeinheit mehr als 1 cm. So entsprach eine Maßeinheit des 24 cm-Maßstabs ½ cm, des 60 cm-Maßstabs dagegen 1, 25 cm. Die Stellpunkte für die Schnitterstellung waren in verkleinerten Schnittvorlagen angegeben. Die Position dieser Punkte wurde maßstäblich in 1:1 auf einen Schnittpapierbogen oder direkt auf die Stofffläche übertragen. Sie bildeten das Gerüst, aus dem das Original-Schnittmusterzeichnung entstand. Die Schnittvorlagen sind für die »normale« Proportion von 48 cm erstellt. Je nach Maßstab werden die Dimensionen der Schnittvorlage in Originalgröße vergrößert oder verkleinert, die »normalen« Proportions-Verhältnisse des Schnittmusters jedoch beibehalten (Klemm 1858, 68–69).
3.4.6 Das »Normale« ist selten »Diese Gleichheit der Maße, welche einen sehr normalen Körper in Haltung und Bauart voraussetzt, kommt jedoch nur selten vor und deutet uns dies an, daß es solcher normaler Bauarten und Haltungen sehr wenige giebt«, so Klemm 1872 (EM 1872, J 21, N1, 2). Das »Normale« ist selten. Aus dem Insistieren auf dem »Normalkörper« ergaben sich Passformprobleme, deren Korrektur Zeit und Geld kostete. Andererseits war ausführliches Maßnehmen ebenfalls zeitaufwendig, verkomplizierte die Schnittaufstellung und strapazierte die Geduld der Kunden. Die Suche nach Lösungen dieser Probleme bestimmte die weiteren Entwicklungen der Maßsysteme, so die Klassifizierung der diversen Bauarten und Proportionsverhältnisse des Körpers, die bereits im 18. Jahrhundert als »conformations« bezeichnet wurden.
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3.4.7 Méthode Barde Den Körper eines Büroangestellten an die Proportionen des Apollon anzugleichen, war ein ambitioniertes Vorhaben, das ohne die Systematisierung der Körper- und Schnittformen nicht zu bewältigen war. So entwickelte sich mit der Corporismetrie eine Methode der Klassifizierung aller vorkommenden Bauarten des Körpers, die präzisere Passformen gewährleisten sollte. Eins der frühesten und einflussreichsten corporismetrischen Systeme veröffentlichte F. A. Barde 1834 in seinem Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur, indem er die unterschiedlichen Körper-Bauarten zu Konformationen (»conformations du corps«) zusammenfasste. Mit seiner Methode versuchte Barde, die Passformprobleme zu bewältigen, die sich durch die fiktiven »normalen« Proportionen ergaben und diese »belles proportions« zugleich im Schnittmuster zu erhalten. Die diversen Konformationen ergaben sich aus der Klassifizierung der »normal geraden«, zurückgebogenen oder vorgebeugten Haltung sowie der Stärke des Körpers von mager über schlank bis corpulent. Diese Merkmale wurden zu Konformationen – z. B. corpulent gerade – kombiniert. Mit der Zuordnung zu einer Konformation wurden die zahlreichen »Abweichungen« vom »Normalkörper« klassifizierbar. Jeder Konformation wurden spezifische Grundschnitte für alle gängigen Kleidungsstücke der Männergarderobe zugeordnet. Die grundlegende Proportions-Regel lautet: »Normale« Rückenlänge und halbe Oberweite sind identisch, beide betragen 48 cm. Somit wurde jede individuelle konkave oder konvexe »Krümmung« des Rückens als »Anomalie« erfasst. Ausgangspunkt war die Idee wiederkehrender Muster des Körperbaus, die von Barde empirisch beobachtet, statistisch erfasst und zu Regeln verdichtet wurden.15 Der Bardesche Grundsatz lautet, dass hohe Schultern meist mit tief sitzenden Hüften und umgekehrt abfallende Schultern mit einer hoch sitzenden Hüftpartie verbunden sind. Solche Muster konstruierte er im System der »Konformationen«, indem er die Proportionsverhältnisse des Körpers typisierte und klassifizierte. Mit »Konformation« bezeichnete Barde das Gesamte der Proportionsverhältnisse des Körpers ausgehend vom Rumpf, den er in Partien – Hals, Schultern, Brust, Taille, Hüften – einteilte.16 Diese sollten im Schnittmuster gezielt »korrigiert« werden, indem die »normalen« Proportionen des Kleidungsstücks soweit wie möglich zu erhalten waren. Die Zuordnung zu einer Konformations-Klasse hing von der Bestimmung des »Wuchses« (Klemm) ab. Allgemein wurde in »regelmäßigen« und »unregelmäßigen« Wuchs unterschieden. »Regelmäßiger« Wuchs ist gegeben, wenn der Körperbau symmetrisch ist und die Proportionsverhältnisse der Kör15 | Vgl. Barde 1834, Livre II, 58–60. Seine empirischen Meßreihen entsprachen den Konzepten der zeitgenössischen statistischen Anthropometrie. Zu Körperstatistik im 19. Jh. vgl. Döring 2011. 16 | »Nous avons défini la conformation du corps de l’homme, l’ensemble produit par les diverses proportions des ses organes extérieures.« Vgl. Barde 1834, Livre II., 57.
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Bild 24 • Galafrack und Uniformfrack – Kontraste der Konformationen, nach Barde 1834
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perumfänge ungefähr denen des »Normalkörpers« entsprechen. Bestimmt wird demnach die Abweichung der Körper vom »Normalkörper« mit »normal gerader« Haltung und keilförmigem Rumpf. Diese »Abweichungen« wurden durch Vermessung der Rücken-Krümmung bestimmt, von welcher die Position des Armlochs abhing. Das Spektrum reichte von der sehr aufrechten Haltung mit Hohlkreuz bis zu der vorgebeugten Haltung mit nach innen gekrümmter Brust und vorgeschobenen Schultern. Aus der Kombination der Schulter-Hüft-Konstellation mit einem Haltungs-Typus sowie der Körpergröße ergab sich die Konformations-Klasse. Innerhalb dieser Klassen wurden diverse Stärken und Bauchkonturen differenziert. Asymmetrische skoliotische Körper wurden zum »unregelmäßigen« Wuchs zusammengefasst und bildeten eigene Konformations-Klassen.17 Die Klassifizierung nach Konformationen bezog sich auf die Proportionsverhältnisse des Oberkörpers, denn von dem gelungenen Schnitt des Jacken-Korpus (»corsage«) hing die Eleganz des gesamten Kleidungsstückes ab, so Bardes Überzeugung.18 Er ordnete den hauptsächlichen Konformationen je einen Grundschnitt für Corsage, Ärmel und Schöße nach den Proportionen des »Normalkörpers« zu. Diese von Barde praktisch erprobten Grundschnitte konnten mit Hilfe der Konformationsmaße – der Wölbung von Brust und Rücken sowie der Tailleneinbiegung – für alle Konformationen abgeändert und Schnittzeichnungen für alle gängigen Westen, Frack- und Gehröcke sowie Mäntel erstellt werden, die im Anhang in Modekupfern dargestellt waren. Maße und Schnittaufstellung für diese Modelle sind einzeln erklärt. Wollte ein Schneider einen Frack herstellen, nahm er zunächst die erforderlichen Längen-, Breiten-, Weiten und Verhältnismaße direkt am Körper seines Kunden. Er bestimmte den Wuchs, »regelmäßig« oder »deformiert«, die Körpergröße, die Stärke (»grosseur«) und schließlich die Konformation. Dann wählte er den passenden Grundschnitt und erstellte das Schnittmuster nach Anleitung und mit Hilfe der angegebenen Maßsätze.19 Auch nach Barde blieben die Konformationen ein fester Bestandteil der Zuschnitt-Systeme. Klemm betonte 1858, dass ihre Bestimmung nicht nur das Befolgen eines Maßsystems, sondern auch eigene Beobachtung und Erfahrung erfordert. Daher solle der Anfänger »keine öffentliche Versammlung unbenutzt lassen, um die ungemein variierenden Körpergestaltungen, die man unter Männern von verschiedenen Jahren und Beschäftigungsarten zu sehen Gelegenheit hat, gehörig zu studiren, und sich dermaßen in das Auge zu prägen, daß er ähnliche 17 | Vgl. ebd., 57–60 und Tafel 52 im Anhang. 18 | »En effet, nous restreignons l’étude nécessaire des conformations à la seule partie du buste de l’homme, parce que là est le siège véritable de toutes les difficultés, là se trouve le mérite de l’artiste qui a su tailler un vêtement, en tous points conforme aux exigence de son modèle.« Ebd., 58. 19 | Ebd., 78–87 und Anhang mit Schnittpatronen.
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Körperbildungen später beim Maßnehmen sofort erkennt, […] um jeden Körper passend zu kleiden.« (Klemm 1858, 5) Besondere Aufmerksamkeit widmete Barde dem Rücken. Es ging ihm darum, dem Rücken der »corsage« eine standardisierte Proportion zu verleihen. Er wollte die Abformung der individuellen Rückenkrümmung vermeiden, denn deren »Fehler« müssten anschließend durch viel Watte ausgeglichen werden und davon hielt Barde nicht viel. »Zuviel« Watte war von außen sichtbar, was »unnatürlich« wirkte und daher gegen die Prinzipien der diskreten Körper-Korrektur verstieß. Daher plädierte Barde für das in den 1830er Jahren fortschrittliche – und eher aus der englischen Schneiderei bekannte – Verfahren, die Wattierung durch ein »perfektes« Schnittmuster möglichst zu reduzieren.20 Bardes System ermöglichte es, die Proportionen des Corsage-Rückens nach Konformation und Stärke des Körpers (»grosseur«) von mager bis beleibt zu bestimmen nach dem Grundsatz, dass der Rücken zu breit aber nie zu schmal sein dürfe. Barde verstand den Rücken als Ausgangspunkt der Schnitterstellung.21
3.4.8 Bandmaß und Corporismetrie – die Konstruktion von Mustern des Körperbaus Nach eigener Aussage hatte der schottische Schneider Joseph Couts bereits 1809 ein Bandmaß (»tapemeasure«) eingeführt. Zur Maßeinteilung – vermutlich inches – sagt er jedoch nichts.22 Das Bandmaß mit Zentimeter-Einteilung führte vermutlich Barde 1810 oder 1815 in Paris ein und ermöglichte so die exakte Vermessung des Körpers mit normierten Maßeinheiten. Im Gegensatz zu älteren, vom Körper selbst abgeleiteten Meß-Praktiken wie Elle, Fuß, Fadenknoten oder Einkerbung in Papier, wurde der Körper nun beziffert und mathematisch abstrahiert. Barde war bestrebt, das Maßnehmen zu systematisieren und die Konturen von Schultern, Brust- und Rückenwölbung, Taille und Hüften sowie deren Relationalität maßtechnisch zu erfassen. Für seine Ambition fand er eine schöne Metapher: Die Körper-Maße zu nehmen sei etwas anderes, als einen »Baumstumpf« zu vermessen (Barde 1834, Livre II, 86, 146). Sein System wird im Folgenden skizziert um zu veranschaulichen, wie die Norm des »Normalkörpers« schon beim Maßnehmen konstituiert wurde. Als eine der ersten basierte Bardes Methode auf Corporismetrie. Der Begriff bezeichnet das ausführliche Messen direkt am bekleideten Körper. Damit war die Corporismetrie ein Gegenmodell zur Reduktionsmethode, die lediglich mit zwei 20 | In den Diskursen der englischen Schneiderei wird Barde seltsamerweise übergangen. Vielbeachtet dagegen ist Compaing, der »Erfinder« der Reduktionsmethode. 21 | Vgl. Éjdt 20. 4. 1837, J 3, N 19, 148–49. 22 | »The late Mr. Duncan M’Ara and myself introduced the tape measure in 1809.« Couts 1848, 5–6.
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Bild 25 • Dossimêtre – Extrem aufrechte und vorgebeugte Haltung, nach Barde 1834
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Direktmaßen – Körperhöhe und Brustumfang – auskam. Dennoch entsprechen beide Systeme der indirekten Maßkonstruktion, basieren also auf der Berechnung der Maße zur Schnitterstellung nach den »normalen« Proportionen. Die Corporismetrie war ein Kompromiss zur Lösung der Passformprobleme, die sich aus den realitätsfernen »normalen« Proportionen ergaben. Die zahlreichen Direktmaße der Corporismetrie dienten der Feststellung der Konformation und Auswahl eines der Konformations-Klasse entsprechenden Grundschnitts sowie der Kontrolle berechneter Maße. Mit dem Zentimetermaßband wurden Längen-, Breiten- und Weiten-Maße des bekleideten Körpers gemessen. Die von Barde entwickelten Meßinstrumente – »Épaulimêtre«, »Dossimêtre«, »Triple Décimêtre« und »Corpimêtre« – dienten der Ermittlung der Verhältnismaße zur Bezeichnung relationaler Proportionsverhältnisse wie etwa Wölbung und Einbiegung des Rückens oder das proportionale Verhältnis von Schultern und Hüften. Das Vermessen solcher Proportionsverhältnisse erfolgte in »dégrets«, die einen halben Zentimeter breit und wie Grad-Einteilungen eines Winkelmessers strahlenförmig angeordnet waren (Barde 1834, Livre II, 89 ff). Die folgenden Direkt-Maße dienten, wie erwähnt, nicht der Schnitterstellung, sondern der Zuordnung des zu vermessenden Individualkörpers zu einer Konformations-Klasse. Sie wurden auf dem mit Hemd, Weste und Caleçon bekleideten Körper gemessen: I. Konformationsmaße (»mesures de conformations«): vertikale Krümmung der 1) oberen sowie der 2) unteren Rückenpartie, 3) Einbiegung der Taille, 4) horizontale Krümmung des Rückens, 5) Höhe und 6) Breite der Schultern, 7) diverse Durchmesser des Oberkörpers. II. Umfangmaße (»mesures ordinaires«): Barde betonte, dass sich die Umfangmaße nach wechselnder Bekleidung des Körpers, Tagesform und Ernährungszustand wöchentlich ändern können. Er empfahl daher, in Ausnahmefällen auf dem unbekleideten Körper zu messen sowie die Maße nach Mode, Alter und physischer Verfassung des Kunden sowie Genre des Anzugs gegebenenfalls zu modifizieren. III. »Mesures exactes«: Feststehende Proportionsverhältnisse des Körpers in »dégrets« gemessen. IV. »Mesures relatives«: Maße bezogen auf spezifische Partien des Kleidungsstücks (Kragen, Ärmel, Corsage, Weste, Schoßteile) und deren gewünschte Proportionen. Mit Hilfe der Verhältnis- oder »Konformations«-Maße wurden die Proportionsverhältnisse des Rumpfes ermittelt, so das Verhältnis von oberer und unterer Partie des Rumpfes (»haut et bas du buste«), Breite und Wölbung der Brust, Rückenrundung (»convexité«) und Tailleneinbiegung (»concavité«) sowie das Verhältnis von Schultern und Hüften. Aus Körpergröße und Haltung entstand ein Spektrum von
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Bild 26 • Tabelle berechneter Maße zur Bestimung der Konformation, nach Barde 1834
fünfzehn Konformationen.23 »Deformierte« Körper wurden gesondert klassifiziert. Durch Kombination von Umfang-, Längen-, Breiten- und Konformations-Maßen wurde die Position des Armlochs bestimmt. Barde ermittelte pro Brustumfang neun verschiedene Möglichkeiten der Armloch-Position. Aus der Kombination von Haltungen mit den diversen Körpergrößen und Stärken des Körpers (»grosseur«) wie mager, schlank, oder korpulent ergaben sich Konformationen wie beispielsweise 170 cm groß, korpulent gerade. Barde ging davon aus, dass jeder Konformations-Klasse ein empirisch ermittelter Durchschnittskörper zugeordnet werden könnte. Die Maße dieser mittleren Körper modifizierte er, indem er sie den »normalen« Proportionen des Apollon annäherte. Diese proportional »geschönten« Durchschnitts-Maße wurden nach Konformationen, Körpergrößen, Körperumfang (»grosseur«) geordnet und in Maßtabellen systematisiert. Bardes Maßtabelle (Bild 26) (Barde 1834, Livre II, 143) dient der Bestimmung der Konformation. Die 3 Zahlenkolonnen innerhalb jeder Spalte beziffern pro Maß die aufrechte, gerade sowie vorgebeugte Haltung. 1. Spalte: 1–4 Krümmungen oberer/unterer Partien des Rückens; 5–6 Taillenein biegung des Rückens; 7–8 Horizontale Krümmung des Rückens; 9–10 Schulterhöhe; 13–18 Diverse Durchmesser des Oberkörpers zur Bestimmung der Stärke, sie werden aus dem halben Taillenumfang (»grosseur du bas du buste«) berechnet, der hier mit 43, 39 und 35 cm angegeben ist, genauere Angaben dazu macht Barde nicht. 2. Spalte: Große Körperhöhe (»Grande Taille«) 1,83–1,87 m; 3. Spalte: Mittlere Körperhöhe (»Moyenne Taille«) 1,69–1,76 m; 4. Spalte: Geringe Körperhöhe (»Petite Taille«) 1,59–1,65 m. Wie die Durchmesser (»diamêtres«) der Taillenumfänge (»grosseurs du bas du buste«) – 43 cm für Körpergrößen bis 1,87 m sowie 39 cm bis 1,76 m und 35 cm bis 1,59 m – zu verstehen sind, wird nicht erläutert. 23 | »Quinze attitudes du corps«. Vgl. Barde 1834, Livre II, 60.
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Bild 27 • Costumomêtre: Loch-Reihen als Größensystem
In Zeitnot konnte das Maßnehmen auf Körpergröße und Brustumfang beschränkt und auf die vorgefertigten Maßsätze zurückgegriffen werden (ebd., 78–87). Die Schnittzeichnung ergab sich aus der Abänderung der »normalen« Grundschnitte Bardes und basierte demnach nicht auf individuellen Körpermaßen, sondern auf Durchschnittswerten modifiziert nach dem »Normalkörper«. 1856 schrieb Heinrich Klemm über Bardes System: »Aber es zeigte sich bald, dass vielmehr auch jede Bauart und Haltung des Körpers eine Verschiedenheit des Schnittes erfordere. […] Im Jahre 1833 veranstaltete Barde mit vielen Kosten eine vollständige Sammlung von Schnittzeichnungen in natürlicher Größe für jede Stärke und Bauart des Körpers, welche er unter dem Titel: ›Traité encyclopédique de l'Art du Tailleur‹ veröffentlichte. […] Es bedurfte ein eignes großes Local, um die nach und nach construirten Kleiderpatronen für alle denkbaren Körperformationen in geordneter Weise aufzubewahren, deren Anzahl sich durch die wiederholten Erneuerungen und Verbesserungen auf mehrere Hunderttausende belief.« (EM 1856, J 6, N 2, 4)
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3.4.9 Größensysteme Nach damaligem Verständnis bezeichnete der Begriff »Körpergröße« nicht wie heute die Körperhöhe, sondern die Kleidergröße. Diese war identisch mit dem halben Brustumfang.24 Aufgrund der wenigen historischen Hinweise ist davon auszugehen, dass auch die Größensysteme in der frühen Konfektion, wie noch heute, auf dem halben Brustumfang basieren. Auf die Bezüge zwischen der allen Proportionalsystemen immanenten Standardisierung von Proportionsverhältnissen und der Entwicklung einheitlicher Größensysteme wird in Abschnitt 5.3.2 zu Costumomêtre, Konfektionsgrößen und Schnittschablonen eingegangen. Das »Costumomêtre« war eine Pappschablone mit Lochungen zur Übertragung von Stellpunkten für die Schnitterstellung auf Schnittmusterpapier oder direkt auf den Stoff. Sie diente der Umsetzung einer Schnittvorlage in verschiedene Größen und ersetzte die Ermittlung der Stellpunkte mittels Reduktionsmaßstab. Die Reihen von Löchern ergeben eine Grafik »normaler« standardisierter Stellpunkte zur Schnitterstellung, die zugleich als Größensystem fungierten. Sie dienen der Gradierung, also der Vergrößerung oder Verkleinerung eines Schnittes für alle Größen bei gleichbleibenden Proportionen. Die Löcher sind Reihen von Stellpunkten für die Erstellung des Grundschnitts einer Corsage. Jeder Punkt entspricht einer Größe im Sinne eines halben Brustumfangs von 24 cm bis 48 cm. So ergibt sich beispielsweise aus der Verbindung aller innenliegenden Punkte ein Corsage-Grundschnitt für die kleinste Größe von 24 cm ½ BU. Die strahlenförmig angeordneten Lochreihen des Costumomêtre sind eine faszinierende Visualisierung des Normalsystems und zugleich eines frühen Größensystems.
3.4.10 Reduktionsmethode nach Klemm: Kombination von Proportionalmethode und Corporismetrie Die »Méthode Barde« machte Schule. 1838 erschien in Paris Alexis Lavignes »Lehrbuch der Schneiderkunst« basierend auf der Drittelung und Viertelung des halben Brustumfangs. Für die Schnittkonstruktion zeichnet man ein Kreuz bestehend aus einer Längslinie (1/4 BU) und einer Querlinie (1/3 BU). Darauf werden nach vorgegebenen Formeln errechnete Längen und Breiten-Maße abgetragen und mit Linien nach einem vorgegebenen Schema verbunden, aus deren Kreuzungspunkten sich die Stellpunkte für die Schnittaufstellung ergeben (Mottl 1893, 34). Lavigne unterschied verschiedene Arten des Körperbaus nach abfallender oder gerader Schulterlinie, nach dem Verhältnis von Brust- und Taillen-Umfang, nach Körperhaltung in zurückgebogen, eingebogen gekrümmt, geneigt, gerade schlank, gerade dick, dick gebeugt sowie nach »Verkrüppelungen« des Wuchses. Auch die Reduktionsmethode 24 | Vgl. Klemm 1874, 65.
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Bild 28 • Unteres Drittel der Tafel: »Rubriken« 1–13,
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Grundschnitte für jeden Brustumfang von 24–60 cm
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wurde allgemein praktiziert und in Journalen publiziert, so im Pariser Moden Journal, welches sie ausführlich erklärte sowie allen Abonnenten ein »Centimetre-Maaß und ein Reductions-Schema gratis« zur Verfügung stellte (PMJ 1841, N 36, 24–97). Nach 1840 entwickelte Heinrich Klemm ein eigenes System aus Bardes Methode: »Die Kleidungsstücke sollten zuerst nach dem Reduktionsmaßstab gezeichnet und dann mit den genommenen Maßen die Unregelmäßigkeiten geändert werden.« (Niemann 1986, 19) Klemm publizierte sein System – eine Kombination aus den proportionalen Methoden der Drittelberechnung und Reduktionsmethode mit Konformationen und Corporismetrie – seit 1851 bis 1874 in zahlreichen Auflagen seines Handbuchs der Bekleidungskunst für Civil und Militär, das als einflussreichstes Lehrbuch zum Zuschnitt in Deutschland gelten kann. Klemms System blieb bis in die 1870er Jahre nahezu unverändert und wird hier exemplarisch für die Zuschnitt-Systeme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt. Dazu beziehe ich mich auf die 13. Auflage des Handbuchs von 1858, da zu diesem Zeitpunkt der modische Umschwung zum Sakko schon etabliert, die schmale Taillierung aber modisch noch präsent war. Ausgangspunkt des Systems ist das Direktmaß des Brustumfangs. Dieser wird auf der Weste über dem stärksten Punkt der Brust und der Schulterblätter gemessen. Anschließend wird der Betrag halbiert und diese Hälfte gedrittelt. Insofern ist Klemms System an der Reduktionsmethode orientiert. Das Spektrum der Größen entspricht dem der Reduktions-Maßstäbe: Die halben Brustumfänge ergeben die Körpergrößen des »regelmäßigen« Wuchses von 24 cm (Knabe) bis 60 cm (stark gebauter Mann). Klemm fasst sie 1858 in 13 Rubriken (Bild 28) zu 2–5 »Größen« zusammen: Rubrik 1: 24–26 cm, 2: 27–29 cm, 3: 30–33 cm, 4: 34–37 cm, 5: 38–40 cm, 6: 41–43, 7: 44–48 cm, 8: 49/50 cm, 9: 51/52 cm, 10: 53/54 cm, 11: 55/56 cm, 12: 57/58 cm, 13: 59/60 cm. Jeder Rubrik ordnet Klemm einen Grundschnitt für ein »regelmäßiges« Oberteil zu. Diese Grundschnitte mit »regelmäßiger« Rückenbreite (1/3 BU) und »regelmäßigem« Avancement (2/3 BU) können mittels der Reduktionsmaßstreifen direkt in Originalgröße übertragen und je nach Bedarf jedoch unter Einhaltung der Regeln zur Erhaltung der »normalen« Proportion abgeändert werden. Die für die Grundschnitte verwendeten »regelmäßigen« Maße sind in jeder Schnittvorlage wie einer Maßtabelle für jeden gesuchten Brustumfang entnehmbar. Für den »unregelmäßigen« Wuchs liefert Klemm gesonderte Maßsätze und Grundschnitte. Die Schneider hatten zwei Möglichkeiten: Den regelmäßigen Grundschnitt nach direkten Maßen aber unter Berücksichtigung vorgegebener Proportionsregeln der Drittelung des Oberteils selbst abzuändern, oder nach einem der Grundschnitte des unregelmäßigen Wuchses zu arbeiten (Klemm 1858, 70, 95–96).
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Bild 29 • Maßfigur nach Klemm 1858 mit Maßlinie der Rückenbreite, Meßpunkte O–P
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Bild 30 • Tafel 1 »Das vollständige System der Coporismetrie« Detail, Klemm 1858
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Im Zentrum Abwicklungen des »normalen« Oberkörpers mit Maßlinien
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Aus der Drittelung des halben Brustumfangs ergeben sich bei Klemm die drei Partien des halben Oberteils: Rückenbreite, Avancement (Maß vom hinterer Mitte zum vorderen Saum des Armlochs) sowie die Breite des Vorderteils. Nach Klemm dient diese proportionale Fixierung des Oberteils dem Schutz vor »fehlerhaften« Proportionen der beim Messen getragenen Kleidungsstücke. Tatsächlich verankert die Drittelung die »normale« Proportion über alle Individualitäten der Körper hinweg im Schnittmuster. Die Regel besagt konkret: Breite des Rückenteils (Rückenbreite) = 1/3 des halben BU Avancement (Armloch-Vortritt, ergibt sich aus der Rückenbreite + Armlochdurchmesser) = 2/3 des halben BU Vorderteil = 1/3 des halben BU »Normalkörper« (48 cm) mit »normal gerader« Haltung: Halber BU = 48 cm Rückenbreite = 16 cm Avancement = 32 cm Breite des Vorderteils = 16 cm Da das Avancement ja die Rückenbreite enthält, stimmt die Addition: Avancement 32 cm + Vorderteil 16 cm = 48cm halber BU Dieses Rechenexempel nach der Proportionalmethode ergibt je einen Richtwert für die Beträge von Rückenbreite (Meßpunkte O–P) (Bild 29) und Avancement (E–H) (Bild 31), die anschließend zur Kontrolle direkt am Körper gemessen werden. Die Breite eines Rückenteils wird in Kombination mit der Ärmellänge gemessen (Klemm 1858, 35–36). Die Meßlinie verläuft von der Rückennaht (Meßpunkt wie beim Avancement) waagerecht zur der Hinterkante des Armlochs. Das Maß wird notiert und das Maßband an diesem Punkt festgehalten. Dann wird der Arm winklig angehoben und von dort entlang der hinteren Ärmelnaht über den angewinkelten Ellbogen bis zum Ärmelsaum gemessen. Das »Avancement«, der Armloch-Vortritt, wird auf der rechten Körper-Seite gemessen, das Maßband wird an der Rückennaht (E) angesetzt, unter den Arm geführt und waagerecht nach vorn bis zum Ende des Armlochs (H) gehalten. Die Meßpunkte ergeben sich aus der Rückennaht sowie aus dem Armloch des Rockes, der beim Messen getragen wird. »Ist der Rock, über welchem Maß genommen wird, am Schulterblatte wattirt oder nicht gut anschließend, so drückt man die vorhandene Wulst mit dem Daumen der linken Hand fest zusammen.« Klemm rät zudem, bei schlechtem Sitz des Rockes am Armloch, den Bereich beim Messen straff zu ziehen und die überschüssige Weite in kleinen Falten zusammenzudrücken (Klemm 1874, 42–43). Das Avancement ist entscheidend zur Feststellung der Konformation. Bei regelmäßigem Wuchs müßte es 2/3 des halben BU betragen. Die Direktmessung
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Bild 31 • Avancement (Armlochvortritt) H–E
dient der Überprüfung dieses Betrages. Ist das Avancement kleiner, ist die Haltung zurückgeneigt, ist es größer, ist die Haltung vorgebeugt (ebd. 35–36). Maße stehen also schon vor dem Maßnehmen fest. Das Messen ist lediglich ein Kontrollvorgang. 20 direkt gemessene »Hauptmaße zu Röken, Fracks, Paletots, Twinen und dergleichen« umfassen alle Umfang-, Breiten- und Längen-Maße des Rumpfes sowie Konformations-Maße.25 Klemm verwendete das Zentimeterbandmaß und den von ihm selbst entwickelten »Corporismetrischen Gürtel«. Beim »unregelmäßigen« Körperbau kommt die in Abschnitt 3.4.13 beschriebene »anthropotrigonometrische« Methode zum Einsatz. Auf Tafel 1 (Bild 30) liefert Klemm Abwicklungen des »normalen« bekleideten Oberkörpers mit 48 cm halbem Brustumfang zur Darstellung von Messlinien. Sie schließen nicht mit der Taillennaht, sondern mit der Gürtel-Linie ab. Diese ist dem25 | Konformations-Maße sind u. a. die »Rückenbüste«, vom Halswirbelknochen (Punkt C) übers Schulterblatt bis zum Zentralpunkt B (rechte Körperseite auf Gürtel) gemessen sowie die »Vorderbüste«, deren Meßpunkte mit der Rückenbüste identisch sind, hier wird jedoch vom Halswirbelpunkt C zunächst nach vorn gemessen. Das Maßband hängt auf der Brust herab und wird von dort auf Punkt B zurückgeführt (Tafel 1 Fig. 11). Beim regelmäßigen Wuchs ist die Vorderbüste 6 cm länger als die Rückenbüste und diese wiederum 4 cm länger als die »unverlängerte Taille«. Dieses Maß gibt die Länge des Oberkörpers ohne modische Veränderung an. Die Schulterhöhe ist nur mit dem »corporismetrischen Gürtel« zu messen. Ausgehend von A in der hinteren Mitte wird über die Schultern nach vorn auf Punkt D in der vorderen Mitte gemessen, beide Punkte liegen auf der Gürtel-Linie (Tafel 1 Fig. 13 / Fig. 2). Das Maß ist entscheidend zur Bestimmung des Wuchses. Klemm unterscheidet zwischen »hohen« und »tiefen« Schultern. Bei abfallenden »tiefen« Schultern ist die Schulterhöhe geringer, bei »hohen« Schultern ist der Maßbetrag größer. Vgl. Klemm 1858, Tafel 1 sowie 97ff. und Tafel 3 sowie 110ff.
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nach mit der Taillennaht nicht identisch. Das zeigen auch die Abwicklungen auf Tafel 1 zur Darstellung des Avancementmaßes und der Weichenbreite, die ebenfalls auf der Gürtellinie enden (Nachzeichnungen Bild 31 und 32). Zu der Frage, ob die Taillennaht oder die Gürtellinie als eigentliche Taille zu betrachten ist, sagen die Quellen – und auch der sonst so ausführliche Klemm – nichts.
3.4.11 »Dicht über den Hüften, da wo die Taille am schärfssten markiert« Die Details des Maßsystems belegen erstaunliche Wechselbezüge von Mode, Modekörper und Schnittkonstruktion. Im Zusammenhang dieser Untersuchung interessieren insbesondere Maße zur Differenzierung von physischer und textil hervorgebrachter Taille sowie zur Bestimmung ihrer Proportion. Dass die »Unterweite« (Klemm 1858, 40) , die dem Taillenumfang entspricht, auf der Gürtellinie gemessen wird spricht dafür, in dieser Linie die Markierung der Taille zu sehen. Dagegen spricht, dass die Corsage mit der Taillennaht endet. Die Gürtellinie des Mannequins (Bild 29) befindet sich leicht oberhalb der tief sitzenden Taillennaht, markiert durch den »corporismetrischen Gürtel«, der einem Maßband mit Zentimetereinteilung entspricht. 1858 saß sie »dicht über den Hüften, wo die Taille am schärfssten markirt«. Dicht über den Hüften? Offensichtlich ist diese Taille nicht identisch mit der schmalsten Stelle des Rumpfes. Es ist die modebedingte Taille des Kleidungsstücks, die jeweils am bekleideten Körper bestimmt werden muss. Ihre Position wird durch die »Vordertheilslänge« bestimmt (ebd., 50). Diese wird bei »normalen« »mittelstarken Figuren« aus der Vorderbüste oder Vorderlänge + 4cm berechnet. Bei Direktmessung – empfohlen besonders bei Bauchfiguren, deren Bauchwölbung den Betrag der vorderen Länge erhöht – ist das Maß vollständig auf das beim Messen getragene Kleidungsstück bezogen. Gemessen wird von der Vorderteilspitze – von dem Punkt auf der Taillennaht, in den beide Vorderteile auslaufen – bis zur »Schulter«, d. h. bis zur nach hinten verlegten Schulternaht. In den 1840er und 1850er Jahren wurde die modebedingte Taillenverlängerung, also die vertiefte Position der Taillennaht, durch das Maß der »verlängerten Taille« ermittelt. Es wird von der hinteren Mitte des Gürtels abwärts gemessen, der Betrag wird der »unverlängerten Taille«26 hinzugerechnet. »Je nach der bestehenden Mode [kann] die etwaige Taillen-Verlängerung […] von 2 bis zu 10 Centimeter betragen«. In seinem Beispiel beziffert Klemm die modische Verlängerung der Taille mit 6 cm im Rücken. Bei den Vorderteilen müssen – Regel! – 2 cm von der »Vordertheilslänge« 26 | Die »unverlängerte Taille« gibt die Taillenlänge ohne modische Änderung an: Die Messlinie verläuft entlang der Rückennaht vom Halswirbelpunkt C zu A auf dem Gürtel. Die Regel besagt: Außer bei »dicken Personen« entspricht das Maß der Rückenbüste minus 4 cm. Klemm 1858, 52–53.
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Bild 32 • 16 cm »normale« Weichenbreite B–A, berechnetes Maß der Tailleneinbiegung
abgezogen werden, damit die Taillenlinie nicht nach vorne herunter kippt. Klemms Kommentar zeigt, wie die Schneider sich auf den eigenen, als normativ verstandenen »Geschmack« berufend, die modische Taillenverlängerung durch Begrenzung der »verlängerten Taille« auf maximal 10 cm steuern: »Was über 10 Centimeter ist, würde für gewöhnliche Röcke und Fracks übertrieben und geschmacklos sein, selbst wenn sich die Mode auf dergleichen Irrwege verlieren sollte […]. Ich habe in den von mir redigirten technischen Zeitschriften […] nie […] zur Verbreitung ähnlicher Geschmacklosigkeiten beigetragen.« (Ebd., 53) Das berechnete Maß der »Weichenbreite« bestimmt die Tailleneinbiegung und somit die Taillenkontur. Sie verläuft entlang des Taillen-Gürtels von der Rückennaht von A zu B (»Centralpunkt«) an der Körperseite. B ergibt sich aus der Mitte des Armlochs, die senkrecht nach unten auf den Gürtel gespiegelt wird (ebd., 46–47). Beim regelmäßigen Wuchs gilt: Weichenbreite = Rückenbreite minus 1 bis 3 cm. Aus der Differenz von Weichen- und Rückenbreite ergibt sich, ob sich die Taille »markirt« oder inwieweit sie »flach« ist: Je größer die Differenz, umso stärker die Tailleneinbiegung. Von der durch die Konformationsklasse bestimmten Weichenbreite hing wesentlich ab, in welchem Grad sich die jeweils modisch aktuelle Taillenkontur an einem individuellen Körper realisieren ließ. Eine taillierte Kontur schloss selbstverständlich mehr Körper aus der Mode aus, als ein sackförmiges Schnittmuster. Der Modegrad der Kleidung wurde zudem durch die Altersklasse bestimmt. Diese Faktoren sind verbunden mit den Dresscodes, den anlassbezogenen Reglements, die jedem Mann gemäß seiner Konformations- und Altersklasse sowie seines Berufes
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die passende Bekleidung zuweisen. Diese alters- und berufsbezogene Identität spielt auch beim Maßnehmen eine Rolle und betrifft vor allem die »Schoßlänge«: Zuzüglich der »verlängerten Taille« ergibt das Maß die Gesamtlänge der Jacke, das zudem durch deren Genre bestimmt wurde: Modische Röcke oder Jacketts für jüngere Männer sind eher kürzer. Der zeremonielle Rock ist mindestens knielang und älteren Männern zugeordnet. Gemessen wird nicht die eigentliche Schoßlänge (von Taillennaht bis untere Saumkante) sondern die gesamte Länge vom Halswirbelpunkt bis zur Kniekehle, um einen Richtwert für die diversen Schoßlängen der verschiedenen Jackentypen je nach Mode zu erhalten. Für Längen kürzer als Knie zieht man entsprechende Beträge von der Schoßlänge ab, ist das Kleidungsstück länger als Kniehöhe, rechnet man dazu. 1858 gilt: Bei Fracks zieht man ca. 2 cm, für kurze »Fantasiefracks« 5–10 cm, für »Jaquetten« 12–20 cm ab. Bei Paletots und langen Gehröcken gibt man 3–10 cm dazu (ebd., 54). In einer späten Ausgabe seines Handbuchs 1874 wehrte sich Klemm gegen die Bezeichnung »Proportionalsystem«. Er verstand sein System als »indirecte« im Gegensatz zu der älteren und im 19. Jahrhundert eher seltenen »directen Maßconstruction«, der beispielsweise das »trigonometrische System« Gustav Müllers entsprach. Durch Kombination aus Corporismetrie und Reduktionsmethode sei es auch ohne viele direkte Maße möglich, »einen gut sitzenden Rock zuzuschneiden«, da für »jeden Körperbau« ein Grundschnitt angeboten wird, der gegebenenfalls auch mit wenigen Basismaßen korrigiert werden konnte. Klemm wollte zudem Fehlerquellen eines zu ausführlichen Meßvorgangs vermeiden. Die Anwendung der Reduktions-Maßstäbe mit 48er Einteilung hält Klemm für sinnvoll, »weil ja die Schnittzeichnungen in allen technischen Modejournalen ebenfalls nach dieser Eintheilung der Oberweite aufgestellt sind, und man ohne Reductionsschema von solchen Zeichnungen gar keinen Gebrauch machen könnte«. (Klemm 1874, 5–6) Das zeigt, dass die Proportionalmethode in der weiteren Entwicklung des Zuschnitts an Nimbus verlor, ohne jedoch vollständig durch Corporismetrie ersetzt zu werden.
3.4.12 England Proportionalsysteme finden sich auch in England. Bereits 1815 hatten Cook und Golding in »The Tailor’s Assistant« eine Skala maßstäblich erfassbarer Proportionsverhältnisse publiziert (Emery 2014, 8). Der »Méthode Barde« vergleichbar wurden die Proportionalsysteme in England schon früh mit Corporismetrie und Klassifizierung der Körper-Konformationen kombiniert. Die in England praktizierten Zuschnittsysteme bezogen sich auf die namhaften französischen Systeme Compaings und Bardes und basierten wie diese auf dem Normalsystem und der indirekten Maßkonstruktion. Maße wurden nach dem direkt gemessenen Brustumfang berechnet. Aus Kreidemarkierungen dieser Maße auf der Kleidung ergaben sich Stellpunkte
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Bild 33 • Apollon von Belvedere und »disproportionierte« Konformationen
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Bild 34 • Konformationen des Oberkörpers, nach Klemm 1858
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Abweichungen vom »Normalkörper«
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zur Schnitterstellung. In der englischen Herrenschneiderei wurden die Maße des »Normalkörpers« in inches berechnet. 1848 gab Joseph Couts die »normalen« Maße eines Mannes mit 36 inches (heute 45, 72 cm) Brustumfang an (Couts 1848, 59). Die Teilbarkeit des Betrages erleichterte die Aufstellung der im Lehrbuch abgedruckten Schnittvorlagen und deren Gebrauch, denn das System basiert nach der Propor tionalmethode auf der mehrfachen Teilung des halben Brustumfangs. Die normalen Proportionen entsprächen realen empirischen Durchschnittswerten, so Couts: »Experience tells [the tailors] also that a person of this measurement is about the average size of the majority of men. That this treatise may not give offence to the prevailing habit, I will abide the usual size.« Die letzte Bemerkung ist interessant: da seine Schnitte den gängigen Modeformen entsprächen, sei auch sein System an üblichen Größen orientiert. Couts versteht den »Normalkörper« wie auch die Maßsätze der »malformations«, der Konformationen des »unregelmäßigen« Wuchses (Buckel, Bauch, vorgebeugte oder extrem aufgerichtete Haltung usf.) als eine Art Größendurchschnitt der gängigen Kleidungsstücke (Couts 1848, 59–6). Das könnte ein Hinweis auf die hinsichtlich der Passform eher pragmatische englische Haltung sein. Früher als in Frankreich und Deutschland wurde in England eher gerade zugeschnitten und ein lockerer Sitz propagiert. Auf solche nationalen Unterschiede der Passformen wird in Abschnitt 4.5.3 näher eingegangen. Ein Artikel in der Londoner Gazette of Fashion 1846 zeigt exemplarisch, dass in England dieselben Überlegungen angestellt wurden, die später bei Klemm zu finden sind. Ausführliches Maßnehmen sei langwierig und stelle die Geduld der Kunden auf eine zu harte Probe. Zudem seien Direktmaße oft fehlerhaft. Berechnete Maße hingegen seien zu pauschal und beachteten zu wenig die »disproportionierten« Körper (GzF 1846, J 1, N 4, 22–24). Ähnliche Argumente finden sich bereits 1838 in »The Tailor’s Masterpiece containing the Art of Cutting« des Maßschneiders George Walker. In seiner Vorrede kritisiert Walker die pauschale Übertragung einer errechneten Proportion auf unterschiedlich gebaute Individualkörper und plädiert stattdessen für die Einbeziehung von Direktmaßen (Shep 2001, 6–7). Die Lösung sah man in der Klassifizierung der Bauarten nach Konformationen, mit denen man sich in England ausgiebig beschäftigte. Zudem wurden von den Maßschneidern individuell in sogenannten »self-varying-systems« diverse Kombinationen aus Proportionalmethode und Direktmessung (»admeasurement«) entwickelt. 1846 veröffentlichte die Londoner Gazette of Fashion eine Artikel-Reihe mit dem Titel »Disproportion«. In der Mitte der Bildtafel zum vierten Artikel (Bild 33) prangt der Apollon von Belvedere, der – wie der des Louvre bei Barde und Klemm – den »Normalkörper« repräsentiert. Die Figuren um den Apollon herum zeigen »proportionierte« und »disproportionierte« Konformationen: links oben: »normal proportioniert«, links Mitte »extrem aufrecht«, links unten »gebeugt« / rechts oben »korpulent«, rechts Mitte »hohe Schultern«, rechts unten »tiefe Schultern« (GzF 1846, J 1, N 5, 39).
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3.4.13 Anthropo-Trigonometrie und die weiteren Entwicklungen – 1850er bis 1890er Jahre Die Anthropo-Trigonometrie wurde 1851 von G. A. Müller entwickelt. Das System entspricht der direkten Maßkonstruktion. Direktmaße werden am bekleideten Körper mittels eines Maßlinien-Netzes aus Dreiecken ermittelt (Trigonometrie). Wie zuvor bildet der »Normalkörper« den Ausgangspunkt für die Bestimmung der »Bauarten« des Körpers. Das System kombiniert ein Proportional-System für den »regelmäßigen« sowie das »Trigonometrische System« zur Konstruktion von Grundschnitten für den »unregelmäßigen« Wuchs. Dem entsprechen die Methoden der proportionalen Konstruktion des in 4 Grundtypen klassifizierten »normalen« Körperbaus: gerade, aufrecht, geneigt und gewölbt sowie der trigonometrischen Schnittkonstruktion, bei der 38 verschiedene Längen- und erstmals auch Breiten-Maße direkt gemessen werden und schließlich der trigonometrischen Messung und Konstruktion von Grundschnitten für »unregelmäßige« Bauarten. Hierbei werden sämtliche Stellpunkte Direktmaße bestimmt, um Asymmetrien präziser zu erfassen. Nachteil des trigonometrischen Systems seien das aufwendige Maßnehmen und insgesamt unbefriedigende Passform-Resultate, so Mottl (Mottl 1893, 43–57). Daher setzte sich die Methode nicht durch, beeinflusste aber die weitere Entwicklung der Maß-Systeme. Insgesamt sind auch die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts durch Proportionalsysteme, Normalsystem sowie Klassifizierung des Körperbaus gekennzeichnet. Trotz des Wechsels zu körperfernen Passformen durch die Sakko-Mode waren die »normalen« Proportionen in der Schnitterstellung weiterhin gültig. 1877 vereinfachte der »Conformateur«, eine Meß-Jacke aus vertikalen und horizontalen Gummi-Streifen, die Konstruktion des Oberteils. Die mit dem Conformateur verbundene Abkehr von Kreisbögen und Dreiecken bei der Berechnung der Körperoberfläche galt als Durchbruch in der Schnittkonstruktion, denn die Konstruktion von Vorderfront und Rücken der Jacke basierte nun auf identischen Rechtecken, womit die Ermittlung der Stellpunkte erheblich vereinfacht und bisherige Auffassungen der Differenz von Vorder- und Rückenteilen überwunden waren (Mottl 1893, 68–70). Dabei verdrängte der Conformateur den corporismetrischen Gürtel und die Westen, mit deren Hilfe die Messungen der Anthropo-Trigonometrie durchgeführt wurden. 1879 Berlin publiziert E. Kuhn ein »Mass- und Zuschneidesystem für die Herrenschneiderei« (ebd. 70–83) basierend auf der Einteilung des »männlichen« Körpers in 8 Kopflängen nach Schadow. Der »proportioniert schön gebaute« Körper wird durch ein Linien-Raster in Rechtecke aufgeteilt, das in die Schnittzeichnung übertragen wird. Die horizontalen Linien des Rasters ergeben sich aus der Einteilung in 8 Kopflängen. Die parallelen vertikalen seitlichen und frontalen »Schwerlinien« – darunter die »Amplomblinie«, die seitliche Senkrechte durch den Körper, sind jeweils eine Kopfbreite voneinander entfernt und kreu-
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zen markante Punkte wie Achsel, Brustbein, Nabel und Hüfte. Kennzeichen des »normal geraden« Wuchses ist eine »Amplomblinie«, die Schlüsselbein und Hüfte in einer vertikalen geraden Strecke verbindet. Die 1880er und 1890er Jahre kennzeichnen diverse Kombinationen trigonometrischer mit proportionalen Systemen sowie mit Systemen der Klassifizierung »unregelmäßiger« Körperproportionen und Proportionsmodellen »idealer« Körper beispielsweise nach dem »Goldenen Schnitt«. Weiterentwicklungen des trigonometrischen Systems bemühten sich um Praktikabilität in der Anwendung durch Reduktion der erforderlichen Direktmaße.
3.5 Keilförmiger Torso – die Männlichkeit der schmalen Taille Seit dem späten 18. Jahrhundert war die Männermode durch Verknappung der Passform und Glättung der Tuchoberfläche gekennzeichnet, die den Körper wie eine Haut straff und möglichst faltenlos umschließen sollte. Der Glättung der Stoffoberfläche dienten Abnäher und Taillennaht. Diese Durchtrennung der Taille ermöglichte zugleich deren akzentuierte Einbiegung und war nach meinem Verständnis der Auslöser dieser Modeerscheinung. Die schmale Taille betonte die »breite«, mittels Watte modellierte Brust. Über die Brustrundung wölbte sich die Weste, die wie ein Brustpanzer geformt sein sollte.27 Abnäher vor allem im unteren Bereich des Armlochausschnitts dienten der Bombierung der Vorderfront von Jacke und Weste. Form und Platzierung der Abnäher wurden jeder Konformations-Klasse im zugehörigen Grundschnitt angepasst. Generell war die Wattierung ein Mittel, die Passform-Probleme zu kaschieren, die sich aus der dem Normalsystem impliziten Differenz von Schnittmustern und individueller Körperform ergaben. Wattiert wurden daher auch Schultern, Arme und Rücken. Der Differenz von breiter Brust und schmaler Taille wies der Dresdener Damenschneider Johann Samuel Bernhardt eine grundlegende Bedeutung bei der Modellierung eines »männlichen« Oberkörpers zu. 1810 bis 1820 publizierte er mehrere Auflagen seines Handbuchs zur systematischen Vermittlung von Anatomie, Proportionslehre und Schnittzeichnen in der Schneiderlehre. Bernhardts System entspricht der Quadratnetz-Methode. Zwei Bildtafeln – »Der Mann (Taf II.)« und »Das Weib (Taf III.)« – zeigen Nachzeichnungen eines »männlichen« und eines »weiblichen« kanonischen Körpers nach Albrecht Dürer (1471–1528) ergänzt mit Maßangaben. Bernhardts Maßsatz stellt ein frühes Beispiel eines »Normalkörpers« dar. Bei der »Wahl« der Körpergröße »des Mannes« geht Bernhardt pragmatisch vor und wählt einen geraden Betrag der sich für die Quadratzeichnung eignet: 27 | »Un gilet bien fait doit former une cuirasse.« Ejdt, 20. 5. 1839, J 4, N 44, 347.
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Bild 35 • »Der Mann« nach Dürer 1820
»Seine ganze Länge beträgt gewöhnlich sechs Fuß28, welches Maß ich hier wegen der Einteilung bei der Bekleidung gewählt habe. Die halbe Länge des Körpers, welche drei Fuß beträgt, befindet sich am Steißbein, wo der Körper gespalten ist. Ein Fuß 5 Zoll ist die Länge des Schenkels. Das Bein bis an das Knie hat 19 Zoll. 5 Zoll von der Erde, gleich über dem Knöchel, ist das Bein am schwächsten. 7 Zoll höher ist die Wade am stärksten, und 7 Zoll darüber ist das Knie. Der Fuß, als der unterste Theil des Körpers, hat 10 Zoll Länge. Augespannt giebt der Arm vom Mittelfinger an bis auf die Mitte des Brustbeins gemessen, die halbe Länge des Körpers. Sein Körper ist dem Äussern nach mit 24 Jahren ausgebildet.« (Bernhardt 1820, 1. Teil, 34–36) 28 | Etwa 1,70 m. 1 Fuß = 0,283 m, 1 Zoll = 0,023. Quelle: Wikipedia, »Alte Maße und Gewichte (Sachsen)«.
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Ein besonders eindrücklicher Hinweis auf die »Männlichkeit« der schmalen Taille im frühen 19. Jahrhundert ist Bernhardts Kommentar zu Tafel II »Der Mann«: »Der Mann zeigt in allen seinen äussern körperlichen Theilen, Kraft und Thätigkeit – alles ist stark – die Brust breit – sie darf nicht beengt seyn, um den Werkzeugen des Athemholens und dem Kreislauf des Blutes freien Spielraum zu lassen. Damit er die Arme mit Kraft gebrauchen kann, ist der Rücken breit und überhaupt alle Muskeln stark. Der vordere Arm erscheint daher ausgestreckt mehr breit als rund. Dafür ist aber der untere Theil des Rumpfes, von vorne gesehen, schmal, damit bei der breiten Brust, der Körper nicht an Ansehen verliere. […] Im Ganzen aber erblickt man in der äussern Form die Eigenschaften, welche den Mann gegen das Weib characterisiren, und seine Bestimmung ist in allen Theilen ausgedrückt.« (Bernhardt 1820, 34–35) Nach Bernhardt steht die »normale« breite Brust in einem relationalen Verhältnis zur »normalen« schmalen Taille: Wären Taille und Hüften nicht schmaler als die Brust, würde die Front des Rumpfes unförmig aussehen. Um als solche überhaupt erkennbar zu sein, erfordert eine breite Brust eine schmale Taillen- und Hüftpartie. Je größer die Differenz von Brust- und Taillenumfang, umso breiter wirkt die Brust und umso »männlicher« erscheint der Körper. Die »Männlichkeit« des Normalkörpers ging von einem umgekehrt konischen Torso aus.
3.6 Die Konstruktion der männlichen Taille Nach Walt Whitman waren die Körper der Angestellten gezeichnet von der Büroarbeit: runde Schultern, schmächtige Konstitution, kalkige Haut. In früheren Zeiten seien die Männer athletischer gewesen, jedoch »schlampiger« gekleidet. Durch korrekte Kleidung sollten körperliche Defizite der Büromenschen ausgeglichen werden (Whitman 1856, 125). Es scheint, dass das Normalsystem genau diesen Zweck erfüllte. Die »normalen« Proportionen der Männermode konstruierten einen ideal typischen männlichen Körperbau, dessen »Natürlichkeit« oder Glaubwürdigkeit durch das Verbergen »künstlicher« körperformender Praktiken wie Wattierung oder Korsett und durch die uniforme Gleichheit »normal« proportionierter Schnitte noch gesteigert wird. »Normal« bezeichnet kanonische Proportionsmodelle der Kunst. Entsprechend ging die Berechnung des »Normalkörpers« von Proportionsverhältnissen griechischer Apollon-Statuen aus. Durch Bekleidung nach »normalen« Proportionen wurden Individualkörper einem antiken Körperideal angenähert. Der »Normalkörper« ist ein fiktiver bekleideter Körper, dessen Proportionen in diversen »Normalgrößen« schon den Fertigschnittmustern des 18. Jahrhunderts zugrunde lagen. Im 19. Jahr-
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hundert basiert die Berechnung der Maße des »Normalkörpers« auf den 48 cm des »normalen« halben Brustumfangs. Der Betrag resultierte aus der Addition der 46 cm halber Brustumfang des Apollon plus 2 cm Stoff- und Watte. Die Maße des »Normalkörpers« sind der Ausgangspunkt aller Berechnungen der Maße für die Schnittzeichnung in der indirekten Maßkonstruktion. Am Körper gemessene Direktmaße dagegen (Hosenschnitte ausgenommen) dienen nicht unmittelbar der Schnitterstellung, sondern der Zuordnung des Körpers zu einer Brustumfang-Größe sowie zu einer der Konformationsklassen mit zugehörigen Grundschnitten. Innerhalb der indirekten Maßkonstruktion sind proportionale von corporismetrischen Systemen zu unterscheiden. Die Proportional-Systeme lassen die »normalen« Proportionen der Schnittmustervorlagen unverändert. Schnittmuster werden nach den Brustumfang-Größen des »Reduktionsschemas« erstellt, indem verkleinerte (»reducierte«) Schnittmustervorlagen mittels der Reduktions-Maßstäbe für jeden halben Brustumfang in Originalgröße umgesetzt werden. In der »Corporismetrie« dagegen werden zahlreiche Direktmaße ermittelt. Diese dienen jedoch ebenfalls nicht der Schnitterstellung, sondern der Zuordnung des Körpers zu einer »Konformations-Klasse«. Die »Konformation« ergibt sich aus der Gesamtheit aller Proportionsverhältnisse eines Körperbau-Typus in Verbindung mit einer typisierten Körperhaltung. Die den einzelnen Konformationsklassen zugeordneten mathematisch berechneten Maßsätze sind in Maßtabellen systematisiert. Das System der »Konformationen« sowie berechnete Maße und klassifizierte Grundschnitte wurden durch das gesamte 19. Jahrhundert beibehalten. Normalsystem und Verfahren der indirekten Maßkonstruktion liegen der Schnittkonstruktion bis heute zugrunde. Die schmale Taille gehörte zum Kanon der »normalen« Proportionen. Nach Bernhardt diente sie der Modellierung eines keilförmigen »männlichen« Rumpfes durch eine deutliche Differenz von Brust- und Taillenumfang. Diese Differenz wurde optisch durch den Aufbau einer breiten Brust mittels Wattierung und Einlagen sowie durch Schnüren der Taille betont. Watte wurde zudem als Füllmaterial eingesetzt, um Probleme der Passform auszugleichen und so eine glatt gespannte Stoffoberfläche zu gewährleisten. Die Praktik des Maßnehmens auf Kleidung belegt, dass sich der allen Zuschnitt-Systemen zugrundeliegende »normale« Proportionskanon explizit auf den bekleideten Körper bezog. Durch Bekleidung sollten Abweichungen der Körper von »normal« korrigiert werden. Watte und Stoff ergänzten die lebendige Körpersubstanz. Durch ihre Glättung wurde die Stoffoberfläche glaubhaft zur »Haut«, also zur eigentlichen Körperoberfläche, eine Illusion, die in der von Sévignéund Rockfalten geprägten Frauenmode nicht möglich ist. 1834, eine Dekade nach Bernhardt, bezieht Barde die Mode der schmalen Taille explizit auf die Corporismetrie als Perfektionierung des Zuschnitts. Der Zuschnitt nach Konformationen habe zu einer Verbesserung der Genres der Männeranzüge
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(»amélioration des genres«) geführt. Weil man erkannt habe, dass »breite« Taillen eine plumpe Körperform ergäben, habe man die Höhe der Taille oberhalb der Hüften fixiert, damit ihr Umfang (»largeur«) ein bestimmtes Maß (»pas au-dessus de la moyenne«) nicht übersteige: »La longeur de la taille des habits a été fixée au-dessus des hanches, sa largeur n’a pas été au-dessu de la moyenne, parce-qu’on a également reconnu que les tailles larges donneraient une tournure disgracieuse.« (Barde 1834, Livre II, 175) Mode ist für Barde 1834 ein gemeinsames Projekt von Schneidern und »Personen von Geschmack« und ihre Entwicklung ein Resultat der Fortschritte im Zuschnitt. So sieht es später auch Heinrich Klemm. Auch er verbindet Mode kausal mit Schnittkonstruktion als deren »Hauptfactor«. Konformationsklassen wie auch die Verbindung von Mode und Modekörper mit spezifischen Maßen – Vorderteilslänge und vertiefte Taille, Weichenbreite und Tailleneinbiegung, Schoßlänge und Alter – zeigen konkret, dass und wie »männliche« Modekörper mathematisch konstruiert wurden. Männermode konstituierte sich in den Wechselbezügen zwischen Normalsystem und einer angeblich »individualisierten« Garderobe, die sich aus der schematischen Zuordnung bestimmter Anzugtypen zu den Alters- und Konformationsklassen ergab. Nach Klemms Verständnis »befreiten« solche Reglementierungen von der Willkür des »Modediktats«, indem sie Mode im Sinne der »individuellen« Kleiderwahl, der Bestimmung von Schnittmustern, Proportionen und Passformen sowie deren Wandel strukturierten. Visuell fassbar wird die dem Normalsystem zugrundeliegende Standardisierung von Proportionen, Größen und Körpern im »Costumomêtre«, einer Pappschablone mit Lochreihen zur Gradierung der Corsage nach »normalen« Größen. Das Normalsystem bezog sich auf den bekleideten Körper. Das zeigt die Praktik des Maßnehmens auf der Kleidung wie auch die direkt auf das Kleidungsstück bezogenen Maße. Entsprechend wurde die Gestaltung der Taillenpartie von »dem Geschmacke« der Schneider bestimmt, dessen normative Richtlinie die »normalen« Proportionen waren.
4 Institutionalisierter Geschmack 4.1 Mode- und Fachmagazine In den 1830er Jahren mussten die Schneider feststellen, dass die elegante Kundschaft neuerdings in einem »paletôt sac« genannten, sackförmig geschnittenen Konfektionsmantel herumlief. Trotz ihres erheblichen Widerstands konnten die Maßschneider die modische Verbreitung der geraden, körperfernen Passform nicht verhindern, sie schafften es aber, die Entwicklung von Paletot und Sakko zu beeinflussen, indem sie diese pragmatischen, preisgünstigen Kleidungsstücke zu eleganten Modeartikeln umgestalteten. Dieser Prozess wird im Folgenden anhand zeitgenössischer Modeberichte und Modebilder der drei führenden Fachmagazine L’Élégant: journal des tailleurs (Éjdt)1, Gazette of Fashion (GzF) und Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe (EM) nachvollzogen. Im Fokus stehen dabei die Übergangsstadien von der stark eingebogenen zur geraden Taillenkontur in den 1830er bis 1860er Jahren. Dass Fachmagazine des 19. Jahrhunderts Medien der Ideen und Ambitionen der Maßschneider waren, zeigen die folgenden Einblicke in das zeitgenössische Verständnis von Modeberichten und Modekupfern als Konstituierung von Mode sowie als lobbyistische Praktik der Maßschneiderei und ihrer Organisationen. In der kunsthandwerklichen Produktion wie beispielsweise im Kutschenbau oder der Inneneinrichtung war es seit dem 18. Jahrhundert üblich, nach Vorlagen zu arbeiten, die in branchenspezifischen Magazinen abgedruckt wurden. Aus dieser Praxis entstanden um 1830 erste Fachmagazine für Herrenschneiderei als Verteiler für Schnittmuster und Anleitung zu ihrer Handhabung (JdT 1. 5. 1830, J 1, N 1, 3–4). Sie entsprachen dem dringenden Bedarf an fachlichem Austausch in einer Zeit, als die komplexen Systeme der mathematischen Schnittkonstruktion immer größere Anforderungen an das technische Können der Schneider stellten und ihre Betriebe durch die wachsende Konfektionsindustrie unter wirtschaftlichen Druck gerieten. Entsprechend wurde die Modeberichterstattung durch Information über 1 | Ergänzt durch die frühen Ausgaben des Journal des Tailleurs (JdT) von 1830 bis 1835.
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betriebliche Fragen, Entwicklungen in der Industrie und neue Technologien wie Näh-, Bügel- und Zuschneidemaschinen ergänzt. Im Sinne einer Konstituierung von Mode durch Modeberichte dienten diese der Systematisierung und Strukturierung des Modegeschehens und damit seiner Berechenbarkeit und Steuerung nach den Interessenslagen der Maßschneiderei. Als Organe der Berufsverbände entwickelten sich die Magazine zu Instrumenten dieses Lobbyismus. Die Modeberichterstattung ermöglichte eine zumindest temporäre Einflussnahme auf das Modegeschehen und wurde zum Motor der Vereinheitlichung in der Männermode. Die Redaktion der Europäischen Modenzeitung arbeitete gezielt an der Beseitigung lokaler Unterschiede hinsichtlich Schnittmuster, Materialverwendung und Verarbeitungstechniken zugunsten einer hegemonialen »deutschen« Männermode, die von führenden Maßateliers der Großstädte bestimmt werden sollte. Damit war eine diskursive Konstituierung der Mode selbst verbunden. Was als Mode galt und wer sie tragen durfte, definierten die Modeberichte der Fachmagazine. Nach dem Verständnis der Maßbranche und ihrer Fachmagazine war Mode ausschließlich das, was die »führenden Häuser« der Maßschneiderei produzierten und deren vornehme Kundschaft trug. Dieses elitäre Modeverständnis stand in Zeiten wachsender Konfektionsindustrie im Widerspruch zum realen Konsumgeschehen. Vor 1830 bestand die Modepresse aus Gesellschaftsmagazinen mit einer Moderubrik. Diese Modemagazine richteten sich an ein breites, zumeist weibliches Publikum. In den 1770er Jahren erschienen in London das Lady’s Magazine2 und in Paris die Galeries des Modes3 als erste Zeitschriften speziell zu Mode. Im Zentrum stand die Frauenmode, so auch in Journal des Dames et des Modes (Jdm)4 und L’Observateur des Modes (OdM)5, deren kurze aber regelmäßige Berichte über Männermode in dieser Arbeit als Quellen der Zeit von 1800 bis 1830 verwendet werden. Erste Modemagazine für Männermode erschienen 1790 in Paris (Tailleur Patriote: ou les Habits de Jean-Foutres), 1827 in New York (Report of Fashion and Mirror of Fashions) und 1828 in London (The Gentleman’s Magazine of Fashion). Doch erst die speziell für Maßschneider publizierten Fachmagazine der 1830er Jahre gingen systematisch und ausführlich auf Konstruktion und Details der Kleidung ein, so das ab 1830 herausgegebene Journal des Tailleurs, gefolgt von L’Élégant: journal des tailleurs und Le Coupeur. Ab 1846 erschien Edward Ministers The Gazette of Fashion and Cut2 | The Lady's Magazine or entertaining Companion for the fair Sex: appropriated solely to their Use and Amusement erschien ab 1770 in London. 3 | Galerie des modes et costumes français erschien ab 1778 in Paris. 4 | Erstmals 1797 erschienen, wurde das Journal ab 1801–1839 regelmäßig in Paris unter diversen Titeln herausgegeben. 5 | L’Observateur des Modes erschien 1818–1823 in Paris mit Modekupfern desselben Herausgebers. Die Berichte befassen sich primär mit Frauen- jedoch auch regelmäßig mit Männermode.
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ting-room Companion, ab 1848 The Herald of Fashion6 und 1851 die Europäische Modenzeitung. Ab 1861 gab Henry Pole, Inhaber des heute noch renommierten Londoner Maßateliers, die Westend Gazette of Gentlemen’s Fashions heraus. Ab 1866 erschien der Londoner Tailor and Cutter. Ab 1874 publizierte der bedeutendste amerikanische Verleger für Männermode John J. Mitchell das Sartorial Art Journal in New York. In den 1890ern gab die Mehrzahl der europäischen und amerikanischen Mode- und Konfektionshäuser eigene Modezeitschriften heraus (Seligman 1996, 18–20).
4.1.1 Retro-Mode und Used-Look 1822 Mit der Professionalisierung der Modeberichterstattung durch Fachmagazine scheinen die Spielräume des individuellen Modeverhaltens enger geworden zu sein. Dass die Modepraxis der Männer und insbesondere modebewusster Élégants vorher möglicherweise kreativer gewesen war, legt der Bericht über eine RetroMode aus dem Jahr 1822 in OdM nahe: Letzter Schrei sei der »habit mal fait«, der »schlecht gemachte« Anzug, so der Kommentar. Er wird als Möglichkeit vorgestellt, der Gleichförmigkeit der Erscheinungsbilder zu entkommen, die durch die Schneiderei, die auch Kleidung für die »Menge« (»ceux que porte la foule«) sorgfältig und nach aktuellen Schnittmustern fertige, herbeigeführt werde. Um sich abgrenzen zu können, kleideten sich die Élégants bewusst in Retro-Anzüge im Used-Look. Hochmodisch waren Anzüge, deren Fasson mindestens seit einer Dekade veraltet war. Zu diesem Retro-Look gehörten Nähte mit großen Stichen (»cousu à grand points«), große Revers, die »im Wind nach rechts oder links herumwehen«7 sowie die für die Passform des späten 18. Jahrhunderts typischen Zugfalten (»les plis du drap«), die 1822 bereits als kurioses Merkmal veralteter Schnittmuster und Verarbeitungsweisen galten. Vor dem ersten Ausgehen wurde der gerade vom Schneider gelieferte »habit mal fait« ins Badezimmer gebracht, in Wasser getaucht und also deformiert, um ihm den hochmodischen Anschein des Gebrauchten zu verleihen. Fatalerweise wurde diese Mode umgehend von der Menge imitiert, sodass nun fast jeder in einem »alten«, zerbeulten Anzug herumlief und das sei tatsächlich so passiert und keinesfalls ein Märchen, so der Kommentar (OdM 28. 2. 1822, J 5, N 12, 96). Ob wahr oder nicht, selbst als Fiktion passt der »habit mal fait« perfekt in das Modeverhalten der Dandies des 19. Jahrhunderts, das nicht auf dem Erfinden neuer Formen sondern auf dem Lancieren spezifischer Trageweisen beruhte. Obwohl auch die späteren Fachmagazine das Kleidungsverhalten modischer Männer weiterhin im Blick behielten, finden sich solche Berichte später dort nicht mehr. 6 | Wie die GzF erschien der Herald am ersten jeden Monats in London. Aufbau und Inhalt sind der GzF sehr ähnlich. 7 | Große Revers gehörten u. a. zum Stil des »habit carée« der Incroyablen.
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4.2 Modeverständnis und Aufbau der Magazine Alle hier untersuchten Magazine folgen einem vergleichbaren Schema: Erläuterungen zu Modetafeln und Schnittmustern, Beobachtungen zu allgemeinen Entwicklungen in der Mode, Neuheiten bei Stoffen und Knöpfen, Korrespondenten-Berichte aus dem Ausland sowie Informationen zu betrieblichen und berufsständischen Fragen der Schneiderei wurden in getrennten Rubriken behandelt. Die Mehrheit der Fachmagazine waren Monatszeitschriften. Über die Mode einer kommenden Saison wurde bei Ihrem Beginn und auch während ihres Verlaufs berichtet. Die März- und Aprilausgaben widmeten sich der Frühjahrsmode, die Ausgaben von Mai bis Juli der Sommermode und mit der Herbst- und Wintermode befasste man sich ab September bis einschließlich Februar. Da es außerhalb der Weltausstellungen kaum überregionalen Austausch gab, war vor allem die kurzfristige, saisonale Modeinformation eine Kernaufgabe der Magazine. Zu den Lesern zählten auch Uniformschneider. Daher wurden Militär- und Hofuniformen in die Berichterstattung einbezogen und behördliche Erlässe zur Uniformgestaltung im Wortlaut veröffentlicht. Weitere Themen waren Kinderkleidung und weibliche Reitkleidung.8
4.2.1 Journal des Tailleurs und Élégant Eines der ersten europäischen Fachmagazine für Herrengarderobe war das J ournal des Tailleurs, das 1830–1834 dreimal monatlich von Guillaume Compaing, einem renommierten Maßschneider und Autor maßgeblicher Publikationen zum Zuschnitt, in Paris herausgegeben wurde. Aufgabe der Magazine sei die Schulung des Geschmacks und der technischen Fähigkeiten aller »Industrien« der Männermode, so Compaing in der ersten Ausgabe des JdT. Um sich in der industrialisierten Kleidungsproduktion zu behaupten, müsse die Maßbranche funktionierende betriebliche Konzepte entwickeln und modisch aktuelle Modelle in bester Qualität liefern. Als leuchtendes Vorbild erscheint A. F. Barde, der sein Atelier vorbildlich führe und hervorragende Qualität durch ein eigenes Zuschnitt-System erziele, lobt Guillaume Compaing (JdT 1. 4. 1835, J 6, N 7, 51–53). 1834 bis 1881 erschien mit L’Élégant: journal des tailleurs eines der führenden Pariser Fachmagazine für Männermode. Herausgeber dieses Monatsmagazins waren Guillaumes Sohn Charles Compaing sowie von Adolphe Goubaud. Das JdT wie auch die ebenfalls von den Compaings herausgegebene Fachzeitschrift Le Coupeur wurde von Élégant: journal 8 | In allen Epochen war Reitkleidung für Frauen der Männerkleidung anzugleichen und ihre Herstellung daher ein Gebiet der Herrenschneiderei. Im 19. Jahrhunderts beschränkte sich die Angleichung allerdings auf Stoffe und Details. Die Schnittmuster beachteten konsequent die jeweils aktuelle Frauenmode und implizierten auch das Tragen enger Korsetts.
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des tailleurs zeitweise absorbiert. Das Magazin wurde in ein- bis zwei Ausgaben monatlich von publiziert und enthielt eigens in Auftrag gegebene Modekupfer mit Modellen der führenden Pariser Häuser9 sowie englische Modetafeln. Nach eigenen Angaben ging Éjdt aus Le Bon Ton, einem Mode- und Gesellschaftsmagazin für das weibliche Publikum hervor, dessen Gesellschaftsteil beibehalten wurde.
4.2.2 Longchamps – Richtlinie des Pariser Modegeschmacks Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatten modebewusste »personnes de goût« Vorbildfunktion und wurden von der Modeberichterstattung »observiert«. In Paris zählten dazu junge Männer der Gesellschaft oder Schauspieler, die von Maßschneidern für elegante gesellschaftliche Anlässe eingekleidet wurden, vor allem aber die modischen Eliten, die Petit-Maîtres, Dandies und Mitglieder des Pariser Jockey Club, die sich in der Frühjahr- und Sommersaison in Longchamps vor den Toren von Paris einfanden. In den zeitgenössischen französischen Modeberichten firmiert »Longchamps« als eigene Rubrik, die das Neue in der Mode repräsentiert. Schon seit dem 17. Jahrhundert, lange vor der Gründung der berühmten Pferderennbahn 1856, war die Klarissenabtei Longchamps ein bedeutender Treffpunkt der Pariser Gesellschaft. Glaubt man Éjdt, hatten die Pilgerfahrten dorthin jedoch eher mondäne als religiöse Züge (Éjdt 20. 3. 1837, J 3, N 18, 138). Für jede Sommersaison in Longchamps entwickelten die führenden Pariser Häuser neue Modelle, die in den Fachmagazinen publiziert wurden und als verbindliche Richtlinien des aktuellen Modegeschmacks galten.
4.2.3 Gazette of Fashion Das größte Londoner Fachmagazin für die Herrenmaßschneiderei und Männermode Gazette of Fashion and Cutting Room Companion erschien einmal monatlich ab Mai 1846 bis ins Jahr 1888. Herausgeber Edward Minister (1794–1886), Gründer von »Edward Minister & son, tailors and habit makers to her Majesty«, war ein namhafter Londoner Maßschneider und Hoflieferant. Minister, der zu seiner Zeit als Exponent der englischen Herrenschneiderei galt, begann seine publizistische Tätigkeit um 1829, also 26 Jahre vor der ersten Ausgabe der GzF, mit der Herausgabe des »report of fashion«.10 Ab 1866 war die GzF das Organ der im selben Jahr gegründeten »Master-Tailors’ Association of the United Kingdom« sowie der »London Operative 9 | Stellvertretend sei hier der in den 1830er und 1840er Jahren namhafte Pariser Maßschneider Humann erwähnt, der wie ein Modedesigner regelmäßig neue Kreationen in der ihm eigenen weiten Passform präsentierte. 1839 wurde er von Victor Hugo als »premier révolutionnaire du siècle« bezeichnet, der zuerst Künstler und Maler und erst in zweiter Linie ein Schneider gewesen sei. 10 | Den »report« gab Minister auch später zusätzlich zur GzF halbjährlich sowie in Jahrbüchern (»chart of fashion«) heraus. Die Tafeln erschienen u. a. in der EM. Vgl. Bild 50.
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Tailor’s protective Association«, während die West End Gazette of Gentlemen’s Fashions (WEG), 1861–1898 der »Metropolitan Foremen Tailors’ Society« der »foremen« (Werkstattvorsteher) und Gesellen zugeordnet war. Die Beschlüsse dieser Verbände zu Mode und betrieblichen Fragen wie Arbeitsbedingungen und »time-logs«, die Anfertigungszeiten pro Kleidungsstück festlegen sollten, stellten neben Modeberichten den zweiten zentralen Gegenstand der Beiträge beider Magazine dar. Die GzF informierte über aktuelle Entwicklungen der »leading styles« in den »leading houses« in London und Paris und publizierte vereinzelt auch Schnittmuster deutscher Schneider11 wie Gustav Adolf Müller oder Heinrich Klemm. Die wesentlichen Merkmale aktueller Modestile wurden zu einem saisonalen »index of the prevailing taste« gebündelt, der den Lesern als Orientierung dienen sollte. Die Berichte der GzF zu neuen Moden galten zugleich als deren Introduktion. Durch gezielte Einführung neuer Modelle und Schnitte, die ausschließlich von führenden englischen Häusern stammten, sollte die englische Modeentwicklung gesteuert und vor »übertriebenen« Entwicklungen auf dem Kontinent und vor allem aus Paris geschützt werden.12
4.2.4 Pariser Moden Journal und Europäische Modenzeitung 1839 bis 1842 erschien das Pariser Moden Journal – »eine Uebersetzung der neuesten Pariser Modenberichte nebst Angabe des Schnittes und der Verfertigung der Anzüge« – als eines der ersten deutschen Modemagazine, welches sich auch an die professionelle Schneiderei richtete. Es erschien wöchentlich in Ulm, wurde im süddeutschen Raum aber auch in Leipzig gelesen und enthielt Berichte zur Pariser Damen- und Herrenmode sowie (unregelmäßig) auch Schnittpatronen. Das nach eigener Aussage »billigste aller Modejournale« richtete sich an »alle Kunst- und Gewerbetreibenden und die arbeitende Klasse überhaupt« und erfreute sich dort nach eigener Aussage eines »starken Absatzes«. Mit der »Deutschen Akademie für Bekleidung« gründeten Gustav Adolf Müller und Heinrich Klemm 1850 die erste deutsche Fachhochschule des Schneiderhandwerks. 1851 formierte sich unter Leitung Klemms und Müllers die »Europäische Modenakademie« als Pendant zur Pariser »Société philantropique des maîtres tail leurs«. Die Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe, von Klemm und Müller ebenfalls 1851 erstmals herausgegeben, war der »Europäischen Modenakademie« zugeordnet. Bezüglich der Inhalte des Magazins hatten die Akademie-Mitglieder – 11 | Nicht wenige deutsche Herrenschneider waren in London ansässig und an der englischen Modeproduktion direkt beteiligt. 12 | »We have also been repeatedly thanked for the increased value given to the work, by the introduction of the representations of styles of dress illustrating the prevailing fashion of this country, in lieu frequently of rather exaggerated shapes, which, although suitable to the French and continental tastes, were inappropriate to the notions or wants of the customers of our principal houses.« GzF 1. 2. 1868, J 23, N 262, 73.
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führende Maßschneider aus dem deutschsprachigen Raum13 sowie aus New York, Paris, Prag, Warschau, Kopenhagen und Russland – ein Mitspracherecht. Erklärtes Ziel der Herausgeber war es, der deutschen Männermode im internationalen Kontext mehr Anerkennung zu verschaffen. 1853 hatte sich die EM als erste »technische Modenzeitung in Deutschland« mit einer Auflage von 2.700 (EM 1853, J 3, N 1, 1) zum führenden deutschen Fachmagazin für Männermode entwickelt.
4.3 Institutionalisierung des Geschmacks – Modekupfer, Patronen und die Interessen der Schneider Als Organ der Modenakademie ermöglichte die EM deren systematische Einflussnahme auf Mode und Modewechsel. Für Klemm, Akademie-Vorstand sowie »Zeichner und Redacteur der Mode«14 stand fest, dass die für die Modeindustrie so »wohlthätigen« Modewechsel und die »fortwährende Erfindung neuer Formen und Schnitte« der »Scheere des Schneiders« zu verdanken seien (Klemm 1858, 7). Nach diesem Verständnis griffen die Maßschneider nicht nur ins Modegeschehen ein, sondern brachten die Modewechsel selbst hervor.
4.3.1 Modekupfer, Schnittdiagramme und Zensur Schnittmuster und Modekupfer der inländischen Modeberichte basierten in allen Fachmagazinen auf Modell-Skizzen von Lesern, deren Farbe und Textur beigefügten Stoffmustern entnommen wurden. Bei der Auswahl dieser Einsendungen konkretisierte sich die Zensur von Mode und Geschmack durch Verbände der Maßschneiderei und deren Organe. Die Modekupfer der EM beispielsweise wählte der Vorstand der Dresdner »Modenakademie« aus, wobei Einsendungen der Verbandsmitglieder aus den »tonangebenden« Großstädten stets bevorzugt wurden und so ins Zentrum der Modeberichte rückten. Mit Hilfe genauester Anleitungen konnten die publizierten Modelle von jedem Abonnenten nachgearbeitet werden. Sofern sie nicht von einem Akademie-Mitglied stammten, wurden Einsendungen aus Kleinstädten deutlich seltener ausgewählt und vor Abdruck gegebenenfalls auch korrigiert. Bei einem »Paletot mit Schawlkragen« (1853) beispielsweise beseitigte die Redaktion einen Teil der »übermäßigen Schoßweite«. Es sei »sehr zu wünschen, dass dieser längst veraltete Geschmack, den man nicht zu Unrecht ›kleinstädtisch‹ nennt, endlich auch in kleinern Orten vollends verschwinden und der neuern Geschmacksrichtung Platz machen möge« (EM 1853, J 3, N 11, 3–4). 13 | Dresden, Leipzig, Wien, Weimar, Berlin und Kronstadt in Siebenbürgen. 14 | Die deutschen Modentafeln zeichnete Klemm, den Beschlüssen der »Modenakademie« gemäß, häufig selbst.
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Modekupfer und maßstäblich verkleinerte Schnitt-Patronen bildeten das Zentrum der Modeberichte. Zusätzlich lieferten die Magazine Schnittmuster in Originalgröße, deren drucktechnische Herstellung sich durch die »Planotypie« ab den 1860er Jahren von ein paar Monaten auf wenige Wochen verkürzte (EM 1861, J 11, N 1, 1). Aufgrund des Bedarfs der Schneider nach exakten Modevorlagen kam der Präzision der zeichnerischen Darstellungsweise von Modebildern besondere Bedeutung zu. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Modebilder von den Herausgebern selbst gezeichnet, von anderen Magazinen übernommen oder bei spezialisierten Zeichnern in Auftrag gegeben. Unter dem Einfluss der Photographie wurden die Modekupfer detailreicher. Ab den 1850er und 1860er Jahren publizierten die Magazine neben kolorierten Lithographien immer häufiger schwarz-weiße Stahlstiche, sodass die Modekupfer tatsächlich mehr und mehr wie Photographien aussahen. SchwarzWeiß-Drucke waren »für das praktische Bekleidungsgeschäft […] zweckmäßiger [da] das […] Colorit doch die eigentlichen Nüanzen der meisten darzustellenden Modestoffe nie ganz naturgetreu wiederzugeben vermag.« So brachten kolorierte Modekupfer »den Inhaber des Bekleidungsgeschäftes […] nicht selten in Verlegenheit, wenn einer seiner Kunden streng in denjenigen Farben gekleidet sein will, die er auf dem colorirten Modebilde sieht« (EM 1. 1. 1852, J 2, N 1, 2). Trotz höherer Kosten verbreitete sich ab den 1850er Jahren das Druckverfahren des schwarz-weißen Stahlstichs, das in der EM wegen seines hohen Ansehens auch als Nachweis der Gleichrangigkeit der deutschen mit den englischen und französischen Modetafeln eingesetzt wurde. Korrespondentenberichte zum internationalen Modegeschehen bildeten eine feste Rubrik aller Magazine. Modekupfer zur Modeberichterstattung aus dem Ausland wurden meist in Lizenz von ortsansässigen Redaktionen oder Institutionen übernommen. Die englischen Modetafeln der frühen Ausgaben des Éjdt aus den 1830er Jahre zeigten allerdings noch Modelle, die der Londoner Korrespondent, selbst Maßschneider in Paris, in Anlehnung an die englische Mode selbst kreiert hatte.15 Bei Erscheinen der GzF ab 1846 war diese Praxis wohl nicht mehr üblich. Die Redaktion erwarb eine exklusive Drucklizenz für alle Modekupfer des in Paris ansässigen Magazins Le Lion16 und lieferte genaueste Berichte zur französischen Männermode, sodass die Abonnenten alle Modelle exakt nacharbeiten konnten. Die französischen Modekupfer der EM übernahmen die Herausgeber von dem Pariser Magazin Le Progrès, während die englischen Modetafeln vermutlich in Dresden hergestellt wurden.17 Um vom Erscheinen des Progrès unabhängig zu werden und Wartezeiten zu vermeiden, ließ die EM ab 1861 auch ihre französischen Modekupfer exklusiv anfertigen. 15 | Vgl. Éjdt 20. 4. 1837, J 3, N 19, 148 sowie 1. 5. 1837, J 3, N 20, 154–55. 16 | 1847 wurde Le Lion von der GzF absorbiert. 17 | Vgl. Angaben zu den Modetafeln der EM: SMB-digital Online collections database (smb-digital. de).
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Bild 36 • Von der Pariser »Société philantropique des maîtres tailleurs« autorisierte Modetafel, abgedruckt in der Londoner Gazette of Fashion 1854
4.3.2 Uniformität der Mode als Zielsetzung der Modekomittees Wie erwähnt hatten die französischen Herrenmaßschneider die »Société philantropique des maître-tailleurs« 1834 gegründet. Ein Kommittee für Geschmacksfragen aus Mitgliedern der »Société« wurde mit der Erarbeitung saisonaler Modeberichte und -kupfer als Mode-Vorlagen beauftragt. Laut Berichten der GzF, deren Redaktion an den Aktivitäten der »Société« offensichtlich sehr interessiert war, ging es dabei um Vereinheitlichung und Kontrolle der Mode und speziell um ein national wie international einheitliches Bild der Modeproduktion der »führenden Häuser«: »Especial duty [of the sub-committee of taste] is it to device certain styles of dress for adoption by the members generally; so as to ensure an unifomity of styles among the leading houses in the trade.« (GzF 1. 6. 1860, J 15, N 170, 13) Die Langsamkeit und geringe Produktivität der Einzelfertigung war ein entscheidender Wettbewerbsnachteil gegenüber der seriell produzierenden Konfek-
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tion. Durch internationale stilistische Vereinheitlichung versuchte die Maßschneiderei, die Modewechsel zu verlangsamen und ihren Modegrad zu drosseln. Zudem wurde so verhindert, dass sich die Maßschneider untereinander Konkurrenz machten oder einzelne Häuser die Mode unkontrolliert vorantrieben. Zugleich verstand man die eigene Modeproduktion als universellen ästhetischen Maßstab, dem kein Konfektionsbetrieb entsprechen konnte. Die Uniformität der Männermode wurde professionell organisiert. Ab 1852 ersetzte die GzF die Modekupfer des Lion durch die des Pariser Modekommitees und untertitelte sie mit »Journal des Tailleurs«18. Umgekehrt sandte man den »report of fashion« mit zugehörigen Modetafeln nach Paris, um die französischen Kollegen über die neueste englische Mode ins Bild zu setzen. Eine solche Preisgabe aktueller Modeinformation an die ausländische Konkurrenz galt als riskant und so versicherte die Redaktion ihren Abonnenten, die englischen Modekupfer lediglich an Mitglieder der »Société« herausgegeben und diese zur Geheimhaltung verpflichtet zu haben.19
4.4 Das Genre systematisiert die Mode Die Herrenschneiderei des späten 18. und des 19. Jahrhunderts verstand unter »Genre«20 das Genus eines Anzugs. Die Bestimmung eines Genres richtete sich nach diversen Kategorien. Dazu zählten neben Passform, Modegrad und Trageanlass auch Preis, Material- und Verarbeitungsqualität. Besondere Bedeutung hatten Alter, Status und Körperkonformation des Trägers. So entstand eine »Nomenklatur« der »generischen Anzug-Klassen«. Zur Klasse der Tagesanzüge (»classe générique des habits du matin«) beispielsweise gehörten Reitanzüge für den Vormittag, Promenadenanzüge für private Spaziergänge, Jagdanzüge sowie Straßenanzüge (Éjdt 1. 7. 1843, J 9, N 93, 152). Wie das System der Konformationen die Bauarten des Körpers klassifizierte, diente das System der Genres der Klassifizierung der Mode.21 Dass »Genre« und »Konformation« ineinander griffen, zeigt ein Kommentar des Éjdt 1839: Ein Schneider müsse die Anatomie kennen und die diversen Genres nach antiken Statuen des Apollon, des Antinous oder Herkules schon in seiner Aus18 | Möglicherweise ist L’Élégant: journal des tailleurs gemeint. Im Vergleich fanden sich in der GzF deutlich mehr Hinweise auf Aktivitäten der »Société«, als in französischen Magazinen. 19 | »Copies of the plate are only supplied to members of the society, and they are requested not to communicate the information outside the mystic circle.« GzF 1. 9. 1869, J 24, N 279, 34. 20 | Der französische Begriff »Genre« ist von »Genus« (lat. für »Gattung«) abgeleitet und dient u. a. in Kunst, Architektur, Literatur und Theater als (in neuester Zeit problematisierte) Kategorie zur Klassifizierung von Werken nach Funktion, Inhalt oder Problemstellung. Pfisterer 2003, 108. 21 | Die Ausführungen zum Genre in diesem Abschnitt beziehen sich im Wesentlichen auf JdT, Éjdt und EM. Auf vergleichbaren Klassifizierungen basierten jedoch auch die Modeberichte der GzF.
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Bild 37 • Genres des Anzugs 1839 – Junger Mann, Vierzigjähriger und Greis
bildung studieren. Beim Studium der Silene lerne er die Bauchfiguren, bei Vulkan-Statuen die gebeugten Arme und bei Flötenspielern »stabförmige« schmale Oberkörper kennen (Éjdt 20. 7. 1839, J 4, N 46, 362–63). Der schlanke Körperbau junger Männer mit gerader Haltung bildete das »genre élancé«, den genres »ordinaire« und »renversé« war ein »normaler« Körperbau der Männer mittleren Alters mit gerader oder zurückgebogener Haltung zugeordnet. Bauchfiguren und höhere Altersklassen galten wohl als zu unmodisch, um eigene Genres zu bilden. Die Mehrzahl der Modekupfer der 1830er bis 1850er Jahre orientierten sich am »genre élancé«, dem schlanken Genre für junge Männer. Ihm wurde der höchste Modegrad und alle halben Brustumfänge von 42–50 cm zugeordnet, wobei alle kleineren Brustumfänge auf 48 cm wattiert wurden. Je schlanker die Taille, die zusätzlich geschnürt wurde, um so mehr Differenz zur (wattierten) Brustbreite und ein
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umso höherer Modegrad konnte erzielt werden. Das »genre ordinaire« galt für Männer ab etwa Mitte dreißig sowie für alle »normal geraden« Konformationen (1/2 BU von 46–54 cm). Wegen ihres Alters und ihrer »breiteren« Taille kamen Modelle des schlanken Genres für Männer der Altersklasse des »genre ordinaire« nicht in Frage. Das »genre renversé« bezeichnete die sehr aufrechte Haltung mit kurzem geraden Rücken und ausgeprägter Brustrundung (1/2 BU 47–55 cm) und war auch auf kräftige Konformationen übertragbar (JdT 1. 11. 1834, J 5, N 21, 166–167). Ein Modekupfer in Éjdt 1839 (Bild 37) illustriert die Genre-Unterschiede nach Alter und Körperbau: Die linke Figur entspricht einem jungen Mann in den Zwanzigern. Sein Frack sitzt dem jungen Genre entsprechend durchgehend knapp (»habit droit«) und konveniert zum Reiten wie zu Fuß. Seine schmale Passform exponiert das Jugendliche des Körperbaus und gilt als hochmodisch. Die gerade, fast plumpe Körperkontur des etwa sechzigjährigen Herrn in der Mitte gehört zu keinem der modischen Genres. Der Schnitt sei mäßig weit (»spacieux sans exagération«). Diese Altersgruppe bevorzuge komfortable Kleidung und folge der Mode nur zögernd, kommentiert Éjdt. Die rechte Figur entspricht einem Vierzigjährigen. Er trägt passend zum mittelalten Genre einen den Körper mehr bedeckenden Gehrock, der weniger schmal ist, als der »habit droit« aber deutlich taillierter als der Körper des über Sechzigjährigen. (Éjdt 20. 4. 1839, J 4, N 43, 337–38). Das hier gezeigte Modekupfer stammt aus der Umbruchzeit Ende der 1830er Jahre, als die Männerfiguren auf den Modebildern zu altern begannen und die Taille etwas breiter wurde. Der Modewechsel vom »genre élancé« zum »genre ordinaire« ermöglichte es, auch breitere und ältere Konformationsklassen in die Mode einzubeziehen und so dem Körperbau und Komfortbedürfnis der berufstätigen Kundschaft zu entsprechen. Die Klassifizierung von Anzügen nach Genres schrieb sich auch nach dem 19. Jahrhundert in der modernen Anzug-Konfektion des 20. Jahrhunderts fort. Bis in die 1980er Jahre, als sich der deutsche Markt für Herrenkleidung durch die Globalisierung grundlegend umstrukturierte, wurden Genres nach Größe, Modegrad, Preisstufe, Qualität sowie Standort des Herstellungsbetriebes unterschieden (Hofer 1978, 24–29).
4.5 Taillierung und »anschliessende« Passform 1786 mokierte sich das Cabinet des modes über die »lange« Taille der zeitgenössischen englischen Mode und zitierte Ludwig XIV., der die Teilung des Körpers in Büste und Unterkörper durch eine eher mittig sitzende Taillenlinie befürwortet haben soll. Die tiefe englische Taille dagegen verursache eine unschöne Überlängung des Rumpfes, während die Schöße zu sehr verkürzt seien (Cdm, 1. 4. 1786, N 10, 73–76). Solche Statements zu Körpermodellierung, Schnittmuster und Taille sind in der Modeberichterstattung des 18. Jahrhunderts sehr selten. Umso bemerkenswerter ist die Erwähnung der ersten eckigen Ausschnitte der vorderen Frackschöße: 1787
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Bild 38 • Frack mit Brustwattierung 1823
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präsentierte das Pariser Magasin des modes nouvelles françaises et anglaises eines der ersten Beispiele eines »habit […] coupé par devant«. Diese eckigen Einschnitte sollten helfen, Falten im Bereich der Taille zu vermeiden, die sich bei geschlossener Trageweise durch den Zug auf die unteren Schließknöpfe bildeten. In der klassizistischen Mode der 1790er und 1800er Jahre »stieg« die männliche Taille, indem der Oberkörper optisch verkürzt wurde. Im Schnittmuster jedoch blieb die tiefe Taillenlinie – erkennbar an der tiefen Position der Knöpfe auf dem hinteren und der Taschenklappen aus dem vorderen Schoßansatz – erhalten. Durch diese Differenz der Vorder- und Rückfront war keine nennenswerte Taillierung möglich.
4.5.1 Beginn der schmalen Taille Nach 1800 »sank« die Taille wieder und wurde durch einen Taillenabnäher und später durch eine sich aus diesem Abnäher entwickelnde Taillennaht modelliert. Der Rumpf gleiche nun einem V-förmigen »Haken« (»corsage busqué«), so OdM 1821 (OdM 5./15. 7. 1821, J 4, N 37–38, 296–311). Um 1820 sind die vorderen Schöße fast vollständig ausgeschnitten. Indem die Oberkante des Ausschnitts und der Schoßansatz sich nun auf der selben Höhe befinden, kann der Taillenbereich geschlossen und eng sitzend mit stark akzentuierter Tailleneinbiegung geformt werden. Der Taillenbereich ist glattgespannt und erscheint als »natürliche« Körperform. 1837 bezeichnete Éjdt diese enge, glatt gespannte Taillenpartie als »taille plate« (Éjdt 20. 9. 1837, J 3, N 24, 190). Bis zum Ende der 1830er Jahre war die männliche Taillenlinie auf den Hüftansatz abgesunken. Die Entwicklung stand in direktem Zusammenhang mit dem Aufkommen des Gehrocks. Der Gehrock entspricht einem Frack mit vollen Schößen.22 Bei einer zu hoch sitzenden Taillennaht würden die Schöße unvorteilhaft vor dem Bauch baumeln, so das JdT im Februar 1834. Um diesen unerwünschten Effekt zu vermeiden, verlängerte man den Rumpf der Vorderteile und setzte die Schöße an der tiefsitzenden Taillennaht an. Zusätzlich wurde die Schoßpartie kuppelförmig ausgestellt, um Störungen des Sitzes durch die Beinbewegung zu vermeiden (JdT 16. 2. 1834, J 5, N 4, 26). Um 1836 war der Zenit der engen Taille erreicht: Laut Éjdt seien die Taillen nie zuvor derart schmal gewesen (Éjdt 20. 4. 1836, J 1, N 7, 51). Hosen mit engem Bund und Westen, die bis in die Taille verlängert wurden, unterstützten die Formung 22 | Im Gegensatz zum Frack, der wegen seiner Herkunft aus dem Justaucorps des Ancien Régime höfisch konnotiert ist, gilt der Gehrock als bürgerliches Kleidungsstück. Er geht auf einen Entwurf des Malers Jacques Louis David zurück, der einen Schoßrock für die Bürger des Direktoriums nach dem Vorbild des »Faltrocks«, des bürgerlichen Schoßwamses mit knielangem faltigen Schoßteil des 16. Jahrhunderts, entworfen hatte. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Gehrock zum bürgerlichen »Ausgehrock«. Hochschule für angewandte Kunst in Wien 1987, 87–88.
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einer schmalen Taille. Zu den verborgenen Hilfsmitteln zählten auch Taillenbänder aus Rips, die innen in die Jacke eingearbeitet und wie ein Gürtel straff gezogen einen deutlichen Taillenknick erzeugten.
Bild 39 • Wespentaille – »Uniformes russes« 1815
4.5.2 Brustwattierung und »genre uniforme« Zur Modellierung des keilförmigen Rumpfes gehörte die Wattierung der Brust und der oberen Rückenpartie. Die wattierte Brustwölbung kam bei hochgeschlossenen Jackenfronten mit zweireihiger V-förmig angeordneter Knöpfung besonders zur Geltung. In Analogie zur »taille plate«, der glattgespannten Taille, wurde auch die »poitrine plate« möglichst faltenfrei modelliert. Wie die Modellierung einer »breiten« und glattgespannten Brust trotz großem Dékolleté geformt wurde, zeigt ein Modekupfer von 1823 (Bild 38). Man polsterte die seitlichen Partien der Brust und betonte die Brustrundung durch die geschwungene Form des Reverskragens sowie durch plastische Hemdrüschen oder eine steife Hemdbrust. Wattiert wurde zwi-
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Bild 40 • Figur rechts: »genre uniforme« – Gehrock mit Brusttasche und Einstecktuch 1837
Bild 41 • Brustabnäher und Anglaise – angesetzte vordere Knopfleiste
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schen Reverskragen und Armloch sowie unterhalb des Armlochs bis in den Rücken. Um die Taille schmal zu halten, endete die Wattierung recht abrupt etwa auf Magenhöhe. Zusätzlich wattierte man die Ärmel von der Schulter bis zum Ellbogen, den Übergang von Schulter- und Armlochbereich zur Brust sowie die fallende Schulterlinie,23 aus der sich ein tiefsitzender Ärmel als Merkmal des hochmodischen »genre élanće« ergab. Die Brustwattierung erhöhte die Differenz von Brust- und Taillenumfang und diente der Übertragung der modischen Keilform auf breitere Körper. Vermutlich ab den 1820er Jahren wurde die Brustwölbung durch einen Form streifen mit einer zweiten Knopflochleiste (»Anglaise«) modelliert, der mittels einer vertikalen Naht in der vorderen Mitte der Jacke ansetzte. Zur Modellierung des keilförmigen Rumpfes setzte man Formnähte und Abnäher ein, die sich in den 1830er Jahren zum Erkennungsmerkmal perfekt sitzender Kleidung entwickelten. Die modische Bedeutung der Anglaise zeigt die spätere betrügerische Praktik, sie gemäß vereinfachter Herstellungsprozesse durch Stickstiche aus schwarzem Garn lediglich vorzutäuschen. Gewölbte »breite« Brust und schmale Taille entsprachen den klassizistischen Idealen napoleonischen Ära. Sie hatten ihr Vorbild in der Uniformschneiderei dieser Zeit, welche die »Wespen«-Taillen russischer Offiziere der 1810er Jahre adaptierte und durch Brustwattierung zusätzlich akzentuierte (Jdm 10. 4. 1817, J 21, N 20, 160). Um eine Uniform so zu wattieren, dass sie nicht »lächerlich« wirke, brauche der Schneider viel Erfahrung, so Léger, ein Uniformschneider der napoleonischen Zeit, der noch Dekaden später als anerkannter Spezialist für Wattierung galt. Er riet, den Effekt der Wattierung hinsichtlich der Mehrweite im Stoff zunächst an Probemodellen zu ermitteln und auch die Konsistenz und Dichte der Watte zu beachten. Légers Grundsatz, die »Füllung« sei in der Herrenschneiderei so entscheidend, wie Rüschen in der Damenmode, galt in der französischen Maßschneiderei auch noch Generationen später (Éjdt 20. 12. 1837, J 3, N 27, 212).24 Hochgeschlossene Vorderfront, gewölbte Brust und schmale Taille bildeten das »genre uniforme« in der zivilen Männermode (Bild 37, Figur rechts). Zu diesem Genre zählt ein vorn geschlossener, zweireihiger Gehrock mit sich kreuzenden Vorderteilen (»redingote croisée«), Posamentenbesatz und Riegelverschlüssen im Husaren-Stil. Zur Formung der schmalen Taille war der erwähnte lederne Korsettgürtel der Offiziere wohl auch Teil der Modekleidung. 1847 erwähnt ihn ein Bericht des Éjdt als nicht mehr zeitgemäße Praktik der Taillenmodellierung (Éjdt 1. 5. 1847, J 12, N 140, 1993–1994). 23 | »Donner [les épaules] de la pente« wörtlich übersetzt: den Schultern ein »Gefälle« geben. Éjdt 20. 1. 1837, J 3, N 16, 123. 24 | Es ist davon auszugehen, dass die im Éjdt kolportierten Aussagen Légers auf Offiziersuniformen und somit auf Einzelfertigung bezogen waren, was nicht ausschließt, dass seine Technik auch bei einfacheren, seriell produzierten Uniformen zur Anwendung kam.
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Bild 42 / 43 • Innenseite Uniform 1870 – Wattierung und ledernes Taillenband
Die Uniform eines Pariser »cavalier de la garde nationale« der 1870er Jahre zeigt, dass Brustwattierung und lederne Taillenbänder in der Uniformschneiderei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten blieben, als diese Elemente in der zivilen Männermode bereits zu veralten begannen.
4.5.3 Französische Kurven und englische Geraden – Nationale Genres In den französischen Modeberichten des 19. Jahrhunderts wurde jede Tendenz der Begradigung und Simplifizierung auf die englische Herrenschneiderei zurückgeführt, da ja die Konfektion als Modefaktor ignoriert wurde (Éjdt 20. 5. 1837, J 3, N 20, 154–55). Die Sichtweise entsprach einer bereits seit dem 18. Jahrhundert vorherrschenden Zuordnung loser Passformen zur englischen Mode. Aus England, dem Land des Sports, stammten die Tuchanzüge für Reiten, Sport und Jagd. Der englische Reitmantel (»redingote«) bestimmte die Männermode der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und wurde als »Gehrock« des »genre ordinaire« auch im 19. Jahrhundert weiterhin getragen. Mit dem englischen »morning coat« entwickelte sich eine knappe und daher leichte Form des Reitfracks aus Tuch mit abgerundeten oder eckig weggeschnittenen Schößen, die auch den Frack des 19. Jahrhundert bestimmte. Auch im 19. Jahrhundert galt funktionale, sportliche Kleidung mit bequemer Passform als englisches
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Genre. Ab September 1846 veröffentlichte die GzF in jeder Ausgabe eine englische Modentafel speziell zu Jagdkleidung (»shooting jackets«), um die Dominanz der englischen Mode auf diesem Gebiet herauszustellen (GzF 1. 7. 1846, J 1, N 3, 17–18). In den 1850er Jahren, der letzten Dekade, in der Taillierung und enge Passform die Männermode bestimmten, wurden Brustpolsterung und Schnürung der Taille in der französischen Mode beibehalten. Im Vergleich erscheinen die geraden englischen Formen moderner: Der englische Modekörper 1854 ist »um die Hüften ziemlich fadengerade gearbeitet, sodaß sich die Taille kaum markirt. Der Engländer liebt diese Form […]; wir sehen darin […] eine der wesentlichen Eigenthümlichkeiten der englischen Tracht.« (EM 1854, J 4, N 8, 1) »[Man] kann […] das englische Genre […] als dominirend betrachten und [es ist] als maßgebende Norm und Regel festzustellen, daß kein Kleidungsstück, welches zur Bekleidung des Oberkörpers bestimmt ist, […] beinahe nirgends, am wenigsten in der hintern Partie schließen25 darf.« (EM 1861, J 11, N 9, 1) Demnach trug das »legere und ungezwungene« englische Genre erheblich zur Lockerung der Passformen bei. Als »englisch« galt die Vermeidung von Falten durch Perfektionierung des Zuschnitts. Durch gerade Konturen konnte man in der englischen Mode auf Watte verzichten. 1862 bestätigte die EM, dass sich das englische Genre international durchgesetzt hatte: »Wir wissen, daß der englische Trachtentypus sich von jeher durch Bequemlichkeit und hängenden Schluß im Allgemeinen charakterisirte, während der französische ganz entgegengesetzt sich in früherer Zeit durch einen Anschluß, der sich oft bis zur Unbequemlichkeit steigerte, ausgezeichnet hat, und nur erst in letzter Zeit dem legèren Genre huldigte.« (EM 1862, J 12, N 3, 1) Flache Brust und »hängende« Passform der englischen Männermode können aus meiner Sicht als Versuch interpretiert werden, sich durch einen national spezifischen Modestil gegen die französische Konkurrenz abzugrenzen. Der französisch-englischen Dominanz versuchten die Herausgeber der EM ein »deutsches Genre« entgegenzusetzen: »Genau betrachtet ist die Mode in unsern Tagen weder deutsch, noch französisch oder englisch; sie ist vielmehr kosmopolitisch, und nur der besondere Geschmack einzelner Nationen der gebildeten Welt bringt kleine Veränderungen in das Gesamtbild. Der Franzose trägt sich gern zierlich, knapp und sozusagen geschniegelt; der bequeme Engländer dagegen liebt seine Kleidung überaus bequem und gefällt sich in einem gewissermaßen steiferen Typus der Tracht. Dagegen weiß der Deutsche diese beiden Richtungen mit Kunstsinn und Geschmack zu vereinigen, indem er […] von jedem das Beste sich aneignet […].« (EM 1872, J 22, N 6, 1) 25 | Mit »schließen« im Sinne von »anschließen« wird hier eine eng anliegende Passform bezeichnet.
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Bild 44 • Das fadengerade englische Genre 1854
In der Diktion des modernen Nationalismus als Verbindung von Geschäftsinteresse und Nationalgefühl konstruierten Maßschneider und Fachmagazine nationalspezifische »Trachtentypen«, deren Merkmale angebliche essentielle Wesenszüge der Nationen spiegelten. Diese angeblich im Nationalen verankerten »Geschmacksunterschiede« waren ein Versuch, den Artikeln der Maßbranche im eigenen Land ein spezifisches Gepräge zu geben und sie angesichts der Vereinheitlichung und Standardisierung der Männermode durch Normalsystem und wachsende Konfektionsindustrie auf diese Weise wettbewerbsfähig zu erhalten.
4.5.4 »To produce roundness« 1868 publizierte die GzF eine Studie zu Abnähern und Einsatz des Bügeleisens, die Klemms Verständnis des »anschließenden« französischen und des »hängenden« englischen Genre bestätigt (GzF 1. 12. 1868, J 22, N 272, 58–60). Ihr Verfasser Monsieur Roussel, ein Lehrer für Zuschnitt aus Paris, plädiert für eine Rückkehr zu Rundungen in der Männermode. Englisch übersetzt lautete Roussels zentrale Forderung: »To produce roundness«.
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Bild 45 • Rundungen der französischen Männermode 1854
Kurven und Rundungen zu produzieren, versteht Roussel als oberstes Ziel der Herren- wie der Damen-Maßschneiderei sowie als Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konfektionsindustrie, die solche komplexe Schneidertechnik nicht leisten könne. Daher sollte die Maßschneiderei runde Formen in Mode halten, um die Konfektionäre in Nachteil zu bringen. Für Roussel sind runde Formen keineswegs »weiblich«, sondern das spezifische Verdienst französischer Schneiderkunst. Ausführlich verweist er auf die Pariser Maßschneider des frühen 19. Jahrhunderts, die es noch verstanden hätten, einen Körper mittels Watte zu verschönern. Ausdrücklich lobt Roussel die Damenmode, in der sich Geschmack und Sinn für runde Formen gehalten hätten. Die geraden Formen der Mode in England kritisiert Roussel dagegen als fatalen Geschmacksfehler der englischen Fachkollegen, die durch Simplifizierung von Passform, Zuschnitt und Verarbeitung die Konfektionsindustrie begünstigt hätten. Dass Roussels Artikel trotz seiner massiven Angriffe gegen die englischen Schneider in der GzF abgedruckt wurde, erklärt sich aus dem gemeinsamen Ziel, die Konfektionsindustrie aus der Männermode abzudrängen. Seiner Forderung, runde Konturen und enge Passformen in die Männermode zurückzuholen, schloss
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Bild 46 • 1850 – Taille und Taillennaht getrennt, Figur rechts: Bonaparte-Stil
sich die Redaktion ausdrücklich an. Auch in früheren Ausgaben der GzF waren »überweite« Passformen als »Übel« oder »störend für das Auge« deutlich kritisiert worden. Eine Möglichkeit für Bewegungskomfort ohne weite Passform sah die Gazette bereits Anfang der 1850er Jahre im gezielten Einsatz elastischer Gewebe insbesondere an den Bewegungspunkten von Ärmeln (GzF 1. 6. 1852, J 7, N 74, 317).
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4.6 Begradigung der Silhouette Eine schrittweise Entwicklung zu leichterer Verarbeitung und Reduktion der Watte setzte schon in den 1830er Jahren ein. Bereits 1834 befand das JdT, man sei zu sehr an leichte Kleidung gewöhnt, um sich noch mit »störenden« Brustpolstern zu belasten (JdT 16. 1. 1834, J 5, N 9, 10). Die schmale Taille formten leichte Einlagen aus fester Baumwolle exakt nach dem Schnitt des Taillenbereichs (»[une] toile coupée exactement comme le bas du corsage«). Die Magazine propagierten sie als Ersatz für lederne Korsettgürtel, die nicht nur einengten, sondern zudem unangenehm rochen. Ein bequemer, mäßig anliegender Sitz wurde auch aus »hygienischen« Gründen gefordert: Die Luft könne so besser um den Körper zirkulieren (Éjdt 1. 5. 1847, J 12, N 140, 1993–1994). Legere Trageweisen kamen in Mode. Fräcke und Gehröcke wurden vermehrt offen getragen und übten so weniger Zwang auf den Körper aus. Der Bonaparte-Frack, der in den 1830er Jahren in Mode kam und wie alle Fracks der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum »genre élancé« gehörte, erscheint als geradezu kurioses Zeichen eines sich von fern andeutenden Interesses an mehr Tragekomfort. In Anspielung auf die hohe Taille und die ab Brusthöhe weggeschnittenen Schöße des napoleonischen Militärfracks saß der Schließknopf des hochmodischen Fracks oberhalb der Taille, sodass sich auf Taillenhöhe ein deutlicher Abstand zwischen den rund gebogenen Vorderkanten bildete. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer zu eng geratenen Jacke, aus der ihr Träger, nachdem er sie aufgeknöpft hat, förmlich herausquillt. Ob bewusst oder unbewusst wurde im Bonaparte-Frack dieses Herausquellen aus allzu engen taillierten Passformen zum Modethema.
4.6.1 Trennung von Tailleneinbiegung und Taillennaht Mit der Mode-Konjunktur des »genre ordinaire«, der Simplifizierung der Schnittmuster und der Lockerung der Passform, kam man in den 1840er und 1850er Jahren schrittweise von der extremen Taillierung ab. Im Verständnis der Schneiderei wurde die Taille – auch des schlanken Genre – in den 1840er Jahren »breiter«. Tatsächlich aber trennte sich die Tailleneinbiegung von der tiefen Taillennaht, wie an den Rockjacketts auf einem Modebild der GzF von 1850 (Bild 46, Figuren links und rechts) zu sehen ist. Durch konkave Einbiegung der Seitennaht oberhalb der Taillennaht wurde eine längliche, flachere Taillenkontur modelliert. Brust und Taille wurden noch immer betont, jedoch ohne zu sehr zu beengen, so die zeitgenössische Auffassung. Dieses Abflachen der Tailleneinbiegung ging vor allem vom Schnittmuster des Rückens aus, das nun immer häufiger auf die hintere Mittelnaht und damit auf eine Hohlung des Rückens verzichtete. »Die Taille ist hinten ganz flach«, verkündete das PMJ bereits 1839.
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Bild 47 »Manteau à pélérine« 1834 – ohne Pelerine ein Paletot
4.6.2 Der »häßliche« Paletot Ende der 1830er Jahre häuften sich die Berichte zu einem sackförmig geschnittenen Paletot (»paletot sac«), dessen zunehmende Verbreitung bei den Maßschneidern für Unruhe sorgte. Die Adaption weiter Passformen in der eleganten bürgerlichen Kleidung war allerdings kein Novum. Neben weiter Kleidung für Sport und Bewegung waren seit dem 18. Jahrhundert Capoten in Form großer Capes und Pelerinenmäntel der Kutscher und Soldaten auch in der zivilen Mode verbreitet, so die »capote a collet ou mieux capote-manteau« mit mächtigen Schulterpelerinen. Eine zivile
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Bild 48 • »Häßlicher Paletot« 1839
Modeform der Capote war der Carrick mit mehreren übereinander gestaffelten Pelerinenkragen, der bis zu Beginn der 1830er Jahre in Mode war (Vandael 1833, 38). Mit dem »Manteau à manches et collets de fourrure [et] pélérine pleine« präsentiert JdT 1834 einen modischen Wintermantel dieses Stils (JdT 16. 10. 1834, J 5, N 20). Ohne die meist abnehmbare Pelerine getragen, entsprach ein solcher Mantel einem Sackpaletot. Das zeigen auch die weiten Ärmel der Capemäntel, die beim Sackpaletot erhalten blieben. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass die Capote eine der Vorformen des Sackpaletots ist. Auch in den 1840er und 1850er Jahren blieben Cape-Mäntel in Mode. Aus teuren Stoffen und mit eleganten Details wurden sie Teil
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der Abendkleidung. Durch neuartige Double-Face-Stoffe mit verschiedener Oberund Unterseite entfiel mit dem Mantelfutter auch die Bildung störender Zugfalten, was die Herstellung weiter Mäntel deutlich vereinfachte und ihr Gewicht erheblich reduzierte. Capes und Paletots für den Winter erhielten separate Steppfutter, um störende Zugfalten zu vermeiden. Zur Entwicklung des Sackpaletots trugen vermutlich auch wasserdicht beschichtete Mäntel bei, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem erfolgreichen englischen Exportartikel entwickelten. Wegen der Steifigkeit des beschichteten Materials hatten sie gerade Nähte und körperferne Passformen. Wann und von wem begonnen wurde, den Sackpaletot als Modeartikel zu produzieren, liess sich nicht klären. Möglicherweise steckt schon in einem Bericht zu gerade geschnittenen Redingoten von 1818 ein früher Hinweis auf den Beginn dieser Mode. Dafür spricht, dass die beschriebenen Redingoten rundum bordiert waren, um ihnen, trotz einfachster Verabeitung, Stand und Sitz zu verleihen.26 Ein solches Einfassen der Saumkanten mit steifen Borten aus Roßhaar wurde später zum Erkennungsmerkmal leicht verarbeiteter Sackpaletots und Sakkos. Um 1820 verbreitete sich der Begriff Paletot als generelle Bezeichnung weiter Mäntel ohne Taillennaht. Der Paletot ging auf diverse sackförmig geschnittene Kleidungsstücke der Arbeitskleidung zurück und war insofern mit dem geringen Sozialstatus der Unterschicht verbunden. Dass die Magazine die scharfen Klassengrenzen des 19. Jahrhunderts billigten und modische Kleidung ausschließlich den Oberschichten zugestanden, zeigt der kalte Spott über die Armen, der die Modeberichte durchzieht. Den »croquant« der Unterschicht im eleganten Mantel eines führenden Hauses fand man ebenso lächerlich und undenkbar wie es auch einem Schneider »de bas étage« niemals möglich sein würde, den »Mann von Welt« angemessen zu kleiden (Éjdt 1. 4. 1842, J 8, N 78, 627–28). Diese hierarchische Denkweise stand jedoch in Widerspruch zum Erfolg der Konfektion, deren niedrige Preise auch die gehobene Kundschaft anlockten. Als Überläufer aus der Konfektion wurde der Sackpaletot seitens der Magazine zunächst heftig abgelehnt oder in den Modeberichten solange ignoriert, bis die Leserschaft mehr Information zu dem stark nachgefragten Artikel forderte. Frühe Erwähnungen finden sich Mitte der 1830er Jahre im Pariser Journal des Tailleurs. Hier liest man im Dezember 1836, die Anzahl der Pariser »paletaux«-Träger sei noch überschaubar : elf im Théâtre-Italien, in der Oper und beim Pferderennen im Bois de Boulogne (Éjdt 20. 12. 1836, J 2, N 15, 115). In der Wintersaison 1838 präsentierte Éjdt erstmals ein Modekupfer eines Sackpaletots. Dieser mit Fell gefütterte »manteau-paletot« aus Samt ist ein betont elegantes Hybrid aus Paletot und Cape. Der Sackpaletot galt als Unglück, welches sich aus den Regalen der ärmlichen Konfektionsgeschäfte in den Vorzimmern der eleganten Welt ausgebreitet hatte (Éjdt 20. 1. 1839, J 4 ,N 40, 313–14) und das Eleganz-Monopol der engen Passform 26 | »Quelques tailleurs font des redingotes droites […] bordées partout«. Jdm 31. 3. 1818, J 22, N 30.
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Bild 49 • Von links: »Manteau-paletot«, taillierter Paletot, Hausmantel im orientalischen Stil 1838
in Frage stellte. Der Erfolg der sackförmigen Passform zwang die Maßschneider, ihre ästhetischen Ziele neu zu definieren. Aus der Sackform entwickelten sie einen eleganten Modestil, indem sie die Weite der Passform übertrieben. Die Schneider kreierten glockenförmige Umhänge (»cloches«) oder weite Kapuzenmäntel (»bournus«) aus eleganten Stoffen, die aufwändig mit Seide gefüttert und mit Bortenbesatz im Uniformstil dezent dekoriert wurden. Durch kostbare Materialien und aufwändige Verarbeitung unterschieden sich die distinguierten Capemäntel deutlich von den simplen Modellen der Konfektion (Éjdt 20. 1. 1838, J 3, N 28, 221). »Es ist fast unglaublich, wie die häßlichen Paletots so sehr Eingang finden konnten; wir unsererseits können ihnen nicht den geringsten Geschmack abgewinnen, und nur ein Wort zu ihrem Lobe sprechen, und das ist sie sind ›komod‹, und wahrscheinlich dieser Commodität wegen werden sie von den Herren so gerne getragen. Das Allerneueste unter den Herrenmoden ist also der Paletot mit Schnüren besetzt«, kommentierte 1839 das in Ulm herausgegebene PMJ (PMJ 22. 12. 1839, N 51, 400).
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»Schnüre« sind Riegelverschlüsse aus geflochtenen Borten (»Husarenriegel«). Solche »orientalischen« Stilmerkmale wurden im 17. Jahrhundert aus der Kaftan-Kleidung osteuropäischer oder türkischer Soldaten des Dreißigjährigen Krieges in der europäischen Uniform und Mode adaptiert. Sie verbanden sich mit kolonialen Einflüssen – so durch die englischen Importe indischer Gewänder – zu einem Stilprogramm für weite, annähernd schnittlose Kleidungsstücke wie beispielweise bequeme Hausmäntel und wurden konsequenter Weise auch in das stilistische Repertoire der Sackpaletots übernommen (Bild 48). Die für maßgeschneiderte Paletots verwendeten braunen oder naturfarbenen Tuche demonstrierten deren Schlichtheit als Eleganzprinzip. Auch die Maßschneider hatten verstanden, dass insbesondere die komfortable Passform erfolgreich war. Um diesen Vorteil zu erhalten, wurde der Sitz des maßgeschneiderten Sackpaletots lediglich durch leichte Formung der Schulter- und Seitennähte korrigiert. Aufgrund seiner Weite wurde der Sackpaletot nicht wattiert. Um der Form dennoch Konsistenz zu geben und unbeabsichtigte »häßliche« Faltenbildungen zu vermeiden, empfahl Éjdt 1842, die Vorderteile mit Seide zu füttern und – wie bei Hemden – den Schulterbereich und die seitlichen Körperpartien zu unterlegen (Éjdt 1. 4. 1842, J 8, N 78, 628). Distanzierten sich die Maßschneider der 1830er Jahre noch rigoros vom Sackpaletot, ist zu Beginn der 1840er Jahre eine neue Strategie zu beobachten: Seine Vorzüge – Bewegungsfreiheit und Tragekomfort – wurden in vielen Modeberichten lobend hervorgehoben. Im Januar 1847 meldete Éjdt schließlich die Adaption des Sackpaletots in der eleganten Kleidung und erinnerte aus diesem Anlass nochmals an das Gelächter, als sich in den 1830er Jahren erstmals zwei modebewusste junge Herrn der Gesellschaft im Sackpaletot in die Pariser Oper gewagt hatten. Damals hielt man ihren Aufzug für einen charmanten Scherz. Über Nacht ließen sie ihre Paletots umarbeiten. Als sie dann am nächsten Tag wiederum mit den nun »retuschierten« Mänteln erschienen, verstummten die Lacher. Die Maßschneider waren überzeugt, dass es neben solchen »novateurs« der Mode vor allem ihren Bemühungen und Verschönerungen zu verdanken sei, dass der Sackpaletot zu einer gesellschaftlich akzeptierten Mode geworden war (Éjdt 1. 1. 1847, J 12, N 136, 1970). Da jedermann auch ohne Anprobe in den weiten Mantel hineinpasste, begünstigte seine Verbreitung die Konfektionsindustrie. Im Interesse der Maßbranche forderte Klemm, mit Hilfe der Magazine für den Erhalt taillierter Schnitte und körpernaher Passformen zu sorgen und so der drohenden »Concurrenz der Kleidermanufacturen« durch »graziöse und kunstvolle Schnittführung« entgegen zu treten (EM 1852, J 2, N 4, 1). Näher an der Realität argumentierte die GzF, die in der »Revolution« der weiten Kleidung neue Betätigungsfelder für die Maßschneiderei erkannte: »The introduction of loose garments, […] opened a field for the ingenuity […] of our trade whose [members] are continually on the rack of the discovery of some new idea […] for the fancy of a class or contributing to the comfort of the mass.« (GzF 1. 5. 1852, J 7, N 73, 1) Von der Transformation des »paletot sac« in ein elegantes
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Bild 50 • Figur links: englischer »sac« 1852
Kleidungsstück sowie der Differenzierung in Sommer- und Winter-, Tages- und Abendmantel erhoffte sich die Maßbranche eine einträgliche Erweiterung der eigenen Produktpalette (Éjdt 1. 12. 1842, J 8, N 86, 692). Als »sac« aus Tuch oder Tweed im Park, auf Rennbahnen, zum Angeln oder Rudern getragen, wurde der Sackpaletot zu einem Standard des sportlichen Genre. Neben der komfortablen Passform und den weiten »Pagodenärmeln«, die als schlichte Einnahtärmel geschnitten wurden, gehörte die Bordierung zu seinen spezifischen Stilmerkmalen (EM 1852, J 2, N 6, 3).
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Bild 51 • Figur links: Chesterfield 1852 – gerade geschnittener Kurzmantel über Weste getragen
Das Einfassen der Saumkanten durch Borten aus Roßhaar sollte dem leichten Kleidungsstück Stand verleihen. In der Folge wurde diese Bordierung zum Erkennungszeichen moderner weicher Verarbeitung und in Form von Paspelierungen der Saumkanten zum Modethema der 1860er und 1870er Jahre. Gegen Ende der 1850er Jahre war der Sackpaletot auch in der Maßschneiderei akzeptiert. Als Wegbereiter des Sakkos markierte er den Wendepunkt zur Moderne in der Männermode.
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4.6.3 Vom Sackpaletot zum Sakko Eine wesentliche Etappe des Transformationsprozesses vom sackförmigen Mantel zum Sakko war das Tragen des Sackpaletots auf der Weste. Diese Tragweise setzte sich in den 1840er Jahren allgemein durch, wobei Sackpaletots auch weiterhin als Mantel über einem Frack- oder Gehrockanzug getragen wurden. Die Entwicklung war begleitet von einer signifikanten Verkürzung der Säume, die das Stoffgewicht reduzieren half und die Beinbewegung erleichterte. Aus der Doppelfunktion von Mantel und Jacke entwickelten sich Übergangsformen wie der Chesterfield27, der Anfang der 1850er Jahre als gerader, mäßig weiter Kurzmantel in der englischen Mode aufkam und laut Modeberichten primär auf einer Weste getragen wurde.
4.6.4 Taillierung durch vertikale Nähte – taillierter Paletot und Rockjackett Um den Trend zu weiten Passformen zu stoppen, hatte die Maßschneiderei bereits Ende der 1830er den taillierten Paletot lanciert, der einem Gehrock ohne horizontale Taillennaht gleichkam. Das Schnittmuster war vom Justaucorps des 18. Jahrhundert abgeleitet und basierte auf der Taillenformung durch vertikale Abnäher und konkave Einbiegung der Seitennähte. Spezifisches Merkmal sind die Schoßfalten, die sich durch Mehrweite des Saumes bildeten. Sie sollten mehr Beinfreiheit bieten, als der simpel und gerade geschnittene Sackpaletot der Unterschicht und ihn von dessen »primitiver« Form unterscheiden (Éjdt 20. 2. 1838, J 3, N 29, 226). In den 1840er Jahren differenzierten sich die Passformen. Neben eng taillierten gab es mäßig anliegende Passformen, die auch die Verwendung dickerer Stoffe wie den flauschigen »Castor« erlaubten. 1846 berichtet die GzF von leichten Taillierungen, die lediglich durch einen vertikalen seitlichen Abnäher erzielt wurden (GzF 1. 5. 1846, J 1, N 1, 8). In den 1850ern setzten sich diese Tendenzen fort, bis der taillierte wie auch der trapezförmig ausgestellte Paletot in den 1860er Jahren verschwanden und die Bezeichnung generell auf Mäntel in Form des darunter getragenen Sakkos überging. Dem Prinzip des taillierten Paletots, die horizontale Taillennaht durch vertikale Nähte und Abnäher zu ersetzen, folgte auch das Rockjackett, das sich in den 1840er und 1850er Jahren neben dem Gehrock zur häufigsten Form des Tagesanzugs entwickelte. Der Begriff »Rockjackett« setzt sich aus »Rock« und »Jackett« zusammen. Als 27 | Ingrid Loscheks Definition des Chesterfield als ein »eleganter, gerader Herrenmantel aus leichterem Wollstoff […], einreihig, […] mit verdeckter Knopfleiste, […] eingesetzten Ärmeln, steigendem oder fallendem Revers und oft mit Samt besetztem Oberkragen« gilt für dessen standardisierte Form im ausgehenden 19. Jahrhundert. Seit den 1880er Jahren folgten Paletot und Chesterfield dem Schnittmuster des darunter getragenen Sakkos. »Nach dem 1. Weltkrieg hieß in Deutschland jeder einreihige Mantel mit Revers ›Chesterfield‹.« Loschek 1987, 149–50.
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Bild 52 • Schnittmuster eines taillierten Paletots 1846
Bild 53 • Rockjackett 1851
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Rock wird eine lange Schoßjacke mit tiefem Dekolleté und Taillennaht, als Jackett eine kurze Jacke ohne Taillennaht mit hochgeschlossener Fasson bezeichnet. Beim Rockjackett verbinden sich beide Prinzipien. Zwischen Rockjackett und Gehrock bildeten sich diverse taillierte Mischformen. Wie der taillierte Paletot hat das Rockjackett eine weniger ausgeprägte Tailleneinbiegung. Die Idee einer »bequemeren« mäßigen Taillierung durch vertikale Nähte und Abnäher konnte die fortschreitende Begradigung der Taille nicht aufhalten, sondern trug wohl eher dazu bei. Eine definierte Tailleneinbiegung mit Taillenknick, wie bei einer horizontalen Taillennaht möglich, kann durch eingebogene Seitennähte nicht erzielt werden. Die Taillenkontur wurde zusehends flacher. Das Vorderteil des Rockjacketts von 1851 (Bild 53, Mitte) hat einen Tailleneinschnitt, in den das kurze Seitenteil (Bild 53, rechts unten) eingesetzt wird. Unterhalb der Brust sitzt ein leicht taillierender vertikaler Abnäher. Das Rückenteil (Bild 53, links) entspricht dem eines Fracks oder Gehrocks mit verkürzten Schößen. Die vordere Kante des Vorderteils ist in der Art eines Sakko-Jacketts gerade (EM 1851, J1).
4.7 »Als wäre man ein freierer Mensch« In den 1840er Jahren wuchs der Einfluss des englischen Genres insbesondere bei Anzügen für Angeln, Jagen oder Promenade. Die leicht verarbeiteten, körperfern ohne Taillennaht und mit annähernd geraden Seitennähten geschnittenen Jacketts waren wegen ihrer Bequemlichkeit auch in der vornehmen Gesellschaft sehr erfolgreich. Zum Genre des Jackett-Anzugs gehört das Prinzip der Materialeinheitlichkeit, das der Konfektionsindustrie die Stoffbestellung erleichterte und dem Sakko-Anzug einen pragmatischen Ausdruck und uniformisierende Wirkung verlieh. Besonders deutlich tritt die Materialgleichheit von Jacke und Hose bei Karo-Dessins hervor, deren lotrechtes Raster zudem die dem Fadenlauf folgende Ausrichtung der »fadengeraden«, körperfernen Schnittmusterteile optisch hervorhebt. Durch das Rasternetz tritt die Körperform in den Hintergrund. Der Körper erscheint abstrahiert. Dieser Tendenz, die Präsenz der Körperform zu mindern, entspricht auch der im Vergleich mit dem tiefen Dekolleté des Fracks kleine Halsausschnitt, der für Jacketts vorgeschrieben war. Anfangs galten Sakkoanzüge ausschließlich als Legerkleidung für Freizeit und Sport. Gemäß dieser Konnotation ist die Formgebung des Sakkos von Komfort bestimmt. Nach anfänglichem Zuspruch lehnten die »eleganten Zirkel« die Sackjacketts wegen ihrer »demokratischen« Verbreitung in allen sozialen Schichten jedoch bald wieder ab: »However comfortable a garment may really be, it looses his virtues, in the opinion of a certain portion of society, when made too common.« (GzF 1. 6. 1850, J 4, N 50, 167). Durch ihre Ablehnung bremsten die Oberschichten den Modeerfolg der Jacketts, so die GzF. In dem auf diese Weise taillierte Formen in Mode blieben und dem Geschmack der vornehmen
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Kundschaft gefolgt wurde, lancierten die Magazine zwischen 1845 und 1850 mit tailliertem Paletot sowie dem Rockjackett als Tagesanzug einen Trendwechsel, der den Geschäftsinteressen der Maßschneider entsprach. Das Prinzip der Materialeinheitlichkeit ging auf den Rockjackett-Anzug als vielleicht häufigsten Tagesanzug der zweiten Jahrhunderthälfte über und die Zahl der Anzüge aus einheitlichem Material wuchs stetig. Dem uniformen Look der Jackett-Anzüge stand die farbliche Unterscheidung der Körperpartien durch unterschiedliche Stoffe von Jacke, Hose und Weste als Merkmal der Frack- und Gehrock-Anzüge gegenüber, deren taillierte Passform mit dieser farblichen Hervorhebung der Körperform korrespondierte. Ein weiteres Begleitphänomen des Jacketts war die allgemeine Verkürzung der Saumlängen auch bei Mänteln (GzF 1. 11. 1852, J 7, N 79, 342).
Bild 54 • »Sacko« 1856
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4.7.1 »Sacko« 1856 präsentierte die EM erstmals ein als »Sacko« bezeichnetes Modell des Prager Hoflieferanten und Akademie-Mitglieds Robert Krach. Die deutsche Modentafel zeigt einen Tagesanzug für Promenade, Jagd und zum »Spazierreiten« als materialeinheitliche Kombination aus sehr kurzer, einreihiger Jacke mit kleinem Dékolleté und paspelierten Kanten sowie einer mäßig engen Röhrenhose und einer Schiffchen-artigen Kopfbedeckung. Das »Sacko wird, um den Bewegungen des Körpers recht nachzugeben, von einem weichen elastischen Wollenstoffe nach Befinden ohne Futter gefertigt« und hat demnach wohl keine Polsterungen oder Einlagen (EM Juni 1856, J 4, N 6, 3). Bemerkenswert ist die bis zu den Hüften gerade Passform. Die in den 1840er Jahren noch leicht ausgestellte Schoßpartie verkürzt sich in den 1850er Jahren auf Hüfthöhe und sitzt dem Körper an. Indem der untere Saum auf der Höhe endet, wo Gesäß und Hüften am stärksten sind, kann die Schoßpartie gerade bleiben. Diese Nivellierung der Hüftrundung stellt einen entscheidenden Schritt zur Begradigung der männlichen Körperkontur dar. Im Oktober 1856 schrieb die EM über das Jackett: »Es ist unbestritten eine hübsche Tracht und kommt uns vor, als könne man sich in einem solchen Kleidungsstück zwangloser bewegen – als wäre man ein freierer Mensch.« (EM Oktober 1856, J 6, N 10, 1)
4.7.2 Die 1860er Jahre: Komfort und »Tubular Looseness«28 Dass Männer, wie noch in den 1820er Jahren, aus Gründen der Eleganz im Sommer wollene Hosen trugen,29 war nach der Jahrhundertmitte undenkbar geworden. In den aufgeblähten Passformen der 1860er Jahre werden Komfort und Pragmatismus selbst zu Leitmotiven der Mode. Büro-, Freizeit- und Sommerkleidung sollte bequem sein. Aus Gründen des Komforts begann man Ende der 1840er Jahre, die Ärmel insbesondere im oberen Bereich und am Ellbogen weiter zu schneiden. 1854 waren die Ärmel schließlich durchgehend weit. Begradigung der Nähte und Reduktion des Gewichts durch weniger Watte, kürzere Saumlängen und Entfernen von Ärmelaufschlägen optimierten den Tragekomfort. In den Jahren zwischen 1859 und 1861 setzte sich die gerade, körperferne Passform des Rumpfes sowie gleichmäßig weite Arm- und Beinröhren allgemein durch: »Ease is now looked upon as the desideratum of all articles of dress.« Bis 1860 hatte sich das untaillierte körperfern geschnittene Jackett zusammen mit stoffgleicher Hose und Weste zu einer gängigen Form des Tagesanzugs entwickelt. Es hatte lediglich zwei gerade Seitennähte und konnte einen nahtlosen geraden Rücken haben oder durch eine Rückennaht zu 28 | Breward 1999, 28. 29 | »Beaucoup des jeunes gens trouvent, malgré la chaleur, un pantalon de mérinos préférable à un pantalon de cotonnade blanche.« Jdm 5. 7. 1820, J 24, N 37, 296.
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Bild 55 • Aufgeblähte Passform 1862
einem »three-seamed-jacket« werden. Seine Vorder-, Seiten- und Rückenteile sind fadengerade (GzF 1. 6. 1861, J 16, N 182, 12). Die simplen, weiten Schnitte waren oft Umarbeitungen aus älteren Schnittvorlagen, bei denen man die Taillierung entfernt und die Ärmel erweitert hatte. Sie ließen nur noch wenig Spielraum für nationale Differenzierung. Englische und französische Mode näherten sich aneinander an, indem die französischen Schneider ihre Passformen am englischen Genre ausrichteten und die Lockerung der Passform aus englischer Sicht sogar übertrieben.
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Das Sakko habe den »paletôt-shape« ersetzt, so die GzF im März 1861 (GzF 1. 3. 1861, J 15, N 179, 71). Explizit erwähnt wird die geringe Weite der Sakko-Schöße und die dadurch erzeugte durchgehend gerade Kontur als markanter Unterschied zum trapezförmigen Sackpaletot mit glockig ausgestellten Schößen. Damit ist ein wesentliches Merkmal der modernen Passform benannt: Die Nivellierung der Differenz von Brust-, Taillen- und Hüftbreite. Alle Körperrundungen verschwinden in einer »fadengeraden« Passform durch gerade, vertikale Nähte, die sich am Fadenlauf ausrichten und daher die ökonomische Verwendung auch gröberer Materialien wie Tweed erlauben. Der Effekt der Nivellierung von Körperrundungen wird verstärkt durch die Einheitlichkeit des Materials. Das Raster der für Sakkoanzüge häufig verwendeten Karo-Dessins, die auch auf die Krawatte übergehen, wie auch die Betonung der schnurgeraden Saumkanten und der Dreiecke des kleinen, nun völlig flachen Reverskragens tragen erheblich zur Abstrahierung der physischen Formen bei. Die Saumverstärkung, die der leicht verarbeiteten Jacke Stand verleiht, weist ebenso, wie die weiten Abstände zwischen den wenigen Knöpfen direkt auf hohen Tragekomfort, auf den Verzicht auf jegliche Enge und Zwang und insgesamt auf die Lösung des Schnittmusters von der Körperform. Aufgrund ihrer vergleichsweise weiten Passform, können auch Röcke nun geschlossen getragen werden, ohne zu beengen (»without any strain«). Die Taille von Frack und Gehrock sitzt tief und ist aufgrund der begradigten Seitennähte kaum noch eingebogen. Vorderteile und Rücken sind durchgehend breit. Gerippte oder aufgerauhte Jackett-Stoffe wurden in den 1860er Jahren auch für Röcke verwendet. In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre schritt die Simplifizierung weiter fort. Die Knopfleisten reduzierten sich bei einreihigen Jacketts und Röcken auf vier, bei Zweireihern auf lediglich drei Schließknöpfe. Der Rücken des Jacketts wurde in einem Stück geschnitten und seine gerade Boxform durch hochgeschlossene Fasson und Wegfall der Revers betont. Abgerundete Ecken oder breite Saumborten halfen bei der Saumverarbeitung grober, rauher Materialien. Die Taille der Röcke ist breit, sodass die Knöpfe im Rücken (»hip-buttons«) weit auseinander stehen und sitzt auf dem Hüftansatz. Die Seitennähte sind nur noch mäßig eingebogen und die Schöße kurz und moderat im Umfang. Wie beim Jackett ist die Kontur sehr gerade, der Sitz ist faltenlos. »The forepart is cut to fit easily to the body, but without much breast added on.« Das Abflachen der Brustpartie, kaum Taillierung, knappe Schöße und insgesamt ein lockerer Sitz am Körper ergeben eine gerade Kontur auch bei Röcken (GzF 1. 6. 1869, J 23, N 278, 11). Für Jacketts wie Röcke gelten nun gemeinsame Regeln. Einreiher sollten generell am Rumpf und im Taillenbereich schmaler sitzen, als Zweireiher. Dazu wurde die Einbiegung der Taille des Einreihers zusätzlich durch konkave Formung der Rückennaht erreicht. Beim Zweireiher dagegen entfiel die Rückennaht häufig. Jackett und Rock hatten sich merklich angenähert. Anfang der 1870er setzte eine Stagnation der JackettMode ein.
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»Ein und dieselbe Form [wiederholt sich], als kämen wir eigentlich kaum vorwärts. Für den oberflächlichen Beschauer giebt es allerdings nur einreihige und zweireihige, gerade, halb- oder ganzanliegende, kürzere oder längere Jackets […]. Feinheiten im Formenwechsel in Schnitt und Ausarbeitung […] empfindet eben nur der wahre Kleidermacher, dem sein Modejournal gleichsam Evangelium ist […].« (EM März 1872, J 22, N 3)
4.8 »Die Taille ist hinten ganz flach« Mode war, was die Magazine publizierten. Was als Mode galt und wer sie tragen durfte, definierten die Redaktionen. Nach ihrem Verständnis war Mode ausschließlich das, was die »führenden Häuser« der Maßschneiderei produzierten und deren vornehme Kundschaft trug. Das Aufeinandertreffen dieses elitären Modeverständnisses mit den Realitäten einer wachsenden Konfektionsindustrie führte zu neuen modischen Formen, so dem taillierten Paletot, der das höfische Justaucorps wiederbeleben und die schlichten sackförmigen Mäntel der Konfektion aus der Mode verdrängen sollte. Als Organe ihrer Berufsverbände entwickelten sich die Modeberichte der Fachmagazine zu Instrumenten des Lobbyismus der Maßbranche und ermöglichten deren Einflussnahme auf das Modegeschehen. Sie waren ein Motor der Vereinheitlichung in der Männermode. Durch die Beschränkung auf Modelle der Schneider-Eliten in den Modemetropolen sorgten die Redakteure der Europäischen Modenzeitung gezielt für die Beseitigung lokaler Unterschiede hinsichtlich Schnittmuster, Materialverwendung und Verarbeitungstechniken zugunsten einer hegemonialen »deutschen« Männermode. Modetafeln und Berichte beziehen sich ausschließlich auf die Maßschneiderei. Der exklusive Anspruch der Maßschneider auf die Mode stand jedoch im Widerspruch zu ihrer marktwirtschaftlich schwachen Position und dem Anachronismus ihrer ästhetischen, sozialen und betrieblichen Konzepte. Anachronistisch war auch das Beharren auf Prinzipien der Körpermodellierung wie gerundete Nähte, Abnäher und Wattierung. Durch Systeme wie Genres und Konformationen versuchte die Maßbranche, das Modegeschehen zu systematisieren und zu kontrollieren. Das Zusammenwirken der Genre- und Konformationsklassen zeigte sich beispielweise am Übergang der 1830er zu den 1840er Jahren, als das junge »genre élanće« verschwand, die Modebilder alterten, die Taille breiter wurde und sich die Passform der Jacken durch offene Trageweise und Begradigung der vertikalen Nähte zu lockern begann. Mit dem Sackpaletot setzte in den 1830er Jahren eine Entwicklung ein, in deren Verlauf die vestimentäre Körper-Korrektur durch die Separierung von Körperform und geradem Schnittmuster beendet wurde. Mit dem keilförmigen Rumpf des
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Bild • 56 Fadengerade – »lounge jacket« 1862
Bild 57 • Begradigte Taillen: »Morning-coat« und »short sac-jacket« 1870
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»Normalkörpers« war der bekleidete Körper nun nicht mehr identisch. Nach meinem Verständnis ging die Idee des »Normalkörpers«, die auch weiterhin die Größensysteme bestimmte, auf den unbekleideten Körper über. Entsprechend wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hemd und schließlich im 20. Jahrhundert auf der Unterwäsche gemessen. Glaubt man den Modeberichten, stammt der Sackpaletot aus der Konfektion. Er muss allerdings keine Neuerfindung gewesen sein. Weite Mantelformen existierten schon im 18. Jahrhundert. Indem beispielsweise der »manteau à pélérine« ohne Pelerine getragen wurde, entsprach er einem Paletot. Gegen den Widerstand der Maßbranche und ihrer »führenden Häuser« konnte ein schlichter Konfektionsmantel Mode werden, weil dieser den Bedürfnissen berufstätiger Kunden auch aus höheren Schichten entsprach. Mode im Sinne der Magazine wurde der Sackpaletot jedoch erst durch seine Adaption in der Maßschneiderei. Hier erhielt er charakteristische modische Merkmale wie die Trapezform, die alle Modekupfer zeigen. Zudem wurde, wie erwähnt, eine taillierte Form des Paletot lanciert, die allerdings durch den Verzicht auf die Taillennaht deutliche Konzessionen hinsichtlich der Einbiegung der Taille machte, um den Komfort des Schnittmusters einigermaßen zu erhalten. Das Primat, das die englische Herrenschneiderei bereits im 18. Jahrhundert durch ihre Spezialisierung auf Wolltuche erlangt hatte, basierte im 19. Jahrhundert auf der Abkehr von Rundungen. Dieses im 19. Jahrhundert zunehmend dominierende »englische Genre« kennzeichnete ein neues Prinzip fadengerader, körperferner Passformen auch bei Gehröcken und Fräcken. Zudem galt alle sportlich-pragmatische Kleidung als englisch. Daher verwundert es nicht, dass der sportliche Jackett-Anzug als moderner Tagesanzug dem »englischen Genre« zugeordnet wurde. Das Sakko-Jackett entstand, indem der Paletot – wie eine Jacke – lediglich auf einer Weste getragen, sein Saum auf eine gerade das Gesäß bedeckende Länge gekürzt und die Schoßweite der Gesäßweite angepasst wurde. Das Karo-Raster als sportlich konnotiertes Dessin unterstrich die dem Fadenlauf folgende »fadengerade« Ausrichtung des Sakko-Jacketts. Parallel lancierten Magazine diverse Mischformen aus Rock und Jackett, die den Tagesanzug bestimmten und eine mäßig taillierte Kontur des Tagesanzugs noch bis in die 1880er Jahre in Mode hielten.
5 Effekte der Konfektion 5.1 Konfektion – Motor der Begradigung Während in den vorangegangenen Abschnitten zu Schnittkonstruktion und Modediskursen die Praktiken und Perspektiven der Maßschneiderei im Vordergrund standen, thematisiert der folgende 5. Teil die Konfektion1 als Motor der Begradigung der männlichen Taille. Seit ihren Anfängen ist Konfektionskleidung von vereinheitlichten Größen und Passformen geprägt. Das Angebot umfasste Arbeitsjacken, militärische und zivile Uniformen, Berufskleidung, Ordenskleidung, Trauerkleidung und die sogenannte »Emigrantenkleidung«, preisgünstige Kleidung für die vielen, die nach Übersee auswanderten. Aufgrund ihrer stilistisch konstanten Schnittmuster und anspruchslosen Passformen eigneten sich diese Bekleidungen für die serielle Fertig-Produktion und wurden zu niedrigen Preisen für die unteren Schichten produziert. Im 19. Jahrhundert begannen Firmen wie E. Moses & Son, die anfänglich auf solche »slop«-Kleidung spezialisiert waren, modische Fertigkleidung nach Einheitsgrößen zu produzieren (Chapman 1993, 6).2 Die Herrenkonfektion fand ihre Kundschaft nun auch in den kaufkräftigen Oberschichten und übte durch Verbreitung simpler, körperferner Schnittmuster mehr und mehr Einfluss auf den Gang der Mode aus. Generell gilt der Sakkoanzug mit seinen geraden Nähten als Schlüsselprodukt der Konfektion und Symbol moderner Massen-Kleidung schlechthin.3 Als »Standardkleidung« aller Klassen (Hollander 1995 (1994)) fasst er »die Männer« als Gruppe zusammen und konstituiert eine »nüchterne Männlichkeit«, die mit der Zweckrationalität und der Dynamik des Industriekapitalismus verbunden ist (Schorman 2012, 102). Seine »fadengerade«, pragmatische Form und sein niedriger Modegrad prä1 | Konfektion ist abgeleitet von lat. conficere für »anfertigen« und bezeichnet Produktionsweise, Handel wie auch die Erzeugnisse der modernen, arbeitsteiligen Bekleidungsindustrie. 2 | Die Firma für Fertigkleidung, die anfangs auf die sogenannte Emigrantenkleidung spezialisiert war, wurde 1832 im Londoner Eastend von Elias und Isaac Moses gegründet und wuchs bis in die 1840er zur größten Firma für Produktion und Einzelhandel von Konfektionskleidung in London mit Filialen in ganz Großbritannien. 3 | »The suit as the symbol of mass male clothing provides the key to the growth of the industry.« Honeyman 2000, 2.
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destinieren den »ready-made sack-suit« als Dresscode des »männlichen« modernen Geschäftslebens. Christopher Breward zufolge trug die serielle Produktion von Fertigkleidung entscheidend zur Entwicklung der Sakko-Mode bei. Er betont allerdings, dass der Modewechsel zum geraden Schnittmuster nicht ausschließlich von der Konfektion ausging (Breward 1999, 29) Wie die Konfektion das Modegeschehen beeinflusste, wie die Entwurfsabteilungen der Konfektionshäuser ihre Mustermodelle kreierten und wie sie ihre Schnitte erstellten, wird in deutschsprachigen Quellen und Forschungsbeiträgen allerdings nur selten thematisiert. Sarah Levitts Studie zu den Patent-Produkten englischer Konfektionäre (Levitt 1986) ist eine der wenigen, die sich der Frage der Schnittmuster und deren Simplifizierung in der Konfektion widmet. Im Folgenden wird daher versucht, diese Aspekte besonders zu berücksichtigen. Quellen speziell zur frühen Konfektion der 1830er bis 1860er Jahre wie auch zur Entwicklung der Konfektionsgrößen sind rar oder schwer zugänglich. Auf Nachfrage beispielsweise nach Ursprung und Entwicklung ihrer Größensysteme im 19. und frühen 20. Jahrhundert verweisen Häuser wie Peek & Cloppenburg oder C&A auf ihr Firmengeheimnis, haben selbst keine Informationen darüber oder ihre Archive sind anscheinend im Zweiten Weltkrieg verschollen (Döring 2011, 147). Daher ist der folgende Abschnitt als Sammlung konzipiert und Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden durch Forschungsbeiträge zur Konfektion und zum Sakko ergänzt. Wie schon im 4. Teil dieser Arbeit deutlich wurde, galt die einfache, gerade geschnittene Variante des Sackpaletots – den ich als Vorläufer des Sakkos verstehe – als Konfektions-Artikel. Viele Konfektionshäuser des 19. Jahrhunderts waren aus ehemaligen »slop shops« – Handlungen für simple, seriell produzierte Arbeitskleidung – hervorgegangen. Möglicherweise wurden die vorhandenen Schnittschablonen zu Musterschnitten für Modeartikel weiterentwickelt. Joppen und Blusen der Arbeiter und Seeleute sowie Wettermäntel der Kutscher oder Wachsoldaten (»capote de guérite«) wurden aufgrund ihrer eckig-geraden Schnittmuster und körperfernen Passformen schon im 18. Jahrhundert als Fertigkleidung produziert. Vor Sackpaletots und Sakkos war solche »slop«-Kleidung keine Mode. Eine Ausnahme ist der »habit carré«, ein eckig-gerader Kurzmantel der Incroyablen der französischen Revolution. Mit dem Sackpaletot als Modeartikel wurden die geraden Schnitte ab den 1830er Jahren zum Modethema und wegen ihrer »Commodität« stark nachgefragt. So kreierten die Pariser Maßschneider Guibal und Rattier bereits in den 1830er Jahren Paletots aus einem offenbar wetter- und wasserfesten »double tissus«, deren weite Passform dem steifen Material geschuldet war. Die Paletots hatten offenbar großen Erfolg, weil sie die darunter getragene Garderobe nicht zerknitterten, wie dies die taillierten Mäntel anscheinend taten. Wegen seiner Praktikabilität verstand man den Sackpaletot in Paris als »englisches« Genre. Bei jungen Leuten – also im hochmodischen jungen Genre – sei es nun Mode, die Engländer zu imitieren, die ja die Experten hinsichtlich alles Nützlichen seien, so
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der Kommentar in LM 18414, ein indirekter Hinweis auf den Bezug von englischer Schneiderei und »fadengeradem« Schnittmuster.
5.2 Konfektion ist englisch Am Beginn der modernen Konfektionsindustrie stand die Aufhebung absolutistischer Standes-, Kleider- und Zunftgesetze5, die Einführung der Gewerbefreiheit und ein wachsender Bedarf an Kleidung durch Bevölkerungswachstum.6 Der Übergang vom Ancien Régime zu einer modernen, bürgerlich kapitalistischen Ordnung war begleitet von der Einführung neuer bürgerlicher Modenormen. Die moderne industrielle Massenherstellung von Kleidung entwickelte sich aus frühen Formen der Produktion und des Handels mit Fertigkleidung.7 Seit dem 12. Jahrhundert hatten sich Schneiderwerkstätten als »zunftmäßig verfasste Kleinbetriebe« gebildet, die Kleidung »ausschließlich für den Endkunden« herstellen durften. Doch trotz strenger Verbote produzierten Zunftschneider auch Fertigkleider, die, einige Tage getragen, als Second-Hand-Kleidung die Sortimente des Kleiderhandels auffüllten (König 2000, 189). Janet Arnold verweist auf die One-SizeFertigkleidung loser Mantelgewänder des 16. und 17. Jahrhunderts: »Loose fitting […] is the perfect style for ready-to-wear«.8 Der seit dem 17. Jahrhundert expandierende angloamerikanische Baumwollhandel und die Maschinisierung der Spinn- und Webvorgänge ab den 1760er Jahren in Europa und USA führten zu einer erheblichen Erweiterung des Angebots an neuproduzierter und daher modisch aktueller Kleidung (Levitt 1986, 1). Bereits im 18. Jahrhundert entstanden Manufakturen für Fertigkleidung aus günstigen 4 | »Les petits manteaux et les paletots […] ont un succès fou dans le monde élégant. Ce vêtement, confortable, et qui a le grand avantage de ne point froisser la toilette de dessous, est aujourd’hui généralement adopté par les jeunes gens, à l’imitation des Anglais, qui se connaissent si bien en choses véritable utile.« LM, 06. 01. 1841, J 9, N 36, keine Paginierung. 5 | »In England verschwanden die Kleiderordnungen bereits um 1600, während in anderen Ländern einzelne Bestimmungen bis ins 19. Jahrhundert hinein Bestand hatten […].« König 2000, 187. 6 | »Im Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 stieg die Bevölkerungszahl in Großbritannien um das Dreifache, die Textilproduktion aber um das Acht- bis Zehnfache.« König 2000, 185. 7 | In Deutschland beginnen Handel und Produktion von Fertigkleidung im 14. Jahrhundert. Krause 1965, 5. 8 | Mantelgewänder mit weiten, körperfernen Passformen für untere soziale Schichten wurden aus Materialressourcen des textilen Secondhand-Handels gefertigt. Neben Kleidung, Unterwäsche und Unterröcken wurden auch Accessoires, Hüte, Putzwaren und Halskrausen fertig produziert. Gerade diese Zutaten zur Kleidung waren modisch markant. Da die Herstellungsdauer bei Accessoires kürzer war als bei Kleidung, konnte deren Gestaltung und Stil schneller wechseln. So wurden Fertig-Produkte wie die Halskrause zu Motoren des Modewandels. Arnold 1990, 17–24.
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Baumwollstoffen zu vergleichsweise niedrigen Preisen (König 2000, 187). Diese erbilligung der Kleidung, die in einem enormen Preisverfall von Textilien und V Konfektionskleidung Mitte der 1830er Jahre gipfelte9, ermöglichte erst den Kleiderkonsum durch Mittel- und Unterschichten und war ein entscheidender Faktor der Entwicklung des Konfektionsgewerbes. Zum Konsum neuproduzierter Kleidung gehörte die Information über neue Formen und Entwicklungen in der Mode. Diesen Bedarf deckten Modemagazine, die seit den 1770er Jahren in größeren Städten erschienen und die Modeberichterstattung demokratisierten. »Gerade die massenhafte Verbreitung der Mode ist [es], die die Nachfrage nach Bekleidung in starkem Maße beschleunigte und damit einen spezifischen Einfluss nicht nur auf den Zeitpunkt der Entstehung der Branche sondern auch auf die Entfaltung der organisatorischen Struktur der Produktion im Konfektionsgewerbe besaß.« (Döring 1992, 79) Der Uniformisierungseffekt durch massenhafte Verbreitung neuwertiger, gleichförmig gestalteter Kleidung zeigte sich schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. So waren »maid and mistress« kaum noch zu unterscheiden, wie Daniel Defoe bereits 1725 konstatierte. 1783 hieß es im London Magazine: »Every servant girl has her cotton gown and cotton stocking […].«10 Wachsende Bedeutung erhielt die Straßenkleidung, die nach Richard Sennett die bürgerliche Großstadtgesellschaft uniformierte und soziale Unterschiede nivellierte: »Ging man auf die Straße, so hüllte man sich in eine Kleidung, die es den anderen ermöglichen sollte, sich so zu verhalten, als wäre man ihnen bekannt. Man wurde zur Figur in einer Kunstlandschaft. Die Kleidung brauchte nicht sicher anzuzeigen, mit wem man es zu tun hatte, sie sollte aber erlauben, so zu tun, als ob man sich dessen sicher sei.« (Sennett 1986, 314) Die uniforme Straßenkleidung schützte vor »gesellschaftlichen Umbrüchen in der Großstadt«, indem man sich »mit der Menge vermischte. Die Konfektionskleidung lieferte hierzu das Mittel.« (Sennett 1986, 324) Um 1760 brachte die »englische Mode« der Tuchfräcke und Baumwoll-Chemisen das bis dahin unangefochtene französische Modeprimat ins Wanken. London wurde neben Paris zur bedeutendsten Modestadt des 18. und 19. Jahrhunderts. Nach Annemarie Bönsch implizierte der »englische Empirismus« eine Subjektivierung des Kleidungsverhaltens, so die Differenzierung der Bekleidung nach Tageszeiten, gesellschaftlichen und beruflichen Anlässen: 9 | Neben dem Verfall von Stoffpreisen war der Lohnverfall durch Umstellung auf Stücklohn in den 1830er Jahren die Hauptursache des Konfektionsbooms ab den 1840er Jahren. 1860 wurde Konfektionskleidung bereits von 80% der britischen Bevölkerung gekauft. Chapman 1993, 5. 10 | Zitiert nach Chapman 1990, 205ff.
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»Das [empirisch naturwissenschaftliche] Experiment bekommt gleichsam programmatischen Charakter. Der Mensch ist demnach immer in Wahrnehmungsbereitschaft. Diese Einstellung musste unweigerlich zur Erkenntnis führen, dass der Mensch nicht immer in ein und derselben, undifferenzierten Kleidung auftreten konnte.« In England war man daher bestrebt, »die Kleidung den unterschiedlichen Situationen anzupassen […]. Beispielsweise trug die englische Lady in der Stadt etwas anderes, als auf dem Land. Oder die Kinder wurden als spezielles Entwicklungsstadium des Menschen definiert, und man begann ihre Kleidung entsprechend zu gestalten.« (Bönsch 2001, 186–87, 199) Mit den anlassbezogenen Dresscodes war nicht nur eine neue, bürgerliche Mode norm, sondern auch ein neues Konsumfeld geschaffen. Die bürgerlichen Garderobenzwänge erweiterten die Produktpaletten der Kleidungsindustrie, erforderten und reglementierten den regelmäßigen Kauf neuer Kleidung.
5.2.1 Verwischte Grenzen – Indirekte Maßkonstruktion, Einzelfertigung in der Maßkonfektion und Maßkleidung als Lagerware Dass Maß-Kleidung zu Fertigkleidung werden kann, zeigt Janet Arnolds Beispiel vorbestellter »made-to-measure«-Kleidung, die (durch welche Gründe auch immer) nicht vom Kunden in Empfang genommen wurde, daher beim Schneider verbleibt und als fertig hergestellte Kleidung an Kunden weiterverkauft wird, für die das Kleidungsstück ursprünglich nicht angefertigt worden war (Arnold 1990, 17). Zudem produzierten Zunftschneider in Umgehung des Zunftsrechts auf Bestellung von Kleiderhändlern. Fertigkleidung wurde also schon vor dem 19. Jahrhundert auch von Maßschneidern produziert und die Maßkonfektion zeigt, dass auch die Konfektion in begrenztem Rahmen Einzelfertigung praktizierte. Was unterscheidet also die Konfektions- von der Maßkleidung? Gisela Krause trennt die »handwerksmäßige Fertigung« der Maßschneiderei »(1) nach den individuellen Wünschen und (2) individuellen Maßen (3) für bestimmte Kunden (4) in Einzelfertigung« vom »Nicht-Handwerk« der Konfektionsindustrie. Konfektionskleidung werde » (1) nach einem festgelegten Modell (2) mit ›Normalmaßen‹ in verschiedenen Größen (3) für anonyme Kunden (4) nicht in Einzelfertigung« hergestellt (Krause 1965, 39). »Im Gegensatz zur Schneiderei zielt das Konfektionsgewerbe nicht auf den vermessenen, einzelnen Körper, sondern produziert serienmäßig Fertigkleidung nach bestimmten Größen.« (Draude und Döring 2012, 64) (vgl. Haller 2016). Die Beschäftigung mit dem einzelnen Körper geschah in der Maßschneiderei des 19. Jahrhunderts allerdings durch den Filter des Normalsystems und der indirekten Maßkon-
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struktion. Insofern war die Maßschneiderei nicht auf den einzelnen individuellen Körper, sondern auf den »Normalkörper« bezogen. Im Englischen wird »made-to-measure / bespoke« (Maßkleidung) und »ready-made« (Fertigkleidung) unterschieden. Der Zusatz »bespoke« stellt die individuelle Vorbestellung, das individuelle Maßnehmen und die Anproben als spezifische Kennzeichen der Einzelfertigung heraus. Dass zuvor »besprochene« Kleidung (»bespoke«) jedoch nicht ausschließliches Merkmal der Maßschneiderei ist, zeigt die Praxis der Maßkonfektion, die im 19. Jahrhundert weit verbreitetet war und von zahlreichen Konfektionsunternehmen angeboten wurde. Bis heute umfasst das Angebot der Maßkonfektion standardisierte Modelle, die durch – wenn auch begrenzte – Berücksichtigung individueller Maße (meist Saumlängen von Hosenbeinen und Ärmeln) sowie individueller Kundenwünsche hinsichtlich Farbe und Stoffqualität personalisiert werden. Auch in der Maßkonfektion wird das Kleidungsstück vor seiner Fertigstellung zumindest einmal anprobiert.
5.2.2 Primat der anglo-amerikanischen Herrenkonfektion Im 19. Jahrhundert wurde Herrenkonfektion primär in England und Amerika produziert. Zentren waren London, Manchester und Leeds. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich englische und amerikanische »Slopsellers« – Händler einfacher, weit geschnittener Arbeitskleidung – zu Einzelhandelsfirmen, die sich nun »clothier and outfitter« nannten und Arbeitskleidung, Unterkleidung sowie modische Oberbekleidung vor allem für Männer verkauften (Levitt 1986, 11–14). Davon wurde der Handel (»bespoke trade« oder »custom trade«) mit gehobener Maßkleidung durch »merchant tailors« unterschieden. Es gab »slop shops« genannte Warenhäuser für niedrigpreisige, einfache Fertigkleidung sowie »show shops«, in denen Maßkonfektion (»cheap bespoke trade«) zu Festpreisen verkauft wurde. Mit großen Preisschildern versehen wurden die Modelle in Schaufenstern gezeigt, daher die Bezeichnung »show shop« (Mayhew 1984, 248–51). Die amerikanische Konfektion konnte sich ungehindert von Zunftgesetzen entwickeln (Burri 2012, 75) und Konfektionskleidung musste sich nicht – wie in Europa – gesellschaftlich etablieren, sondern war von Anfang an akzeptiert. In den Kleiderhandlungen der amerikanischen Küstenstädte wurde im 18. Jahrhundert lediglich einfach geschnittene Seemannskleidung und »negro-clothing« für Sklaven verkauft. Bis etwa 1815 war die Textilwirtschaft der USA von englischen Importen bestimmt. Dann entwickelte sich eine durch hohe Zölle geschützte eigene Textilindustrie mit New York als Zentrum (König 2000, 183). Die Verbreitung der Konfektionskleidung in Amerika führte dazu, dass Männer überall die gleichen Anzüge trugen. Modisch waren die Modelle der amerikanischen Konfektion an der englischen Männermode orientiert. Für die Bildung des amerikanischen »male taste« sorgten einschlägige Zeitschriften wie z. B. der »New York Mirror«, die auch in den
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Provinzen zugänglich waren (Zakim 2003, 55–56). In den 1870er Jahren verkauften amerikanische Versandhäuser täglich tausende Anzüge (König 2000, 191–92). In Frankreich galt Konfektion als »englisch«. Als eins der ersten verkaufte das Pariser Konfektions-Kaufhaus »Bonhomme Richard« ab 1828 Stoffe sowie Fertigkleidung vor allem an Einzelhandelsgeschäfte, Verleger und private Kunden aus den unteren Schichten. »À la belle jardinière«, ein weiteres großes Kaufhaus für Herrenkleidung, bestand offenbar seit den 1830er Jahren in einem Viertel nahe Les Halles, das sich bereits in den 1840er Jahren zum Pariser Konfektionsviertel entwickeln sollte und Kundschaft aus allen sozialen Schichten anzog (Vanier 1960, 101ff). Dort konnte »Mann« sich zu einem günstigen Preis von Kopf bis Fuß neu ausstatten. Verkauft wurden u. a. weite Mäntel aus Baumwollleinen (»blouse-redingotes en toile«) und gerade geschnittene Jacken (»vareuses«) (ebd., 104). 1850 eröffnete der renommierte Maßschneider Dusautoy, der bislang die Pariser Dandies eingekleidet hatte, ein eigenes Konfektionshaus. Es gab also Überläufer von der Maß- in die Konfektionsbranche. Fertige Modelle boten den großen Vorteil, spontan anprobiert und zudem untereinander verglichen werden zu können. Maßkonfektion wurde derart schnell produziert, dass man sich innerhalb von 24 Stunden neu einkleiden konnte (ebd., 125). Neben dem Preis spielte die beschleunigte Herstellung und schnelle Verfügbarkeit der Kleidung eine entscheidende Rolle. Auch wegen ihrer Leichtigkeit und der losen Passform entsprach Konfektionskleidung wie Sackpaletot oder Sakko der Dynamik des Alltags im Industriekapitalismus viel eher als ein aufwändig verarbeiteter Frack oder Gehrock: Sie war schneller an- und ausgezogen. Im Gegensatz zu der schon in den 1830er Jahren bedeutenden Berliner Damenkonfektion entwickelte sich die deutsche Herrenkonfektion erst spät. Als Gründe werden die späte Einführung der Gewerbefreiheit in Deutschland und die sich hartnäckig haltenden gesellschaftlichen Vorbehalte gegen Konfektionskleidung genannt (Timm 1895, 3–5). Die Argumentation steht allerdings in Widerspruch zu den Erfolgen der Damenkonfektion. Ab den 1870er Jahren erfolgte eine »Gründungswelle von Herrenkonfektionsfirmen an verschiedenen Standorten mit ihren jeweiligen Spezialartikeln« (Döring, 1992, 64–67). Kunden kamen zunächst aus der Arbeiterschicht und erst Ende des 19. Jahrhunderts aus dem kaufkräftigeren Bürgertum (König 2000, 64–67, 193).
5.2.3 Secondhand ist peinlich Die englischen »slop shops« und »show shops« des 19. Jahrhunderts wurden auch von gesellschaftlichen Eliten aus Aristokratie, Großbürgertum und Klerus frequentiert, die Herrenanzüge, Damenkleidung, Uniformen, Dienerkleidung, Jagd- und Reitkleidung sowie Kirchengewänder bei Konfektionären kauften. Um den gesellschaftlichen Schein zu wahren, wurde der Konsum von Konfektionskleidung in den Oberschichten verheimlicht.
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Die Kutschen der Lieferanten hielten nie direkt vor den Eingängen der vornehmen Häuser, sondern parkten diskret an einer Ecke. Knöpfe mit den Firmenzeichen der Konfektionshäuser mussten für vornehme Kunden ausgetauscht werden (Mayhew 1984, 248–51). Um diesen Vorbehalten entgegenzuwirken und die eigenen Verkaufszahlen zu erhöhen, entwickelten die Konfektionshäuser Strategien, den Neuwert der Kleidung als neue gesellschaftliche Norm zu etablieren. Dabei nutzten sie die Vorbehalte gegen Secondhand-Kleidung, die bis ins 19. Jahrhundert die häufigste Form des Kleiderverhaltens in den Unterschichten blieb. Das Tragen gebrauchter Kleidungsstücke widersprach den bürgerlichen Normen hinsichtlich Hygiene und Korrektheit der Kleidung. Zugleich verringerte der Handel mit Alt-Kleidung den Absatz der Konfektionsindustrie. So wurde in den Werbebroschüren der großen Konfektionshäuser heftig gegen gebrauchte Kleidung polemisiert.11 Das Auftragen gebrauchter Kleidung einer meist sozial besser gestellten Person war im 18. Jahrhundert noch gängiges Prinzip. Im 19. Jahrhundert geriet es zur »Peinlichkeit«, wenn die betreffende Person ihren ehemaligen Besitz womöglich auf der Straße wiedererkannte.»Peinlich« war auch die beschädigte Eleganz der vormals teuren Kleidung, die nun nicht mehr passte oder deutliche Spuren von Änderungen oder Ausbesserungen zeigte. Die Strategie, den Neuwert der Kleidung – und nicht in erster Linie ihren Preis – zu einem Status-Zeichen zu erklären, scheint erfolgreich gewesen zu sein: »Ready-towear« galt in Frankreich und England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als gesellschaftsfähig (Vanier 1960, 101) (Breward 1999, 28). Noch im 19. Jahrhundert allerdings wurden die privaten Budgets auch von Mittelschicht- Familien durch den Kauf selbst von Massenkonfektion erheblich strapaziert. Daher musste in vielen Fällen an Ernährung gespart werden, um die Garderobe für das Familienoberhaupt und den ältesten Sohn finanzieren zu können, von deren »korrekter« Kleidung die Reputation der Familie abhing (Levitt 1986, 10). 11 | »Worn clothes were, of course, always procurable in the purlieus of Whitechapel and St. Giles. A nobleman's or wealthy commoner's cast off garments went to his domestics and from his domestics to the old clothes men, and from the old clothes men to the mechanics, and from the mechanics to the sweepers at the street crossings. In fact, the poor of all classes were glad to wear at secondhand the costumes of the rich, for clothes made to order were most disproportionately costly. The would-be fine gentleman, with a consumptive purse, was compelled to deck himself in faded finery that ran the chance to be recognised in the streets by its former owner […] and the humblest members of the community, in their secondhand Sunday garments, often exhibited the most grotesque and hideous caricatures of high life. If the coat did not fit the purchaser, it was altered and re-altered until it somewhat nearly approximated to his figure; but by no letting out curtailments was the fact concealed, that the garment was never originally intended for the wearer.« Zitat aus einer Broschüre des Londoner Konfektionshauses E. Moses & Son 1860. Zitiert nach Levitt 1986, 10–11.
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5.2.4 Gerade geschnitten und körperfern – das »minderwertige Genre« Häufigstes Organisationsprinzip der seriellen Kleidungsherstellung war das arbeitsteilige Verlagssystem12. Der Verleger beschäftigte Näher*innen, die auf verschiedene Orte verteilt waren, meist in der eigenen Wohnung arbeiteten13 und die Zuschnitte, die der Verleger14 direkt vom Konfektionsunternehmen erhielt, zu fertigen Kleidungsstücken zusammenzusetzen hatten. Durch Fragmentierung des Arbeitsablaufs konnte die Herstellung eines Kleidungsstücks, die zuvor durch einen Schneider und einen Gesellen geleistet wurde, auf viele »Hände«15 verteilt und beschleunigt werden, indem beispielsweise immer dieselbe Person alle rechten Ärmel zusammennähte. Die Konfektion von Oberbekleidung war im gesamten 19. Jahrhundert vom Verlagssystem bestimmt. Großisten liessen ihre Waren von Verlegern wie auch in eigenen Werkstätten produzieren. Man verkaufte in firmeneigenen Großhandelskaufhäusern an Konfektionsdetaillisten oder in eigenen Einzelhandelskaufhäusern. Die Gebäudestruktur der Groß- und Einzelhandelskaufhäuser spiegelt die für die Kleidungsbranchen typische Nähe von Produktion und Handel: Während Verkaufsräume meist im Erdgeschoss und in den unteren Etagen lagen, wurden firmeneigene Werkstatträume zur Fertigung von Musterkollektionen in den Obergeschossen untergebracht. Konfektionsunternehmen entwickelten eigene Musterkollektionen, die gemäß den Bestellungen des Einzelhandels meist durch Verleger, seltener in hauseigenen Fabriken16, seriell produziert wurden. Die Flexibilität der verlagsmäßigen Produktion ermöglichte eine schnelle Anpassung der Sortimente an die Modewechsel. Daher blieb das Verlagssystem bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen (Chapman 1993, 10). Ab den 1860er Jahren wurden immer mehr Nähmaschinen eingesetzt. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Konfektionsindustrie wird jedoch häufig überschätzt, denn die Verbreitung der Nähmaschine datiert deutlich nach 1834, als die Konfektion durch Preisverfall bei Textilien 12 | »Verlag« leitet sich von »Vorlage« (Vorfinanzierung) ab. Über den Wert des Auftrags musste der Verleger in Vorleistung gehen. Döring 1992, 51. 13 | Die Londoner Kleidungsproduktion wurde in »honourable« und »dishonourable trade« unterschieden. Im »honourable trade« wurde in den Geschäftsräumen des Arbeitgebers und unter Kontrolle eines kompetenten Werkstatt-Vorstands zu einem Standardlohn gearbeitet. Zum »dishonourable trade« zählten »slop-shops« genannte Warenhäuser für Fertigkleidung (»cheap ready-made business«) sowie »show-shops«, in denen Maßkonfektion verkauft wurde. Mayhew 1984, 217–19. 14 | Im 19. Jahrhundert waren »Verleger« häufig Schneidermeister, die selbst zuschnitten aber auch Mittelsmänner ohne Schneiderausbildung. 15 | Im Fachjargon der englischen Konfektionsindustrie wurden ungelernte Arbeitskräfte als »hands« bezeichnet. 16 | In Amerika koexistierten Verlags- und Fabriksystem bereits in den 1830er Jahren. König 2000, 190–91. In Europa setzten sich Fabrikfertigung und Großhandels-System erst im späten 19. Jahrhundert durch. Chapman 1993, 10.
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und die Umstellung von Stunden- auf Stücklohn ihren eigentlichen Aufschwung erlebte, so Stanley Chapman (ebd., 22–23). Die Maschinisierung des Nähens veränderte das Verlagssystem strukturell nicht, wenngleich sie den Nähvorgang erheblich beschleunigte: »Die Nähmaschine verbilligte also die Kleidungsherstellung in bestehenbleibenden Strukturen.« (König 2000, 190) Ende des 19. Jahrhunderts stand die Nähmaschine für den Einsatz von »ungelernten« Frauen und Kindern im Verlag. Daher verteufelten Lobbyisten der Maßschneiderei und konservative Ökonomen wie Charles Booth (1840–1916) das Nähen mit der Maschine als Qualitätsverfall. 1903 verglich Booth einen Cutaway17 aus der Verlagsproduktion eines »jewish contractor« mit einem Cut, der vollständig von einem ausgebildeten Gesellen (»english journeyman«) gefertigt worden war. Booth polemisiert vor allem gegen die Verarbeitungsmängel der Jacke, deren Rückenpartie sich wegen der nur punktuellen Verbindung von Futter und Oberstoff zu einem »Ballon« aufblähen lasse. Neben der sorgfältigen Verarbeitung beschwört Booth den Sitz (»fit«) als zweites Qualitätskriterium der Maßschneiderei. Kleidung, arbeitsteilig von »Ungelernten« gefertigt, könne nicht sitzen, so Booth (Booth 1903, 39–40). Hinter solchen häufig antisemitischen Angriffen18 gegen Verleger verbargen sich Lobbyinteressen ausgebildeter Maßschneider und Gesellen, die »ungelernte« Näher*innen angesichts ihrer niedrigen Löhne als bedrohliche Konkurrenz wahrnahmen. Entsprechend sorgte die Maßbranche in ihren Modeberichten dafür, dass die von »Ungelernten« gefertigten, lose geschnittenen Paletots, Wettermäntel oder »Tweedwrapper« trotz hoher Verkaufszahlen noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als minderwertiges Genre galten.19 Wegen der Simplizität ihrer Schnitte wurde die Herstellung solcher Artikel schlecht bezahlt, wie ein Arbeiter am Beispiel eines »Spanish cloak« beschrieb: Der weite Cape-Mantel mit großer Kapuze hatte zwar einen einfachen Schnitt, aber einen aufwändigen Posamentenbesatz, den die Modeberichte der Maßbranche als modisches Merkmal eleganter Capes lanciert hatten. Die Borten und Besätze mussten aufwändig von Hand aufgenäht werden, was die von den Heimarbeiter*innen selbst zu bezahlenden Kosten für Nähzutaten noch zusätzlich erhöhte. Die Höhe dieser Kosten war im Überlebenskampf der Heimarbeiter*innen ein entscheidender Faktor geworden.20 Capes fertigte der erwähnte Arbeiter nach eigener Aussage daher nur in der höchsten Not (Mayhew 1984, 250–51). 17 | Frack mit rund geschnittenen vorderen Schoßkanten, englisch »morning coat«. 18 | Zu Antisemitimismus und Konfektion vgl. u. a. Uwe Westphal (1986): Berliner Konfektion und Mode: Die Zerstörung einer Tradition 1836–1939. 19 | »The inferior work consists of Shooting coats [ Joppe mit vielen Patten-Taschen], Fishing coats, Oxonians [»Oxforder«, ähnlich Shooting, meist blau], Paletots, Reefing jackets [Arbeitsjoppen], Pilot coats [Seejacken], Chesterfields [Mäntel mit verdeckter Knopfleiste], Codringtons, Bullers, Sacs, Sailor’s jackets and Spanish cloaks.« Mayhew 1984, 250–51. 20 | Capemäntel aus teurem Tuch mit aufwändiger Posamenterie bildeten im 19. Jahrhunderts ein Genre, das auch in der Maßschneiderei viel gefertigt wurde.
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Bild 58 • »Inverness« – Modell des Londoner Konfektionshauses H. J. & D. Nicoll 1865
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5.3 Begradigte Schnittmuster, Standardisierung und Konfektionsindustrie Die massenhafte serielle Herstellung gerade geschnittener Kleidung, in die man auch ohne Anprobe hineinpasste, sorgte dafür, das solche simplen, körperfernen Schnittmuster mehr und mehr in Umlauf kamen und Einfluss auf die Mode ausübten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren vor allem Paletots verbreitet: »A variety of outergarments were available to the Victorian male. The most popular of which was the paletôt, a loose hip length coat. While the fit of ready-made clothing was improving, it still had a long way to go and firms tended to specialise in outerwear requiring a minimum of fitting.« (Levitt 1986, 92). Dem Normalsystem und der indirekten Maßkonstruktion der Maßschneiderei des 19. Jahrhunderts lag die Standardisierung der Schnittmuster und Passformen bereits zugrunde. »Mit diesen [Maß- und Zuschnitt-Systemen] will sich das Schneiderhandwerk professionalisieren, treibt aber paradoxerweise gerade die Weiterentwicklung der Konfektion voran.« (Draude und Döring 2012, 64)
5.3.1 Maßkonfektion, Abonnements und Simplifizierung Ein erfolgreicher Geschäftszweig war die im 19. Jahrhundert von zahlreichen Konfektions-Unternehmen angebotene Maßkonfektion (»wholesale bespoke manufacture«). Im Rahmen serieller Herstellung ließ das Verfahren die Berücksichtigung individueller Kundenwünsche zu. Innerhalb einer begrenzten Palette konnte zwischen mehreren Farben und Stoffqualitäten gewählt werden. In die Schnitterstellung flossen zudem Individualmaße wie Ärmel- oder Seitenlänge ein, die nicht in die Grundstruktur des Schnittmusters eingriffen. Anzüge mit – wenn auch wenigen – individuell berechneten Maßen waren nun auch Männern unterer Schichten zugänglich und auch diesen weniger betuchten Kunden wurde das Gefühl vermittelt, gut gekleidet zu sein. Katrina Honeyman sieht in der Maß-Konfektion eine der wesentlichsten Entwicklungen in der modernen Männerkleidung, indem sie das Erscheinungsbild von Männern quer durch alle sozialen Schichten einander anglich (Honeyman 2000, 2–11). Die Maßbranche reagierte mit Preisnachlässen. Londoner Schneider boten ihre Maßanzüge annähernd zum Preis von Anzügen der Maßkonfektion an. Nach Einschätzung Stanley Chapmans lagen diese Preise nur wenig über den teureren Angeboten des großen Londoner Konfektionshauses E. Moses & Son. Die preisliche Annäherung der Branchen förderten zudem spezielle »Abonnements« von »two suits per annum«, die Maßschneider wie Maßkonfektionäre anboten. Brachte der Kunde seinen getragenen Anzug zurück, erhielt er für einen neuen Anzug einen Preisnachlass (Stanley Chapman 1993, 17). Solche Preissenkungen implizierten notwendigerweise die Verkürzung und Verringerung des Herstellungsaufwandes eines
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Anzugs. Dazu gehörte eine deutliche Vereinfachung der Schnitte auch von Fräcken und Gehröcken. So wurden beispielsweise formende Nähte durch Abnäher ersetzt,21 die Anzahl der Schnitteile reduziert oder auf die Formung der Brust durch Anglaisen verzichtet, sodass sich die Vorderfront der Jacken abflachte.
5.3.2 Costumomêtre, Konfektionsgrößen und Schnittschablonen Bis zur Etablierung von »industry rules« legten Schneider Details wie zum Beispiel Knöpfungen individuell und lokal unterschiedlich fest. Im 19. Jahrhundert wurden Details in Gestaltung und Verarbeitung der Kleidung zunehmend durch Industrie-Normen reglementiert, so – um bei der Knopfleiste zu bleiben – die verbindliche Links-über-Rechts-Knöpfung für Männer- und die Rechts-über-LinksKnöpfung für Frauenkleidung (Marly 1989, 73). Ein solche Industrie-Norm stellen bis heute die Konfektionsgrößen dar. »Die Entfaltung eines Massenangebots von fertiger Oberbekleidung [ist an ein System] von normierten Körpermaßen und -proportionen gebunden gewesen. Nur durch verbindliche Festlegung von Größengruppen sowie innerhalb dieser von Einzelgrößen konnte es gelingen, die paßformtechnische Voraussetzung einer Produktion für eine anonyme Endverbraucherschaft zu gewährleisten.« (Döring 1992, 106) Konfektionsgrößen waren also eine Grundvoraussetzung zur Entwicklung der Konfektionsindustrie. Als Ursprung der Konfektionsgrößen gelten die Größen der »Militärkonfektion« des 18. Jahrhunderts, die den als »normal« erachteten Größen mittlerer Körper einer »Rotte« folgten.22 Für die preußische Uniformschneiderei erläutert Krause: »Die vier Rotten, für die in Berlin die Monturen probeweise angefertigt wurden, bildeten also eine Auswahl verschiedener Größen. […] Sie stellten gewissermaßen die Normalgrößen der betreffenden Kompanie dar.« (Krause 1965, 42) Diese »Größen« im buchstäblichen Sinn lagen den »Blauen Patronen« der Uniformschnittmuster zugrunde. Die Verwendung von Einheitsgrößen bedeutete im Kern das Gradieren, das proportionale Vergrößern eines »normalen« Schnittmusters. W. Aldrich beschreibt diese Technik am Beispiel des »Costumomêtre«, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts – möglicher Weise auch früher – zur Herstellung von Uniformen wie auch ziviler Männerkleidung im Sinne eines Größensystems nach halben Brustumfängen in der Konfektion verwendet wurde (Aldrich 2013, 13–14). In »Le parfait tail21 | Vgl. den patentierten Schnitt eines Frackes in »Victorians unbuttoned« von Sarah Levitt. Levitt 1986, 95. 22 | Vgl. Krause 1965, 6. Kraft 1997, 75–76. Burri 2012, 77–78. Draude und Döring 2012, 61.
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Bild 59 • Costumomêtre – Figur Z: Dreieck-Schablone mit Punktreihen als Größensystem
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Bild 60 • Corsage Grundschnitt erstellt mit dem Costumomêtre
leur«, einem Lehrbuch zur Geschichte des Zuschnitts aus dem Jahr 185223 findet sich eine Beschreibung des Systems (Couanon 1852, 207ff). Das »Costumomêtre« (Bild 59, Figur Z) ist zugleich Hilfsinstrument zur Gradierung und Größensystem. Es besteht aus einem Dreieck-Karton, in den neun Serien von eingestochenen Punkten strahlenförmig zueinander angeordnet sind. Es sind punktförmige Lochungen. Jede Reihe entspricht den Stellpunkten der »normalen« Corsage in diversen Größen: A) Tiefe des Halsausschnitt, B) Position der Schulternaht C) Position Mitte Vorderkante des Armloch D) oberer Endpunkt der Seitennaht/Armlochspitze E) Tiefe des Armlochs F) Position der Seitennaht/bestimmt Breite des Oberteils G) unterer Endpunkt der Seitennaht auf der Taillenhöhe bzw. der Querlinie, die die Unterkante des Grundschnitts der Corsage im Rücken markiert H) Endpunkt der Vorderteilslänge auf der Taillenhöhe bzw. der Querlinie, die die Unterkante des Grundschnitts der Vorderteile der Corsage markiert I) Mitte der Vorderkante. Jeder Punkt der Reihe markiert jeweils einen Meßpunkt, dessen Position einem halben Brustumfang von 24 bis 48 cm zugeordnet ist. Verbindet man z. B. alle innen liegenden Anfangspunkte der Reihen, ergibt sich der Umriss einer Corsage für den halben Brustum23 | Couanon (1852): Le parfait tailleur: contenant les principes de l'art du tailleur, l'histoire de toutes les méthodes, théories et systèmes qui s'y rattachent, la description des costumes de tous les peuples du monde. Tome 1, Partie 2–3 / par M. Couanon. Quelle: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9799238x/ f322.image.textelmage.
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fang von 24 cm. Verbindet man dagegen alle äußeren Endpunkte der Reihen, erhält man die Grundform einer Corsage mit den identischen Proportionen für den halben Brustumfang von 48 cm. Dieses Gradieren, das stufenweise Vergrößern oder Verkleinern durch Raster – oder wie hier mittels »Costumomêtre«, also einer vorgefertigten Schablone – kann als Beispiel für ein frühes System von »Normalgrößen« gelten, wie sie in Uniform-, Maß- und Konfektionsschneiderei verwendet wurden. Bis heute sind Konfektionsgrößen für Männer auf den halben Brustumfang und somit auf die gestaffelten halben Brustumfänge des Reduktionsschemas und somit auf die Maßberechnung, die indirekte Maßkonstruktion« bezogen. »Die erste Vergabe von numerischen Maßgruppen wird im deutschen Sprachraum dem 1837 gegründeten Konfektionshaus Manheimer zugeschrieben, dem Gründungsbetrieb der Berliner Konfektion«, so Monika Burri (Burri 2012, 77–78). In Zeugende Zahlen beschreibt Daniela Döring mit den »bunten Sternen der Hausvogtei« ein Größensystem der Berliner Konfektion, das Valentin Manheimer im frühen 20. Jahrhundert für Damenmäntel und -kleider verwendete (Döring 2011, 179). Im Sinne des Normalsystems basiert Manheimers Größensystem auf 46cm des halben Brustumfangs als Basis-Maß des weiblichen »Normalkörpers«. Dieser Ausrichtung der Stern-Größen an halben Brustumfängen entspricht eine Größentabelle für Männerkleidung aus Textilhandbuch der 1920er Jahre.24 Auch hier gehen die Konfektionsgrößen von halben Brustumfängen sowie von stark simplifizierten Konformationen wie »normal«, »schlank«, »untersetzt« usw. aus. Für jede Altersklasse gilt ein eigenes Größensystem. Im Unterschied zu »Burschen-« und »Herrengrößen« bezeichnen die Knabengrößen, die Körper im Wachstum erfassen sollen, keine halben Brustumfänge. Im »Textilhandbuch« finden sich dazu allerdings keine näheren Erläuterungen. Insgesamt basieren die Größensysteme in der Konfektion auf »Normalmaßen«. Entsprechend ist der »normale« halbe Brustumfang von 48 cm bei den »Herrengrößen« in der Mitte der »normalen Figuren« platziert: »Es soll hier eine Aufstellung der Normalmaße folgen: Anzüge und Paletots. Knabengrößen: 00, 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12. Burschengrößen: 38, 40, 42, 43. Herrengrößen (normale Figuren) 44, 46, 48, 50, 52, 54. (schlanke Figuren) 45, 47, 49, (90, 94, 98, 102) (untersetzte Figuren) 51, 53, 55, 57, 59, 61. (große und starke Figuren) 56, 58, 60, 62 usw. […].25 24 | Benno Marcus: Großes Textilhandbuch, Datum der Ausgabe ca. 1926, 620. 25 | Es folgen diverse Hosengrößen, die hier nicht zitiert werden. Wie heute gab es für Mäntel und Jacken andere Größensysteme, als für Hosen oder auch Hemden.
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Die Nummernbezeichnung bei Anzügen gibt den halben Brustumfang an, bei Hosen die Bauchweite, oder die Schrittlänge oder beides. Bei Knabenanzügen ist die Größeneinteilung willkürlich. Nach diesen Normalgrößen werden die Schablonen gemacht, die der Aufzeichner auf die Stoffe überträgt […].« (Marcus ca. 1926, 620) Die letzte Bemerkung ist ein wertvoller Hinweis auf die Verwendung von Normgrößen bei der Erstellung von Schnittmusterschablonen. Folglich waren Proportionen und Passformen der Schnittschablonen von »Normalgrößen« bestimmt. »Konfektionsgröße« bezeichnet genaugenommen also die »Größe« des fiktiven »Normalkörpers«, dem der individuelle Körper durch Zuordnung zu einem halben Brustumfang zugeordnet wird. Da mit »Körper« bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein immer der bekleidete Körper gemeint war, können diese Körper-Größen zugleich als Kleider-Größen verstanden werden. Im Textilhandbuch finden sich zudem weitere bemerkenswerte Details zum Zuschnitt nach Musterschnitten, die stark an die Fertigschnittmuster des 18. Jahrhunderts erinnern: Für jedes Kleidungsstück gab es pro Konfektionsgröße eine Pappschablone, nach der seriell zugeschnitten wurde. »Die Schablonen müssen für alle Größen, wie man die Normalmaße nennt, angefertigt werden, d. h. man muss für jeden Anzug eine beträchtliche Anzahl von ihnen haben. Jede Schablone besteht wieder aus einer großen Anzahl von Einzelheiten, die man, um Verwechslungen zu verhüten, nummeriert, mit einer gewissen Anzahl von Löchern versieht, oder sonstwie kennzeichnet. Für einen Sakko z. B. braucht man folgende Schablonen: 1. Rückenteil, 2. Vorderteil, 3. Ärmel, 4. Kragen. [Es folgt die zitierte Aufstellung der Normalmaße für Anzüge und Paletots.] Nach diesen Normalgrößen werden die Schablonen gemacht, die der Aufzeichner auf die Stoffe überträgt. An seine Kunst werden hohe Anforderungen gestellt, liegt es doch an ihm, durch geschicktes Auflegen der Schablonen den Stoff möglichst auszunutzen. Der Zuschneider nimmt den gezeichneten Stoff, legt ihn auf eine Anzahl Stofflagen und zerschneidet das Ganze mit der Maschine. Ein anderer schneidet gleichzeitig die Zutaten und ein dritter teilt Stoff und Zutaten ein, er ›richtet‹ ein. So gehen die Pakete entweder an den Heimarbeiter, der den fertigen Anzug abliefert, oder sie gehen in den Nähraum der Fabrik […].« (Ebd.) »Schablonen« sind Musterschnitte nach »Normalgrößen« im Maßstab 1:1, also in Originalgröße des Kleidungsstücks. Demnach wurde der Musterschnitt für den »Normalkörper« in Größe 48 entwickelt und anschließend in Schablonen für jede kleinere oder größere Größe übertragen. Die Herstellung von Fertigkleidung basierte demnach auf vorgefertigten Schnittschablonen nach einem Größen-System gestaffelter Brustumfänge.
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5.3.3 Papierschnitte in Originalgröße »›The method of cutting by ill-shaped patterns, is, we conceive, too much followed by the trade, instead of working with lengths, and following nature in every existing circumstance. Patterns can be of little service to any but slop masters, where they have them for the smallest size to the largest figure, upon proportionate scales (the measure not being attainable). But where nature has a little sported with the formation of a figure, such a person must appear truly ridiculous in one of those slop made coats.‹« (Cook and Golding, The Tailor’s Assistant or Unerring Instructor, 1815, 5–6, zitiert nach Seligman 1996, 51) Diese Polemik der Autoren einer amerikanischen Zuschnittlehre von 1815 richtete sich gegen die schematischen Passformen der Fertigschnittmuster der Konfektion (»slop trade«): Deren Musterschnitte und Schablonen wurden offensichtlich nach gängigen proportionalen Verfahren erstellt und die Konfektionsgrößen aus dem Reduktionsschema der gestaffelten halben Brustumfänge abgeleitet. Auf die Standardisierung der Passformen der Konfektionskleidung durch Verwendung proportional erstellter Fertigschnittmuster verweist die Bemerkung: »Slop masters […] have [patterns] for the smallest size to the largest figure, upon proportionate scales…«. Personen, deren Körperbau von der »Natur« weniger vorteilhaft geformt seien, deren Körperbau also vom »normalen« Schema abweicht, würden in den »slop made coats« lächerlich wirken, so Cook und Golding. Eine weitere Polemik gegen den schematischen Zuschnitt in der Konfektion findet sich in Le parfait tailleur von 1852. Hier wird über einen Monsieur Grillot hergezogen, der seine wohl ausgesprochen schematische Methode, die Proportionen des Oberkörpers aus Quadratur der Schulterbreite (»carrure«) zur ermitteln, um 1844 in der hauseigenen Zeitschrift des Pariser Konfektionshauses »À la Belle Jadinière« veröffentlicht hatte, dessen Angebot weniger durch das Modische als eher durch billige Preise glänze (Couanon 1852, 308). Wie schon erwähnt, behauptete der schottische Maßschneider Joseph Couts in einem Bericht von 1847, der Erfinder bedeutender schneidertechnischer Techniken und Geräte zu sein: So deklariert er das Bandmaß, das Schnittmusterrädchen sowie die »stamped patterns« – Papier-Fertigmuster in allen Größen – als eigene Erfindungen. Diese habe er bereits 1818 eingeführt und verwendet (Couts 1848, 5–7). Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden Schnittmuster auch in Modemagazinen publiziert. Um 1850 verbreiteten sich Schnittmuster in Originalgröße für Männerkleidung. Nach Joy Emery finden sich solche »full-size-patterns« im Pariser Élégant ab 1848 und in englischen oder amerikanischen Magazinen ab 1849. Solche Schnitte in Originalgröße veröffentlichte auch die Europäische Modenzeitung in Dresden. Sie finden sich zudem in hauseigenen Magazinen der Konfektionsunternehmen, so in Herrmann Gerson’s Mode-Zeitung. Zeitschrift für Mode, Kunst, Industrie und Literatur. Eine Ausgabe von 1857 enthält Fertig-Schnittmuster
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Bild 61 • Herrmann Gerson’s Mode-Zeitung – Schnittmuster in Originalgröße
im Maßstab 1 : 1 für Damenmantillen, Kleinkinder-Kleidung und Wäsche ohne jegliche Maß- oder Größenangaben. Lediglich »Nr. 33 Kleidchenschnitt für ein kleines Mädchen im Alter von 1 1/2 bis 3 Jahren« enthält zumindest eine Altersangabe. Bei Schnitterstellung für Kinderkleidung stieß die Praktik des Normalsystems an ihre Grenzen, denn die Proportionen der im Wachstum befindlichen Körper entzogen sich dessen abstrakten Schematisierungen. Die Lösung waren Fertigmuster in eher willkürlichen Größen mit weiten Passformen und bewusst kurzen Ärmeln oder Hosenbeinen, die dem Herauswachsen aus dem Kleidungsstück gewissermaßen zuvorkamen und das Schnittmuster so für mehrere Altersstufen brauchbar machten. Nach Emery produzierten amerikanische Firmen (»pattern companies«) vorgefertigte Papierschnittmuster im Maßstab 1 : 1 für den privaten oder professionellen Gebrauch. Emery datiert ihren Beginn um 1850. Diese frühen Muster erschienen noch ohne Größenangaben.26 Wie die Schnittvorlagen der Zuschnitt-Systeme stammten auch die kommerziell gehandelten Fertig-Schnittmuster (»block or model patterns«) von ausgebildeten Maßschneidern. Fertigschnittmuster wurden auch als »slopers« bezeichnet und so begrifflich mit dem »slop-trade« genannten Handel mit einfacher Konfektionskleidung konnotiert. Nach Emery wurden Papierschnittmuster von Maßschneidern gefertigt und verkauft. Sie waren auch der 26 | »Available sizes were not mentioned«. Emery 2014, 11.
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Konfektion zugänglich, die sie sehr wahrscheinlich zur Produktion preisgünstiger Fertigkleidung einsetzte.27
5.4 Saisonalität und Moderisiko In der Ausgabe des Pariser Moden Journal vom 5. April 1840 findet sich ein bemerkenswerter Nebensatz: »Die neuesten Röke, welche in Paris für das Frühjahr schon jetzt aus den ersten Werkstätten hervorgehen, sind sehr elegant, leicht in angenehmer Form, leger und der jetzigen Zeit, wo alles nur für die Gegenwart berechnet ist, ganz angemessen.« (PMJ 1840, N 14, 108) »Für die Gegenwart berechnete« Kleidung ist eine treffende Umschreibung für eine saisonal wechselnde Garderobe und damit für die »Saisonalität« des modernen Modemarktes. Laut Bertelsmann Lexikon wird mit »Saison« die »betriebsamste Jahreszeit« des Geschäftslebens bezeichnet, in der die neuen Kollektionen der Modehäuser erscheinen und die Läden mit neuer Konfektionsware beliefert werden. (Bertelsmann Volkslexikon 1956, 1519) Die Hauptsaisons korrelieren mit dem jahreszeitlichen Wechsel und der entsprechenden Nachfrage nach passender Kleidung. In der Männermode des 19. Jahrhundert waren gemäß den Jahreszeiten zunächst vier, in der zweiten Jahrhunderthälfte dann wie heute zwei »Saisons« üblich. Mit »Saison« werden auch kurzfristige Konjunkturen wie Kostümbälle zu Jahresbeginn oder die vermehrte Nachfrage nach einem bestimmten Modell oder Modestil bezeichnet. Durch Saisonalität ergaben sich vorhersehbare »spezielle Termine mit besonderer Nachfrage«. Mode- und Geschmackswechsel wurden planbar und konnten an die Abläufe der Produktion und des Handels angepasst werden (Döring 1992, 68–69). Trotz »Saisonalität« sahen sich Produzenten von Kleidung als Getriebene scheinbar willkürlicher Geschmackswechsel insbesondere in der Frauenmode, was empirisch jedoch unbewiesen ist, wie Friedrich Wilhelm Döring betont (ebd., 72–74). Weil die Nachfrage als kalkulierbarer und Männermode als konstanter galt, sah sich die Herrenkonfektion vom »Moderisiko« (ebd., 77) weniger betroffen. Nach Heinrich Kahn werden neue Moden durch »modeverbreitende Industrie« und Modepresse verursacht. Ihre Verbreitung gleiche den konzentrischen Wellen um einen ins Wasser geworfenen Stein. Fraglich sei, so Kahn, ob die Unternehmer den Bedürfnissen der Konsumenten nur nachkommen, oder aber diese Bedürfnisse erst hervorbringen, wer also, um im Bild zu bleiben, den Stein 27 | »Tailoring patterns were for professional tailors and, to a certain extent, the emerging ready-towear garment industry. […] It seems safe to say, that in the second half of the nineteenth century, most custom tailors were using one of the now numerous variations on drafting systems and making patterns for sale. It is a reasonable guess, that the rapidly growing ready-made garment industry was the major purchaser of these patterns, particularly the ones in groups of graded sizes.« Emery (2014, 18).
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ins Wasser wirft. Würden Produzent*innen und »kapitalistische Produktionsweise« neue Moden hervorbringen, wären die »Neumusterungen der Unternehmer«28 der »Anstoß zum Modenwechsel« (Kahn 1923, 45–47). Auf die Unberechenbarkeit der Mode- und Geschmackswechsel wurde mit immer schnelleren Kollektionswechseln reagiert, wobei sich die Modelle auf Betreiben der Unternehmen allerdings immer ähnlicher und gravierende Umschwünge des Stils vermieden wurden. Die Beschleunigung der Modewechsel ging also mit einer Nivellierung des Modegrads einher.
5.4.1 Mäßigender Einfluss auf den Modegrad Wegen der Langsamkeit der Einzelherstellung fürchteten Maßschneider schnelle Modewechsel generell (Hofer 1978, 11). Konfektionäre dagegen waren wegen ihrer Lagerbestände an steten aber geringfügigen Modewechseln interessiert. 1926 betont Gertrud Lenning, die Pariser Korrespondentin der Fachzeitschrift der »Konfektionär«, dass die Konfektion die Modegeschichte wesentlich mitgeprägt habe, indem sie den Modegrad der Kleidung dämpfte. Die Mode- und Gesellschaftsberichte aus »Paris-Wien-London-Berlin […] bedeuten in der Mode und für die Konfektion das Wollen […]«. In der Praxis habe die Konfektion jedoch einen »mäßigenden Einfluss« auf die Modeentwicklung gehabt. In der Herrenkonfektion gelte, dass der Verkaufserfolg durch ein »Zuviel« des Modegrads gefährdet sei (Der Konfektionär 1926, 53–54). Diesem Prinzip hatte ein Konfektionsanzug zu entsprechen.
5.5 Wer entwirft die Modelle ? »Die Grundlage der Damenkonfektion beruht auf einer intimen Zusammenarbeit zwischen dem Konfektionär als Geschmacks- und Modekundigen und dem Schneider, der die vorschwebenden modischen Motive ausführend in die Tat umsetzt. Nach diesen Grundsätzen wurde schon seit den Anfängen einer geregelten Damenkleidererzeugung gearbeitet. […] Schon vor einem halben Jahrhundert […] [reiste] der Konfektionär […] ein bis zweimal zu den Hauptjahreszeiten [nach Paris], um die französischen Anregungen skizzenhaft festzuhalten. Anhand dieser Unterlagen erhielt dann Deutschland seine Mode.« (Marcus 1926, 602) Inwieweit diese Aussagen auch für die frühere Konfektion im 19. Jahrhundert gelten können, konnte allerdings hier nicht geklärt werden. In deutschen Quellen für die Herrenkonfektion fehlen solche Darstellungen gänzlich. Vermutlich wegen ihres niedrigen Modegrads wurde Herrenkonfektion kaum mit Mode in Verbindung 28 | »Modelle« als Vorlagen serieller Produktion wurden »Muster« genannt. »Neumusterung« meint das Erstellen einer neuen Kollektion.
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gebracht. Daher schien die Frage, wie Herrenkonfektionäre modisch agierten und wie die Kreation von Muster-Modellen für Männerkleidung vor sich ging, wohl nicht relevant. Auch die neueren Forschungsbeiträge zur Herrenkonfektion blenden solche Aspekte meist aus.29 So entsteht der Eindruck, dass die Herstellung eines Kleidungsstücks mit dem maschinellen Zuschneiden der Stoffe beginnt, als stünde nicht der Modeentwurf und das Mustern von Stoffen und Schnitten am Anfang jedes Produktionsprozesses. Aus Quellen zur Damenkonfektion geht hervor, dass die Konfektionsunternehmer selbst über das modische Profil ihrer Kollektionen entschieden. Sie trafen eine Auswahl von Modellentwürfen, die ihnen vermutlich in Form von Stoffmustern und Skizzen oder Musterschnitten von den unternehmenseigenen Musterabteilungen vorgelegt wurden. Dabei bestand das Risiko, den aktuellen Modegeschmack zu verfehlen oder den klimatischen Verlauf der Saison falsch einzuschätzen und auf der Ware sitzen zu bleiben.30 In der Herrenkonfektion ist davon auszugehen, dass sich die Entscheidung, welche Muster in Produktion gingen, durch die vorausgegangenen Bestellungen der Einzelhändler ergab. Daraus konnte das Unternehmen die kommende Mode-Saison in etwa prognostizieren.
5.5.1 Patentlösungen Ein Beispiel kreativer Potentiale der Konfektion sind Patente von Schnittsystemen und Schnittmustern, die Maßschneider wie Konfektionäre in England seit dem »Designs Act of 1839« zum Schutz vor Produkt-Piraterie registrieren lassen konnten. Diese Praktik hat Sarah Levitt in ihrer Studie »Victorians unbuttoned« ausführlich beschrieben (Levitt 1986). Solche Patente zielten auf Multifunktionalität der Kleidungsstücke sowie auf das Vortäuschen einer großen Garderobe. Man kreierte Westen zum Wenden, Mäntel mit abnehmbarem Kapuzen, Schoßteilen oder Futtereinsätzen (Levitt 1986, 100–101). Zeitgenössischen Modeberichten ist zu entnehmen, dass im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts – in England »riding water« genannte – mit Kautschuk beschichtete Mäntel aufkamen. Nach fehlgeschlagenen Versuchen mit taillierten Formen, für die das steife Material sich nicht eignete und deren viele Nähte kaum wasserdicht abzudichten waren, bürgerten sich für Regenmäntel weite Mantelformen wie Cape oder Sackpaletot ein (ÉJdT 1837, J 3, N 27, 213). Das Aufkommen der Gummi-Regenmäntel beförderte den »sac«. Die Konfektionäre 29 | So u. a. Honeyman, Katrina (2000): Well suited. A History of the Leeds Clothing Industry 1850– 1990. New York: Oxford University Press. 30 | »Die [Berliner] Konfektionäre der Blütezeit […] riskieren jedesmal aufs neue Kopf und Kragen. wissen sie denn, ob der in hundert oder tausend Exemplaren hergestellte Mantel ein »Renner« wird ? […] Es ist durchaus drin, daß neben dem, der hoffnungsfroh am Zeichentisch das entscheidende Wort ›dieses Modell zweihundertfünfzigmal‹ sagt, bereits der Pleitegeier hockt, daß diese zweihundertfünfzig Kleider einem ›Schneeverwässerer‹ für einen Bruchteil der Herstellungskosten verramscht werden müssen.« Dopp 1962, 34.
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vereinfachten und funktionalisierten Kleidungsstücke bis hin zu Neuerfindungen. Dies zeigt ein patentierter, »ökonomisch geschnittener« Frack mit einem »one piece rever« von H. J. & D Nicholl von 1849 (Levitt 1986, 95). Kragen und Revers wurden aus einem Stück geschnitten und so die Herstellung des Fracks vereinfacht. Das »one-piece-revers« bezeugt, dass auch die Bemühungen der Konfektionäre, ihre Produkte trotz serieller Herstellungsverfahren wie Maßkleidung aussehen zu lassen, insgesamt zu einer Vereinfachung der Formen führten.
5.6 Cheap tweed wrappers Der aufgerauhte (»coarse«) Tweed war ein billiges Massenprodukt (Levitt 1986, 91) und aufgrund seines günstigen Preises in der Konfektion der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Tweed implizierte eine gerade, eher weite Passform, denn das dicke, rauhe Material erlaubte nur gerade Nähte. Die niedrigen Kaufpreise der billig und schnell herstellbaren Mäntel erzeugten eine Niedrigpreis-Spirale, die auch die Maßschneiderei erfasste. Der folgende Bericht eines ausgebildeten, in einem Maßatelier des angesehenen Londoner Westend beschäftigten Schneidergesellen aus dem Jahr 184931 wird hier aufgrund seiner Relevanz für die Bezüge von Konfektion und Sakkomode nur wenig gekürzt wiedergegeben. Unter dem wachsenden Konkurrenzdruck der Warenhäuser im Londoner Eastend habe sein Arbeitgeber um 1844 mit der Produktion der »cheap tweed wrappers« beginnen müssen, um seine Kunden halten zu können. Mit der neuen Mode dieser schlichten Tweedjacken sei eine Minderung der Produktqualität und eine Verschlechterung seiner Einkommens- und Arbeitsverhältnisse verbunden: »Between the years 1844 and 1845 […] my master32 had a consultation with his captain33 as to making up the new cheap tweed wrappers, which were coming up into general fashion at that time; and he decided upon paying for them as a rate which […] was less than the regular sixpence per hour. He said at the show shops at the Eastend34 were daily advertising tweed wrappers at such low figure that his customers, seeing the prices in the newspapers, were continually telling him that if he could not do them they must go elsewhere. Since then cheap overcoats, or wrappers, have been generally made in our shop and I believe that my master would willingly give over making them, if it were not for the extreme competition which has been going 31 | Zitat Henry Mayhew (1812–1887) im Londoner Chronicle 1849 veröffentlicht. 32 | Gemeint ist der Arbeitgeber, ein Schneidermeister und Besitzer eines Maßateliers im Londoner Westend. 33 | Vorsteher der Werkstatt. 34 | Läden für Maßkonfektion.
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on in the tailoring trade since their introduction. Amongst all the best and oldest houses in the trade at the West-end they are gradually introducing the making of cheap paletots, Oxonians, Brighton coats, Chesterfields, etc.; and even the first-rate houses are gradually subsiding into the cheap advertising slop tailors. If the principle goes on that rate that it has been progressing for the last five years [1844–1849] the journeymen-tailors35 must ultimately be reduced to the position of the lowest of the needlewomen.« Aus der Sicht dieses Zeitzeugen war die Mode der gefragten, billigen Sackpaletots nicht die Folge, sondern der Auslöser der Umstellung von Stundenlohn auf Bezahlung per Stück, die ab 1834 die bis dahin üblichen Lohnstandards deutlich absenkte. Durch die »cheap tweed wrappers« sah er den qualitativen Abstieg der Maßschneiderei eingeleitet, die sich nun kaum noch von der Konfektionsschneiderei unterschied (Mayhew 1984, 227).
5.7 Standardisierung als Motor der Begradigung Mit seiner Loslösung von der Anatomie des Rumpfes repräsentiert das Schnittmuster des Sakkos einen Paradigmenwechsel zu einem modernen Modekörper mit gerader Kontur, die mit einem neuen »männlichen« Körperideal (Schorman 2012, 103) korrespondierte. Seine Herkunft aus der Arbeitskleidung bindet die »Männlichkeit« des begradigten Modekörpers an eine durch Arbeit und Leistungsfähigkeit bestimmte Lebensweise. Nach der Entkoppelung von Körpermodellierung und enger Passform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten legere Passformen nicht mehr als »schlechter« Sitz im Sinne einer »schlechten« Körperform, sondern vor allem als komfortabel und alltagstauglich. Es ist ein Konsens in der Fachliteratur, dass die Konfektions-typische Standardisierung und Simplifizierung der Schnitte und Passformen zur Durchsetzung des Sakkos entscheidend beitrug. Der Sakko-Anzug, die moderne männliche Standardkleidung, gilt als Schlüsselprodukt der Konfektion. Ursprung der geraden Schnittformen waren die Schablonen für simple Artikel ehemaliger »slop shops«, aus denen im 19. Jahrhundert die großen Konfektionshäuser hervorgingen. Die körperfernen Passformen kamen den Interessen der Konfektionsunternehmen zweifellos entgegen. Während die taillierten Schnitte in Einheitsgrößen und Fertigschnittmuster umgesetzt »schlecht« saßen, passten sich Sakkojacketts und im Kniebereich weite Röhrenhosen jedem Körperbau an und sahen doch ordentlich aus. Die Konsequenz war also, das gerade Schnittmuster und seine Lösung von der keilförmigen »normalen« Proportion des Rumpfes selbst zur Grundlage der Mode zu erklären. Zuschnitt und Verarbeitung 35 | Ausgebildete Schneidergesellen.
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der Jacketts sind wesentlich unkomplizierter als die taillierter Fräcke und Gehröcke. Zudem erlaubte die geringe Anzahl gerader Nähte die Verwendung derber, billiger Stoffe wie Tweed sowie funktionsgebundener Materialien wie Gummi. Frühformen eckig gerader Passformen finden sich bereits im 18. Jahrhundert in den Joppen der Unterschichten und im »habit carré« der Incroyablen in der Zeit der französischen Revolution. Als direkte Vorläufer des Sakkos können die weitgeschnittenen Paletots der 1830er Jahre gelten, die aus nicht-modischen Genres der Funktions- und Arbeitskleidung hervorgegangen waren und bei ihrem Auftauchen in den Modeberichten der 1830er als Konfektionsartikel beschrieben wurden. Dass ehemalige »slop shops« im 19. Jahrhundert nicht selten zu Konfektionshäusern avancierten lässt vermuten, dass die Bestände an Schnittschablonen für Arbeitsjacken zur Schnitterstellung für modische Sackpaletots verwendet wurden. Mit dem Sackpaletot als Modeartikel wurde die gerade geschnittene, körperferne Kleidung und ihr Konzept der Simplizität, Bequemlichkeit und Alltagstauglichkeit ab den 1830er Jahren zum Modethema und somit zu einem neuen Eleganzprinzip. Die Konfektion entwickelte lobbyistische Strategien, um ihre Produkte in Mode zu bringen und zu halten. So scheuten sich die Konfektionäre nicht, prominente Mode-Ikonen zu instrumentalisieren. Als blaue Fracks mit Goldknöpfen um 1850 aus der Mode kamen, richteten sich die Fabrikanten von Metallknöpfen – das Zentrum war Birmingham – 1851 an Prinz Albert, den Ehemann der englischen Königin Victoria mit der Bitte, die Mode wiederzubeleben. Dieser sagte zu, ohne jedoch den Ärger zu bedenken, den er nun mit den Fabrikanten von Seidenknöpfen haben würde (Vanier 1960, 151). Wie solche Einflussnahmen im Bereich der Schnittmuster vor sich gingen, wer die Musterkollektionen »entwarf« und wie Konfektionäre Mode »machten« zeigt sich eher indirekt in den geschäftlichen Strukturen der Konfektionshäuser. Die Leitung der Unternehmen bestimmte ihre Kollektionen durch Auswahl von Mustermodellen. Diese Praxis im Sinne von Mode ist vor allem für die Damenkonfektion im 20. Jahrhundert belegt. Quellen zu den Praktiken des Musterns in der Herrenkonfektion und generell in der frühen Konfektion sind selten. Eine Ausnahme ist Sarah Levitts Untersuchung patentierter Schnitte und Modelle der englischen Konfektion des 19. Jahrhunderts. Sie veranschaulicht die von der Konfektion betriebene Vereinfachung der Schnittmuster durch Reduktion von Nähten und die Invention funktionaler Kleidung mit zweckgebundener Materialwahl und Verarbeitung. Die Mehrzahl älterer Texte zur Herrenkonfektion bezieht sich mit dem frühen 20. Jahrhundert auf die Zeit nach dem Modewechsel zu geraden Schnittformen. Gemäß den Interessen der Kleidungsindustrie betonen die Quellen den »niedrigen« Modegrad der Männerkleidung als Ausdruck der Kontinuität und Stabilität des »männlichen« Geschmacks und des geringen »Moderisikos« in der Herrenkonfektion. In Maß- wie Konfektionsbranche war die Vorhersehbarkeit von Mode-Konjunkturen ein entscheidender Faktor des wirtschaftlichen Erfolges. Nach
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eigener Einschätzung dämpfte die Konfektionsindustrie den Modegrad ihrer Produkte bewusst und wirkte auf diese Weise nivellierend auf stilistische Änderungen der Modewechsel ein. Die Modellentwicklung in Konfektionsunternehmen richtete sich an den Modeberichten der Maßschneider aus. Beide Branchen arbeiteten an der Kontrolle der Mode-Konjunkturen und ihrer Rhythmisierung. Durch Systeme wie Saisonalität und Genres, also durch direkte Eingriffe in die Entwicklung von Schnittmustern und Farben sowie durch Lenkung des Geschmacks und der Nachfrage war es überhaupt möglich, die Herstellung modisch aktueller Kleidung zu organisieren und profitabel zu halten. Insofern wurde das Modegeschehen nach den Interessenslagen der Kleidungsproduktion gesteuert. Indem die Maßschneider ihre handwerklichen Techniken und ästhetischen Positionen öffentlich zugänglich machten, ermöglichten sie die Adaption ihrer Systeme in der Konfektionsschneiderei. Ausgehend von Normalsystem und Maß-Berechnung nach halben Brustumfängen sowie der proportionalen Vergrößerung und Verkleinerung von Schnittmustern entwickelten sich Fertigschnittmuster und standardisierte »Normalgrößen«, auf welchen die Konfektionsgrößen bis heute basieren. Insofern schuf die Maßschneiderei durch die Entwicklung der mathematischen Schnittkonstruktion erst die Voraussetzungen, die das Wachstum der Konfektionsindustrie begünstigten. Durch Produktion von Fertigkleidung in der Maßschneiderei und Einzelfertigung in der Maßkonfektion verwischten zudem die Grenzen zwischen Maß- und Konfektionskleidung. Die Distinguiertheit der Maßkleidung basierte demnach nicht auf der Verwendung individueller Direktmaße oder auf persönlichen Absprachen von Kunde und Schneider, sondern einzig auf der Qualität der Materialien und der handwerklichen Ausführung. Um konkurrenzfähig zu bleiben, verbilligte jedoch auch die Maßschneiderei ihre Produkte und setzte auf Nobilitierung von Konfektionsartikeln, so beim Sackpaletot. Die Verbreitung seriell produzierter Kleidung bewirkte eine weitgehende Uniformisierung der Erscheinungsbilder. Den Anstoss für diese Entwicklung gab jedoch nicht erst die Konfektionsindustrie, sie entwickelte lediglich die den Systemen der mathematischen Schnittkonstruktion und der Idee des »Normalkörpers« impliziten Standardisierungen weiter. Die fortschreitende Vereinheitlichung und Begradigung der Schnittmuster konstituierte eine rationale kapitalistische Männlichkeit nach normierten Größen durch eine gerade Silhouette verbunden mit Schlichtheit, Komfort und Passformtoleranz.
6 Zusammenfassung und Fazit 6.1 Zusammenfassung Gegenstand dieser Untersuchung ist die Taille in der Männermode der 1780er bis 1870er Jahre. Mit Taille wird hier jedoch nicht die anatomisch schmalste Stelle des physischen Körpers, sondern die Mitte des durch Bekleidung hervorgebrachten Modekörpers bezeichnet. 1910 fand der Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs eine beeindruckende Metapher: Kleidung sei, so Fuchs, »eine Gussform, mit Hilfe derer die Körper vom Geist der Zeit geformt werden« (Fuchs 1910, 153). Das Verständnis von Kleidung als »Gussform« impliziert wiederum den Zuschnitt, die Konstruktion von Kleidungsstücken als dreidimensionale formende Hülle. Generell ist die Materialität des Modekörpers an den Gewandschnitt als zentralem Prinzip westeuropäischer Kleidung gebunden. Das Hineinschneiden in das Webstück impliziert zugleich Techniken wie Abnäher und Teilungsnähte, welche die textile Modellierung und Konturierung von Gliedmaßen, Rumpf und Taille erst ermöglichen. Die Taille kann als »Kennzeichen des modernen westlichen Kleidungssystems« überhaupt verstanden werden (Mentges 1994, 9–10). Kleidung kann den Körper eng umschließen und zusammenpressen oder ihn mittels Unterbauten, durch körperferne Schnitte und plastische Falten räumlich erweitern. Die textile Oberfläche wird zur Körper-Oberfläche und strukturiert diese durch Entblößen oder Verhüllen, durch Faltenbildungen, Stoffdessins und Dekorationen sowie Farb- und Lichtwirkungen des Gewebes. Schnitte, Passformen, Eigenschaften des Materials und Verarbeitungsweisen bedingen spezifische Körperhaltungen und Bewegungsmuster. Mit der Materialität der Kleidung untrennbar verbunden sind ihre sozialen und kulturellen Funktionen: Das Bekleiden des Körpers ist substantieller Teil der Praktiken, die Identität hervorbringen.
6.1.1 Modekörper Den durch die Verschmelzung von Kleidung und physischem Körper hervorgebrachten zweiten Körper, dessen modebedingten Wandel und die mit ihm verbundenen Wahrnehmungen und Handlungen bezeichnet Gertrud Lehnert als »Modekörper«. Auf ihr gleichnamiges Konzept ist meine Untersuchung zum Wandel der
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männlichen Taille bezogen. Lehnert beschreibt den Modekörper als »Amalgamierung« von Körper und Kleidung (Lehnert 2013,51), als eine von Mode bestimmte und somit stets wechselnde Praktik der ästhetischen, räumlichen und performativen Modellierung von Körper, Identität und Geschlecht (vgl. ebd. 56–57). Lehnerts Konzept Modekörper folgend bezeichne ich mit Taille nicht die physisch gegebene Tailleneinbiegung, sondern eine durch das Schnittmuster erzeugte Kontur, deren Materialität zudem durch die Eigenschaften der verwendeten Textilien und die Beschaffenheit ihrer Oberflächen bestimmt wird. Diese vestimentär erzeugte Taille kann modebedingt von der physischen Taille deutlich abweichen. So betonen beispielsweise die französischen Modemagazine der 1780er Jahre, wie außerordentlich tief die Taille der englischen Tuchfräcke gearbeitet sei. Tatsächlich verlief hier die Taillenlinie nur wenig oberhalb der Hüften. Das Beispiel zeigt, dass Mode und Schneiderei nur bedingt an der individuellen Anatomie orientiert sind. Nahtverläufe, Passformen und Proportionen des Schnittmusters oktroyieren dem individuellen Körper einen jeweils von der Mode vorgegebenen Proportionskanon im Sinne einer Norm. So resultieren die wechselnden Taillenkonturen aus dem Wandel der jeweils modebedingten Differenz von Brust-, Taillen- und Hüftumfang im Schnittmuster. Sie sind somit ein Resultat spezifischer proportionaler Konstellationen der Bekleidung des Rumpfes, der ja kein gerader Baumstumpf ist, wie es Fuleront Antoine Barde – einer der bedeutendsten Herrenschneider der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – 1834 formulierte. Die Entwicklung der männlichen Taille zwischen 1780 und 1870 als Prozess der Begradigung des männlichen Modekörpers zu verstehen, bedeutet jedoch keinen Widerspruch zu dieser Äußerung Bardes, wenn man sie als fortschreitende Loslösung der Passformen von der physischen Anatomie sowie als Resultat grundlegender Paradigmenwechsel der Männermode und der damit untrennbar verbundenen Vorstellungen von Männlichkeit begreift.
6.1.2 Wandel der Taille Der Zeitraum, auf den sich die vorliegende Untersuchung des Wandels der männlichen Taille bezieht, beginnt 1780 mit der Verknappung des Justaucorps zum Frack. Mit dem schon im 17. Jahrhundert entwickelten Justaucorps-Anzug begann ein Prinzip der Überlappung aller Teile des Anzugs, die nun in Schichten übereinander getragen neue Möglichkeiten der Körperbewegung und Mobilität zuliessen (Holländer 1995, 87). Dieses Prinzip ging vom Justaucorps auf den Frack und alle weiteren Formen des modernen Männeranzugs über. Anders als beim Wams des 16. und 17. Jahrhunderts, dessen Schoßpartie durch eine Taillennaht vom engsitzenden Rumpfteil getrennt war, sind im Schnittmuster der »Justaucorps« genannten barocken Schoßjacken unterschiedliche Passformen der einzelnen Partien zu überbrücken: So haben die knielangen Schöße des Justaucorps eine modebedingt
Zusammenfassung und Fazit
zwar wechselnde aber eher körperferne Passform, während er im Rumpfbereich »just au corps«, also »nah am Körper« anliegt. Die fortschreitende Verknappung der Passform des Justaucorps resultierte aus dem Einfluss der Uniformschneiderei. Durch den dort herrschenden Stoffspar-Zwang kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer sukzessiven Verschmälerung der Rückenteile, welche die Armlöcher mit sich nach hinten zogen. Parallel dazu bog sich die gesamte Rückenpartie konkav nach innen. In den größer werdenden Abstand zwischen den ebenfalls schmaler geschnittenen, stark gerundeten Vorderteilen schob sich die Brust- oder Oberbauchpartie der Weste. Die aus diesem Schnittmuster resultierende Körperhaltung kennzeichnete ein sichelförmig gebogener Rumpf mit starkem Hohlkreuz und einem Brustkorb, der sich – bedingt durch die nach hinten gezogenen Arme – tendenziell vorwölbte. Die Modellierung der »Hohlung« des Rückens bildete das Zentrum des Schnittmusters in dieser Phase der Männermode. Die Biegung der am Körper glatt anliegenden Rückenpartie markiert nach meinem Verständnis den Beginn eines wachsenden Interesses, einen »männlichen« Körperbau – gekennzeichnet von nach hinten gebogenen Schultern und aufrechter Haltung – mit den Mitteln des Zuschnitts modisch-einheitlich zu modellieren. Als die umgeschlagenen vorderen Schöße der Militäruniformen aus Spargründen entlang der Bruchkante des Umschlags ganz weggeschnitten wurden, war ein weiterer entscheidender Schritt zur Entwicklung des Fracks vollzogen. In der Folge sollte sich die eingebogene Passform im Rücken mehr und mehr nach vorne hin fortsetzen. Zunächst durch eckige Einschnitte auf Höhe der – im späten 18. Jahrhundert knapp oberhalb der Hüfte verlaufenden – Taillenlinie, dann durch Taillenabnäher und schließlich mittels einer durchgehenden Taillennaht wurde die anliegende Passform zwecks Glättung der Stoffoberfläche um die Rumpfmitte nach vorne geführt. So waren der Frack und der um 1800 in Mode gekommene Gehrock ab der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts durch eine knappe Passform mit stark eingebogener Taillenkontur gekennzeichnet. Im Hohlkreuz des Justaucorps, das im 18. Jahrhundert durch schrittweise Passformverknapppung hervortrat, sehe ich den Ausgangspunkt der Tailleneinbiegung des 19. Jahrhunderts, indem sich die konkave Einbiegung um den Körper nach vorn fortsetzte. Die schmale Taille war darüberhinaus an »Normalkörper« und Faltenvermeidung gebunden. Daher und auch aufgrund ihrer Bezüge zur militärischen Uniform, verstehe ich die schmale Taille in der Männermode des 19. Jahrhunderts als »männlich«. Die Frage, wie diese schmal taillierten und von heutigen Vorstellungen vestimentärer »Männlichkeit« deutlich abweichenden Silhouetten zu erklären seien, gab den Anstoss zur vorliegenden Untersuchung. Es erscheint zunächst naheliegend, in der schmalen Taille der Männermode des frühen 19. Jahrhunderts eine Verbindung zur Frauenmode derselben Epoche zu erkennen. Die zeitgenössischen Quellen bestäti-
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gen diese Sichtweise allerdings nicht, sondern sprechen – hinsichtlich der Bezüge zwischen schmaler Taillierung, Taillennaht und Faltenvermeidung – eher für das Gegenteil: Die Quernaht in der Taille, die sich bis etwa 1820 im Zuschnitt allgemein durchsetzte, schuf zugleich die Voraussetzung einer schmalen Taillierung. Die Naht steht für die Zentrierung der modernen Herrenschneiderei auf Zuschnitt und Passform, die Faltenvermeidung zum Ziel hatte. Taillenabnäher und Taillennaht sollten die Zugfalten vermeiden, die sich geschlossener Trageweise am unteren Schließknopf von Frack und Gehrock ergaben. Die faltenfreie Stoffoberfläche wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zum zentralen Paradigma der Herrenschneiderei. Der Stoff sollte den Körper wie eine Haut umspannen, sodass die von der Kleidung erzeugte Form als eigentliche Körperform wahrgenommen werden und der Körper mittels Bekleidung nach dem Schema des von der Herrenschneiderei propagierten »normalen« Proportionskanons korrigiert werden konnte. Als »Haut« war die textile Oberfläche jedoch nur glaubhaft, wenn sie keine Falten warf. Hier sehe ich die zwei zentralen Funktionen der »männlichen« Taillennaht: Sie fungierte als Abnäher zur Faltenvermeidung und diente zugleich der Modellierung eines »männlich« keilförmigen Rumpfes, indem sie eine schmale Taille mit akzentuierter Einbiegung ermöglichte. Die Keilform basierte auf einer Differenz von Brust- und Taillenumfang, die je sichtbarer wurde, je schmaler die Taille war. Anders gesagt: Ohne schmale Taille keine männliche Körperform. Die Männlichkeit der glatten Tuchoberfläche zeigt auch ein Vergleich mit der Frauenmode der Zeit, die den gesamten weiblichen Körper mit kunstvoll arrangierten Falten überzieht. Die Mode zwischen 1830 und 1850 war neben Wechseln der Stoffe, Farb- und Materialkombinationen sowie wechselnden Hosenschnitten von einer Abwärtsbewegung der Taillennaht bestimmt. In dem sie auf den Hüftansatz sank, wurde die Taille breiter und leitete so das Ende der Taillierung in der Männermode ein. Aufgrund der schrittweisen Lockerung der Passform verringerte sich die Anzahl der Knöpfe und die Knopfabstände vergrößerten sich. In den 1850er Jahren hatte sich schließlich ein Standard von drei bis vier Knöpfen durchgesetzt (ÉjdT 1. 3. 1856, J 21, N 246, 8). Die schrittweise Reduktion der Watte führte dazu, dass die Brustwölbung von oben her zusehends abflachte und daher optisch tiefer ansetzte. Bereits 1841 präsentierte das Magazin ÉjdT eine Figur, deren Brust bis zum vierten Knopfloch der Jacke »leicht gerade« (»légèrement droit«) ist. Zur Bestimmung des Punktes, von dem ab die nun tiefere Brustrundung beginnt, wird zugleich das Knopfloch angegeben, an dem auch das Revers endet (ÉjdT 20. 6. 1841, J 4, N 69, 548). Der Hals kragen wurde niedriger und die Revers legten sich platt auf die Brust. Anfang der 1850er Jahre begannen auch die Rückfronten abzuflachen, indem auf die Rückennaht verzichtet wurde. Auf diese Weise wurde der Schnitt erheblich vereinfacht und die Taillenkontur weiter begradigt. Mit den Sackjacketts der Sakkomode setzte sich das Prinzip eines im Ganzen geschnittenen Rückens durch (Bild 1).
Zusammenfassung und Fazit
Parallel begann der seit dem Aufkommen der ersten Sackpaletots in den 1830er Jahren beobachtbare Prozess der Begradigung des männlichen Modekörpers. Mit dem Sackpaletot kam – abgesehen von der eckig-geraden »redingote carré« der Incroyablen – erstmals eine sackförmige Kontur in Mode, die bis dahin ausschließlich als Merkmal der Arbeitskleidung gegolten hatte. Ab den späten 1850er Jahren verdrängte das Sakko die Fräcke und Gehröcke aus der Tageskleidung und etablierte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als gängigste Form des männlichen Anzuges durch alle sozialen Schichten. Sackpaletot und Sakko bestanden lediglich aus wenigen, geraden Nähten. Ihre Schlichtheit zeugte von einer fortschreitenden Simplifizierung der Schnittmuster, die sich nun mehr und mehr für die serielle Produktion in der Konfektionsindustrie eigneten. Brust- und Schulterpartien begradigten sich. Schmale Taille, runde Brust und abfallende Schulterlinie verloren um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre modische Bedeutung. Die Körper-Korrektur durch enge, wattierte Kleidung machte einer neuen, modernen Auffassung Platz, welche die Passform der Kleidung von den Kurvungen und Rundungen der Körper-Anatomie löste.
6.1.3 Forschungsstand und Quellen Wie der eigene und die Körper der anderen wahrgenommen und gelesen werden, wechselt mit der Mode und den Epochen. Körper und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen und Praktiken sind nicht konstant und können daher auch nicht ausschließlich aus der eigenen Gegenwart heraus verstanden werden. Aus dieser Perspektive werden essentialistische Sichtweisen wie die angebliche Weiblichkeit der schmalen Taille in dieser Untersuchung hinterfragt. Publikationen speziell zur männlichen Taille finden sich in der Forschung zur Geschichte der Männerkleidung bislang nicht. Die Sicht auf Männermode in der modernen Kleidungsforschung war lange von J. C. Flügels Theorie eines »großen Modeverzichts« der Männer bestimmt. Die Diskurse zur modernen Männermode und ihrer Entwicklung sind auf die Kontinuität des modernen männlichen Anzugs fokussiert, sodass der grundlegende Wandel der Schnittmuster häufig in den Hintergrunde tritt, so beispielweise in Anne Hollanders »Anzug und Eros« (Hollander 1995), einem Standardwerk zum modernen Anzug. Solche Texte, die sich der Mühe unterziehen, Kleidung nicht nur zu beschreiben, sondern auch soziale und kulturelle Bezüge aufzuzeigen, erfordern jedoch häufig die ergänzende Lektüre explizit auf Schnitte bezogener Publikationen. Dass es auch anders geht, zeigen die interessanten Ansätze der Modehistorikerin Erika Thiel sowie einige neuere Beiträge wie beispielweise die Dissertation Mode. Macht. Männer von Gesa Teichert (Teichert 2013). Anne Hollander vergleicht Männer- und Frauenmode unter der Perspektive ihrer Theorie, die Männerkleidung
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sei »attraktiver« und erotischer« weil zukunftsweisender als die der Frauen. Damit bezieht sie eine klare Gegenposition zu der bekannten Theorie der »Great Renounciation«, des »großen Verzichts« der Männer auf modische Kleidung, die der Psychologe J. C. Flügel 1930 publizierte. Aufschlussreicher als die in ihrer Heteronormativität problematische Argumentation Hollanders zu »Erotik« und »Attraktivität« des männlichen Anzugs (vgl. Lehnert 2013, 37) sind ihre Beobachtungen zur Struktur des modernen Anzugs und insbesondere zu seiner überlappenden Anordnung am Körper. Mein Zugang zum Schnittmuster des Justaucorps des 18. Jahrhunderts und davon ausgehend zu dem des modernen Anzugs insgesamt ist wesentlich von Hollanders Prinzip der Überlappung bestimmt. Anders als Sophie Lamotte, die im taillierten Biedermeier-Frack eine von der Romantik inspirierte Wiederkehr der taillierten Wämser der Renaissance versteht (Lamotte 2013), sehe ich im Anschluss an Hollander in der überlappenden Schichtung von Frackjacke, Weste und Hose ein explizit modernes Prinzip des Anzugs, das den Biedermeier-Frack paradigmatisch von der Wams-Kleidung unterscheidet. Entscheidend ist Hollanders Beobachtung, dass alle Teile des modernen Anzugs unverbunden bleiben und sich gegeneinander bewegen können, während das Wams des 15. und 16. Jahrhunderts durch Nestelschnüre fest mit der Hose verknotet ist. Überlappung bedeutet demnach vor allem, dass jedes Kleidungsstück einzeln am Körper hält, die Schichten der Kleidung also unabhängig voneinander beweglich ist, sodass bei einer Drehung des Rumpfes eine knappsitzende Weste mitgeht, ohne dass die darüber getragene Jacke der Bewegung folgen muss. Um ihrer Verankerung in epochenspezifischen Vorstellungen und Praktiken gerecht zu werden, betrachte ich die Entwicklung der männlichen Taille im 18. und 19. Jahrhundert explizit aus der Perspektive zeitgenössischer Modeberichte und Schnittmuster. Nach dem Ende der Kleidergesetze des Ancien Régime, als Männermode und Herrenschneiderei durch mathematische Schnittkonstruktion, Systeme zur Klassifizierung von Alter und Körperbau – Normalsystem (Kraft 2001, 76), Konformationsklassen der Corporismetrie und Genres des Anzugs – sowie durch Saisonalität neu geordnet und strukturiert wurde, begann eine rege Publikationstätigkeit: Vermehrt ab den 1820er Jahren erschienen Fachpublikationen zur Schnittkonstruktion. 1830 wurde mit dem Journal des Tailleurs das erste Fachmagazin für Männermode veröffentlicht, das sich ausschließlich an Herrenschneider richtete. Auf Basis dieser Quellen werden Zuschnitt-Systeme sowie die Modeberichte der Fachmagazine im 3. und 4. Teil der vorliegenden Arbeit vorgestellt und diskutiert. Dabei werden die mit der mathematischen Schnittkonstruktion und dem System der Anzug-Genres verbundenen Systematisierungsbemühungen in der Herrenschneiderei des 19. Jahrhunderts analysiert und deren direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der Männermode aufgezeigt. Aus dem späten Erscheinen der Fachmagazine ergibt sich hinsichtlich der Modeberichte eine Fokussierung auf die
Zusammenfassung und Fazit
Zeit ab den späten 1820er Jahren. Dennoch setzt der Untersuchungszeitraum in den 1780er Jahren an, um den Übergang vom Justaucorps zum Frack und zu einem europaweiten Primat der englischen Tuchschneiderei sowie die schrittweise Entwicklung zur Taillennaht im Schnittmuster der Fräcke und später der Gehröcke in die Untersuchung der Taille einbeziehen zu können. Die vorliegende Arbeit ist explizit auf zivile Kleidung bezogen. Eine Untersuchung, die sich speziell den Wechselwirkungen zwischen Männermode und Militäruniform, Herren- und Uniformschneiderei im 18. und 19. Jahrhundert widmet, liegt nach meiner Kenntnis bislang noch nicht vor und konnte auch in dieser Arbeit nicht geleistet werden. Allerdings werden einige dieser Bezüge in den Thesen sowie in den Ausführungen zum Männerkorsett im 2. Teil und zur Modeentwicklung im 4. Teil thematisiert, indem wattierte Brust und schmale Taille auf einen militärischen Ursprung zurückgeführt werden. Durch die Zentrierung auf Schnittmuster, Zuschnitt-Systeme, Modekupfer sowie Modeberichte und Fachdiskurse der Herrenschneiderei soll die aus meiner Sicht bislang zu wenig beachtete Einflussnahme der Schneider auf das Modegeschehen herausgestellt werden. Denn nicht »die Männer« bestimmen ihre Kleidung in kollektiver Absprache und sagen dann den Schneidern, was sie zu tun haben. Die Herrenschneider selbst sind Akteure. Als selbst ernannte »Kleiderkünstler« formen sie die Körper nach eigenen Regeln und beeinflussen die Kleiderwahl durch Vorgaben des Genre-Systems sowie durch Angebots-Paletten, die sich nach ihren eigenen Geschäftsinteressen richten. Entsprechend wurde die Gestaltung der Taillenpartie von »dem Geschmacke« der Schneider bestimmt, dessen normative Richtlinie die »normalen« Proportionen waren. Mode war – neben Stoffmoden – auf Variationen des »normalen« Proportionsschemas begrenzt. Diese Dezenz des Modegrads impliziert das Kontrollieren der Mode, die – nach zeitgenössischem Verständnis – der in starren Kategorien klassifizierten »Individualität des Trägers« unterworfen war. Doch gerade diese »Individualisierung«, das Eingehen auf Kundenwünsche, führte dazu, dass statt den aristokratischen Eliten und den Élégants nun die Alltagsbedürfnisse der täglichen Kundschaft auf die Kreationen der Schneiderei wachsenden Einfluss ausübten und durch die Ablehnung modischer »Unbequemlichkeiten« wie den eng taillierten Biedermeierfrack dazu beitrugen, dass sich der Tragekomfort zu einem zentralen Modethema entwickeln konnte. Männermode verstanden als Wandel des männlichen Modekörpers ergab sich demnach aus den Kompromissen, die Schneider zwischen ästhetischem und handwerklichem Anspruch, eigenen Lobby-Interessen sowie Kundenbedürfnissen und Kaufverhalten fanden. Untersuchungsgegenstand ist die männliche Taille, wie sie sich in Schnittmustern und Modebildern zeigt. Diese wurden vor ihrer Publikation in Modemagazinen
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seitens der Redaktionen gewissermaßen zensiert, wobei im Falle der Schnittmuster die Zusendungen renommierter Mitglieder der Syndikate der Maßschneider bevorzugt wurden. Modebilder wurden von berufenen Gremien bei renommierten Zeichnern in Auftrag gegeben oder von Redakteuren wie Heinrich Klemm selbst gezeichnet. Sie dienten der Information über die jeweils aktuell gültige Zuordnung der Alters- und Konformations-Klassen zu dem für sie bestimmten Anzug, die im System der Anzug-Genres festgelegt wurde. Alter und Bekleidung der Figuren folgen den Genres. Solche Systematisierungen des Modegeschehens und deren bildliche Darstellungen stehen im Zentrum meiner Untersuchung. Dass ich mich auf Schnittmuster und Modekupfer und nicht auf Realien beziehe, folgt der leitenden Perspektive dieser Arbeit, die auf die fiktiven Mode- und »Normalkörper« als Körper-Konzepte der Schneiderei ausgerichtet ist. Die modischen Taillenkonturen und ihr Wandel lassen sich an den Schnittmustern ablesen. Dass sie sich nicht an jedem Körper gleichermaßen realisieren ließen, zeigen Normal- und Genre-System. In dieser Arbeit geht es demnach nicht um die Frage, in welchem Maße die beschriebenen Taillenkonturen tatsächlich an den individuellen Körpern realisiert wurden, sondern welche Vorstellungen und Zielsetzungen diesen Moden zugrundeliegen.
6.1.4 Das Männerkorsett als Phantom Die Diskussion der Taillenkontur impliziert Fragen der soziokulturellen Bedeutung der Körperkontur als Be- oder Entgrenzung des Körpers. Daher wird im 2. Teil dieser Arbeit auf Forschungen zu Körperformen eingegangen, so auf Michail Bachtins Theorie des grotesken Körpers, die Gertrud Lehnert u. a. in ihrer Monographie zur Mode (Lehnert 2013, 74) sowie am Beispiel der »grotesken« Designs Leigh Bowerys (Lehnert 2015) auf Mode übertragen hat. Als »grotesk« bezeichnet Bachtin den volkstümlichen Körper mit Ausbuchtungen, Öffnungen und sitzenden oder gebückten Haltungen, den er im Mittelalter verortet. Diesem dickbäuchigen, knollnasigen Körper, wie er in bäuerlichen Szenerien dargestellt wurde, stellt Bachtin einen »neuzeitlichen«, durch eine gespannte Stoffoberfläche rundum geschlossenen und aufgerichteten Körper gegenüber, den er den höfischen Oberschichten des Renaissance-Zeitalters zuordnet. Diese Gegenüberstellung von groteskem und »klar umgrenztem Körper« (Bachtin 1995 (1940), 361) (Ebbing 2008, 35) ist für die vorliegende Untersuchung relevant. Die Modellierung eines exakt geformten, glatten Körpers durch Bekleidung mit einer faltenfreien Stoffoberfläche wird in der modernen Herrenschneiderei fortgeschrieben und ist deren zentrales Ziel. Beiträge zu Gender-Bezügen der Taillenmodellierung finden sich in gegenwärtigen Forschungen zum Korsett (u. a. Steele 2005 (2001) (Sorge-English 2011), so Valerie Steeles Hinweise auf die Maskulinisierung des weiblichen Oberkörpers durch Abflachen der Brust und Modellierung eines umgekehrt dreieckigen »männlichen« Rumpfes als Kernfunktion höfischer Frauenkorsetts des 16., 17. und 18. Jahr-
Zusammenfassung und Fazit
hunderts. Lynn Sorge-English verweist auf Williams Hogarths Analysis of Beauty 1753, in denen er eine Folge mehrerer Korsett-Zeichnungen mit sehr geraden bis hin zu deutlich gekurvten Konturen kommentiert: die geometrisch gerade Kontur bezeichnet er als »männlich«, die organisch gekurvte als weiblich. Doch »gerade« im Sinne »aufrechter« Körperhaltung hieß schon zu Hogarths Zeit – also im 18. Jahrhundert – nicht, dass »männliche« Schnittmuster lediglich vollkommen geraden Linienführungen folgten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die Vorderkanten des Justaucorps mehr und mehr gerundet, um die als »männlich« verstandene Wölbung des Brustkorbs hervorzuheben. Durch Brustzwickel in Frauen-Korsetts des späten 18. und des Jahrhunderts wurde der weibliche Busen dagegen in zwei voneinander getrennten Rundungen modelliert und so von der »breiten« männlichen Brust differenziert. Betrachtet man die bereits beschriebene weitere Entwicklung des Frauenkorsetts in den 1780er Jahren unter diesem Aspekt, wird deutlich, wie das Korsett »verweiblichte« indem es sich rundete und nun durch Zwickel an Brust und Hüften einen aus bürgerlicher Sicht »weiblichen« Körper modellierte. Die »weibliche« Konnotation des Korsetts erklärt möglicherweise die Tabuisierung des Männerkorsetts, von dessen Existenz bis heute allein die Dandy-Karikaturen und Werbeanzeigen der Korsetthersteller künden, die es nicht als modisches, sondern explizit als orthopädisches Produkt anpreisen. Dass Männer sich ihre Taillen durch Schnürung modellierten, scheint erwiesen. Verborgen unter überlappender Kleidung und von aussen nicht sichtbar, wurde im 18. und 19. Jahrhundert zur Verschmälerung der tiefsitzenden Taille und der Hüftpartie eine Unterhose mit geschnürtem Bund getragen. Allerdings finden sich kaum Quellen, die über solche männlichen Korsett-Praktiken berichten. Eine der raren Abbildungen zur »caleçon« genannten Korsett-Unterhose enthält der Anhang in Antoine Bardes Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur von 1834. Dass das Männerkorsett verbreitet war und im Kontext der Faltenvermeidung und Körperkorrektur im 19. Jahrhundert keine geringe Rolle spielte, bestätigt Erika Thiel: »Der gute Schnitt, das heißt vor allem der gute Sitz der Taille, war gleichsam das A und O der Kleidung, weshalb das Korsett in der Männerkleidung keine Seltenheit war.« (Thiel 1960, 347) Die Tatsache, dass Modeberichte und Korsettkritik des 18. und 19. Jahrhunderts fast ausschließlich das weibliche Korsett thematisieren, über das Männerkorsett jedoch hinweggehen, impliziert aus meiner Sicht eine Differenz zwischen »weiblichem« und »männlichem« Korsett. Die »weibliche« Praktik des Korsetts, also die Verwendung eines von aussen sichtbaren Hilfsmittels zur Schnürung der schmalen Taille unterscheidet sich von der »männlichen« Korsettverwendung als unmerklicher Körper-Korrektur, über die geschwiegen wurde und die von außen nicht sichtbar sein durfte. Während das männliche Korsett unter den überlappenden Schichten des Anzugs verborgen bleibt, ist das »weibliche« Korsett mit dem engen Kleidmieder und damit der äußeren Struktur des Kleides verbunden.
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6.1.5 Schmale Taille und »normale« Männlichkeit 1834 wunderte sich der bedeutende französische Maßschneider Antoine Fuleront Barde über das verbreitete Mißverständnis, dass die am Körper genommenen Maße direkt zur Erstellung des Schnittmusters verwendet würden und Kleidungsstücke den tatsächlichen Maßen, Formen und Asymmetrien der Individualkörper angepasst würden: »Ce serait pourtant une étrange erreur de croire que nous voulons mésurer la conformation de l'homme, pour la suivre toujours. La connaissance parfaite de cette conformation n'a but d’habiller l'homme tel qu’il est, que lorsque la nature est suffisamment rapprochée des formes normales; mais lorsque le chiffre produit par les mesures est trop éloigné des belles proportions, il avertit qu'il faut améliorer ou corriger par la forme ou la confection du vêtement, des conformation trop disgrâcieuses, ou des contrastes trop prononcés.« (Barde 1834, Livre II, 147) Weder im 19. noch im 18. Jahrhundert oder in den Epochen zuvor wurde Kleidung der individuellen Körperform angepasst. Wie Barde im Zitat ausführt, diente Bekleidung vielmehr der Korrektur der Körper. »Normalgrößen« und »conformations« in Form von Fertigschnittmustern für jedes Kleidungsstück entwickelte bereits das 18. Jahrhundert. Die mathematische Schnittkonstruktion des 19. Jahrhunderts schloß an diese Praktiken an. Neu war allerdings die Umstellung der Maßsysteme auf Zentimeter oder inches und somit die Quantifizierung der Maßbeträge in Zahlen, auf denen die indirekte Maßkonstruktion fortan basierte. Das Normalsystem ist eine Praktik, die Körper durch Bekleidung dem »normalen« Proportionsschema anzugleichen. »Körper« bedeutet grundsätzlich bekleideter Körper. Analog wird der Rumpf der Jacke als »corps«, »corsage« oder »Korpus« bezeichnet und individuelle Direktmaße auf der Kleidung genommen. In diesem Sinne forderte Barde, die Proportionen des »Körpers« durch Annäherung an die »schönen Proportionen« der »formes normales« zu verbessern. Medium dieser textilen Körper-Korrektur ist das Schnittmuster, in dem die »normalen« Proportionen verankert sind. Wie im 3. Teil dieser Arbeit erläutert, bezeichnete »normal« keinen statistischen Mittelwert, sondern die Proportionen eines fiktiven »Normalkörpers«, welche von denen antiker Apollon-Statuen abgeleitet waren. Deren Maße hatten Barde und später auch Heinrich Klemm mit dem Zentimetermaßband direkt gemessen. Basiswert des Normalsystems (Kraft 2001, 76) war der »normale« halbe Brustumfang von 48 cm, der bis heute der Größe 48 in der Herrenkonfektion entspricht. Er wurde aus den 46 cm halber Brustumfang des Apoll plus 2 cm Stoff und Watte berechnet. Die aus dieser Addition resultierenden 48 cm waren der Wert, aus dem die Proportionsverhältnisse des »Normalkörpers« berechnet wur-
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den. Die Anzahl der am bekleideten Körper genommenen Direktmaße variierte je nach System. Allen Systemen gemeinsam war aber, dass Direktmaße lediglich der Zuordnung des Körpers zu einer Größen- und Konformationsklasse, der Auswahl der passenden Maßtabelle und des Grundschnittes sowie der Kontrolle der berechneten Maßsätze dienten, nicht jedoch direkt der Schnittzeichnung. Schnittmuster wurden ausschließlich nach berechneten Maßen erstellt. Entsprechend ist auch Maßkleidung keine passgenaue Hülle des Körpers. Am Beispiel des Normalsystems wird offensichtlich, dass Schnittkonstruktion weit mehr ist, als eine technische Nebensächlichkeit: Sie etabliert in Zentimetern berechnete Körpernormen und ist nach Heinrich Klemm der »Hauptfactor der Mode«. Da kaum ein Individualkörper den »normalen« Proportionen entsprach, ging es beim Maßnehmen auch immer um die Feststellung der Abweichung des betreffenden Körpers vom »Normalkörper«. »Zu starke Hüften erkennt man, wenn das Hüftenmaß gegen das Bundmaß 8 Centimeter größer ist.« (Klemm 1858, 88) Solche Regeln dienten der Erfassung dieser »Abweichungen« in Zentimeter-Beträgen und entsprachen dem Selbstverständnis der Schneider, die in der Körper-Korrektur – und nicht der Dekoration – ihre vordringlichste Aufgabe sahen. Die »normale« schmale Taille steht in einem relationalen Verhältnis zur »normalen« breiten Brust und hat eine zentrale Funktion: Die Modellierung der Corsage zu einem »männlichen« Keil, deren konische Form und breite Brust sie betonen sollte. Der taillierten Corsage entsprechen die 8 cm der »normalen« Differenz von halbem Brust- und halbem Taillenumfang. Dass eine keilförmige Corsage als »männlich« galt, belegt ein Kommentar des Damenschneider Johann Samuel Bernhardt, der an dieser Stelle wegen seiner zentralen Bedeutung für die vorliegende Untersuchung nochmals zitiert wird: »Der Mann zeigt in allen seinen äussern körperlichen Theilen, Kraft und Thätigkeit – alles ist stark – die Brust breit – sie darf nicht beengt seyn, um den Werkzeugen des Athemholens und des Kreislaufes des Blutes freien Spielraum zu lassen. Damit er die Arme mit Kraft gebrauchen kann, ist der Rücken breit und überhaupt alle Muskeln stark. Der vordere Arm erscheint daher ausgestreckt mehr breit als rund. Dafür ist aber der untere Theil des Rumpfes, von vorne gesehen, schmal, damit bei der breiten Brust, der Körper nicht an Ansehen verliere. […] Im Ganzen aber erblickt man in der äussern Form die Eigenschaften, welche den Mann gegen das Weib characterisiren, und seine Bestimmung ist in allen Theilen ausgedrückt.« (Bernhardt 1820, 34–35) Eine breite Brust erfordert eine schmale Taillen- und Hüftkontur, ansonsten würde die Front des Rumpfes unförmig aussehen. Je größer ihre Differenz, umso deutli-
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cher die Keilform des Rumpfes und umso »männlicher« der Körper. Nach Bernhardt ist also die keilförmige Modellierung des »männlichen« Oberkörpers der eigentliche Zweck der schmalen Taille. Eine Dekade später, am Zenit der schmalen Taille, bestätigt Barde: Ein Körper mit breiter Taille wirke plump. Daher habe man, um eine möglichst schmale Taille formen zu können, deren Höhe oberhalb der Hüften fixiert (Barde 1834, Livre II, 175). Die Bestimmung der ästhetischen Funktionen der Taille durch die Schneider zeigt auch die spätere Mode der vertieften Taille der 1840er und 1850er Jahre. Die Taillenverlängerung wurde durch ein eigens dafür entwickeltes berechnetes Maß ermittelt. Der akzentuierten Tailleneinbiegung entsprechen die schmalen halben Taillenumfänge von 35 bis 43 cm, die Barde in seinem Traité notierte. Dort findet sich eine sehr interessante Bemerkung, in welcher der Grad der Taillierung mit dem Trageanlass, dem Genre des Anzugs in Verbindung gebracht wird. Barde bemerkt, dass eine besonders schmale Taille dem Reitfrack sowie dem Frack für gesellschaftliche Anlässe wie Bälle oder zeremonielle Anlässe zugehört, bei denen das Stehen, das Laufen oder Tanzen dominiert. Solche engen Taillen seien jedoch für die sitzende Tätigkeit im Büro ungeeignet (Barde 1834, Livre II, 121). Berufstätigen Männern und dem Genre des Tages- oder Büroanzugs – zu Bardes Zeit waren das Gehröcke – wurde daher eine breitere Taille zugeordnet. Das verweist schon auf die kommende Entwicklung, die mit dem Wandel von der aristokratischen zur modernen kapitalistischen Männlichkeit die Verbreiterung und schließlich die Begradigung der Taille hervorbrachte. Ein weiterer Aspekt enger Passform und schmaler Taillierung ergibt sich aus dem Wandel der alltäglichen Bekleidungspraktiken. Kleidung wurde zunehmend neu gekauft und also nicht schon zuvor von einer anderen Person getragen. Diese Tatsache unterstrichen die taillierten Schnittmuster, die den guten Sitz der Kleidung durch anliegende Passform in der Taille herausstellten und auf diese Weise gewissermaßen symbolisch eine Übereinstimmung von Körper und Kleidungsstück suggerierten, die bei Kleidung aus zweiter Hand nicht gegeben ist. Schnittkonstruktion nach »normalen« Maßen bedeutete eine schrittweise Vereinheitlichung der Schnittmuster und somit auch der Männermode. Durch mathematische Schnittkonstruktion wollte man sich dem »Diktat« willkürlicher Modewechsel entziehen. Nach dem Verständnis der Maßschneiderei resultierte die Männermode aus den Wechselbezügen von Normalsystem und Anzug-Genres, die sich aus der schematischen Zuordnung bestimmter Anzugtypen zu den Alters- und Konformationsklassen ergaben. Klemm zufolge »befreiten« solche Reglementierungen von der Willkür des »Modediktats«, indem sie Mode im Sinne eines kontrollierten Wandels der Schnittmuster, Proportionen und Passformen strukturierten. Die dem Normalsystem, der indirekten Maßkonstruktion und der Systematisierung
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der Anzug-Genres immanenten Standardisierungen schufen jedoch zugleich die Voraussetzungen für die serielle Produktion nach Einheitsgrößen in der Konfektionsindustrie und setzten Entwicklungen in Gang, die maßgeblich zur Mode der geraden Schnittmuster beitrugen.
6.1.6 Rundungen, Genres und Geschäftsinteressen Bis in die 1860er Jahre wurden glatte Oberflächen auch durch Verwendung von Wattierung erzeugt, allerdings mit der Tendenz, die Watte durch Perfektionierung des Zuschnitts und der Passform mehr und mehr zu reduzieren. Die französischen Schneider behielten das Wattieren bis in die 1860er Jahre bei, wenn der Körper des Kunden von den »belles proportions« allzu sehr abwich, auch wenn Vorreiter wie Barde schon früh für den mäßigen Gebrauch der Watte plädierten. Das Beharren auf dem Prinzip der Körper-Korrektur belegt ein Artikel des französischen Maßschneiders Roussel von 1868. Roussel verstand runde Formen keineswegs als »weiblich«, sondern explizit als französische Schneiderkunst. Er appellierte an die Maßschneider auch ausserhalb Frankreichs, für den Erhalt runder Formen in der Mode zu sorgen, um sich so vor der Ausrottung durch die Konfektionsindustrie bewahren zu können. Dieses Ziel sollte durch Beibehalten der aufwändigen Praktiken zur Modellierung runder Formen erreicht werden. Dazu zählte Roussel vor allem Wattierung, die Verwendung von Abnähern und nicht zuletzt das kunstvolle Einbügeln runder Formen in das Tuch, dass dem Tweed vorzuziehen sei. Entsprechend blieb die Wattierung in der französischen Schneiderei bis in die 1860er Jahre in Gebrauch. Zu Roussels Ärger war die englische Maßschneiderei dagegen von einer sukzessiven Reduktion der Watte bestimmt. Die englischen Schneider perfektionierten die faltenfreie Passform durch mehr gerade Konturen und wurden daher von Roussel als Wasserträger der Konfektion beschimpft. Das »fadengerade englische Genre«, wie Klemm es bezeichnete, markierte den Wendepunkt zur Moderne in der Maßschneiderei und trug maßgeblich zur Simplifizierung der Schnittmuster und so zur Begradigung der männlichen Silhouette bei. Dass Roussels Artikel – trotz seiner Angriffe auf die englischen Kollegen – in der Londoner Gazette of Fashion publiziert wurde, macht deutlich, wie sich die – ansonsten konkurrierende – internationale Maßbranche in der Bekämpfung der Konfektion zu einer Interessengemeinschaft zusammenfand. Artikel wie der Roussels und die Arroganz der ausschließlich auf die Maßschneiderei bezogenen Modeberichte bezeugen das Bündnis der Maßschneider gegen die Konfektionsindustrie. Ihre elitären Konzepte, so ihr Alleinanspruch auf Eleganz und Mode, standen im Kontrast zu der im Vergleich mit den Stückzahlen der Konfektion geringen Produktivität der Maßbranche.
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Wie im 4. Teil ausgeführt, entwickelten die Maßschneider Strategien der Handhabung des Modegeschehens in ihrem Interesse. So entstand ein System altersbezogener Genres. Als »Genre« bezeichnete man das Genus eines Anzugs. Dessen Bestimmung richtete sich nach Passform, Modegrad, Trageanlass, Preis und Verarbeitungsqualität der Kleidungsstücke sowie nach Alter, Status und Körperkonformation des Trägers. So unterschied man in den 1830er Jahren die hochmodischen stark taillierten und tief dekollierten Frack-Anzüge des »genre élancé«, getragen von jungen, schlanken Männern, von den hochgeschlossenen Gehröcken für berufstägige Männer, während Bauchfiguren und höhere Altersklassen als unmodisch galten und daher keine eigenen Genres bildeten. Diese Zuordnungen sollen das Modegeschehen kontrollieren aber nicht völlig ausbremsen und sind daher nicht konstant. In den 1830er Jahren – dem Zenit der schmalen Taille – stand das junge »genre élancé« im Fokus der Mode. Der am schlanken Körper eines jungen Mannes knapp sitzende Frack mit großem Dekolleté besaß einen höheren Modegrad, als das »genre ordinaire«, das dem hochgeschlossenen Gehrock eines berufstätigen Mannes mittleren Alters mit etwas breiterer Taille entsprach. In den folgenden Dekaden verschob sich der Mode-Fokus auf dieses mittelalte Genre. Die Figuren der Modebilder zeigten mehr Bartwuchs, abgesenkte und daher etwas breitere Taillen und kleinere Dekolletés. Der Modewechsel zum mittelalten Genre ermöglichte es, auch ältere Konformationsklassen mit stärkeren Proportionen in die Mode einzubeziehen und so dem Körperbau und Komfortbedürfnis der berufstätigen Kundschaft zu entsprechen, ohne das Prinzip der Körper-Korrektur aufzugeben. Mit dem Genre-System versuchten die Maßschneider, Veränderungen in Modepraxis und Kaufverhalten unter Kontrolle zu halten und nach Möglichkeit in ihrem Interesse zu steuern. Die Genres entwickelten sich zu einem Strukturprinzip der Dresscodes in der Männerkleidung, die auch für Konfektionsanzüge galten und setzten sich in der »HAKA«, der Herrenoberbekleidung des 20. Jahrhunderts fort. Bis in die 1980er Jahre wurden Anzüge weiterhin nach Genres unterschieden, die sich aus Größe, Modegrad, Preisstufe, Qualität sowie Standort des Herstellungsbetriebes ergaben.
6.1.7 Begradigung der Silhouette In den 1830er Jahren tauchte mit dem »paletôt sac« ein seltsam weiter, sackförmiger Mantel auf, der zwischen taillierten Gehröcken, Fräcken und Cuts buchstäblich wie ein Fremd-Körper wirkte. Laut zeitgenössischer Berichte (LM 6. 1. 1841, J 9, N36) wurden Sackpaletots aufgrund ihrer Bequemlichkeit und Praktikabilität für den Büroalltag stark nachgefragt. Ob der Körper unter dem weiten Mantel den »normalen« Proportionen entsprach, war nun bedeutungslos. Berufstätige Männer verbrachten ihren Tag aushäusig und konnten insofern ihre Garderobe kaum
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wechseln. Der Sackpaletot bot den entscheidenden Vorteil, dass der darunter getragene Frack deutlich weniger zerknitterte und so bei allen Terminen und gesellschaftlichen Anlässen bis in den Abend hinein vorzeigbar blieb. So scheint diese von der Maßbranche zunächst heftig abgelehnte Mode durch Nachfrage geradezu erzwungen worden zu sein. Der Widerstand der Maßschneider ist verständlich: Durch ihre Simplizität bot diese Mode kaum Gelegenheit zur Darstellung handwerklicher Kunst und begünstigte obendrein die Konfektion, denn das simple, körperferne Schnittmuster war prädestiniert für die preisgünstige serielle Herstellung. In Gestalt des Sackpaletot hatte es sich aus dem »slop«-Genre, der verlagsmäßigen Konfektion simpler Arbeitskleidung, zu einer Modeform entwickelt. Durch die Begradigung der Schnittmuster wurden konfektionsgeeignete Formen selbst zum Modethema. Die ästhetischen Probleme, die eine nach Einheitsgrößen und Fertigschnittmustern hergestellte taillierte Corsage bereitete, wurden bei weiten Sackpaletots, gerade geschnittenen Jacketts und Röhrenhosen umgangen. Das gerade, körperferne Schnittmuster steht für die Ablösung der Corsage von der Anatomie und damit für eine Abkehr vom Maßnehmen auf dem bekleideten Körper. So wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hemd und ab dem frühen 20. Jahrhundert auf Unterhose und Unterhemd gemessen. Die textile Körper-Korrektur endete. Mehr und mehr kam der durch Sport und Diät muskulär geformte Körper in den Fokus der Mode. Die Berichte der Magazine zu neuen Moden galten als deren Introduktion. Umgekehrt konnten Modeentwicklungen durch Marginalisierung oder Kritik in der Berichterstattung gestört oder verzögert werden. So versuchten die Redaktionen der Fachzeitschriften in den 1830er und frühen 1840er Jahren, die Verbreitung des Sackpaletots – den ich als Vorläufer des Sakkos verstehe – durch Verschweigen oder negative Kommentierung in den Modeberichten zu verhindern. Zugleich war es gerade die Maßschneiderei, die der Konfektionsindustrie durch Normalsystem und indirekte Maßkonstruktion den Weg bereitete. Als erfolgreicher Artikel der Konfektion war der Sackpaletot ein »Übel«, dass die Maßbranche via Modeberichte zu bekämpfen und aus der Mode zu vertreiben suchte. Als das nicht gelang, begannen die Maßschneider, das Schnittmuster zu adaptieren und den simplen Mantel in einen eleganten Modeartikel zu transformieren. Aus Sicht der Maßschneider durften maßgefertigte modische Sackpaletots selbstverständlich nicht in Gefahr geraten, mit »slop« verwechselt zu werden. Diese Abgrenzung gelang durch extreme Übersteigerung der losen Passform, orientalisierende Stilmerkmale und elegante Stoffe. Körperferne Schnittmuster galten als englisches Genre. »Sacs« und Jacketts aus Tweed bildeten ein eigenes sportliches Genre. Die Konnotation der körperfernen Schnittmuster mit Bewegungsdynamik und Muskelkraft ergänzt sich mit Tweed als
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Material ländlicher Arbeitskleidung zu einem geradezu »proletarischen« Ausdruck, wie Erika Thiel meint (Thiel 1960). Aus dem Sackpaletot, der im Laufe der folgenden Dekaden mehr und mehr als Jacke auf einer Weste getragen wurde, entwickelte sich das moderne Sakko. Begradigte Konturen, körperferne Passform, Materialeinheitlichkeit des Sakkoanzugs wie auch das Karo-Raster, welches die dem Fadenlauf folgende, »fadengerade« Ausrichtung des Schnittmusters betonte, abstrahieren den Körper, statt seine Form, wie zuvor die keilförmige Corsage, zu korrigieren und auszustellen. Mit der Gewerbefreiheit um die Wende zum 19. Jahrhundert begann die Entwicklung einer modernen Kleidungsindustrie. Die schnell wachsende Konfektion entsprach der steigenden Nachfrage nach preisgünstiger modisch aktueller Kleidung. Modewechsel folgten den Saisons, die nach den Jahreszeiten in Frühjahr/Sommersowie Herbst/Winter unterschieden wurden. Saisonalität und Genresystem ergaben Möglichkeiten der bewussten Steuerung des Grads der Modewechsel, indem Schnittmuster gemäß den Genres und saisonale Wechsel von Stoffen und Farben mehr und mehr standardisiert wurden. Durch serielle Herstellung, Einheitsgrößen und Massenauflagen hatte die Konfektionskleidung einen uniformen Charakter. Durch ihre Schlichtheit und ihren mäßigen Modegrad entsprach sie den Maximen »männlicher« Kleidung. Wie die Konfektionsschneiderei arbeitete und wie sie ihre Größensysteme entwickelte, ist aufgrund fehlender Quellen nicht exakt zu belegen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass einheitliche Größensysteme aus dem Wissenstransfer von der Maß- in die Konfektionsschneiderei hervorgingen. Offensichtlich wurde das Normalsystem und mit ihm das »Reduktionsschema« in der Konfektion adaptiert, dessen gestaffelte halbe Brustumfänge bis heute die Basis der Herren-Konfektionsgrößen bilden. Das Sakko aus Tweed wurde zum Schlüsselprodukt der Konfektion. Die preisgünstigen dicken, rauhen Qualitäten des Tweed eigneten sich ideal zur seriellen Produktion. Sie erforderten einfache Schnittmuster mit geraden Nähten und mangelnde Qualität der Verarbeitung fiel im dichten Flor des Tweed zudem kaum auf. Wenn das gerade geschnittene Tweed-Sakko überhaupt Assoziationen an eine Körperoberfläche zulässt, wirkt der rauhe Tweed nicht wie Haut sondern eher wie ein Tierfell: »It is, in our view, indispensably necessary that a man should be a fine animal–sound and vigorous.« (Whitman 1858,4) Walt Whitman, von dem diese Äußerung stammt, war ein Vertreter der modernen Strömung in den christlichen Turnerbewegungen, die »Männlichkeit« auf Gesundheit, Körperkraft und Disziplin bezogen. Er wünschte sich den »Mann« als Tierwesen, kraftstrotzend und doch rational und moralisch integer. Dass solche Vorstellungen nach und nach die Eleganz-Prinzipien des bartlosen jungen Genres der taillierten Corsage verdrängten, korreliert mit dem Mode-Wechsel von engen, taillierten Fräcken aus Tuch zu den
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gerade geschnittenen robusten »Tweedsides«, den der Bericht eines bei einem Londoner Maßschneider angestellten Schneidergesellen von 1849 veranschaulicht. Dieser Augenzeugenbericht verdeutlicht den großen Einfluss der Konfektion auf das Modegeschehen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus den im Vergleich zur Maßkleidung vielfach höheren Auflagen der seriell produzierten Kleidung und dem damit verbundenen Preisdruck ergab sich eine fortschreitende Simplifizierung auch in der Einzelfertigung der Maßschneiderei. So glich die Männermode ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr standardisierter Konfektionskleidung. Die Standardisierung von Schnittform, Details, Verarbeitung und Stoffen minimierte das »Moderisiko«. Indem sich der Grad der Modewechsel nivellierte, blieb massenhaft produzierte Lagerware länger modisch aktuell und verkäuflich. Basis der seriellen Produktionsweise waren die Einheitsgrößen, deren Ausgangspunkt die von der Maßschneiderei selbst entwickelten Zuschnitt-Systeme waren. Das Prestige der Maßkleidung im 19. Jahrhundert beruhte demnach nicht auf der Berücksichtigung individueller Maße, sondern auf der handwerklichen Verarbeitung in der Einzelfertigung. Auf diesen Aspekt, die Qualität der Verarbeitung von Hand als Alleinstellungsmerkmal der Maßschneiderei, bezieht sich die Kritik an der Konfektionsindustrie Ende des 19. Jahrhunderts. So betonten der Maßschneiderei nahestehende konservative Modekritiker wie beispielsweise der englische Ökonom Charles Booth (1840–1916) die hohe Qualität handwerklicher Ausführung der Details wie z. B. die Handarbeit beim Einsetzen des Futters oder bei Knopflöchern, die nur von Maßschneidern »ausgebildeten« Schneidergesellen zu leisten wäre. Die Argumentation verband sich mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der Nähmaschine, richtete sich aber vor allem gegen den Einsatz »ungelernter« Arbeitskräfte im Verlagssystem. Hinter der Geringschätzung von Konfektionskleidung wie Paletots oder Konfektions-Sakkos, die trotz hoher Verkaufszahlen noch Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen Modeberichten als »minderwertiges Genre« bezeichnet wurden, standen die wirtschaftlichen Interessen der Maßbranche.
6.2 Fazit In dieser Untersuchung wird die Taille primär als Proportionsschema in Schnittmustern und Modebildern verstanden und insofern als Idee und Projekt der Schneider, auf deren Diskursen die hier unternommene Analyse ihres Wandels zwischen 1780 und 1870 basiert. Als selbst ernannte »Kleiderkünstler« formten Schneider die Körper nach eigenen Regeln und beeinflussten die Kleiderwahl durch Systematisierung des Modegeschehens im Sinne eigener Geschäftsinteressen. Das Normalsystem der mathematischen Schnittkonstruktion bestimmte die Proportionen und Konturen der Modekörpers. Mode – wenngleich als »Abweichung« – war direkt auf
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den »Normalkörper« bezogen. Entsprechend wurde die Gestaltung der Taillenpartie von »dem Geschmacke« der Schneider und dem »normalen« Proportionskanon als dessen normativer Richtlinie bestimmt. Mit den Wechseln von einer sichelförmig gebogenen Hohlkreuz-Haltung zu einer akzentuierten Tailleneinbiegung und schließlich zur modernen begradigten Silhouette vollzogen sich in der Taille entscheidende Schritte der Entwicklung des männlichen Modekörpers. Der Wechsel von der textilen Modellierung des Körpers durch Schnürung der Taille, Muskeln aus Watte und Stoff als Haut zur leichten, elastischen Kleidung der Gegenwart und der damit verbundene Übergang des »Normalkörpers« vom bekleideten auf den unbekleideten Körper basiert auf den in dieser Arbeit untersuchten Prozessen in der Männermode: (1) der Einführung des Prinzips der Überlappung (Hollander) im Justaucorps – das ich als zentrales Kennzeichen »männlicher« wie moderner Kleidung insgesamt verstehe – (2) der vestimentären Körper-Korrektur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie (3) der Ablösung des Schnittmusters vom Körper durch seine Begradigung in der Sakko-Mode. Fortschreitende Ökonomisierung und die Rationalisierung der Herstellungsprozesse sowie allem voran der mathematisch berechnete »Normalkörper« waren maßgebliche Faktoren dieser Entwicklung. Statt elitärer Eleganz-Vorstellungen des Adels oder der Élégants übten nun pragmatische Alltagsbedürfnisse berufstätiger Männer der Mittelschicht, also der täglichen Kundschaft, wachsenden Einfluss auf die Kreationen der Schneiderei aus. Die Ablehnung modischer »Unbequemlichkeiten« wie der schmal taillierten, keilförmig modellierten Corsage trug dazu bei, dass sich Komfort und Alltagstauglichkeit der Kleidung zu einem zentralen Modethema entwickeln konnten. Die Hegemoniale Männlichkeit des kapitalistischen Industriezeitalters (vgl. u. a. Schmale 2003) implizierte eine Distanzierung der Männer von Mode, die als Fortschreibung einer ehemals aristokratischen Praktik des demonstrativen Herzeigens des Körpers zunehmend als »weiblich« verstanden wurde. In der Systematisierung der Mode und ihrer Verknüpfung mit der mathematischen Schnittkonstruktion sowie im Insistieren auf dem Prinzip der Körper-Korrektur sehe ich einen Versuch der Herrenschneiderei, die Männermode gegen die Frauenmode abzugrenzen und ihren Verlauf unter der eigenen Kontrolle zu halten. Dabei ist Mode nicht gleichbedeutend mit einem hohen Modegrad, d. h. mit der Auffälligkeit der Modewechsel. In der Annahme, Kleidung sei ein Ausdrucksmittel des Subjekts, hat der Psychologe J. C. Flügel den niedrigen Modegrad »männlicher« Kleidung als Unterdrückung eigener Bedürfnisse analysiert. Aber ist Mode zwingend ein »subjektives Ausdrucksmittel«? Nach Gertrud Lehnert ist Mode kein »Ausdruck einer vorgängigen Essenz (z. B. Identität oder Charakter) sondern [ein] performativer schöpferischer Vorgang (im weitesten Sinne), der nicht ausdrückt, sondern modelliert und im Prozess des Modellierens und Zeigens hervorbringt« (Lehnert 2013, 58). Auf diesen Kernsatz ihres Konzepts Modekörper bezieht sich das Verständnis von Mode in dieser Arbeit. Modekörper bezeichnet einen zweiten Kör-
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per, hervorgebracht durch Verschmelzung von Kleidung und Körper, der sich mit der Mode wandelt. Dass die Proportionen des männlichen Modekörpers von den Schneidern bestimmt wurden, zeigt exemplarisch die Konstruktion der Taille aus berechneten Maßsätzen und mathematischen Formeln bei Klemm: Sie ergibt sich aus der Addition der Vorderteilslänge und wechselnden modebedingten Zentimeterbeträgen der vertieften Taille. Aus dieser Perspektive resultiert die männliche Taille und ihr Wandel aus der Verbindung von mathematischer Schnittkonstruktion und Mode. Männermode des 18. und 19. Jahrhunderts war eine Praktik der Vereinheitlichung der Körper. Die bisher als Muster »männlichen« Modeverhaltens vieldiskutierte Uniformität der Männermode wurde nach meinem Verständnis bewusst von den Maßschneidern herbeigeführt. Ihnen galten mathematische Schnittkonstruktion und Normalsystem als »Hauptfactoren« der Mode. Insofern wird die Materialität der »Männlichkeit« in Zuschnitt und Verarbeitung auf direkteste Weise durch spezifische Denkweisen, Klassifizierungssysteme und Organisationsstrukturen der Schneiderei hervorgebracht. Insbesondere im Zuschnitt werden Ideen und Konzepte zum bekleideten Körper entwickelt und Normen generiert. In diesem Sinne verstehe ich Kleidung und Mode als Medien und die Schneiderei als Akteurin der Körper-Normierung bis heute. Als Hauptfaktor der Mode sind Schnittmuster nicht Ausdrucksmittel individueller oder sozialer Intentionen, sondern tragen ihre Regeln und normierenden Wirkungen auf den einzelnen Körper in sich selbst. In bisherigen Forschungen zur Männermode findet sich keine explizit auf die Taille bezogene Untersuchung. Taille scheint gleichbedeutend mit schmaler Taille und mit »weiblichen« Praktiken (Korsett) und wird insofern mit männlicher Kleidung gar nicht erst in Verbindung gebracht. Allenfalls wird die Männertaille im Zusammenhang mit ihrer akzentuierten Taillierung im Biedermeier thematisiert. Aber ist eine schmale Taille tatsächlich grundsätzlich »weiblich«? Im Untersuchungszeitraum galten unterschiedlichste Konturen des Rumpfes als männliche Körperformen. Eine schmale Taille ist also nicht von vorneherein feminin und eine gerade Kontur nicht essentiell männlich. Ihre wechselnden geschlechtlichen Konnotationen wandeln sich mit den epochenspezifischen Körper-Konzepten. So stand die »normale« schmale Taille nach dem Normalsystem des 19. Jahrhunderts mit der Keilform der männlichen Corsage und ihrer glatten Oberfläche in einem kausalen Zusammenhang. Die »normale« Proportion des männlichen Körpers sollten »natürlich« wirken. Da eine demonstrativ durch ein Korsett modellierte Taille als weiblich galt, musste über männliche Korsettgürtel oder Caleçons geschwiegen werden. Bezogen auf das 19. Jahrhundert kann insofern die demonstrative »weibliche« von der »normalen« »männlichen« Taille unterschieden werden. Ihr Zenit hatte die schmale Taille bereits Ende der 1830er Jahre überschritten und verschwand von da ab aus der Männermode. Diesen Wandel verstehe ich als schrittweise »Verweiblichung« der schmalen Taille und der Körperrundungen. Nach mei-
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ner Auffassung bedeutet der Prozess zugleich einen Paradigmenwechsel von der Körper-Korrektur durch Bekleidung mit »normalen« Proportionen zur Lösung des Schnittmusters von der Körperform. Es ist zu betonen, dass sich die Begradigung des männlichen Modekörpers zögerlich vollzog, denn sie widersprach den Interessen der Maßschneider. »To produce roundness« wurde in der Maßschneiderei noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Sakkoanzug zur »Standardkleidung« (Hollander 1995) der Männer aller Klassen. Seine gerade Form entspricht der Standardisierung und Serialität moderner Kleidungsproduktion und korrespondiert nach Schorman mit einem neuen »männlichen« Körperideal (Schorman 2012, 103f). Die »Männlichkeit« der schmalen Taille ist an vestimentäre Körper-Korrektur gebunden. Dieser »Körper« hat eine geschnürte Taille, Muskeln aus Watte und eine Hautoberfläche aus Stoff. Mit der Begradigung des männlichen Modekörpers wich diese Magie dem modernen Pragmatismus körperferner Passformen. Ein Körper mit schmaler Taille und gewölbter Brust galt fortan als »weiblich«.
Bildnachweise 1. Teil Bild 1: Sakko und Frack 1850. Quelle: L’Élégant: journal du tailleur 20. 12. 1850, J 15, N 183. Foto J. Burde Bild 2: Maßlinien am Körper. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Figur 1 der Tafel 1 »Das vollständige System der Corporismetrie« (Detail). SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 3: Justaucorps aus 6 Schnitteilen. Quelle: Garsault, François-A. de (1769): Descriptions des arts et métiers, faites ou approuvées par messieurs de l’Académie Royale des Sciences. Tailleur: Art du tailleur, contenant le tailleur d’habits d’hommes … / par M. de Garsault. Paris: Desaint, Saillant & Nyon, 1769, Tafel 5. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 4: »Le Lorgneur séduisant [...] vêtu d’un habit rayé«. Quelle: Galerie des Modes 1784, 58e Cahier, Tafel 283. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 5: Frackvorderteil um 1790, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Waugh, Nora (1977 (1964)): The Cut of Men’s Clothes: 1600–1900. London: Faber and Faber Limited, Diagramm XXIX, S. 80. Bild 6: Frackvorderteil mit Taillenabnäher 1825, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Waugh, Nora (1977 (1964)): The Cut of Men’s Clothes: 1600–1900. London: Faber and Faber Limited, Diagramm XXXVIII, S. 124 Bild 7: Die Entwicklung der männlichen Taille 1550–1795, Tabelle zur Männermode, Zeichnungen J. Burde Bild 8: Die Entwicklung der männlichen Taille 1834–1856 Bild 9: Die Entwicklung der männlichen Taille 1859–1895 Bild 10: Schnitte für die vorgebogene und zurückgebogene Haltung. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Tafel 3 »Anthropometrische Studien zur richtigen Bekleidung aller vorkommenden unregelmässigen Gestaltungen des männlichen Körpers« (Detail). SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 11: Dandy. Quelle: Uzanne, O.(1897): Fashion in Paris from 1797 to 1897. London: William Heinemann. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Walk_in_the_Tuileries_Gardens._A_ dandy_of_the_Year_VIII.jpg
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2. Teil Bild 12: Taillierter Uniformfrack, Preobraschensker Leib-Garderegiment, Russland 1820–1840, Armeemuseum Stockholm. Quelle:
DigitaltMuseum https://digitaltmuseum.se/011024377150/frack
Bild 13: Detail Oberteil eines Kleides, Wiener Zeitschrift 1832, Modebild 14. Quelle: Hochschule für angewandte Kunst in Wien (Hg.) (1987): Die Falte. Ein Konstitutivum menschlicher Kleidung? Zusammengestellt vom Institut für Kostümkunde an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Wien 1987, S. 92. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 14: Korsett-Unterhosen, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Barde, F. A. (1834): Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur: Un Appendice de la Méthode Barde, Livre II, Paris: Chez l’Auteur, Tafel 50. Reprint BnF Hachette Livre Bild 15: Faustkampfszene. Druck. Quelle und Datierung unbekannt, vermutlich 1. Hälfte 19. Jahrhundert Bild 16: Portrait des Thomas Fanshawe (1696–1758) 4th of Parsloes, um 1720. Maler: Jonathan Richardson the elder (ca. 1664–1745), Sammlung Valence House Museum, London Bild 17: »La Réponce Incroyable«, Bildsatire von Jean Baptiste Gautier, Journal de Paris, 25. März 1797. Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b69535605?rk=21459;2 Bild 18: Capote der schwedischen Armee (Grenadier Regiment) um 1800, Armeemuseum Stockholm. Quelle: https://digitaltmuseum.se/011024381493/kapott
3. Teil Bild 19: »Die normalen Längen- und Breitenverhältnisse des wohlgestalteten Körpers durch gehends nach Centimetern angegeben«, Maße des Apollon im Louvre nach Klemm. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Figur 3 der Tafel 1. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 20: »Frühjahrstracht« 1852. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 4. 1852, J 2, N 4, Figur der Tafel »Deutsche Moden«. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 21: »Anschließender Winterrock für eine dicke Person« 1851. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 10. 1851, J 1, N 10, Figur der Tafel »Deutsche Moden«. Kunstbib liothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotografin: Anna Russ Bild 22: Maßlinien für den Zuschnitt eines Justaucorps. Quelle: Garsault, François-A. de (1769): Descriptions des arts et métiers, faites ou approuvées par messieurs de l’Académie Royale des Sciences. Tailleur: Art du tailleur, contenant le tailleur d’habits d’hommes … / par M. de Garsault. Paris: Desaint, Saillant & Nyon, 1769, Tafel 4. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 23: Reduktionsschema. Quelle: Pariser Moden Journal September 1841, Nr. 36. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz
Bildnachweise Bild 24: Kontraste der Konformationen. Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Barde, F. A. (1834): Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur: Un Appendice de la Méthode Barde, Livre II, Paris: Chez l’Auteur, Tafel 52. Reprint BnF Hachette Livre Bild 25: Extrem aufrechte und vorgebeugte Haltung. Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Barde, F. A. (1834): Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur: Un Appendice de la Méthode Barde, Livre II, Paris: Chez l’Auteur, Tafel 51. Reprint BnF Hachette Livre Bild 26: Tabelle berechneter Maße. Abschrift J. Burde. Quelle: Barde, F. A. (1834): Traité encyclopédique de l’Art du Tailleur: Un Appendice de la Méthode Barde, Livre II, Paris: Chez l’Auteur, S. 143. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5609840h/f148.item.r = p Bild 27: Costumomêtre. Quelle: Couanon (1852): Le parfait tailleur: contenant les principes de l’art du tailleur, l’histoire de toutes les méthodes, théories et systèmes qui s’y rattachent, la description des costumes de tous les peuples du monde ... Tome 1, Partie 2–3 / par M. Couanon, Editeur: au bureau du Journal des marchands tailleurs (Paris), Tafel LIII (Detail).
https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9799238x/f322.image.textelmage
Bild 28: Rubriken 1 – 13 der Brustumfänge. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Tafel 2 (Detail). SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 29: Maßfigur: Rückenbreite O–P. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Tafel 1 Figur 1. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 30: Abwicklungen des »normalen« Oberkörpers mit Maßlinien. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Tafel 1 (Detail). SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 31: Maßlinie Avancement, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Figur 6 der Tafel 1 Bild 32: Maßlinie Weichenbreite, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Figur 10 der Tafel 1 Bild 33: »Representation of the various Structures of the Human Form«, Bildtafel zu Artikel 4 der Reihe »Disproportion«. Quelle: Gazette of Fashion and Cutting Room Companion 1. 9. 1846, J 1, N 5, S. 39. Foto J. Burde Bild 34: »Unregelmäßige« Konformationen. Quelle: Klemm, H. (1858): Vollständiges Handbuch der Bekleidungskunst für Civil und Militär. 13. Aufl. Dresden: H. Klemm’s Verlag, Tafel 3 »Anthropometrische Studien zur richtigen Bekleidung aller vorkommenden unregelmässigen Gestaltungen des männlichen Körpers«. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek Bild 35: »Der Mann«, Proportionen nach Dürer und Maßlinien der Umfangmaße. Quelle: Bernhardt, Johann Samuel (1820): Anleitung, den menschlichen Körper, besonders aber den weiblichen, seinen verschiedenen Abweichungen gemäß, zu kleiden und zu verschönern. Figur 1 der Tafel II, S. 34. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz
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Die Begradigung der Taillenkontur in der Männermode
4.Teil Bild 36: Taillierte Paletots, Modetafel autorisiert durch die »Société philantropique des maîtres tailleurs« 1854. Quelle: Gazette of Fashion and Cutting Room Companion 1. 10. 1854, J 9, N 102. Foto J. Burde Bild 37: Frack »genre élancé«, Frack eines über Sechzigjährigen, Gehrock »genre ordinaire«. Quelle: L’Élégant: journal des tailleurs 20. 4. 1839, J 4, N 43. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k6209646j/f9.item Bild 38: Frack mit Brustwattierung 1823. Quelle: L’Observateur des Modes 5. 8. 1823, J 6, N 43, Tafel 295. Foto J. Burde Bild 39: »Uniformes russes« 1815, Tafel 27 der Reihe »Incroyables et Merveilleuses« Zeichner: Horace Vernet (30. 6. 1789–17. 1. 1863), Stecher: Georges Jacques Gâtine (30. 8. 1773–nach 1841), Herstellungsort: Paris. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotografin: Anna Russ Bild 40: Genre uniforme in der zivilen Mode – zweireihiger Gehrock mit wattierter Brust und Riegelverschlüssen. Quelle: L’Élégant: journal des tailleur 20. 10. 1837, J 3, N 25. https://gallica. bnf.fr/ark:/12148/bpt6k62096313/f9.item Bild 41: Anglaise, Knopfleiste als Formstreifen, nach dem Schnittmuster eines »Modefracks von G. A. Müller«, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 4. 1851, J 2, N 4, »Deutsche Moden«. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotografin: Anna Russ. Bild 42/43: »Uniforme de la garde nationale à cheval second empire«, Paris 1870, Innenseite. Quelle: L’Histoire est mon comptoir!: LA GARDE NATIONALE A PARIS 1870–1871. http:// jenevoispaslerapoport.blogspot.com/2012/07/la-garde-nationale-paris-1870-1871.html Bild 44: Sommerpaletot, Kinderkleidung, Gehrock, Reitkostüm: »Fadengerade« englische Männermode 1854, »London Fashions for the Gazette of European Fashion published at Dresden by the German Academy of the art of clothing« (Detail). Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 8. 1854, J 4, N 8. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 45: Gehröcke, Kinderkleidung, taillierter Paletot, Uniform, Reitkostüm: Rundungen der französischen Männermode 1854, »Le Progrès, […] Modes de Paris pour la gazette des Modes Européennes publiée à Dresde par l’Academie Allemande de l’Art du Tailleur« (Detail) 1854. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 5. 1854, J4, N8. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 46: »Jaquette-redingote«: Gehrock-Jackett, Gehrock und Frack-Jackett mit vertiefter Taille 1850. Quelle: Gazette of Fashion and Cutting Room Companion 1. 5. 1850, J 4, N 49. Foto J. Burde Bild 47: »1ere figure. Manteau à Manches et Collets de fourrure [pélérine pleine]. 2me figure. Plisse sans Pélérine« 1834, »Modes de Paris No. 222«. Quelle: Journal des Tailleurs 16. 10. 1834, J 5, N 20. Foto J. Burde Bild 48: »Häßlicher Paletot« 1839. Quelle: Pariser Moden Journal 22. 12. 1839, N 51. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz
Bildnachweise Bild 49: »Manteau-paletot«. Quelle: L’Élégant: journal des tailleurs 20. 12. 1838, J 4, N 39. https:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k62096669/f9.item Bild 50: Englischer »sac« 1852, »Englische Original-Moden für die Sommer-Saison zur Europäischen Modenzeitung. Nach Report of Fashion von Minister & Sohn in London« (Detail). Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 6. 1852., J 2, N 6. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 51: Chesterfield »much worn«: gerade geschnittener Mantel über Weste getragen (Figur links) 1852. Quelle: Gazette of Fashion and Cutting Room Companion 1. 8. 1852, J 7, N 76. Foto J. Burde Bild 52: Schnittmuster eines taillierten Paletots 1846. Quelle: Gazette of Fashion and Cutting Room Companion 1. 6. 1846, J 1, N 2, Tafel 4. Foto J. Burde Bild 53: »Einreihige Jaquette von F. A. Keppler in Heidelberg. Figuren 24–28«. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe 1. 10. 1851, J 1, N 10. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotografin: Anna Russ Bild 54: »Sacko«, Figur der deutschen Modentafel »Der Fortschritt«. Quelle: Europäische Modenzeitung für Herrengarderobe 1856, J 4, N 6. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz Bild 55: Gehrock, einreihiger Sackpaletot mit verdeckter Knopfleiste und Taschenklappen, zweireihiger Sackpaletot. Quelle: West End Gazette September 1862, Tafel 1 (im Heft irrtümlich als Tafel 2 angegeben). Foto J. Burde Bild 56: Schnitt eines Sakkos (»lounge jacket«) mit geradem Vorder- und Rückenteil 1862. Quelle: West End Gazette August 1862, Tafel 2. Foto J. Burde Bild 57: »Morning coat« und »short sac jacket« aus Baumwolle, Freizeitanzug für heißes Klima. Quelle: West End Gazette Juli 1870, Tafel 1. Foto J. Burde
5. Teil Bild 58: »Inverness Wing Cape«, H. J. & D. Nicoll 1865. Quelle: Fotolibra. Upload 17. 8. 2011. https:// www.fotolibra.com/gallery/883320/male-fashion-inverness-wing-cape/ Bild 59: Costumomêtre. Quelle: Couanon (1852): Le parfait tailleur: contenant les principes de l’art du tailleur, l’histoire de toutes les méthodes, théories et systèmes qui s’y rattachent, la description des costumes de tous les peuples du monde … Tome 1, Partie 2–3 / par M. Couanon, Editeur: au bureau du Journal des marchands tailleurs (Paris), Tafel LIII. https:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9799238x/f322.image.texteImage Bild 60: Corsage Umriss erstellt mit dem Costumomêtre, Nachzeichnung J. Burde. Quelle: Couanon (1852): Le parfait tailleur: contenant les principes de l’art du tailleur, l’histoire de toutes les méthodes, théories et systèmes qui s’y rattachent, la description des costumes de tous les peuples du monde …Tome 1, Partie 2–3 / par M. Couanon, Editeur: au bureau du Journal des marchands tailleurs (Paris), Figur 6 der Tafel LIV. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k9799238x/f323.image.texteImage Bild 61: Schnittmuster-Beilage in Herrmann Gerson’s Mode-Zeitung, Berlin, 1858. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf: Dietmar Katz
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6. Teil https://whitmanarchive.org/published/periodical/journalism/tei/per.00423.html
Abkürzungen Nachweise J Jahrgang N Nr. der Ausgabe
Zeitschriften Éjdt
L’Élégant: journal des tailleurs
EM
Europäische Modenzeitung für Herren-Garderobe
GzF
Gazette of Fashion and Cutting-Room Companion
JdT
Journal des Tailleurs
Jdm
Journal des dames et des modes
MdM
Magasin des Modes Nouvelles Francoises et Angloises
LM
La Mode: revue des modes, galerie de moeurs, album des salons
OdM
L’Observateur des Modes
PMJ
Pariser Moden Journal
WEG
The West-End Gazette of Gentlemen’s Fashions
Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)
Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9
María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2
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