Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428436224, 9783428036226

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 36

Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft

Von

Dr. iur. Margaret Gruter J. S. M.

Duncker & Humblot · Berlin

MARGARET GRUTER

Die Bedeutuug der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 36

Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft

Von

Dr. iur. Margaret Gruter J. S. M.

DUNCKER&HUMBLOT/BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Gruter, Margaret Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft. - 1. Auf!. - Berlin: Duncker und Humblot, 1976. (Schriften reihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 36) ISBN 3-428-03622-0

Alle Rechte vorbehalten & Humblot. Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn. BerUn 61 Printed in Germany

© 1976 Duncker

ISBN 3 428 03622 0

Vorwort des Herausgebers Die Autorin hat jahrelang auf medizinisch-psychologischem Gebiet gearbeitet, um innerhalb der juristischen Forschung hauptsächlich die biologischen und psychologischen Einflüsse auf das Rechtsverhalten zu erkennen; dieserhalb suchte sie auf interdisziplinärer Basis den Zusammenhang zwischen Problemen der Rechtssoziologie und den Erkenntnissen neuester biologischer, besonders ethologischer und psychologischer Forschung zu finden. Seit Herbst 1973 forscht sie als Research Associate an der Stanford University Law School in enger Zusammenarbeit mit dem Department of Human Biology and Primate Behavior. Die vorliegende Schrift ist eine Zusammenfassung von "Gedanken über den Zusammenhang von Verhaltensforschung und Rechtswissenschaft als Anregung zur weiteren Forschung". Zu diesem Zweck und in dieser Absicht wird das Buch den deutschsprachigen Juristen und Soziologen gerade im Rahmen dieser Schriftenreihe unterbreitet, in deren vor zehn Jahren erschienenem ersten Band ("Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge. Beiträge zur Rechtssoziologie") ich meine seit dreißig Jahren vertretene These wiederholt habe, daß eine "Rechtswissenschaft im wahren Sinne des Wortes nur möglich ist, ... wenn man sich auch als Jurist entschließt, die benachbarten Wissenschaftszweige als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlage der Rechtsforschung anzuerkennen". Zu diesen Nachbargebieten gehört auch die Biologie, insbesondere die Verhaltensforschung, weil sich auf den Lehrmeinungen der Ethologie Hypothesen zur Rechtsentwicklung und zur Evolution des Rechtsverhaltens aufbauen und Anhaltspunkte für Untersuchungen der Effektivität des Rechts gewinnen lassen. "Das bedeutet nicht, daß Rechtsgelehrte Tiere in der Wildbahn beobachten oder physiologische oder neurologische Experimente im Labor vornehmen müssen. Es bedeutet nur, daß sie ihre Ansichten über die Entstehung des Rechts nicht mehr ausschließhch auf philosophischer Deutung aufbauen oder daß sie ihre Untersuchungen über- die Interaktion zwischen Recht und Verhalten nicht mehr ausschließlich auf Umweltfaktoren beschränken" (S. 81). Die Autorin zeigt am Beispiel der Familie als kleinster sozialer Einheit die besondere Bedeutung der bei Tierbeobachtungen gewonnenen Erkenntnisse für die Rechtsprechung und für Versuche, mittels des Rechts Änderungen in der sozialen Ordnung herbeizuführen. "Einblick

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Vorwort des Herausgebers

in die Grenzen der Anpassungsfähigkeit menschlichen Verhaltens offenbart uns die Grenzen der von uns angestrebten Reformen" (S. 75/76), was dem Postulat Platons entspricht: "Das Mögliche nur soll sich der Staatsordner zum Ziele setzen: Was aber das Unmöglkhe anbelangt, so soll er nicht vergebliche Wünsche hegen und zu verwirklichen suchen1 ." Bis zu welchem Grade die ethologischen Forschungsergebnisse auf die Deutung menschlichen Verhaltens anwendbar sind, ist - auch unter Verhaltensforschern - lebhaft umstritten2 • Dies ändert aber nichts an der durch die biologische Grundlagenforschung erhärteten Feststellung, "daß das menschliche Verhalten gegenüber dem Recht oder den Rechtssätzen einerseits vom Willen des Einzelnen und seiner Veranlagung beeinflußt wird, und daß andererseits Gesetzgebung und Rechtsprechung von den (wechselnden!) Werturteilen bestimmt werden" (S.19). Besonderer Hervorhebung bedarf die intellektuelle RedHchkeit, mit welcher die Autorin immer wieder den Leser darauf hinweist, wie lükkenhaft, unsicher und umstritten die Erkenntnisse und Theorien der biologischen Verhaltensforschung sind; trotzdem ist die übertragung der Ergebnisse dieser Grundlagenforschung auf das zwischenmenschliche Sozialleben und insbesondere ihre Berücksichtigung bei dessen rechtlicher Ordnung wissenschaftlich nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig, wenn sie für empirisch ermittelte Daten der Rechtstatsachenforschung, der Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung e,ine biologisch gefestigte Grundlage abgeben. Wenn der Biologe Adolf Portmann3 feststellt, daß unser sozialer Kontakt nicht nur eine zufällige Kombination bedeutet, sondern "obligatorisch" ist, so ist mit dieser biologischen Erkenntnis die unverrückbare Grundlage gegeben, auf der allein menschliche Bemühungen um rechtliche Ordnung des Soziallebens sinnvoll sind. Wenn Rechtsverhalten im biologischen Erbgut des Menschen verankert ist, dann können Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten der Natur uns dazu verhelfen, "die ethischen Prämissen, die unseren Rechtsnormen zu Grunde liegen, neu zu definieren, so daß sie nicht im Widerspruch zum biologisch programmierten Verhalten stehen" (S.81). Königsfeld im Schwarzwald, März 1976

Ernst E. Hirsch

I Gesetze, 5. Buch, 742 ST, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Philosophische Bibliothek Band 159, Leipzig 1916, S. 166. 2 In einer mit H. R. gezeichneten Glosse "Mensch und Tier" (in F.A.Z. vom 25. 2. 1976 Nr.47) heißt es wörtlich: "... seriöse Wissenschaft korrigiert sich selbst. über kurz oder lang wird sie die reine oder gemischte Wahrheit über das äffische Gesellschaftsleben zutage fördern. Vorerst sind die ideologischen ,Denkansätze' amüsant: ,Äsop und La Fontaine auf den Kopf gestellt·... 3 An den Grenzen des Wissens, 1974, S. 86.

Inhalt Einführung .........................................................

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I. Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung ...............

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11. Erkenntnisse und Theorien der Verhaltensforschung. . . . . . . . . . . . .

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111. Rechtsverhalten und Gruppenordnung

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IV. Familienorganisation im Tierreich ..............................

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V. Evolution der menschlichen Familienorganisation ................

46

VI. Familienrecht und die Funktionen der Sexualität. . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Betrachtungen zur Rechtsgrundlagenforschung

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Literaturverzeichnis .................................... . . . ..........

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Einführung Diese Arbeit ist ein Versuch, Gedanken über den Zusammenhang von Verhaltensforschung und Rechtswissenschaft als Anregung zur weiteren Forschung einem juristischen Leserkreis zu unterbreiten, dem bisher die neueren Erkenntnisse der Verhaltensforschung in seiner Fachliteratur noch kaum begegnet sind. Die Veröffentlichung in dieser Form erhebt nicht den Anspruch, als empirische Theorie gewertet zu werden oder ein lückenloses Fundament zu schaffen, auf der sich eine neue Rechtstheorie aufbauen kann. Interdisziplinäre Forschung soll eine gedankliche Verbindung zwischen verschiedenen Gebieten herstellen. Von Beobachtungen im Tierreich und von den Forschungsergebnissen der Biologie zur dogmatisch orientierten Gedankenwelt des Juristen ist ein weiter Weg. Wenn jedoch, wie so oft gesagt wird, eine Kluft zwischen den Betrachtungsweisen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften besteht, dann können die beiden Ufer nur mittels einer Gedankenbrücke verbunden werden. Wer mit beiden Ideenwelten vertraut ist, mag das als Gedankenbrücke sehen, was anderen als ein Gedankensprung erscheint. Und vielleicht ist manchmal sogar ein Gedankensprung nötig, bevor die Gedankenbrücke gebaut werden kann. Die Brücke zwischen Rechtswissenschaft und Verhaltensforschung kann sich auf bereits vorhandene Erkenntnisse - Brückenpfeiler sozusagen - namhafter Wissenschaftler und auf die Begriffe, die sie formulierten, stützen. Hierzu gehören Eugen Ehrlich, der als erster den Begriff des lebenden Rechts prägte, Bronislaw Malinowski, der im Verhalten einer primitiven Gruppe das lebende Recht sah, und Konrad Lorenz, der Gesetzmäßigkeiten im Verhalten vieler Tierarten entdeckte, die uns Hinweise auf die Regeln menschlichen Verhaltens geben können. Auch andere Forscher lieferten Bausteine, die dazu beitragen, den Weg über die Brücke gangbar zu machen. Zweifellos sind noch Lücken im Mosaik der Gedanken vorhanden, die erst durch weitere Forschung aus.., gefüllt werden können. Sie mögen das Bild noch etwas verändern; aber ich glaube, daß der Stand der Erkenntnisse ausreicht, um einen Grundriß aufzuzeichnen. Zumindest können wir aus diesem Gedankengut Anregungen für eine Grundlagenforschung innerhalb der Rechtswissenschaft erhalten.

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Einführung

Letztlich gibt es nur eine Grundlage, in der alle Wissenschaftszweige, die sich mit menschlichem Verhalten beschäftigten, wurzeln. Wenn verschiedene Lehrmeinungen sich widersprechen, dann muß entweder die eine oder die andere falsch sein oder beide. Oft muß der Jurist entscheiden, welche Lehrmeinung ihm am glaubwürdigsten erscheint. In solchen Fällen ist es ratsam, Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten dadurch zu klären, daß mittels induktiver Analyse auf die beiden Wissenschaftszweigen gemeinsame Grundlage vorgedrungen wird. Dies gehört zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft; denn sie muß darauf achten, daß neugeschaffenes oder bestehendes Recht das Gleichgewicht der den Naturgesetzen folgenden Ordnung nicht stört, sondern es ergänzt oder wiederherstellt, wenn es durch Veränderungen der Umwelt oder durch das Wirken der Menschen gefährdet ist. Aus diesem Grunde ist es für den Juristen, der menschliches Verhalten mit Hilfe des Rechts in bestimmte Bahnen lenken will, unerläßlich, die natürlichen Gesetzmäßigkeiten zu kennen, die das menschliche Verhalten regulieren und kontrollieren. In einer ähnlichen Rolle wie der Arzt sind letzten Endes Gesetzgeber und Richter. Sie geben sozusagen das Fertigprodukt (Rechtssätze und rechtskräftige Entscheidungen) an den Konsumenten. Auch die Medizin ist keine exakte Wissenschaft, und viele ihrer Vertreter sprechen von ärztlicher Kunst in ihrem therapeutischen Bemühen. Wenn wir - um diesen Gedankengang fortzusetzen - den Stand der medizinischen Wissenschaft, deren Endziel die Gesunderhaltung ist, und den Stand der Rechtswissenschaft, deren Endziel die Rechtsordnung ist, von heute mit dem Stand beider Wissenschaften vor 100 Jahren vergleichen, so ist es offensichtlich, daß die medizinische Wissenschaft in diesem Zeitraum weit größere Fortschritte erzielt hat als die Rechtswissenschaft. Dies liegt vor allem daran, daß die Medizin - die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Wissenschaft praktisch nicht bestand im Vergleich zu der jahr.;. hundertlangen wissenschaftlichen Tradition der Jurisprudenz - sich völlig in den Strom der biologischen Erkenntnisse eingeschaltet hat und sich aus den verschiedensten Zweigen der Wissenschaft jene Anregungen geholt hat, die ihrer Entwicklung förderlich waren und sind. Und zweifellos waren für die Medizin die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung von entscheidender Bedeutung. Die moderne Medizin ist undenkbar ohne die Grundlagen, die von Biologen, Chemikern, Physikern und den technischen Wissenschaften geschaffen wurden und werden. Einen Vergleich zwischen Medizin und Rechtswissenschaft zog auch Ernst E. Hirsch bereits 1948 in "Die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild", und zwar in folgenden Worten: (Die Rechtswissenschaft) "muß ebenso wie die Medizin es sich zur Aufgabe machen, auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse wissenschaftlich gesicherte

Einführung

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Vorschläge und Anleitungen zu einer wirksamen Prophylaxe und Therapie zu geben" (S. 71). Er schloß, daß "eine Rechtswissenschaft im wahren Sinne des Wortes nur möglich ist, wenn man den Menschen als soziales Lebewesen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen rückt und sich auch als Jurist entschließt, die benachbarten Wissenschaftszweige als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlagen der Rechtsforschung anzuerkennen" (S. 87). Es besteht kein Zweifel, daß die Rechtswissenschaft mit dem rapiden Tempo unserer heutigen Entwicklung besser Schritt halten wird, wenn sie, wie die Medizin, auf den Erkenntnissen der biologischen Grundlagenforschung aufbaut. Angesichts der ständigen Bedrohung unser aller Existenz durch Erkenntnisse der Naturwissenschaften ist die Rolle der Rechtswissenschaft von größter Bedeutung. Denn die Erkenntnisse an sich sind wertfrei. Es ist ihre Anwendung, die entscheidet, ob sie zum Niedergang oder zum kulturellen Aufstieg der Menschheit beitragen werden. Dieselben Ergebnisse der Grundlagenforschung, die in der Medizin zum Wohle der Menschheit angewandt werden, könnten vielleicht auch eine Besserung der sozialen Ordnung bewirken; aber nur mit Hilfe zügelnder und richtunggebender Gesetzgebung, die auf einer wissenschaftlichen Rechtsforschung aufbauen muß. Juristen werden mit wesentlich größerer überzeugungskraft kurzsichtigen, nur politisch motivierten Reformplänen entgegentreten können, wenn sie ihre Argumente auf biologischen Erkenntnissen aufbauen.

I. Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung Erkenntnisse der Verhaltensforschung weisen darauf hin, daß die Grundlagen des Rechts· und der sozialen Ordnung im Verhalten des frühen Menschen und seines Vorfahren wurzeln. Schon in frühester Zeit folgte das Verhalten des Einzelnen und der Gruppe Regeln, die für die Arterhaltung zweckmäßig waren. Aus den Regeln des biologisch programmierten Verhaltens entwickelten sich im Laufe von Jahrhunderttausenden Normen, die zunächst in Geboten und Tabus ihren Ausdruck fanden. Mit dem Entstehen höherer Kulturstufen baute sich darauf wiederum gesprochenes, geschriebenes oder gesetztes Recht in unserem heutigen Sinne auf. Diese evolutionäre Entwicklung des Rechts aus rudimentären Verhaltensweisen, Mechanismen und Systemen, die später an Beispielen wie Rechtsverhalten, Respekt für Besitz oder gegenseitigem Altruismus besprochen werden, offenbart sich beim Studium des Verhaltens verschiedener Tierarten und primitiver Gesellschaften. Es ist Aufgabe der Verhaltensforschung, aus vergleichenden Beobachtungen vieler Tierarten unter anderem die Gesetzmäßigkeiten und Regeln des Gruppenlebens und darüber hinaus die Faktoren zu erkennen, die für die Gruppenstruktur und die Ordnung des Gruppenlebens bestimmend sind. Die Ordnung des menschlichen Gruppenlebens, ihre Erhaltung und Neuregelung, ist Aufgabe der Rechtswissenschaft. Seit Jahrtausenden war das Bemühen der Rechtsgelehrten und Philosophen darauf gerichtet mittels Rechtssätzen eine Rechtsordnung zu schaffen, die das friedliche 1 Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff "Recht" im weitesten Sinne des Wortes gebraucht. Für die Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und anderen Normen ist die anthropologische Definition des Rechts in der bekannten Formulierung durch Bronislaw Malinowski (Crime and Custom in Savage Society, S.55) zutreffend. Sie lautet: Rechtsnormen unterscheiden sich von anderen Normen dadurch, daß sie zugleich als Verpflichtungen des einen Teils und als Berechtigungen des anderen Teils betrachtet werden. Sie werden nicht durch bloße psychologische Motive sanktioniert, sondern durch eine bestimmte soziale Maschinerie von bindender Kraft. Diese ist, wie wir wissen, auf der gegenseitigen Abhängigkeit aufgebaut und findet ihren Ausdruck in einer äquivalenten Anordnung der gegenseitigen Dienstleistungen sowie in der Kombination derartiger Forderungen, die in der Verflechtung der vielseitigen Beziehungen in Erscheinung tritt. Die Tatsache, daß die meisten Handlungen von Zeremonien begleitet sind, was öffentliche Kontrolle und Kritik mit sich bringt, verstärkt die bindende Kraft.

1. Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung

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Zusammenleben menschlicher Gruppen ermöglicht. Es entstanden philosophische, religiöse und ideologische Lehrmeinungen und Dogmen, die zur Zeit ihrer Entstehung wiederum auf den jeweils bekannten Erkenntnissen über die Gesetze der Natur aufbauten. Neue Forschungsergebnisse in den Naturwissenschaften gaben den Geisteswissenschaften stets neue Impulse. Dieser Vorgang der gegenseitigen Bereicherung und Befruchtung spielte sich auch in umgekehrter Richtung ab, wie im Falle Darwins, der seine Evolutionstheorie erst formulieren konnte, als er den 1838 von Malthus veröffentlichten "Essay on Population" gelesen hatte2 • Wenn im Laufe der Geschichte in einzelnen Teilen der Welt der menschliche Geist sich neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verschloß und im Dogma verharrte, so führte dies zu einer Abwanderung der Wissenschaft in andere Teile der Welt, in denen sie sich besser entfalten konnte. Man denke an die Abwanderung der Wissenschaften aus dem Mittelmeerraum in die nordischen Länder während des 17. J ahrhunderts, als das Diktat der damals allmächtigen katholischen Kirche die Erkenntnisse des Nicolaus Copernicus und die darauf aufbauenden Arbeiten Galilei's unterdrückte, eine Haltung, auf der die Kirche 300 Jahre lang beharrte. Oder ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: die Abwanderung bedeutender Wissenschaftler aus den von Hitler beherrschten Gebieten während der 30er Jahre unseres Jahrhunderts. Die Geschichte lehrt uns, daß unsere westliche Kultur auf der Zusammenarbeit aller Wissenschaftszweige aufgebaut ist, und daß die Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eine Voraussetzung für unsere kulturelle Weiterentwicklung ist. In der Rechtswissenschaft führte der Prozeß der gegenseitigen Bereicherung und Befruchtung zwischen verschiedenen Wissenschaftszweigen zu wechselnden Auffassungen über die Natur und die Wurzeln des 2 Interessanterweise übten Malthus' Ideen dieselbe Wirkung auf Alfred Russel Wall ace aus, der gleichzeitig und unabhängig von Darwin aufgrund beobachtender Tierstudien dieselben Gedankengänge verfolgte. Bei beiden Männern (Darwin und Wallace) wirkte die Lehre Malthus' als Katalysator, der es ihnen ermöglichte, ihre Gedanken in eine Theorie einzuordnen, und zwar auf folgender Basis: Wenn die Bevölkerung so schnell wächst, daß die vorhandenen Nahrungsmittel nicht mehr für alle ausreichen, so hat der Kräftigere eine größere Überlebenschance für sich und seine Nachkommenschaft. Mit anderen Worten: sie formulierten das Prinzip der natürlichen Auslese als Grundlage einer Evolutionstheorie, die Darwin dann in "On the Origin of Species" (1859) veröffentlichte. Darwins Evolutionstheorie kann sich heute auf sehr reiches und vielfältiges Beweismaterial stützen, das während der letzten 100 Jahre auf vielen Gebieten zusammengetragen wurde, so daß sie mit Recht als die wichtigste wissenschaftliche Neuentdeckung des 19. Jahrhunderts betrachtet wird (vgl. Bronowski, The Ascent of Man, Boston 1974, S. 308).

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I. Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung

Rechts. Philosophen und Rechtsgelehrte diskutierten dieses Thema und entwickelten immer wieder neue Theorien über die Entstehung und über die Entwicklung des Rechts. Philosophische, religiöse und ideologische Lehrmeinungen haben auch heute noch einen großen Einfluß auf die Rechtsentwicklung. Die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft, die auf Darwins3 Theorien aufbaut, haben jedoch während der letzten hundert Jahre diese Entwicklung nicht wesentlich beeinflußt. Um so größer war während dieses Zeitraums der Einfluß der Sozial~ wissenschaften4 auf die Rechtsforschung. Auch die Erkenntnisse der 3 Der Begriff Evolution wurde bereits vor Darwin von Sir Henry Sumner Maine in seinem "Ancient Law" (1861) mit Bezug auf das Recht benutzt. Die traditionelle Theorie über die Rechtsentwicklung behauptet, daß die Rechtsentwicklung einer natürlichen Ordnung unterworfen sei und Rechtssysteme sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten aus einem Urzustand zu höheren Formen entwickelten. Maine erklärte, daß diese fortschreitende Entwicklung sich gleichmäßig vollzog und gekennzeichnet war von dem "langsamen Zerfall der familiären Abhängigkeit, die durch das Anwachsen der individuellen Verpflichtung ersetzt wurde". Mit dem Ausdruck "Evolutionstheorie" wird in dieser Arbeit stets auf Darwin Bezug genommen und nicht auf die Gedanken von Maine oder anderer Rechts- und Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. 4 Bereits im 18. Jahrhundert hatten verschiedene Wissenschaftszweige die Suche nach einer Verbindung zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Natur und den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Soziallebens begonnen. Der Begründer der Soziologie, der Franzose Auguste Comte, versuchte dann im Jahre 1822 diejenigen "unveränderlichen Naturgesetze" zu finden, denen die gesellschaftlichen Phänomene unterworfen sind. Er wollte von der Mathematik über die Astronomie, Physik, Chemie und Biologie zur Psychologie (die er als Teil der Physiologie verstand) fortschreiten zu einer Wissenschaft, der er den Namen "Sozialphysik" geben wollte. Die Bezeichnung "Sozialphysik" wurde auch von dem belgischen Statistiker Adolphe Quetelet (1835) benutzt, als er statistische Methoden auf soziale Phänomene und speziell auf moralische Eigenschaften anwandte. Er versuchte, diese anhand von Statistiken über die Häufigkeit von Verbrechen in verschiedenen nationalen oder beruflichen Gruppen zu messen, und zwar an ihrem Effekt, ähnlich wie in der modernen Verhaltensforschung Bereitschaften zu bestimmten Handlungen gemessen werden. Quetelet suchte ferner nach Indikatoren, an denen sich noch nicht in die Tat umgesetzte Neigungen feststellen ließen - ein auch heute in der Soziologie akutes Problem. Comte und andere oft erstaunlich modern anmutende Forscher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts führten naturwissenschaftliche Methoden in die Betrachtung der menschlichen Gesellschaftsordnung ein, wenn auch nur diejenigen Methoden, die zu ihren Lebzeiten allgemein bekannt waren. Man zielte auf eine Biologie und Soziologie des Menschen, indem man den Menschen biologisch und soziologisch analysierte, nicht aber, indem man aus der Biologie und Soziologie möglichst vieler Tiere Schlüsse auf den Menschen zog oder bei ihnen nach Parallelen zum Menschen suchte, eine Methode, die erst durch spätere naturwissenschaftliche Forschung, auf Darwin und Mendel aufbauend, ermöglicht wurde. Der Soziologe Emile Durkheim, einer der prominentesten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, beschäftigte sich mit Fragen, die heute zum Gebiet der Rechtssoziologie gehören. Er vertrat, ähnlich wie Maine die These, daß das Recht sich progressiv entwickle und wachse. Für ihn war Arbeitsteilung das Zeichen der modernen Gesellschaft, und aufgrund der gegenseitigen Abhän-

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Psychologie und der Psychiatrie gaben der Rechtswissenschaft neue Anregungen, besonders auf dem Gebiet des Strafrechts und des Familienrechts. Dies trifft auch auf ethnologische und anthropologische ForschungS zu, die Einblick gewährt in die Interaktion von Recht und sozialem Wandel in primitiven Gesellschaftsformen. Bisher unbeachtet in der juristischen Literatur blieb jedoch ein neuer Forschungszweig, die VerhaltenswissenschaftG (Ethologie), die das Vergigkeit der verschiedenen Parteien innerhalb der sozialen Ordnung betrachtete er den Vertrag als Hauptgegenstand des modernen Rechts. Max Weber sah "formale Rationalität" als das wichtigste Merkmal modernen Rechtsdenkens. Durkheims wie auch Webers Theorien sind noch heute von großem Einfluß auf die moderne Rechtssoziologie. Die heutigen Rechtssoziologen sehen jedoch das Recht fast ausschließlich als ein Produkt der Kultur und darüber hinaus als ein Werkzeug für soziale Reform. 5 Die moderne Ethnologie und Anthropologie lehnt Sir Maine's Theorie ab, da sie auf Annahmen beruht, die heute als falsch erwiesen sind. Eine weitere These der frühen Anthropologen, nämlich daß primitives Recht ausschließlich strafrechtlichen Charakter habe, wurde von Malinowski entkräftet, als er 1925 seine Studien über die Trobriand-Insulaner veröffentlichte. Daß das Verhalten der Gruppe entscheidend ist für die Entwicklung des Rechts, geht ebenfalls aus den oben erwähnten Studien Malinowskis hervor, obwohl er selbst d:es nicht ausdrücklich betonte. Dieser Gedanke ist seit damals kaum weiterentwickelt worden. Moderne Ethnologen und Anthropologen befassen sich hauptsächlich mit den kulturellen Einflüssen auf die Rechtsentwicklung. 6 Die Abhängigkeit des sozialen Verhaltens und der sozialen Ordnung von der Umwelt wurde schon früh erkannt. In seinem 1878 erschienenen Werk "über die tierischen Sozietäten" suchte A. Espinas im Tierreich Parallelen zu den Strukturen der menschlichen sozialen Ordnung. Er stellte fest, daß nächstverwandte Arten oft ganz verschiedene Sozialsysteme haben, fast gleiche Sozialsysteme aber bei verschiedenen Tierarten auftreten können, die verwandtschaftlich gar nichts miteinander zu tun haben. Er schloß daraus, daß Ähnlichkeiten im Sozialleben weniger Abstammungs- als vielmehr Anpassungsähnlichkeiten sind, und fragte deshalb, welche ökologischen Bedindingungen für die Struktur tierischer Sozietäten verantwortlich sind. Der Ausdruck "Ethologie" wurde bereits von Isidore G. Saint-Hilaire (1854) angewandt, und zwar auf das Forschungsgebiet, das Ernst Haeckel (1866) "Ökologie" nannte. Auch der belgische Paläontologe Louis Dollo benutzte um die Jahrhundertwende den Ausdruck "Ethologie" für die Erforschung der Verhaltens-Anpassungen der Lebewesen an ihre Umwelt. "Bis in unsere Zeit diente diese ,ethologisch-phylogenetische Methode' zur Analyse tierischer Lebensformtypen in der Stammesgeschichtsforschung. Die ökologische Ethologie hat den Gesichtspunkt der Umweltanpassung an die moderne Verhaltensforschung weitergegeben" (W. Wickler, Die Biologie der Zehn Gebote, S.64). In diesem kurzen überblick über die Geschichte der Ethologie wäre vielleicht noch der Belgier Emile Waxweiler zu nennen, "der bereits 1906 auf diese ökologisch-ethologische Forschung zurückgreifend ein großes (durch den Ersten Weltkrieg vereiteltes) Forschungsprojekt aufstellte, das von einem vergleichend-theoretischen Fundament ausgehend mit Hilfe experimenteller Prüfungen eine enge Synthese tierischer und menschlicher SozialEthologie bringen sollte; Soziologie erschien darin als der Spezialzweig der Ethologie, der sich mit den Phänomenen befaßt, welche aus den besonderen sozialen Fähigkeiten des Menschen erwachsen. Die allgemein-biologischen Grundzüge sozialen Verhaltens sollten an geeigneten tierischen Sozietäten vergleichend erforscht werden" (Wickler ebd., S. 65).

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halten des Menschen mit neuen Methoden zu erklären versucht. Als separates Forschungsgebiet entwickelte sie sich ungefähr in den 30er Jahren, hauptsächlich unter dem Einfluß von drei Naturwissenschaftlern, Kar! von Frisch, Konrad Lorenz und Niko Tinbergen, die 1973 für ihre grundlegenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Verhaltensphysiologie den Nobelpreis erhielten. Die moderne Ethologie vereint experimentelle Forschung im Feld und im Labor mit Beobachtungen verschiedener Tierarten in der freien Natur. Auf diese Weise war es möglich, bestimmte Regeln im adaptiven Verhalten zu identifizieren, die für die Erhaltung der verschiedenen Tierarten in der sich ständig wandelnden Umgebung nötig sind. Ethologie ist eine sehr junge Wissenschaft, und soweit ethologische Forschungsergebnisse auf die Deutung menschlichen Verhaltens angewandt werden, ist sie noch immer starken Angriffen ausgesetze. Dies ist sowohl in Europa der Fall als auch (vielleicht noch mehr) in den USA, wo Ethologie erst in den 50er Jahren, hauptsächlich durch die Schriften von Konrad Lorenz und später durch populäre, wissenschaftlich nicht exakte Literatur bekannt wurde. Natürlich sind nicht alle Ethologen über die Deutung ihrer Forschungsergebnisse auf allen Gebieten einer Meinung, aber über einige wesentliche Punkte besteht übereinstimmung unter ihnen; z. B. darüber, daß das genetische Programm innerhalb einer Art bestimmt, welches Verhalten ein Individuum lernen kann und wann der Einzelne während seiner Entwicklung dieses Verhaltens am besten - oder überhaupt - lernen kann B• Mit anderen Worten: Das genetische Programm 7 Ein Buch mit dem Titel "Kritik der Verhaltensforschung, Konrad Lorenz und seine Schule", ist 1974 in Deutschland erschienen. Es enthält 5 Beiträge, deren Autoren verschiedenen Schulen angehören. Unter diesen 5 Autoren befindet sich auch Niko Tinbergen, Mitbegründer der Ethologie. Er weist darauf hin, daß die Ethologie wesentlich dazu beigetragen hat, daß sich die Verhaltenswissenschaften in den letzten 60 Jahren mehr und mehr den Naturwissenschaften genähert haben. Tinbergen führt weiter aus, daß Ethologie zunächst manche Verhaltensweisen und die ihnen zugrunde liegenden Prozesse vereinfacht habe und daß andere Richtungen der Verhaltenswissenschaft in unabhängigem Vorgehen wissenschaftlichere und umfassendere methodische Ansätze entwickelt hätten. Ethologie habe jedoch eine gesunde belebende Wirkung gehabt auf einen beschleunigten Zusammenfluß vieler Einzeldisziplinen in einen einzigen umfassenden Hauptstrom echter biologischer Forschung. 8 Bei vielen Arten ist ein spezifischer Lernprozeß nur innerhalb eines beschränkten Zeitraums im Leben des Einzelnen möglich, z. B. lernt die neugeborene Graugans innerhalb der ersten Lebensstunden, einem großen beweglichen Gegenstand (normalerweise der Mutter) zu folgen. Dieser Vorgang wird "Prägung" genannt. In einigen Spezies - nicht in Graugänsen, aber z. B. in bestimmten Entenarten - wird nicht nur dieses spezifische Verhalten in den frühesten Lebensstunden geprägt, sondern das gesamte Verhalten wird durch diesen Vorgang derart beeinflußt, daß nach der geschlechtlichen Reife das sexuelle Verhalten Abnormitäten zeigen kann.

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setzt der Formbarkeit des Verhaltens bestimmte Grenzen. Die Entwicklung des Einzelnen wird natürlich ebenfalls durch die Umwelt beeinfiußt. Diese ist für die Aktivierung des biologisch programmierten Verhaltens 9 verantwortlich, und unter gewissen Umständen kann die Entwicklung gehemmt werden oder abnormal verlaufen, wie z. B. bei Tieren in Gefangenschaft oder in Deprivationsexperimenten. Diese Ansicht steht im Widerspruch zu den Theorien der "Behaviorist School", die besonders in den USA noch mehr oder weniger dominieren und die besagen, daß Verhalten ganz konditioniert werden und durch die Umwelt mittels Verhaltenstechnologie manipuliert werden kann. Es steht außer Zweifel, daß einerseits menschliches Verhalten innerhalb weiter Grenzen von der Umwelt beeinfiußt wird und daß andererseits der Plastizität des menschlichen Verhaltens Grenzen gesetzt sind und Verhaltensänderungen nur innerhalb dieser Grenzen möglich sind. Wo diese Grenzen genau liegen, dies herauszufinden, ist Sache der Naturwissenschaften. Dagegen ist es die Aufgabe der Rechtssoziologie, aus den Forschungsergebnissen der verschiedensten Wissenschaftszweige Richtlinien und Hinweise zu finden, die für die Schöpfung und Anwendung des Rechts von Nutzen sein können, wie z. B. unter welchen Umweltbedingungen bestimmte Verhaltensweisen für die Aufrechterhaltung der Ordnung von besonderem Wert sind und welche Faktoren ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Die Ergebnisse der Verhaltensforschung sind für die Rechtswissenschaft besonders dann von Bedeutung, wenn sie Einblick in den Zusammenhang gewähren, der zwischen individuellem Verhalten und Gruppenverhalten besteht. Bei vielen Tierarten, die in Gruppen leben, erfordert das Gebot der Arterhaltung, daß sich das Verhalten des Einzelnen wie der Gruppe an die sich stets ändernde Umwelt adaptiert. Wie der Wandel der Umgebung kontinuierlich ist, so ist es auch der Wandel des Verhaltens. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Verhalten des Einzelnen sich im Rahmen gewisser Regeln oder Gesetze vollzieht, die für die Erhaltung des Einzelnen, der Gruppe und letztlich der Art notwendig sind. 9 Die Ausdrücke "biologisch programmiertes Verhalten" und "angeborenes Verhalten" bedeuten im Rahmen dieser Arbeit im wesentlichen dasselbe. Ich bin mir dessen bewußt, daß der Sprachgebrauch der Ethologen, wie der aller anderen Disziplinen, gewissen Trends folgt und daß bestimmte Ausdrücke nicht mehr benutzt werden, wenn sie zum Mittelpunkt starker Kontroversen werden. Im Rahmen dieser Arbeit akzeptiere ich die Erklärung von Lorenz (Evolution and Modification of Behavior, Chicago 1965, S. 3), daß angeborenes, oder was wir früher instinktives Verhalten nannten, solches Verhalten ist, das nicht während der ontogenetischen Entwicklung des Einzelnen erlernt wurde, sondern durch Mutation und Selektion während der Evolution der Spezies in phylologenetischer Adaption entstand.

2 Gruter

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Vergleichende Beobachtungen des Verhaltens von nicht-menschlichen Primaten und anderen Tieren, die in Gruppen leben, ergaben, daß bestimmte Eigenheiten und Mechanismen grundlegende Bedeutung für die soziale Interaktion und den Zusammenhalt der Gruppe haben. Ebenso wie bei Tieren folgt auch die Entwicklung des menschlichen Verhaltens gewissen Regeln und wird von bestimmten Mechanismen beeinflußt, die eine physiologische Grundlage haben1o • Gewisse Formen des Verhaltens wie z. B. das Verhalten bei der Fortpflanzung und Brutpflege 11 sind ein Teil des menschlichen Erbguts, das nicht erst in Erscheinung trat, als der menschliche Vorfahre seine von den anderen Primaten getrennte Entwicldung begann, sondern das bereits im Vorfahren, den der Homo sapiens mit anderen Primaten gemeinsam hatl2 , vorhanden war. Zu diesen Verhaltensmechanismen, die wir mit anderen Primaten gemeinsam haben, gehören jene, die den Zusammenhalt der Gruppe fördern oder, anders ausgedrückt, die das Verhalten innerhalb der Regeln des Gruppenlebens lenken. Man kann mit einiger Sicherheit anneh10 Während der letzten 10 Jahre haben Biologen und andere Wissenschaftler intensiver als zuvor nicht-menschliche Primaten auf dem Gebiet des Verhaltens als Forschungsobjekte benutzt. In den USA entstanden eine Reihe von Primatenforschungsinstituten, in denen die Korrelation zwischen dem Verhalten und den gleichzeitig stattfindenden physiologischen Vorgängen, die das Verhalten bestimmen, erforscht wird. Eines der bedeutendsten befindet sich in Stanford (Kalifornien). 11 Der Begriff "Brutpfiege" wird hier in einem umfassenden Sinne gebraucht, z. B. auch für alle Verhaltensweisen, die mit der Aufzucht und Pfiege der Neugeborenen bis zur Erreichung ihrer Selbständigkeit im Zusammenhang stehen. 12 M. A. Edey, The Emergence of Man: The Missing Link, Time-Life, New York 1972, S.132-133. Erkenntnisse jüngsten Datums in der Molekularbiologie zeigen einen engen Zusammenhang im genetischen Erbgut von Mensch und Affen. Drei Methoden werden hauptsächlich im Laboratorium benutzt, um den Abstand zwischen den verschiedenen Arten zu messen: Eine Methode untersucht die in Genen vorhandene Desoxy-Nukleinsäure (DNS), deren (chemische) Struktur als Doppelhelix bezeichnet wird. Die beiden Fäden der Doppelhelix können voneinander getrennt werden, und die einzelnen Fäden jeweils von Mensch und Affe können eine neue Doppelhelix bilden. Die chemischen Verbindungen zwischen den beiden Fäden stellen sich nur da nicht wieder her, wo eine chemische Differenz besteht. Der biologische Verwandtschaftsgrad zwischen Mensch und Affe wird durch die Anzahl der chemischen Verbindungen bestimmt, die nicht zustande kommen. Ob ein Lebewesen sich zu einem Menschen entwickelt oder zu einem Affen, hängt von solchen Verschiedenheiten seiner DNS ab. Eine zweite Methode bestimmt die evolutionäre Distanz zwischen zwei Arten durch den Vergleich ihrer Proteinmoleküle. Bei Mensch und Schimpanse ist die Amino-Acid-Sequenz des Hämoglobin identisch, während sie zwischen Mensch und Pferd ungefähr an 43 Punkten differiert. Eine dritte Methode, um den Grad der Verwandtschaft zwischen verschiedenen Arten zu bestimmen, beruht auf Erkenntnissen der Immunologie und vergleicht die Antikörperreaktionen gegenüber Protein. Allen drei Methoden zufolge ist der Schimpanse der nächste Verwandte des Menschen und der Gorilla der zweitnächste in der evolutionären Entwicklung.

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men, daß der Mensch in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung die unausgesprochenen (impliziten) Regeln13 des Gruppenlebens in Worte faßte und daß er mit Hilfe seines Verstandes diese Regeln formalisierte und abstrahierte: Aus den impliziten Regeln des menschlichen Gruppenlebens entstanden also über einen Zeitraum von hunderttausenden von Jahren Rechtsnormen. Diese Rechtsnormen waren Ausdruck jener Verhaltensweisen, die teilweise ererbt, teilweise tradiert das Gruppenleben regelten. Als Rechtssätze konnten sie nur insoweit wirksam sein, als die einzelnen Gruppenmitglieder fähig und willens waren, ihnen Folge zu leisten, oder dazu gezwungen werden konnten. Mit anderen Worten: Die Wirksamkeit der Rechtssätze war vom Rechtsverhalten des Einzelnen abhängig. Im Rahmen dieser Arbeit wird Rechtsverhalten als Antwortverhalten gegenüber Regeln und Rechtssätzen verstanden, ist also ein Verhalten, das sich vom strikten Gehorsam über Umgehung oder Nichtbeachtung der Regeln und Rechtssätze bis zum Ungehorsam erstreckt. Im folgenden wollen wir von der Annahme ausgehen, daß alles menschliche Verhalten durch zwei Faktoren bestimmt wird, nämlich entweder durch Tradition (erlerntes Verhalten) oder durch das genetische Programm (angeborenes Verhalten) oder - in den meisten Fällen - durch eine Kombination dieser beiden Faktoren; ferner wollen wir annehmen, daß biologisch programmiertes Verhalten (die angeborenen Triebe t4 ) resistenter ist gegenüber Versuchen, es zu regulieren. Daraus folgt, daß man mit einem hohen Grad des Ungehorsams rechnen kann, wenn Rechtssätze eine Verhaltensweise vorschreiben, die mit den angeborenen Trieben in Konflikt steht. Umgekehrt, wenn Rechtssätze (und das vom Gesetz vorgeschriebene Verhalten) die Funktionen der angeborenen Triebe komplementieren, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß diese Rechtssätze von der Mehrzahl befolgt werden. Auf diesen Gedankengängen aufbauend, läßt sich die Behauptung aufstellen, daß das menschliche Verhalten gegenüber dem Recht oder den Rechtssätzen einerseits vom Willen des Einzelnen und seiner Veranlagung beeinflußt wird, und daß andererseits Gesetzgebung und Rechtsprechung von den Werturteilen der GruppeIS bestimmt werden. 13 "Implicit ruIes" sind diejenigen Regeln, die von den Mitgliedern einer Gruppe befolgt werden und ohne die die Gruppe nicht funktionieren könnte, obwohl sie (für die Wahrnehmung des menschlichen Beobachters) nicht klar ausgedrückt werden. Demgegenüber sind "explicit rules" (für den menschlichen Beobachter) klar erkennbar. 14 s. Anm. 9 im Abschnitt I. IS Gesetze, die den Genuß von Alkohol oder den Gebrauch von narkotischen Mitteln verbieten, sind Beispiele für Gesetze, die auf Werturteilen jener Gruppen beruhen, die auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung beherrschenden Einfluß hatten oder noch immer haben. Tradierte Verhaltensweisen (Konsum von Alkohol) oder ein Wechsel im Verhalten (Gebrauch von



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I. Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung

Werturteile sind in allen Formen des Rechts enthalten, in den Tabus primitivster Völker und in den religiösen Geboten, die Jahrtausende lang das Rechtsgefühl der Menschen beeinflußten, teilweise als Gesetz anerkannt wurden und in einzelnen Ländern noch immer anerkannt sind. Werturteile sind die Grundlagen der komplizierten Rechtssysteme der industrialisierten westlichen Welt, und Werturteile bestimmen die Regeln, nach denen zahlenmäßig kleine Gruppen ihr Zusammenleben ordnen. Wo immer Angehörige einer Gruppe Werturteile bilden über akzeptables Verhalten, selbst wenn dies nur zum Zwecke der Selbsterhaltung geschieht, so verdichten sich diese Werturteile zu einem rudimentären Begriff von Recht und Unrecht, zu einem Gerechtigkeitsbegriff. Dieser Gerechtigkeitsbegriff wird zur Richtschnur des individuellen Verhaltens innerhalb der Gruppe, er wird zum sine qua non des Rechtsverhaltens. Im Hinblick auf den kontinuierlichen Wandel, dem die Umgebung des Menschen unterworfen ist, kann dieser Gerechtigkeitsbegriff nie ein konstanter, fixierter Maßstab sein; im Gegenteil, er muß durch einen dynamischen cerebralen Mechanismus geformt werden, der im Einzelnen von den Sinneswahrnehmungen stimuliert und aktiviert wird, und der gleichzeitig auf diese Eindrücke nach den Regeln des biologisch programmierten Verhaltens reagiert. über die Natur dieses Mechanismus - den wir hier Gerechtigkeitssinn nennen wollen - und seine Evolution im Homo sapiens haben sich bereits zahlreiche namhafte Wissenschaftler geäußert: Der Biologe Waddington stellte z. B. in seinem "Ethical Animape" die Hypothese auf, daß die Evolution des Menschen von der Ausbildung eines autoritätstragenden Systems abhängig sei. Dieses System habe die Aufgabe, das Kleinkind auf den Empfang der übermittelten Information vorzubereiten und seine Entwicklung so zu beeinflussen, daß es dazu neigt, Meinungen in einer Form zu bilden, die wir ethisch nennen. Albert Ehrenzweig17 , ein Rechtsgelehrter, der auf Freudschen Theorien aufbaute, betrachtete die Entstehung der ersten Ethik als ein Antwortverhalten des Kleinkindes, das er einen angeborenen Trieb nennt. Ehrenzweig glaubte, daß für die Entwicklung dieses Triebes und seine Richtung die Erlebnisse des Kleinkindes wichtig sind, und zwar im Zusammenhang mit dem Verhalten der Familie und der Reaktion der Familie gegenüber dem Verhalten des Kindes, wenn es Befehle oder AnweisunNarkotika) innerhalb eines großen oder zunehmenden Teils der Bevölkerung, deren Werturteile nicht mit denen der Gesetzgeber oder Richter übereinstimmen, können zu einer Redeftnition der ethischen Grundlagen führen, auf denen sich die Schöpfung und Anwendung des Rechts aufbaut. Andererseits kann eine solche Haltung auch zu stärkeren Polizeimaßnahmen führen oder die Gesetze werden nicht mehr angewandt oder neue Rechtssätze treten an ihre Stelle. 16 C. H. Waddington, The Ethical Animal, Chicago 1967. 11 Albert Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft, Berlin 1973.

I.

Allgemeine Betrachtungen zur Rechtsentwicklung

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gen erhält. Konrad Lorenz schreibt, daß die "instinktiven Antriebe des Menschen und deren kulturbedingte verantwortliche Beherrschung ein System bilden, in dem die Funktionen beider Untersysteme genau aufeinander abgestimmt sind"18. Dieser ethologischen Deutung zufolge resultiert das menschliche Antwortverhalten gegenüber dem Recht aus der Wechselwirkung zwischen den angeborenen Trieben und dem individuellen Rechtssinn, der wiederum von der individuellen Erfahrung im Gruppenleben geformt wird. Dieser cerebrale Mechanismus - der Gerechtigkeitssinn - als Kontrollsystem des Verhaltens ist in seiner Wirkung durch die Triebe, die er zu regulieren versucht, beschränkt. Mit anderen Worten: Genau wie das Recht, so ist der Kontrollmechanismus nur soweit erfolgreich, als das geplante Antwortverhalten die angeborenen Triebe komplementiert. Rechtssoziologische Studien über die Effektivität des Rechts lassen diesen Aspekt bisher völlig außer acht, obwohl Statistiken und anderes von der Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung als wissenschaftlich wertvoll akzeptiertes Beweismaterial für die Wahrscheinlichkeit sprechen, daß diese biologischen Einflüsse für die Rechtsentwicklung von Bedeutung sind. Der heutige Stand der Wissenschaft gestattet es uns vielleicht noch nicht, gesetztes Recht auf dieser Basis zu entwickeln. Jedoch liegen auf verschiedenen Gebieten überzeugende Beweise vor, die uns im Hinblick auf angestrebte Änderungen unserer Rechtsordnung zur Vorsicht mahnen sollten. Dies trifft ganz besonders auf das Familienrecht zu und soll später noch ausführlich erörtert werden. Sicherlich können biologische Erkenntnisse als zusätzliche Hilfsmittel die wissenschaftlichen Methoden der Soziologie im allgemeinen und der Rechtssoziologie im besonderen bereichern und zu einer besseren Erfolgschance bei der Wahl zwischen Alternativen beitragen.

18 Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 1973, S. 55.

11. Erkenntnisse und Theorien der Verhaltensforschung Vergleiche zwischen menschlichem und tierischem Verhalten wurden zu allen Zeiten gemacht, soweit wir aus schriftlichen Aufzeichnungen schließen können. Die Ähnlichkeit oder der Kontrast zwischen Mensch und Tier wurde stets unterschiedlich interpretiert, jeweils beeinfiußt von religiösen oder philosophischen Lehrmeinungen. Die auf Darwins Evolutionstheorie aufbauenden Erkenntnisse der modernen Biologie beweisen, daß viele dieser Interpretationen falsch waren. Natürlich müssen wir uns stets vergegenwärtigen, daß der Sprung vom Tierreich zu heute lebenden menschlichen Gruppen, wie primitiv sie auch immer sein mögen, entwicklungsgeschichtlich einen sehr langen Zeitraum umschließt. Selbst die primitivsten heute lebenden Menschengruppen sind im Vergleich zum Schimpansen evolutionär auf derselben Entwicklungsstufe wie die Bevölkerung der sogenannten zivilisierten Welt. Darüber hinaus müssen wir uns bei Vergleichen zwischen Mensch und Tier, selbst zwischen dem Menschen und dem Schimpansen, der von allen Tieren dem Menschen biologisch am nächsten verwandt ist, darüber im klaren sein, daß seit der Spaltung dieser beiden Arten (Mensch und Schimpanse) vom gemeinsamen Familienstamm viele Millionen Jahre1 vergangen sind und beide Arten sich inzwischen getrennt entwickelten. D. h. auch der Schimpanse kann sich durch Mutation und Selektion inzwischen verändert haben, und dies ist sogar sehr wahrscheinlich. Schimpansen können daher heute Verhaltensweisen zeigen, die im frühen Menschen oder dem gemeinsamen Vorfahren nicht vorhanden waren. Alle Vergleiche zwischen Verhaltensweisen, die wir bei anderen Arten beobachten können, mit denen der menschlichen Gesellschaft, sind daher oft nur spekulativer Natur. Einige Ähnlichkeiten im Verhalten sind jedoch so eindrucksvoll, daß der spekulative Vergleich uns gewisse Auf1 M. A. Edey (Anm. 12 im Abschnitt I), S. 136. Sarich und Wilson an der Universität von California in Berkeley haben eine Anzahl molekular-biologischer Nachweise zusammengetragen, um den evolutionären Zeitablauf zu bestimmen. Ihren Erkenntnissen zufolge vollzog sich die Trennung zwischen Hominid und Affen am Primaten-FamiIienstammbaum erst vor 4 Millionen Jahren. Dies stimmt nicht überein mit den Ansichten der Paläontologen, denen zufolge die Trennung bereits vor 50 Millionen Jahren erfolgte.

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schlüsse über menschliches Verhalten geben kann. Bei diesen Vergleichen gilt es, die nach der Aufgabelung im Stammbaum auftretenden Merkmale in "Neuerwerbungen" und "Althergebrachtes" zu trennen 2 • Gemeinsames Althergebrachtes war schon beim gemeinsamen Vorfahren da. Soweit im folgenden Beispiele des Tierverhaltens angeführt werden, erfolgt dies nicht im Hinblick auf Vollständigkeit oder als Beweisführung. Sie werden lediglich als repräsentativ für eine bestimmte ethologische Sichtweise oder als charakteristisch für die Vielfalt von Verhaltensmöglichkeiten betrachte~. Eine wesentliche Erkenntnis der Biologie, für deren Richtigkeit gerade in jüngster Zeit zahlreiche Beweise erbracht wurden, betrifft die Korrelation zwischen Verhalten und physiologischen Vorgängen. Wir wissen heute, daß alles Verhalten, ob biologisch programmiert oder erlernt oder eine Kombination von beidem, von cerebralen Prozessen gesteuert wird. Jüngste Forschungsergebnisse in verschiedenen Zweigen der medizinischen Forschung erbrachten Beweise für diese Annahme. Z. B. wurde festgestellt, daß Gene, die programmiertes Verhalten bestimmen, auch für die ontogenetische Entwicklung des Hirns verantwortlich sind4 • Mit der Untersuchung dieser cerebralen Prozesse beschäftigen sich heute eine große Anzahl bedeutender Wissenschaftler auf vielen Gebieten der Medizin und Biologie. Und immer mehr wird deutlich, daß diese Vorgänge im menschlichen Hirn meist sehr komplexer Natur sind und daß viele verschiedene Mechanismen, miteinander verflochten, als W. Wicker (persönliche Mitteilung). In der modemen Literatur, die soziale und gesellschaftliche Probleme zum Gegenstand hat, werden oftmals Vergleiche zum Tierverhalten gezogen und dabei wird auf ein bestimmtes, vielleicht nur einmalig in einem Experiment beobachtetes Tierverhalten Bezug genommen. Leider werden auf diese Weise - gleichgültig ob die Einstellung des Verfassers zur Ethologie positiv oder negativ ist - die Ziele und das Wesen der Ethologie häuflg verfälscht und entstellt. Eine Einzelbeobachtung kann niemals die Grundlage für Verallgemeinerungen sein und sollte nicht zur Beweisführung benutzt werden; besonders wenn es sich um ein Experiment an einem in Gefangenschaft lebend~n Tier handelt, da Freiheitsbeschränkung oder Gefangenschaft immer das Verhalten - bei Mensch und Tier - verändert. 4 S. Benzer, From the Gene to Behavior, in Journal of the American Medical Association., 15. November 1971. In seinem Experiment benutzte Benzer mutierte Fruchtfliegen (Drosophila) und zeigte, daß der Sitz derjenigen Verhaltensweisen, die sich im Paarungsverhalten oder im TagesNacht-Rhythmus zeigen, auf jene Gene zurückzuführen sind, die für die Entwicklung des Kopfes verantwortlich sind. Obwohl das Nervensystem der Fruchtfliege ein völlig anderes ist als das des Menschen, bestehen gewisse Ähnlichkeiten, z. B. das Vorhandensein von Synapsen und TransmitterMolekülen im Nervensystem bei der Arten. Gewisse Sinne, z. B. Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, das Gefühl für Gravität und Zeit, sind auch in der Fruchtfliege bereits vorhanden. Die Fruchtfliege kann daher als ein nützliches Objekt für Experimente angesehen werden, die dazu dienen, bestimmte Verhaltensbestandteile zu analysieren, die auch für den Menschen relevant sind. 2

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11. Erkenntnisse und Theorien der Verhaltensforschung

Kontrollsysteme auf eine Balance im menschlichen Verhalten hinwirken. Ebenso wird deutlich, daß menschliches Verhalten aus einer großen Anzahl verschiedener Komponenten zusammengesetzt ist und komplizierte Systeme die einzelnen Verhaltenselemente kontrollieren. Ferner, daß alle diese Systeme innerhalb bestimmter Grenzen ein Gleichgewicht zu schaffen bemüht sind. Diese Interaktion der einzelnen Systeme scheint einem Prinzip der Toleranz oder der begrenzten Flexibilität zu folgen s• Begriffe wie Balance, Gleichgewicht, Harmonie sind das stets wiederkehrende Leitmotiv der natürlichen Ordnung, soweit der menschliche Geist sie bisher erkennen konnte. Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist letzten Endes auch die Aufgabe der Rechtsordnung. Diese Aufgabe ist zentral für alle Gebiete der Rechtswissenschaft und Rechtspflege. Im wesentlichen beschäftigen sich Gesetzgeber und Richter damit, menschliche Beziehungen auszugleichen, Konflikte zu lösen und dem Einzelnen einen Maßstab zu geben, der es ihm ermöglicht, die auf seine Handlungen folgenden Gegenhandlungen vorherzusehen. In vielen Tierarten finden wir Mechanismen, die demselben Zweck (der Vorhersehbarkeit der Gegenhandlung) dienen und die sich teilweise konvergent6 entwickelt haben. Es sind dies Verhaltensmechanismen, die manchmal frei übertragbar sind, d. h. sie können, nachdem sie sich in einer Situation gut bewährt haben, auch in anderen für die Arterhaltung wesentlichen Situationen eingesetzt werden. Hierzu gehören Verhaltensweisen, die sich in der Brutpflege bewährten. Sie werden manchmal auch dazu benutzt, die Paarbildung oder Paarbindung zu erleichtern7 , oder sie werden eingesetzt, um Ag5 In diesem Zusammenhang liegt der Vergleich mit Heisenbergs Unschärferelation nahe; jedoch sind Vergleiche dieser Art, wenn überhaupt, so nur sehr begrenzt treffend. Dieser Hinweis erfolgt hier, weil sowohl J. Bronowski, ein Naturwissenschaftler, als auch Ernst E. Hirsch, ein Rechtswissenschaftler, auf diesem physikalischen Prinzip philosophisch.e Gedankengänge aufbauen. Bronowski (The Ascent of Man) sieht in Heisenbergs "Principle of Uncertainty" das Prinzip der Toleranz, das auch im menschlichen Zusammenleben maßgebend sein sollte. Hirsch (Die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild, S.79-81) interpretiert Heisenbergs "Ungewißheitsrelationen" dahin, daß "für die Bedürfnisse des praktischen Lebens die als Naturgesetz oder Gesetzmäßigkeiten bezeichneten Wahrscheinlichkeiten und Erwartungen als empirische Gewißheiten angenommen werden". Er folgert daraus, daß auch im Sozialleben Freiheit und Kausalität, Indeterminismus und Determinismus keine gegensätzlichen, miteinander unvereinbaren Begriffe sind, sondern daß sie sich gegenseitig ergänzen. e Konvergente Entwicklung bedeutet die Entstehung ähnlicher Merkmale oder Verhaltensweisen aus verschiedenen Vorzuständen bei nicht näher verwandten Tiergruppen; homologe Entwicklung baut auf einem gemeinsamen Erbgut auf in nahverwandten Arten. 7 Vögel benutzen das Füttern sowohl bei der Brutpflege als auch beim Werbeverhalten. In primitiven Menschengruppen wird den kleinen Kindern von der Mutter manchmal direkt von Mund zu Mund zerkaute Nahrung gereicht; man nimmt an, daß sich aus diesem Verhalten der Kuß entwickelte.

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gression zu hemmen. Bei den Schimpansen wird z. B. die geduckte Haltung, die vom Weibchen bei der Kopulation eingenommen wird, von allen Tieren als Zeichen der Unterwürfigkeit benutzt. Die erwartete und meist auch eintretende Gegenhandlung ist in diesem Fall ein Unterlassen, nämlich die Beendigung der Aggression. Die Feststellung, daß cerebrale Mechanismen einzelne Verhaltensweisen mittels hormoneller Prozesse regulieren, wurde auch von R. Trivers in seiner Arbeit" The Evolution of Reciprocal Altruism 8 " gemacht. Da Trivers und andere zur Zeit in Harvard arbeitende Biologen hoffen, daß diese Theorie zu einer neuen sozialen Theorie ausgearbeitet werden kann, soll hier kurz darauf eingegangen werden. Die Suche nach Erklärungen für Verhalten im Tierreich, das dem menschlichen Beobachter als altruistisch erscheint, ein Verhalten, das sich nicht mit Darwin'scher Theorie vereinbaren läßt9 , begann schon vor vielen Jahrzehnten. Konrad Lorenz beschrieb dieses Verhalten 1954 und nannte es "moral-analoges Verhalten geselliger Tiere". Seine Hinweise auf die ausgleichende Wirkung der Rangordnung, die sich zu Gunsten der Schwächeren auswirkt (altruistisch), sind von besonderem Interesse, da später in anderem Zusammenhang noch ausführlich auf die Rangordnung als eine der Determinanten der Gruppenordnung Bezug genommen wird. Wickler10 führte diese Gedanken weiter und sieht die Erklärung für altruistisch erscheinendes Verhalten im Tierreich darin, daß Hilfe für die Nachkommenschaft zur Erhaltung des in den Genen gespeicherten Erbgutes dientl1 • Dies bedeutet, daß der Einzelne im Wettstreit um den reproduktiven Erfolg nicht nur für sein eigenes Leben kämpft, sondern auch für die Erhaltung des in seinen Genen gespeicherten Erbguts, das auch in seiner Nachkommenschaft je nach dem Grad der Verwandtschaft (und der dadurch bestimmten Vermischung mit anderem Erbgut) in bestimmten Proportionen vorhanden ist. Trivers stellte diese Proportionen in Formeln dar und entwickelte auf dieser Basis eine Theorie, die den selektiven Wert (im Sinne Darwin'scher Theorie) menschlicher altruistischer Eigenschaften erklärt. Und zwar dienen diese altruistischen Eigenschaften, auf der Basis der Gegenseitigkeit, zunächst der Erhaltung und Vermehrung des in den Genen programmierten Erbguts (Mendel's 8 Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, in Quarterly Review of Biology, Vol. 46 No. 4, March 1971. 9 Das Prinzip der natürlichen Auslese im Sinne Darwins muß auf den reproduktiven Erfolg des Einzelnen bezogen werden. 10 W. Wickler, Die Biologie der Zehn Gebote, München 1971. 11 Diese Gedankengänge bauen auf Erkenntnissen der Genetik auf. Dieser Wissenschaftszweig entwickelte sich erst während der letzten 50 Jahre, obwohl die Grundlagen schon Jahrzehnte zuvor von Mendel geschaffen worden waren.

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11. Erkenntnisse und Theorien der Verhaltensforschung

Theorie). Nur in diesem Sinne hatten Träger dieser Eigenschaften einen selektiven Vorteil und nur auf dieser Basis konnte diese Eigenschaft - Altruismus - eine allgemein verbreitete menschliche Eigenschaft werden. Trivers sieht in den familiären Bindungen (Mutter-Kind-Band und Zuneigungen zwischen Geschwistern, die besonders auch beim Schimpansen vorhanden sind) einen Faktor, der zur Entwicklung dieser Fähigkeit, altruistisch zu handeln, nötig war. Familiäre Bindungen sind zweifellos neben der Dominanzordnung ein Hauptfaktor in der Aufrechterhaltung der Gruppenordnung, die wiederum ohne Gegenseitigkeit der Handlungen und Hilfeleistungen zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern nicht denkbar ist.

In diesem Zusammenhang sei noch kurz die Arbeit von Olds 12 erwähnt, die sich mit den biologischen Grundlagen der Bindungen beschäftigt und hormonelle Prozesse untersucht. Olds geht von der Voraussetzung aus, daß das Wohlgefühlszentrum im Hirn bei der Entwicklung von Bindungen eingeschaltet sein muß, da die Belohnung (reward) des Wohlgefühls (pleasure) den Mechanismus, der die Bindung herstellt, stimuliert. Und somit kommen wir zu einer weiteren wesentlichen Lehrmeinung der Ethologie, die im Laufe dieser Arbeit noch mehrfach erwähnt werden wird, nämlich der Theorie, daß alle Verhaltensweisen, die für die Arterhaltung von besonderer Wichtigkeit sind, ein Wohlgefühl erzeugen l3 • So wird z. B. die erogene Zone an der weiblichen Brust erklärt. Das Wohlgefühl der Frau, das beim Saugen an der Brustwarze entstehtl 4, veranlaßte die Frau der Frühzeit, dem Kind das Saugen zu gestatten. Und ohne dieses Saugen zur Erlangung der Milch konnte das Kind in jenen Zeiten nicht überleben.

In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß elmge Biologen darauf hingewiesen haben, daß das durch Balance vom optischen Nervensystem her ausgelöste angenehme Gefühl die Entwicklung des ästhetischen Sinns erklärt. Ein rudimentärer Schönheitssinn scheint selbst bei Affen zu bestehen. Dieser beruht auf dem angenehmen Gefühl, das rhythmische Armbewegungen und die erzielte Balance zwischen links und rechts beim Malen hervorrufen. Capuchin-Affen malen freiwillig, wenn man ihnen einmal gezeigt hat, wie sie das Material benutzen können. Sie malen bestimmte Formen, die für das menschliche Auge angenehm sein können. Daß sie dies tun, mag auf rhythmische Armbewe12 James OIds, The BioIogical Basis of Attachments, Notes Leakey Foundation Lecture, Nov. 9, 1974, California Institute of 13 Das Prinzip des Wohlgefühls. I. Auch hier ein frei übertragbarer Verhaltensmechanismus: weiblichen Brust im Zusammenhang mit sexuellem Verhalten sich aus dem Brutpfiegeverhalten.

for L. S. B. Technology. Küssen der entwickelte

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gungen zurückzuführen sein, "jedoch ist es der Rhythmus, der angenehm ist, genau wie die Balance zwischen rechts und links"15. Dies mag lediglich auf bestimmte Eigenheiten des optischen Nervensystems der Affen zurückzuführen sein. Aber es ist wahrscheinlich, daß diese Eigenschaft des Hirns auch die Grundlage für die menschliche Freude an einer Balance ist!'.

15 M. und R. Burton, The International Wildlife Encyclopedia, New York 1969, S. 369. 11 Ebd.

III. Rechtsverhalten und Gruppenordnung Das Rechtsverhalten des Menschen wird, wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt wurde, durch einen Kontrollmechanismus reguliert, in dem der Gerechtigkeitssinn eine wesentliche Rolle spielt. Rechtsverhalten ist ein Anwortverhalten, das verschiedene Formen annehmen kann: strikten Gehorsam, Umgehung oder Nichtbeachtung der Regeln und Rechtssätze oder Ungehorsam. Alle diese Verhaltensformen gibt es auch in nicht-menschlichen Arten. Deshalb ist es von Interesse, dieses Antwortverhalten gegenüber Regeln unter verschiedenen Umweltbedingungen und in verschiedenen Arten zu vergleichen. Wo Gruppen bestehen, besteht auch eine Ordnung, nach deren Regeln die einzelnen Gruppenmitglieder handeln. Wir finden daher bei allen in Gruppen lebenden Tieren ein Antwortverhalten auf Regeln. Dieses Antwortverhalten hat sich beim Menschen zum Rechtsverhalten entwickelt, wobei der Gerechtigkeitssinn ein wesentlicher Bestandteil des Systems wurde, das dieses Verhalten reguliert. Wir wissen, daß der frühe Mensch in kleinen Gruppen lebte. Zumindest muß eine Familiengruppe bestanden haben, da das neugeborene Kind völlig hilflos war und für viele Jahre - bis zu seiner sozialen Reife - der Hilfe und Pflege der Mutter bedurfte, die in diesem Zeitraum noch andere Kinder gebar, welche ebenfalls auf ihre Pflege angewiesen waren1• Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß neben der Familieneinheit auch noch andere Gruppen bestanden. Wenn wir voraussetzen, daß das Verhalten jener frühen Menschen innerhalb der Gruppe bestimmten Regeln unterworfen war, jeweils an ge paßt an die gegebenen Umweltbedingungen, und daß die Vorfahren des Menschen sich im ganz frühen Stadium ihrer Entwicklung zunächst mit Lauten, Gesten und Gebärden verständigten, dann folgt daraus, daß mit der Entwicklung der Sprache und der Fähigkeit, abstrakt zu denken, zu erklären und zu planen, diese Regeln ihren Ausdruck im primitiven Recht fanden. Wir wissen, daß die Phantasie des Menschen es ihm ermöglichte, unter verschiedenartigeren Umweltbedingungen zu überleben als alle anderen Primaten zusammen. Wir können weiterhin annehmen, daß die Phantasie bereits in frühester Zeit den menschlichen Glauben an das 1 Welche Formen und Strukturen die menschliche Familie in jenen Zeiten wahrscheinlich angenommen hatte, soll später noch ausführlich besprochen werden.

IH. Rechtsverhalten und Gruppenordnung

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übernatürliche förderte. Glaube ist eng verwandt mit Gefühlen der Ehrfurcht und Furcht. Das Bedürfnis, mit der unbekannten Macht auf gutem Fuß zu leben und das unabänderliche Wirken dieser Macht zu akzeptieren, ist wiederum eng verwandt mit der Bereitschaft, Autorität und Macht zu respektieren. Die Phantasie trug somit dazu bei, das primitive Recht zu stärken und den Rechtsnormen Überzeugungskraft innerhalb der Gruppe zu geben. Nach Darwin'scher Theorie muß die Fähigkeit, Rechtssätze zu formulieren, wie alle Regelmäßigkeiten, die einer Tierart gemeinsam sind, deshalb bestehen, weil sie für die Evolution der Art von Bedeutung ist. Die dem Menschen allein zur Verfügung stehende Fähigkeit, Rechtssätze zu formulieren, ist zentral für das Entstehen der verschiedenen Kulturen, reich an symbolischem Gehalt und komplexen Traditionen, die von Generation zu Generation überliefert werden. In dieser Entwicklung gewann die Fähigkeit, Werturteile zu bilden, immer größere Bedeutung, da Werturteile den Menschen befähigten, zwischen den verschiedenen Möglichkeiten des kulturellen Verhaltens zu wählen. Eine besondere Folge dieser Fähigkeit, Werturteile zu bilden, war die Formation einer sozialen Maschinerie innerhalb der Gruppe, die neue Regeln aufstellte, und die deren Befolgung notfalls mittels Zwang durchsetzte und Ungehorsam bestrafte. In diesem Sinne wurde Rechtsverhalten ein Teil des kulturellen Verhaltens2 • Wir können ferner annehmen, daß die frühen menschlichen Gruppen eine Dominanzordnung hatten und daß diejenigen, die in der Lage waren, die Regeln am besten zu formulieren, einen verhältnismäßig hohen Rang einnahmen, der ihnen wiederum ermöglichte, die Befolgung der Regeln nötigenfalls mit Gewalt zu erzwingen3 • 2 Rechtssoziologen betonen heute die kulturellen Einflüsse auf das Recht, so z. B. Lawrence M. Friedman, Legal Culture and Social Development, in Rutgers Law Review 24 (1969), No. l. Der Autor vergleicht verschiedene Situationen, in denen kulturelle Einflüsse zur Effektivität des Rechts beitragen, z. B.: "Es scheint, daß Amerikaner willens sind, Steuern zu zahlen, wenn dies von ihnen verlangt wird; sie umgehen diese Gesetze, aber bleiben innerhalb eines akzeptablen Rahmens. Auf der anderen Seite bringt der Versuch, mittels des Rechts Ehebruch in den USA zu verhindern, völlig andere Probleme der Vollstreckung. Niemand gehorcht den Gesetzen, die Ehebruch verbieten, nur weil es solche Gesetze gibt ... Die Einmischung des Staates in privates sexuelles Verhalten wird kulturell abgelehnt." 3 Hans Kummer, Primate Societies, New York 1971, S.88-89. Obwohl nicht alle sozialen Rollen unter den Primaten von der Dominanzordnung abhängen, zeigen doch vergleichende Studien des Primatenverhaltens (z. B. bei den Makaken, Schimpansen und Pavianen), daß alle Primaten, die in Gruppen leben, auf ihren täglichen und der Jahreszeit angepaßten Märschen zu Nahrungsmittelquellen bestimmten Mitgliedern der Gruppe folgen, die damit eine Führungsrolle übernehmen. Diese Führungsrolle ist nicht permanent und wird nicht immer von einem einzelnen Individuum ausgeübt. Aber die Entscheidungen, die für die gesamte Gruppe von Bedeutung sind,

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Eine Voraussetzung kulturellen Verhaltens, nämlich die Bereitschaft, tradierte Information aufzunehmen, ist nicht nur im Menschen, sondern auch in Tieren vorhanden. Säugetiere, besonders Primaten, deren Verhalten eine gewisse Plastizität zeigt und nicht, wie das der Bienen oder Vögel, nur von starren, angeborenen Verhaltensmechanismen diktiert wird, sind in der Lage, wie Beobachtungen in der freien Natur zeigten, neue Verhaltensformen zu entwickeln~. Ein bekannter Fall spielte sich in einer Gruppe von Makakenaffen ab, die seit längerer Zeit von japanischen Forschern beobachtet werden. Diese Gruppe eignete sich im Laufe von 6 Jahren eine neue Methode der Nahrungsaufnahme an, die ursprünglich von einem einzelnen jungen Mitglied der Gruppe begonnen wurde. Dieser Brauch breitete sich zunächst unter den jüngeren Mitgliedern der Gruppe aus, wurde dann von deren Müttern imitiert, und auch die älteren Schwestern und Brüder ahmten die Bräuche der Jüngeren nach. Als die jüngere Generation heranwuchs und selbst Nachkommen hatte, wurde der Brauch auch von diesen Nachkommen fortgeführt 5 • Selbstverständlich ist der Grad, in dem der Homo sapiens Inforwerden stets von Individuen getroffen, die einen hohen Rang in der Dominanzordnung einnehmen. 4 John F. Eisenberg, The Elephant: Life at the Top, in The Marvels of Animal Behavior, S. 191. Die Herde, in der die jungen Elefanten heranwachsen, verfügt über ein tradiertes Wissen, das lebenswichtig für sie ist: der Weg zu Wasser- und Nahrungsquellen, die Märsche zu neuen Gebieten je nach den Anforderungen der Jahreszeit. Die Elefantenherde ist in der Lage, solche Informationen zu speichern, weil das Hirn des Elefanten (dreimal so groß wie das menschliche Hirn) die Fähigkeit besitzt, durch Imitation zu lernen und diese Information zu speichern. Da der Elefant langlebig ist und langsam heranreift, können mehrere Generationen in derselben Herde zusammenleben; somit wird die Lernmöglichkeit des jungen Elefanten erhöht. 5 Peter A. Marler, The Drive to Survive, in The Marvels of Animal Behaviol', S. 42. Seit 1952 wird einer Gruppe von Makaken an einer Futterstelle am Strand eine zusätzliche Nahrungsquelle, nämlich Bataten oder Süßkartoffeln verabreicht. Eines Tages sah man, daß Imo, ein eineinhalbjähriges weibliches Tier, den Sand von einer Batate abwusch. Dieses neue Verhalten wurde zunächst von einer Spielgefährtin imitiert und später von Imos Mutter. Der Brauch, Bataten zu waschen, dehnte sich weiter aus. Zunächst verbreitete er sich von den jungen Tieren auf die Mütter und von jüngeren Geschwistern auf ältere. Nach Ablauf von 4 Jahren hatten nur solche erwachsenen Tiere gelernt, Bataten zu waschen, die Mütter der Jungen waren, die Bataten wuschen. Als die jungen Tiere selbst Mütter wurden, wateten sie in das Meer, um dort Bataten zu waschen, während ihre Jungen sich an ihnen festhielten. Von diesem Zeitpunkt an imitierten die Jungen ihre Mütter, als ob Affen schon immer Bataten gewaschen hätten. Makaken essen auch Weizenkörner, die am Strand liegen und sich mit dem Sand vermischen. Die Mitglieder von Imos Gruppe suchten mühsam jedes einzelne Weizenkorn aus dem nassen Sand heraus. Eines Tages beobachtete man, wie Imo im Alter von 4 Jahren eine Handvoll Sand, mit Weizenkörnern gemischt, in das Meer warf und die schwimmenden Weizenkörner wieder auffischte, nach dem der Sand gesunken war. Innerhalb der nächsten 6 Jahre folgten die meisten jungen Makaken in einem Alter von 2, 3 oder 4 Jahren diesem Brauch, den Weizen vom Sand zu trennen. Erwachsene männliche Makaken derselben Gruppe begaben sich gewöhnlich nicht in das

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mationen übermittelt und sich bei ihm Werturteile einschalten, bevor er solche Informationen akzeptiert oder ablehnt, viel höher als in jeder anderen Spezies, weil das menschliche Hirn die Fähigkeit hat, Symbole und abstrakte Gedanken zu produzieren. Genau wie andere Teile der menschlichen Anatomie sich änderten, um spezifische Funktionen zu übernehmen, so wuchs auch das Hirn zu seiner gegenwärtigen Größe und Komplexität, weil ein großes Hirn in der menschlichen Evolution der Anpassung förderlich war und somit einen selektiven Vorteil hatte. Ausgrabungsfunde, wie die von Louis Leakey in Olduvai Gorge6 und - jüngsten Datums - die Funde seines Sohnes Richard am Lake Rudolph in Ost-Afrika, zusammen mit neuen wissenschaftlichen Methoden, das Alter dieser Funde zu bestimmen, erbrachten Beweise über die evolutionäre Entwicklung des Hirns7 • Werkzeuge und Waffen, die gleichzeitig mit menschlichen Knochen gefunden wurden, geben Hinweise auf das Verhalten und die Lebensweise jener Geschöpfe, die sie benutztenB. Auch das soziale Leben und die cerebralen Prozesse, die nötig waren, um die Anforderungen dieser Lebensweise zu erfüllen, lassen sich aus diesen Entdeckungen bis zu einem gewissen Grad rekonstruieren. Biologie, Paläontologie, Psychologie, Archäologie, Anthropologie (Ethnologie)9, alle diese Disziplinen tragen zusammen dazu bei, die historische und evolutionäre Entwicklung des Menschen und seiner Vorfahren zu deuten. Auf diesen Forschungsergebnissen aufbauend entstand jene ethologische Theorie, wonach Verhaltensweisen, zu denen ein Lebewesen durch die Umwelt gezwungen wird, seine Struktur beeinflussen. Auf die Entwicklung des Menschen bezogen bedeutet dies, daß unser Vorfahre, der etwa vor 2 Millionen Jahren lebte und dessen Hirn nicht größer war als das eines heute lebenden Gorillas, bereits versuchte, primitive Werkzeuge und Waffen herzustellen, Aufgaben, die zur kulturellen Entwicklung nötig sind 10 • Meer, auch nicht, um ihre Lieblingsspeise, Erdnüsse, aus dem Wasser zu holen. Dies zeigt die Kehrseite der Medaille: Tiere, die traditionsverbunden sind, leisten Widerstand gegenüber der Entwicklung neuer Verhaltensformen. 6 L. S. B. Leakey und Vanne Morris-Goodall, Unveiling Man's Origins, Cambridge, Mass. 1969. 7 M. A. Edey, (Anm. 12 im Abschnitt I), S. 48. 8 Lawrence H. Fuchs, Family Matters, New York 1972, S.6. Archäologische Erkenntnisse werden immer häufiger und zahlreicher; 1970 wurden mehr Daten dieser Art zusammengetragen als in allen früheren Jahren zusammen. 9 S. Anm. 5 im Abschnitt I. 10 Cornelius S. Hurlbut Jr., Minerals and Man, New York 1970, S.29. Gebeine und Werkzeuge, die von den Leakeys in Olduvai Gorge gefunden wurden, sind 1,65 bis 1,76 Millionen Jahre alt, nach der radioaktiven Potassiumargon-Methode datiert. Diese Werkzeuge wurden aus kleinen Quarzstücken gefertigt. "Der Anblick eines Quarzsteinchens läßt nicht auf die Funktionen des Messers, der Axt oder eines Schabers (Werkzeuge, die man aus solchen Quarzsteinchen machen kann) schließen. Die Fähigkeit, Werkzeuge aus die-

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!Ir. Rechtsverhalten und Gruppenordnung

Jane Goddall berichtete über primitive Werkzeugherstellung bei Schimpansen in Gombe '1 • Die Benutzung von Werkzeugen wurde nicht nur bei Schimpansen, sondern auch bei anderen Tieren, z. B. Vögeln, beobachtet12 • Erst nachdem der Mensch begann, Werkzeuge herzustellen und sie zu seinem Vorteil zu benutzen, wuchs sein Hirn an Größe und Komplexität. Jene menschlichen Geschöpfe, die in der Lage waren, aufrecht zu gehen, konnten ihre Arme und Hände benutzen, um Werkzeuge zu gebrauchen, und wurden dadurch besser im Gebrauch von Werkzeugen 13 • Ein größeres Hirn und der aufrechte Gang zusammen förderten ein Verhalten, das sich als besonders adaptiv für die menschliche Spezies erwies, und dieser selektive Vorteil förderte das überleben von Mutationen, die diese Eigenschaften besaßen. Das größere Hirn zeigte sich auch besonders dann von Vorteil, als Sprache und Kultur ein Teil des menschlichen Lebensstils wurden. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt, so nimmt man an, begann der menschliche Vorfahre in Gruppen zu jagen, was Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und vorausschauendes Planen voraussetztu. Diese Zusammenarbeit sen Quarzstücken herzustellen, kann sich nur aufgrund zufälliger Beobachtung und zweckgerichteten Experiments entwickeln." 11 Schimpansen entfernen z. B. Blätter und Rinde von dünnen Zweigen, um sie für den Fang von Termiten geeignet zu machen, oder sie zerkauen Blätter, um sie aufsaugefähig zu machen, und benutzen sie dann als Schwamm für die Aufnahme von Wasser. Beides sind Beispiele für die Veränderung von Objekten für einen bestimmten Zweck, die Definition der Werkzeugherstellung. Diese Beobachtungen, die Goodall in Gombe machte, widerlegten die bis dahin als Tatsache akzeptierte Annahme, daß nur der Mensch fähig sei, Werkzeuge herzustellen (homo faber). 12 Jane van Lawick-Goodall, In the Shadow of Man, Boston 1971, S.240: "Schimpansen benutzen Gegenstände für viele verschiedenartige Zwecke. Sie benutzen Stengel und Stöcke, um Insekten zu fangen und zu essen, und wenn das Material, das sie ergreifen, nicht zweckmäßig ist, dann wird es von ihnen modifiziert ... Der Woodpecker-Fink von Galapagos benutzt eine Kaktusnadel oder ein Zweigchen, um Insekten aus den Vertiefungen der Rinde herauszuholen." 13 Der Teil des Hirns, der den Präzisions griff von Daumen und Fingern kontrolliert, den auch Schimpansen zu einem gewissen Grad meistern, ist größer als der Hirnbereich, der Brust und Abdomen kontrolliert. Man schließt daraus, daß die Entwicklung der Fingerfertigkeit, die für die Herstellung komplizierter Werkzeuge gebraucht wird, eine Voraussetzung für die Entwicklung des Hirns war und daß Hirn und Fingerfertigkeit sich entwicklungsgeschichtlich gleichzeitig ausbildeten (Bronowski). 14 Geza Teleki, The Omniverous Chimpanzee, in Scientific American Jan. 1973. Auch Schimpansen jagen in Gruppen. Es ist interessant, daß hauptsächlich in diesem Zusammenhang Nahrungsteilung zwischen erwachsenen Mitgliedern der Gruppe beobachtet wurde. Dieses Verhalten, nämlich freiwillig mit anderen Nahrung zu teilen, ist bisher in keiner anderen nicht-menschlichen Primatenart in der Wildnis bei Erwachsenen beobachtet worden. Die Tatsache, daß in dieser Situation der Stärkere eine besonders begehrte Speise dem Schwächeren nicht einfach wegnimmt, deutet darauf hin, daß Schimpansen unter bestimmten Umständen den "Besitzer" respektieren, auch wenn er schwächer ist. Aus solchen Verhaltensweisen hat sich vielleicht schon im frühen Menschen ein Respekt für Besitz entwickelt.

III. Rechtsverhalten und Gruppenordnung

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der jagenden Gruppe erforderte, daß die einzelnen Mitglieder sich verständigen konnten. Jene Individuen, die schnell und viel lernen konnten und die nicht zu sehr auf genetische Instruktionen für jeden Verhaltensakt angewiesen waren, zeigten sich den weniger Begabten überlegen. Selektion wirkte sich zum Vorteil der schlaueren Individuen aus, die schneller reagierten und die versuchten, die Umwelt umzugestalten, wenn Änderungen im Verhalten ihnen unmöglich oder nicht wünschenswert erschienen!5. Individuelle Änderungen im Verhalten konnten jedoch nur dann zum Vorteil des Einzelnen und der Gruppe sein, wenn die übrigen Gruppenmitglieder ebenfalls ihr Verhalten änderten oder sich zumindest diesem veränderten Verhalten anpassen konnten. Dies wurde von noch größerer Bedeutung, als es darum ging, die Umwelt zu ändern, was nur geschehen konnte, wenn die Gruppe gemeinsam nach Regeln zu handeln lernte. Alle Gruppenmitglieder mußten lernen, Befehlen zu gehorchen, und dies nahezu automatisch. Selektion begünstigte jene Gruppen, deren Mitglieder bereit waren zu gehorchen, die ein Schuldgefühl entwikkelten, wenn sie Regeln brachen, und die es lernten, ihre Handlungen Die Entwicklung gewisser Verhaltensweisen, die eine Zusammenarbeit ermöglichen, wie z. B. Nahrungsteilung, hat einen selektiven Vorteil, wenn das überleben der Art von der Anwesenheit einer Anzahl erfahrener Mitglieder innerhalb der Gruppe abhängt. Denn Erfahrung ermöglicht es, das tradierte Wissensgut, das für die Arterhaltung nötig ist, zu vermehren. Unter solchen Umständen können sogar verhältnismäßig minimale und kurzfristige Hilfsaktionen, wie z. B. Nahrungsmittel mit einem verletzten Gruppenmitglied für einige Tage zu teilen, ihn während kürzerer Krankheitsperioden vor Raubtieren zu schützen, oder die Entfernung von Parasiten durch andere lebensrettende Bedeutung haben und wesentlich zur Verlängerung des Lebens des einzelnen Gruppenmitglieds beitragen. Unter wilden Schimpansen hat die Fellpfiege neben vielen anderen Funktionen auch den Vorteil, die Haut von Parasiten freizuhalten. Eine bei Schimpansen ungewöhnliche Hilfeleistung, die Entfernung eines faulen Zahns mit Hilfe eines Stockes durch ein anderes Tier, wurde einmal in Gefangenschaft beobachtet. 15 Lionel Tiger und Robin Fox, The Imperial Animal, New York 1972, S. 8. Tiger und Fox behaupten, daß das, was sie "biogrammar" nennen, die Grundlage für alle wichtigen Fragen in den Sozialwissenschaften bildet und daß die Art und Weise, wie ein Tier sich benimmt, seine überlebenschancen bestimmen. Lionel Tiger und Robin Fox, The Zoological Perspective in Social Science, Perspectives on Human Evolution, Bd.2 (1972), S.348: "Neue Erkenntnisse der Genetik und Neurophysiologie vermitteln ein besseres Verstehen der Mechanismen, durch die nicht nur anatomische Strukturen, sondern auch Verhaltensvorgänge adaptiert und übermittelt werden. Genetische Forschung hat uns Einblick gegeben in die Mechanismen, die zur überlieferung von Informationen dienen, und zwar nicht nur bezüglich der physischen, sondern auch bezüglich jener Aspekte des Lebenslaufs, die auf dem Verhalten beruhen. .. Die Soziologie befaßt sich mit der Erklärung des menschlichen Sozialverhaltens. Man kann dieses als das Resultat eines langwierigen Prozesses der natürlichen Auslese betrachten, die ein Lebewesen, der Mensch, hervorgebracht hat. Das Repertoire der im Menschen genetisch programmierten Verhaltensprädispositionen ist noch nicht genügend erforscht." 3 Gruter

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!Ir. Rechtsverhalten und Gruppenordnung

innerhalb der Regeln ihrer Gruppen zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Rechtsverhalten hatte selektiven Vorteil. In diesem Zusammenhang ist die bereits eingangs erwähnte Theorie des Wohlgefühlprinzips von Wichtigkeit: Aufgaben, die lebenswichtig sind für die Arterhaltung, haben die Tendenz, angenehm zu sein; sie sind leicht erlernbar, und der Wunsch, sie auszuführen, ist schwer zu unterdrücken. Die menschliche Bereitschaft, z. B. beim Spielen und im Sport Regeln aufzustellen, scheint diese Theorie zu unterstützen. Das Gefühl der Zufriedenheit oder das Wohlgefühl, das Menschen empfinden, die den Gesetzen gehorchen (law-abiding), ist möglicherweise darauf zurückzuführen, daß Ausgleich oder Balance im allgemeinen dem Menschen wohltut. In diesem Fall wäre es der Ausgleich zwischen den angeborenen individuellen Trieben und den Regeln des Gruppenlebens. Man könnte annehmen, daß die Gratifikation, die der Einzelne erlebte, wenn er den Regeln des Gruppenlebens gehorchte, dazu beitrug, daß (wie z. B. bei Spielen) neue Regeln in neuen Situationen entstanden. Als im Laufe der Entwicklung immer mehr neue Regeln entstanden, die dem immer komplexer werdenden Gruppenleben Form gaben, wurde die Qualität der Werturteile, ihr adaptiver Wert, von entscheidender Bedeutung für die Erhaltung der Gruppe. Schlechte Ideen, Werturteile, die sich ungünstig auswirkten, waren von kurzer Lebensdauer und starben mit der Gruppe oder dem Individuum, das seine Handlungen danach richtete. Offensichtlich begünstigte Selektion jene Ideen, die zumindest erträglich, wenn nicht adaptiv waren; und nur diese Ideen bestanden lange genug, um sich in kulturelle Tradition zu verwandeln. Es ist jedoch wichtig, sich darüber im klaren zu sein, daß evolutionäre Veränderungen sich über Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Jahren erstrecken und daß Werte, die uns die Tradition übermittelt hat und die uns heute von wesentlicher Bedeutung zu sein scheinen, möglicherweise nicht mehr dem Zweck dienen, der sie ursprünglich adaptiv machte.

IV. Familienorganisation im Tierreich Die Formulierung von Regeln in Form von gesetztem Recht ist artspezifisch für den Menschen. Nur der Mensch kann Rechtssätze formulieren, um das soziale Verhalten und die Organisation der Familie und anderer Gruppen zu kontrollieren. Andererseits ist Gruppen- und Familienorganisation weitverbreitet im ganzen Tierreich. Und überall wird das Zusammenleben der einzelnen Gruppen- und Familienmitglieder von Verhaltensmechanismen reguliert oder beeinfiußt, auf denen sich Regeln oder - beim Menschen - Rechtssätze aufbauen. Die ethologische Forschung hat uns Einblick gewährt in solche Verhaltensmechanismen. Es ist uns daher möglich, ein besseres Verständnis für die Wahrscheinlichkeit des Erfolges oder des Versagens bestimmter Gesetze zu gewinnen, die das Zusammenleben der Menschen regulieren sollen. Von besonderem Interesse sind natürlich solche Verhaltensweisen und Mechanismen, die in ähnlicher Form auch bei anderen Primaten vorhanden sind, da diese Ähnlichkeit darauf schließen läßt, daß sie möglicherweise auf ein gemeinsames Erbgut zurückzuführen ist. z. B. benutzen Schimpansen, die nächsten Verwandten des Menschen, Gesten und Gebärden, die eine auffallende Ähnlichkeit haben mit solchen, die vom Menschen in ähnlichen Situationen gebraucht werden 1 • In unserem Zusammenhang sind jene Verhaltensweisen von Interesse, die im Zusammenleben der Gruppe und Familie auftreten; denn die Struktur der Familie variiert auch bei nicht-menschlichen Primaten, ähnlich wie in der menschlichen Gesellschaft. Bei den Gibbons in Sumatra z. B. herrscht Monogamie. Eine dieser Gibbon-Arten (Siamang) benutzt einen Duettgesang als Mittel der gegenseitigen Bindung. Auch die südamerikanischen Tit-monkeys (eine Untergruppe der Krallenaffen), die weiter entfernte Verwandte des Menschen sind, sind monogam. Bei wieder anderen Primatenarten, wie z. B. den Schimpansen, besteht die Familie nur aus der Mutter und ihren Nachkömmlingen oder es herrscht, wie bei den Mantelpavianen, Polygamie. 1 Schimpansen begrüßen sich mit Umarmungen, sie küssen sich und reichen sich die Hände, wenn sie sich nach einer Trennung wiedersehen. Wenn sie Furcht empfinden, dann umschlingen sie ein anderes Tier, und auch beim Spiel ist ihr Verhalten dem menschlicher Kinder sehr ähnlich.

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IV. Familienorganisation im Tierreich

Verschiedene Formen der Familienstruktur bestehen nicht nur bei Primaten, sondern auch bei anderen Tierarten. Aus der Tatsache, daß Monogamie und Polygamie2 sowohl bei niedrigen als auch bei hoch entwickelten Tieren vorkommt, schlossen Ethologen, daß beide Formen adaptiv sein können je nach den ökologischen Bedingungen der Umwelt. Wolfgang Wickler, ein Mitarbeiter von Konrad Lorenz und sein Nachfolger im Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, stellte fest, daß bei den verschiedenen Arten der Cichliden (Buntbärsche) die Umgebung für die Verschiedenheit ihrer Familienstrukturen verantwortlich is1:. Ein solcher Umweltfaktor ist z. B. die Ursache, daß sich bei einer Cichlidenart Männchen und Weibchen in den Brutpflegearbeiten so spezialisiert haben, daß dies zur Polygamie führte. In diesem Falle bot die Umwelt kleine Höhlen, die den vom Weibchen gelegten Eiern Schutz boten und nur so groß waren, um einen erwachsenen Fisch darin aufzunehmen, der die Neugeborenen versorgen mußte. Diese Aufgabe übernahm das Weibchen. Die Verteidigung des Höhleneingangs wurde zur Aufgabe des Männchen, dessen Kräfte zur Verteidigung mehrerer Höhlen ausreichte. Somit konnten die Männchen ihren Pflichten, nämlich der Befruchtung und des Schutzes der nächsten Generation, in polygamer Form gerecht werden. Nach weiteren vergleichenden Studien der verschiedenen Cichlidenarten, die zum Teil monogam, zum Teil polygam leben, schloß Wickler, daß in polygamen Familienstrukturen die Größe des Harems von der Größe des Territoriums beeinflußt wird, und ferner daß die Größe dieses Territoriums von der Fähigkeit des Eigentümers abhängt, es zu verteidigen. Das genetische Resultat einer solchen Situation zeigt sich als Größenunterschied zwischen Männchen und Weibchen. Ein auf dem Geschlecht beruhender Größenunterschied führt nicht immer zur Polygamie, er resultiert lediglich daraus, daß stärkere und größer gebaute Männchen ein größeres Territorium verteidigen können und in dieser Situation einen selektiven Vorteil gegenüber schwächeren haben4 • Auch beim Menschen besteht sexueller Dimorphismus in der Größe, und auch beim Menschen gibt es monogame und polygame Familien11 Polygamie und polygam wird hier im Sinne von Polygynie für die Verbindung zwischen einem männlichen Tier und mehreren weiblichen Tieren benutzt. 3 Wolfgang Wickler, The Sexual Code, New York 1972. 4 Die evolutionäre Entwicklung neuer Mechanismen dient gewöhnlich mehreren Funktionen, die nicht alle von gleicher Wichtigkeit zu sein brauchen, wenigstens nicht zu allen Zeiten. Abgesehen von der Verteidigung des Territoriums kann die größere physische Kraft des männlichen Geschlechts auch andere Vorteile haben, z. B. Verteidigung der Artgenossen und die Fähigkeit zu jagen. Ebenso ist es ein Vorteil in der polygamen Familie, wenn der männliche Partner über größere physische Kraft verfügt.

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strukturen; beides stimmt überein mit Wicklers Beobachtungen und seiner Deutung bezüglich des genetischen Resultats. Umgekehrt beeinflußt die Größe des Territoriums die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft, die andererseits auch von ökologischen und klimatischen Bedingungen beeinflußt wird. Wicklers Theorien stimmen mit Lehrmeinungen überein, die unter anderem von Rechtsanthropologen aufgestellt wurden dahingehend, daß Klima oder Ökologie auf dem Wege der Wirtschaftsstruktur entscheidend sind für das von einer Gesellschaft gewählte Rechtssystem5 • Zu ähnlichen Schlüssen wie Wickler kam John H. Crook', der das Verhalten verschiedener Spezies der afrikanischen Webervögel studierte. Auch bei diesen Vögeln gibt es monogame und polygame Familienorganisationen bei nahe verwandten Arten. Crook schloß aus seinen Beobachtungen, daß die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung polygamer Familienorganisationen größer ist, wenn die Umweltverhältnisse so gestaltet sind, daß es dem Weibchen möglich ist, die Brut ohne die Hilfe des Männchens aufzuziehen. Auch diese Ansicht steht nicht im Gegensatz zu jener anthropologischen Theorie 7 , die besagt, daß wirtschaftliche Faktoren die Rechtsstruktur in primitiven Gesellschaften bestimmen. Auch in der modernen westlichen Welt wird die Familienorganisation von ökonomischen Faktoren beeinflußt. Wir finden den vaterlosen Haushalt hauptsächlich in jenen sozialen Schichten, die durch den ökonomischen Faktor entweder großer Armut oder großen Reichtums gekennzeichnet sind. In diesen Fällen ist die Frau entweder gezwungen, Kinder ohne Hilfe eines männlichen Ehepartners selbst großzuziehen, oder sie bedarf nicht dieser Hilfe. Bei verschiedenen Pavianarten finden wir ebenfalls verschiedene Formen der Familienorganisation. Das Verhalten der Paviane im allgemeinen gilt als besonders aufschlußreich, da sowohl der Mensch als auch der Pavian im Laufe seiner Entwicklung aus dem Schutz der Bäume, in denen beide Arten vor vielen Jahrhunderttausenden lebten, in unbewaldete Grassteppen umsiedeln mußten, als klimatische und andere Umweltveränderungen dies nötig machten. Paviane wie Menschen konnten sich eine neue ökologische Nische nur dadurch schaffen, daß sie ihr 5 Edward Wahl, Influences Climatiques sur l'Evolution du Droit en Orient et en Occident, Revue Internationale de Droit Compare 1973, S.261-276. Die Entwicklung verschiedener Rechtsbegriffe im Osten und im Westen wird hier auf klimatische Verschiedenheiten zurückgeführt, von denen die Vorstellungswelt des Menschen beeinflußt wurde. t John H. Crook, The Rites of Spring, in The Marvels of Animal Behavior 1972, S.287. 7 Zu den Vertretern dieser Theorie gehören Max Gluckman und E. Adamson Hoebel, die (aufgrund verschiedener Theorien) darin übereinstimmen, daß ökonomische Faktoren die Größe der Bevölkerung bestimmen und daß ein Anwachsen der Bevölkerung zu Änderungen im Rechtssystem führt.

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Verhalten an die neue Umwelt anpaßten, daß sie neue Nahrungsquellen fanden und neue Verteidigungsmethoden entwickelten und daß sie ihre Familienstruktur den gegebenen Umständen anpaßten. Wie immer sich auch die Familienorganisation im Laufe der Evolution entwickelte, ein Faktor ist allen Primaten gemeinsam: das enge Mutter-Kind-Band, das auf die langdauernde Hilflosigkeit des jungen Primaten zurückzuführen istB• Um diese Mutter-Kind-Einheit gruppieren sich andere Individuen für kürzere oder längere Zeiträume je nach der Rolle, die sie innerhalb der Gruppe spielen, und je nach den Bedingungen der Umwelt und den Aufgaben, die sie zur Arterhaltung übernehmen. Nachdem die Paviane den Schutz der Wälder verlassen hatten, konnten sie nur überleben, wenn sie Mitglieder einer enggeschlossenen Gruppe waren. Innerhalb dieser Gruppe konnten einzelne Mitglieder sich auf besondere Aufgaben spezialisieren, was wiederum voraussetzt, daß alle Mitglieder bei der Gruppe bleiben mußten. Aus diesem Grunde entwikkelten sich Verhaltensmechanismen, die eine enge Zusammengehörigkeit dieser auf bestimmte Aufgaben spezialisierten Mitglieder der Gruppe garantierten. Bei den Steppenpavianen z. B. besteht die Gruppe ungefähr aus 40 Tieren, darunter etwa sieben erwachsene Männchen. Diese haben die Aufgabe, die ganze Gruppe zu beschützen, und ihre Größe und Kraft und die großen Hauerzähne machen sie für diese Aufgabe besonders gut geeignet (sie wiegen ungefähr zweimal soviel wie die Weibchen). Drei dieser erwachsenen Männchen können die Gruppe erfolgreich gegen alle Raubtiere, mit Ausnahme einer Löwengruppe, verteidigen'. Die frühesten Menschen sollen, nach dem, was man heute weiß, in kleinen Gruppen gelebt haben; man schätzt, daß die Gruppe bis zu 50 Mitglieder haben konnte, und es erscheint wahrscheinlich, daß sich bei ihnen ähnliche Verhaltensmechanismen wie bei Pavianen und anderen Primaten entwickelten, um die Zusammengehörigkeit der Gruppe zu fördern. Man kann mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß diese Mechanismen auf einer individuellen und viel stärkeren Basis zur Aufrechterhaltung der Mutter-Kind-Einheit und des Paarbandes beitragen; und weiterhin, daß diese Mechanismen bei allen Primaten die Grundlage für die Struk8 Ein enges Mutter-Kind-Band besteht auch bei vielen anderen Säugetieren. Jedoch beim nächsten Verwandten des Menschen, dem Schimpansen, ist dieses Band stärker entwickelt als bei allen anderen nicht-menschlichen Arten. 11 Irven DeVore, Quest for the Roots of Society, in The Marvels of Animal Behavior 1972, S. 401. .

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tur der Familie und der Gruppe sind. Die Struktur der Gruppe wiederum wird durch die Funktionen bestimmt, die von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe erfüllt werden müssen. Die beiden Hauptaufgaben der Familie, gleichgültig wie sie strukturiert ist oder aus wievielen Mitgliedern sie sich zusammensetzt, sind die Fortpflanzung und die Sorge für die Kinder bis zu ihrer Selbständigkeit. Vergleichende Studien zweier Pavian-Arten, der Mantel- und der Steppenpaviane, illustrieren, wie diese Mechanismen funktionieren: In der Gruppe der Steppenpaviane leben mehrere erwachsene männliche Tiere mit mehreren erwachsenen Weibchen zusammen (die häufigste Form des Zusammenlebens bei nicht-menschlichen Primaten IO). Bei dieser Pavian-Art formen sich Paare nur - und dann nur für einen kurzen Zeitraum - , wenn Weibchen brünstig sind. Es besteht keine Bindung zwischen dem Paar, und das brünstige Weibchen kopuliert mit mehreren Partnern. Die Mantelpaviane dagegen zeigen starke Paarbindungl l , und zwar in polygamer Form, das heißt, ein Männchen ist mit mehreren Weibchen verbunden. Hans Kummer 12 hat diese polygame Familienorganisation intensiv in der freien Natur studiert und berichtet, daß diese Organisation unter den gegebenen ökologischen Verhältnissen die bestmögliche Form der Familienstruktur ist. Ein männlicher Beschützer genügt für die Sicherheit mehrerer Weibchen und deren Nachkommenschaft, und die Gruppe bleibt klein genug, um allen Mitgliedern genügend Nahrung innerhalb eines verhältnismäßig kleinen Raums zu gewährleisten l3 • Mit Beginn der Adoleszenz wird jedes Mantelpavian-Weibchen permanent an ein bestimmtes Männchen gebunden, im Gegensatz zu anderen Pavianarten, bei denen Weibchen nur manchmal während der länger dauernden gegenseitigen Fellpflege mit Männchen sozialen Kontakt aufnehmen; und zwar geschieht dies hauptsächlich, während das Weibchen brünstig ist und die Fellpflege eine Einleitung der Kopulation sein kann. Da die Neugeborenen und Kleinkinder ihrerseits an die Mutter gebunden sind, gliedert sich die Gruppe in kleine Untereinheiten auf, und nur einige jugendliche und erwachsene Männchen sind jeweils frei M. A. Edey, (Anm. 12 im Abschnitt I), S. 105. Obwohl der Begriff "Paar" nur zwei Personen einschließt, wird im folgenden "Paarbindung" auch dann benutzt, wenn von der Bindung die Rede ist, die zwischen einem männlichen Tier und mehreren weiblichen Tieren besteht. 12 H. Kummer, (Anm. 3 im Abschnitt III), S. 33. 13 Eine andere Pavian-Art, die südafrikanischen Chacmas, lebt normalerweise, ähnlich wie die Steppenpaviane, in Gruppen, die mehrere erwachsene Männchen einschließen, und es besteht kein Paarband. Aber beim Auftreten von großem Nahrungsmangel bilden sie vorübergehend Gruppen mit nur einem erwachsenen Männchen. 10

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für den Beginn neuer Untergruppenformationen. Kummer schließt daraus, daß diese Familienform sich nur langsam entwickeln konnte und daß dies wiederum von der Entwicklung komplexer Verhaltensmechanismen abhängig war. Ein solcher spezieller Verhaltensmechanismus, der bei den Mantelpavianen das Band zwischen Männchen und Weibchen stärkt, ist das "Herden" (herding technique). Es gleicht dem Gebahren eines Schäferhundes beim Zusammentreiben der Schafe. "Herden" erinnert an das Verhalten der Pavianmutter gegenüber ihrem Kleinkind und scheint die beste Möglichkeit gewesen zu sein, die den Pavianen zur Verfügung stand, um kleine stabile Gruppen bei der Nahrungssuche zu gewährleisten. Bestimmte Voraussetzungen zur Entwicklung dieses Verhaltens waren im Erbgut der Paviane vorhanden: Zunächst ist die gesamtgesellschaftliche Struktur bei Pavianen dominanzorientiert; zweitens machte es die körperliche Konstitution der großen, starken Männchen leicht für sie, mehr als nur ein Weibchen zu dominieren; drittens existiert eine Prädisposition zur exklusiven Bindung bei allen Pavianarten genau wie bei den ihnen engverwandten Makaken14 • Bei der Mantelpavian-Spezies verhindern die Männchen Kopulation zwischen ihren Weibchen und fremden Männchen. Dieses Verhalten steht im starken Gegensatz zu dem anderer Pavianarten und dem Verhalten der Gorillas und Schimpansen. So zeigen z. B. die Steppen pavianMännchen nie das Herden-Verhalten, und es entwickelt sich nie ein Paarband zwischen ihnen und den Weibchen, selbst wenn sie mit dem Weibchen für kürzere Zeit zusammenbleiben und kopulieren. Ein Steppenpavian-Männchen, das für mehrere Monate in einer wilden Mantelpavian-Gruppe lebte, eignete sich nicht das "Herden" an, obwohl es dadurch jeglicher weiblicher Gesellschaft beraubt wurde. Es scheint wahrscheinlich, daß ein Verlangen nach exklusivem Besitz eines Weibchens, gleichgültig in welchem Stadium seines hormonellen Zyklus es sich befindet, im Mantelpavian-Männchen biologisch programmiert ist, weil das "Herden" bei allen wilden Mantelpavian-Gruppen bisher beobachtet wurde, obwohl Unterschiede in der Intensität des männlichen Besitzerdranges vorhanden sindt &. Interessanterweise konnte die Fähigkeit des Männchens, Weibchen gegenüber diese Form des Herden-Verhaltens zu demonstrieren, nur dadurch den gewünschten Erfolg bringen und Familienbande schaffen, daß die Weibchen in der Lage waren, auf diese Verhaltensweise der H. Kummer (Anm. 3 im Abschnitt 111),8.100. Die Mantelpavian-Kolonie in 8ukhumi, einem russischen Forschungsinstitut, zeigt noch immer "Herden"-Verhalten, obwohl diese Gruppe schon mehrere Generationen in Gefangenschaft lebt. Es scheint, daß selbst ein drastischer Wechsel in der Umgebung diese Veranlagung nicht ändert; vgl. ebd., S.99. 14

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Männchen in einer bestimmten Form zu reagieren. Die Weibchen mußten lernen, sich dem drohenden Männchen zu nähern, statt vor ihm zu fliehen. In ähnlichen Situationen ergreifen die meisten anderen Primaten-Weibchen einschließlich der Steppenpaviane die Flucht16 • Diese Umkehrung des "normalen" Antwortverhaltens bei den Mantelpavianen gab Anlaß zu einer Reihe von Feldexperimenten, bei denen erwachsene Steppenpavian-Weibchen in Mantelpavian-Gruppen eingesetzt wurden. Die Steppenpavian-Weibchen lernten durchschnittlich innerhalb einer Stunde, einem bestimmten Mantelpavian-Männchen, das sich ihnen drohend näherte, zu folgen und allen anderen Männchen gegenüber sich ablehnend zu verhalten. Nach Ablauf einer Stunde war ihr Benehmen nicht mehr zu unterscheiden von dem der Mantelpavian-Weibchen, die als Kontrolle gleichzeitig in dieselbe Gruppe verpflanzt wurden. Dieses Experiment scheint zu demonstrieren, daß ein Pavianhirn, genau wie das Hirn eines Schimpansen, in der Lage ist, dieses Verhalten zu erlernen, und dazu keine biologisch programmierte Unterstützung braucht. In umgekehrten Experimenten paßten sich Mantelpavian-Weibchen schnell dem unabhängigen Zusammenleben zwischen den beiden Geschlechtern innerhalb der Steppenpavian-Gruppe an. Sie nahmen an Fellpflegesitzungen mit mehreren verschiedenen Männchen teil und schlossen sich nicht einem bestimmten Männchen an. Das polygame, auf Paarband fundierte Familiensystem der Mantelpaviane brachte es mit sich, daß männliche Mantelpaviane, die bereits aggressiv waren, diese Eigenschaft auch in der Verteidigung ihres Harems zum Ausdruck: brachten17 • Kämpferische Fähigkeiten scheinen jedoch nicht allein zu entscheiden, wer ein Weibchen besitzt. In der Eder-Gota-Gruppe, in der Kummer seine Beobachtungen machte, waren 80 % aller erwachsenen Männchen im Besitz von Weibchen; eine Ana16 Weibliche Schimpansen scheinen während der Adoleszenz zu lernen, wie sie sich gegenüber dem männlichen Werbeverhalten, das dem Drohensverhalten gleicht, benehmen müssen (persönliche Mitteilung von Jane Goodall). 17 Als im Londoner Zoo einer bestehenden Gruppe von 100 Mantelpavianen 30 neue weibliche Mantelpaviane zugeführt wurden, versuchten alle älteren Männchen der Kolonie, weitere Weibchen in ihren Harem einzugliedern, und innerhalb eines Monats wurden 15 der neu zugeführten Weibchen in Kämpfen um ihren Besitz getötet. Es scheint, daß sich dieser Vorgang in der Wildnis anders abspielt. Im Laufe verschiedener Experimente setzte Kummer 30 erwachsene weibliche Paviane in einer Mantelpavian-Gruppe aus. Im allgemeinen stürzten sich die Männchen nicht auf die neuen Weibchen. In der Regel näherte sich nur jeweils ein Männchen einem Weibchen und nahm es in Besitz. Jedes Weibchen fand sofort ein Männchen, das sich für sie interessierte. Entfernte man ein Männchen für einen vorübergehenden Zeitraum, so wurden seine Weibchen von anderen Männchen der Gruppe übernommen. Nach Ablauf einiger Stunden gab der neue Besitzer sein Weibchen nicht mehr ohne einen Kampf her, wenn der vorhergehende Besitzer wieder zurückkehrte. In solchen Fällen entschied der Kampf zwischen den beiden Männchen, ob das Weibchen bei dem alten oder neuen Besitzer blieb.

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lyse dieser Gruppe im Jahre 1968 zeigte, daß die Anzahl der Weibchen, die ein Männchen sein eigen nannte, keine Korrelation aufwies mit der Dominanz-Position des Männchens. Eine Erklärung dafür ist, daß junge Männchen leicht jugendliche Weibchen, die noch sexuell immatur sind, erwerben können. Dies ist der Tatsache zuzuschreiben, daß voll erwachsene Männchen nur an völlig ausgereiften, erwachsenen Weibchen interessiert sind. Weitere Experimente brachten Kummer zur überzeugung, daß in der Wildnis die Paar-Gestalt die Aggression des Männchens inhibiert. Wenn ein Paarband einmal besteht, dann wird es von den anderen Männchen respektiert. Dieser stabilisierende Faktor schützt bereits bestehende Paarbande und gibt der Familienorganisation eine gewisse Beständigkeit. Gleichzeitig mit der Entwicklung ihres auf Paarbindung beruhenden polygamen Familiensystems, das durch die Bedingungen der Umwelt evolutionär entstand, entwickelten Mantelpaviane einen Mechanismus, der ihnen die Möglichkeit gab, Exzesse des aggressiven Besitzerdranges zu kontrollieren: Besitzerdrang wurde ausgeglichen durch einen Respekt für Besitz. Vielleicht läßt sich daraus schließen, daß in der Spezies Homo sapiens der Respekt für Besitz eine genetische Basis hat und mittels visueller Eindrücke ontogenetisch geformt wird. Wir könnten ferner vermuten, daß Respekt für Besitz ein frei übertragbarer Verhaltensmechanismus wurde und sich aus dem Respekt gegenüber exklusiver familiärer Bindung zwischen Individuen entwickelte. Bei fast allen Primaten inhibiert die Wahrnehmung der MutterKind-Einheit (oder die Kombination eines Erwachsenen und eines Kleinkindes) Aggression18 • Junge männliche Paviane, die auf einer niedrigen Stufe der Dominanzhierarchie stehen, versuchen gelegentlich, ihre Situation zu verbessern, indem sie kleine Paviane der Mutter wegnehmen und sie in mütterlicher Art halten. Dies geschieht besonders, wenn es zu Unruhen und Kämpfen innerhalb der Gruppe kommt. Man könnte spekulieren, daß inhibierende visuelle Eindrücke nicht auf die Wahrnehmung der Mutter-Kind-Einheit beschränkt blieben, als es für die Arterhaltung notwendig wurde, weitere Inhibitionsmechanismen im Zusammenleben der Gruppe zu entwickeln. Die Wahrnehmung von zwei verschiedenen Personen im engen physischen Kontakt als Einheit könnte sich auf andere Situationen ausgedehnt haben, und statt der Personeneinheit könnte ein Objekt, das oft im engen Kontakt mit einer Person gesehen wurde, wahrnehmungsgemäß als Teil der Person empfunden worden sein, wie z. B. die Kombination von Jäger und Waffe oder Werkzeug und Werkzeugmacher. Diese Wahrnehmung von Person und Objekt als Einheit könnte dahin geführt haben, daß der Einzelne Hem18 In jüngerer Zeit wurden vereinzelte Ausnahmen beobachtet, über die u. a. R. Trivers berichtet (s. o. Anm. 8 im Abschnitt II).

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mungen entwickelte, die ihn davon abhielten, gewisse Objekte vom "rechtmäßigen" Besitzer wegzunehmen. Interessanterweise finden wir in der Pavian gruppe bereits auch rudimentäre Formen einer Einmischung von dritter Seite in Beziehungen zwischen zwei Individuen. In der Dominanzordnung hochstehende Männchen versuchen z. B., die Behandlung des Kindes von seiten der Mutter zu beeinflussen, wenn das Kind schreit oder jammere 9 • Diese Art der Einmischung in die Beziehungen zwischen einzelnen Individuen und die Art, wie es geschieht, deuten auf das Vorhandensein rudimentärer Formen des Mechanismus hin, der als Gerechtigkeitssinn zur Regulierung des menschlichen Rechtsverhaltens beiträgt. Kummers Forschungen weisen darauf hin, daß die Familienstruktur der Paviane phylogenetisch beeinflußt wird2O , d. h. in der evolution ären Entwicklung der Spezies verankert ist. In einem von ihm beobachteten Fall befanden sich zwei verschiedene Pavian-Arten in einer für beide Arten neuen Umgebung. In diesem Falle änderten sie ihre Schlafgewohnheiten, aber nicht ihre Familienstruktur21 • Bei den Menschen kön19 Eine Reihe fotografischer Aufnahmen, die Dr. David Hamburg am Gombe Stream Research Center machte, zeigen die Versuche eines dominanten männlichen Pavians, die impliziten (unausgesprochenen) Regeln des Gruppenlebens innerhalb einer Papiangruppe durchzusetzen. Die Aufnahmen zeigen ein erwachsenes Pavian-Weibchen, das das Tempo der Gruppe auf dem täglichen Marsch nicht einhalten konnte, weil ihr Junges zu krank war, um sich an ihr festzuhalten. Dies führte zu einem Konflikt zwischen zwei sehr starken Trieben in dem Tier: die angemessene Behandlung des Jungen und das Tempoeinhalten mit der Gruppe. Dieser Konflikt beeinflußte nicht nur das Verhalten der Pavianmutter, sondern auch das des Gruppenführers. Als die Mutter versuchte, das Junge mit der Hand zu tragen, konnte sie der Gruppe nur folgen, wenn sie das Junge mit jedem Schritt auf den Boden drückte und ihm damit Schmerzen zufügte. Das Jammern des Jungen veranlaßte das dominante Tier, sich der Mutter zu nähern und sie zu bedrohen. Das hatte zur Folge, daß die Mutter zunächst das Junge auf den Boden legte, es dann aber wieder vom Boden nahm und versuchte, mit dem Jungen der Gruppe zu folgen, jedoch mit demselben Resultat, nämlich das Junge schrie und der Gruppenführer bedrohte die Mutter. Nach mehreren vergeblichen Versuchen schien die Mutter ihren Konflikt dadurch zu lösen, daß sie das sterbende Junge liegenließ. 20 Der Ausdruck "phylogenetisch" wird von Biologen dazu benutzt, Anpassungsprozesse bei der Evolution des Genotyps zu beschreiben, d. h. Veränderungen im genetischen Erbgut und in der Information, die in den Genen enthalten ist. Diese in den Genen programmierte Information ändert sich nur sehr langsam, und zwar mittels Mutation und Selektion. Im Gegensatz dazu wird der Prozeß, mittels dessen sich ein befruchtetes Ovum zu einem erwachsenen Lebewesen entwickelt, Ontogenie genannt. Diese ontogenetische Entwicklung ist den Einflüssen der Umgebung ausgesetzt. In der biologischen Terminologie ist ontogenetische Adaption dem Begriff Modifikation gleichzusetzen (vgl. Kummer, S. 10). 111 Diese Schlüsse zog man 1968 aus Beobachtungen im Awash National Park in Äthiopien. Der Park wird sowohl von Mantelpavianen, deren soziale Organisation aus Familieneinheiten mit nur einem erwachsenen Männchen besteht, als auch von Steppenpavianen bewohnt, die Familieneinheiten mit

IV. Familienorganisation im Tierreich nen wir Ähnliches beobachten. Menschen können ihr Verhalten leicht und schnell neuen Wohnbedingungen oder den Annehmlichkeiten der Technologie anpassen. Aber gegen Versuche, die Form der Ehe oder die Beziehungen zwischen Mutter und Kind zu ändern, sind sie resistent. Meistens sind Versuche, mit Hilfe des Gesetzes schnelle und drastische Veränderungen in Familienbeziehungen zu schaffen, fehlgeschlagen22 • mehreren erwachsenen Männchen ohne Paarbindung zeigen. Im Awash Park überschneiden sich zwei verschiedene ökologische Phänomene. Die Gegend, die von Steppenpavianen bewohnt ist, am oberen Lauf des Flusses, hat Wälder mit Bäumen bis zu 60 Fuß Höhe, auf denen die Steppenpaviane während der Nacht schlafen. Unterhalb der Awash-Fälle ändert sich die Landschaft zu einer steilen Kluft, die sich langsam verbreitert und vertieft, bis sie in die Danakil-Wüste übergehl In der Kluft leben Mantelpaviane, die nachts auf hohen Felsen schlafen. Nach eingehenden Studien zeigte sich, daß der Hauptunterschied zwischen den Lebensbedingungen oberhalb und unterhalb der Fälle in der Proportion von Bäumen und Felsen liegt. Die erste Paviangruppe direkt unterhalb der Fälle war eine Steppen pavianGruppe, die auf Felsen schlief (nicht in Bäumen, dem normalen Schlafplatz der Steppenpaviane), obwohl einige geeignete Bäume dort standen. In ihrer sozialen Organisation zeigten sich jedoch keine Familieneinheiten mit nur einem erwachsenen Männchen. Die nächsten drei Paviangruppen unterhalb der Fälle waren nicht Mantelpaviane, sondern Mischlinge zwischen Mantel- und Steppenpavianen. Die ersten reinen Mantelpaviane lebten etwa 15 Meilen unterhalb der Fälle. Die Mischlingsgruppen schliefen alle auf Felsen wie die Mantelpaviane weiter unterhalb im Tal, aber in ihrer sozialen Organisation schienen sie ihren Genen zu folgen und nicht ihrer Umwelt. Die soziale Organisation der Mischlinge zeigte eine eigenartige Mischung von Steppen- und Mantelpavian-Eigenschaften. Es gab Gruppen mit nur einem Männchen, aber diese waren meist klein und nicht sehr stabil. Obwohl einige männliche Paviane sich des "Herden"-Verhaltens bedienten, war ihr Erfolg, einen Harem zu bilden, äußerst kläglich. Vielleicht könnte dies darauf zurückzuführen sein, daß ihre Drohungen und Angriffe gegenüber den weiblichen Pavianen nicht genau abgestimmt waren auf das weibliche Folgeverhalten. Obwohl der ökologische Übergang vom Wald zu Klüften eine Änderung in den Schlafgewohnheiten der Paviane brachte, wurde ihre soziale Organisation nicht direkt von der Umgebung beeinflußt. Einheiten mit mehreren Männchen ohne Paarbindung, wie sie in den Steppenpavian-Gruppen bestehen, Einheiten mit nur einem Männchen mit starker Paarbindung, wie sie unter den Mantelpavianen zu finden sind, und die verschiedenen Variationen, die sich unter den Mischlingen zeigten, alle diese Arten der sozialen Organisation kamen am selben Ort vor. Dies weist darauf hin, daß beide Pavianarten (Mantel- und Steppenpaviane) in der Lage waren, ihre Schlafgewohnheiten den lokalen Verhältnissen anzupassen, aber daß ihre soziale Organisation verhältnismäßig starr blieb. Diese Annahme wird auch noch dadurch bestärkt, daß bisher nirgendwo in Äthiopien oder in anderen Teilen Afrikas je eine Steppenpavian-Gruppe beobachtet wurde, die stabile Familieneinheiten mit nur einem Männchen zeigte, und andererseits fand sich bei allen Mantelpavian-Gruppen stets die Paarbindung in Familieneinheiten mit nur einem Männchen. 22 H. F. Morris, Marriage Law in Uganda: Sixty Years of Attempted Reform; sowie Maurice Friedman, Chinese Family Law in Singapore: The Route of Custom, in J. N. D. Anderson (Hrsg.): Family Law in Asia and Africa, 1968; Gregory J. Massell, Law as an Instrument of Revolutionary Change in a Traditional Milieu: The Case of Soviet Central Asia, in Law and Society Review 5 (1968), Nr.2; Inga Markovitz, Marriage and the State:

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Man kann daher annehmen, daß Familienstruktur und die Bindungen, die dem Zusammenhalt der Familie dienen, derart wichtig für die Arterhaltung sind, daß schon zu einem frühen Zeitpunkt in der Entwicklung des Einzelnen die Art der Familienstruktur als visueller Eindruck eingeprägt wird und dieser Eindruck als "richtig" zum späteren Maßstab wird! Anders ausgedrückt, es scheint eine phylogenetische Veranlagung zu bestehen, die dazu führt, daß der Einzelne in früher ontogenetischer Entwicklung die spezifische Form der Familienstruktur lernt, die dann als die richtige vom Individuum akzeptiert wird. Dieser fundamentale visuelle Eindruck bestimmter Familienbindungen scheint ein wichtiger Faktor im Reifeprozeß des menschlichen Gerechtigkeitssinn zu sein; ähnlich wie die Wahrnehmung des Paarbandes bei den Mantelpavianen oder der Mutter-Kind-Einheit in vielen anderen Arten zur Ausbildung von aggressionshemmenden Mechanismen führt.

A Comparative Look at East and West German Family Law, Stanford Law Review 5 (1971), S. 124; David C. Buxbaum, Family Law and Customary Law in Asia. The Hague 1968; N. J. Meijer, Marriage Law and Policy in the Chinese People's Republic, New York 1971.

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Im Rechtssystem verankerte Werturteile sind nirgendwo klarer zu erkennen als im Familienrecht. Die Struktur der Familie l und die Rechte und Pflichten der einzelnen Familienmitglieder waren immer bestimmten Regeln unterworfen. Solche Regeln sind z. B. in alten Tabus und religiösen Geboten enthalten und ebenso im modernen Recht; in allen heute bestehenden Rechtssystemen nehmen Familienangelegenheiten, die die Grundlage des Gruppenlebens bilden, einen Platz von höchster Bedeutung ein. Der Hauptteil aller Streitigkeiten, die in primitiven Gesellschaften vor Gericht kommen, betrifft Familienangelegenheiten; auch in der technisierten modernen Gesellschaft sind sie ein Hauptgebiet der Gesetzgebung. Der Zerfall der Familie, der oft zur Folge hat, daß die Kranken und Hilflosen verlassen werden oder daß Kinder und Jugendliche sich nicht im Rahmen ihrer Fähigkeit entwickeln können, hat in fast allen modernen Gesellschaften Alarm ausgelöst, und unter dem Druck der öffentlichen Meinung mußten Gesetzgebung und Rechtsprechung sich mit diesen Fragen beschäftigen2 • In den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern betonen noch immer selbst kürzlich erlassene Gesetze und Kommissionsberichte die Bedeutung der Familienstabilitä~, obwohl der allgemeine Trend, Schei1 Der Begriff "Familie" wird in dieser Arbeit im weitesten Sinne gebraucht. Eine Definition, die für das amerikanische Recht zutreffend ist, finden wir in Black:'s Law Dictionary, 4. Aufl. St. Paul 1968, S.730, wonach die Familie ein Zusammenschluß von Personen ist, die einen gemeinsamen Haushalt unter einem Vorstand und einer häuslichen Regierung bilden, und die eine gegenseitige, natürliche und moralische Pflicht haben, füreinander zu sorgen. Neben dieser Definition sind noch weitere dreieinhalb Seiten dem Begriff der Familie gewidmet. Für das deutsche Recht vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 3. Aufl. 1973, S.380: "Gesamtheit der durch Ehe und Verwandtschaft miteinander verbundenen Personen". 2 Max Rheinstein, Marriage Stability, Divorce and the Law, Chicago 1972, S. 29. Der Widerstand gegen eine Erleichterung der Scheidung wird meist damit begründet, daß man meint, ein solcher Trend würde zum Zerfall der Ehe, der Familie und der Gesellschaft führen. 3 Der Uniform Marriage and Divorce Act Kaliforniens von 1970 führt aus, das Gesetz beabsichtige: 1. die Integrität der Ehe zu stärken und zu bewahren, 2. sinnvolle Bindungen zu schützen. Die kalifornische Regierungskommission für Familienfragen schlägt in ihrem Bericht von 1966 vor, daß die Parteien, die eine Ehescheidung bean-

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dungen leichter zu machen, mit diesem Ziel im Widerspruch steht. Vielleicht läßt sich dies daraus erklären, daß auch heute der Wandel in den Gesetzen, die das Familienleben regeln, Veränderungen im Verhalten, die durch die Umwelt bedingt sind, widerspiegelt; und wie die Umwelt sich ständig wandelt, so muß auch das Recht, das als Maßstab für menschliches Verhalten dient, sich wandeln. Wenn tradierte Werte es nicht erlauben, daß Gesetzesänderungen stattfinden, dann versuchen die Richter, den alten Begriffen neue Interpretationen zu geben, meistens beeinflußt von politischen oder ideologischen Erwägungen. Es überrascht daher nicht, daß die Allgemeinheit und besondere Interessengruppen in den USA (wie auch in vielen anderen Ländern) an einer Reform des Familienrechts interessiert sind und versuchen, diese mittels Entscheidungen des Supreme Court der Vereinigten Staaten zu erreichen. In jüngster Vergangenheit erlassene Gesetze und Entscheidungen haben sich mit diesem Problemkreis beschäftigt. Der Supreme Court hat versucht, innerhalb der bestehenden Gesetze durch neue Interpretationen Probleme der Gegenwart zu lösen4 • Das Versagen jener Familienbindungen, in die uns ethologische Forschung neue Einblicke gewährt - wie das Paarband und das MutterKind-Band - , hat mit zum Zerfall der Familie beigetragen. Dies wiederum kann als Ursache für die ständig wachsende Zahl der Fälle angesehen werden, die vor das Jugendgericht kommen, für die Zunahme von Gewaltverbrechen, Kindesmißhandlungen, für psychische und geitragen, an Eheberatungen teilnehmen sollen, um eine Versöhnung zu versuchen. Das New York Domestic Relations Gesetz von 1967 schuf ein Versöhnungsamt, um eine Versöhnung zu erleichtern und zu fördern. The New Jersey Supreme Court's Committee on Reconciliation (1956) erklärt, daß der Staat eine interessierte dritte Partei der Ehe sei. In der Sowjetunion hatte man durch Gesetzgebung des Jahres 1944 die Scheidungsfälle beträchtlich reduziert (1,1 pro 1000 im Jahre 1940, 0,6 im Jahre 1945). Als die Scheidungsfälle wieder häufiger wurden und in den Jahren 1960 bis 1964 auf 1,34 anstiegen, wurden zwischen 1965 und 196& erneute Reformgesetze erlassen. Art.6 des Grundgesetzes der BRD führt aus: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung". Darüber hinaus soll jede Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft Anspruch haben. 4 In Griswold v. Conn., 381 U. S. 479 (1965) begründete der U. S. Supreme Court seine Entscheidung, die Ehepaaren die Benutzung von schwangerschaftsverhütenden Mitteln erlaubte, nicht mit dem 14. Amendment, sondern berief sich auf ein "Right of Privacy", das älter sei als die "Bill of Rights" (s. Paul Bender, Privacy of Life, in Harper's Magazine, Märzausgabe 1974). In Eisenstadt v. Baird, 405 U. S. 438 (1972) gewährte der Supreme Court das Recht auf Benutzung von schwangerschaftsverhütenden Mitteln auch unverheirateten Personen, und in Roe v. Wade, 410 U. S. 113 (1973) wurde ein weitreichendes Recht auf Schwangerschaftsabbruch gewährt. Noch nicht vom U. S. Supreme Court entschieden ist der im Jahre 1973 vom Massachusetts Supreme Court entschiedene Fall Doe v. Doe, in dem einer Frau das Recht zuerkannt wurde, ihre Schwangerschaft zu beenden, obwohl der Ehemann dagegen Einspruch erhob.

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stige Störungen, für die Vernachlässigung der Alten und für andere soziale übel, die zumindest teilweise, wenn nicht ganz, auf ein Versagen der Familie zurückzuführen sind. Da die Familie eine so zentrale Position in der menschlichen Gesellschaft einnimmt und da der rapide Wandel unserer Umwelt unter dem Einfluß der Technologie immerzu neue Konflikte in die Familie trägt (was wiederum zu immer neuen Forderungen nach individueller Freiheit führt ohne gleichzeitige übernahme von Verpflichtungen), scheint es von Interesse, das Verhalten innerhalb der Familienstruktur genauer zu untersuchen. Einer der offensichtlichen Unterschiede in der Struktur der menschlichen Familien sind die monogame Familieneinheit des Westens und die polygamen Familienformen, die in Afrika und Asien vorherrschen 5• Dieser Unterschied ist nicht allein auf religiöser Grundlage zu erklären. Sicherlich hat die Religion das Eherecht und das Familienrecht beeinflußt. Aber der Mensch und sein Vorfahre lebten bereits in enggeschlossenen Gruppen und in Familieneinheiten, bevor die heute vorherrschenden Religionen existierten. Der bedeutende Gelehrte der Rechtsvergleichung, Max Rheinstein, sieht eine Relation zwischen den Unterschieden im Eherecht und sozialen Faktoren und fügt hinzu: "Von diesen Faktoren werden ethische und religiöse Werturteile weitgehend ohne Reflexion akzeptiert. Sie wurden im Prozeß der Akkulturation implantiert, der die Zivilisation der aufeinanderfolgenden Generationen formte, von denen Zivilisationen gebaut und entwickelt wurdenG." Weder Rheinstein noch eine Vielzahl von Soziologen stellten die Frage, warum verschiedene ethische und religiöse Werturteile bestehen. Da sich die Verschiedenheit von Werturteilen immer störend ausgewirkt hat und oft das friedliche Zusammenleben menschlicher Gruppen gefährdete, ist ein besseres Verständnis der Ursachen für solche Verschiedenheiten wünschenswert. Im folgenden wird der Versuch gemacht, eine Erklärung für die Diskrepanz der religiösen Werturteile (die sich in den verschiedenen Rechtsordnungen widerspiegelt) bezüglich monogamer und polygamer Familienorganisation zu finden. Es ist anzunehmen, daß in vielen frühmenschlichen Gruppen eine Paarbindung existierte und daß umgekehrt die Paarbindung in anderen frühmenschlichen Gruppen nur eine kurze Dauer hatte oder überhaupt nicht vorhanden war. Wo Paarbindung vorkam, mag sie in einigen Gruppen polygamer Natur gewesen sein' , während sie in anderen Gruppen monogam war, je nach den Bedingungen der Umwelt. Aus diesem 5 Roger N. Johnson, Aggression in Man and Animals, Philadelphia 1972, S.95. In 84 Ofo von 185 Gesellschaften (Ford & Bach, 1951) oder 75 Ofo von 544 Gesellschaften (Murdoch, 1957) ist Polygamie die gesetzliche Form der Ehe. 6 Max Rheinstein, (Anm.2 im Abschnitt V), S. 10. 7 S. Anm. 2 und 11 im Abschnitt IV.

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Grunde bildeten die verschiedenen Gruppen verschiedene Werturteile über Familienstruktur, möglicherweise durch visuelle Wahrnehmung ausgelöst, d. h. vorhandene oder nicht vorhandene Paargestalt, sowie die Anzahl der Frauen, die an einen Mann gebunden waren, führten zu verschiedenen Werturteilen. Andererseits bestand in allen Gesellschaften das Mutter-Kind-Band, eine Verbindung, die überall respektiert wurde, gleichgültig, wie die Umwelt war. Da die Umwelt des Menschen vielseitiger war und ist als die Umwelt anderer Primaten, muß diese Vielseitigkeit im Laufe der Evolution nahezu alle Verhaltensmodifikationen aktiviert haben, deren Menschen fähig sind. Einzelne Primatenarten sind monogam, andere (wie z. B. die Schimpansen) kopulieren mit mehreren Partnern ohne Paarbindung; von den verschiedenen Pavian-Arten zeigen nur die Mantelpaviane eine ausgeprägte Paarbindung, und zwar auf polygamer Basis. In den verschiedenen menschlichen Gesellschaften finden wir monogame, polygame und sogar polyandre8 Familienorganisationen (obwohl Polyandrie zahlenmäßig verhältnismäßig unbedeutend ist). Hinzu kommt, daß der Mensch sich nicht nur dem natürlichen Wandel der Umwelt anpassen mußte, sondern auch noch dem rapiden Wechsel, den er selbst verursachte, als er begann, mit Hilfe der Technologie seine Umwelt zu verändern. Der Mensch konnte sich nur deshalb anpassen, weil er bestimmte Verhaltensweisen ändern konnte 9 einschließlich der Verhaltensweisen, die sich in der Familienstruktur ausdrücken. Die Familienorganisation unseres menschlichen Vorfahren, der als Vegetarier lebte, zeigte wahrscheinlich ähnliche Variationen der Familienstruktur, wie sie bei den verschiedenen Pavian-Arten vorkommen1o • Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Mutter-Kind-Einheit be8 Robin Fox, Kinship and Marriage, 1967. In Tibet besteht eine Form der Polyandrie unter Brüdern, die gemeinsam eine Frau haben, vgl. Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß, 1971, 8.186. Der Grund für Polyandrie liegt nach EiblEibesfeldt in der Knappheit der Nahrungsmittel und des Territoriums. Dieser Mangel erfordert Geburtenkontrolle, die dadurch herbeigeführt wird, daß die Anzahl der Frauen im gebärenden Alter beschränkt wird und bei der Form der Polyandrie gleichzeitig ein sexueller Ausgleich für eine größere Anzahl von Männern zur Verfügung steht. 9 Wickler und andere Ethologen vertreten die Ansicht, daß das Verhalten sozusagen das plastischste Organ aller Lebewesen ist und daß diese Plastizität des Verhaltens nötig ist, um ökologische Nischen unter verschiedenartigen Umwelt bedingungen zu finden. Man hofft, daß neue biologische Erkenntnisse dazu verhelfen werden, daß man voraussagen kann, welche Gruppenstrukturen unter bestimmten Umweltbedingungen am günstigsten sind. 10 M. A. Edey, (Anm. 12 im Abschnitt I), S. 50. Wo besonders schwierige Probleme der Nahrungsversorgung bestanden, war die Vielzahl erwachsener Männer beim menschlichen Vorfahren genauso überflüssig wie bei den Pavianen. Familieneinheiten mit nur einem erwachsenen Mann könnten daraus resultiert haben.

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stand und daß erwachsene Männer, deren Anatomie sich zum Gebrauch von Waffen ausgebildet hatte, den Schutz der Gruppe gewährleisteten. Es scheint ferner wahrscheinlich, daß die Männer keine direkten Aufgaben beim Aufziehen der Nachkommen hatten, mit Ausnahme des Schutzes der Mutter-Kind-Einheit und als Erzeuger der nächsten Generation. Solange jedes Individuum alle Nahrung sammeln konnte, die für seine Erhaltung nötig war, konnten ungefähr sieben erwachsene Männer, wie das in der Steppenpavian-Gruppe von vierzig der Fall ist, die Aufgaben der Fortpflanzung und des Schutzes erfüllen. Als Fleisch ein Teil der menschlichen Nahrung wurde und aus diesem Grund die Jagd nach kleineren oder größeren Beutetieren eine Lebensnotwendigkeit wurde, entwickelte sich auch ein Verhalten, das wir mit Nahrungsmittel-Teilung bezeichnen; d. h. zwei oder mehr erwachsene Individuen teilen sich die gesammelte oder erjagte Nahrung (food-sharing). Wenn dies nicht schon zuvor der Fall war, so wurde es jetzt eine NotwendigkeWl. Der Erwerb dieser Eigenschaft machte es möglich, daß die Familiengruppe zu einer beständigen ökonomischen Einheit wurde mit dauerndem Paarband und Zusammenarbeit beim Aufziehen der Kinder l2 • Das Band zwischen Mann und Frau beruht nicht auf einem rigiden Mechanismus wie z. B. dem "Herden" der Mantelpaviane. Ähnlich wie bei diesen ist jedoch das menschliche Paarband auch nicht auf den Zeitraum der Ovulation im weiblichen Sexualzyklus beschränkt. Die kontinuierliche Fähigkeit und Bereitschaft der Frau auf sexuellem Gebiet wird als einer der Faktoren betrachtet, die es ermöglichten, ein stabiles Paarband aufrechtzuerhalten, um Nahrung und Schutz für Mutter und Kinder zu gewähren. Da das menschliche Kind nicht mehr die Fähigkeit hatte, sich an der Mutter festzuhalten, mußte es von ihr getragen werden, was ihre Mobilität und die Erreichbarkeit von Nahrungsquellen 11 Irven DeVore, Primate Behavior, New York I London 1965, S.407: "Jagd allein ist eine unsichere ökonomische Basis. Studien jüngeren Datums bei heute lebenden Sammler-Jäger-Gesellschaften, wie z. B. den Buschmännern der Kalahari-Wüste, zeigen, daß Männer nur dann jagen können, wenn sie auf beträchtliche Nahrungsbeiträge von seiten der Frauen rechnen können, die etwa 50-80 Ofo der Nahrungsmittel in der täglichen Versorgung der Buschmänner sammeln". Dieser Anteil, der von den Frauen geleistet werden muß, kann kleiner oder größer sein, je nach den ökologischen Bedingungen. Jedoch scheint es offensichtlich, daß Jagen erst dann ein wesentlicher Teil der menschlichen Lebensweise werden konnte, als Männer und Frauen Nahrungsmittel miteinander teilten. 12 Nahrungsmittelteilung kommt bei anderen Primatenarten nur zwischen Mutter und Kind vor. Daß Schimpansen in der zuvor beschriebenen Situation Fleisch miteinander teilen, muß als Spezialfall betrachtet werden. Man nimmt an, daß ohne Nahrungsteilung eine Arbeitsteilung nicht möglich gewesen wäre. Beobachtungen der heute lebenden Sammler-Jäger-Gesellschaften weisen darauf hin, daß für eine Arbeitsteilung ein gemeinsames Heim von großem Vorteil ist. Frauen und Kinder sammeln Nahrungsmittel in der Nähe des ständigen Wohnsitzes, während die Männer jagen gehen, und die Familie vereinigt sich am Wohnsitz, um die Früchte ihrer Arbeit zu teilen.

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limitierte. Es scheint daher wahrscheinlich, daß die menschliche Mutter, selbst in verhältnismäßig günstiger Umwelt, auf die Hilfe des Mannes angewiesen war, da ständiger, enger Kontakt mit der Mutter für einen langen Zeitraum für das Kind lebensnotwendig war. Nachdem die Spezialisierung in der Erfüllung lebensnotwendiger Aufgaben sich soweit entwickelt hatte, daß die Anatomie und Physiologie des Mannes ihn besonders geeignet zum Jagen und zur Verteidigung machte, scheint es wahrscheinlich, daß männliche Kinder in jugendlichem Alter bestimmte Aufgaben unter der Anleitung erwachsener Männer erlernen mußten. Die Anwesenheit eines Vaters innerhalb der Familie gewann weiter an Bedeutung. Wenn einerseits die kontinuierliche sexuelle Bereitschaft der Frau den Mann anzog und das Paarband stärkte, was für die Aufzucht der Kinder von Vorteil war, konnte auch ihre Sexualität andererseits das Leben der Kinder in Gefahr bringen, wenn Geschlechtsverkehr kurz nach der Geburt eines Kindes zu einer neuen Schwangerschaft führte. Da eine neue Schwangerschaft die Laktation beendete und die Mutter dann nicht fähig war, das Kind weiter zu stillen, fehlte dem Kind die eiweißreiche Nahrung, die für sein überleben notwendig war. Selbst in primitiven Gesellschaften, in denen der kausale Zusammenhang zwischen Koitus und Schwangerschaft oft nicht völlig verstanden wird, und besonders dort, wo Nahrungsquellen sehr beschränkt sind, finden wir strenge Tabus, die den sexuellen Verkehr vor und nach der Geburt regeln. Wo polygame Familienorganisation besteht, werden diese Tabus immer streng beachtetl3 • Man könnte daraus schließen, daß aus diesem Grund polygame Familienstrukturen adaptiv waren, wenn die zur Verfügung stehenden Nahrungsquellen nicht genügend Proteine enthielten, um das überleben der Kleinkinder ohne die Muttermilch zu gewährleisten. Vor ungefähr 10000 Jahren, so nimmt man an, lernte der Mensch, Pflanzen und Tiere zu domestizieren und Nahrungsmittel zu produzieren und aufzubewahren. Ausgrabungen zufolge soll die Entwicklung der Landwirtschaft in der Ebene zwischen Euphrat und Tigris im Mittleren Osten begonnen haben, wo die ersten überreste domestizierter Pflanzen und Gebeine domestizierter Tiere gefunden wurden. Von dieser Gegend aus breitete sich die landwirtschaftliche Revolution in anderen Teilen Asiens aus und später auch in Afrika und Europa l4 • In diesem Zeitraum war die Struktur der Familie wahrscheinlich die Großfamilie, die mehrere Generationen umschloß, aus ein oder mehreren erwachse13 Bronislaw Malinowski, The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia, New York 1929. 14 R. J. Braidwood, The Agricultural Revolution, in Scientiflc American, September 1960.

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nen Männern und einer Anzahl von Frauen, Kindern und Jugendlichen bestand und wahrscheinlich zumeist auf Verwandtschaft in der mütterlichen Linie beruhte. Bei allen Primaten besteht eine Tendenz, einzelnen Individuen gegenüber persönliche Zuneigung und Abneigung zu zeigen 1•• Man kann annehmen, daß diese Tendenz verstärkt wurde durch die territoriale Immobilität und durch den Wunsch der Einzelnen, auf dem kultivierten Land zu bleiben und es zu verteidigen. Es scheint deshalb wahrscheinlich, daß die Gruppen, in denen die Menschen zusammen lebten, kleiner wurden und daß junge erwachsene Männer mit so vielen Frauen, wie Sitte oder Gesetz es gestatteten, in neue Gebiete zogen, um dort ansässig zu werden. Es erscheint ferner wahrscheinlich, daß in einzelnen Gruppen eine größere Anzahl der heranwachsenden oder der jungen erwachsenen Männer durch Jagdunfälle oder Kämpfe mit Tieren und feindlichen Stämmen umkamen als Mädchen, die weniger Gefahren ausgesetzt waren 1G • Auf der anderen Seite mag bei einigen Gruppen frühe Schwangerschaften und das Fehlen von Tabus bezüglich sexueller Beziehungen für einen gewissen Zeitraum nach der Geburt eines Kindes zu einem hohen Prozentsatz von Todesfällen junger Frauen geführt haben. Je nach der Relation zwischen jungen Männern und Frauen könnte das Paarband sich entweder polygam oder monogam entwickelt haben (in Ausnahmefällen könnte sogar die Form der Polyandrie bestanden haben). Zwischen 10000 bis 5000 v. ehr. wurden Landwirtschaft und Viehzucht ein permanenter Teil der ökonomischen Umwelt des Menschen. Diese Tatsache beeinflußte die Familienstruktur. Nach wie vor blieb die Arterhaltung das Hauptmotiv von Regeln und Rechtssätzen, und das soziale Zusammenleben, notwendig für die Fortpflanzung und die Aufzucht der Kinder bis zu ihrer Unabhängigkeit, wurde mit Hilfe von Tabus, Geboten, Regeln und Rechtssätzen reguliert. Bereits viele Tausende von Jahren vor dieser Zeit hatte die Phantasie des Menschen 15 H. Kummer (Anm. 3 im Abschnitt III), S. 34. Obwohl Primaten Zugang zu allen Mitgliedern ihrer Gruppe haben, zeigen sie doch meistens ausgeprägte Präferenzen für einige Mitglieder der Gruppe, während sie mit anderen kaum Beziehungen aufnehmen. Die Bildung derartiger Untergruppen beruht teilweise auf bisher unerklärlicher individueller Bereitschaft und teilweise auf Verwandtschaft und Altersgruppenpräferenzen. Verwandtschaft bei nicht-menschlichen Primaten bezieht sich stets auf die Verwandtschaft mit der Mutter. Die Untergruppe Mutter/Kind bestimmt die sozialen Verbindungen der Kinder. 1G E. Adamson Hoebel, The Law of Primitive Man, New York 1972, S.76. Wenn weibliche Kinder nicht getötet würden, so gäbe es wahrscheinlich ungefähr eineinhalb mal soviele erwachsene Frauen in der durchschnittlichen Eskimogruppe als Männer, die für die Beschaffung von Nahrungsmitteln sorgen müssen; dies ist eine Folge der Jagdunfälle und tödlichen Kämpfe zwischen den Männern.

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Mythen und starken Glauben an das übernatürliche geschaffen. Dies half, sein biologisch programmiertes Verhalten in Bahnen zu lenken und gewisse Hemmungen zu stärken. Erfahrung und Gehorsam gegenüber den in der Rangordnung höher Stehenden trug dazu bei, eine Balance zwischen Trieben und Hemmungen zu erreichen. Innerhalb der Familienorganisation führte dies zu einem Ausgleich der Rechte und Pflichten, der von Religion und Recht gestützt wurde. Vergleichende Studien zeigen, daß die Struktur von Familiengruppen sich evolutionär so entwickelt, daß sie es gestattet, soviele gesunde Nachkömmlinge wie möglich im Rahmen der zur Verfügung stehenden Nahrungsquellen und des Raumes großzuziehen, der einer Spezies zur Verfügung steht. Dies setzt natürlich eine optimale Höchstzahl für die Spezies voraus und die Stabilisierung der Bevölkerungszahl, sobald dieses Optimum erreicht ist 17 • Die landwirtschaftliche Ökonomie z. B. benötigte den Einsatz von Frauen und Jugendlichen, um die Produkte heranzuziehen, die die Hauptnahrungsquelle bildeten. Erwachsene Männer waren sicherlich teilweise unterwegs auf der Jagd, aber wir können annehmen, daß sie sich nicht allzu weit entfernten, da die Verteidigung der kultivierten Felder gegen Raubtiere oder nomadische Banden ihre Nähe erforderte. Die Notwendigkeit, das Territorium zu verteidigen, beschränkte seine Größe; dies wiederum begrenzte die Menge der Nahrungsmittel und somit die Anzahl der Menschen, die ernährt werden konnten. Unter den vorhandenen Umweltbedingungen war die Großfamilie sowohl in monogamer als auch in polygamer Form l8 die günstigste Organisation. Unter 11 R. J. Braidwood (Anm.14 im Abschnitt V). Maßnahmen zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl finden wir bei vielen primitiven Gesellschaften. Die Tatsache, daß bei primitiven Gesellschaften die Mütter ihre Säuglinge und Kleinkinder über eine Periode von bis zu 4 Jahren stillen, trägt dazu bei, neue Schwangerschaften zu verhüten, da während der Laktationsperiode im allgemeinen die Fruchtbarkeit der Frau eingeschränkt ist. Zusätzlich bestehen bei einigen Sozietäten Tabus, die Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die ein Kind gebar (post partum), für einen längeren Zeitraum nach der Geburt des Kindes verbieten. Die Einhaltung dieser Tabus ist natürlich die beste Methode, neue Schwangerschaften zu verhindern, solange das Kleinkind auf das Vorhandensein der Muttermilch angewiesen ist, um zu überleben. 18 Hoebel wie Malinowski deuten darauf hin, daß der Vorteil polygamer Familienstrukturen darin liegt, daß sie post partum - Sextabus erleichtern und somit den Neugeborenen die mütterliche Milch als Nahrungsmittel für eine genügend lange Zeit erhalten. Malinowski (Crime and Custom in Savage Society, Neuauflage Totowa 1972, S. 233) berichtet, daß bei den Trobriand-Insulanern Koitus post partum tabu ist, mindestens bis das Kind laufen kann, aber auch häufig, bis es abgestillt ist (ungefähr 2 Jahre nach der Geburt), und daß diese strengere Regel immer eingehalten wird von Männern, die in polygamen Eheformen leben. Hoebel erwähnt, daß andere Gesellschaften, z. B. Eskimos, in bestimmten Fällen Kinder töten (The Law of Primitive Man, New York, 1972, S.74).

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solchen Verhältnissen konnten erwachsene Männer, die zu ihren Frauen Zuneigungen empfanden und an sie gebunden waren, mehr Zeit mit der jungen Generation verbringen; und so entwickelte sich ein engeres Band zwischen Vater und Kindern, hauptsächlich zwischen Vater und den heranwachsenden Söhnen. Der Vater lehrte seine Söhne die Aufgaben, die Männer zu vollbringen hatten, und seine tolerante und protektive Haltung gegenüber Kindern, die unter Primaten weitverbreitet ist19 , wurde wahrscheinlich bestärkt, als der Begriff der biologischen Vaterschaft20 sich allmählich formte. Diese Großfamilienstruktur, polygam oder nicht, die heute noch in den meisten Teilen Afrikas und Asiens die vorherrschende ist, war die günstigste Form für die Menschen, die in den Jahren 10000 bis 5000 v. Chr. lebten. Ungefähr im Jahre 4000 v. Chr. entwickelte sich jedoch ein neuer ökonomischer Faktor. Ausgrabungen aus jener Zeit zeigen, daß zu dieser Zeit die ersten Städte entstanden21 • Archäologi19 Jane van Lawick-Goodall, In the Shadow of Man, Boston 1971, S.33. Erwachsene männliche Schimpansen zeigen große Toleranz gegenüber jugendlichen Schimpansen, selbst wenn diese sie beim Koitus stören. Wickler (Anm. 3, im Abschnitt IV, S.255) beschreibt das Kindchen-Schema (ein Ausdruck, den Konrad Lorenz prägte), wonach bestimmte Charakteristiken in der Struktur und im Benehmen der Neugeborenen angeborene Mechanismen des Brutpflegeverhaltens auslösen. Einige dieser Verhaltensweisen sind sowohl beim Mann als auch bei der Frau vorhanden; zu ihnen gehören Toleranz und Bereitwilligkeit, das Kleinkind zu schützen. Die Intensität dieses Verhaltens ist individuell verschieden und variiert zwischen den bei den Geschlechtern. 20 B. Malinowski, (Anm. 13 im Abschnitt V), S. 100-181. Er beschreibt im Detail das von ihm untersuchte Phänomen der Unwissenheit bezüglich biologischer Vaterschaft bei Trobriand-Insulanern. Diese Südseebewohner sind davon überzeugt, daß der kindliche Körper vor der Geburt sich ausschließlich und allein aus dem mütterlichen Erbgut aufbaut und daß der Vater in keiner Weise hierzu einen Beitrag leistet. 21 Robert M. Adams, The Origin of Cities, in Scientific American, September 1960. Bevor es zur Städtebildung kam, hatte sich die Zivilisation bereits in andere Richtungen ausgedehnt. Man nimmt an. daß in Ägypten unter den Pharaonen monumentale öffentliche Einrichtungen, ein formales Staatsgefüge, schriftliche Aufzeichnungen und der Beginn einer exakten Wissenschaft bestanden, und zwar tausend Jahre, bevor sich Städte formten. In Mesopotamien war die Landwirtschaft völlig ein Teil der Lebensweise geworden und viele Menschen lebten dort in Dörfern zusammen, die etwa 200 bis 500 Einwohner umfaßten. Es gibt kaum schriftliche Aufzeichnungen aus dieser Zeit, aber archäologische Funde weisen darauf hin, daß ungefähr 5500 v. Chr. oder sogar schon früher die dörfliche Gemeinde in Südwestasien herangereift war. Als eine Lebensweise stabilisierte sich diese soziale Form des Zusammenlebens über einen Zeitraum von 1500 Jahren oder noch länger. Dann beschleunigte sich das Tempo in starker Weise. Während der nächsten 1000 Jahre wuchsen die kleinen landwirtschaftlichen Dörfer auf der Ebene zwischen Tigris und Euphrat nicht nur in ihrem Umfang, sondern sie veränderten auch wesentlich ihre Struktur. Die Entwicklung kulminierte in den sumerischen Städte-Staaten, die Zehntausende von Einwohnern hatten, sowie hochentwickelte religiöse, politische und militärische Strukturen und weitverzweigte Handelskontakte.

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schen Funden zufolge scheint es nahezu sicher, daß sich die ersten Städte in Mesopotamien befanden. Dort gibt es mehrere Stellen in der Ebene zwischen Euphrat und Tigris, wo große Siedlungen mit städtischen Charakteristiken bestanden. Dies war eine entscheidende kulturelle und soziale Wandlung im menschlichen Leben, die dadurch ermöglicht wurde, daß die landwirtschaftliche Produktion Nahrungsmittelüberschüsse lieferte, die über die Bedürfnisse des Einzelnen hinausgingen. Die wesentlichsten Elemente dieser neuen Lebensweise waren jedoch eine ganze Serie neuer Institutionen und eine vielfach größere Ausdehnung und Komplexität der sozialen Organisation. In der späteren Hälfte der frühen Dynastien, ungefähr 3000 v. Chr., schlossen mehrere der bedeutendsten Hauptstädte im unteren Mesopotamien mehr als 1000 Hektar innerhalb ihrer verteidigten Grenzen ein. Die Stadt Uruk dehnte sich über 4000 Hektar aus und hatte etwa 50 000 Einwohner. So hatte sich der Lebensstil der Menschen innerhalb von 5000 bis 8000 Jahren mehr und radikaler geändert als in all den vorangegangenen Millionen Jahren. Der Mensch hatte gelernt, Nahrungsmittel herzustellen und sie aufzubewahren, statt sie zu sammeln oder zu erjagen. Dies ermöglichte es, einen Teil der menschlichen Energie für ein ganzes Spektrum neuer Tätigkeiten einzusetzen, und ermöglichte besonders die Arbeitsteilung. Der Besitz von Land und anderem Eigentum, die Notwendigkeit, diesen Besitz zu verteidigen und sich neuen sozialen Strukturen anzupassen, könnte latente Verhaltensveranlagungen aktiviert haben. Als Städte so groß wurden wie Uruk, könnte das enge Aufeinanderwohnen und der zunehmende Kontakt mit Fremden wohl auch gewisse hormonelle Prozesse beeinflußt haben, ebenso wie sich aggressive und auch sexuelle Verhaltensweisen gewandelt haben könnten22 • Die Fähigkeit, Aggression umzurichten, der Gebrauch von Zeremonien als Ventil für angestaute Emotionen oder ein starker Glaube an übernatürliche Kräfte, der dazu beiträgt, latente Inhibitionen zu stärken, waren in dieser Situation von Vorteil. Wenn Menschen eng beieinander wohnten, konnte Mangel an Nahrungsmitteln entstehen, wenn Kriege das Land verwüsteten oder ungünstige Wetterbedingungen die Ernte beeinträchtigten. Monogamie mag zu jenem Zeitpunkt bestimmte Vorteile geboten haben, und einige Menschen mögen darauf hingewiesen haben, 22 Bei nicht-menschlichen Primatenarten wurde festgestellt, daß aggressives Verhalten mit sexuellem Verhalten eng verwandt ist. Dies wurde durch neuere endokrinologische Daten bestätigt, vgl. Washburn und Hamburg, Aggressive Behavior in Old World Monkeys and Apes, in Primate Patterns (1968): "Das männliche Geschlechtshormon Testoteron spielt eine Rolle bei Aggression ... Emotionelle Verhaltensweisen, die für die Arterhaltung von Säugetieren wesentlich sind, haben ihre wesentliche strukturelle Grundlage in den phylogenetisch älteren Teilen des Hirns, hauptsächlich im Hypothalamus und in den angrenzenden Nervenbahnen."

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daß es besser sei, nur einen Ehepartner zu haben und nur Kinder großzuziehen, die aus einer solchen Vereinigung hervorgehen. In monogamen Ehen konnten sich individualisierte Vater-Kind-Bindungen besser entwickeln, und dies wurde um so wichtiger, als unter städtischen Lebensbedingungen, in denen sich ein Klassensystem entwickelt hatte, der Vater auch seinen Status auf den Sohn übertragen konnte23 • Die wirtschaftlichen Vorteile, die auf der kleineren Zahl von abhängigen Familienmitgliedern in der monogamen Familienorganisation beruhten, könnte religiöse Führer dazu veranlaßt haben, diese Form als die einzig wünschenswerte zu proklamieren24 • Die monogame Familie, gleichgültig, ob sie geplant wurde oder ob sie sich zufällig entwickelte, zeigte sich unter den gegebenen Umständen adaptiv. Gestärkt durch religiöse Gebote, breitete sich dieses Ehesystem mit dem Christentum in der gesamten westlichen Welt aus. Die Sorge für die Alten und Kranken, für Witwen und ihre Kinder blieb ein Teil der Familienfunktionen weit bis in das 19. Jahrhundert hinein, solange die Großfamilie vorherrschte. Als Technologie und modernes Stadtleben wiederum drastische und rapide Veränderungen im Leben des Menschen brachten und als Mobilität eine Voraussetzung für Anpassung wurde, änderte sich auch wieder die Familienorganisation. Die Kleinfamilie entstand und wurde zum vorherrschenden Familiensystem in den hochentwickelten Ländern. Die Industrialisierung und die Erschließung der Neuen Welt, die wiederum eine entwicklungsgeschichtlich plötzliche und umwälzende Wandlung brachte, war vielleicht nur deshalb möglich, weil die monogame Familieneinheit der westlichen Welt einer größeren Mobilität fähig war als polygame Familienstrukturen. Es war leichter, die Bindungen an weit entfernte Familienmitglieder aufzugeben, und die Lehren der judäo-christlichen Tradition boten eine Lösung emotioneller Konflikte, von höchster Stelle sanktioniert, wenn der Einzelne sich entscheiden mußte, seine Eltern und andere Mitglie23 Jane van Lawick-Goodall, The Behaviour of Free-Living Chimpanzees in the Gombe Stream Reserve, Animal Behaviour Monographs, V. 1 Part 3, London 1968: "Auch bei Schimpansen kann Statusverhalten bis zu einem gewissen Grade übertragen werden. Kinder weiblicher Schimpansen, die einen höheren Status einnehmen, entwickeln meistens Verhalten, das ihnen wiederum höheren Status während ihrer Adoleszenz und im Erwachsenenalter gibt." 24 Im abgestuften sozialen Klassensystem der sumerischen Städte-Staaten spielten religiöse Führer eine bedeutende Rolle. Man nimmt an, daß sie die ersten Personen waren, die nicht direkt in den Arbeitsprozeß eingeschaltet waren. Sie überwachten eine Reihe ökonomischer wie ritualer Tätigkeiten, und ihre Macht und ihr Einfluß zeigten sich in den Tempeln, den größten Bauwerken dieser frühen Gemeinden. Diese privilegierte Gruppe religiöser Führer überwachte alle Zeremonien, und ihre Entscheidung über das, was wir heute familienrechtliche Angelegenheiten nennen, war unbestritten. Die Autorität des Staates auf diesem Gebiet begann erst viele tausend Jahre später.

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der der Großfamilie zu verlassen, um neue Möglichkeiten und Vorteile wahrzunehmen. Die Industrialisierung begann und entwickelte sich am schnellsten in den Ländern, in denen der protestantische Glaube vorherrschte, der betonte, daß der Mensch die Pflicht habe, zu arbeiten und auf der Erde Wohlstand zu erwerben, damit er im Himmel dafür belohnt werde. Deshalb finden wir die Kleinfamilie besonders in protestantischen Ländern, in denen sie die vorherrschende Form der Familienorganisation wurde. Es mag vielleicht verfrüht sein zu beurteilen, ob die Kleinfamilie sich anpassungsfähig zeigen wird. Es ist jedoch bereits jetzt offensichtlich, daß sie nicht in der Lage ist, hinreichend viele der Funktionen auszuführen, die für den Reifeprozeß und die emotionelle Unterstützung einiger oder aller Familienmitglieder nötig sind. Es besteht kein Zweifel, daß neue Methoden notwendig werden, um die Unzulänglichkeiten dieser Familienstruktur auszugleichen, und daß diese Methoden ihren Ausdruck in neuer Gesetzgebung oder Rechtsprechung finden und somit Teil des Familienrechts werden müssen. Ob die Kleinfamilie sich adaptiv zeigen wird oder nicht, mag von der Qualität der Werturteile abhängen, die in den Rechtsnormen ihren Ausdruck finden. Wie bereits erwähnt, sind heute Reformbewegungen auf dem Gebiet des Familienrechts im Gange, und viele Untergruppen unserer Gesellschaft fordern weitere Reformen.

VI. Familienrecbt und die Funktionen der Sexualität Die Stabilität der Familenorganisation, ob polygam oder monogam, ob Klein- oder Großfamilie, beruht zu einem großen Teil auf der Stärke und Dauer des Paarbandes 1 • Das Paarband, wie der Begriff hier benutzt wird, vereint einen Mann und eine Frau. Zu den Verhaltensweisen, die im Tierreich auf eine Paarbindung hinweisen, gehört Werbeverhalten und sexuelles Verhalten. Aber auch andere Verhaltensweisen, die der sozialen Interaktion dienen, sind oft von wesentlicher Bedeutung zur Einleitung und Aufrechterhaltung dieser Bindung. Das Verhalten, das in der Paarbindung zum Ausdruck kommt, ist komplex und besteht aus vielen verschiedenen Elementen. Es wird von hormonellen Prozessen2 aktiviert, die wiederum durch die Umwelt und durch das Entwicklungsstadium des Einzelnen beeinflußt werden. Die einzelnen Verhaltenselemente können nicht immer in allen Situationen isoliert werden. Hinzu kommt, daß einzelne Verhaltensweisen manchmal miteinander im Widerspruch stehen. Es ist jedoch möglich, einzelne Komponenten dieses Verhaltens zu isolieren, die keine direkten sexuellen Funktionen 1 Wickler (Anm. 3, im Abschnitt IV, S. 116) nennt das Paarband einen bedeutenden biologischen Prozeß, der bestimmte Zeremonien einschließt, die von jedem Individuum ausgeführt werden müssen, und zwar nur mit seinem Partner oder mit einem ihm engverwandten Familienmitglied, aber niemals mit unbekannten Artgenossen. Ein Beispiel dafür sind die Duettgesänge, die typisch für monogame Vögel sind, deren Geschlecht visuell nicht leicht zu erkennen ist. Bei einigen Arten singen beide Partner dieselben Noten oder Melodien, sie wiederholen oder singen gemeinsam. In anderen Fällen enthält das Duett der Partner verschiedene Noten oder Teile von Melodien, die sie in den verschiedensten Arten kombinieren. Duettgesänge kommen auch bei den Siamang (Hylobates Sindactulus), einem monogamen großen Gibbon, in Sumatra vor. Bei gewissen Arten gibt es auch Paarbandverhalten bei Tieren, die noch nicht sexuelle Reife erreicht haben. Kummer berichtet, daß jugendliche Mantelpavian-Männchen bereits vor ihrer sexuellen Reife Weibchen an sich binden und daß die Bande dauerhaft sind und: von den viel stärkeren erwachsenen Mantelpavianen respektiert werden. Konrad Lorenz beschreibt das Entstehen des Paarbandes bei sexuell noch nicht reifen Graugänsen. 2 Frank A. Beach, Sex and Behavior, New York 1965. Sexuelles Verhalten nicht-menschlicher Arten wird durch Beobachtung äußeren Verhaltens, aber auch durch Beobachtung der Interaktion von Nervensystemen, Hormonen und Erfahrung erforscht; siehe ebenfalls Washburn S. L. / Hamburg D. A., Aggressive Behavior in Old World Monkeys and Apes, 1968, S. 279: "Je enger die Verwandtschaft verschiedener Tierarten ist, desto wahrscheinlicher ist es, daß die internen biologischen Mechanismen, die für ihre Aktionen verantwortlich sind, ähnlicher Art sind."

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haben, wie z. B. das Verhalten, das für die Pflege der Kinder bis zu ihrer sozialen Reife (Brutpflegeverhalten, s. Anm. 11 im Abschnitt I) nötig ist oder das hauptsächlich der sozialen Interaktion und dem gegenseitigen Schutz dient. Wesentliche Bestandteile des sozialen Verhaltens bei vielen Arten sind: 1. die Interaktion innerhalb der Gruppe im allgemeinen, die, wie bereits erwähnt, bei vielen Primaten von persönlichen Zuneigungen und Abneigungen beeinflußt wird;

2. der geschlechtliche Verkehr zwischen einzelnen oder mehreren Mitgliedern der Gruppe und 3. die Pflege der Nachkommenschaft bis zur sozialen Reife (s. Anm. 11 im Abschnitt I). Verhaltensweisen, die sich auf einem Gebiet bewährt haben, werden - wie bereits erwähnt - manchmal auch auf andere Gebiete übertragen und können so zu "frei übertragbaren" Verhaltensweisen werden. Dies bedeutet, daß das Verhalten, das sich im Zusammenhang mit der Aufzucht der Nachkommenschaft entwickelte oder die geschlechtliche Vereinigung von Partnern förderte, auch benutzt werden kann, um Paare auf längere Dauer aneinander zu binden oder um Mitglieder einer größeren Gruppe zu vereinen3 • Die Möglichkeit, spezifische Verhaltensakte für verschiedene Zwecke in verschiedenen Situationen zu benutzen, hat großen adaptiven Wert, da der Einzelne damit rechnen kann, daß ein bestimmtes Verhalten seinerseits auch wiederum eine bestimmte spezifische, vorhersagbare Gegenhandlung hervorruft. Somit wird eine Reziprozität in den Handlungsweisen geschaffen, was letzten Endes dazu führt, daß berechtigte Erwartungen mit Verpflichtungen der anderen Seite ausgeglichen sind. Wenn Zeremonien und Riten diese gegenseitigen Handlungen begleiten, können sie die Aufmerksamkeit anderer erwecken und damit stärker verbindlich werden. Als Beispiel sei hier das Imponierverhalten der Schimpansen angeführt 4 • Dieses Verhalten drückt sich in verschiedenen Formen aus, die 3 Wolfgang Wickler, (Anm. 10 im Abschnitt 11). Die Funktion des sexuellen Verhaltens kann Veränderungen unterworfen sein, und Mechanismen, die zum Paarband führen, können ebenso benutzt werden, um Aggression umzurichten. Konrad Lorenz beschreibt dies ("Das sogenannte Böse") bei Cichlids und Graugänsen. 4 In einer etwa 35 Tiere umfassenden Gruppe wilder Schimpansen, die im Gombe Stream Research Center (Tansania) seit etwa 15 Jahren beobachtet werden, nehmen die männlichen Schimpsanen das Imponierverhalten in sehr verschiedenen Situationen und für verschiedene Zwecke ein. Sogenanntes aggressives Verhalten hat viele Nuancen. Es steht außer Zweifel, daß Drohgebärden - erhobene Arme, hochgezogene Schultern, das Schwingen von Zweigen, Steinewerfen und ähnliche Elemente des Imponierverhaltens nicht immer eine Kampfansage sind, sondern zunächst nur Drohung. Denn

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teilweise sowohl zur Aggression als auch zur Einleitung der sexuellen Beziehungen benutzt werden. In beiden Fällen, Aggression und Werbung, finden wir Erektion der Haare, des Penis und das Schütteln von Zweigen (all diese sind im wesentlichen Drohgebärden) und selbst direkten Angriff, wenn Drohen allein nicht dazu ausreicht, das Individuum, demgegenüber dieses Imponierverhalten angewandt wird, zur erwarteten Antwortgeste zu bringen. es kommt verhältnismäßig selten zu Kämpfen, bei denen Tiere schwer verletzt werden, und in den 15 Jahren wurden keine tödlichen Verletzungen beobachtet. Das Imponierverhalten ist oft ein Ausdruck der Erregung und ein Abreagieren, wenn ein Tier frustiert ist. In solchen Fällen wird die "Aggression" (man könnte dies auch lediglich als Wutausbruch bezeichnen) oft auf Gegenstände in der Umgebung oder auf andere (meist schwächere) Tiere umgerichtet. Es scheinen sich hier Hemmungen einzuschalten, welche Kämpfe zwischen solchen Tieren verhindern, die sich gegenseitig schwere oder tödliche Verletzungen beibringen könnten. Eine zweite Funktion dieses Verhaltens ist im Zusammenhang mit der Rangordnung (Dominanzordnung oder hierarchischen Ordnung) erkenntlich, die eine wesentliche Determinante der Gruppenordnung darstellt. Mit beginnender Pubertät wird das Imponierverhalten des männlichen Schimpansen, der schon von frühester Jugend an dieses Verhalten zeigt, häufiger; zunächst in spielerischer Form (oft ist es schwer, den übergang von Spiel zu Ernst klar zu erkennen). Dieser Zustand ändert sich, wenn der Jugendliche sich einen Platz in der Rangordnung gesichert hat. Man könnte dies so erklären, daß die Periode der Frustration - bedingt durch den Reifeprozeß, der eine Lockerung der Mutter-Kind-Bindung erfordert und zur Bildung neuer Bindungen innerhalb einer neuen Untergruppe anregt - durch ein Wohlgefühl beendet wird, erreicht durch Einreihung in die Ordnung der Erwachsenen. Im selben Zusammenhang steht das Imponierverhalten, das dann erfolgt, wenn ein Tier sich innerhalb der Dominanzordnung einen höheren Rang erwerben will. Dieses Aufsteigen innerhalb der Dominanzordnung erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Ein bekanntes Beispiel iSlt der Schimpanse "Mike", der innerhalb von 3--4 Monaten von einem niedrigen Rang zum höchsten Rang aufstieg und dann 5 Jahre lang seine Stellung als Alphatier behielt. Der Aufstieg gelang ihm, weil er als einziges Tier in der Gruppe umherliegende Kerosinkanister beim Imponieren benutzte, zusätzlich zu den üblichen Gegenständen der Umgebung wie Steine und Zweige. Dominanz bedeutet nicht ständiges Drohen und Kampfansage von seiten des Stärkeren. Im Gegenteil, solche Handlungen erfolgen nur selten. Im allgemeinen erkennt man, wer der Ranghöchste in einer Gruppe ist, an der Haltung der anderen Tiere, die das überlegene Tier beobachten und ihre Haltung nach ihm auszurichten scheinen. Die Anwesenheit von ranghohen Tieren hat vor allem eine beruhigende Wirkung auf die anderen. Im menschlichen Sinne könnte diese Wirkung als die Funktion von Autorität, notwendig zur Aufrechterhaltung der Ordnung, gedeutet werden. Auch hier spielt wieder das Prinzip des Wohlgefühls eine Rolle. Imponierverhalten als Werbeverhalten im sexuellen Sinne wurde an anderer Stelle beschrieben. Schimpansen zeigen Imponierverhalten auch im Zusammenhang mit Naturereignissen, wie z. B. während der Regenzeit, bei deren Beginn sie häufig eindrucksvolle Regentänze (ein von Goodall geprägter Ausdruck) ausführen. Regen ist den Schimpansen offensichtlich unangenehm. Trotzdem haben sie bisher noch nie in irgendeiner Form etwas benutzt oder errichtet, was ihnen Schutz vor dem Regen bieten würde. Im allgemeinen vermeiden sie, sich ins Wasser zu begeben, und benutzen vorhandene Steine, um Bäche zu über-

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Der erwachsene männliche Schimpanse zeigt Imponierverhalten als Werbeverhalten nur gegenüber weiblichen Schimpansen, die brünstig sind. Manchmal fordern die weiblichen Schimpansen dieses Verhalten heraus, in den meisten Fällen jedoch ergreift der männliche Schimpanse die Initiative. Einmal begonnen, ist der Ablauf der wechselseitigen Handlung so, daß die fordernden Verhaltensweisen des einen Partners zu Verpflichtungen des anderen werden und jeder Partner bestimmte Gebärden und Gesten auszuführen hat. Im Falle des weiblichen Schimpansen wird das Anwortverhalten zur Werbung durch die geduckte Stellung ausgedrückt, die es dem männlichen Schimpansen erlaubt und ermöglicht, das Weibchen zu besteigen. Dieselbe geduckte Haltung wird sowohl von männlichen als auch von weiblichen Schimpansen in aggressiven Zusammenstößen beobachtet als eine spezifische Antwort gegenüber Drohgebärden, wenn der Betroffene nicht kämpfen will, sondern die überlegenheit des anderen anerkennt. Sobald ein bedrohter Schimpanse jedoch mittels der geduckten, unterwürfigen Position seine Untergebenheit demonstriert, stellt er damit gleichzeitig einen Anspruch auf eine bestimmte Handlung des anderen (nämlich Beendigung der Drohung), die zur Verpflichtung des Drohenden wird. In diesem Zusammenhang bedeutet dies, daß der Drohende ihn nicht attackieren darf. Hier ist es von Interesse, daß häufig sogar darüber hinaus eine weitere bestimmte Handlung vom drohenden Angreifer erwartet wird, und zwar eine Beruhigungsgeste. Der überlegene berührt den Kopf oder die Schultern (oder andere Körperteile) des Unterlegenen, um ihn zu beruhigen; gleichsam ein Finale der aggressiven Konfrontation, ähnlich wie die Kopulation bei der sexuellen Begegnung. Der oben geschilderte Ablauf vollzieht sich nicht immer in gleicher Weise. Manchmal entflieht der Bedrohte, und manchmal genügt die Untergebensheitsgeste nicht, den Angriff abzubrechen. Jedoch trifft die obige Beschreibung auf die Mehrzahl der Fälle zu. Paarbildung und Paarbindung und die verschiedenen Funktionen des zur Bindung führenden menschlichen Verhaltens sind seit vielen Jahrhunderten durch Ehegesetze geregelt. In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive jedoch ist die rechtliche (gesetzlich geregelte) Form der Eheschließung ein sehr junges Phänomen, obwohl zeremonielle Eheschließung heute in allen Gesellschaftsformen vorhanden ist und (ethnologiqueren. Oft sträubt sich ihr Fell dabei wie beim Imponierverhalten. Imponierverhalten wurde auch bei Schimpansen beobachtet, die vor einem Wasserfall standen. Goodall weist darauf hin, daß der Gebrauch von Imponierverhalten in diesem Zusammenhang als rudimentäre Form der Naturverehrung gedeutet werden könne, ähnlich wie sie beim frühen Menschen bestand. Aus diesen Ansätzen mögen sich die ersten Religionen entwickelt haben.

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sche) Studien primitiver Gesellschaften darauf hinweisen, daß dies auch in prähistorischen Zeiten der Fall war. Nach Malinowski's Definition des Rechts 5 bringt die zeremonielle Art, in der die Ehepartner vereint werden, öffentliche Kontrolle und Kritik mit sich und stärkt daher den bindenden Zwang dieser Transaktion. Nicht nur die Eheschießung, sondern auch andere Elemente des in der Paarbindung enthaltenen Verhaltens werden durch zahlreiche Rechtsvorschriften reguliert, z. B. durch Bestimmungen über die Eheschließung, die Wahl des gemeinsamen Wohnsitzes, die Unterhaltspflicht und andere mögliche Konflikte innerhalb der bestehenden Ehe; in allen Fällen werden Rechte und Pflichten der Ehepartner festgelegt und die Beziehungen zwischen Eltern und der Nachkommenschaft reguliert. Andere Rechtsnormen wiederum beschäftigen sich mit der Auflösung der Ehe und den daraus erwachsenden sozialen Folgen. Ehe- und Ehescheidungsrecht beziehen sich daher auch auf die Verhaltensweisen, die für die Pflege und Erziehung der Kinder und Jugendlichen nötig sind, auf soziale Interaktion und gegenseitigen Schutz, und nicht ausschließlich auf die direkten Beziehungen zwischen Mann und Frau. Auch die Regelung der sexuellen Sitten wird mittels Gesetzgebung angestrebt, z. B. durch das Verbot vorehelichen oder außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Dies geschieht meist mit den Mitteln des Strafrechts, ebenso wie Verbote auf dem Gebiet des Inzests, der Homosexualität, der Vergewaltigung, der Prostitution und der sexuellen Vergehen gegenüber Minderjährigen. Vom ethologischen Standpunkt aus können diese Rechtsnormen nur insoweit wirksam sein, als sie die Funktion des Verhaltens komplementieren, das durch die betreffenden Rechtsnormen geregelt werden soll. Wenn wir die Korrelation zwischen jenen Rechtsnormen und dem entsprechenden Verhalten näher untersuchen wollen, so ist es erforderlich, zwischen den verschiedenen biologischen Funktionen der Sexualität zu unterscheiden und die Werturteile zu ermitteln, die in den jeweiligen Rechtsnormen enthalten sind. Wie bereits erwähnt, haben alle menschlichen Gesellschaften ihre Rechtsnormen im Einklang mit Werten geformt, die ein Teil ihrer Kultur sind. Die meisten dieser Werte sind nicht im Widerspruch zu den biologischen Funktionen des Verhaltens, das sie regulieren wollen. Aber oft konzentriert sich eine Rechtsnorm auf bestimmte Komponenten des sexuellen Verhaltens. Einzelne Komponenten werden zu stark betont und andere wiederum nicht beachtet, und manchmal sogar gewisse Verhaltenselemente, die lebensnotwendigen biologischen Funktionen dienen, als ungesetzlich erklärt. 5

S. Anm. 1 im Abschnitt I.

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Die drei wichtigsten biologischen Funktionen der Sexualität sind: 1. die soziale Interaktion, die zur Paarbildung und zum Paarband führt,

2. die Fortpflanzung und 3. der Austausch genetischen Materials. Einer der Hauptfaktoren der Entwicklungsgeschichte ist der Austausch genetischen Materials, der eine Bereicherung der in den Genen enthaltenen Möglichkeiten bewirkt. Nur solche Organismen können überleben, die die Fähigkeit haben, sich dem Wandel in der Umwelt anzupassen, und je größer die in den Genen gespeicherten Variationsmöglichkeiten sind, desto größer ist die Anpassungsfähigkeit der Organismen. Die Rolle der Sexualität im Austausch genetischen Materials ist fast so alt wie das Leben selbst, das vor mehreren Billionen Jahren begann. Sogar einzellige Organismen, deren Reproduktion auf Zellteilung beruht und nicht auf Sexualität, können sich gleichwohl vereinen, um genetisches Material auszutauschen. Sexualität kann diese Funktion, nämlich den Austausch genetischen Materials, um so besser erfüllen, wenn die Kombination von Genen, die im Ovum und im männlichen Samen enthalten sind, immer wieder neue Quellen erschließt und somit den erblichen genetischen Bestand vergrößert. Dies geschieht durch bestimmte Mechanismen, die die Inzucht verhüten. Selbst Pflanzen besitzen komplizierte strukturelle Vorrichtungen, um die Selbstbefruchtung zu verhindern. Im Tierreich sind inzesthemmende Mechanismen meist nicht nötig, da Mobilität für einen genügenden Austausch innerhalb der Bevölkerung sorgt. Bindungen zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern enden im Tierreich meist, sobald die Jungen nicht mehr auf die Nahrung und Hilfe der Mutter angewiesen sind. Nur wo Familienbande sehr stark sind, entsteht die Gefahr einer dauernden Inzuchtl . Bei einigen Primatenarten bestehen offensichtlich komplizierte Verhaltensmechanismen, die sexuellen Verkehr unter nahen Verwandten verhindern7 •

6 Jane van Lawick-Goodall, (Anm.23 im Abschnitt V), S.239. Bei Schimpansen bestehen lang andauernde Bindungen zwischen Mutter und Kind, und die Schimpansenfamilie, die aus einer Mutter und ihren Kindern besteht, bleibt oft auch dann noch zusammen, wenn die Kinder völlige geschlechtliche Reife erreicht haben. Während der Beobachtungen in Gombe hat man bisher noch nie Kopulation zwischen einem geschlechtsreifen männlichen Schimpansen und seiner Mutter gesehen, obwohl junge männliche Schimpansen die Mutter bestiegen und kopulationsähnliche Bewegungen machten, während die Mutter brünstig war. Zwischen Geschwistern wurden vereinzelt Kopulationen beobachtet, aber der weibliche Schimpanse versuchte, den ersten Besteigungsversuchen ihrer beiden Brüder zu entgehen.

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Alles menschliche Verhalten zeigt große Variationsmöglichkeiten oder Plastizität. Sexualität, ein starker Trieb im Menschen, mußte besonders formbar werden, damit er von dem Kontrollsystem im Neokortex reguliert werden konnte. Deshalb finden wir im allgemeinen in den einzelnen Gruppen verschiedenartige Normen für sexuelles Verhalten. Es gibt jedoch Verhaltensweisen, die in fast allen Kulturen von sehr ähnlichen Rechtsnormen geregelt werden. Dazu gehört das Verbot des Inzests, das in allen Gesellschaften besteht - vom Tabu der primitiven Gruppe bis zur Verfolgung dieser Handlung als Delikt durch den Staatsanwalt in der westlichen Welt. Die heute bestehenden Verbote des Inzests sind wahrscheinlich in allen Gesellschaften immer bis zu einem gewissen Grad übertreten worden. Im Verlauf der durch schriftliche Aufzeichnungen dokumentierten geschichtlichen Vergangenheit gab es sogar Gesellschaftsformen, in denen die Ehe zwischen Bruder und Schwester für die herrschende Schicht oder in religiösen Kulten vorgeschrieben wurde8 • Im großen und ganzen jedoch sind Fälle von Inzest selten; in nahezu allen menschlichen Gruppen wird dieses Verhalten, wenn es zur Anzeige kommt, heute strafrechtlich verfolgt. Daß einzelne Fälle von Inzest vorkommen, schließt nicht die Wahrscheinlichkeit aus, daß sich Inhibitionen gegen dieses Verhalten in der ontogenetischen Entwicklung heranbilden und daß diese Entwicklung biologisch programmiert ist. Eine Reihe von Ethologen9 äußern sich dahin, daß ein solcher Mechanismus, der emotionell fundiert ist, sich im Menschen während der Pubertät entwickelt und daß dies auf einen Reifeprozeß angeborener Inhibition hinweist. Diese These wird auch von Ethnologen und Anthropologen bekräftigt, die beim Studium primitiver Stämme überall Inzest-Tabus fanden. Diese Regeln bestanden in den meisten Gesellschaften lange, bevor biologische Vaterschaft und die Implikationen der genetischen Vererbung dem Menschen bekannt waren. Selbst in der westlichen zivilisierten Welt erkannte die wissenschaftliche Forschung erst am Ende des 18. Jahrhunderts langsam die Bedeutung von genetischen erblichen Einflüssen. Es scheint offensichtlich, daß 7 Auch bei Rhesusaffen scheint eine Inhibition zu bestehen, die Kopulation zwischen Mutter und Sohn verhindert. Man glaubt, daß dies darauf zurückzuführen ist, daß der Sohn gegenüber der Mutter ein unterwürfiges kleinkindähnliches Verhalten behält und daß zusätzlich noch eine spezifische Inhibition vorliegt, die unabhängig vom Rang besteht und die männliche Affen gegenüber ihren Müttern inhibiert, selbst wenn sie eine höhere Dominanzstellung einnehmen. Bei Mantelpavianen wird die Vater-Tochter-Kopulation scheinbar dadurch reduziert, daß die Töchter von jungen männlichen Pavianen entführt werden, bevor die Töchter dem Vater sexuell reizvoll erscheinen. 8 Vgl. auch Robin Fox, Kinship and Marriage, London 196·7. 9 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß, München 1971, S. 186.

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die Hemmungen gegen Inzest nicht rigide und absolut in allen Stadien der menschlichen Entwicklung wirksam sind. Auch scheint es, daß die verschiedenen Arten von Inzest, z. B. Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester, durch verschiedene Mechanismen, die unabhängig voneinander zu verschiedenen Zeitpunkten wirksam werden, reguliert werden. Vieles deutet darauf hin, daß Inzestinhibition zwischen Brüdern und Schwestern durch einen Reifeprozeß während der Pubertät beeinflußt wird. Sexuelles Spiel unter Kindern ist ein überall auftretendes Phänomen, das vielleicht ein Teil der menschlichen Neugierde und des menschlichen Dranges ist, die Umwelt zu erforschen, und es kommt in allen Gesellschaftsschichten zwischen Brüdern und Schwestern vor. Soziologische Studien über die Sexualität Jugendlicher in den USA, die Sorensen10 1973 veröffentlichte, ergaben, daß in der Altersgruppe von 13-15 Jahren nur 69 % der Knaben, aber 84 '0/ 0 der Mädchen, die zu einem früheren Zeitpunkt maturieren, sich dahin äußerten, daß Geschlechtsverkehr unter Geschwistern abnormal und unnatürlich ist, während der Prozentsatz der Knaben in der Altersgruppe von 16 bis 19 Jahren, die diese Handlungen für abnormal oder unnatürlich hielten, 86 Ofo beträgt gegenüber 85 % der Mädchen. Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die Minoritätsgruppe in Sorensens Befragung nicht selbst Inzest beging, sondern lediglich tolerant erscheinen wollte. Der Wandel in der Einstellung zwischen den beiden Altersgruppen scheint jedoch darauf hinzuweisen, daß die inzesthemmenden (inhibitierenden) Mechanismen nicht absolut und rigide wirksam werden, daß sie aber in einer phylogenetischen Veranlagung verankert sind, die sich während der Entwicklung des Einzelnen ausbildet. Normalerweise führt diese Entwicklung zu einem Verhalten, das mit der Absicht der Rechtsnormen, die versuchen, Inzest zu verhindern, in Einklang steht, und deshalb werden diese Rechtsnormen im allgemeinen nur von wenigen Personen übertreten. In den Vereinigten Staaten bestehen in allen Einzeistaaaten Gesetze, die Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen engen Familienmitgliedern und Verwandten verschieder.en Grades verbieten. Die Übertretung dieser Gesetze wird in manchen Staaten mit bis zu 50 Jahren Gefängnis bestraft. Inzest ist jedoch von allen zur Anzeige kommenden sexuellen Vergehen und Verbrechen das am wenigsten vorkommende mit einem Prozentsatz von 3-6 %. Soweit die Regulierung der Sexualität sich auf die Verhinderung von Inzest bezieht, sind die Funktion des Verhaltens und die Funktion der 10 Robert C. Sorensen, Adolescent Sexuality in Contemporary America, New York 1973, S. 385, Abb. 45. Folgende Frage wurde einem repräsentativen Querschnitt von Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren vorgelegt: "Ist Sex zwischen Bruder und Schwester etwas, das ich als abnormal oder unnatürlich betrachte, selbst wenn beide dies wünschen?"

5 Gruter

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Rechtsnorm, die dieses Verhalten regeln soll, im Einklang, und dies bewirkt einen hohen Grad von Effektivität der Rechtsnorm. Die Funktion der Sexualität im Austausch des genetischen Erbmaterials war und ist daher wirksam, obwohl nur ein Teil der Menschheit - und der auch entwicklungsgeschichtlich erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit - sich der biologischen Bedeutung dieser Funktion bewußt wurde. Welche Rolle jedoch die Sexualität in der Fortpflanzung spielt, scheint der Menschheit schon seit einigen tausend Jahren bekannt zu sein (eine Ausnahme bilden die Trobriand-Insulaner, über die Malinowski sehr eingehend gerade bezüglich dieser Situation berichtet). Der Zusammenhang zwischen Koitus und Schwangerschaft wurde erkannt, und dieser Faktor wurde dominierend in der moralischen und ethischen Bewertung, auf die sich das westliche Eherecht seit mehr als 2000 Jahren stützt. Die meisten der heute in der westlichen Welt gültigen Rechtsnormen, die das Sexualverhalten regeln, beruhen auf den ethischen Grundlagen der judäo-christlichen Religion, wonach die Erzeugung von Kindern das einzige Ziel der Sexualität und der Ehe ist. Als religiöse Institutionen sich in politische Gebilde umwandelten, wurde die Regulierung der Sexualgebräuche angesichts der stark variierenden individuellen Neigungen häufig dazu benutzt, die Macht der herrschenden Gruppe zu stützenl l • Als der Staat die rechtliche Kontrolle von Ehe und Scheidung übernahm, wandelten sich die religiösen Werte in manchen Fällen zu ideologischen und politischen Anschauungen12 • Die in vielen Ehegesetzen enthaltenen Werturteile bezüglich der Bedeutung der Fortpflanzung ziehen nicht in Betracht, daß es auch noch andere primäre Funktionen der Sexualität gibt, wie z. B. Aufbau neuer freundschaftlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen, gegen11 In diesem Fall waren sich die Gesetzgeber wohl bewußt, daß die Gesetze von einer großen Anzahl derer, die vom Gesetz betroffen waren, übertreten werden würden. Ziel dieser Gesetzgebung war also nicht die Befolgung des Gesetzes durch die Mehrheit, sondern die Absicht, eine moralische Vorschrift aufzusteHen, die nicht öffentlich verletzt werden durfte, wohl aber beinahe von jedem übertreten wurde, so daß jeder einzelne das Dogma der menschlichen Sündhaftigkeit als wahr erkennen mußte. Dies wiederum führte den Einzelnen zur etablierten Kirche, um Absolution zu erlangen, die ihm nur dann gewährt wurde, wenn er willens war, nach den Diktaten der Kirche Buße zu tun. Das Dogma der katholischen Kirche, daß Sexualität sündhaft ist, daß nur bestimmte Arten des Koitus praktiziert werden dürfen und nur mit dem Ziel der Fortpflanzung, war eines der wirksamsten Mittel, über Menschen zu herrschen. Der Einfluß der Kirche erstreckte sich mittels der Beichte bis in die intimsten Details des Privatlebens jedes einzelnen. Dieser Einfluß der Kirche ist auch heute noch in vielen Gesellschaften, selbst in hochentwickelten Nationen, äußert stark. 12 Hitlers Ziel, die deutsche Bevölkerung, die er als das erwählte Volk betrachtete, zahlenmäßig zu vermehren, zeigte sich in der Familiengesetzgebung. Auch hier war das Ziel der Ehe die Zeugung von Kindern. Unfruchtbarkeit wurde ein Scheidungsgrund, vgl. Ehegesetz vom 6.7.1938 (RGBl. I, S.807).

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seitiger Schutz und Hilfe und - vielleicht am wichtigsten - die Stärkung der Paarbindung, die wiederum eine Grundlage ist für die Stabilität der Familie, für alle Familienmitglieder von größter Wichtigkeit. Bei vielen Tierarten - auch beim Menschen - bilden sich starke Paarbindungen in polygamen wie in monogamen Formen, die nicht auf eine kurze, vom weiblichen Zyklus bestimmte Zeit der Ovulation beschränkt sind. Bei einzelnen Arten entstehen diese Bindungen sogar vor der sexuellen Reife. Charakteristisch für den Menschen ist in diesem Zusammenhang die ständige sexuelle Bereitschaft der Frau 13 • Eibl-Eibesfeldt l4 schreibt ausführlich über die physiologischen Änderungen, die im Laufe der Evolution zu dieser Entwicklung beitrugen. Nach seiner Meinung muß auch der weibliche Orgasmus ein bedeutendes Element im menschlichen Paarband sein, weil er seiner Ansicht nach bei anderen Tierarten nicht vorkommt l5 • Die ständige sexuelle Bereitschaft der Frau wird durch die ständige sexuelle Potenz des Mannes, die - individuell verschieden und je nach Alter variierend - bis in das hohe Alter hinein bestehen kann l6 , komplementiert. Gleichgültig, welche Mechanismen zur Paarbildung und zum Paarband bei den einzelnen Arten beitragen, die Tatsache, daß sie vorhanden sind, deutet darauf hin, daß das Paarband als solches eine adaptive Funktion hat, die nicht immer der Fortpflanzung dienen muß. Wenn in Rechtssätzen nur die Fortpflanzung als Funktion der Sexualität sanktioniert wird und gleichzeitig andere Funktionen des sexuellen Verhaltens, wie z. B. 13 Washburn, S. L. / Hamburg, D. A. 1968. Aggressive Behavior in Old World Monkeys and Apes, S.277. Alle weiblichen nicht-menschlichen Primaten haben eine kurze, klar begrenzte Periode der Brunst. Da dieses Merkmal allgemein und sehr anpassungsfähig ist, ist es sicher, daß es auch beim menschlichen Vorfahren bestand. Die PhysiOlogie der heutigen Frau ist ganz unterschiedlich von der Physiologie anderer Primaten. Dies mag darauf zurückzuführen sein, daß die kontinuierliche geschlechtliche Bereitschaft sich günstig für eine langanhaltende Paarbindung auswirkte. 14 J. Eibl-Eibesfeldt, (Anm.9 im Abschnitt VI), S. 178---179. 15 DiesE: Ansicht wird nicht von allen Ethologen geteilt (persönliche Mitteilung von W. Wickler). 16 William H. Masters und Virginia E. Johnson, Human Sexual Inadequacy, Boston 1970. In ihren klinischen Studien stellten Masters und Johnson fest, daß Intensität und Häufigkeit der sexuellen Beziehungen je nach Individuum und Altersgruppe variieren, daß dies aber nur Gradunterschiede sind und daß Veränderung, Minderung oder Versagen der sexuellen Potenz mit Erfolg behandelt werden können. Auch Impotenz und orgasmische Dysfunktion werden als Symptome gesehen, die nach erfolgreicher Behandlung verschwinden. Die Verfasser glauben, daß die Hälfte aller amerikanischen Ehen von diesen Symptomen bedroht ist, was darauf hinweist, daß die Ursache für den Zerfall der Ehe in einer Dysfunktion des Paarbandelementes im Sexualverhalten liegen kann. Vgl. auch den Artikel: Sex Counseling and the Primary Physician, in Medical World News vom 3. Febr. 1973. Hier wird die Bedeutung der Sexualität als Element des Paarbandes betont und in der sexuellen Dysfunktion der Hauptgrund des Ehezerfalls gesehen.



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das Verhalten, das der Paarbindung als solcher dient, als ungesetzlich erklärt werden, dann werden solche Rechtssätze von vielen übertreten. Dies ist aus der hohen Anzahl der illegalen Abtreibungen ersichtlich, die in den Ländern vorkommen, in denen Schwangerschaftsunterbrechung strafbar ist. übertretungen solcher Rechtssätze sind das Ergebnis sexuellen Verhaltens, das auf Paarbildung und Paarbindung gerichtet ist und nicht auf Fortpflanzung. In den heutigen Gesellschaften ist die Hauptmotivation für sexuelle Beziehungen vorwiegend nicht der Wunsch, Kinder zu zeugen, sondern das Bedürfnis der Zweisamkeit, des Ausgleichs von Spannungen etc. Während der letzten 20 Jahre gelang es der wissenschaftlichen Forschung, neue Methoden zur Geburtenkontrolle zu entwickeln, die von der Frau angewandt werden können und ihr eine relative Sicherheit gewähren, Schwangerschaft als wahrscheinliche Folge des Geschlechtsverkehrs zu vermeiden. Dieses Verhalten ist in vielen Gesellschaften noch gesetzlich verboten. Andererseits jedoch haben neue Einsichten in die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt die öffentliche Meinung insoweit wachgerufen, daß man sich über die Gefahren der unbeschränkten Fortpflanzung klargeworden ist. Kürzlich ergangene Entscheidungen bezüglich Geburtenkontrolle und Schwangerschaftsunterbrechung geben dem amerikanischen Bürger (ähnlich wie den Bürgern einzelner anderer Länder) größere Freiheit in der Gestaltung seines sexuellen Lebens. Solange der Frau keine verhältnismäßig sicheren oder wirksamen Verhütungsmittel zur Verfügung standen, mußte ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft notwendigerweise hauptsächlich die der Gebärenden und Hüterin der kommenden Generation sein. Ihr Anspruch auf Chancengleichheit mußte eine Illusion bleiben, solange die Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse oft zu Schwangerschaft führte, ob sie diese wünschte oder nicht. Hinzu kam, daß das Gebären von Kindern als die Hauptaufgabe der Frau in der Ehe angesehen wurde, eine Einstellung, die Jahrhunderte hindurch die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Scheidungsrechts selbst in protestantischen Ländern beeinflußte l1 • In den Vereinigten Staaten tendiert das Recht heute dahin, den Frauen eine der wichtigsten biologischen Entscheidungen, nämlich die der 17 Margaret Gruter, Die Stellung der Ehefrau im englischen Scheidungsrecht, Diss. Heidelberg 1944. Während der Debatten über die Reform der Scheidungsgesetze vor dem Erlaß der verschiedenen Matrimonial Causes Acts in Großbritannien wurde die Meinung vertreten, daß Ehebruch, der vom Mann begangen wird, anders beurteilt werden muß als Ehebruch, der von der Frau begangen wird, da der vom Mann begangene Ehebruch nicht zu einer "confusion of progeny" führt. Aus diesem Grund sei Ehebruch, der von der Frau begangen wird, "more criminal" als der, der vom Ehemann begangen wird.

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Fortpflanzung, zu überlassen. Diese Tendenz wird zweifellos die Stellung der Frau innerhalb der Familie und der Gesellschaft mehr beeinflussen als jede andere bisherige gesetzliche Regelung. Diese Entwicklung wird sehr weitreichende Folgen haben, positive oder negative, je nach der Interpretation, die wir alten Begriffen und Werten geben. Zweifellos wird es zu neuen Konflikten kommen bei Entscheidungen über die Grundrechte des Einzelnen gegenüber den Interessen des Staates oder dem Wohl des Kindes, gegenüber der Einheit der Familie oder der Einheit des Ehepaares. Mit solchen Konflikten mußte sich z. B. der Supreme Court von Massachusetts in der schon zuvor zitierten Entscheidung vom März 1973 18 befassen, die zugunsten der 23jährigen Ehefrau erging. Der Anwalt der Frau argumentierte, daß die Grundrechte der Ehefrau in diesem Falle jene des Ehemannes überwiegen: "Das vom Gericht erlassene Verbot (die Schwangerschaft zu unterbrechen) verletzt die konstitutionellen Rechte der Frau, ihr Recht auf freie Entfaltung und beraubt sie ihrer Freiheit. Es ist im Ergebnis ,unfreiwillige Sklaverei'." Der Anwalt des Ehemannes brachte als Gegenargument vor, daß der Ehemann - Vater ein Recht hat auf eine Beziehung mit dem Kind, das er gezeugt hat. "Wir versuchen die Beziehungen zwischen Vater und Kind zu schützen. Seit Jahrhunderten haben sich die Gerichte mit dem Begriff der Grundrechte (fundamental rights) auseinandergesetzt. Wel~ che Rechte sind fundamental?" Die Gesetze der Natur, wie sie uns durch ethologische Forschung offenbar werden, geben uns wenig Aufschluß über die Rechte des Einzelnen innerhalb der Familie, und wenn, dann nur indirekt. Es ergibt sich jedoch aus Beobachtungen und Experimenten, daß die Gesetze der Natur jedem Individuum innerhalb der Familieneinheit bestimmte Rollen und Funktionen zuteilen und vielleicht etwas, was wir in unserer menschlichen Sprache ,Verantwortung' nennen könnten. Alle Handlungen, die dem menschlichen Beobachter als auf einem Recht basierend erscheinen - gleichgültig ob wir dieses Recht ein "fundamental right" oder ein "overriding right" nennen - , würden in der vergleichbaren menschlichen Situation sich direkt auf diese Verantwortung zurückführen lassen, die sich aus der Rolle des Einzelnen ergibt und die durch die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen ausgeglichen wird. Rechtssätze, die die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern regeln, waren im allgemeinen zu allen Zeiten mit dem Gesetz der Natur im Einklang. Die biologische Mutter wurde immer als solche anerkannt, sobald sie ein lebendes Kind gebar. In unserer modernen Gesellschaft wird dieses fait accompli formalisiert durch den Geburtsschein, der automatisch das Kind seinen "biologischen Eltern" zuspricht, wenn beide bekannt sind, aber in jedem Fall seiner biologischen Mutter. 18

Doe v. Doe, vgl. Anm. 4 im Abschnitt V.

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Entwicklungsgeschichtlich ist jedoch der Begriff der biologischen Vaterschaft erst jüngeren Datums. Die Rolle des Vaters, in verschiedenen Varianten, bestand natürlich während der gesamten geschichtlichen Vergangenheit, wo immer ein erwachsener Mann Mitglied der Familiengruppe war. Sein Verhältnis zum Kind bis zu dessen Reife beruhte auf seiner Rolle innerhalb der Familiengruppe. Im allgemeinen entwikkelten sich rechtliche und emotionelle Bindungen zwischen Vater und Kind nur, wenn der Vater entweder die Mutter des Kindes als Mitglied in die Gruppe aufnahm oder wenn er nach der Geburt das Kind als sein Kind anerkannte und akzeptierte. "Ubi matrimonium, ibi pater" war für viele Jahrhunderte in der westlichen Welt ein sehr gesundes Prinzip in rechtlichen Entscheidungen, und in unserer Zeit der sexuellen Freiheit könnte dieses Prinzip große Vorteile haben. Besonders da biologische Vaterschaft bis zu einem gewissen Grade durch wissenschaftliche Untersuchungen ausgeschlossen oder umgekehrt nicht klar erwiesen werden kann (pater sem per incertus), könnte das Prinzip ubi matrimonium, ibi pater vielleicht dazu verhelfen, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu stabilisieren. Es könnte zur Aktivierung des Verantwortlichkeitsgefühls in der Wahl des Ehepartners führen, und es könnte gewisse Hemmungen stärken gegenüber außerehelichen und allzu freizügigen geschlechtlichen Beziehungen, die das Paarband und damit die Stabilität der Familie schwächen. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wurde bereits bei vielen nicht-menschlichen Primaten ausgiebig studiert, jedoch die Rolle des Vaters sehr viel weniger als die der Mutter l9 • Selbstverständlich ist biologische Vaterschaft ein Begriff, der bei nicht-menschlichen Primaten nicht existiert. Die tatsächliche biologische Vaterschaft ist oft auch dem menschlichen Beobachter nicht klar ersichtlich, da in den meisten Primaten-Gruppen, die in der freien Natur leben, eine größere Anzahl der erwachsenen Männchen der Vater der in der Gruppe geborenen Jungen sein können. Wo jedoch nur ein erwachsenes Männchen in der Primatengruppe lebt, das deshalb wahrscheinlich der biologische Vater der Jungen ist, kommt es bei weitem häufiger vor, daß dieses Männchen ein väterliches Verhalten zeigt, wie z. B. bei den Marmosets oder Titmonkeys (Krallenaffen) oder den Gibbons. In einer von Chivers beschriebenen Studie der Siamang, einer Gibbon-Art, die in monogamer Familienstruktur lebt, wurde festgestellt, daß die Mutter mit dem jüngeren Kind und der Vater mit dem älteren Kind schläft, daß sie aber die Kinder während des Tages auswechseln 19 F. A. Beach, Matemal Behavior in Males of Various Species, Science 1967, S.157-159. Ähnlich wie andere Autoren spricht Beach von mütterlichem oder mutterähnlichem Verhalten bezüglich der Vaterrolle im ElternKind-Verhältnis.

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und daß der Vater das ältere und schwerere Kind trägt, soweit es längere Strecken noch nicht selbst laufen kann. Das Mutter-Kind-Verhältnis bei nicht-menschlichen Primaten wurde sowohl bezüglich der biologischen als auch der Adoptiv- oder ErsatzMutter untersucht. H. Harlow führte auf diesem Gebiet Laborexperimente durch. 1959 publizierte er "Love in Infant Monkeys"20 und später, als die beschriebenen jungen Affen zu Erwachsenen heranwuchsen, folgten weitere Veröffentlichungen. Die ersten Experimente deuteten darauf hin, daß physischer Kontakt mit der Mutter die Hauptrolle in der Entwicklung der kindlichen Zuneigung spielt und daß eine mit weichem Tuch bezogene Drahtfigur die Mutter ersetzen kann. Als jedoch diese jungen Affen älter wurden, zeigten weitere Beobachtungen, daß ihr Verhalten in drastischer Weise abnormal war. Sie saßen in Ecken und wiegten sich hin und her; sie waren nicht in der Lage, mit anderen Affen sozialen Kontakt aufzunehmen (ein Verhalten, das dem geistig zurückgebliebener menschlicher Kinder sehr ähnlich ist), und als sie geschlechtlich ausgereift waren, waren sie nicht fähig zu kopulieren. Als es endlich gelang, die weiblichen Affen zu befruchten, gebaren sie Junge. Jedoch diese "mutterlosen Mütter", wie Harlow sie nannte, behandelten ihre Jungen alle sehr schlecht und teilweise so grausam, daß die Jungen gestorben wären, hätte man sie nicht den Müttern fortgenommen. Auch die mutterlosen männlichen Affen zeigten abnormales Sexualverhalten und grausames Verhalten gegenüber jungen Affen, die teilweise von ihnen getötet wurden. 1969, 10 Jahre nach der Veröffentlichung von "Love in Infant Monkeys", schrieb Harlow nach weiteren Beobachtungen und Experimenten: "Ich bin nun ganz überzeugt, daß es für Affenmütter während des frühen Sozialisationsprozesses keinen adäquaten Ersatz gibttl." Es bleibt abzuwarten, wie die sich gegenwärtig wandelnde Rolle der Frau die Entwicklung der Kinder beeinflussen wird; ob die Forderung nach größeren Rechten für Frauen einhergeht mit größeren Verpflichtungen; ob das individuelle Verantwortungsgefühl dahin wirken wird, daß die einzelne Frau zwischen Alternativen wählt: Karriere oder Mutterschaft oder Aufschub der Mutterschaft bis zur Beendigung einer Ausbildung. Oder ob sie geeignete Zwischenlösungen findet, wie z. B. Halbtagsarbeit und Mutterschaft und gute Betreuung ihrer Kinder während ihrer Abwesenheit, wenn sie beides, Mutterschaft und "Karriere", als ihr Recht beansprucht. Harlows Beobachtungen der "mutterlosen Mütter", selbst wenn dies nur auf Rhesusaffen zutrifft, sollte uns zumindest vorsichtig machen bezüglich der möglichen Folgen einer radi20

Harry F. Harlow, Love in Infant Monkeys, in Scientific American, June

21

Alison Jolly, The Evolution of Primate Behavior, New York 1972. S.232.

1959.

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kaIen Wandlung im Aufbringen von Kindern, denn diese Methoden waren bis vor kurzem in der Entwicklungsgeschichte praktisch immer dieselben geblieben: Die Kinder wuchsen nur heran, wenn sie in engem physischen Kontakt mit der Mutter lebten. Da die Rolle der Frau in unserer Zeit in vielen Fällen eine zusätzliche Verantwortung mit sich bringt und da ein Versagen ihrerseits in der Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber den Kindern wahrscheinlich nicht wiedergutzumachende Folgen haben kann, die erst offensichtlich werden, wenn die nächste Generation heranreift, so scheint es indiziert, der Frau auf der anderen Seite das Recht zu geben, Mutterschaft zu vermeiden und die Anzahl der Kinder, die sie großzuziehen hat, zu beschränken, ohne daß sie gezwungen werden muß, auf die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche zu verzichten. Demnach sollte die Frau ein fundamentales und überwiegendes Recht haben, über Geburtenkontrolle, Schwangerschaftsabbruch und selbst über die Adoption von Kindern, die sie geboren hat, zu entscheiden22 • Der Geburtenrückgang in den letzten Jahren ist ein ermunterndes Zeichen, daß der Homo sapiens das Untersystem aktivieren kann, das seine angeborenen Triebe kontrolliert. In Ländern, in denen verhältnismäßig effektive Verhütungsmittel zur Verfügung stehen, finden wir nicht nur einen allgemeinen Geburtenrückgang, sondern auch eine Verminderung der Anzahl unehelicher Kinder. In den Ländern, in denen ein liberalisierter Schwangerschaftsabbruch einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor bei der Vermeidung unerwünschter Geburten ermöglicht, zeigt sich das noch deutlicher. Es ist offensichtlich, daß gerade auf dem Gebiete der Sexualität das "Wohlgefühl-Prinzip" das für die Arterhaltung wichtige Verhalten beeinflußt. Liberalisierter Schwangerschaftsabbruch steht nicht im Widerspruch zu sexuellen Trieben und der Funktion der Sexualität im Hinblick auf Paarbildung und Paarbindung. Darüber hinaus haben Beobachtungen jüngsten Datums gezeigt, daß sexuelle Freiheit unter jungen Leuten, die hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, daß den Frauen verhältnismäßig sichere Verhütungsmittel zur Verfügung stehen, nicht wesentlich zur Promiskuität beigetragen hat23 • Im Gegenteil, so stellt man fest, junge Leute betonen, "daß sie eine Art der gegenseitigen Verpflichtung" und eine "Liebesbeziehung" wünschen!., mit anderen Worten: Es besteht eine Tendenz zur Paarbindung25 • 22 über die Bedeutung der früh-kindlichen Bindung zur Mutter und die weittragenden Folgen bei Störungen dieses zeitlich begrenzten Entwicklungsprozesses siehe Bernhard Hassenstein, Verhaltensbiologie des Kindes, München 1973. 23 H. A. Katchadourian und D. T. Lunde, Fundamentals of Human Sexuality, New York 1972.

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Vielleicht können wir daraus schließen, daß Werturteile, denen zufolge die Fortpflanzung als das einzig erstrebenswerte Resultat der sexuellen und ehelichen Beziehungen gewertet wurde, sich wandelten, weil wissenschaftliche Erkenntnisse die menschliche Denkfähigkeit dahin aktivierten, daß die Menschen ihre ethischen Begriffe neu formulierten. Dies wiederum führte zu einem Wandel in der öffentlichen Meinung und zu neuen ethischen Anschauungen als Grundlage für neue Gesetze. Leider sind wir noch weit entfernt von dem erstrebten Ziel dieses erst beginnenden Wandels in den ethischen Begriffen und dem dadurch ermöglichten Wandel des Rechts - dem Ziele eines Geburtenrückgangs oder einer Stabilisierung der Geburtenzahl für die Gesamtbevölkerung der Erde. Einige Wissenschaftler waren und sind so alarmiert von der großen Gefahr der übervölkerung und deren Folgen, daß eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl durch gesetzliche Regelung zumindest akademisch diskutiert wurde. Diskussionen dieser Art sind gute Beispiele, anhand derer so mancher Gesetzesreformplan ad absurdum geführt werden kann. Jede Reform von Gesetzen, die soziales Verhalten regeln, ist ein Versuch, das Verhalten aller oder einzelner zu ändern. Meist werden solche Reformen um eines Ideals willen oder zur Erreichung eines "guten Zieles" gefordert, jedoch fast immer ohne Kenntnis der biologischen Funktion des Verhaltens, das geändert werden soll, und deshalb bleibt der erhoffte Erfolg oft aus. Nehmen wir als Beispiel den extremen hypothetischen Fall, daß ein Gesetz bestünde, wonach jede gebärfähige Frau, die schon zwei lebende Kinder geboren hat, keinen Geschlechtsverkehr mehr haben darf. Wieviele Mittel auch angewandt würden, um die Befolgung dieses Gesetzes zu erzwingen, so besteht kein Zweifel darüber, daß die Anzahl der Frauen, die das Gesetz übertreten, so groß wäre, daß die übertretung des Gesetzes zur Norm würde. In diesem Falle wäre das Gesetz ohne Wirkung, selbst wenn die Mehrzahl der Frauen das Ziel des Gesetzes, 24 R. C. Sorensen, (Anm. 10 im Abschnitt VI), S. 358-359. Diese Tendenz, ein Paar band zu bilden, wird durch die Ergebnisse des Sorensen-Reports bestätigt: ,,85 Ofo aller Jungen und 92 Ofo aller Mädchen sowie eine gleichgroße Anzahl derer, die sexuelle Erfahrungen hatten oder nicht hatten, beabsichtigen, eines Tages zu heiraten und Kinder zu haben." Bei drei Vierteln der Heranwachsenden scheint eine Tendenz zur permanenten und monogamen Paarbindung zu bestehen, denn: "Sie wollen nicht heiraten, bis sie davon überzeugt sind, daß ihre Ehe für den Rest ihres Lebens dauern würde ... Ausschlaggebend für diesen Wunsch der Jugendlichen, eine für das gesamte Leben bindende Ehe einzugehen, ist ihr Glaube, daß Kinder beide Eltern im Haushalt brauchen." 25 Diese Tendenz wird zweifellos besonders stark von dem bereits öfter erwähnten Prinzip des Wohlgefühls beeinflußt. Zweifellos ist Sexualität ein Verhalten, das von besonderem Wert für die Arterhaltung und mit angenehmen befriedigenden Gefühlen verbunden ist.

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nämlich Bevölkerungskontrolle, gutheißen würde. Denn dieses Gesetz würde sich so auswirken, daß es im Widerspruch stehen würde mit anderen wichtigen Funktionen der Sexualität: Paarbildung und Paarbindung. Selbstverständlich wird dieses hypothetische Gesetz nie Wirklichkeit werden, jedoch kann dieses Beispiel demonstrieren, daß die Schöpfung und Anwendung eines jeden Gesetzes, das bestimmte Verhaltensmechanismen regulieren soll wie z. B. die Beziehungen zwischen Eheleuten oder zwischen anderen Mitgliedern der Gesellschaft, nur soweit wirksam sein kann, als die Funktion des Gesetzes mit der Funktion des von der Rechtsnorm geregelten Verhaltens in Einklang steht.

VII. Betrachtungen zur Rechtsgrundlagenforschung In den vorangegangenen Kapiteln wurden Lehrmeinungen der Ethologie vorgetragen, auf denen sich Hypothesen zur Rechtsentwicklung und zur Evolution des Rechtsverhaltens aufbauen lassen. Sie können Anhaltspunkte sein für Untersuchungen der Effektivität des Rechts. Die besondere Bedeutung der bei Tierbeobachtungen gewonnenen Erkenntnisse für die Rechtsordnung und für Versuche, mittels des Rechts Änderungen in der sozialen Ordnung herbeizuführen, wurde am Beispiel der Familie als kleinster sozialer Einheit gezeigt. Ähnlich wie Einflüsse der Umwelt auf die Struktur der Familie wirken, so bestimmen sie auch die Struktur anderer sozialer Organisationen oder Gruppen. Und zwar vollzieht sich dies auf dem Wege der Veränderung im Verhalten einzelner Gruppenmitglieder, d. h. ihrer Funktion innerhalb der Gruppe. Die Rechtsordnung als integraler Teil der Kultur ist an diesem Prozeß beteiligt. Ihre Aufgabe kann darin gesehen werden, die Rechte und Pflichten der Einzelnen innerhalb der Gruppe auszugleichen und einen Maßstab zu finden, der es dem Einzelnen ermöglicht, nicht nur seine Rechte, sondern auch seine Pflichten zu erkennen und die Folgen seiner Handlungsweise (Gegenhandlungen) vorherzusehen. Die Ausgeglichenheit der gegenseitigen Beziehungen, unterstützt durch die vielseitigen Bindungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern, wurde von Malinowski bei den Trobriand-Insulanern beobachtet. Auch bei nicht-menschlichen Primaten bestehen gegenseitige Bindungen und Verflechtungen solcher Bindungen innerhalb der Gruppenstruktur, die dazu beitragen, einen Ausgleich - eine Ordnung - zu schaffen. Vieles deutet darauf hin, daß die Bereitschaft, die Regeln des Gruppenlebens zu befolgen, durch ein biologisches Programm unterstützt wird. Selbst wenn wir annehmen, daß dieses biologische Programm auch im Menschen wirkt und er daher zum Gehorsam tendiert, so kann er den Geboten und Verboten der Rechtsordnung doch nur innerhalb bestimmter Grenzen gehorchen - den Grenzen, die der Plastizität des menschlichen Verhaltens gesetzt sind. Es ist offensichtlich, daß unsere Bemühungen, die soziale Ordnung zu ändern, sei dies durch Gesetzgebung oder Rechtsprechung, immer Versuche sind, das Verhalten zu ändern. Es steht deshalb außer Zweifel, daß Reformbestrebungen auf größeren Erfolg rechnen können, wenn

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die Grenzen der Plastizität menschlichen Verhaltens erkannt werden. Mit anderen Worten: Einblick in die Grenzen der Anpassungsfähigkeit menschlichen Verhaltens offenbart uns die Grenzen der von uns angestrebten Reformen. Das Studium der sozialen Interaktion nicht-menschlicher Primaten ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Tierbeobachtungen im allgemeinen und besonders in der Gombe-Schimpansengruppe lassen erkennen, daß zwei Faktoren von wesentlichem Einfluß auf die Struktur der Gruppe und die Regeln des Gruppenlebens sind: verwandtschaftliche Beziehungen und die Dominanzordnung. Beide Faktoren tragen zu einem Ausgleich zwischen den Rechten und Pflichten der einzelnen Gruppenmitglieder bei. Verwandtschaftliche Beziehungen beruhen auf Bindungen. Wo solche Bindungen bestehen, sind die Verpflichtungen des einen gleichzeitig die Rechte des anderen. Die Bindung wird geschwächt, wenn es an Reziprozität fehlt. Sie bricht ab, wenn die Reziprozität erlischt. Wenn diese Bindungen nötig sind für die Erhaltung der Art, werden sie von sehr starken Trieben beeinflußt, die auf hormonellen Prozessen basieren, wie z. B. beim sexuellen Verhalten. Zur Kopulation genügt Paarbildung. Paarbindung ist vorteilhaft, wenn die Pflege des hilflosen Kindes die Anwesenheit und Zusammenarbeit zweier Eltern über einen längeren Zeitraum erfordert. In diesem Fall kann die Paarbindung monogam oder polygam sein, je nach den Bedingungen der Umwelt. Das Eltern-Kind-Band und bei nicht-menschlichen Primaten besonders das Mutter-Kind-Band ist von höchster Bedeutung, denn ohne engen Kontakt mit der Mutter verläuft die Entwicklung des Kindes abnormal, und der Tod der Mutter kann den Tod des Kindes zur Folge haben!. Beobachtungen der Entwicklung von jungen Primaten in der Wildnis und in Gefangenschaft, die von Geschwistern, Vätern oder anderen Mitgliedern der Gruppe adoptiert werden, sind hier von besonderem Interesse!. ! Bei der Schimpansengruppe in Gombe wurde im Laufe der 15jährigen Beobachtungen mehrmals das Schicksal junger mutterloser Schimpansen beobachtet; in allen Fällen traten schwere Entwicklungsstörungen auf, und oft starben die Jungen innerhalb mehrerer Monate nach dem Tod der Mutter, selbst wenn sie bereits älter als 3 Jahre waren und nicht mehr auf die Muttermilch als Nahrungsquelle angewiesen waren. In einem Fall verursachte der Tod der Mutter bei einem siebenjährigen Schimpansen (Flint) eine schwere Depression und führte innerhalb von 3 Wochen zu seinem Tod. 2 Es liegen Berichte vor, daß unter wilden Schimpansen junge männliche Tiere Versuche machten, nach dem Tod der Mutter ihre Geschwister zu adoptieren. Bei Schimpansen, die in Gefangenschaft leben, wurde ein Schimpansenvater beobachtet, der versuchte, die Kinderpflege zu übernehmen, als die Mutter versagte, und jugendliche Schimpansenweibchen haben (in der Gefangenschaft) Schimpansenkinder adoptiert. Wie bereits früher erwähnt, besteht die Familiengruppe bei Schimpansen aus der Mutter und ihren Kindern. Gorillafamilien haben einen Vater. Es ist daher nicht überraschend, daß das Verhalten des erwachsenen männlichen Gorillas von dem Verhalten

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Erkenntnisse über das Verhalten, das zu Bindungen führt, können wertvolle Hinweise geben, weil der Mensch offensichtlich in der Lage war, dieses Verhalten als ein frei übertragbares Verhaltenselement zur Gestaltung von Beziehungen außerhalb der Familie zu nutzen. Die Wechselwirkung von Beziehungen zwischen einzelnen Personen oder zwischen Gruppen kann besser verstanden werden, wenn wir neue Einblicke in die physiologischen Prozesse gewinnen, die diese Bindungen erleichtern und die dazu beitragen, solche Beziehungen zu stabilisieren. Bis zu welchem Maße es jedoch möglich ist, gegenseitige Beziehungen mit Hilfe biologisch fundierter Bindungen aufzunehmen, ist noch unklar. Familienbindungen beruhen auf langdauerndem Zusammenleben in engem physischem Kontakt. Diese Bindungen entstehen meist durch Stimulierung der Sinnesorgane und verlangen eine Gegenseitigkeit im Austausch von Rechten und Pflichten. Diese Tatsache läßt es nahezu absurd erscheinen zu erwarten, daß sich Bindungen ähnlich wie die innerhalb der Familie zwischen allen Angehörigen der Spezies Homo sapiens entwickeln3 • Es ist jedoch eine Tatsache, daß sowohl bei den Menschen als auch bei anderen Primaten jedes Individuum während seiner Entwicklung Mitglied mehrerer verschiedener Gruppen für kürzere oder längere Zeiträume sein kann und meist auch ist. Zuneigung zwischen Freunden, berufliche Verbände, religiöse Zugehörigkeit, Sportvereine, Peergroups oder nationale oder ethnische Gruppen sind Beispiele für Gruppenstrukturen, die auf der vielseitigen Anordnung der menschlichen Beziehungen beruhen und überall in der menschlichen Gesellschaft vorkommen. Darüber hinaus ist die Gruppenbildung derart charakteristisch für Menschen, daß dieser Trend wahrscheinlich zur Entwicklung von Rechtsnormen während der Evolution des Menschen Anlaß gab. Dies würde bedeuten, daß Rechtsnormen, die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen regeln, auf der Kombination von angeborenem und ontogenetisch entwickeltem Verhalten beruhen, die von physiologischen Prozessen beeinflußt wird und äußerst komplexe Mechanismen einschließt. Daraus würde wiederum folgen, daß Verhaltensweisen, die zu Bindungen führen, mit größerer Wahrscheinlichkeit wirksam sind, je tiefer des Schimpansen differiert, wenn ein Kind die Mutter verliert. Gorillaväter versuchen, solche Kinder zu betreuen. Daß das "mütterliche" Verhalten gegenüber jungen Primaten genetisch unterstützt sein mag, zeigte sich, als ein junger männlicher Schimpanse namens Babu im Stanforder Forschungsinstitut einer Gruppe zugeführt wurde. Babu wurde spontan von einer jugendlichen Schimpansin adoptiert und beschützt, obwohl diese in Gefangenschaft war, seit sie ein Jahr alt war, und somit das Verhalten anderer Tiere seit jenem Zeitpunkt nicht beobachtet haben konnte. 3 Persönliche Zu- und Abneigungen gibt es auch bei nicht-menschlichen Primaten, vgl. Anm. 15 im Abschnitt V.

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sie im biologischen Erbgut des Menschen verankert sind. Bindungen, die nur auf traditioneller Basis entstehen, sind weniger stabil als solche, die sich auf biologisch programmiertem Verhalten aufbauen. In den vorausgegangenen Kapiteln wurde in verschiedenem Zusammenhang mehrmals erwähnt, daß in bestimmten Situationen Schimpansen und Paviane in rudimentärer Form ein Verhalten zeigen, das beim Menschen Respekt für Besitz genannt wird. Zweifellos ist Respekt für Besitz eine Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben und die kulturelle Entwicklung aller menschlichen Gruppen, und rudimentäre Formen dieses Verhaltens in nicht-menschlichen Primaten verdienen unser Interesse. Kummer berichtete, daß bei den Mantelpavianen die Paarbindung von anderen respektiert wird. Bei anderen nichtmenschlichen Primaten finden wir ähnliche Verhaltensweisen unter vollkommen verschiedenen Umständen, unabhängig vom Paarband. So deutet die Bettelgebärde beim Schimpansen, wenn das Bitten von seiten eines höherstehenden Schimpansen gegenüber einem ihm unterlegenen Schimpansen erfolgt, darauf hin, daß der Stärkere manchmal auch dem Schwächeren gegenüber Hemmungen haben kann, ihm etwas wegzunehmen. In der Regel wird der Besitz eines begehrten Nahrungsmittels unter Schimpansen respektiert, gleichgültig welche Dominanzstellung oder physische Kraft der einzelne hat. Diane Fossey's4 Film über die Berg-Gorillas zeigt, wie ein Gorilla einen Bleistift und ein Papier an Diane zurückgibt, das er ihr zuvor abgenommen hatte. Jane Goodall berichtet über einen ähnlichen vereinzelten Vorfall. Eine junge weibliche Schimpansin gab Jane ein Ei zurü~. Dieses Verhalten, nämlich einen Gegenstand wieder zurückzugeben, wird selten bei Schimpansen beobachtet, und unter erwachsenen Schimpansen ist es auch ungewöhnlich, daß einer dem anderen Nahrungsmittel reicht. Auch auf diesem Gebiet zeigen sich starke Unterschiede bei den einzelnen Schimpansen; manche sind freigiebiger als andere. Ebenso zeigt der einzelne Schimpanse gewisse Präferenzen, wem er etwas gibt und wieviel er gibt. Umgekehrt bestehen Unterschiede in Stärke und Dauer des Bittens und Betteins. All dies scheint darauf hinzuweisen, daß der einzelne Schimpanse zwischen Alternativen wählt und daß er eine rudimentäre Form von Besitzrecht kennt. Beobachtungen in der freien Natur und in der Gefangenschaft zeigen, daß die Wahl zwischen Alternativen meist durch Familien- oder Freundschaftsbande oder durch sexuelle Stimulation beeinfiußt wird, wie im Fall der Fleischverteilung, bei dem brünstige weibliche Schimpansen größere Fleischportionen erhalten als andere. 4

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Diane Fossey, Years with the Mountain Gorilla (Film 1973). Persönliche Mitteilung von Jane Goodall.

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Diese bisher nur vereinzelt bei verschiedenen Tieren und unter verschiedenen Situationen beobachteten Verhaltensweisen waren wahrscheinlich auch im frühen Menschen vorhanden. Respekt vor dem Besitzenden war zunächst abhängig von der Situation und der Stärke des Verteidigungswillens des Besitzenden, selbst wenn er schwächer war. Mit zunehmender Intelligenz entwickelte sich aus diesem Verhalten Respekt für den Besitz von Gegenständen, die für den Besitzenden besonders wertvoll waren. Schimpansen werfen ihre Werkzeuge fort, wenn sie diese benutzt haben. Als der frühe Mensch etwas kompliziertere Werkzeuge fertigte, für deren Herstellung ein längerer Zeitaufwand nötig war, wollte er diese Werkzeuge zweifellos mehr als einmal benutzen. Er konnte auch nicht seine Aufmerksamkeit und Energie ständig darauf verwenden, den Besitz dieser Werkzeuge zu verteidigen. Es ist daher mit Sicherheit anzunehmen, daß bereits vor Millionen von Jahren Besitzrechte geltend gemacht wurden und als Antwortverhalten gegenüber diesen Besitzansprüchen sich ein Respekt für Besitzverhalten ausbildete. Aus diesen Verhaltensformen entwickelten sich Regeln, Normen und letztlich unser modernes Eigentums- und Vertragsrecht. Von Interesse für Reformbemühungen im Strafrecht und Strafvollzug ist die Theorie, daß Rechtsnormen (Rechtssätze) wirksamer sind, wenn ihre Befolgung ein Gefühl der Zufriedenheit oder der Sicherheit gibt. Selbst Strafe kann eine wohltuende Wirkung haben, wenn derjenige, der die Rechtsnorm übertreten hat, mit Verbüßung der Strafe wieder einen Platz in der Gruppe erhält. Bei den Schimpansen folgt häufig auf die drohende Geste des Stärkeren, der seine Rechte wahrnimmt, die Untergebenheitsgeste dessen, der die Regeln brach, und dies wiederum wird vom Stärkeren mit einer Befriedungsgeste beantwortet, die dem Unterlegenen seinen Platz innerhalb der Gruppe und die Wiederherstellung normaler Beziehungen zusichert. Das Bedürfnis des gestraften Schimpansen für eine verzeihende, beruhigende Geste ist aus den Beobachtungen in Gombe sehr klar und eindrucksvoll. Die Tiere dort sind in dieser Situation oft sehr erregt, schreien und jammern über einen längeren Zeitraum hinweg und beruhigen sich erst, wenn sie vom Strafenden mit einer verzeihenden Geste berührt werden. Es scheint, daß nicht-menschliche Primaten in der Lage sind, soviel persönliche Verantwortung zu entwickeln, daß das friedliche Zusammenleben innerhalb der Gruppe gewährleistet ist, wenn die Tiere während ihrer Entwicklung durch Belohnung und Bestrafung mit den Regeln des Gruppenlebens vertraut werden. Beobachtungen deuten darauf hin, daß Strafe hauptsächlich dem Schutz der Gesellschaft und der Abschrekkung dient. In der westlichen Welt werden im allgemeinen drei Faktoren als Ziel der Bestrafung betont: Schutz der Gesellschaft, Abschrek-

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kung und Rehabilitation. Bei nicht-menschlichen Primaten nimmt der Schutz der Gruppe meist die Form des Ostrazismus (Ausschluß aus der Gemeinschaft oder "Meidung") an, ähnlich wie die Methoden, die in zahlenmäßig kleinen menschlichen Gruppen wirksam sind6 • Die Gesellschaft und die Rechtsordnung werden dadurch geschützt, daß derjenige, der die Regeln übertritt, aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Bei nichtmenschlichen Primaten genügt meist drohendes Verhalten, wenn Abschreckung das Ziel der Strafe ist. Rehabilitation als Folge der Strafe scheint bei nicht-menschilchen Primaten durch die Initiative des Gestraften, der unterwürfig um Wiederaufnahme bittet, zu erfolgen. Strafen, die zur Wiederherstellung normaler Beziehungen führen, aktivieren nicht nur Verhaltensweisen, die für das Gruppenleben wesentlich sind. Sie rufen auch ein gewisses Wohlgefühl im Bestraften hervor und darüber hinaus ein Verantwortungsgefühl, das die Basis aller individuellen Rechte sein sollte. Individuelles Verantwortungsbewußtsein spielte eine bedeutende Rolle in der Evolution des Menschen. Als genetischer Zug konnte sich diese Eigenschaft nur dadurch entwickeln, daß Erwachsene, die diese Eigenschaft besaßen, einen selektiven Vorteil hatten gegenüber denen, die sie nicht besaßen. Selbstverständlich bedarf die Richtigkeit der in dieser Arbeit aufgestellten Behauptungen und Vermutungen weiterer eingehender Prüfung. Umgekehrt muß jede Art der Forschung mit bestimmten Arbeitstheorien, gleichgültig wie rudimentär sie auch sein mögen, beginnen, und wir können uns in diesem Zusammenhang der Erfahrungen in den Naturwissenschaften bedienen. Dort hat es sich gezeigt, daß Forschungsmethoden, die auf der Grundlage induktiver Analysen aufbauten, d. h. wenn sie von der komplizierteren höherentwickelten Disziplin auf einfachere oder tieferliegende Kenntnisse vordrangen, besonders erfolgreich waren. Lorenz drückte dies mit den Worten aus: "Wir müssen mit dem Menschen unter uns sprechen." Diese Methoden beruhen auf der Erkenntnis der Abhängigkeit aller Wissens zweige voneinander und der Interdependenz zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften7 • Eine erfolgversprechende Richtung für die Rechtsgrundlagenforschung könnte daher die Erforschung der Korrelation zwischen Verhaltensweisen im Gruppenleben und den damit verknüpften physiologischen Vorgängen sein. Das bedeutet nicht, daß Rechtsgelehrte Tiere in der Wildbahn beobachten oder physiologische oder neurologische Experimente im Labor vornehmen müssen. Es bedeutet nur, daß sie ihre Ansichten 6 Margaret Gruter: Legal Behavior in the Old Order Amish, unveröffentlicht. 7 Konrad Lorenz, Studies in Animal and Human Behavior, Vol. 2, Cambridge, Mass. 1971.

VII. Betrachtungen zur Rechtsgrundlagenforschung

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über die Entstehung des Rechts nicht mehr ausschließlich auf philosophischer Deutung aufbauen oder daß sie ihre Untersuchungen über die Interaktion zwischen Recht und Verhalten nicht mehr ausschließlich auf Umweltfaktoren beschränken. Nachdem die Verhaltensforschung die Kluft zwischen den Naturwissenschaften und jenen Disziplinen zu überbrücken begann, die menschliches Verhalten ausschließlich von philosophischen und psychologischen Standpunkten beurteilen, können auch neue Ergebnisse der biologischen Forschung, die darauf hinweisen, daß Rechtsverhalten im biologischen Erbgut des Menschen verankert ist, der Rechtsentwicklung dienlich gemacht werden. Wenn Einblicke in die Gesetze der Natur uns dazu verhelfen können, die ethischen Prämissen, die unseren Rechtsnormen zugrundeliegen, neu zu definieren 8 , so daß sie nicht im Widerspruch zum biologisch programmierten Verhalten stehen, dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß wir einige der Konflikte vermeiden, die zwischen den vom Menschen gemachten Gesetzen und dem Verhalten bestehen, das dem Gesetz der Natur folgt',

Ähnlich wie im Falle der Geburtenkontrolle, siehe S. 73. Karl von Frisch, Man and the Living World, New York 1962, S.291: "Der Mensch muß seine Gesetze seinen neuen Erkenntnissen anpassen; denn die Gesetze der Natur werden in seinem Fall keine Ausnahme machen ... Was wir brauchen, ist ein Verantwortungssinn ... Was vor allem zu wünschen ist, ist die progressive Evolution unserer ethischen Eigenschaften, die wesentlichste Voraussetzung für eine bessere Zukunft." 8

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