Die Auslegung und Fortbildung des normativen Teils von Tarifverträgen: auf der Grundlage eines Vergleichs der Auslegung und Fortbildung von Gesetzen mit der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften [1 ed.] 9783428491599, 9783428091591

Die Auslegung von Tarifverträgen steht im Spannungsfeld zwischen der Auslegung von Gesetzen und der Auslegung von Rechts

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Die Auslegung und Fortbildung des normativen Teils von Tarifverträgen: auf der Grundlage eines Vergleichs der Auslegung und Fortbildung von Gesetzen mit der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften [1 ed.]
 9783428491599, 9783428091591

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SUDABEH KAMANABROU

Die Auslegung und Fortbildung des normativen Teils von Tarifverträgen

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 156

Die Auslegung und Fortbildung des normativen Teils von Tarifverträgen auf der Grundlage eines Vergleichs der Auslegung und Fortbildung von Gesetzen mit der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften

Von

Sudabeh Kamanabrou

Duncker & Humblot · Berlin

Die Arbeit wurde auf Vorschlag der Juristischen Fakultät mit dem "Preis an Studierende" 1997 der Ruhr-Universität Bochum ausgezeichnet.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kamanabrou, Sudabeh: Die Auslegung und Fortbildung des nonnativen Teils von Tarifverträgen: auf der Grundlage eines Vergleichs der Auslegung und Fortbildung von Gesetzen mit der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften / von Sudabeh Kamanabrou. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 156) Zug!.: Bochum, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09159-0

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-09159-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die Arbeit hat im Wintersemester 1996/97 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität in Bochum vorgelegen. Rechtsprechung und Schrifttum sind bis Februar 1997 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rolf Wank, der nicht nur das Thema angeregt und betreut hat, sondern mir auch über die Doktorarbeit hinaus persönliche und fachliche Förderung hat zukommen lassen. Ihm und Prof. Dr. Klaus Schreiber, der die. Mühe der Zweitkorrektur auf sich genommen hat, danke ich auch für die zügige Durchsicht meiner Arbeit. Bochum, im Februar 1997

Sudabeh Kamanabrou

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................

21

1. Teil Die Interpretation von Gesetzen

23

J. Kapitel Die Auslegung im engeren Sinne

23

A. Der Grund für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

23

B. Auslegung als Inhaltsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

24

I. Das Auslegungsziel .............................................

24

1. Subjektive und objektive Theorie der Gesetzesauslegung ... . . . . . .. a) Möglichkeit, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln ........ b) Möglichkeit, einen objektiven Gesetzessinn zu ermitteln. . . . . .. c) Zusammenfassung zur subjektiven und objektiven Auslegungstheorie ................................................... 2. Inhaltsfeststellung oder Inhaltsfestsetzung ....................... 3. Die Einwände gegen die Erforschung des Willens des Gesetzgebers ........................................................ a) Das Willensargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Das Formargument . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Das Vertrauensargument ................................... d) Das Ergänzungsargument .................................. 4. Zusammenfassung zum Auslegungsziel .........................

24 26 28 29 29 32 32 33 33 34 36

II. Die Auslegungsmittel ........................................... 36 1. Die Auslegung nach dem Wortsinn ............................. a) Die Bedeutung des Textverständnisses des Auslegenden ....... b) Grenzfunktion des Wortsinns ............................... 2. Die historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Entstehungsgeschichte und Vorgeschichte der Norm. . . . . . . . . .. b) Ergebnisse der historischen Auslegung ...................... 3. Die systematische Auslegung. . . . .. . . . . .. . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. 4. Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Subjektiv-teleologische Auslegung .......................... b) Objektiv-teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

36 36 38 41 41 43 44 46 47 48

8

Inhaltsverzeichnis 5. Die verfassungskonforme Auslegung ........................... 50 6. Die Berücksichtigung bereits bestehender Auslegungsergebnisse ... 50 7. Zusammenfassung zu den Auslegungsmiueln bei der Inhaltsfeststellung ........................................................ 52

C. Auslegung als Inhaltsfestsetzung ......................................

53

I. Die Kompetenz des Richters zur Inhaltsfestsetzung .................

54

11. Die objektiv-teleologische Auslegung ............................. 56 1. Objektiv-teleologische Auslegungskriterien ...................... 56 2. Begründung für die Anwendung der objektiv-teleologischen Kriterien . .. . . . . . . . .. . . .. . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . .. . . . .. 58 III. Die verfassungskonforme Auslegung .............................. 59 1. Arten der verfassungskonformen Auslegung ..................... 60 2. Begründung für den Einfluß der Verfassung auf die Auslegung .... 63

IV. Die Berücksichtigung bereits bestehender Auslegungsergebnisse . . . . ..

66

D. Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ...........................

67

E. Die Rangfolge der Auslegungszie1e und der Auslegungsmitte1 ............

68

I. Stellungnahmen in der Literatur ..................................

68

11. Die Rangfolge der Auslegungsziele ............................... 72 III. Die Rangfolge der Auslegungsmittel .............................. 72 1. Die Rangfolge bei der Inhaltsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 2. Die Rangfolge bei der Inhaltsfestsetzung ........................ 73

IV. Zusammenfassung zu den Rangfragen ............................. 74 2. Kapitel Die Auslegung im weiteren Sinne (Rechtsfortbildung) A. Rechtsfortbildung nach Inhaltsfeststellung oder -festsetzung ..............

75 75

B. Die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ............. 76 C. Die generelle Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen .....................

76

I. Die Ansichten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

76

11. Stellungnahme .................................................

80

D. Die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung im Einzelfall ............ 81 I. Die Lückenfüllung ..............................................

82

Inhaltsverzeichnis

9

1. Der Begriff der Gesetzeslücke ................................. 82 2. Arten von Lücken ............................................ 84 a) Nachträgliche Lücken ..................................... 85 aa) Die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse .......... 85 bb) Die Veränderung der rechtlichen Verhältnisse ............ 86 b) Anfängliche Lücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88 c) Bewußte und unbewußte Lücken ........................... 90 d) Offene und verdeckte Lücken .............................. 91 e) Zusammenfassung zu den Lückenarten ...................... 94 3. Die richterliche Kompetenz zur Ausfüllung von Gesetzeslücken (Das "Ob" der Lückenfüllung) ................................. 94 4. Die Art und Weise der Lückenfüllung .......................... 95 11. Die Ausfüllung anfänglicher bewußter "Lücken" ................... 96 III. Rechtsfortbildung bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen . . . . ..

97

1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung ....................... 97 2. Die richterliche Kompetenz zur Anpassung älterer Vorschriften an neuere Gesetze (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) ................ 98 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen ......................................... 98 IV. Rechtsfortbildung bei der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers.........................................................

99

1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung ....................... 99 2. Die richterliche Kompetenz zur Auflösung der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) . 100 3. Die Art und Weise der Auflösung der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers .......................................... 10 1 V. Rechtsfortbildung zum Zweck des Umgehungsschutzes .............. 101 1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung ....................... 101 2. Die richterliche Kompetenz zur Vermeidung einer Gesetzesumgehung (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) ........................ . 103 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung beim Umgehungsschutz .. 103 VI. Rechtsfortbildung bei Verfassungsverstößen des Gesetzgebers ........ 104 1. Das Bedürfnis für ein Abweichen vom Willen des Gesetzgebers ... 104 2. Unterschiedliche Auswirkungen einer Kassation und einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung ............................. 105 3. Die richterliche Kompetenz zur Ausdehnung von Normen bei Verfassungsverstößen (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) ............. 108 VII. Die gesetzesvertretende Rechtsfortbildung ......................... 109 1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung ....................... 109 2. Die richterliche Kompetenz zur Ersatzgesetzgebung (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11 0

10

Inhaltsverzeichnis 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung bei der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung ........................................ 112

E. Zusammenfassung zu den Fallgruppen der Rechtsfortbildung

113

3. Kapitel

Das Redaktionsversehen

114

A. Das Redaktionsversehen in der Literatur ............................... 114

B. Fehler beim Zustandekommen eines Gesetzes .......................... 115

2. Te i I Die Interpretation von Rechtsgeschäften

118

1. Kapitel

Die Auslegung im engeren Sinne

118

A. Willenserklärung, Rechtsgeschäft und Vertrag .......................... 118

I. Die Begriffe nach den Materialien zum BGB ...................... 118

11. Die Begriffe in der Literatur ..................................... 119 III. Hier zugrundegelegte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120 B. Die §§ 133, 157 BGB ............................................... 123

I. § 133 BGB .................................................... 124 1. Der Auslegungsgegenstand .................................... a) Die Tatbestandsmerkmale der Willenserklärung nach den Materialien ................................................... b) Die Tatbestandsmerkmale der Willenserklärung nach der Literatur, Stellungnahme ........................................ aa) Handlungswille ....................................... bb) Erklärungsbewußtsein ................................. cc) Geschäftswille ....................................... dd) Zusammenfassung zu den Tatbestandsmerkmalen der Willenserklärung ........................................ c) Zurechnung des äußeren Tatbestandes als Willenserklärung .... aa) Anlehnung an gesetzliche Fiktionen von Willenserklärungen ................................................. bb) Zurechnung aus Gründen des Vertrauensschutzes ........ .

124 124 124 126 127 129 129 130 130 131

Inhaltsverzeichnis d) Exkurs: Ersatz des Vertrauens schadens bei fehlendem Erklärungsbewußtsein .......................................... aa) Interessengegensatz der Parteien und Ersatz des Vertrauensschadens .......................................... bb) Anspruchsgrundlage für den Schadensersatzanspruch des Erklärungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Keine Beschränkung auf einseitige Rechtsgeschäfte ........... f) Zusammenfassung zum Auslegungsgegenstand ............... 2. Das Auslegungsziel .......................................... a) Wille des Erklärenden oder normativer Erklärungssinn ........ b) Geltung des übereinstimmend Gewollten .................... c) Mehrere Bedeutungen einer Willenserklärung ................ d) Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung .................... e) Zusammenfassung zum Auslegungsziel ...................... 3. Die Auslegungsmittel ......................................... a) Hinweise aus den Materialien .............................. b) Die Auslegungsmittel im einzelnen ......................... aa) Die Auslegung nach dem Wortsinn ..................... bb) Die historische Auslegung ............................. ce) Die systematische Auslegung .......................... dd) Die teleologische Auslegung ........................... (1) Subjektiv-teleologische Auslegung der Willenserklärung ............................................. (2) Objektiv-teleologische Auslegung der Willenserklärung ............................................. ee) Die gesetzeskonforme Auslegung ....................... (1) Die Ansicht Hagers ............................... (2) Die eigene Lösung ................................ c) Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rangfolge der Auslegungsziele und -mittel .................. a) Die Rangfolge der Auslegungsziele ......................... b) Die Rangfolge der Auslegungsmittel ........................

11 132 133 134 136 136 136 136 141 148 151 152 153 153 153 154 155 156 157 157 157 158 158 159 160 160 160 161

11. § 157 BGB .................................................... 162 1. Der Auslegungsgegenstand .................................... 162 2. Das Auslegungsziel .......................................... 163 3. Die Auslegungsmittel ......................................... 164 III. Das Verhältnis der §§ 133, 157 BGB zueinander ................... 165 1. Hinweise aus den Materialien ...... , ........................... 166 2. Die Deutung der §§ 133, 157 BGB in der Literatur .............. 166 3. Die eigene Lösung ........................................... 168 C. Auslegung und Form ................................................ 169 I. Andeutungstheorie und falsa demonstratio ......................... 169

Inhaltsverzeichnis

12 11. Die Andeutungstheorie

170

III. Die eigene Konzeption

172

1. Forrnzwecke im Zwei-Personen-Verhältnis ...................... 173 2. Drittschützende Formvorschriften .............................. 176 IV. Zusammenfassung zu den Formfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178

2. Kapitel Die Auslegung im weiteren Sinne (ergänzende Auslegung von Rechtsgeschäften)

179

A. Die ergänzende Vertragsauslegung in Literatur und Rechtsprechung ....... 179 I. Die Vertragslücke .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 179 11. Der Maßstab für die Lückenfüllung ............................... 182 III. Das Verhältnis der ergänzenden Auslegung zur Anwendung dispositiven Rechts ..................................................... 182 B. Die eigene Konzeption .............................................. 184

I. Ergänzende Vertragsauslegung und Privatautonornie ................ 184 11. Die Rechtsgrundlage für die ergänzende Vertragsauslegung .......... 184 III. Die Vertragslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 1. Der Lückenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Arten von Lücken ............................................ 187 IV. Der Maßstab für die Lückenfüllung .............................. . 188 1. Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet ...................................... 189 2. Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien keine Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet ................................... 193 V. Ergänzende Vertragsauslegung oder Anwendung dispositiven Rechts .. 193 1. Diskussion der Lösung in der Literatur ......................... 2. Die eigene Konzeption ........................................ a) Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien keine Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet ........................ . aa) Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Lückenfüllung durch dispositives Recht oder ergänzende Vertragsauslegung ................................................

193 197 197 198

198

Inhaltsverzeichnis

13

bb) Vorrang der Anwendung dispositiven Rechts vor der ergänzenden Vertragsauslegung ............................. 199 cc) Fälle, in denen dispositives Recht nicht gegeben ist oder nur Generalklauseln existieren ......................... 200 VI. Ergänzende Vertragsauslegung und Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . 202 VII. Die ergänzende Auslegung einseitiger Rechtsgeschäfte .............. 205 C. Zusammenfassung zur ergänzenden Auslegung ......................... 208 3. Te i I Vergleich der Interpretation von Gesetzen mit der Interpretation von Rechtsgeschäften

210

1. Kapitel Die Auslegung im engeren Sinne

210

A. Inhaltsfeststellung

210

B. Inhaltsfestsetzung

212

2. Kapitel Die Auslegung im weiteren Sinne

212

4. Tei 1 Die Interpretation von Tarifverträgen

214

1. Kapitel Die Auslegung im engeren Sinne

215

A. Die Auslegung von Tarifverträgen nach der Rechtsprechung des BAG ..... 215 I. Das Auslegungsziel nach der Rechtsprechung des BAG ............. 215 11. Die Auslegungsrniuel nach der Rechtsprechung des BAG ........... 217

1. Die ältere Rechtsprechung des BAG ............................ 2. Die Rechtsprechung des BAG seit 1989 ........................ 3. Die Auslegungsrniuel im einzelnen ............................. a) Der Wortlaut der Tarifnorm ................................ b) Der Wille der Tarifvertragsparteien ......................... c) Der Gesamtzusammenhang ................................ d) Die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages ................ e) Der Sinn und Zweck des Tarifvertrages ...................... f) Die gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung ...........

217 219 221 221 222 223 224 225 225

Inhaltsverzeichnis

14

g) Die praktische Tarifübung ................................. h) Die Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse ...... . i) Die Anschauungen der beteiligten Berufskreise .............. . 4. Die Rangfolge der Auslegungsmittel nach der Rechtsprechung des BAG ....................................................... a) Die älteren Urteile des BAG zur Rangfolge der Auslegungsmittel ...................................................... b) Die Rangfolge der Auslegungsmittel nach der neueren Rechtsprechung des BAG ...................................... . c) Vergleich der verschiedenen Stellungnahmen zur Rangfolge .... d) Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln und ihrer Rangfolge nach der neueren Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . e) Die tatsächliche Handhabung der Auslegungsmittel durch das BAG ....................................................

226 226 227 227 227 228 229 230 231

III. Folgen der Aussagen des BAG zu den Auslegungsmitteln für das Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

B. Die Auslegung von Tarifverträgen nach der Literatur ................... . 233 I. Vertreter der objektiven Theorie .................................. 233

11. Vertreter der subjektiven Theorie ................................. 237 III. Zusammenfassung zu den Ansichten in der Literatur ................ 247 C. Die eigene Konzeption .............................................. 247 I. Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung .......................... 247 1. 2. 3. 4.

Vorrang der Inhaltsfeststellung ................................ . Zulässigkeit der Inhaltsfestsetzung bei Tarifverträgen ............ . Einheitliche oder personenbezogene Inhaltsfestsetzung ............ Zwischenergebnis ............................................

247 248 250 250

11. Die Auslegungsmittel bei der Inhaltsfeststellung ................... . 251 1. Die Auslegung nach dem Wortsinn ............................ . a) Der Wortsinn als Auslegungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Wortsinn als Grenze der Auslegung ..................... 2. Der Wille der Tarifvertragsparteien ............................ . 3. Die Entstehungsgeschichte .................................... 4. Der Gesamtzusammenhang ................................... . 5. Die teleologische Auslegung ................................... a) Die subjektiv-teleologische Auslegung ...................... b) Die objektiv-teleologische Auslegung ....................... 6. Die gesetzes- und verfassungskonforrne Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die praktische Tarifübung und die Anschauung der beteiligten Berufskreise ................................................ .

251 251 252 253 254 256 257 257 258 258 259

Inhaltsverzeichnis

15

8. Auslegung mit Hilfe des arbeitsrechtlichen Schutzprinzips ........ 260 9. Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln bei der Inhaltsfeststellung ........................................................ 260 III. Die Auslegungsmittel bei der Inhaltsfestsetzung ................... . 261 1. Die objektiv-teleologische Auslegung ........................... 2. Die gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung .............. . a) Die verfassungskonforme Auslegung ........................ aa) Arten der verfassungskonformen Auslegung ............. bb) Begründung für den Einfluß der Verfassung auf die Auslegung ................................................ b) Die gesetzeskonforme Auslegung .......................... . 3. Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln bei der Inhaltsfestsetzung ........................................................

261 262 262 262 263 264 264

IV. Die Rangfolge der Auslegungsmittel .............................. 264 V. Inhaltsfeststellung, Inhaltsfestsetzung und normativer Erklärungssinn . 265 VI. Dissens und falsa demonstratio beim Tarifvertrag .................. . 266 1. Der Dissens ................................................. 266 2. Die falsa demonstratio ....................................... . 267

2. Kapitel Die Auslegung im weiteren Sinne (Fortbildung von Tarifverträgen)

268

A. Die Fortbildung von Tarifverträgen nach der Rechtsprechung des BAG . . . . 268 I. Die Fortbildungskompetenz der Gerichte .......................... 268 11. Die Voraussetzungen für eine Fortbildung des Tarifvertrages ........ . 268 1. Bewußte und unbewußte Regelungslücken ...................... 269 a) Die bewußte Regelungslücke .............................. . 269 b) Die unbewußte Regelungslücke ............................. 270 2. Die planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages ............. -272 3. Vergleich der Begriffe "unbewußte Lücke" und "plan widrige Unvollständigkeit" in der Rechtsprechung des BAG .............. 273 III. Art und Weise der Ausfüllung von Tariflücken ..................... 277 1. Die Ausfüllung unbewußter Tariflücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Zusammenfassung zur Ausfüllung unbewußter Tariflücken durch das BAG .................................................... 281 3. Die Ausfüllung planwidriger Unvollständigkeiten ................ 281 IV. Vermischung von einfacher und ergänzender Auslegung in der Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

16

Inhaltsverzeichnis

B. Die Fortbildung von Tarifverträgen nach der Literatur ................... 283 I. Befürworter der Fortbildung von Tarifverträgen .................... 283

1. Die Fortbildungskompetenz der Gerichte ....................... . 2. Das Fortbildungsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fortbildung von Tarifverträgen oder Anwendung bestehenden Gesetzesrechts ............................................... 4. Die Behandlung bewußter Lücken in der Literatur ............... 5. Die ausfüllbare Lücke ........................................ 6. Die Ausfüllung von Tariflücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten ...............................................

283 284 285 286 287 288 290

11. Kritische Äußerungen zur Fortbildung von Tarifverträgen ........... 291

c.

Die eigene Konzeption .............................................. 293 I. Die generelle Zulässigkeit einer Fortbildung von Tarifverträgen durch die Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

11. Die Situation beim Tarifvertrag im Vergleich zur Fortbildung von Gesetzen und der Ergänzung von Verträgen ....................... . 295 III. Die Zulässigkeit der Fortbildung von Tarifverträgen im Einzelfall .... 296 1. Die Lückenfüllung ........................................... a) Die Regelungslücke ...................................... . b) Die richterliche Kompetenz zur Ausfüllung von Tariflücken (Das "Ob" der Lückenfüllung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Art und Weise der Lückenfüllung ...................... . 2. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen .............................................. . 3. Kollision mit anderen Normen des Tarifvertrages ................ 4. Die Fortbildung von Tarifverträgen zum Zwecke des Umgehungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei Verfassungsverstößen der Tarifvertragsparteien ......................................... . 6. Tarifvertragsvertretendes Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zusammenfassung zur Fortbildung von Tarifverträgen ............

3. Kapitel Das Redaktionsversehen

296 296 297 298 299 299 300 300 302 302

303

Ergebnisse ............................................................ 306 Literaturverzeichnis ................................................... 309 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABGB Abs. Abschn. AcP AGB AGBG AK Anm. AöR AP ArbGG ArbuR Art. AT Aufl. BAG BAT BB BBiG bearb. begr. BErzGG BeschFG

Beschl. BetrAVG BGB BGH BGHSt BGHZ BUrlG BVerfG c.i.c. Can. cic d. DB 2 Kamanabrou

anderer Ansicht am angegebenen Ort (Österreichisches) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Alternativkommentar Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgerichtsgesetz Arbeit und Recht (Zeitschrift) Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bundesarbeitsgericht Bundes-Angestelltentarifvertrag Betriebs-Berater (Zeitschrift) Berufsbildungsgesetz bearbeitet begründet Bundeserziehungsgeldgesetz Gesetz über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäftigungsförderung Beschluß Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesurlaubsgesetz Bundesverfassungsgericht culpa in contrahendo Canon codex juris canonici der Der Betrieb (Zeitschrift)

18 ders. DJZ DNotZ DöV DRiG DRiZ Drucks. DVBI E Ein!. EStDV EzA f. (ff.) FeiertagslohnzahlungsG Fn. FS gern. Gemeins. GG GGO 11 GmbHG HRG hrsg. Hrsg. JA Jhr.Jb. Jura JuS JZ m.w.N. MK MTA MTB MTL MTV MüArbR NJW Nr. NZA OLG RdA Rdnr. RG RGZ S.

Abkürzungsverzeichnis derselbe Deutsche Juristenzeitung Deutsche Notar-Zeitschrift Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidungen Einleitung Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Entscheidungssarnmlung zum Arbeitsrecht folgende (mehrere folgende) Gesetz zur Regelung der Lohnzahlung an Feiertagen Fußnote Festschrift gemäß Gemeinsame Grundgesetz Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil GmbH-Gesetz Hochschulrahmengesetz herausgegeben Herausgeber Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jherings Jahrbücher der Dogmatik des bürgerlichen Rechts Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung mit weiteren Nachweisen Münchener Kommentar Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesanstalt für Arbeit Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder Manteltarifvertrag Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Oberlandesgericht Recht der Arbeit (Zeitschrift) Randnummer Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Satz, Seite

Abkürzungsverzeichnis SAE SchwBeschG StGB StPO Tit. TV TV AL II

TV Ang Bundespost TV Arb Bundespost TV RatAng TVG Urt. Verf. VerfNRW VersG VerwArch Vorb. WM Zeitschr. ZfA ZGR ZHR Ziff. ZPO ZRP ZTR ZZP

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Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Schwerbeschädigtengesetz Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Titel Tarifvertrag Tarifvertrag vom 16.12.1966 für die Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Tarifvertrag für die Angestellten der Deutschen Bundespost Tarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundespost Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte Tarifvertragsgesetz Urteil Verfasserin Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Versammlungsgesetz Verwaltungsarchi v Vorbemerkung Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschriften) Zeitschrift Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Ziffer Zi vilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Zivilprozeß

Einleitung Den Anstoß zu dieser Arbeit hat die Frage nach der Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen gegeben. Wenn man sich diesem Problemkreis widmet, stößt man sehr bald auf den Zusammenhang der Auslegungsmethodik bei Tarifverträgen mit der bei Gesetzen und Rechtsgeschäften. Für die Auslegung von Tarifverträgen sollen entweder die Regeln der Gesetzesauslegung oder die der Rechtsgeschäftsauslegung gelten. Will man in diesem Streit Stellung nehmen, so muß man zunächst diese Methodiken untersuchen. Hersehel sah sich in einem Beitrag zur Auslegung der Tarifvertragsnormen in folgendem Zwiespalt: "Man kann diesen Gegenstand (die Auslegung von Tarifverträgen, Anm. d. Verf.) nicht gründlich erörtern, ohne auf die Methodik der juristischen Interpretation im allgemeinen einzugehen; andererseits darf man bei ihr nicht zu lange verweilen, weil sonst die spezifisch tarifvertragsrechtlichen Fragen zu kurz kämen." 1 Diesem Dilemma kann man in einer monographischen Darstellung zwar theoretisch entgehen, da nach der Behandlung der allgemeinen methodischen Fragen noch beliebig viel Raum für Einzelheiten der Tarifvertragsauslegung bleibt. Die Begrenzung der Stoffülle wird aber auch in einer solchen Arbeit zum Problem. So sind hier aus Raumgründen z. B. Satzungen und Vereinsbeschlüsse aus der Betrachtung der Auslegung von Rechtsgeschäften ausgenommen, obwohl ihre strukturelle Nähe zum Tarifvertrag ihre Untersuchung vielversprechend erscheinen läßt. Bei Tarifverträgen wurde die Auslegung und Fortbildung des schuldrechtlichen Teils ausgeklammert.

Ziel der Arbeit ist es, die methodischen Grundfragen der Auslegung und Fortbildung (oder Ergänzung) von Gesetzen, Rechtsgeschäften und Tarifverträgen zu erörtern. Dazu wird zunächst die Auslegung und Fortbildung von Gesetzen besprochen. Hier geht es vor allem um das Auslegungsziel, die Art und Rangfolge der Auslegungsmittel und die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung. Ähnliche Fragen stellen sich bei der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften, die im zweiten Teil untersucht wird. Zusätzlich treten dabei auch Formfragen auf. Bevor dann die Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen behandelt wird, soll ein Vergleich zwischen der Auslegung und Fortbildung von Gesetzen und der Auslegung und Ergänzung von Rechtsgeschäften Aufschluß auf die Unterschiede und 1

Herschel, FS für E. Molitor, S. 178.

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Einleitung

Gemeinsamkeiten dieser Methodiken geben. Die Methodenfragen bei Tarifverträgen werden dann in Anlehnung an die zuvor gewonnenen Erkenntnisse dargelegt.

1. Teil

Die Interpretation von Gesetzen 1. Kapitel

Die Auslegung im engeren Sinne A. Der Grund für die Auslegung Gern. Art. 20 Abs. 3 GG sind Rechtsprechung und vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Art. 97 Abs. 1 GG unterwirft den Richter noch einmal ausdrücklich dem Gesetz. Das bedeutet, daß richterliche und behördliche Entscheidungen nach dem Inhalt des Gesetzes zu treffen sind. Damit ist der Gesetzesinhalt aber zugleich für alle anderen Rechtsanwender ausschlaggebend, sollen ihre Aussagen im Rechtsverkehr verwertbar sein. Denn jede Rechtsbeziehung kann vor Gericht enden, wo nur solche Rechtsansichten Aussicht auf Erfolg haben, die der Gesetzesbindung des Richters Rechnung tragen. In zahlreichen Fällen ist es ohne weiteres möglich, den zu beurteilenden Sachverhalt unter eine Norm zu subsumieren. Häufig ist aber unklar, ob einzelne Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Der Gesetzesinhalt muß dann, zumindest soweit er für die Lösung des Falles von Bedeutung ist, ermittelt werden. Diese Ermittlung des Gesetzesinhalts wird als Auslegung bezeichnet l . Ein Gesetz wird also ausgelegt, um die Entscheidung eines Falles nach dem Gesetz zu ermöglichen. Wie der Inhalt des Gesetzes zu ermitteln ist, ergibt sich nicht aus der Gesetzesbindung. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. I GG legen nur fest, daß das Gesetz maßgeblich für die Entscheidung ist, geben aber keine Anhaltspunkte für die Auslegung. Bevor man aber nach den Mitteln der Auslegung fragt, ist ihr Ziel näher zu bestimmen. Zwar wurde bereits festgestellt, daß das Ziel der Auslegung die Ermittlung des Gesetzesinhalts ist; damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, was Gesetzesinhalt sein kann. Ist es ein objektiver, vom Willen der Urheber des Gesetzes und des Auslegenden 1 Hassold, ZZP 94 (1981), S. 192; Larenz, Methodenlehre, S. 204, 312; Mennicken, Gesetzesauslegung, S. 10; Zippelius, Methodenlehre, S. 39. Nach der hier

verwandten Terminologie ist die Auslegung im engeren Sinne gemeint.

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I. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

unabhängiger Sinn, oder kommt es auf die subjektiven Vorstellungen einzelner oder mehrerer Personen an? Wird der Inhalt des Gesetzes festgestellt oder festgesetzt? Je nachdem, was als Inhalt des Gesetzes zu ermitteln ist, werden unterschiedliche Auslegungsmittel in Betracht kommen.

B. Auslegung als Inhaltsfeststellung I. Das Auslegungsziel Die im folgenden behandelten Probleme werden üblicherweise unter dem Stichwort "Auslegungsziel" erörtert. Diese Terminologie trifft zwar nicht genau den Kern des Problems, da das Auslegungsziel "Gesetzesinhalt" bereits feststeht, und es um die Charakterisierung dieses Inhalts geht. Sie ist aber insofern gerechtfertigt, als mit den angebotenen Lösungen so unterschiedliche Auffassungen vom Gesetzesinhalt vorgestellt werden, daß man von verschiedenen Zielen sprechen kann.

1. Subjektive und objektive Theorie der Gesetzesauslegung 2 .Nach der subjektiven Theorie ist bei der Auslegung der Wille des Gesetzgebers zu ermitteln 3 . Das Gesetz sei ein Willensakt seiner Schöpfer, weshalb es bei der Auslegung auf deren Inhaltsvorstellungen ankomme 4 . Außerdem diene diese Auffassung der Rechtssicherheit, da der Wille des 2 Die subjektive Theorie vertreten u. a. Bartholomeyczik, Gesetzesauslegung ; Bierling, Prinzipienlehre IV; Enneccerus/Nipperdey, AT I; Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211; Heck, AcP 112 (1914), S. I; Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber.

Die objektive Theorie vertreten u.a. das BVerfG (BVerfG, Urt. v. 21.5.1952, E 1, S. 299, 312; BVerfG, Beschl. v. 15.12.1959, E 10, S. 234, 244; BVerfG, Beschl. v. 17.5.1960, E 11, S. 126, 130f.; BVerfG, Beschl. v. 18.10.1966, E 20, S. 283, 293; BVerfG, Beschl. v. 5.7.1972, E 33, S. 265, 294; BVerfG, Beschl. v. 5.11.1974, E 38, S. 154, 163; BVerfG, Beschl. v. 16.12.1981, E 59, S. 128, 153; BVerfG, Beschl. v. 9.11.1988, E 79, S. 106, 121); Bekker; Jhr.Jb. 34 (1895), S. I; Binding, Strafrecht; Brütt, Rechtsanwendung; Burckhardt, Methode; Kohler; Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1; Radbruch, Einführung; ders., Rechtsphilosophie; Schloßmann, Irrtum; Wach, Civilprozess. Ausführlich zu den Auslegungstheorien Mennicken, Gesetzesauslegung. 3 Damit ist von einigen Autoren ein psychologischer Wille gemeint, von anderen ein normativer Wille. So versteht z.B. Heck, AcP 112 (1914), S. 1,8, 64f. die Willensfrage normativ und hält die Bezeichnung "Gesetzgeber" für eine Zusammenfassung der Gemeinschaftsinteressen, die im Gesetz zur Geltung gelangt sind. 4 Bartholomeyczik, Gesetzesauslegung, S. 42; Bierling, Prinzipienlehre IV, S. 209, 230f.; Enneccerus/Nipperdey, AT I, S. 324ff.; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 129, mit der Maßgabe, daß der heutige Wille des Gesetzgebers entscheidend ist, soweit er erkennbar ist. Ähnlich Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 54f., 65, für den es auf die Wahrung der Gegenwartsinteressen ankommt.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Gesetzgebers als historische Tatsache erkennbar sei. Andere Werte könnten nur im Wege der Rechtsfortbildung zum Tragen kommen, was zunächst einmal die einheitliche Gesetzesanwendung nach dem Willen des Gesetzgebers sicheres. Schließlich sei der Richter nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung dazu berufen, das ihm vorgelegte Gesetz anzuwenden, er dürfe aber nicht selbst gesetzgeberisch tätig werden6 • Im Gegensatz dazu kommt es nach den verschiedenen Spielarten der objektiven Theorie7 nicht auf den Willen und die Vorstellungen des Gesetzgebers an. Maßgeblich soll der objektive Sinn des Gesetzes, der sogenannte Wille des Gesetzes, seinS. Das Gesetz löse sich mit seinem Inkrafttreten von seinen Urhebern. Es könne klüger sein als seine Verfasser und vor allem auch Antworten auf gegenwärtige Fragen geben, die dem Gesetzgeber noch gar nicht bekannt waren 9 . Allein der Gesetzestext sei in der erforderlichen Form in Kraft gesetzt worden, weshalb es bei der Auslegung auch nur auf den Text ankommen dürfe lO • Schließlich diene die Auslegung allein aus dem Gesetz der Rechtssicherheit, da auf den Gebrauch schwer zugänglicher Materialien verzichtet werde 11. Neben diesen reinen Formen der Auslegungstheorien gibt es unterschiedliche Vereinigungsversuche, die mit verschiedener Gewichtung sowohl den historischen Willen des Gesetzgebers als auch objektive Kriterien für maßgeblich erklären 12. 5 Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 217; Heck, AcP 112 (1914), S. 1,84; MeierHayoz, Richter als Gesetzgeber, S. 44f.; vgl. auch Bartholomeyczik, Gesetzesauslegung, S. 44. 6 Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. I29f. 7 Im einzelnen gibt es bei den Vertretern der objektiven Theorie erhebliche Unterschiede, vgl. dazu den Überblick bei Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 68f, 250ff. Enneccerus/Nipperdey, AT I, S. 326 stellen fest, daß den unterschiedlichen objektiven Theorien "im Grunde nur die Ablehnung der subjektiven Theorie gemeinsam ist". 8 Binding, Strafrecht, S. 454ff., 456; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 206f.; Wach, Civilprozess, S. 256ff., 258.; Kahler; Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1 f., 18. 9 Horn, Einführung, Rdnr. 179; Kaufmann, JZ 1975, 337, 341; Larenz, Methodenlehre, S. 317; Radbruch, Einführung, S. 252; ders., Rechtsphilosophie, S. 207; vgl. auch Kahler; Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 3 f.; dagegen Baden, Gesetzgebung, S. 131, der die Anpassung des Gesetzes zutreffend nicht als Selbstentfaltung seines Geistes sieht, sondern als "Produkt der Einflußnahme durch den Interpreten". Baden wendet sich auch gegen die Vorstellung, daß das Gesetz klüger sein könne als der Gesetzgeber. Er hält dieses "bessere" Verständnis vom Sinn nicht für eine Steigerung zum Gut-Verstehen, sondern für ein Anders-Verstehen. 10 Binding, Strafrecht, S. 469ff., 472, der die Materialien allerdings zur Bekräftigung zuläßt; ebenso Kahler; Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 21, 26f., 38; Radbruch, Einführung, S. 251; Wach, Civilprozess, S. 281 ff., 283f. 11 Brütt, Rechtsanwendung, S. 50; Schatz, Rechtssicherheit, S. 46. 12 Zusarnrnenstellung bei Mennicken, Gesetzesauslegung, S. 29f., 58ff.; u.a. Larenz, Methodenlehre, S. 3I6ff., 318; Sax, Analogieverbot, S. 65.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Da das Gesetz einen feststell baren Urheber, den Gesetzgeber, hat, liegt es nahe, dessen Vorstellungen vom Gesetzesinhalt zu ermitteln, oder das, was ihm als Regelungsvorstellung und -absicht zuzurechnen ist. Andererseits wäre ein objektiver Gesetzessinn ein wünschenswertes Auslegungsziel. Wäre er maßgeblich, so könnte der Inhalt des Gesetzes allgemein problemlos aus dem Text festgestellt und vor allem den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt werden. Zunächst ist zu untersuchen, ob diese beiden vorgeschlagenen Ziele überhaupt ermittelt werden können. a) Möglichkeit, den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln Gegen die subjektive Theorie wird u. a. eingewandt, daß der sogenannte Wille des Gesetzgebers gar nicht existiere l3 . Der Gesetzgeber bestehe aus einer Mehrheit von Personen, die mit dem Gesetz keinen einheitlichen Sinn verbänden. Ihr Wille sei nur insoweit einheitlich, als es um die Inkraftsetzung des Gesetzeswortlauts gehe. Übereinstimmungen über den Inhalt seien nicht feststellbar 14 . Tatsächlich werden die einzelnen Abgeordneten - und gegebenenfalls die Mitglieder des Bundesrates - bei der heutigen Masse von Gesetzgebungsverfahren in der Regel keine Vorstellung vom (gesamten) Inhalt des zu verabschiedenden Gesetzes haben. Falls das doch der Fall sein sollte, werden sich verschiedene Ansichten feststellen lassen. Dieser Einzelwille der Abgeordneten ist aber auch nicht unbedingt Gegenstand der historischen Willenserforschung. Um den Willen eines Kollektivs zu ermitteln, kann man ebenso wie beim Individualwillen nach einem eigenen, selbstgebildeten Willen fragen oder nach einem zurechenbaren Willen. Letzterer kann von einer anderen Person oder anderen Personen gebildet worden sein. Ein einheitlicher eigener Willensinhalt der Abgeordneten ist also gar nicht erforderlich, wenn sich ein zurechenbarer Wille ermitteln läßt. Gesetze werden in der Regel nicht im Plenum, sondern in Kommissionen und Ausschüssen erarbeitet. Die Inhaltsvorstellungen ihrer Mitglieder werden mit dem Gesetzeswortlaut von den Parlamentariern übernommen und in Kraft gesetzt 15 . Lehnt man diese Ansicht ab, so unterstellt man, daß 13 Bekker, Jhr.Jb. 34 (1895), S. 1, 74f.; Müller, Methodik, S. 255; Schloßmann, Irrtum, S. 26f.; vorsichtiger Burckhardt, Methode, S. 277; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 126f., die davon sprechen, daß der gesetzgeberische Wille schwierig festzustellen ist und oft nicht ermittelt werden kann. 14 Bekker, Jhr.Jb. 34 (1895), S. 1, 74f., Binding, Strafrecht, S. 472; Kohler, Bürgerliches Recht, S. 130; ders., Grünhuts Zeitschr. 13, (1886), S. 1, 22ff., 25. 15 Engisch, Einführung, S. 95; Hassold, ZZP 94 (1981), S. 192, 198f., 207; a.A. Zippelius, Methodenlehre, S. 21.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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inhaltslose Gesetze beschlossen werden, es sei denn, es gäbe einen objektiven Gesetzessinn l6 . Die Zurechnung der Inhaltsvorstellungen kann man als Folge einer Arbeitsteilung ansehen 17 . Nicht nur die Zahl der Gesetzesvorhaben, auch die bei der Gesetzgebung erforderliche Sachkenntnis auf den unterschiedlichsten Gebieten macht es unmöglich, jedes Gesetz im Plenum zu erarbeiten. Das ist auch nicht etwa aus Legitimationsgründen erforderlich. Das Parlament als demokratisch legitimierter Gesetzgeber behält durch die Bearbeitung in den Ausschüssen und die Kompetenz zum Erlaß des Gesetzes genügend Einfluß: Die Ausschüsse sind mit Abgeordneten besetzt, und an der Verabschiedung ist nach der grundgesetzlichen Konzeption das gesamte Parlament beteiligt. Wenn unter diesen Bedingungen ein Gesetz so verabschiedet wird, wie es dem Parlament vorgelegt wurde, sind den Abgeordneten auch die Zielvorstellungen der Verfasser zuzurechnen. Das gilt nur dann nicht, wenn eine abweichende, einheitliche Inhaltsvorstellung der Parlamentsmehrheit festgestellt werden kann. Allerdings wird zum Teil geleugnet, daß ein Kollektivwille überhaupt feststellbar ist l8 . Dieser Einwand ist hier von Interesse, soweit es darum geht, die Absichten und Vorstellungen der maßgeblichen Ausschüsse und Kommissionen zu ermitteln. Auch hier begegnet dem Auslegenden eine Personenmehrheit. Personenmehrheiten können aber entgegen der genannten Auffassung durchaus gemeinsame Sinnvorstellungen haben 19. Eine Übereinstimmung ist dabei natürlich um so leichter zu erreichen, je weniger Personen beteiligt sind. Dabei werden zwei Personen kaum einen identischen Gedankeninhalt haben. Es genügt aber auch, wenn der Inhalt des Textes im gleichen Sinn erfaßt wird. Dieses Problem stellt sich bei jeder Kommunikation, es gestaltet sich bei mehreren Personen nur komplexer, nicht anders. Wie der Inhalt innerhalb der das Gesetz schaffenden Gruppe verstanden wurde, läßt sich oft durch die Gesetzgebungsmaterialien (z. B. Regierungsbegründung, Ausschußberichte ) ermitteln, soweit welche vorhanden sind. Wo es sie nicht gibt oder sie unergiebig sind, kann die Erforschung des historischen Umfeldes, des Zustandes bei Erlaß des Gesetzes hilfreich sein. Auch eine Betrachtung des Normumfeldes kann Hinweise auf den Inhalt der Norm geben. Damit kommt man aber bereits in den Bereich der Auslegungsmittel. Zwar mag eine historische Willensforschung gelegentlich unergiebig sein, deshalb ist sie aber nicht grundsätzlich zu verwerfen. Der Wille des historischen Gesetzgebers ist häufig feststellbar. Ob er unbedingt und allein maßSiehe dazu unten 1. Teilt. Kap. B. I. 1. b). Vgl. auch Baden, Gesetzgebungsmaterialien, S. 394. 18 Bekker, Jhr.Jb. 34 (1895), S. 1, 74f.; Danz, Rechtsprechung, S. 73; Reichei, Richterspruch, S. 68; kritisch auch Schreier, Interpretation, S. 63. 19 Baden, Gesetzgebungsmaterialien, S. 388 f. 16

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

geblich ist, muß hier noch offen bleiben. Er kommt aber als mögliches Auslegungsziel in Betracht. b) Möglichkeit, einen objektiven Gesetzessinn zu ermitteln Nach der objektiven Theorie ist der objektive Sinn des Gesetzes zu ermitteln. Teilweise wird vom Willen des Gesetzes gesprochen 2o . Da ein Gesetz keinen Willen haben kann21 , kann der Ausdruck nur bildlich gemeint sein. Dabei bleibt jedoch dunkel, was man sich unter dem Willen des Gesetzes vorstellen soll. Mit dem objektiven Sinn des Gesetzes könnte ein dem Gesetzestext immanenter, von den Vorstellungen des Gesetzgebers oder des Auslegenden unabhängiger Sinn gemeint sein. Einen solchen objektiv vorhandenen, nicht von irgendeiner Person hineingelegten Sinn eines Textes gibt es jedoch nicht22 • Der Gesetzestext allein ist nur eine Kette von Zeichen, die für sich genommen keine natürliche Bedeutung haben 23 . Eine Bedeutung wird einem Wort erst gegeben, es trägt sie nicht in sich. Sie kann unter Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch, eine fachsprachliche Verwendung oder auch durch Legaldefinition festgelegt werden. Jedenfalls wird sie dem Wort zugeordnet. Hinzu kommt, daß die Wortbedeutung kontextabhängig ist24 . Bedeutungskenntnis in einem Zusammenhang bedeutet nicht unbedingt auch Bedeutungskenntnis in einem anderen Kontext. Ein Wort kann in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen haben. Auch wenn es zum Teil nur um geringfügige Abweichungen geht, kann man doch nicht ohne weiteres die Inhalte aus einem anderen Zusammenhang übernehmen. Auch objektive Kriterien außerhalb des Wortlauts, die zur Auslegung herangezogen werden (z. B. "Natur der Sache" und "Rechtssicherheit"), ergeben keinen zwingenden Inhalt der gesetzlichen Regelung. Es kommt stets auf die Gewichtung und Bewertung der verschiedenen Interessen an. Diese 20 de Boor, FS für Niedenneyer, S. 31, 35; Burckhardt, Methode, S. 276; Wach, Civilprozess, S. 256f., 267. 21 Gern, VerwArch 80 (1989), S. 415, 421; Larenz, Methodenlehre, S. 319; Liver, Wille des Gesetzes, S. 3; Stammler, Rechtsgewinnung, S. 614. 22 Vgl. schon Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 41, 61; so auch Müller, Methodik, S. 255f. 23 Stammler, Rechtsgewinnung, S. 602f.; Wank, Begriffsbildung, S. 11. 24 Depenheuer, Wortlaut, S. 39 f.; Esser, Vorverständnis, S. 135; Grimm, NJW 1995, S. 1697, 1700; Wank, Begriffsbildung, S. 27f.; ders., Anm. zu BAG, Urt v. 31.1.1985, EzA § 613a BGB Nr. 42; ders., ZGR 1988, S. 314, 318. Zu eng Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 123, 126ff., der das Problem des Zusammenhangs nur für das Verhältnis einzelner Nonnen eines Gesetzes untereinander, nicht für den Gebrauch des einzelnen Wortes im Satz sieht.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Bewertung ist nicht in den Buchstaben des Gesetzes enthalten, sie muß von jemand vorgenommen werden. Man kann also nicht nach dem objektiven Sinn von Worten fragen, sondern nur nach der Bedeutung, die ihnen der Erklärende beigelegt hat oder der Bedeutung, die ihnen der jeweilige Erklärungsempfänger entnimmt25 . Als Auslegungsziel kommt ein objektiver Gesetzessinn daher nicht in Betracht. Ein solcher objektiver Inhalt des Gesetzes existiert nicht, es werden auf diesem Wege lediglich die Vorstellungen des Gesetzgebers durch subjektive Auffassungen anderer Personen ersetzt. c) Zusammenfassung zur subjektiven und objektiven Auslegungstheorie Die Frage nach dem Auslegungsziel muß also neu formuliert werden. Als Alternativen stehen sich nicht subjektiver und objektiver Textsinn gegenüber, sondern Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung26 . Bei der Inhaltsfeststellung geht es darum, die gesetzgeberischen Vorstellungen vom Normsinn zu ermitteln. Der Wille des Gesetzgebers ist grundsätzlich feststellbar und kommt deshalb als Auslegungsziel in Betracht. Bei der Inhaltsfestsetzung würde man die gesetzgeberischen Vorstellungen zurücksteHen und statt dessen den Sinn des Textes selbst festlegen. Eine solche Festsetzung des Gesetzesinhalts findet unter der Bezeichnung "objektive" Auslegung statt. Die Inhaltsfestsetzung ist ebenfalls als Auslegungsziel denkbar. Welches der beiden Ziele zu verfolgen ist, oder welche Rangfolge gegebenenfalls unter ihnen besteht, ist mit Hilfe verfassungsrechtlicher Erwägungen zu klären. 2. InhaltsJeststellung oder InhaltsJestsetzung

Zunächst muß hinsichtlich der Inhaltsfestsetzung noch eine Einschränkung vorgenommen werden. Es liegt auf der Hand, daß es nicht auf das Verständnis jedes einzelnen Normadressaten ankommen kann, da es sonst entsprechend viele Gesetzesinhalte gäbe. Man müßte also eine Instanz finden, die die Festsetzung verbindlich vornimmt. Dafür bieten sich die Gerichte an, die in Rechtsfragen letztlich zu entscheiden haben. Die Möglichkeit der Festsetzung des Gesetzesinhalts konkretisiert sich also zu einer richterlichen Inhaltsfestsetzung, wobei es vor allem auf letztinstanzliche Entscheidungen ankäme. Vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 18. Für Müller, Methodik, S. 254ff., 281 f. stellt sich bereits die Frage nicht, ob der subjektiven oder der objektiven Theorie zu folgen ist. Das liegt in seinem Ansatz begründet, in rechtlichen Arbeitsvorgängen kein Nachvollziehen bereits getroffener Entscheidungen zu sehen, sondern das Schaffen einer Rechtsnorm. 25

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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Auch die Ansichten der Richter können aber (zunächst) keinen Vorrang vor denen des Gesetzgebers haben. Beide Male handelt es sich um subjektive Inhaltsvorstellungen. Eine objektive, allen gleich erkennbare und allein aus dem Wortlaut ableitbare Bedeutung gibt es nicht. Die erforderliche Gewichtung und Bewertung der betroffenen Interessen ist aber Sache des Gesetzgebers. Dem Gesetzgeber ist die Aufgabe der Rechtssetzung von der Verfassung zugewiesen worden, was zumindest die Vermutung nahelegt, daß er nicht nur die Worte des Gesetzes, sondern auch den Inhalt bestimmen soll. Das Gewaltenteilungsprinzip spricht dafür, daß er als das nach der Verfassung zur Gesetzgebung vorgesehene Organ besser dazu berufen ist, als andere Organe27 . Das Prinzip der Gewaltenteilung ist allerdings im Grundgesetz nicht in Reinform niedergelegt. Es ist bereits nach der Konzeption des Grundgesetzes an einigen Stellen durchbrochen. So besteht z. B. die Möglichkeit der Rechtssetzung durch die Exekutive, Art. 80 GG. Der Regierung steht ein Ges~tzesinitiativrecht zu, Art. 76 Abs. 1 Alt. 1 GG. Das BVerfG kontrolliert zum Teil die Legislative und die Exekutive, Art. 93, 100 GG. Das Parlament wählt den Kanzler, Art. 63 Abs. 1 GG. Es hat Kontrollrechte gegenüber der Regierung, Art. 43, 44 GG. Das Gewaltenteilungsprinzip ist somit eher formaler Natur, so daß es in einzelnen Fragen der Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter keinen Maßstab bietet, sondern selbst konkretisierungsbedürftig ist28 . Allerdings soll das Gewaltenteilungsprinzip verletzt sein, wenn eine Gewalt in den Kernbereich einer anderen einbricht. Dabei drängt sich die Frage auf, was denn zum Kernbereich der Aufgaben einer Gewalt gehört. Nach Achterberg ist die Kernbereichslehre zu einer Abgrenzung untauglich, solange der ,,(Gesamt)bereich" einer Funktion nicht feststeht 29 . Jede Zuweisung einer Aufgabe zum Kernbereich sei unter diesen Voraussetzungen willkürlich und ohne Überzeugungskraft3o . Zwar ist eine Zuordnung einer Aufgabe zum Kernbereich einer Gewalt auch ohne eine umfassende Funktionsbeschreibung der einzelnen Gewalten denkbar. Voraussetzung dafür ist lediglich, daß es gelingt, den Aufgabenbereich mit Blick auf die fragliche Maßnahme hinreichend konkret zu bestimmen. Allerdings träten erhebliche Probleme hinsichtlich der Rechtsfortbildung auf, wenn man die Inhaltsbestimmung von Gesetzen als Kernaufgabe der Legislative einstufen wollte. Durch Rechtsfortbildung werden neue Rechtssätze geschaffen, es werden neue Inhalte des Rechts bestimmt. Wie könnte eine Rechtsfortbildung noch Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 217. Vgl. auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 151 ff., 167. 29 Achterberg, Funktionenlehre, S. 201, 230; ihm folgend Zimmer, Funktion, S. 23; kritisch zur Kembereichslehre auch Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 478. 30 Achterberg, Funktionenlehre, S. 230. 27

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1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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gerechtfertigt werden, wenn die Inhaltsbestimmung zum Kernbereich der Legislative gehört und der Kernbereich unantastbar ist? Oder ist auch dieser Kernbereich für die anderen Gewalten nicht tabu? Was nützt dann seine Bestimmung? Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird das Problem hier nicht weiter vertieft. Es ist zumindest deutlich geworden, daß eine Argumentation (allein) mit Erwägungen zum Kernbereich der Legislative nicht tragfähig ist und zahlreiche Folgeprobleme aufwirft. Die Kompetenz des Gesetzgebers zur Inhaltsbestimmung läßt sich aber durch das Demokratieprinzip stützen. In einer Demokratie sind die wesentlichen Entscheidungen vom Volk oder zumindest von demokratisch legitimierten Organen zu treffen 3 ]. Politische Verantwortung ist ein entscheidendes Kriterium für die Kompetenz zur Normsetzung 32 . Zwar steht man hinsichtlich der Entscheidungen ähnlich wie bei der Frage nach dem Kernbereich vor dem Problem, daß man beurteilen muß, was "wesentlich" ist. Hier geht es aber nicht um die Frage der Aufgabenverteilung, sondern um die Festlegung dessen, was in einem Staat zu den grundlegenden Entscheidungen zählt. Im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung wurde bereits angedeutet, daß es möglich ist, die Bedeutung einzelner Angelegenheiten für eine Gewalt anzugeben, ohne daß man eine vollständige Beschreibung des Aufgabenbereiches vornimmt. So ist es auch in dieser Frage möglich, eine Aussage über die Wichtigkeit der Gesetzesinhalte für ein Gemeinwesen zu machen, ohne eine komplette Aufstellung der für einen Staat wesentlichen Entscheidungen zu liefern. Gesetze dienen dazu, das Zusammenleben der Menschen zu ordnen. Ihre Regelungen gestalten die staatliche Ordnung. Deshalb ist es eine wesentliche Frage, welchen Inhalt die Gesetze haben. Die Festlegung des Gesetzesinhalts ist also eine wesentliche Aufgabe innerhalb eines Gemeinwesens, die in einer Demokratie von demokratisch legitimierten Organen vorzunehmen ist. Während das Parlament unmittelbar vom Volk gewählt wird und damit direkt demokratisch legitimiert ist, können die Gerichte sich allenfalls auf eine mittelbare demokratische Legitimation berufen 33 . Allerdings können die Mitglieder des Bundesrates, der zum Teil an der Gesetzgebung beteiligt ist, auch nur eine mittelbare Legitimation durch das Volk aufweisen. Sie sind Mitglieder der Landesregierungen, die von den Abgeordneten der Landesparlamente gewählt werden, die wiederum das Volk gewählt hat. Durch die direkte demokratische Legitimation des Bundestages ist aber die Legitimation der gesetzgebenden Organe insgesamt stärker als die der Richter. Hinzu kommt, daß die Richter ihr Amt gern. Art. 92 Abs. 1 GG unabhänIpsen, Richterrecht, S. 217. Wank, Rechtsfortbildung, S. 214. 33 Ausführlich hierzu Wank, Rechtsfortbildung, S. 207ff., 210ff.; vgl. auch Ipsen, Richterrecht, S. 199ff., insbes. S. 201 f. 31

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

gig ausüben und nur unter engen Voraussetzungen von ihrem Amt entfernt werden können (vgl. §§ 19, 21 ff., 30 DRiG). Sie sind zwar an die Entscheidungen der höheren Instanzen faktisch gebunden 34 . Politisch verantwortlich sind sie jedoch nicht. Die stärkere demokratische Legitimation spricht also für eine Inhaltsbestimmung durch den Gesetzgeber. Mit dieser Begründung läßt sich auch eine richterliche Rechtsfortbildung grundsätzlich vereinbaren, da die Aufgabe der Gesetzgebung der Legislative nicht absolut zugesprochen wird. Man darf die Wesentlichkeit der Bestimmung des Gesetzesinhalts nicht mit der Wesentlichkeitstheorie gleichsetzen, nach der grundrechtsrelevante Fragen vom Parlament geregelt werden müssen 35 • Die Gegenstände, die dem Parlamentsvorbehalt unterfallen, sind nur ein Ausschnitt aus der für ein Gemeinwesen allgemein wesentlichen Aufgabe der Bestimmung der Gesetzesinhalte. Wesentlichkeit im letzteren Sinne bedeutet also nicht unbedingt Ausschließlichkeit der Kompetenz der Legislative. Aus diesen Gründen ist die Inhaltsfeststellung der Inhaltsfestsetzung vorzuziehen36 . Gegen die Erforschung des gesetzgeberischen Willens werden aber einige Einwände vorgebracht, die zu widerlegen sind, bevor man sich den Auslegungsmitteln zuwenden kann.

3. Die Einwände gegen die Eiforschung des Willens des Gesetzgebers a) Das Willens argument In der Literatur wird teilweise bereits die Existenz eines feststellbaren Willens des Gesetzgebers geleugnet3? Träfe dieser Einwand zu, so käme der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsziel von vornherein nicht in Betracht. Diese Frage wurde deshalb bereits bei der Untersuchung der möglichen Auslegungsziele geklärt. Bei jedem Gesetz existieren dem Gesetzgeber zurechenbare Inhaltsvorstellungen. Ob und wie diese im Einzelfall festgestellt werden können, ist an andere Stelle zu untersuchen 38 •

Wank, Rechtsfortbildung, S. 212f. Dazu unten 1. Teil 1. Kap. C.I. und D. 36 Für die Konkretisierung der Verfassung erkennt auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 183, 201 ff. einen Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers an, den er allerdings auf die Gesetzesbindung des Richters stützt, deren Bedeutung gerade ermittelt werden soll. 37 Bekker, Jhr. Jb. 34 (1895), S. 1, 74 f.; Danz, Rechtsprechung, S. 73; Reichel, Richterspruch, S. 68; kritisch auch Schreier, Interpretation, S. 63. 38 Siehe unten 1. Teil 1. Kap. B. 11. 34 35

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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b) Das Formargument Gegen die Erforschung des gesetzgeberischen Willens soll auch sprechen, daß allein der Gesetzeswortlaut in der vorgeschriebenen Form erlassen worden ist und Gesetzeskraft erlangt hat39 . Nur was aus den Gesetzesworten entnommen werden kann, könne Inhalt des Gesetzes sein. Was der Gesetzgeber wirklich gewollt habe, sei nicht verbindlich, soweit es nicht im Gesetzestext Ausdruck gefunden habe. Was nicht gewollt war, sei trotzdem verbindlich, wenn es im Gesetzestext ausgedruckt sei4o . Dieses Argument beruht auf der Auffassung, daß es einen objektiven Sinn des Gesetzestextes gibt; der allein in seinen Worten enthalten ist. Diese Ansicht ist aber mit den Erkenntnissen zur Vagheit und Mehrdeutigkeit - dabei vor allem der Kontextabhängigkeit - von Worten41 nicht vereinbar und wurde hier bereits zuruckgewiesen. Ein Text erhält seine Bedeutung durch die Inhaltsvorstellungen des Verfassers oder des/der Interpreten. Im Falle der Gesetzgebung sind die Vorstellungen des Gesetzgebers besser legitimiert als die der Richter, die als entscheidungsbefugte Organe eine Inhaltsfestsetzung vornehmen könnten. c) Das Vertrauens argument Gegen die Erforschung des gesetzgeberischen Willens wird weiterhin vorgebracht, daß der Bürger auf den Gesetzeswortlaut vertraut42 . Der Laie verlasse sich auf den Text des Gesetzes, Materialien stünden ihm nicht zur Verfügung, dürften also für die Auslegung auch nicht maßgeblich sein. Die Vertreter der objektiven Theorie wollen mit diesem Argument wohl kaum erreichen, daß die Inhaltsvorstellungen jedes einzelnen Bürgers im konkreten Fall maßgeblich sind. Vielmehr geht es wieder um die Ermittlung eines objektiven Wortsinns, eines einheitlichen Laienverständnisses. Dagegen ist aber einzuwenden, daß es einen solchen objektiven Wortsinn nicht gibt43 . Auch der sogenannte allgemeine Sprachgebrauch ist zu inho39 Brütt, Rechtsanwendung, S. 49; Danz, Rechtsprechung, S. 48; Germann, Rechtsfindung, S. 74f.; Kahler, Bürgerliches Recht, S. 124f.; ders., Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 20f.; Schloßmann, Irrtum, S. 26; Wach, Civilprozess, S. 256; gegen dieses sog. Formargument Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 73ff., 76. 40 Wach, Civilprozess, S. 256.; vgl. auch Kahler, Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 26: ,,Nicht was diese Gesetzgebungsorgane unter den Worten gemeint haben, wird Gesetz, sondern dasjenige, was in dem Gesetze gesagt ist." 41 Hierzu Wank, Begriffsbildung, S. 25 ff. 42 Brütt, Rechtsanwendung, S. 52; vgl. auch Reichei, Richterspruch, S. 63. 43 Gegen die Existenz eines einheitlichen Laiensinnes auch Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 87. 3 Kamanabrou

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

mogen, um sprachliche Eindeutigkeit zu gewährleisten, ganz abgesehen davon, daß ein fachsprachlicher Text eben auch fachsprachliche Ausdrücke verwendet. Außerdem bestehen schon Zweifel in rechtstatsächlicher Hinsicht, wenn das Bild des Bürgers gezeichnet wird, der sich anband des Gesetzestextes informiert44 . Für gewöhnlich handeln die Bürger nach ihren allgemeinen Vorstellungen von dem, was Recht und Unrecht ist. Bei Unsicherheiten holt sich der Laie juristischen Rat, in solchen Fällen wird Rechtskenntnis durch den Fachmann vermittelt45 . Der Bürger mit dem Gesetzestext unter dem Arm ist eine Fiktion. In den Fällen, in denen der Laie gehandelt hat, ohne das Gesetz oder einen Juristen zu Rate zu ziehen, wird bei ihm kein begründetes Vertrauen enttäuscht. Läßt er sich aber beraten, so verläßt er sich auf die Interpretation des Juristen, nicht auf den Gesetzestext. Dem Juristen ist aber bekannt, daß neben dem Normtext auch noch Materialien existieren. Soweit diese veröffentlicht sind, können sie für die Auslegung herangezogen werden. Vertrauensgesichtspunkte stehen dem nicht entgegen46 . d) Das Ergänzungsargument Gegen die Erforschung der gesetzgeberischen Vorstellungen als Ziel der Auslegung wird schließlich das sogenannte Ergänzungsargument vorgebracht. Die historische Willensforschung verhindere eine Anpassung der Gesetze an die Bedürfnisse der Gegenwart47 . Das Eigenleben, das ein Gesetz entwickele, führe es von den Vorstellungen seiner Verfasser fort. Es verändere sich im Laufe der Zeit und könne so Antworten auf neue Fragen geben. Gegen dieses Argument wird wiederum eingewandt, daß eine Fortentwicklung des Rechts auch dann möglich sei, wenn der gesetzgeberische Wille Ziel der Auslegung ist. Nur müsse man dann zum Mittel der Rechtsfortbildung greifen 48 . Im Wege der Auslegung können Gesetze nach dieser Ansicht allerdings nicht angepaßt werden. Heck, AcP 112 (1914), S. I, 87; Mennicken, Gesetzesauslegung, S. 44. Vgl. Bierling, Prinzipienlehre IV, S. 269, der aber dem Adressaten der Norm keine Pflichtverletzung vorwerfen will, wenn er die Auslegung bei klaren Ergebnissen aus dem Wortlaut und der Systematik nicht fortsetzt. 46 Gegen das Vertrauens argument auch Hassold, ZZP 94 (1981), S. 192,208. 47 Binding, Strafrecht, S. 455, 457; Depenheuer, Wortlaut, S. 21 f.; Liver, Wille des Gesetzes, S. 13f. 48 Baden, Gesetzgebungsmaterialien, S. 391 f., der allerdings in diesem Zusammenhang sowohl von Auslegung als auch von Rechtsfortbildung spricht, den Begriff Auslegung also als Oberbegriff benutzt, der auch die Rechtsfortbildung umfaßt; Hassold, ZZP 94 (1981), S. 192, 204f., 209; Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 87f.; von den Vertretern der objektiven Theorie Kahler, GTÜnhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 58f. 44 45

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Soweit behauptet wird, daß Veränderungen und Entwicklungen nach der subjektiven Theorie nicht möglich sind, ist die Aussage also unzutreffend. Es wird aber von Vertretern der objektiven Theorie argumentiert, daß sich Gesetze im Laufe der Zeit notwendig verändern49 . Es geht also nicht nur darum, ob nach der subjektiven Theorie Anpassungen irgend wie möglich sind. Der Wandel nicht nur der Verhältnisse sondern auch der Gesetze wird als zwingender Vorgang betrachtet. Die Veränderung erfolgt automatisch, als Reaktion auf den Wandel der Lebensumstände5o . Von diesem Standpunkt aus ist eine Auslegungstheorie, die allein nach dem Willen des Gesetzgebers fragt, unbefriedigend. Die Anpassung durch Rechtsfortbildung trägt dem Eigenleben des Gesetzes, das an der Veränderung der sonstigen Lebensumstände teilnimmt, nicht genügend Rechnung. Die These, daß sich das Gesetz mit der Zeit verändert, ist aber unzutreffend. Zwar finden Veränderungen im tatsächlichen und rechtlichen Umfeld einer Norm statt, die bei der Rechtsfindung auch eine Rolle spielen können. Das bedeutet aber noch nicht, daß sie automatisch in das Gesetz einfließen und seinen Inhalt verändern. Man kann den Gesetzesinhalt entweder nach den Vorstellungen des Gesetzgebers oder nach denen des Interpreten bestimmen. Dabei ist den Vorstellungen des Gesetzgebers der Vorzug zu geben. Eine Veränderung im Wege der Auslegung ist dann nicht mehr möglich. Das Ergebnis der Auslegung steht mit der Erkenntnis des Willens des Gesetzgebers fest. Nur wenn man den Vorstellungen des Interpreten den Vorrang einräumt, können Veränderungen nach eben diesen Vorstellungen in das Gesetz eingearbeitet werden. Diese Ansicht wurde aber bereits unter Legitimationsgesichtspunkten zurückgewiesen. Man kann Änderungen der Umstände nicht auf objektive Weise in die Gesetze einfließen lassen. Das Gesetz reagiert nicht von selbst aus einem ihm innewohnenden Geist heraus auf Entwicklungen. Vorstellungen davon, wie die Norm in der Gegenwart aussehen soll, werden vielmehr von außen an das Gesetz herangetragen.

49 Burckhardt, Methode, S. 252; Kaufmann, JZ 1975, 337, 341; Larenz, Methodenlehre, S. 317, 318; Reichei, Richterspruch, S. 70 f.; Schmitt, Gesetz, S. 27; Wüstendörjer, AcP 110 (1913), S. 219, 315; vgl. auch de Boor, FS für Niedermeyer, S. 31, 37f.; Germann, Rechtsfindung, S. 102f.; Kohler, Bürgerliches Recht, S. 127f.; Larenz, DRiZ 1959, 306, 309; Zippelius, Methodenlehre, S. 22f; gegen die Ansicht, daß ein Wandel des Sprachgebrauchs einen Wan~el des Normsinnes nach sich zieht, Lüderitz, Auslegung, S. 28. Baden, Gesetzgebung, S. 131 verneint ebenfalls einen Automatismus und spricht von der Anpassung als "Produkt der Einflußnahme des Interpreten". . 50 Larenz, Methodenlehre, S. 317. 3*

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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4. Zusammenfassung zum Auslegungsziel

Während der Wille des Gesetzgebers zumindest grundsätzlich feststellbar ist, kann ein objektiver Gesetzessinn nicht ermittelt werden. Die Frage nach subjektiver oder objektiver Gesetzesauslegung ist also umzuformulieren. Es geht um eine Entscheidung zwischen Inhaltsfeststellung und -festsetzung. Unter diesen Möglichkeiten ist die Inhaltsfeststellung aus Legitimationsgründen vorzuziehen. Gesetzesbindung heißt also auch Bindung an die Vorstellungen des Gesetzgebers. Wenn keine Bedeutung existiert, die den Vorteil der Objektivität für sich in Anspruch nehmen kann, gibt es zunächst keinen Grund, sich über seine Vorstellungen hinwegzusetzen, sie für unmaßgeblich zu erklären. Es schließt sich aber die Frage an, was Gesetzesinhalt ist, wenn der Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann 51 . Außerdem ist zu untersuchen, ob ein festgestellter gesetzgeberischer Wille stets bindend ist52 . Zunächst sollen aber die Mittel zur Inhaltsfeststellung untersucht werden. 11. Die Auslegungsmittel

Nachdem als (erstes) Ziel der Auslegung die Feststellung des gesetzgeberischen Willens feststeht, sind die Mittel zu erforschen, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann. Üblicherweise werden als Auslegungskriterien der Wortsinn, die Systematik, die Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm genannt53 . Die Terminologie ist allerdings uneinheitlich. Es soll im folgenden untersucht werden, ob diese Kriterien geeignet sind, um den gesetzgeberischen Willen zu erkennen. 1. Die Auslegung nach dem Wortsinn

a) Die. Bedeutung des Textverständnisses des Auslegenden Nach Larenz ist der Wortsinn Ausgangspunkt jeder Auslegung. Mit Wortsinn ist dabei die Bedeutung eines Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch, gegebenenfalls im Sondersprachgebrauch des Gesetzes gemeint54 . Allerdings ergeben sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch meist mehrere Bedeutungsvarianten, aus denen die einschlägige ausgewählt werden muß55 . Dabei Dazu unten 1. Teil 1. Kap. C. Dazu unten 1. Teil 2. Kap. 53 Bydlinski, Methodenlehre, S. 437; Horn, Einführung, Rdnr. 178ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 320ff.; Scheffler, Jura 1996, S. 505, 508. 54 Larenz, Methodenlehre, S. 320; vgl. auch Horn, Einführung, Rdnr. 178. Bydlinski, Methodenlehre, S. 438 f. läßt den spezifisch juristischen Sprachgebrauch dem allgemeinen, den besonderen Sprachgebrauch eines engeren Adressatenkreises dem allgemeinen oder rechtstechnischen Sprachgebrauch vorgehen. 55 Larenz, Methodenlehre, S. 320f. 51

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1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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sollen der Kontext, der Gegenstand der Rede und die Begleitumstände helfen. Für die Gesetzesauslegung sind nach Larenz dementsprechend der Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, die Strukturen des geregelten Sachbereichs und die Regelungsabsicht des Gesetzgebers heranzuziehen 56 . Der Wortsinn stehe zwar zu Beginn der Auslegung noch nicht fest, er diene aber als Einstieg in den Verstehensprozeß57 . Diese Ausführungen Larenz' sollten zunächst insoweit verschärft werden, als der Interpret einer Norm anfangs mit seinem persönlichen Verständnis der jeweils gebrauchten Ausdrücke an einen Text herangeht. Dieses Vorverständnis58 des Lesers ist nicht vermeidbar, es ist aber auch unschädlich, solange beachtet wird, daß es ein revisibles Wortverständnis ist, das während der Auslegung möglicherweise aufgegeben werden muß. Dieses persönliche Verständnis wird sich häufig mit dem decken, was allgemein als (eine) Bedeutung des Ausdrucks anerkannt ist. Vielfach kommt man mit diesem Verständnis der vom Gesetzgeber gedachten Bedeutung schon sehr nahe. Der Gesetzgeber drückt sich, da er verstanden werden möchte, in der Regel gemäß der üblichen Fachsprache oder, wenn eine solche nicht gegeben ist, gemäß der Allgemeinsprache aus 59 . Was aber ein Wort nun genau innerhalb einer konkreten Norm bedeutet, ist u. a. von der Sprechabsicht des Gesetzgebers und vom Kontext abhängig 6o . Der Wortsinn ist also erst zu ermitteln. Er steht erst am Ende der Auslegung fest und kann deshalb kein Hilfsmittel zur Auslegung sein61 . Die Sinnvorstellung des Interpreten ist kein Kriterium, das Aufschluß auf das Verständnis des Gesetzgebers gibt. Es unterliegt vielmehr selbst der Veränderung, bis es dem auf anderem Wege ermittelten Verständnis des Gesetzgebers entspricht. Erst wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers bekannt ist, weiß man, was der Normtext bedeutet. Das Wortverständnis des Interpreten ist also nur eine Einstiegsvermutung, die zur Ermittlung der Bedeutung keinen verbindlichen Anhaltspunkt gibt62 . 56 57 58

Larenz, Methodenlehre, S. 321. Larenz, Methodenlehre, S. 321. Zum Vorverständnis Esser, Vorverständnis, S. 133 ff. Esser, Vorverständnis,

S. 133 ff., 136f. hält das Vorverständnis des Interpreten, also die Anwendungsvorstellungen, mit denen er an den Text herangeht, für allzu bestimmend und beschränkend. Entgegen Esser, Vorverständnis, S. 137 ist es durchaus möglich, daß der Interpret aus seinem "Erwartungshorizont" heraustritt. 59 Bydlinski, Methodenlehre, S. 438. 60 Wank, Begriffsbildung, S. 27 f.; siehe zur Kontextabhängigkeit auch Depenheuer, Wortlaut, S. 39f.; Grimm, NJW 1995, S. 1697, 1700. 61 Vgl. auch Baden, Gesetzgebung, S. 88; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 282. 62 Depenheuer, Wortlaut, S. 15f.; Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 121, 156; Stammler, Rechtsgewinnung, S. 604; Wank, Begriffsbildung, S. 30. Schiffauer, Wortbedeutung, S. 103 hält das semantische Argument für unzulässig, sobald die Wortbedeutung bei der Auslegung zweifelhaft wird.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

b) Grenzfunktion des Wortsinns Der allgemeine Sprachgebrauch soll nach der herrschenden Meinung den Rahmen abstecken, innerhalb dessen die Bedeutung des gesetzlichen Ausdrucks liegen kann 63 . Das soll zumindest dann gelten, wenn ein Sondersprachgebrauch des Gesetzgebers nicht feststellbar ist oder nicht konsequent angewandt wurde. Nur eine Bedeutung, die zum umgangssprachlich möglichen Wortsinn gehört darf dann Ergebnis der Auslegung sein64 . Der Wortsinn stellt nach dieser Ansicht also die Grenze der Auslegung dar65 . Der "mögliche Wortsinn" soll alle Bedeutungen eines Ausdrucks erfassen, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, gegebenenfalls nach dem Sondersprachgebrauch des Gesetzes, noch mit dem Ausdruck gemeint sein können66 • Damit soll dem allgemeinen Sprachgebrauch zusätzlich zur Einstiegsfunktion in den Interpretationsprozeß noch eine Grenzfunktion zukommen. Diese Funktion kann er nur dann erfüllen, wenn der mögliche Wortsinn eines Ausdrucks jeweils festgestellt werden kann. Losgelöst vom Kontext und der Sprechabsicht läßt sich ein "möglicher Wortsinn" aber nicht errnitteln 67 . Die Bedeutung eines Ausdrucks hängt auch von diesen Kriterien ab, so daß eine abstrakte Aufzählung der möglichen Bedeutungen nicht durchführbar ist. Der Begriff des "möglichen Wortsinns" ist damit selbst unbe63 BVerfG, Beschl. v. 6.5.1987, E 75, S. 329, 341; BVerfG, Beschl. v. 23.10.1991, E 85, S. 69, 73; BVerfG, Beschl. v. 20.10.1992, E 87, S. 209, 224; Bydlinski, Methodenlehre, S. 441; Danz, DJZ 1904, S. 659, 660; lpsen, Richterrecht, S. 236; Larenz, Methodenlehre, S. 322; gegen die Grenzfunktion des Wortlauts u.a. Depenheuer, Wortlaut, S. 53ff., 57; Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 121, 156; Stammler, Rechtsgewinnung, S. 605. 64 Larenz, Methodenlehre, S. 322. 65 BVerfG, Urt. v. 11.11.1986, E 73, S. 206, 235; BVerfG, Beschl. v. 23.10.1991, E 85, S. 69, 73; BVerfG, Beschl. v. 20.10.1992, E 87, S. 209, 224; BVerfG, Beschl. v. 17.11.1992, E 87, S. 363, 392; BVerfG, Beschl. v. 10.1.1995, E 92, S. 1, 12; Fikentscher, Methoden IV, S. 295; Gern, VerwAreh 80 (1989), S. 415, 432; Hassald, 2. FS für Larenz, S. 211, 218, der als zweite Grenze den Willen des Gesetzgebers nennt; Kahler, Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1, 33; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Zippelius, Methodenlehre, S. 43. Zum selben Ergebnis kommt die sogenannte Andeutungstheorie, wonach der vom Gesetzgeber gemeinte Sinn irgendwie im Text zum Ausdruck gekommen sein muß; vgl. dazu Bierling, Prinzipienlehre IV, S. 274, der diese Ansicht aber später aufgegeben hat, Prinzipienlehre V, S. 103. Nach Müller, Methodik, S. 183ff., 296f. begrenzt der Normtext die Konkretisierung. Dabei will er aber die Wortlautgrenze nicht im üblichen Sinn, sondern als Normprogrammgrenze verstanden wissen. Für das Strafrecht Scheffler, Jura 1996, S. 505. 66 Larenz, Methodenlehre, S. 322.; zum technischen Sprachgebrauch des Gesetzes vgl. Kahler, Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1,34. 67 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 1. b).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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grenzt68 . Mit jedem neuen Kontext können sich neue Bedeutungsvarianten ergeben. Deshalb kann auch der "mögliche Wortsinn" die Bedeutung des gesetzlichen Ausdrucks nicht begrenzen. Der gesetzliche Kontext und die Sprechabsicht des Gesetzgebers fließen als Kriterien in die Sinnfeststellung ein69 . Selbst wenn man die Bedeutungen eines Ausdrucks in allen denkbaren umgangssprachlichen Sprechsituationen angeben könnte, wären diese für die Bedeutung im Gesetzestext nicht maßgeblich, da mit diesem ein neuer Kontext, eine spezifische Sprechabsicht gegeben ist. Zudem hat Depenheuer nachgewiesen, daß der Wortlaut entweder Gegenstand oder Grenze der Interpretation sein kann, beide Funktionen gleichzeitig aber nicht sinnvoll erfüllen kann7o • Ist der Normtext Gegenstand der Interpretation, wie es alle Auslegungslehren annehmen, so könne das Ziel Textverständnis nur entweder erreicht oder verfehlt werden. Eine Grenzfunktion des Wortlauts sei in beiden Fällen sinnlos71. Wolle man aber von einer solchen Grenzfunktion ausgehen, so müsse man den Gedanken aufgeben, daß die Norm Träger eines vorgegebenen Inhalts sei. Es gehe dann nicht mehr um Inhaltsermittlung, sondern um "Inhaltserfüllung,,72. Als Beispiel für eine Auslegung, die vom allgemeinsprachlichen Verständnis deutlich abweicht, kann die Auslegung des Begriffs "Wohnung" in Art. l3 GG herangezogen werden. Garagen, Innenhöfe und Geschäftsräume werden üblicherweise nicht als Wohnungen bezeichnet, auch sie sollen aber in den Schutzbereich des Art. l3 GG fallen 73. Die Autoren, welche die Ermittlung eines "möglichen Wortsinns" für möglich halten, würden diese Räumlichkeiten wohl nicht als mögliche Bedeutungen des Wohnungsbegriffs ansehen. Man muß bereits früher ansetzen: Ein möglicher Wortsinn ist nicht bestimmbar, da die Sprechabsichten und Kontexte nicht abschließend ermittelt werden können. Die Bedeutung eines Wortes ist aber jeweils auch von diesen Kriterien abhängig. Allerdings kann man eine extreme Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch feststellen, wodurch die Auslegung für den Bürger nicht auf den ersten Blick verständlich ist. Es scheint die Abweichung vom Üblichen zu sein, die mit der Frage nach dem mögli68 Depenheuer, Wortlaut, S. 39f.; Wank, Begriffsbildung, S. 27ff., 30; vgl. auch Baden, Gesetzgebung, S. 90; Schiffauer, Wortbedeutung, S. 75f., lOH.; widersprüchlich Kriele, Rechtsgewinnung, S. 221 ff., der einerseits den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze anerkennt (S. 221 f.), ihn andererseits durch die Möglichkeit technischer Wortsinnbestimmungen aber für so vage und manipulierbar hält, daß er "praktisch gar nichts mehr bedeutet" (S. 223). 69 Wank, Begriffsbildung, S. 27 f. 70 Depenheuer, Wortlaut, S. 17ff. 71 Depenheuer, Wortlaut, S. 17f. 72 Depenheuer, Wortlaut, S. 18 f. 73 Jarass/Pieroth, Art. 13 GG, Rdnr. 2; MaunzlDürig I Herzog I Scholz, Art. 13 GG, Anm. 3c; von Münchl Kunig, Art. 13 GG, Rdnr. 10.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

ehen Wortsinn tatsächlich überprüft wird 74 . Der übliche Sprachgebrauch läßt sich zwar nicht in Fonn einer Aufzählung angeben. Man kann aber insbesondere bei einem begrenzten Adressatenkreis Aussagen dazu machen, was unter einem Ausdruck in einem bestimmten Zusammenhang (auch) verstanden wird 75 • Zwar ist die Vennutung gerechtfertigt, daß der Gesetzgeber sich eines solchen üblichen Sprachgebrauchs bedient hat76 • Diese Vermutung bewirkt aber nichts weiter, als daß man Abweichungen belegen muß, was aber ohne weiteres geschehen kann. Der übliche Sprachgebrauch ist keineswegs bindend. Man kann also lediglich von einer erhöhten Argumentationslast dessen sprechen, der eine ungewöhnliche Wortbecteutung annimmt77 • Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 Geschäftsräume ausdrücklich in den Schutzbereich des Art. 13 GG einbezogen78 • Dabei hat es der Vorgeschichte des Grundrechts und den erkennbaren Absichten des Gesetzgebers den Vorrang vQr dem Wortsinn der Nonn zuerkannt79 . Diese Auslegung entspricht der hier vertretenen Ansicht, daß es auf die kontext- und zweckbezogene Deutung eines Ausdrucks im Gesetz ankommt. Die Auslegung wird durch das, was üblicherweise unter einem Begriff verstanden wird, weder bestimmt noch begrenzt und auch nicht durch das, was der Bürger möglicherweise im Alltagssprachgebrauch darunter verstehen könnte. Es geht allein darum, zu ermitteln, was der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang gemeint hat. Sofern man den historischen Willen des Gesetzgebers ermitteln will, ist die Forderung nach einer Wortsinngrenze auch nicht sinnvoll 80. Wenn es darum geht, den gesetzgeberischen Willen zu erforschen, ist es uninteressant, was sonst üblicherweise oder möglicherweise mit einem Ausdruck gemeint ist. Es kommt allein darauf an, was der Gesetzgeber ausdrücken wollte. Der Wortsinn eines Gesetzes gibt darüber keine verbindliche Auskunft. Er begrenzt auch nicht die Erforschung des gesetzgeberischen Willens. Umgekehrt kann man mit dem Wortsinn aber auch keinen weiteren Gesetzesinhalt rechtfertigen, als ihn der Gesetzgeber wollte 8l . Es kommt immer auf sein Sinnverständnis an.

74 Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 282 f. geht davon aus, daß mit "Möglichkeit" des Wortsinns ein einigennaßen verbreiteter Sprachgebrauch gemeint ist. 75 Nötigenfalls müßte man entsprechende empirische Untersuchungen anstellen. 76 Bydlinski, Methodenlehre, S. 438; Wank, Begriffsbildung, S. 22, 31. 77 Wank, Begriffsbildung, S. 31. 78 BVerfG, Besch!. v. 13.10.1978, E 32, S. 54, 68ff. 79 BVerfG, Besch!. v. 13.10.1978, E 32, S. 54, 69ff. 80 Depenheuer; Wortlaut, S. 21; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 283. 8i Wank, ZGR 1988, S. 314, 318.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Für die Wortsinngrenze wird nur eine einzige Begründung vorgebracht. Sie soll sich daraus rechtfertigen, daß eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung notwendig ist und eine andere Grenze nicht existiert82 • Probleme bei der Grenzziehung rechtfertigen es aber nicht, eine nicht existente und damit unbrauchbare Grenze einzuführen. Wank hat in neuerer Zeit der Gesetzessinntheorie wieder Gehör verschafft, nach der der Sinn des Gesetzes für die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung entscheidend ist83 . Maßgeblich ist danach, ob ein neuer Rechtssatz gebildet wird, der in dieser Form zuvor nicht im geltenden Recht enthalten war. Die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung wird an anderer Stelle noch erörtert84 . 2. Die historische Auslegung a) Entstehungsgeschichte und Vorgeschichte der Norm Die historische Auslegung umfaßt die Auseinandersetzung mit der Entstehungs- und der Vorgeschichte der Norm 85 . Bei der Entstehungsgeschichte geht es um das Zustandekommen der auszulegenden Norm, die Vorgeschichte bezieht sich auf den Zustand vor der Regelung. Von dem hier vertretenen Standpunkt aus, nach dem der gesetzgeberische Wille Ziel der Auslegung ist, kommt der Entstehungsgeschichte der auszulegenden Norm besondere Bedeutung ZU 86 . Im Verlauf der Schöpfung der Norm sammeln sich Äußerungen der maßgeblichen Stellen, die Aufschluß über ihre Regelungsabsicht geben. Der Entwurf eines Gesetzes mit seiner Begründung gibt meist einen Hinweis auf den Anlaß der Regelung, also darauf, warum der Gesetzgeber überhaupt Regelungsbedarf gesehen hat. In der Begründung des Entwurfs werden die Grundlinien der Regelung beschrieben und Erläuterungen zu den einzelnen Vorschriften gegeben. Aus den Beratungen und Stellungnahmen des Bundestages, der beteiligten Ausschüsse und gegebenenfalls des Bundesrates ergeben sich die streitigen Punkte, Abweichungen vom Entwurf und die Gründe für solche Abweichungen87. Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 219; Larenz, Methodenlehre, S. 323. Wank, RdA 1987, S. 129, 132; ders., ZGR 1988, S. 314, 318. 84 Siehe unten 1. Teil 2. Kap. B. 85 Engisch, Einführung, S. 81; zu der Differenzierung Müller, Methodik, S. 204ff. 86 Zur Bedeutung der historischen Auslegung für die Vertreter der subjektiven Theorie Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 226. Esser, Vorverständnis, S. 126 sieht im Rückgriff auf historische Auslegungsmittel im Sinne der subjektiven Theorie einen "Verzicht auf ... Auslegungsarbeit überhaupt. .. , eine Flucht vor der Verantwortung". 87 Zu den Problemen im Umgang mit den Materialien Baden, Gesetzgebung, S.92ff. 82 83

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Die Bedenken, die gegen die Verwertung dieser Materialien bestehen, wurden bereits zurückgewiesen 88 . Zu Recht wird aber die Befragung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen abgelehnt89 • Zwar ist gegen die Zurechnung des Willens der Verfasser des Gesetzesentwurfs oder maßgeblicher Ausschüsse, wie er sich aus den entsprechenden Schriftstükken ergibt, nichts einzuwenden. Es muß den Abgeordneten aber ersichtlich sein, was als ihr gesetzgeberischer Wille gelten soll. Nachträgliche Aussagen zu den Regelungsabsichten können deshalb nicht berücksichtigt werden. Die Äußerungen müssen zeitlich vor der Verabschiedung des Gesetzes liegen. Sie müssen auch schriftlich (z. B. Begründung des Entwurfes, Ausschußberichte, Beratungsprotokolle) vorliegen, so daß gewährleistet ist, daß sie allen Abgeordneten gleichermaßen zugänglich sind. Schließlich müssen die Materialien auch veröffentlicht worden sein, wenn sie zur Auslegung herangezogen werden sollen9o . Unveröffentlichtes Material ist nicht allen Rechtsanwendern zugänglich, unzugängliches Material kann aber für die Entscheidung nicht ausschlaggebend sein. Es muß aus Gründen der Rechtssicherheit allgemein möglich sein, den Gesetzesinhalt zu ermitteln. Das wäre nicht gewährleistet, wenn man unveröffentlichte Dokumente aus dem Gesetzgebungsverfahren einbezieht. Heck erkennt zwar an, daß die Benutzung solcher Texte durch die Gerichte gegenüber der Verwendung veröffentlichter Materialien erschwert ist. Obwohl er dadurch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gefährdet sieht, hält er aber ihren Gebrauch für zulässig91 . Es reicht aber nicht aus, daß die Gerichte möglicherweise an das unveröffentlichte Material gelangen. Es geht nicht nur um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, die Heck im Auge hat. Auch die anderen Rechtsanwender, denen solche Möglichkeiten nicht offen stehen, müssen den Gesetzesinhalt ermitteln können. Neben der eigentlichen Entstehungsgeschichte des Gesetzes kann auch seine Vorgeschichte Anhaltspunkte für seine Auslegung bieten. So wurden in der bereits erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 13 GG auch die Vorläufer dieser Norm herangezogen und die Haltung des Gesetzgebers ihnen gegenüber untersucht92 . Insbesondere wenn ein Gesetz bereits einen Vorläufer hatte, können sich aus dessen Interpretation Hinweise für die Auslegung des neuen Gesetzes geben. Aber auch wenn eine Vorgängerregelung fehlt, kann eben dieser regelungslose Zustand den Anlaß der Kodifizierung verdeutlichen. Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B.1. 3. e). Bydlinski, Methodenlehre, S. 449f.; Heck, AeP 112 (1914), S. 1, 119f.; Kahler, Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1, 30. 90 A.A. Heck, AeP 112 (1914), S. 1, 119. 91 Heck, AeP 112 (1914), S. 1, 119. 92 BVerfG, Beseh!. v. 13.10.1978, E 32, S. 54, 69ff. 88 89

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Für die Vertreter der objektiven Theorie hat die Entstehungsgeschichte keine herausgehobene Stellung unter den Auslegungsmitteln93 . Die Normvorstellungen der Gesetzesverfasser sind nach Larenz vernachlässigbar, soweit sie hinter den Anwendungsmöglichkeiten der Norm zurückbleiben94 • Nach der hier entwickelten Ansicht kommt es aber nicht darauf an, was man irgendwie unter der Norm verstehen könnte, wie man sie möglicherweise anwenden kann, sondern auf das, was der Gesetzgeber wollte. b) Ergebnisse der historischen Auslegung Bydlinski unterscheidet zwischen der historisch-sprachlichen und der historisch-teleologischen Auslegung. Bei der ersten Variante der historischen Auslegung gehe es darum, die Vorstellungen des Gesetzgebers gerade für den interessierenden Sachverhalt (gemeint ist wohl Sachverhaltstyp) festzustellen 95 . Mit der historisch-teleologischen Auslegung sollen dagegen Zwecke und Wertungen des Gesetzgebers ermittelt werden. Die Auswahl unter den jeweiligen Auslegungsmöglichkeiten richte sich danach, welche diese Zwecke am besten verwirklicht96 . Bydlinskis Ansicht, daß man mit der historischen Auslegung verschieden konkrete Ergebnisse erzielen kann, ist zu folgen. Gelegentlich kann man aus den Materialien die Lösung des Auslegungsproblems direkt ablesen. In diesem Fall hat man den Willen des Gesetzgebers unmittelbar festgestellt, die Auslegung ist beendet. In der Regel ergeben die Materialien aber nur indirekte Hinweise auf den gesetzgeberischen Willen. Man erfährt etwas über die Zwecke und Absichten des Gesetzgebers, die ihn zu der Regelung bewogen haben, mit deren Hilfe man dann auf die mutmaßliche gesetzgeberische Lösung des Problems schließen kann. Man versucht also, anband der Zweck- und Absichtserklärungen zu entwickeln, was der Gesetzgeber zu dem Auslegungsproblem gesagt hätte, wenn er sich konkret dazu geäußert hätte. Dazu werden noch weitere Hilfsmittel herangezogen. Man muß bei dieser von Bydlinski als historisch-teleologische Auslegung bezeichneten Variante der historischen Auslegung allerdings zwei Fälle unterscheiden: Die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen können ausdrücklich in den Materialien festgehalten worden sein. Sie können dann direkt zur weiteren Auslegung herangezogen werden. Möglicherweise sind sie aber nur aus 93 Zurückhaltend BVerfG, Besehl. v. 29.1.1974, E 36, S. 342, 367; BVerfG, Besehl. v. 10.2.1976, E 41, S. 291, 309; BVerfG, Beschl. v. 16.12.1981, E 59, S. 128, 153; BVerfG, Urt. v. 16.2.1983, E 62, S. 1, 45; BVerfG, Besehl. v. 28.6.1983, E 64, S. 261, 275. 94 Larenz, Methodenlehre, S. 329; vgl. auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 49. 95 Bydlinski, Methodenlehre, S. 450f. 96 Bydlinski, Methodenlehre, S. 451 ff.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Hinweisen zu erschließen. In diesem Fall müssen die Zwecke und Absichten erst herausgearbeitet werden, bevor man mit ihrer Hilfe die mutmaßlichen Inhaltsvorstellungen des Gesetzgebers bestimmen kann. 3. Die systematische Auslegung Bei der systematischen Auslegung geht es darum, aus dem Zusammenhang, in dem die Norm steht, Schlüsse auf ihren Inhalt zu ziehen 97 • Die Norm soll als Teil einer Gesamtregelung verstanden werden. Das beginnt bei der Einordnung der Vorschrift in ein bestimmtes Buch oder Kapitel eines Gesetzes. Außerdem können die anderen Vorschriften des geregelten Bereiches Aufschluß über die Reichweite der auszulegenden Norm geben 98 . Dabei setzt man zu Recht voraus, daß der Gesetzgeber in der Regel innerhalb eines Regelungsbereiches keine widersprüchlichen Anordnungen treffen will 99 , Grundnormen durch Ausnahmevorschriften nicht aushebein will und bei einer zusammenhängenden Regelung auch eine einheitliche Terminologie benutzt 100. Von diesen Annahmen kann man ausgehen, solange sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß es sich im konkreten Fall anders verhält. Nach der hier entwickelten Auffassung, derzufolge der gesetzgeberische Wille zu erforschen ist, dient die systematische Auslegung dazu, aus dem Normumfeld Schlüsse auf den Willen des Gesetzgebers zu ziehen. Dabei können nur die Vorschriften zur Auslegung herangezogen werden, die zur Zeit des Erlasses der Regelung bestanden, gleichzeitig erlassen wurden oder zumindest schon im fortgeschrittenen Stadium der Beratung standen lO1 • Andere Normen konnte der Gesetzgeber noch nicht in seine Planungen einbeziehen, sie können also auf den Willen des Gesetzgebers keinen Aufschluß geben. Dieser Aspekt der Veränderung des rechtlichen Umfelds einer Norm ist zwar zu beachten, sollte aber mit der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens nicht vermengt werden 102. 97 Bydlinski, Methodenlehre, S. 442; Engisch, Einführung, S. 77; Horn, Einführung, Rdnr. 180; Larenz, Methodenlehre, S. 324f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 48; Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 224 spricht von logischer Auslegung; vgl. die systematische Auslegung des § 613a Abs. 4 S. 1 von Wank, Anm. zu BAG, Urt. v. 31.1.1985, EzA § 6l3a BGB Nr. 42. 98 Bydlinski, Methodenlehre, S. 443; Larenz, Methodenlehre, S. 325 f. 99 Bydlinski, Methodenlehre, S. 443 f. 100 Zippelius, Methodenlehre, S. 49. 101 Vgl. auch Baden, Gesetzgebung, S. 92; a.A. Esser; Vorverständnis, S. 127, der die systematische Auslegung "zur Herstellung der aktuellen Ordnungseinheit" benutzen will. 102 Dazu unten 1. Teil 2. Kap. D.1.2.a)bb).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Anders als bei der Auswertung der Materialien gewinnt man bei systematischen Erwägungen immer nur indirekte Hinweise auf den gesetzgeberischen Willen. Man ermittelt auf diesem Wege keine ausdrücklichen Erklärungen zu einer bestimmten Norm, sondern argumentiert mit logischen Gesichtspunkten. Die Argumentation verläuft so, daß zunächst die naheliegende und sinnvolle Deutung der Norm nach ihrem Kontext herausgestellt wird. Fehlen dann Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber einen anderen Willen hatte, so wird der zuvor ermittelte Gesetzessinn zugrundegelegt. Der Gesetzgeber muß also nach dem Zusammenhang ungewöhnliche Deutungen erkennbar vertreten, damit sie als sein Wille erkannt und berücksichtigt werden können. Damit wird dem Gesetzgeber auch kein fremder Wille untergeschoben. Sprechabsicht und Kontext sind, wie bereits festgestellt, zur Ermittlung der Wortbedeutung heranzuziehen. Die Wortbedeutung richtet sich nach der gesetzgeberischen Regelungsabsicht. Verkürzt könnte man also formulieren, daß die Regelungsabsicht des Gesetzgebers (auch) mit Hilfe des Normumfeldes ermittelt wird. Der mutmaßliche Wille des Gesetzgebers, der auf diesem Wege ermittelt wird, ist aber dem tatsächlichen Willen, wie er sich möglicherweise aus den Materialien ergibt, nachrangig. Hat man einen tatsächlichen Willen des Gesetzgebers feststellen können, so kann man diesen mit systematischen Erwägungen nicht hinwegargumentieren. Systematische Argumente kommen also bei der Inhaltsfeststellung erst dann zum Zuge, wenn der Gesetzgeber seinen Willen nicht geäußert hat, was allerdings häufig genug der Fall ist. Als Beispiel für eine Bestimmung des gesetzgeberischen Willens anhand von systematischen Erwägungen kann die Auslegung des § 313 S. 2 BGB herangezogen werden. Gern. § 313 S. 2 BGB wird ein Grundstückskaufvertrag, der ohne die gern. § 313 S. 1 BGB notwendige notarielle Beurkundung geschlossen wurde, mit der Auflassung und der Eintragung in das Grundbuch "seinem ganzen Inhalte nach gültig". Es stellt sich hier die Frage, ob mit Auflassung und Eintragung nur der Formmangel geheilt werden kann, oder ob auch andere Unwirksamkeitsgründe, wie z. B. die mangelnde Geschäftsfähigkeit eines Vertrags partners, überwunden werden. Sprachlich näherliegend ist keine der beiden Auslegungsvarianten. Eine ausdrückliche Erläuterung in den Materialien ist nicht gegeben. Der enge Zusammenhang der Heilungsmöglichkeit mit der Formvorschrift spricht aber dafür, daß die Heilung lediglich den Formmangel betrifft. Im Regelungszusammenhang mit der Heilungsnorm befindet sich unmittelbar nur die Formvorschrift. Es ist also naheliegend, daß der Gesetzgeber nur an die Heilung des Formmangels gedacht hat. Eine weitergehende Regelung wäre erläuterungsbedürftig gewesen und ist ohne weitere Anhaltspunkte nicht anzunehmen. Die Auslegung ergibt daher, daß nur der Formmangel gern. § 313 S. 2 BGB heilbar ist.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Als Sonderfall der systematischen Auslegung wird zum Teil die verfassungskonforme Auslegung behandelt 103 . Das ist insoweit zutreffend, als bei dieser Auslegungsmethode der Gehalt anderer Normen, nämlich der der Verfassung, zur Auslegung eines Gesetzes herangezogen wird. Die verfassungskonforme Auslegung wird aber zugleich auch als objektiv-teleologische Auslegung eingestuftl04. Die verfassungskonforme Auslegung hat inzwischen eine bedeutende Stellung unter den Auslegungsmitteln eingenomffien, so daß sie gesondert untersucht werden soll 105 . 4. Die teleologische Auslegung

Als viertes Auslegungskriterium wird die teleologische Auslegung genannt 106. Teleologische Auslegung bedeutet Auslegung nach dem Zweck. Fraglich ist, wie der Zweck des Gesetzes zu charakterisieren ist, ob es um objektive oder subjektive Zwecke geht. Larenz spricht von objektiven Zwekken, die bei Auslegungszweifeln den Ausschlag geben müssen 107. Bydlinski fragt nach den Zielen, die Menschen im allgemeinen wohl verfolgen, wenn sie unter den gegebenen Umständen eine Norm wie die auszulegende erlassen lO8 . Allerdings werden nicht von allen Autoren nur objektive Zwecke berücksichtigt. Engisch erwähnt die teleologische Auslegung zunächst ohne eine Festlegung auf objektive oder subjektive Zwecke 109. Später stellt er fest, daß sich der Inhalt dieses Auslegungskriteriums ändert, je nachdem, welche Auslegungstheorie man zugrundelegt. Engisch unterscheidet dann zwischen der Möglichkeit einer subjektiv-teleologischen und einer objektivteleologischen Auslegung llO . Enneccerus verlangt die Beachtung des besonderen Zweckes des Gesetzes. Erläuternd fügt er hinzu, daß es auf die Gründe des Gesetzgebers ankommt lll . Daraus ergibt sich, daß Enneccerus 103 Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25f.; Gern, VerwArch 80 (1889), S. 415, 418; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 66f.; Haak. Normenkontrolle, S. 234; Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 234; Wank. Rechtsfortbildung, S. 97. 104 Bogs. Verfassungskonforme Auslegung, S. 26; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 66f.; Hassold. 2. FS für Larenz, S. 211, 229; Wank. Rechtsfortbildung, S. 97. 105 Siehe unten 1. Teil 1. Kap. B. 11. 5. und C. III. 106 Ablehnend Müller, Methodik, S. 208, der teleologische Aspekte nur im Rahmen der grammatischen, genetischen, historischen und systematischen Auslegung berücksichtigen will, die teleologische Interpretation aber nicht als selbständiges Konkretisierungse1ement ansieht. 107 Larenz. Methodenlehre, S. 333. 108 Bydlinski. Methodenlehre, S. 454. 109 Engisch. Einführung, S. 74, 79ff. llO Engisch, Einführung, S. 96f.; so auch Hassold. 2. FS für Larenz, S. 211, 228f. III Enneccerus/Nipperdey. AT I, S. 334 mit Anm. 10.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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die Zwecke des Gesetzes subjektiv versteht. Bydlinski und Larenz verarbeiten die Absichten und Zwecke des Gesetzgebers unter dem Stichwort historische Auslegung 112, so daß subjektive Gesichtspunkte bei ihnen ebenfalls Beachtung finden. Es geht beiden um zusätzliche Auslegungskriterien, wenn die zuvor besprochenen Auslegungsmittel nicht zum Ziel führen 113. a) Subjektiv-teleologische Auslegung Zunächst ist zu klären, ob subjektive Zweckvorstellungen des Gesetzgebers überhaupt als Auslegungsmittel in Betracht kommen. Es scheint sich ein Widerspruch dazu zu ergeben, daß bis jetzt mit den anderen Auslegungsmitteln die Vorstellungen des Gesetzgebers gerade erforscht werden sollten. Vermischt man damit Auslegungsziel und Auslegungsmittel ? In diesem Sinne wendet sich Schlehofer gegen die teleologische Auslegung 114. Er meint, daß Sinn und Zweck eines Gesetzes sich erst aus seinen Merkmalen ergeben und damit Auslegungsziel sind. Sie könnten deshalb nicht zugleich Mittel der Auslegung sein, denn dann würde die Auslegung das zu Beweisende voraussetzen 115 • Der Widerspruch löst sich auf, wenn man erkennt, daß der Begriff der Vorstellungen des Gesetzgebers in zwei verschiedenen Bedeutungen verwandt wird. Einmal geht es darum, die Vorstellungen des Gesetzgebers von dem geregelten Sachbereich und seinen Regelungsplan zu ermitteln. Bei der historischen Auslegung war von den Zwecken und Absichten des Gesetzgebers die Rede. Mit Hilfe dieser Vorstellungen soll dann auf das Verständnis des Gesetzgebers vom Inhalt des Gesetzestextes geschlossen werden. Dieses Verständnis des Gesetzgebers von seinem Text ist letztlich das Auslegungsziel. Man kann hier auch von den Inhaltsvorstellungen des Gesetzgebers sprechen. Das Wort Vorstellungen hat dann aber einen anderen Sinn, als wenn man von den Zwecken und Absichten des Gesetzgebers spricht. Die Zweckvorstellungen des Gesetzgebers über den Anwendungsbereich und die Wirkung der Norm sind also ein Zwischenschritt bei der Ermittlung des eigentlichen Auslegungsziels. Bei der systematischen und zum Teil bei der von Bydlinski als historisch-teleologische Auslegung bezeichneten Variante der historischen Auslegung 116 ermittelt man zunächst solche ZweckvorstelLarenz, Methodenlehre, S. 328ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 449ff. Larenz, Methodenlehre, S. 333; Bydlinski, Methodenlehre, S. 453 f.; letzterer beschränkt die objektiv-teleologische Auslegung aber nicht eindeutig auf diese Fälle. 114 Schlehofer, JuS 1992, S. 572, 576. Schlehofer unterscheidet dabei nicht zwischen subjektiv- und objektiv-teleologischer Auslegung. 115 Schlehofer, JuS 1992, S. 572, 576. 116 Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.II.2.b). Zur Nutzung der Materialien für die Erkenntnis der Gesetzeszwecke Wank, RdA 1987, S. 129, 133. 112 113

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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lungen, um aus ihnen die Inhaltsvorstellung des Gesetzgebers von seinem Text abzuleiten. Letztere sind also enger als die Zweckvorstellungen. Bei der subjektiv-teleologischen Auslegung entfällt die Ermittlung der Gesetzeszwecke, sie sollen direkt zur Erkenntnis der gesetzgeberischen Inhaltsvorstellungen herangezogen werden. Das kann nur dann funktionieren, wenn solche Gesetzeszwecke irgendwo ausdrücklich genannt werden. Das kann zum einen in den Materialien geschehen, dann handelt es sich um einen Teil der historischen Auslegung ll7 . Zum Teil enthalten aber auch die Gesetze selbst Zweckbestimmungen in Präambeln oder Eingangsvorschriften 1l8 . Man kann also subjektive Zweckvorstellungen des Gesetzgebers durchaus als Auslegungsmittel heranziehen, um das Auslegungsziel der gesetzgeberischen Vorstellung vom Sinn des Gesetzestextes zu ermitteln. b) Objektiv-teleologische Auslegung Soweit nach den übrigen Auslegungskriterien noch Zweifel am Auslegungsergebnis bestehen, sollen objektiv-teleologische Kriterien den Ausschlag geben 119. Bydlinski versteht darunter teleologisch-systematische Argumente 120, die verfassungskonforme Auslegung 121 , das argurnenturn ad absurdum l22 , die Natur der Sache 123 und die rechtsvergleichende Auslegung l24 . Die teleologisch-systematischen Argumente unterscheidet er von der systematischen Auslegung dadurch, daß hierbei auf die den anderen Normen zugrundeliegenden Wert- und Zweckvorstellungen zurückgegriffen wird, während bei der systematischen Auslegung nur der ausdrückliche Inhalt anderer Normen herangezogen wird 125. Mit dem argurnenturn ad absurdum sollen Folgenerwägungen in die Auslegung einbezogen werden 126. Unter der Natur der Sache versteht Bydlinski die Wertungen und Zwecksetzungen, die ganz allgemein mit bestimmten Lebensverhältnissen verbunden werden 127. Es sei aus Gründen der Rechtssicherheit zu vermuVgl. oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 2. b). Hassold. 2. FS für Larenz, S. 211, 229; vgl. auch Baden. Gesetzesmaterialien, S.393. 119 Larenz. Methodenlehre, S. 333; Bydlinski. Methodenlehre, S. 453f.; vgl. zur teleologischen Auslegung auch Kohler, Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 34 ff. 120 Bydlinski. Methodenlehre, S. 453 ff. 121 Bydlinski. Methodenlehre, S. 455 ff. 122 Bydlinski. Methodenlehre, S. 457 ff. 123 Bydlinski. Methodenlehre, S. 459 ff. 124 Bydlinski. Methodenlehre, S. 461 ff.; Kahler, Grünhuts Zeitschr. 13 (1886), S. 1, 37f. hält die rechts vergleichende Auslegung für einen "der mächtigsten Hebel der Gesetzesinterpretation" . 125 Bydlinski. Methodenlehre, S. 443. 126 Bydlinski. Methodenlehre, S. 457. 127 Bydlinski. Methodenlehre, S. 459f. 117

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1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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ten, daß die gesetzliche Regelung das Funktionieren des Lebensverhältnisses in diesem Sinne fördert. Larenz verlangt, daß in Zweifelsfällen die Strukturen des geregelten Sachbereichs berücksichtigt werden und daß die rechtsethischen Prinzipien Beachtung finden, die hinter einer Norm stehen 128. Larenz unterscheidet zwischen den Strukturen des Sachbereichs und der Natur der Sache. Die Natur der Sache soll auf eine normative Vorgabe in den Lebensverhältnissen hindeuten 129 . Die Struktur dieser Verhältnisse selbst soll Grundzüge einer Regelung enthalten. Dagegen geht es bei der Berücksichtigung der Strukturen des Sachbereichs "nur" um die sachliche Angemessenheit der Regelung l3 o. Beide Kriterien sollen bei der Auslegung zu berücksichtigen sein 131. Zu den rechtsethischen Prinzipien, die die Auslegung bestimmen, zählt Larenz das Prinzip der Gleichbehandlung des Gleichartigen 132. Nicht nur der Gesetzgeber, auch der Auslegende sei aufgrund dieses Prinzips aufgefordert, Wertungswidersprüche zu vermeiden l33. Weitere Prinzipien, wie z. B. das des Vertrauensschutzes, sollen als Richtpunkte der Auslegung dazu dienen, solche Wertungswidersprüche zu vermeiden l34 .

Kritisch zur teleologischen Gesetzesauslegung hat sich Herzberg geäußert l35 . Er warnt zunächst davor, daß durch voreilige Zweckerwägungen andere Werte und Interessen, die die auszulegende Norm auch schützen soll, unter den Tisch gekehrt werden l36 . Damit entfalle eine Abwägung zwischen den verschiedenen Normzwecken. Diese intuitive Rechtsfindung verdecke, daß es häufig gute Gründe gegen eine bestimmte auf teleologischen Erwägungen beruhende Auslegung gibt 137. Darüber hinaus warnt Herzberg vor fehlerhaften Zweckbeschreibungen. Die teleologische Auslegung birgt seiner Ansicht nach die Gefahr, daß intuitiv formulierte Sinn- und Zweckvorstellungen der Norm übergestülpt werden und das Auslegungsergebnis beeinflussen l38 . Statt dessen solle der Auslegende seine Zweckvorstellungen nötigenfalls korrigieren. Larenz, Methodenlehre, S. 333. Larenz, Methodenlehre, S. 333 f. 130 Larenz, Methodenlehre, S. 334. 131 Göldner; Verfassungsprinzip, S. 133 ff., 135 äußert sich nur zur Natur der Sache im Larenzschen Sinne. Er will sie zumindest zur Verfassungskonkretisierung nur hilfsweise heranziehen, wenn keine Konkretisierungshilfen mit höherer Objektivitätsgewähr zur Verfügung stehen. 132 Larenz, Methodenlehre, S. 334 ff. 133 Larenz, Methodenlehre, S. 334. 134 Larenz, Methodenlehre, S. 336. 135 Herzberg, NJW 1990, S. 2525ff. 136 Herzberg, NJW 1990, S. 2525, 2527. 137 Herzberg, NJW 1990, S. 2525, 2527. 138 Herzberg, NJW 1990, S. 2525, 2530. 128

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4 Kamanabrou

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Diese Bedenken können sowohl gegen subjektive als auch gegen objektive Zweckerwägungen angeführt werden. Ihnen kann aber durch eine vollständige und sorgfältige Zweckbestimmung Rechnung getragen werden. Die Gefahr einer fehlerhaften Anwendung eines Auslegungskriteriums hat nicht zur Folge, daß es als unbrauchbar abzulehnen ist, sondern muß zu einem gewissenhaftem Umgang mit dem Auslegungsmittel führen. Objektiv-teleologische Kriterien sollen eingreifen, wenn die übrigen Auslegungsmittel nicht zum Ziel führen. Solche objektiv-teleologischen Kriterien können aber bei der Inhaltsfeststellung keine Rolle spielen. Durch die Auslegung soll zunächst der gesetzgeberische Wille ermittelt werden. Die objektiv-teleologischen Kriterien dienen aber nicht diesem Ziel, sondern sollen der Norm einen Inhalt geben, wenn der gesetzgeberische Wille nicht ermittelt werden kann. Sie dienen der Inhaltsfestsetzung, die solange nicht zulässig ist, wie die gesetzgeberischen Vorstellungen vom Inhalt des Gesetzes festgestellt werden können. Objektiv-teleologische Kriterien können also zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens nicht herangezogen werden. Ihre Rolle bei der Inhaltsfestsetzung ist an anderer Stelle zu untersuchen. 5. Die verfassungskonforme Auslegung

Auch bei der verfassungskonformen Auslegung geht es nicht um die Feststellung des gesetzgeberischen Willens. Durch diese Auslegungsmethode soll ein unklarer Gesetzesinhalt verfassungskonform bestimmt oder ein nach dem gesetzgeberischen Willen zu weites Gesetz auf das verfassungsmäßig zulässige Maß reduziert werden 139. Auch Argumente aus der Verfassung können daher nicht zur Ermittlung der gesetzgeberischen Vorstellungen vom Gesetzesinhalt herangezogen werden. 6. Die Berücksichtigung bereits bestehender Auslegungsergebnisse

Zu den Mitteln der Auslegung könnten auch die zu der jeweiligen Auslegungsfrage bereits ergangenen Urteile und Äußerungen in der Rechtswissenschaft zählen. In der Regel hat es der Rechtsanwender mit Gesetzen zu tun, die bereits ausgelegt wurden. Möglicherweise existieren schon Entscheidungen zu dem fraglichen Tatbestandsmerkmal. Außerdem gibt es zu 139 Vgl. BVerfG, Urt. v. 6.5.1964, E 18, S. 18, 34; BVerfG, Beschl. v. 28.4.1965, E 19: S. I, 5; BVerfG, Besehl. v. 26.1.1971, E 30, S. 129, 148; BVerfG, Besehl. v. 8.3. 1972, E 32, S. 373, 383 f. einerseits und BVerfG, Besehl. v. 17.3.1959, E 9, S. 194, 200; BVerfG, Besehl. v. 25.4.1972, E 33, S. 52, 70; BVerfG, Besehl. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 275 andererseits.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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vielen Gesetzen Kommentare, die die Anwendungsmöglichkeiten der Norm umfassend, also losgelöst vom Einzelfall, darstellen. Auch in wissenschaftlichen Abhandlungen finden sich Auslegungsvorschläge. Diese Äußerungen sind für die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens aber nur bedingt verwertbar. Auch wenn sie diesen selbst erforschen und berücksichtigen, geben sie doch keine verbindliche Auskunft über die Absichten des Gesetzgebers. Möglicherweise spiegelt ein anderes Verständnis der Materialien und des systematischen Zusammenhangs den gesetzgeberischen Regelungsplan zutreffend wieder. Trotzdem wäre eine Auslegung unvollständig, die solche Aussagen nicht beachten wollte 140. Urteile und wissenschaftliche Äußerungen haben aber keinen bestimmenden Einfluß auf die Inhaltsermittlung. Ihre Ergebnisse können den Gesetzesinhalt zutreffend oder unzutreffend kennzeichnen, sie beeinflussen ihn aber nicht. Wenn sich ein gesetzgeberischer Wille feststellen läßt, die tatsächliche Auslegung der Norm aber schon deutlich davon abweicht, wird die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht plötzlich unmaßgeblich. Es tritt hier ein Konflikt zwischen der grundsätzlichen Verbindlichkeit des gesetzgeberischen Willens und der Rechtssicherheit auf. Die Rechtssicherheit könnte bei einer plötzlichen Änderung einer langjährigen Rechtsprechungspraxis erheblich leiden. Den Rechtssubjekten, die sich auf die Rechtsprechung eingestellt haben, nützt ein Hinweis auf den wahren gesetzgeberischen Willen wenig. Für die Änderung der Auslegung spricht, daß dadurch der gesetzgeberische Wille verwirklicht würde. Dagegen spricht der Vertrauensschutz der Bürger. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrauensschutz knüpft zwar an das Problem der Rückwirkung von Gesetzen an 141. Sie ist aber in gewissem Umfang auf die Rechtsprechung übertragbar 142. Bei Urteilen geht es naturgemäß um (teilweise) abgeschlossene Sachverhalte, wodurch eine Übereinstimmung mit der Rückwirkung von Gesetzen besteht. Auch hinsichtlich der Rechtsprechung kann ein Vertrauen der Bürger entstehen, daß es nicht plötzlich zu abweichenden Entscheidungen und damit zu einer Änderung der Rechtslage kommt l43 . Andererseits muß 140 Larenz, Methodenlehre, S. 367 bezeichnet eine veränderte Auslegung durch die Rechtsprechung als Rechtsfortbildung. 141 BVerfG, Beschl. v. 22.3.1983, E 63, S. 343; BVerfG, Beschl. v. 10.4.1984, E 67, S. 1; BVerfG, Beschl. v. 14.5.1986, E 72, S. 200; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1988, E 79, S. 29. 142 Zur Möglichkeit der Abweichung von einer bestehenden Rechtsprechung Bydlinski, Methodenlehre, S. 501ff., 509; Grunsky, Rückwirkung, S. 6ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 429ff., 433ff.; Medicus, NJW 1995, S. 2577, 2581; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, E 84, S. 212, 227f. 143 Grunsky, Rückwirkung, S. 1Of.; Knittel, Rückwirkung, S. 24; Larenz, Methodenlehre, S. 433; Wank, Rechtsfortbildung, S. 67 spricht von einer eigenen Bestandskraft der jetzigen Auslegung.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

ein Wandel in der Rechtsprechung möglich sein, da es sonst zu einer Zementierung einmal erzielter Auslegungsergebnisse käme, selbst wenn man inzwischen durch neuere Erkenntnisse anders entscheiden wollte und müßte 144. Hier wird man im Einzelfall abwägen müssen. Es stehen sich zwei Positionen mit Verfassungsrang gegenüber: Einerseits die Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und andererseits die Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG). Kollidierende Verfassungsgüter müssen jeweils so zum Ausgleich gebracht werden, daß sie möglichst optimal verwirklicht werden l45 . In diesem Konflikt kommt es auf der einen Seite darauf an, wie weit die herkömmliche Auslegung vom Willen des Gesetzgebers abweicht, wie weit also seine Regelungsabsicht auch mit der bisher geübten Auslegung verwirklicht wird. Betrifft die Abweichung nur unwesentliche Randbereiche, so kann der gesetzgeberische Wille eher zurückstehen, als wenn die Norm einen ganz anderen Anwendungs- und Wirkungsbereich erhalten hat l46 . Auf der anderen Seite ist es von Bedeutung, wie lange die bisherige Auslegung schon praktiziert wird 147, welche Folgen eine Änderung vermutlich nach sich zöge und wie einheitlich die Auslegung erfolgte. Eine ständige Rechtsprechung der Obergerichte, die einer ebenso ständigen Ablehnung durch die Instanzgerichte ausgesetzt ist, kann z. B. weniger berechtigtes Vertrauen erwecken als eine einhellige Rechtsprechung l48 . 7. Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln bei der InhaltsJeststellung

Als Auslegungsmittel dienen zur Inhaltsfeststellung also die historische, die systematische und die subjektiv-teleologische Auslegung. Der Wortsinn ist kein Auslegungsmittel. Das erste Textverständnis des Auslegenden dient lediglich zum Einstieg in den Interpretationsvorgang, es ist für das Auslegungsergebnis nicht bestimmend. Objektiv-teleologische Kriterien können 144 Grunsky, Rückwirkung, S. 9.; Larenz, Methodenlehre, S. 434; ders., FS für Henkel, S. 31, 33. 145 Jarass/Pieroth, GG, Ein!., Rdnr. 6., Vorb. vor Art. 1 GG, Rdnr. 41.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 72, 317 ff. 146 Vg!. Grunsky, Rückwirkung, S. 9 f. 147 Zippelius, Methodenlehre, S. 75. 148 Knittel, Rückwirkung, S. 53 ff. hält ein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers, das durch eine Rechtsprechungsänderung verletzt werden könnte, für selten. Er verlangt dafür u. a. eine höchstrichterliche Rechtsprechung und ein tatsächliches Vertrauen in die Rechtsprechung (d. h. Kenntnis der Rechtsprechung und bewußtes Handeln danach). Es kornrnt dann seiner Ansicht nach auf die Rechtsmaterie, die Art und Dauer der Rechtsprechungspraxis und die Ursachen der Änderung an.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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ebensowenig wie die verfassungskonfonne Auslegung zur Inhaltsfeststellung beitragen. Sie scheiden deshalb für dieses Auslegungsziel als Auslegungsmittel aus.

c. Auslegung als Inhaltsfestsetzung Bei der Inhaltsfeststellung kommt man nur dann zu einem Ergebnis, wenn sich der gesetzgeberische Wille ermitteln läßt. Möglicherweise kommt man aber mit der Auswertung der Materialien und mit systematischen und subjektiv-teleologischen Erwägungen nicht zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis. In einem solchen Fall kann man den Gesetzesinhalt nur mit Hilfe objektiver Kriterien festlegen, wenn das Gesetz nicht mangels Inhalt nichtig sein soll 149. Damit ist kein objektiver Gesetzesinhalt im Sinne der objektiven Theorie gemeint. Einen objektiven Gesetzessinn kann man nicht feststellen 150. Die Bezeichnung der Kriterien als "objektiv" soll sie von den subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers absetzen. Die Auslegungswirklichkeit stellt den Rechtsanwender vor das Problem, daß der gesetzgeberische Wille gelegentlich nicht erkennbar ist. In diesem Fall verschiebt sich das unter der Bezeichnung "Auslegungsziel" diskutierte Problem, ob Auslegung Inhaltsfeststellung oder -festsetzung bedeutet l51 . Eine Festlegung des Gesetzesinhalts durch eine andere Person als den historischen Gesetzgeber ist unumgänglich, da ja die Feststellung seines Willens nicht erfolgreich war. Es geht in solchen Fällen nicht um das "Ob" der Festsetzung, sondern darum, wer sie vornimmt. Das kann der Richter oder der gegenwärtige Gesetzgeber sein. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Gesetzgeber des auszulegenden Gesetzes und dem Richter fällt weg. Damit stellt sich aber auch nicht mehr die Frage nach einer Inhaltsfeststellung oder -festsetzung, sondern nach der Kompetenzverteilung zwischen zwei Organen, dem heutigen Gesetzgeber und dem Richter. Es ist deshalb auch kein Bruch mit der hier bevorzugten, am gesetzgeberischen Willen orientierten Auslegung gegeben, da dieser nicht zugunsten anderer Inhalte zurückgedrängt wird, sondern in diesen Fällen schlicht nicht feststellbar ist. Da aber auch die Inhaltsfestsetzung durch den gegenwärtigen Gesetzgeber denkbar ist, muß die richterliche Inhaltsbestimmung gegenüber dieser Möglichkeit gerechtfertigt werden.

149

150 151

Hassold, ZZP 94 (1981), S. 192, 199f. Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.L1.b). Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.L1.e).

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

I. Die Kompetenz des Richters zur Inhaltsfestsetzung Die Festsetzung des Norminhalts durch den Richter mit Hilfe objektivteleologischer Auslegungskriterien hat gegenüber einer Neuregelung durch den Gesetzgeber erhebliche Vorteile 152. Die Nichtigkeit der betroffenen Normen würde zu Rechtsunsicherheit und unbefriedigenden Entscheidungen führen. Eine Neuregelung durch den Gesetzgeber würde Zeit kosten und die Gesetzgebungsorgane unnötig belasten. Ein solches Vorgehen wäre also völlig unpraktikabel. Diese Gründe allein können eine Inhaltsfestsetzung durch den Richter aber nicht rechtfertigen. Grundsätzlich ist die Bestimmung des Gesetzesinhalts Sache des Gesetzgebers 153. Dem Richter muß ausnahmsweise die Regelungskompetenz gegenüber dem gegenwärtigen Gesetzgeber zukommen, damit die praktikable Lösung auch rechtlich zulässig ist. Durch die Inhaltsfestsetzung gewinnt man einen Gesetzesinhalt, der nicht aus den gesetzgeberischen Vorstellungen abgeleitet werden kann. Andererseits kommt es aber auch nicht zu einer Abweichung vom gesetzgeberischen Willen, da dieser - zumindest soweit man objektive Kriterien anwendet - nicht feststellbar ist. Deshalb ist nach dem hier zugrundegelegten Verständnis kein Fall von Rechtsfortbildung gegeben, da man mit der Inhaltsfestsetzung nicht von einem bereits ermittelten Willen des Gesetzgebers abweicht 154. Es besteht also in diesem Fall kein Konflikt zwischen dem Richter und dem Gesetzgeber des auszulegenden Gesetzes, sondern "nur" zwischen dem Richter und dem Gesetzgeber des Auslegungszeitpunkts, der möglicherweise eher zur Lösung des Problems berufen ist. Insoweit besteht die gleiche Spannungslage wie bei der Rechtsfortbildung, bei der ebenfalls die Regelungsbefugnis des Richters gegenüber der des gegenwärtigen Gesetzgebers begründet werden muß. Dort geht es aber zusätzlich noch darum, die Abweichung vom Willen des Gesetzgebers, der das Gesetz erlassen hat, zu legitimieren. An dieser Stelle soll noch nicht auf die Fragen der Rechtsfortbildung eingegangen werden. Es sei aber darauf hingewiesen, daß in diesem Konflikt nicht nur der mögliche Eingriff in die Aufgaben der Legislative, sondern auch der Gesichtspunkt der sachgerechten Aufgabenwahrnehmung eine Rolle spielt l55 . Es ist also nicht nur zu fragen, ob der Richter wesentliche Gesetzgebungsaufgaben an sich zieht, sondern auch, ob er die Normsetzung im gegebenen Fall sachgerecht vor152 Vgl. lpsen, Richterrecht, S. 172 für die Vorteile der verfassungskonforrnen Auslegung. 153 V gl. oben 1. Teil 1. Kap. B.1. 2. 154 Siehe zur Rechtsfortbildung unten 1. Teil 2. Kap. 155 lpsen, Richterrecht, S. 134f.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 91 f.; ders., RdA 1987, S. 129, 133; ders., ZGR 1988, S. 314, 322.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

55

nehmen kann. Dieselbe Prüfung muß man auch für die richterliche Inhaltsfestsetzung vornehmen. Bei der Inhaltsfestsetzung greift der Richter nur geringfügig in legislative Aufgaben ein. Seine Lösung ist im Gesetz im wesentlichen vorgezeichnet, es bleibt ihm nur eine begrenzte Auswahl an Auslegungsmöglichkeiten. Grundsätzliche Einwände gegen eine richterliche Inhaltsfestsetzung bestehen deshalb nicht. Entscheidend ist, wie der Richter die Inhaltsfestsetzung vornehmen darf, woran er noch gebunden ist, wenn es schon nicht mehr um die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens geht. Um eine freie - und damit willkürgefährdete - Rechtssetzung durch den Richter zu vermeiden, muß man seine Auslegungsmittel begrenzen. Gesetzgeberische Wertungen sind verbindlich, weil dem Gesetzgeber nach der Verfassung die Aufgabe zukommt, Recht zu setzen. Jenseits der jeweiligen gesetzgeberischen Entscheidung steht als Grundkonsens (allein) die Verfassung zur Rechtsschöpfung zur Verfügung. Zulässig sind daher nur Kriterien, die sich letztlich auf die Verfassung zurückführen lassen. Unter dieser Bedingung kann der Richter die Inhaltsfestsetzung auch zufriedenstellend durchführen. Die Entscheidung zwischen wenigen Auslegungsmöglichkeiten stellt ihn in der Regel nicht vor unüberwindliche Schwierigkeiten. Für die Beurteilung, ob der Richter die Aufgabe sachgerecht wahrnehmen kann, lassen sich die Kriterien heranziehen, die Wank für die Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen aufgestellt hat 156 . Dabei interessieren hier vor allem die Gesichtspunkte, die nach dem Gewaltenteilungsprinzip gegen eine Inhaltsfestsetzung sprechen. So ist z. B. von einer Inhaltsfestsetzung abzusehen, wenn die maßgeblichen Tatsachen für eine Entscheidung nicht ermittelt werden können oder die Folgen einer Entscheidung nicht absehbar sind 157. Wank hat nachgewiesen, daß die Gerichte diese Aufgaben strukturbedingt nicht ebensogut wie der Gesetzgeber erfüllen können 158 . Die Probleme dürften aber gegenüber der Rechtsfortbildung geringer sein, weil die Inhaltsfestsetzung ihr gegenüber weniger weitreichend ist. Eine weitere Grenze der Inhaltsfestsetzung ergibt sich aus dem Parlamentsvorbehalt l59 . Der im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive entwickelte Parlamentsvorbehalt fordert vom Gesetzgeber, wesentliche Fragen selbst zu regeln. Wesentlich sind Regelungen vor allem dann, wenn 156 157

322.

Wank, Rechtsfortbildung, S. 119ff.; ders., ZGR 1988, S. 314, 322f. Wank, Rechtsfortbildung, S. 154ff., 165ff., 186; ders., ZGR 1988, S. 314,

158 Wank, Rechtsfortbildung, S. 158ff., 165, 172ff.; vgl. auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 186f. 159 Für die Rechtsfortbildung Wank, Rechtsfortbildung, S. 233f.; ders., ZGR 1988, S. 314, 323.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Grundrechtspositionen betroffen sind 160. Nur wenn es um Gegenstände geht, die nicht "wesentlich" in diesem Sinne sind, können Gesetzgebungsaufgaben von der Exekutive wahrgenommen werden. Für das Verhältnis der Legislative zur Judikative kann im Bereich der Auslegung kein geringerer Maßstab gelten 161. Nur wenn dem Richter ein erkennbares Programm an die Hand gegeben ist, ist die Verlagerung der Gesetzgebungsaufgaben zur Auslegungstätigkeit der Judikative mit dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar l62 . Objektiv-teleologische Kriterien können also im Zweifelsfall das Auslegungsergebnis bestimmen. Es ist aber zu beachten, daß sie erst zum Einsatz kommen dürfen, wenn und soweit der gesetzgeberische Wille mit historischen und systematischen Untersuchungen und auch durch subjektiv-teleologische Auslegung nicht festgestellt werden kann. Auch dann dürfen nicht alle oben genannten Kriterien angewandt werden. 11. Die objektiv-teleologische Auslegung 1. Objektiv-teleologische Auslegungskriterien

Unproblematisch ist zunächst noch die teleologisch-systematische Auslegung Bydlinskis, mit der die Zweckvorstellungen desjenigen Gesetzgebers in die Auslegung einbezogen werden, der die zur systematischen Auslegung herangezogene Norm erlassen hat l63 . Es handelt sich hierbei nur um eine erweiterte Form der systematischen Auslegung. Die verfassungskonforme Auslegung wird wegen der besonderen Stellung, die sie inzwischen gegenüber den übrigen Auslegungskriterien einnimmt, an anderer Stelle behandelt l64 . Das argurnenturn ad absurdum, das die Folgenbetrachtung in die Auslegung einführen soll 165 , ist nur mit Vorsicht anzuwenden. Die möglichen unerwünschten Folgen einer Regelung berechtigen nicht dazu, den gesetzgeberischen Willen zu übergehen und die Norm mit einem anderen Inhalt anzuwenden. Bevor man also Argumente aus den unterschiedlichen Folgen zweier Auslegungsvarianten geltend machen kann, muß man den Willen 160 BVerfG, Urt. v. 6.12.1972, E 34, S. 165, 192f.; BVerfG, Beseh!. v. 28.10.1975, E 40, S. 237, 248f.; BVerfG, Beseh!. v. 21.12.1977, E 47, S. 46, 79; Erbguth, VerwAreh 86 (1995), S. 327,341. 161 Zur Rechtsfortbildung im grundrechtsrelevanten Bereich siehe unten 1. Teil 2. Kap. D. VII. 162 Vg!. für die Rechtsfortbildung Wank, Rechtsfortbildung, S. 144. 163 Bydlinski, Methodenlehre, S. 453 ff. 164 Siehe unten 1. Teil 1. Kap. C. 111. 165 Bydlinski, Methodenlehre, S. 457 ff.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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des Gesetzgebers sorgfältig erforschen. Ergeben sich hierbei (vermeintlich) untragbare Auslegungsergebnisse, so kann möglicherweise eine Rechtsfortbildung zur Gesetzeskorrektur führen. An dem Auslegungsergebnis, das sich aus dem Willen des Gesetzgebers ergibt, ändern Folgenbetrachtungen aber nichts. Die Voraussetzung, daß die anderen Auslegungsmittel kein eindeutiges Ergebnis erkennen lassen, wird zwar von den Vertretern der objektiv-teleologischen Auslegung auch genannt l66 . In seinem Auslegungsbeispiel schiebt Bydlinski aber das nach den übrigen Kriterien gewonnene Auslegungsergebnis aufgrund einer Folgenbetrachtung beiseite. Er vergleicht die Normen des ABGB über den Aufwendungsersatz für den redlichen Besitzer einerseits und den unredlichen Besitzer andererseits 167. Während der redliche Besitzer notwendige und nützliche Aufwendungen gern. § 331 ABGB nur "nach dem gegenwärtigen Wert" geltend machen kann, verweist § 336 ABGB für den unredlichen Besitzer auf die Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag. Danach kann der Geschäftsführer bei der notwendigen Geschäftsführung die notwendigen Aufwendungen ohne Rücksicht auf den Erfolg und den Wert im Abwicklungszeitpunkt verlangen (§ 1036 ABGB). Dadurch könnte der unredliche Besitzer gegenüber dem redlichen besser gestellt werden l68 . Für eine solche Privilegierung des unredlichen Besitzers bestehe aber gar kein Anlaß. Sie widerspräche der selbstverständlichen Wertung, daß derjenige, der vorwerfbar der Rechtsordnung zuwiderhandelt, nicht begünstigt werden dürfe 169. Deshalb will Bydlinski den Anwendungsbereich des § 336 AGBG verkürzen, der als "scheinbar eindeutige Verweisungsnorm" den unredlichen Besitzer besser stellt als den redlichen 170. Wenn der Gesetzgeber in dem VOn Bydlinski erwähnten Fall aber eine unbefriedigende Norm erlassen hat, kann man deshalb noch nicht ihren Inhalt durch Auslegung verändern. Eine Entscheidung im Sinne Bydlinskis kann nur im Wege der Rechtsfortbildung ergehen. Ähnliche Schwierigkeiten wirft das Kriterium der Sachgerechtigkeit auf. Es kann hilfreich sein, wenn die Willensforschung tatsächlich ergebnislos war. Es birgt allerdings die Gefahr in sich, daß mit seiner Hilfe ein gesetzlicher Widerspruch ausgeräumt wird, der ohne dieses Auslegungskriterium sichtbar würde. Die Vermeidung VOn Wertungswidersprüchen ist aber entgegen Larenz 171 nicht Sache des Auslegenden. Besteht nach der Regelungsab166 Larenz, Methodenlehre, S. 333; Bydlinski, Methodenlehre, S. 453 f; letzterer beschränkt die objektiv-teleologische Auslegung aber nicht eindeutig auf diese Fälle. 167 Bydlinski, Methodenlehre, S. 458 f. 168 Bydlinski, Methodenlehre, S. 458. 169 Bydlinski, Methodenlehre, S. 458 f. 170 Bydlinski, Methodenlehre, S. 459. 171 Larenz, Methodenlehre, S. 334.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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sicht des Gesetzgebers ein Wertungs widerspruch, so ist dieser durch den Auslegenden nicht stillschweigend zu beseitigen, sondern aufzudecken. Seine Auflösung kann nicht durch Auslegung sondern nur durch Rechtsfortbildung geschehen. So besteht in dem von Bydlinski zuerst zitierten Fall aus dem Eherecht l72 ein Gleichheitsverstoß bei der Konkretisierung der ehelichen Beistandspflicht (§ 44 ABGB) durch die frühere Regelung über die Unterhaltsverpflichtung des Mannes (§ 91 ABGB), indem ein umgekehrter Anspruch nicht geregelt wurde. Der Wille des Gesetzgebers umfaßte einen Anspruch des Mannes gegen die Frau aber nicht, so daß er durch Auslegung nicht gewährt werden konnte. Ein solcher Anspruch hätte aber möglicherweise durch eine Rechtsfortbildung begründet werden können. Diese Kritik wendet sich nicht gegen das Kriterium der Sachgerechtigkeit selbst, sondern gegen seine voreilige Anwendung. Die rechtsvergleichende Auslegung 173 kann den Inhalt einer Norm kaum beeinflussen. Auch bei weitgehender Übereinstimmung der Regelungen des fraglichen Sachbereichs in anderen Ländern kann doch das deutsche Regelungssystem anders angelegt sein, wodurch der Vergleich unergiebig wird. Es ist zu beachten, daß man bei der Rechtsvergleichung immer das System des ausländischen Rechts mit berücksichtigen muß, aus dessen Eigenheiten sich Unterschiede zum deutschen Recht ergeben können. Die Rechtsvergleichung kann eine größere Rolle spielen, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Gesetzgeber ausländische Regelungen in seine Überlegungen einbezogen hat, sich möglicherweise ausdrücklich an sie angelehnt hat. Das Kriterium der Gleichbehandlung, aufgrund dessen Wertungswidersprüche (auch) durch die Auslegung vermieden werden sollen, kann als Teil der verfassungskonformen Auslegung verstanden werden. Es gelten hierbei die gleichen Überlegungen wie bei der verfassungskonformen Auslegung im herkömmlichen Sinn, die im folgenden besprochen wird. Die dortigen Ergebnisse sind auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zu übertragen. 2. Begründung für die Anwendung der objektiv-teleologischen Kriterien

Als objektiv-teleologische Kriterien, die die Auslegung beeinflussen können, kommen also die Folgenbetrachtung und das Kriterium der Sachgerechtigkeit in Betracht. Allein die Tatsache, daß sie zur Inhaltsfestsetzung Bydlinski, Methodenlehre, S. 460. ' Bydlinski, Methodenlehre, S. 461 ff.; Kohler, Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1, 37f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 53. 172

173

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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herangezogen werden können, begründet aber noch nicht, warum gerade diese Gesichtspunkte rechtlich maßgeblich sein sollen. Bydlinski stützt sich dafür auf die Vermutung, daß Gesetze im Zweifel tatsächlich an den Maßstäben der Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechts sicherheit, die für sie als Zielvorgaben bestehen, ausgerichtet werden 174. So sei ein Wechsel des Wertungsstandpunkts bei der Gesetzgebung nicht zu vermuten und dem Gesetzgeber durch den Grundsatz der Gleichgerechtigkeit auch verboten 175. Die Folgenbetrachtung soll sich aus Erwägungen zur Rechtssicherheit rechtfertigen, ebenso die Auslegung nach der Natur der Sache 176 .

Da objektiv-teleologische Kriterien zur Inhaltsfestsetzung heranzuziehen sind, ist ein Rückgriff auf Vermutungen über ein Handeln des Gesetzgebers nach Gerechtigkeits-, Rechtssicherheits- und Zweckmäßigkeitsaspekten entbehrlich. Man befindet sich nicht mehr in dem Bereich, in dem man sich auf den Willen des Gesetzgebers stützen kann. Es ist vielmehr erforderlich, eine selbständige Begründung für die Anwendung bestimmter Kriterien bei der Inhaltsfestsetzung zu finden. Nach Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG ist der Richter an die Grundrechte und an Recht und Gesetz - also auch an die Verfassung - gebunden. Das spricht dafür, daß er bei der Inhaltsfestsetzung letztlich auf Argumente aus der Verfassung zurückgreifen muß. Diese können durch verschiedene objektiv-teleologische Kriterien vermittelt werden. Jedenfalls die hier übernommenen Kriterien lassen sich, wie Bydlinski zutreffen ausführt, auf Gerechtigkeits-, Rechtssicherheits- und Zweckmäßigkeitserwägungen zurückführen. Damit kann man auf Maßstäbe zurückgreifen, die in der Verfassung enthalten sind. Die Anwendung der genannten objektiv-teleologischen Kriterien rechtfertigt sich also dadurch, daß sie die Verfassungs bindung des Richters bei der Inhaltsfestsetzung umsetzen. 111. Die verfassungskonforme Auslegung

Bereits zu Beginn seiner Rechtsprechungstätigkeit hat das Bundesverfassungsgericht die Auslegungsmethode der verfassungskonformen Auslegung eingeführt 177 • Durch sie sollen die Inhalte der Verfassung im Wege der Auslegung in die einfachgesetzlichen Regelungen einfließen. Die Frage des Einflusses höherrangiger Normen auf rangniedrigere Vorschriften stellt sich Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. Bydlinski, Methodenlehre, S. 455. 176 Bydlinski, Methodenlehre, S. 459f. 177 BVerfG, Beschl. v. 7.5.1953, E 2, S. 266, 282; BVerfG, Beschl. v. 17.6.1953, E S. 336, 340 f. 174 175

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

aber nicht nur bei der Verfassung, sondern bei allen Normtypen. So muß z. B. das Verhältnis von Satzungen und Verordnungen zum Gesetzesrecht ebenso geklärt werden, wie das bundesrechtlicher Normen zum Europarecht 178. Hier soll aber wegen ihrer besonderen Bedeutung und um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, exemplarisch nur die verfassungskonforme Auslegung untersucht werden. Die verfassungskonforme Auslegung spielt dann eine Rolle, wenn es um die Unwirksamkeit einer Norm wegen eines Verfassungsverstoßes geht. Die Norm soll nur verfassungswidrig sein, wenn sie nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann l79 . Betrachtet man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genauer, so lassen sich zwei Arten der verfassungskonformen Auslegung unterscheiden l8o . 1. Arten der verfassungskonformen Auslegung

Im ersten Fall handelt es sich um eine Einschränkung einer Norm, bei der das Maximum des vom Gesetzgeber Gewollten aufrechterhalten wird, das nach der Verfassung Bestand haben kann l81 . Die Norm wird soweit erhalten, wie sie verfassungsmäßig ist. Ob dem Willen des Gesetzgebers eine weitere als die verfassungsmäßig zulässige Auslegung eher entspro178 Bags, Verfassungskonfonne Auslegung, S. 17 ff.; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 29 ff. 179 BVerfG, Besch!. v. 7.5.1953, E 2, S. 266, 282; BVerfG, Besch!. v. 1.3.1978, E 48, S. 40, 45; BVerfG, Besch!. v. 9.8.1978, E 49, S. 148, 157; BVerfG, Urt. v. 1. 7.1980, E 54, S. 251, 273f.; BVerfG, Besch!. v. 3.6.1992, E 86, S. 288, 320; BVerfG, Besch!. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 275. Göldner, Verfassungsprinzip, S. 45 f. will die verfassungskonfonne Auslegung nicht nur unter dem Aspekt der Nonnerhaltung sondern als "Regelprinzip jeder Rechtsanwendung" sehen. Es wird sich zeigen, daß der verfassungskonfonnen Auslegung bei der Inhaltsbestimmung tatsächlich mehr als nur eine Kontrollfunktion zukommt. 180 Eine Differenzierung innerhalb der verfassungskonfonnen Auslegung findet sich selten. Dadurch werden einige Probleme verkannt. Wank, Rechtsfortbildung, S. 97ff., 104ff. unterscheidet zwischen der verfassungskonfonnen Auslegung als Inhalts bestimmung einerseits und als Inhaltskontrolle andererseits. Der erste Fall der verfassungskonfonnen Auslegung wird sich als Auswahl zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten kennzeichnen lassen. Beim zweiten Fall handelt es sich nicht mehr um eine Auslegungsfrage. Auch nach Wank, Rechtsfortbildung, S. 111 ist es nicht zulässig, den gesetzgeberischen Willen zu übergehen oder nur das verfassungsmäßige Maximum eines solchen Willens aufrechtzuerhalten. Er spricht ebenfalls das Problem der Umgehung des Art. 100 Abs. 1 GG an (Rechtsfortbildung, S. 110). Diese Fragen werden hier unter dem Stichwort der verfassungskonfonnen Rechtsfortbildung erörtert. 181 BVerfG, Besch!. v. 17.3.1959, E 9, S. 194, 200; BVerfG, Besch!. v. 25.4.1973, E 33, S. 52, 70; BVerfG, Besch!. v. 9.8.1978, E 49, S. 148, 157; BVerfG, Besch!. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 275.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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chen hätte, soll gegenüber dem im Zweifel gegebenen Interesse an der Normerhaltung nicht entscheidend sein l82 . Eine weitergehende gesetzgeberische Absicht steht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Allerdings darf die Auslegung nicht im Widerspruch zum klaren Willen des Gesetzgebers stehen, die Vorschrift darf keinen neuen normativen Gehalt bekommen l83 . Die Bewertung dieser Auslegungsmethode hängt davon ab, wie im Einzelfall der gesetzgeberische Wille aussieht: Ist ein weitergehender Wille des Gesetzgebers nicht ersichtlich, so sind Argumente aus der Verfassung insofern überflüssig, als sie das Auslegungsergebnis nicht beeinflussen. Eine Einschränkung aus verfassungsrechtlichen Gründen ist nicht gegeben, der Wille des Gesetzgebers ist verfassungsmäßig und kann voll zur Geltung kommen 184. Läßt sich aber ein weitergehender gesetzgeberischer Wille ermitteln, so führt diese "Auslegungsmethode" zu einer Korrektur des gesetzgeberischen Willens. Eigentlich wäre in diesen Fällen die Norm wegen Verfassungswidrigkeit ungültig. Das Instanzgericht hätte das Normenkontrollverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG einzuleiten, das Bundesverfassungsgericht müßte die Norm für nichtig oder mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erklären. Um diese Folge zu vermeiden, wird der Wille des Gesetzgebers zurückgedrängt. Er wird für unmaßgeblich erklärt, soweit er der Verfassung widerspricht. Damit befindet man sich aber nicht mehr im Bereich der Auslegung, sondern bereits im Bereich der Rechtsfortbildung l85 . Die Auslegung ist beendet, sobald man den gesetzgeberischen Willen ermittelt hat. Eine Abweichung von diesem Willen, und sei es auch aus den besten verfassungsrechtlichen Gründen, ist nur im Wege der Rechtsfortbildung möglich. Ob ein Verfassungsverstoß eine Einschränkung der Norm durch Rechtsfortbildung ermöglicht, soll im Zusammenhang mit den übrigen Fragen der Rechtsfort182 BVerfG, Beseh!. v. 17.3.1959, E 9, S. 194, 200; BVerfG, Beseh!. v. 25.4.1972, E 33, S. 52, 69; BVerfG, Beseh!. v. 9.8.1978, E 49, S. 148, 157. 183 BVerfG, Beseh!. v. 7.5.1953, E 2, S. 266, 282; BVerfG, Beseh!. v. 11.6.1958, E 8, S. 28, 34; BVerfG, Beseh!. v. 17.3.1959, E 9, S. 194,200; BVerfG, Beseh!. v. 11.6.1980, E 54, S. 277, 299; BVerfG, Beseh!. v. 22.10.1985, E 71, S. 81, 105; BVerfG, Beseh!. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 275. 184 Vg!. auch Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 10. 185 A. A. Göldner, Verfassungsprinzip, S. 214, der die Modifizierung des gesetzgeberischen Regelungsplans für die verfassungskonforme Auslegung, die er von der verfassungskonformen Rechtsfortbildung unterscheidet, für typisch hält. Deshalb (!) soll auch der mögliche Wortsinn die Grenze verfassungskonformer Auslegung darstellen. Zutreffend ist dagegen die umgekehrte Schlußrichtung : Eine Änderung des gesetzgeberischen Willens kommt im Wege der Auslegung nicht in Betracht, deshalb ist eine den gesetzgeberischen Willen modifizierende verfassungskonforme Auslegung nicht zulässig.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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bildung geklärt werden 186. Um eine verfassungskonforme Auslegung handelt es sich bei einer Abweichung vom gesetzgeberischen Willen nicht I 87. Bei der anderen Variante der verfassungskonformen Auslegung geht es um die Auswahl zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten, die mangels eines feststellbaren gesetzgeberischen Willens offen bleiben 188 . Wie bereits festgestellt, kommt man zum Teil auch nach der Auswertung der Materialien und nach systematischen und subjektiv-teleologischen Erwägungen nicht zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis. In diesem Fall soll diejenige Auslegungsvariante den Vorrang haben, die der Verfassung am besten entspricht. Dem Kriterium der Verfassungsmäßigkeit soll also eine Auslesefunktion zukommen. In dieser Variante ist die verfassungskonforme Auslegung ein Sonderfall der objektiv-teleologischen Auslegung. Der Inhalt der Norm soll durch Zwecke bestimmt werden, die nicht von ihrem Gesetzgeber stammen. Der Vorteil der Inhaltsfestsetzung durch den Richter gegenüber einer Nichtigkeit der Norm läßt sich ebenso wie bei der objektiv-teleologischen Auslegung begründen l89 • Auch die Kompetenzfrage zwischen dem Richter und dem gegenwärtigen Gesetzgeber ist mit den gleichen Überlegungen zu entscheiden. Die richterliche Inhaltsfestsetzung wird also nicht durch ein absolutes Regelungsmonopol des gegenwärtigen Gesetzgebers verhindert. Allerdings ist noch zu begründen, wie sich der Einfluß der Verfassung auf die Auslegung einfachgesetzlicher Normen rechtfertigt, warum also gerade ihre Inhalte auch den Inhalt der auszulegenden Norm bestimmen sollen. Siehe unten 1. Teil 2. Kap. D. VI. Gegen eine solche Form der verfassungskonformen Auslegung auch Haak, Normenkontrolle, S. 269, 303, der die verfassungskonforme Auslegung ausdrücklich auf die Fälle der Mehrdeutigkeit des Gesetzes beschränkt; Menger, VerwArch 50 (1959), S. 387, 389; Wank, Rechtsfortbildung, S. 111 f. Ipsen, Richterrecht, S. 168 ff. erkennt die Nähe dieser Variante der verfassungskonformen Auslegung zur Normenkontrolle an. Er äußert sich auch kritisch dazu (Richterrecht, S. 173 f.), ohne sie aber abzulehnen. Die verfassungskonforme Rechtsfortbildung untersucht er gesondert (Richterrecht, S. 178 ff., 185 ff.), wobei er den Unterschied zur verfassungskonformen Auslegung als "Sonderfall der Normenkontrolle" wohl darin sieht, daß bei letzterer noch geprüft werden muß, "ob der Wortlaut (oder was immer man als Grenze ansieht)" die gewünschte Inhaltsbestimmung erlaubt (Richterrecht, S. 171). Den klaren Wortlaut des § 14 VersG sehen Seibert und Henschel in ihrer abweichenden Meinung zur Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1991, BVerfG, Besch!. v. 23.10.1991, E 85, S. 69, 77ff. als Hindernis für eine verfassungskonforme Auslegung in dem Sinne, daß Eilversammlungen baldmöglichst anzumelden sind. 188 BVerfG, Urt. v. 6.5.1964, E 18, S. 18; 34; BVerfG, Besch!. v. 28.4.1965, E 19, S. 1,5; BVerfG, Besch!. v. 26.1.1971, E 30, S. 129, 148; BVerfG, Besch!. v. 8.3.1972, E 32, S. 373, 383 f. 189 Vg!. auch Ipsen, Richterrecht, S. 171ff. 186 187

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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2. Begründung für den Einfluß der Veifassung auf die Auslegung

Das Bundesverfassungsgericht geht von einer Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen aus, weshalb auch eine verfassungskonforme Auslegung geboten sei 190 . Bogs wendet dagegen zutreffend ein, daß die hohe Wahrscheinlichkeit, die für die Verfassungsmäßigkeit einer Norm besteht, noch nicht bedeutet, daß ihr Sinn auch von der Verfassung mitbestimmt ist l91 . Er stützt die verfassungskonforme Auslegung auf den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung. Der Stufenbau der Rechtsordnung führe dazu, daß die Normen der höheren Stufe neben dem Geltungsgrund auch den inhaltlichen Rahmen für rangniedrigere Normen beinhalten 192. Zusätzlich beruft Bogs sich auf Art. lAbs. 3, 20 Abs. 3 GG, die den Richter verpflichten, die Verfassung bei der Normauslegung durchzusetzen 193. Eckardt erklärt die verfassungskonforme Auslegung mit einer Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die wiederum auf dem Gedanken der Rechtssicherheit beruht: Gesetze sollten möglichst erhalten werden, da es zu Rechtsunsicherheit führe, wenn ein Gesetz für ungültig erklärt wird 194. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit soll auch für vorkonstitutionelle Gesetze gelten 195. Bettermann akzeptiert keinen dieser Begründungsversuche l96 . Er hält die verfassungskonforme Auslegung für eine vorgezogene Normenkontrolle, bei der es nicht darum geht, den Inhalt der Norm festzustellen, sondern allein die Verfassungsmäßigkeit der Norm zu sichern. Auslegung und Inhaltskontrolle seien aber voneinander zu trennen 197 . Bettermann ist zuzustimmen, soweit das Bundesverfassungsgericht den gesetzgeberischen Willen einschränkt. In diesen Fällen wird jedenfalls 190 BVerfG, Beschl. v. 7.5.1953, E 2, S. 266, 282; zustimmend Ipsen, Richterrecht, S. 155f.; Spanner; AöR 91 (1966), S. 503, 506ff. 191 Rogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 21 f.; ablehnend auch Rurmeister; Verfassungsorientierung, S. 92ff., 130f.; Göldner; Verfassungsprinzip, S. 45; Menger; VerwAreh 50 (1959), S. 387, 389f.; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 98f.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 106f., allerdings für die verfassungskonforme Auslegung als Inhaltskontrolle, um die es hier gerade nicht geht. 192 Rogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22f.; das Argument der Einheit der Rechtsordnung benutzen auch Göldner; Verfassungsprinzip, S. 56ff., 74; Spanner; AöR 91 (1966), S. 503, 507ff. und Wank, Rechtsfortbildung, S. 97. 193 Rogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24; vgl. auch Haak, Normenkontrolle, S. 112; Spanner; AöR 91 (1966), S. 503, 507. 194 Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 40ff.; für die verfassungskonforme Auslegung als Inhaltskontrolle auch Wank, Rechtsfortbildung, S. 107f. 195 Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 41. 196 Rettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24ff. 197 Rettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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keine Auslegung mehr betrieben. Ob eine entsprechende Rechtsfortbildung gerechtfertigt ist, soll später geklärt werden 198. Bei der zweiten Art der verfassungskonformen Auslegung geht es aber eben nicht um Inhaltskontrolle, sondern um Inhaltsfestsetzung. Es sind die Fälle gemeint, in denen der gesetzgeberische Wille anhand der Materialien und mit Hilfe systematischer und subjektiv-teleologischer Erwägungen nicht ermittelt werden konnte. Hier ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die verfassungskonforme Auslegung als Sonderfall der Verwendung objektiv-teleologischer Kriterien als Auslegungsmittel eingesetzt werden kann. Es fehlt bei Bettermann also die Unterscheidung zwischen den Fällen der Inhaltsfestsetzung und der Inhaltskontrolle. Allein das Argument der Rechtssicherheit, auf das Eckardt letztlich das Gebot der verfassungskonformen Auslegung stützt 199, ist zur Begründung nicht ausreichend. Zwar ist es mit Blick auf die Rechtssicherheit erfreulich, wenn möglichst wenig Normen für ungültig erklärt werden müssen. Dieses erwünschte Ergebnis rechtfertigt es aber nicht, die Auslegung entsprechend vorzunehmen. Man muß eine Erklärung dafür finden, daß die Verfassung den Inhalt anderer Normen beeinflussen kann, die über die bloße Erwünschtheit des Ergebnisses hinausgeht. Die Begründung mit Hilfe der Einheit der Rechtsordnung ist mit Bettermann ebenfalls abzulehnen 2OO • Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wird auch gewahrt, wenn die Norm für nichtig erklärt wird 201 . Um Bogs

gerecht zu werden, der dies Argument als tragend ansieht, muß man aber seine Vorstellung vom Stufenbau der Rechtsordnung berücksichtigen. Er geht davon aus, daß dem Rechtssystem eine Grundnorm zugrundeliegt, aus der durch Konkretisierung alle weiteren Normen gewonnen werden und die auch inhaltlich für die nachfolgenden Normen maßgeblich ist202 . Man kann aber den verschiedenen Normstufen nur abgewinnen, daß niederrangige Normen mit höherrangigen vereinbar sein sollen. Daraus auch eine tatsächliche Beachtung höherrangigen Rechts abzuleiten, geht zu weit. Was sein soll, muß nicht unbedingt tatsächlich sein. Die automatische Inhaltsbegrenzung durch die höherrangige Norm paßt nicht zur Normsetzung durch den Gesetzgeber. Dieser schafft seine Normen und leitet sie nicht direkt aus Siehe unten 1. Teil 2. Kap. D. VI. Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 41. 200 Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25 f.; Burmeister; Verfassungsorientierung, S. 84ff., 130; für die verfassungskonforme Auslegung als Inhaltskontrolle auch Wank, Rechtsfortbildung, S. 106; kritisch auch Skouris, Teilnichtigkeit, S. 99 ff. 201 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 99ff., 101; für die verfassungskonforme Auslegung als Inhaltskontrolle auch Wank, Rechtsfortbildung, S. 106. 202 Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 23. 198

199

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

65

ranghöheren Normen ab. Dafür sind die jeweils höherstehenden Normen auch zu abstrakt. Den richtigen Ansatz für die Begründung der verfassungskonformen Auslegung bietet aber Bogs "Hilfsbegründung", bei der er sich auf die Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG stützt203 . Nach diesen Verfassungsnormen ist der Richter an die Grundrechte und an Recht und Gesetz - also auch an die Verfassung - gebunden. Wenn sich der Wille des Gesetzgebers nicht feststellen läßt, kann über die Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG die Einführung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte in die Auslegung gerechtfertigt werden. Es ist nicht notwendig, die Norm wegen Inhaltslosigkeit für nichtig zu erklären. Die Verfassungs bindung kann für die Auslegung fruchtbar gemacht werden, solange der gesetzgeberische Wille nicht korrigiert wird. So läßt sich auch die verfassungskonforme Auslegung vorkonstitutioneller Gesetze plausibel erklären, da der Einfluß der Verfassung nicht über die Bindung des Gesetzgebers an ihre Normen erklärt wird, sondern über die Bindung des auslegenden Richters 204 . Die verfassungskonforme Auslegung kann also als Auslegungskriterium den Norminhalt bestimmen, wenn der gesetzgeberische Wille sich nicht feststellen läßt. Auch in diesem Fall ist man aber an das gebunden, was sich vom gesetzgeberischen Willen ermitteln läßt. So ist z. B. eine Auslegungsmöglichkeit abzulehnen, die der Gesetzgeber ausdrücklich abgelehnt hat. Hier wurden in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht nur die Einschränkung des Anwendungsbereiches und die Festsetzung des Inhalts von Normen durch verfassungskonforme Auslegung besprochen. Eine Erweiterung von Normen hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht ausdrücklich abgelehnt, da es Sache des Gesetzgebers sei, eine verfassungsmäßige Neuregelung vorzunehmen 205 . Das Bundesverfassungsgericht achtet hier den Regelungsspielraum des Gesetzgebers. In einem Fall hat es allerdings selbst eine Vorschrift "verfassungskonform erweitert". Es hielt 1953 die Vorschriften der ZPO über das Armenrecht auch im Klageerzwingungsverfahren der StPO für anwendbar, obwohl es dort gesetzlich nicht vorgesehen war206 . Diese Analogie - das Bundesverfassungsgericht spricht von Auslegung begründete das Gericht damit, daß dem Gesetzgeber nur eine Möglichkeit offen bliebe, so daß die mit dem Wortlaut vereinbare Regelung durch Aus203

Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24.

Begründet man die verfassungskonforme Auslegung mit der Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung, so kommt sie nur für nachkonstitutionelle Gesetze in Betracht, Haak, Normenkontrolle, S. 198f. 205 BVerfG, Beseh!. v. 11. 6. 1958, E 8, S. 28, 37 f.; BVerfG, Beseh!. v. 27.5.1970, E 28, S. 324, 36lf. 206 BVerfG, Beseh!. v. 17.6.1953, E 2, S. 336. 204

5 Kamanabrou

l. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

66

legung vom BVerfG an die Stelle der früheren Auslegung gesetzt werden könne 207 . Hierbei handelt es sich aber schon um verfassungskonforme Rechtsfortbildung, die an anderer Stelle besprochen wird 208 • IV. Die Berücksichtigung bereits bestehender Auslegungsergebnisse Auch bei der Inhaltsfestsetzung muß man sich über die Bedeutung der bereits bestehenden Auslegungsergebnisse in Urteilen und wissenschaftlichen Äußerungen klar werden. Sie könnten als objektiv-teleologische Kriterien den Inhalt der Norm mitbestimmen. In diesen Auslegungsergebnissen sind die oben genannten objektiv-teleologischen Erwägungen in der Regel verarbeitet. Dadurch werden sie aber nicht selbst zu solchen Kriterien, sondern lassen die maßgeblichen Gesichtspunkte höchstens erkennen. In gewissem Maße bindend werden diese Auslegungsergebnisse zumindest im Falle der Rechtsprechung aber durch das Prinzip der Rechtssicherheit. Eine langandauernde gleichförmige Auslegung oder eine Entwicklung der Auslegung in eine bestimmte Richtung kann Vertrauen wecken, das durch Abweichungen enttäuscht würde. Dadurch käme es zu einer Beeinträchtigung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausprägung durch den Vertrauensschutzgedanken 209 . Das Vertrauen der Bürger geht dahin, daß es nicht plötzlich zu abweichenden Entscheidungen und damit zu einer Änderung der Rechtslage kommt. Andererseits muß eine Änderung der Rechtsprechung möglich sein, da sonst neuere Erkenntnisse oder ein Wandel in den Anschauungen nie zu einer neuen Auslegung führen könnten, auch wenn sie noch so angebracht wäre. Die zwei Werte müssen im jeweiligen Einzelfall zum Ausgleich gebracht werden. Einerseits besteht ein Interesse an einer sachgerechten und hinsichtlich der Folgen akzeptablen Inhaltsfestsetzung. Dazu muß es auch möglich sein, von bereits bestehenden Auslegungsergebnissen abzuweichen. Andererseits erhöht eine gleichbleibende Auslegung die Rechtssicherheit. Entscheidend für die Beurteilung der Abweichung ist einerseits, wie gewichtig die Gründe für die neue Auslegung sind. Andererseits kommt es auf die Dauer und Einheitlichkeit der vorherigen Auslegung an 21O . Bei der Bewertung der Gründe für die Änderung der Auslegung ist zu beachten, daß man im Bereich der Inhaltsfestsetzung ohnehin nicht nach dem einzig möglichen Auslegungsergebnis sucht. Sind die objektiv-teleologischen Gesichtspunkte also auch durch die alte Auslegung hinreichend BVerfG, Beschl. v. 17.6.1953, E 2, S. 336, 340f. Siehe unten l. Teil 2. Kap. B. VI. 209 Vgl. zum Vertrauensschutz bei der Rechtsprechung oben l. Teil l. Kap. B.II.6. 210 Vgl. oben l. Teil l. Kap. B. 11. 6. 207

208

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

67

gewahrt, so ist das Bedürfnis für eine Änderung gering. Sie muß zumindest besonders schonend erfolgen.

D. Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe verläuft im Grunde ebenso, wie die Auslegung in den sonstigen Fällen. Gleiches gilt für die Auslegung von Generalklauseln. Allerdings tritt hier die Notwendigkeit häufiger auf, mit objektiv-teleologischen Kriterien den Inhalt der Norm zu bestimmen. Man muß sich dann wie bei jeder Anwendung objektiv-teleologischer Kriterien innerhalb der Grenzen halten, die der gesetzgeberische Wille vorgibt. Auch bei unbestimmten Rechtsbegriffen lassen sich ungefähre Vorstellungen des Gesetzgebers vom Inhalt der Regelung oder auch Fälle, die nicht erfaßt werden sollten, ermitteln. Zusätzlich ist zu prüfen, ob der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst geregelt hat, oder ob er sich durch allzu vage Begriffe seiner Rechtssetzungsaufgabe entzogen hat 211 • Durch unbestimmte Gesetzesfassungen delegiert der Gesetzgeber einen Teil seiner Rechtssetzungsbefugnis. Das Problem der richterlichen Inhaltsfestsetzung liegt dann nicht darin, daß dem Gesetzgeber gegen seinen Willen Kompetenzen genommen werden. Es geht vielmehr darum, ob der Gesetzgeber seine Rechtssetzungsbefugnis überhaupt delegieren durfte212 . Der im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive entwickelte Parlamentsvorbehalt fordert vom Gesetzgeber, wesentliche Fragen selbst zu regeln. Nur wenn es um Gegenstände geht, die nicht "wesentlich" in diesem Sinne sind, können Gesetzgebungsaufgaben abgegeben werden 213 . Für das Verhältnis der Legislative zur Judikative kann kein geringerer Maßstab gelten. Nur wenn dem Richter ein erkennbares Programm an die Hand gegeben ist, ist die Delegation mit dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar214 • Nur dann kann der Richter das Gesetz durch Auslegung ausfüllen 21S .

211 Zur Zulässigkeit und zur mißbräuchlichen Verwendung unbestimmter Gesetzesfassungen Wank, Rechtsfortbildung, S. 136ff. 212 Wank, Rechtsfortbildung, S. 136ff., 141 ff. 213 BVerfG, Urt. v. 6.12.1972, E 34, S. 165, 192f.; BVerfG, Besch!. v. 28.10.1975, E 40, S. 237, 248f.; BVerfG, Besch!. v. 21.12.1977, E 47, S. 46, 79; Erbguth, VerwArch 86 (1995), S. 327, 340. 214 Wank, Rechtsfortbildung, S. 144. 215 Zur Rechtsfortbildung im grundrechtsrelevanten Bereich siehe unten 1. Teil 2. Kap. D. VII.

5*

68

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

E. Die Rangfolge der Auslegungsziele und der Auslegungsmittel I. Stellungnahmen in der Literatur Ein häufig erhobener, schwerwiegender Vorwurf gegen die Auslegung mit Hilfe der gängigen Auslegungsmittel ist der, daß eine verbindliche Rangordnung unter ihnen fehlt 216 . Allerdings fehlt es auch nicht an Versuchen, eine solche Rangfolge zumindest ansatzweise festzulegen 217 • Dabei muß man auch die Frage stellen, ob immer alle Auslegungskriterien anzuwenden sind, oder ob man die Auslegung mit dem ersten vertretbaren Ergebnis beenden kann. Bevor eine eigene Lösung der Rangfolgenfrage entwickelt wird, sollen einige der zahlreichen Stellungnahmen in der Literatur exemplarisch vorgestellt werden218 • Kritisch zu den Versuchen einer Rangbestimmung der Auslegungsmittel hat sich Kriele geäußert. Er untersucht die Möglichkeit, Beispielsfälle zu betrachten, bei denen das Auslegungsergebnis unbestritten ist219 • Für diese Fälle soll dann erforscht werden, wie man das Ergebnis deduktiv hätte erreichen können. Diese Methode könnte man dann möglicherweise generalisieren. Kriele selbst hält aber dieses Vorgehen für unergiebig: Wenn das Auslegungsergebnis wirklich unstreitig sei, gebe es keine Auslegungsmittel zu analysieren; sei es streitig, wären die Wege der Auslegung ergebnisbezogen und deshalb nicht allgemein verwertbar22o • Larenz will zunächst die Grenze der Auslegung mit Hilfe des möglichen Wortsinns festlegen. Nur in Ausnahmefällen kann seiner Ansicht nach das Auslegungsergebnis allein aus dem Wortlaut der Norm ermittelt werden 221 • Zum richtigen Verständnis des Wortes im Zusammenhang soll die systematische Auslegung beitragen, dabei dürfe man aber die Treue des Gesetzgebers gegenüber seinem eigenen System nicht überschätzen 222 • Die historisch-teleologische Auslegung will Larenz nur so weit zulassen, wie die zuvor genannten Kriterien noch Raum für verschiedene Deutungen lassen. Wenn diese Mittel nicht ausreichen, will Larenz objektiv-teleologische Kriterien anwenden 223 . Innerhalb des Rahmens, den Wortsinn und Bedeutungs216 Nach Esser; Vorverständnis, S. 122, 124 kann es eine solche Rangfolge nicht geben. 217 Einen Überblick gibt Gern, VerwArch 80 (1989), S. 415, 422ff. 218 Vgl. zur Rangfrage auch Coing, Rechtsphilosophie, S. 271 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 56 f. 219 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 89. 220 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 91. 221 Larenz, Methodenlehre, S. 343. 222 Larenz, Methodenlehre, S. 343 f. 223 Larenz, Methodenlehre, S. 344.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

69

zusammenhang vorgeben, soll durch verfassungskonfonne Auslegung diejenige Auslegungsvariante ausgewählt werden, die mit der Verfassung vereinbar ist. Gibt es dabei mehrere Möglichkeiten und hat der Gesetzgeber eine dieser verfassungsmäßigen Deutungen gewollt, so sei diese wegen des Konkretisierungsprimats des Gesetzgebers vorrangig 224 . Damit stellt Larenz zwar kein festes Rangverhältnis auf, hält aber doch die Mehrzahl der Auslegungsprobleme auf diesem Weg für methodengerecht lösbar225 • Müller hält aus rechtsstaatlichen Erwägungen die grammatische und die systematische Auslegung für vorrangig226 . Erstere gehe im Konfliktfall systematischen Argumenten vor, insbesondere wenn es um den Wortlaut als Grenzfunktion geht 227 . Canaris hält letztlich die teleologische Auslegung für entscheidend 228 • Gegenüber dem Wortlaut sei der Vorrang von Sinn und Zweck wohl allgemein anerkannt. Nötigenfalls müsse man wegen der Grenzfunktion des Wortlauts zu Analogie oder Restriktion greifen 229 . Die teleologische Auslegung gehe auch der Auslegung aus dem äußeren System vor - die Auslegung nach dem inneren System zählt Canaris zur teleologischen Auslegung -, weil das äußere System keine sicheren Anhaltspunkte biete23o . Die historische Auslegung sei der teleologischen ebenfalls nachrangig. Das verstehe sich für die objektive Theorie von selbst, gelte aber auch für die subjektive Theorie, da nicht die Vorstellungen des Gesetzgebers im einzelnen, sondern seine Zwecke durchzusetzen seien231 • Canaris bleibt aber eine Aussage zur Rangfolge zwischen den verschiedenen teleologischen Kriterien schuldig. Er versteht unter "teleologisch" jede Zweck- und Wertverwirklichung232 , beachtet dabei also subjektive und objektive Zwecke. Damit bleibt die Rangfrage zwischen ihnen offen.

Gern will Rangfragen nach dem "Recht der Methode" lösen. Dieses Methodenrecht soll sich aus der Gesamtrechtsordnung, insbesondere aus dem Verfassungsrecht, ergeben 233 . Aus Gründen der Rechtssicherheit hat für ihn der eindeutige Wortlaut absoluten Vorrang vor den weniger erkenn224 225 226 227 228

Larenz, Methodenlehre, S. 344 f. Larenz, Methodenlehre, S. 345 f. Müller, Methodik, S. 252f. Müller, Methodik, S. 257f. Canaris, Systemdenken, S. 91 f., Anm. 23; vgl. auch Fikentscher, Methoden

IV, S. 364, der den Gesetzeszweck neben der Wortsinngrenze für das wichtigste Auslegungskriterium hält. 229 Canaris, Systemdenken, S. 91, Anm. 23. 230 Canaris, Systemdenken, S. 91 f., Anm. 23. 231 Canaris, Systemdenken, S. 92, Anm. 23. 232 Canaris, Systemdenken, S. 41. 233 Gern, VerwArch 80 (1989), S. 415, 431.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

70

baren systematischen und teleologischen Gesichtspunkten 234 . Sind der Wortlaut und alle andern Auslegungskriterien bis auf eines mehrdeutig, so sei dieses entscheidend 235 • Bei mehrdeutigem Wortlaut und gegenläufigen Auslegungsergebnissen mit Hilfe der anderen Kriterien könne eine Rangfolge aus dem Recht der Methode, das sich aus der Gesamtrechtsordnung ergebe, abgeleitet werden. Gelinge das nicht, so sei die Norm wegen Unbestimmtheit nichtig 236 . Alexy hält Argumente aus dem Wortlaut oder unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers aufgrund der damit verbundenen Bindung an das geltende Recht für vorrangig 237 . Man könne aber mit Hilfe vernünftiger Gründe eine andere Entscheidung rechtfertigen 238 . Wann solche vernünftigen Gründe gegeben sind, bestimmten die Teilnehmer des juristischen Diskurses. Dabei sollen Gewichtungsregeln zum Zuge kommen 239 . Nach Alexy sind alle Argumente zu berücksichtigen, die sich aus den Auslegungsmitteln ergeben 24o . Koch/ Rüssmann halten die Trennung zwischen Auslegungszielen und Auslegungsregeln in der Literatur für verfehlt241 . Sie verbinden den Streit um die subjektive oder objektive Auslegungstheorie und die Diskussion über die Rangfolge der Auslegungskriterien mit folgendem Ergebnis: Soweit der Wortsinn einen Deutungsspielraum läßt, sind zunächst die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen zur Auslegung heranzuziehen. Ist die Entscheidung dann noch offen, sollen objektiv-teleologische Kriterien angewandt werden 242 . Wortsinn und gesetzgeberische Zweckvorstellungen sollen sich wegen der Gewaltenteilung (Gesetzesbindung) als Ziele der Auslegung rechtfertigen. Die "sogenannten Zwecke des Gesetzes" sind wegen des Verbots der Entscheidungsverweigerung zu berücksichtigen243 .

Gern, VerwArch 80 (1989), S. 415, 434. Gern, VerwAreh 80 (1989), S. 415, 436. 236 Gern, VerwAreh 80 (1989), S. 415, 436. 237 Alexy, Argumentation, S. 305. Solche Argumente sind auch für Zippelius, Methodenlehre, S. 56 vorrangig, der innerhalb dieses Rahmens dann auf die Widerspruchslosigkeit zu höherrangigen Normen achten will. Im übrigen kommt es seiner Ansicht nach auf eine möglichst gerechte Problemlösung an. Die Bindung an den Willen des Gesetzgebers wird von Zippelius, Methodenlehre, S. 57 aber gleich wieder relativiert, da er einen Sinnwandel der Norm für möglich hält. 238 Alexy, Argumentation, S. 305. 239 Alexy, Argumentation, S. 305 f. 240 Alexy, Argumentation, S. 306. 241 Koch/Rüssmann, Begründungslehre, S. 176ff. 242 Koch/Rüssmann, Begründungslehre, S. 181. 243 Koch/Rüssmann, Begründungslehre, S. 181. 234 235

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

71

Koch/ Rüssmann ist zuzustimmen, soweit sie auch für die Auslegungsziele die Rangfolgenproblematik ansprechen. Wie oben ausgeführt, ist zwar aus Verfassungsgründen nach Möglichkeit der gesetzgeberische Wille zu ermitteln244 . Wenn dieser sich nicht feststellen läßt, besteht aber mit der Inhaltsfestsetzung ein zweites Auslegungsziel. Zwischen diesen beiden Zielen besteht ein Rangverhältnis, wobei die Ermittlung der gesetzgeberischen Vorstellungen vorrangig ist. Koch/Rüssmann bezeichnen ihren und Larenz' Ansatz als Vereinigungstheorie 245 . Der Unterschied zwischen der hier vertretenen "Zwei-ZieleTheorie" zu der Larenzschen Vereinigungstheorie besteht darin, daß nach der hier vorgezogenen Lösung die Ziele getrennt gehalten und nicht von vornherein subjektive und objektive "Momente", wie Larenz sie bezeichnet, zur Auslegung herangezogen werden. Koch/ Rüssmann verfolgen die Auslegungsziele nacheinander, obwohl sie selbst ihre Rangordnung mit der bei Larenz vergleichen. Ungewöhnlich ist bei Koch/ Rüssmann, daß sie den Wortsinn als eigenes Auslegungsziel kennzeichnen 246 • Wenn man unter dem Wortsinn etwas anderes als den Inhalt des Gesetzes versteht, handelt es sich dabei nach der hier vertretenen Ansicht nicht um ein eigenes Auslegungsziel. Man muß zwei Zielbegriffe auseinanderhalten : Einmal kann man als Auslegungsziel den Inhalt des Gesetzes bezeichnen. Das ist es, was man letztlich durch die Auslegung ermitteln will. Dann hat sich gezeigt, daß man mit der Inhaltsfeststellung einerseits oder der Inhaltsfestsetzung andererseits dieses Ziel jeweils so unterschiedlich charakterisiert, daß man von zwei verschiedenen Auslegungszielen sprechen kann. Der Wortsinn ist aber keine mögliche Charakterisierung des Auslegungsziels "Gesetzesinhalt" . Nur wenn man ihn mit dem Begriff "Inhalt des Gesetzes" gleichsetzt, kann man den Wortsinn als Auslegungsziel verstehen. Bydlinski führt einen weiteren Aspekt in die Rangfolgendiskussion ein. Seiner Ansicht nach muß zunächst geklärt werden, ob stets alle Auslegungsmittel anzuwenden sind 247 . Rangfragen stellten sich nur bei widersprüchlichen Ergebnissen nach den verschiedenen Auslegungsschritten. Wenn aber im Einzelfall gar nicht alle Kriterien angewandt würden, stelle sich das Problem der Widersprüche nicht. Bydlinski spricht sich dafür aus, das einfachere Kriterium zuerst anzuwenden und zu den schwierigeren erst dann überzugehen, wenn das Problem zuvor nicht gelöst werden konnte 248 . Dieses "Einfachheitskriterium" sei wegen seiner Zweckmäßigkeit auch mit

244

245 246 247 248

V gl. oben 1. Teil 1. Kap. B.1. 2. Koch/Rüssmann, Begründungslehre, S. 178. Koch/Rüssmann, Begründungslehre, S. 181. Bydlinski, Methodenlehre, S. 556. Bydlinski, Methodenlehre, S. 556f.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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der Rechtsidee verbunden. Dadurch erhalte es gegenüber reinen Praktikabilitätserwägungen auch rechtliches Gewicht. Kriele hält die Frage nach den vorrangigen Kriterien, die, wenn sie ein Ergebnis liefern, die Anwendung weiterer Auslegungsmittel ausschließen, für nicht lösbar249 . Er sucht für eine solche Stufenfolge nach einer festen Reihenfolge der Auslegungskriterien, die es aber seiner Ansicht nach nicht gibt. Außerdem stellt er die Frage, wann die Auslegung ein Ergebnis erbracht hat25o . Ebenso wie man auf einer bestimmten Auslegungsstufe die Untersuchung abbreche, könne man genausogut die Interpretation fortsetzen, bis sich ein anderes Ergebnis zeige.

Ob in jedem Fall alle Auslegungskriterien anzuwenden sind und wonach sich gegebenenfalls die Auswahl richtet, wird auch bei der folgenden Entwicklung einer eigenen Lösung zu den Rangfragen eine Rolle spielen. 11. Die Rangfolge der Auslegungsziele

Koch/Rüssmann ist darin zuzustimmen, daß schon zwischen den möglichen Auslegungszielen eine Rangfolge aufzustellen ist. Zunächst ist festzustellen, daß man zwei verschiedene Ziele mit der Auslegung verfolgen kann. Vorrangig geht es darum, den gesetzgeberischen Willen zu ermitteln. Kann dieses erste Auslegungsziel nicht erreicht werden, so ist von der Inhaltsfeststellung zur Inhaltsfestsetzung zu wechseln251 . Zwischen diesen Zielen besteht eine strenge Rangfolge. Wenn der gesetzgeberische Wille ermittelt werden kann, darf keine Inhaltsfestsetzung stattfinden252 . 111. Die Rangfolge der Auslegungsmittel

Die Rangüberlegungen hinsichtlich der Auslegungskriterien kann man für die beiden Ziele getrennt anstellen, weil sie jeweils mit unterschiedlichen Auslegungsmitteln verfolgt werden. Den Willen des Gesetzgebers versucht man durch die Verwendung der Materialien, systematische und subjektivteleologische Erwägungen zu ermitteln (lnhaltsfeststellung)253. Zur Inhaltsfestsetzung werden die objektiv-teleologischen Kriterien und die verfassungskonforme Auslegung herangezogen. Die Ergebnisse aus der Willenser249

250 251 252 253

Kriele, Rechtsgewinnung, S. 93 ff. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 95. Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. C. Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.I.2. V gl. oben 1. Teil 1. Kap. B.II.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

73

forschung sind bei der Inhaltsfestsetzung allerdings nicht unbeachtlich, sie bilden den Rahmen, der nicht verlassen werden darf254 • 1. Die Rangfolge bei der inhaltsfeststellung

Bei der Inhaltsfeststellung bieten die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen die maßgeblichen Anhaltspunkte für das Sinnverständnis des Gesetzgebers vom Normtext. Unter ihnen sind die ausdrücklich genannten den erschlossenen Zweckvorstellungen vorzuziehen. Ausdrückliche Regelungsabsichten können sich in den Materialien oder in Präambeln oder Eingangsvorschriften des Gesetzes selbst finden 255 • Aus den Materialien und dem systematischen Zusammenhang der Norm kann man dann versuchen, auf die Zwecke des Gesetzgebers zu schließen, wenn sich ausdrückliche Erklärungen nicht finden 256 • Es sind also nicht unbedingt immer die Materialien das vorrangige Auslegungsmittel. Der Vorrang der ausdrücklichen Erklärungen gegenüber abgeleiteten Inhaltsvorstellungen ergibt sich aus dem allgemeinen Vorrang tatsächlicher Äußerungen gegenüber Mutmaßungen bei der Willenserforschung. Wenn man eine ausdrückliche Stellungnahme auffinden kann, weiß man, was gewollt ist, so daß für Vermutungen kein Raum mehr ist. Der Wortlaut ist kein Auslegungsmittel, sondern allein Sinnträger257 . Er ergibt keine verbindlichen Vorgaben für das Auslegungsergebnis und muß daher auch nicht zu den Auslegungsmiueln ins Verhältnis gesetzt werden. Er hat lediglich Einstiegsfunktion für die Auslegung. 2. Die Rangfolge bei der inhaltsfestsetzung

Im Falle der Inhaltsfestsetzung stehen die verschiedenen objektiv-teleologischen Gesichtspunkte gleichberechtigt nebeneinander258 . Zur Auslegung sind die Sachgerechtigkeit und die Folgenbetrachtung heranzuziehen 259 . Diese Kriterien sind zum Teil ineinander verwoben, so daß eine strikte Trennung und damit auch eine bestimmte Rangordnung nicht möglich ist. Da man bei der Inhaltsfestsetzung den Normgehalt erst bestimmt, ist eine Abwägung zwischen den verschiedenen Argumenten unumgänglich. Es oben 1. Teil 1. Kap. C. I. oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 4. a). 256 oben 1. Teil 1. Kap. B.II.2.b). 257 oben 1. Teil 1. Kap. B.II. 1. 258 Hassold, 2. FS für Larenz, S. 211, 239f. ordnet sie nach Geltungsrang und Greifbarkeit des Aussagegehalts. 259 V gl. oben 1. Teil 1. Kap. C.II. 1. 254

255

Vgl. Vgl. Vgl. V gl.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

kann nicht eine ähnlich klare Abfolge wie bei der Willensforschung geben, da ein schöpferisches Element hinzutritt. Objektiv-teleologische Erwägungen sind allerdings zweifach begrenzt. Zum einen durch die verfassungskonforme Auslegung, die den Kreis der möglichen Auslegungsergebnisse bei der Inhaltsfestsetzung einschränkt, zum anderen durch den gesetzgeberischen Willen, soweit dieser erkennbar ist. Unter den Auslegungsmöglichkeiten, die der gesetzgeberische Wille offen läßt, können nur diejenigen ausgewählt werden, die nicht zu einem Verfassungsverstoß führen. IV. Zusammenfassung zu den Rangfragen Sowohl das Rangverhältnis zwischen den Auslegungszielen als auch das zwischen den Auslegungsmitteln ergibt sich bei dem hier entwickelten Ansatz also "von selbst". Bei den Auslegungszielen geben Verfassungserwägungen die Rangfolge an. Die Auslegungskriterien bei der Inhaltsfeststellung sind nach ihrer Ergiebigkeit für das Auslegungsziel geordnet, wobei man auf den allgemeinen Vorrang der ausdrücklichen Willenserklärungen vor Schlüssen auf den Willen zurückgreifen kann. Bei der Inhaltsfestsetzung kann nach der Art der Aufgabe keine Rangfolge bestehen. Auch hier steht aber fest, daß der gesetzgeberische Wille, soweit er feststellbar ist, eine Schranke der Inhaltsfestsetzung ist. Eine zweite Begrenzung bildet das Kriterium der verfassungskonformen Auslegung, das eine Inhaltsfestsetzung unter Verletzung der Verfassung verbietet. Auslegungsziel Wille des Gesetzgebers (Inhaltsfeststellung)

Auslegungsmittel Vorrangig ausdrückliche Erklärungen (Präambeln, Zweckbestimmungen im Gesetz, Materialien), wenn danach kein Ergebnis ---+ Schlüsse aus den Materialien und der Systematik

Wenn obiges Auslegungsziel nicht erreicht werden kann: Auslegungsziel Inhaltsfestsetzung

Auslegungsmittel Objektiv-teleologische Kriterien, begrenzt durch den Willen des Gesetzgebers und verfassungskonforme Auslegung

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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2. Kapitel

Die Auslegung im weiteren Sinne (Rechtsfortbildung) Durch eine Rechtsfortbildung weicht man vom zuvor durch Auslegung ermittelten Inhalt des Gesetzes ab. Eine vom Inhalt des Gesetzes abweichende Entscheidung kann sowohl durch die Gerichte als auch von der vollziehenden Gewalt oder sonstigen Rechtsanwendern angestrebt werden. Da es letztlich auf die Entscheidung der Gerichte ankommt, wird im folgenden ihre Kompetenz zur Rechtsfortbildung untersucht. Die übrigen Rechtsanwender können in ihren Rechtsstreitigkeiten oder in außergerichtlichen Äußerungen den Gerichten Fortbildungen innerhalb dieser richterlichen Kompetenzen mit Aussicht auf Erfolg "vorschlagen".

A. Rechtsfortbildung nach Inhaltsfeststellung oder -festsetzung Bei der Auslegung ist die Inhaltsfeststellung von der Inhaltsfestsetzung zu unterscheiden. Je nachdem, welches der beiden Auslegungsziele man erreicht hat, bedeutet eine Abweichung vom Inhalt des Gesetzes etwas anderes. Nach einer Inhaltsfeststellung kommt es durch Rechtsfortbildung zu einer Abweichung vom gesetzgeberischen Willen, nach einer Inhaltsfestsetzung zu einer dieser Festsetzung nicht entsprechenden Entscheidung. Es ist zunächst zu prüfen, ob die Rechtsfortbildung im zweiten Fall andere oder zusätzliche Probleme aufwirft. Das zöge möglicherweise unterschiedliche Voraussetzungen der Rechtsfortbildung in beiden Fällen nach sich. In beiden Fällen muß die Kompetenz des Richters zur Normsetzung gegenüber dem gegenwärtigen Gesetzgeber begründet werden. Bei der Rechtsfortbildung nach einer Inhaltsfeststellung muß man zusätzlich die Abweichung vom gesetzgeberischen Willen rechtfertigen. Auch bei der Rechtsfortbildung nach einer Inhaltsfestsetzung kann ein Bedürfnis danach bestehen, vom Willen des Gesetzgebers abzuweichen. Soweit ein solcher Wille feststellbar ist, begrenzt er die Inhaltsfestsetzung. Möglicherweise will man aber gerade diese Begrenzung überschreiten. Dagegen ist nicht ersichtlich, weshalb ein Bedarf bestehen sollte, von dem durch objektive Kriterien bestimmten Teil der Inhaltsfestsetzung abzuweichen. Man hat bereits bei der Festsetzung die Möglichkeit, die Sachinteressen und Wertungen der Gegenwart zu berücksichtigen. Sie fließen also bereits in die Auslegung ein. Nur dort, wo die Vorgaben des Gesetzgebers eine wunschgemäße Auslegung hindern, muß man zur Rechtsfortbildung greifen, um das erstrebte Ergebnis zu erzielen. Auch nach einer Inhaltsfestsetzung stellt sich die Frage nach einer Rechtsfortbildung demnach nur aufgrund einer gewoll-

76

I. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

ten Abweichung vom gesetzgeberischen Willen. Die Rechtsfortbildung ist also in beiden Fällen allein unter den Aspekten der Abweichung vom gesetzgeberischen Willen und der Rechtfertigung der Normsetzung durch den Richter gegenüber dem gegenwärtigen Gesetzgeber zu untersuchen. Inhaltsfeststellung erfolgreich

eventuell Rechtsfortbildung erwünscht

Inhaltsfeststellung teilweise erfolgreich (teilweise Inhaltsfestsetzung)

eventuell Rechtsfortbildung (soweit Inhaltsfeststellung erfolgreich) erwünscht

Inhaltsfeststellung nicht erfolgreich (Inhaltsfestsetzung)

keine Rechtsfortbildung erforderlich

B. Die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung Nach der oben abgelehnten herrschenden Meinung bildet der Wortsinn die Grenze der Auslegung!. Akzeptiert man diese Funktion des Wortsinns nicht, so muß ein anderes Kriterium für die Abgrenzung zwischen der Auslegung und der Fortbildung von Gesetzen gefunden werden. Nach der hier entwickelten Lösung wird der Bereich der Auslegung verlassen, wenn man vom festgestellten Inhalt des Gesetzes abweicht. Aufgrund der vorrangigen Regelungskompetenz des Gesetzgebers benötigt man in diesen Fällen eine besondere Begründung für die richterliche Entscheidung, die auch über die Legitimation zur Inhaltsfestsetzung hinausgeht, da diese nur zulässig ist, soweit der Wille des Gesetzgebers nicht feststellbar ist.

c.

Die generelle Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen I. Die Ansichten in der Literatur

Bevor man sich mit der Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen im Einzelfall befassen kann, muß man sich mit der generellen Zulässigkeit der Rechtsfortbildung auseinandersetzen. Daß Rechtsfortbildungen grundsätzlich erlaubt sind, wird zum Teil ohne weitere Diskussion vorausgesetzt. So beginnt Bydlinski seinen Abschnitt über die "Ergänzende Rechtsfortbildung" mit Ausführungen zum Lückenbegrift2. Larenz schneidet die Frage 1 2

Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.II.l.b). Bydlinski, Methodenlehre, S. 472.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

77

kurz an, weist aber nur darauf hin, daß zumindest die Kompetenz zur richterlichen Lückenfüllung seit langem anerkannt ise. Für die weitergehende gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung beruft er sich auf das BVerfG, das von einer Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung spricht, die im Grundsatz unbestritten sei4 • Ipsen nimmt an, daß die Zuständigkeitsnormen dem Richter nicht nur Entscheidungskompetenzen sondern auch eine Kompetenz zur Rechtsbildung geben5 . Außerdem wird auf die Bindung des Richters an "Gesetz und Recht" hingewiesen 6 . Damit sei dem Richter die Möglichkeit eröffnet, der Rechtsordnung als Sinnganzem Kriterien zu entnehmen, die eine Entscheidung über das Gesetz hinaus ermöglichen7 . Daß es sich hierbei um Entscheidungen gegen das Gesetz handelt, wird vom BVerfG angedeutet, wenn es dem "Recht" die Fähigkeit zuschreibt, "dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken"s. Zunächst ist festzustellen, daß das Grundgesetz zur Bindung des Richters auch noch die engere Formulierung des Art. 97 Abs. 1 GG enthält. Die weitere Fassung des Art. 20 Abs. 3 GG erklärt sich aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, während dessen Herrschaft Unrecht in Gesetzesform herrschte. Solche Zustände wollte man bei der Schaffung des Grundgesetzes vermeiden, indem man den Richter an überpositives Recht band 9 . Damit wird aber auch deutlich, daß die Berufung auf das Recht zur Entscheidung gegen das Gesetz Extremfällen vorbehalten bleibt. Wank hat herausgestellt, daß sich eine Befugnis zur Rechtsfortbildung dann aus Art. 20 Abs. 3 GG ableiten läßt, wenn man entweder den Begriff des Gesetzes oder den des Rechts weiter faßt. So könne man einerseits unter Gesetz die gesamte positive Rechtsordnung verstehen, oder die Bindung an das Recht als Aufforderung zur Einhaltung durchschnittlicher Gerechtigkeitsanforderungen durch den Richter verstehen 10.

3 Larenz, Methodenlehre, S. 366; ders., FS für Henkel, S. 31, 40; so auch Göldner, Verfassungsprinzip, S. 7I. 4 Larenz, Methodenlehre, S. 368f.; siehe dazu BVerfG, Besehl. v. 29.5.1974, E 34, S. 271, 287f.; bestätigt in: BVerfG, Besehl. v. 14.5.1985, E 69, S. 315, 371; BVerfG, Besehl. v. 12.3.1985, E 69, S. 188, 203; BVerfG, Besehl. v. 19.10.1983, E 65, S. 182, 190. Auf das Bedürfnis zur Weiterentwicklung des Rechts stützt sich auch Kohler, Grünhuts Zeitsehr. 13 (1886), S. 1, SI. 5 lpsen, Richterrecht, S. 59 f. 6 BVerfG, Besehl. v. 29.5.1974, E 34, S. 271, 286f.; BVerfG, Besehl. v. 3.4.1990, E 82, S. 6, 12; Fikentscher, Methoden IV, S. 325ff., 329; Zippelius, Methodenlehre, S. 77 f. 7 BVerfG, Besehl. v. 29.5.1974, E 34, S. 271, 286f. 8 BVerfG, Besehl. v. 29.5.1974, E 34, S. 271, 287. 9 Wank, Reehtsfortbildung, S. 88. 10 Wank, Rechtsfortbildung, S. 88 f.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Von anderen Autoren wird zur Legitimation richterlicher Rechtsfortbildung das Rechtsverweigerungsverbot angeführt l1 . Der Richter dürfe keinen Prozeß unter Berufung auf die Lückenhaftigkeit des Rechts unentschieden lassen. Daraus ergebe sich das Recht und sogar die Pflicht zur Rechtsfortbildung. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß jeder Fall dahingehend entschieden werden kann, daß die von einer Partei gewünschte Rechtsfolge für den Sachverhalt im Gesetz nicht vorgesehen ist, diese Partei mit ihrem Begehren also nicht erfolgreich ist l2 . Der Richter müßte das Recht nicht verweigern. Ob man mit dem Inhalt einer solchen Entscheidung zufrieden wäre, ist eine andere Frage. Ein Urteil kann jedenfalls gefällt werden, der Rechtsstreit wird auf die eine oder andere Weise entschieden 13. Hillgruber will gesetzesübersteigende Rechtsfortbildungen nur in sehr engen Grenzen zulassen 14. In der Literatur wird in Anschluß an Larenz üblicherweise nur ein Vorgehen des Richters als gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung bezeichnet, mit der er über die Lückenfüllung hinausgeht 15 . Obwohl Hillgruber den Begriff der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung nicht definiert, läßt sich doch aus dem Zusammenhang seiner Ausführungen entnehmen, daß er darunter jede Entscheidung versteht, mit der man über die Auslegung hinausgeht. Es ist also zu berücksichtigen, daß er gegenüber der üblichen Ausdrucksweise einen weiteren Begriff der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung benutzt.

Nach Hillgruber ist der Richter an positive Regelungen des Gesetzgebers gebunden; setze er sich darüber hinweg, so liege eine Rechtsfortbildung contra legern vor 16 . So lehnt Hillgruber es z. B. ab, die Regelung des § 569 a BGB auf nichteheliche Lebensgemeinschaften entsprechend anzuwenden. Eine Regelungslücke sei nicht gegeben, da das Gesetz die Rechtsfolge eben nur für Ehegatten oder andere Familienangehörige des Mieters vorsehe. Ob die Analogie gerechtfertigt ist oder nicht, soll hier nicht entschieden werden, unzutreffend ist jedenfalls die Begründung Hillgrubers. Verallgemeinert man sein Argument, so wäre eine Gesetzeslücke nie gegeben, weil das Gesetz die Rechtsfolge eben nur für die genannten Fälle vorsieht. Auf diese Art und Weise kann man nie zu der Frage vordringen, ob das Nichtbestehen weiterer Regelungen möglicherweise eine planwidrige Unvollständigkeit im Gesetz ist, die zu eine Lücke führt. II Roellecke, Politik, S. 144f.; Rüthers, RdA 1969, S. 161, 178; Säcker; Grundprobleme, S. 116. 12 lpsen, Richterrecht, S. 53 ff., 54. I3 Gegen eine Begründung der Rechtsfortbildung durch die Bindung des Richters an "das Recht" auch Kirchhof, FS für Juristische Fakultät Heidelberg, S. 11, 13. 14 Hillgruber; JZ 1996, S. 118. 15 V gl. zur Terminologie oben 1. Teil 2. Kap. C. 1. 16 Hillgruber; JZ 1996, S. 118, 119.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Auch wenn keine positive gesetzliche Regelung besteht, liegt nach Hillgruber nicht immer eine ausfüllungsbedürftige und ausfüllungsfähige Lücke vor. Wenn eine Nonn abschließenden Charakter hat, stelle eine Ergänzung eine Verwerfung des Gesetzes dar, durch die der zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille mißachtet werde l7 . In seiner Zusammenfassung unterscheidet Hillgruber nicht mehr zwischen Nonnen mit und ohne abschließendem Charakter. Er geht an dieser Stelle davon aus, daß eine Lücke im Gesetz stets nur durch Verwerfung der gesetzlich angeordneten Rechtsfolge entstehen kann 18. Bevor Hillgruber seine Ergebnisse fonnuliert, befaßt er sich aber noch mit Fällen, in denen eine Rechtsfortbildung denkbar ist. Dabei kann es sich nach seinen vorhergehenden Ausführungen nur um Situationen handeln, in denen eine positive Regelung nicht besteht und die Nonn nicht abschließend ist. Das "Mehr an Recht" darf nach Hillgruber jedenfalls nur im verfassungsgemäßen Verfahren der Verfassung entnommen werden 19. Deshalb könne nur ein verfassungswidriger Zustand den Richter zur Rechtsfortbildung berechtigen. Weiterhin sei aber zu berücksichtigen, daß es an sich Sache des Gesetzgebers ist, Verfassungsverstöße zu beheben. Der Übergriff in seine Kompetenzen sei nur dann unbeachtlich, wenn nur eine Lösung der Verfassung entspricht2o . Selbst wenn dieser seltene Fall gegeben sei, sei eine richterliche Rechtsfortbildung nur in den Bereichen zulässig, in denen sie ohne den Gesetzgeber möglich ist. Sie scheide deshalb unbedingt bei Eingriffen in die grundrechtliche Freiheitssphäre aus. Auch wenn es sich um begünstigende Maßnahmen handele, könne aber eine fonnelles Gesetz erforderlich sein, wenn es um wesentliche Entscheidungen im Grundrechtsbereich gehe 21 . Hillgruber schließt eine Rechtsfortbildung ausdrücklich auch dann aus, wenn der Gesetzgeber wissentlich und willentlich untätig bleibt. Dem Bürger stehe gegen das ihn in Grundrechten verletzende Urteil das Recht der Verfassungsbeschwerde zu. In deren Rahmen könne das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des bestehenden Rechts feststellen und den Gesetzgeber zur Abhilfe auffordem 22 .

17

18

19

20 21 22

Hillgruber, Hillgruber, Hillgruber, Hillgruber, Hillgruber, Hillgruber,

JZ JZ JZ JZ JZ JZ

1996, 1996, 1996, 1996, 1996, 1996,

S. S. S. S. S. S.

118, 118, 118, 118, 118, 118,

120. 124. 121. 122. 123f. 122, 124.

80

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

11. Stellungnahme Bei der Frage nach der generellen Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen geht es darum, ob unbefriedigenden Zuständen nur durch den Gesetzgeber abgeholfen werden kann, oder ob unter noch zu klärenden Bedingungen auch der Richter außergesetzlichen Kriterien den Vorrang geben darf. Gegen diese Möglichkeit sprechen die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz, Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (Aspekt der Gewaltentrennungf3. Will man trotzdem über den Willen des Gesetzgebers hinaus oder sogar gegen ihn entscheiden, so muß man Gründe von gleichem Rang wie diese Verfassungsprinzipien anführen. Man muß begründen, warum eine Entscheidung nach dem Gesetz unbefriedigend ist und warum die Änderung nicht dem Gesetzgeber überlassen werden kann oder soll. Wann entsprechend gewichtige Gründe gegeben sind, ist im folgenden zu untersuchen. Soweit man sie auffinden kann, ist gegen die Rechtsfortbildung aus grundsätzlichen Erwägungen nichts einzuwenden. Ihre Zulässigkeitsvoraussetzungen im Einzelfall sind so zu fassen, daß der Gesetzesbindung und dem Prinzip der Gewaltenteilung hinreichend Rechnung getragen wird. Wie andere Verfassungsprinzipien auch, gelten sie nicht absolut. Das ist leicht nachzuweisen für das Gewaltenteilungsprinzip: Die Gewaltentrennung ist bereits nach der Konzeption des GG an einigen Stellen durchbrochen. So besteht z. B. die Möglichkeit zur Rechtssetzung durch die Exekutive, Art. 80 GG. Der Regierung steht ein Gesetzesinitiativrecht zu, Art. 76 Abs. 1 Alt. 1 GG. Das BVerfG kontrolliert zum Teil die Legislative und die Exekutive, Art. 93, 100 GG. Das Parlament wählt den Kanzler, Art. 63 Abs. 1 GG. Es hat Kontrollrechte gegenüber der Regierung, Art. 43, 44 GG. Aber auch die Gesetzesbindung der Rechtsprechung muß nicht uneingeschränkt gelten. Verfassungswerte können sich gegenseitig beeinflussen. Ihre Reichweite ist im Sinne einer Optimierung der jeweils berührten Prinzipien zu bestimmen. Diese Überlegungen sind aus der Grundrechtsdogmatik bekannt. Kollidierendes Verfassungsrecht ist als Grundrechtsschranke anerkannt24 . Kollidierende Verfassungsprinzipien und Grundrechte sind im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich zu bringen 25 . Dieselben Erwägungen können aber auch außerhalb der Grundrechtsprüfung vorgebracht werden. Einzelne Prinzipien der Verfassung sollen nicht auf Kosten anderer Prinzipien gleichen Ranges durchgesetzt werden. Sie sind möglichst 23 V g!. oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 2.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 154 ff., 207 ff.; ders., ZGR 1988, S. 314, 322f. 24 Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG, Rdnr. 37ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 71, 312. 25 Jarass/Pieroth, GG, Ein!., Rdnr. 6., Vorb. vor Art. 1 GG, Rdnr. 41.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 72, 317 ff.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

81

weitgehend unter Schonung solcher anderen Werte zu verwirklichen. Dabei können die Verfassungs prinzipien sich gegenseitig inhaltlich beeinflussen. Auch die Gesetzesbindung unterliegt solchen Einflüssen. Zu klären bleibt, welche Erwägungen die Bedenken aus der Gewaltentrennung und der Gesetzesbindung zugunsten einer richterlichen Rechtsfortbildung ausräumen können. Wank hat herausgestellt, daß das Prinzip der Gewaltenteilung der richterlichen Rechtsfortbildung weniger unter dem Aspekt des Eingriffs in die Legislative Schranken setzt, als unter dem Gesichtspunkt der sachgerechten Aufgabenwahrnehmung 26 . Bei jeder Rechtsfortbildung ist also nicht nur zu fragen, ob der Richter in wesentlichen Bereichen Gesetzgebungsaufgaben erfüllt, sondern auch, ob er dieser Funktion als Ersatzgesetzgeber im konkreten Fall gerecht werden kann.

D. Die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung im Einzelfall Das Recht zu entwickeln und abzuändern steht dem Gesetzgeber in einem weiten Rahmen zu. Er hat Gestaltungsbefugnisse und -aufgaben. Der Gesetzgeber ist zwar in gewissem Maße durch Sach- und Systemzwänge gebunden 27 . Auch politisches Kalkül wird häufig die Bandbreite der möglichen Regelungen einschränken. Er kann sich aber zumindest zum Teil aus bestehenden Systemen befreien und Rechtsgebiete neu ordnen. Um eine so weitgehende schöpferische und gestaltende Tätigkeit kann es bei der richterlichen Rechtsfortbildung nicht gehen 28 . Der Richter steht immer unter dem Zwang, zu begründen, warum er über die bloße Auslegung und Anwendung des Rechts hinausgeht. Er muß also das Fehlen einer angemessenen Regelung geltend machen. Ob eine vom Richter vorgesehene Lösung im geltenden Recht fehlt, hängt von dem Maßstab ab, den man anlegt. Im folgenden werden Fallgruppen aufgezeigt, bei denen typischerweise ein Rechtsfortbildungsbedürfnis auftritt. Für diese Fallgruppen ist dann jeweils zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wie die Rechtsfortbildung durch den Richter erfolgen kann 29 .

26 Wank, Rechtsfortbildung, S. 92, 113ff., 117f.; ders., RdA 1987, S. 129, 133; ders., ZGR 1988, S. 314, 322. 27 Wank, Rechtsfortbildung, S. 187ff. 28 Vgl. Larenz, FS für Henkel, S. 31, 34f. 29 Zu der Unterscheidung zwischen der Rechtsfortbildungskompetenz und der Art und Weise der Lückenschließung Wank, RdA 1987, S. 129, 150ff., 155ff.; ders., ZGR 1988, S. 314, 321ff. 6 Kamanabrou

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

I. Die Lückenfüllung 1. Der Begriff der Gesetzeslücke

Richterliche Rechtsfortbildung kann in unterschiedlichen Fallgestaltungen zulässig und erforderlich sein. Üblicherweise wird als Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung eine Gesetzeslücke gefordert3o . Daneben gibt es auch noch andere Fälle, in denen eine Rechtsfortbildung diskutiert wird. Die Lückenfüllung bildet jedoch den Hauptanwendungsfall der Rechtsfortbildung. Eine Lücke soll dann bestehen, wenn eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes gegeben ist. Die Lückenhaftigkeit ist vom Standpunkt des Gesetzes zu beurteilen 3l • Der gesetzgeberische Plan ist Maßstab für die Lückenhaftigkeit. Es wird geprüft, ob der streitige Fall nach den von der Norm verfolgten Zwecken ebenfalls mit ihrer Rechtsfolge zu versehen ist32 . Von der Lücke wird der rechtspolitische Fehler unterschieden. Ein solcher rechtspolitischer Fehler soll dann vorliegen, wenn eine gesetzliche Regelung oder das Fehlen einer gesetzlichen Regelung zwar unbefriedigend ist, aber dem Plan des Gesetzgebers entsprach33 . In diesen Fällen könne nur der Gesetzgeber Abhilfe schaffen. Ob eine Lücke oder ein rechtspolitischer Fehler vorliegt, soll sich danach bestimmen, ob die immanente Teleologie des Gesetzes selbst zur Forderung einer Ergänzung führt, oder ob ein solcher Wunsch von außen an das Gesetz herangetragen wird 34 . Nach dieser Formulierung bedeutet Lückenfüllung also das Zuendedenken der gesetzlichen Regelung. Man überprüft, ob dem Gesetzgeber die Umsetzung seiner Regelungsvorstellungen in ein Normprogramm geglückt ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann eine entsprechende Ergänzung vorgenommen werden.

Göldner, Verfassungsprinzip, S. 75. Engisch. Einführung, S. 138ff., 141 ff.; Larenz. Methodenlehre, S. 370ff., 373f.; weiter Bydlinski. Methodenlehre, S. 473, Canaris. Lücken, S. 39 und Göldner, Verfassungsprinzip, S. 78 ff., die das gesamte Recht als Maßstab nehmen. Esser, Vorverständnis, S. 175 ff. geht von einer Lücke aus, wenn die Problemzusammenhänge eine Regelung hätten erwarten lassen. Das hänge vorn Vorverständnis der Ordnungs bedürftigkeit ab, nicht von Behauptungen über den Plan des Gesetzes. Coing. Rechtsphilosophie, S. 282 spricht von einer Lücke, wenn im Gesetz eine gerechte und sachgemäße Lösung nicht zu finden ist. Ähnlich Zippelius, Methodenlehre, S. 59f., der danach fragt, ob das Gesetz aus Gründen der Gerechtigkeit ergänzungsbedürftig ist. 32 Larenz. Methodenlehre, S. 370ff., 373f.; ders .• FS für Henkel, S. 31,40. 33 Canaris, Lücken, S. 33f.; Engisch. Einführung, S. 138ff., 142; Larenz. Methodenlehre, S. 370ff., 374. 34 Larenz, Methodenlehre, S. 370ff., 374; vgl. auch Bydlinski. Methodenlehre, S. 473ff. 30

31

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Diese scheinbar enge Bindung an die Regelungsvorstellungen des Gesetzgebers wird aber aufgegeben, wenn das Kriterium der immanenten Teleologie des Gesetzes zum Sammelbecken solcher Argumente gemacht wird, die vom Willen des Gesetzgebers losgelöst sind. Zur immanenten Teleologie des Gesetzes sollen nicht nur die Absichten und bewußten Entscheidungen des Gesetzgebers zählen, sondern auch "objektive Rechtszwecke und allgemeine(n) Rechtsprinzipien, die in das Gesetz Eingang gefunden haben,,35. So soll z. B. der Gleichbehandlungsgrundsatz in jedem Gesetz enthalten sein, weil und soweit es "Recht" sein will 36. Damit wird Maßstab für die Lückenfeststellung letztlich das gesamte Recht einschließlich aller Prinzipien. Eine sinnvolle Begrenzung des Lückenbegriffs wird dadurch unmöglich 3? Der Regelungsplan des Gesetzgebers wird durch angebliche objektive Gesetzesinhalte zurückgedrängt. Indem man den Gleichbehandlungsgrundsatz und andere Rechtsprinzipien in die immanente Teleologie des Gesetzes einbezieht, vermeidet man zwar einen Konflikt zwischen diesen Prinzipien und der einzelnen Norm. Das geschieht aber um den Preis, daß man dem Gesetz Inhalte unterschiebt, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hatte. Ein Gesetz soll den Gleichbehandlungsgrundsatz und andere Rechtsprinzipien beachten. Das heißt aber nicht, daß man automatisch davon ausgehen kann, daß dies auch geschieht. Soweit der Gesetzgeber sich entsprechende Gedanken gemacht hat, sind diese Kriterien in seinen Regelungsplan eingegangen. Hat er diese Prinzipien aber mißachtet, so sollte dieser Konflikt nicht dadurch überspielt werden, daß man sie als ohnehin dem Gesetz innewohnend zugrundelegt. Durch ein solches Vorgehen würde das Sein durch das Sollen ersetzt. Mit dem weiten Lückenbegriff bezieht man zahlreiche Fälle in die sogenannte gesetzesimmanente Rechtsfortbildung ein, in denen der Plan des Gesetzgebers nicht über den Wortlaut hinaus durchgesetzt, sondern korrigiert wird. Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wird z. B. aus Gleichheitserwägungen im Wege der Analogie erweitert oder zugunsten eines allgemeinen Prinzips durch teleologische Reduktion eingeschränkt. Häufig liegt keine Lücke gemessen am gesetzgeberischen Plan vor. Statt dessen ist der Plan des Gesetzgebers gemessen an der Verfassung oder der sonstigen Rechtsordnung unvollkommen und soll entsprechend angepaßt werden. In solchen Fällen braucht man andere Gründe für die Rechtsfortbildung, als wenn tatsächlich das Regelungsziel des Gesetzgebers durchgesetzt werden soll. Diese verschiedenen Fallgruppen sollten also auch getrennt behandelt werden. Aus der unterschiedlichen Begründung der Larenz, Methodenlehre, S. 374f. Larenz. Methodenlehre, S. 374f. 37 Wank, ZGR 1988, S. 314, 321 f. Das sieht auch Göldner; Verfassungsprinzip, S. 216f., der die erforderliche Eingrenzung mit funktionellen Erwägungen zur Verfassungskonkretisierung und der Beachtung von "gesetzlichen Sperrnormen" vornehmen will. 35

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6*

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Rechtsfortbildung rechtfertigt sich die Anwendung des engen Lückenbegriffs, da nur innerhalb dieser Gruppe von Fällen von einer Ergänzung des Gesetzes nach dem Willen des Gesetzgebers gesprochen werden kann. Canaris benutzt zwar ebenfalls einen weiten Lückenbegriff, unterscheidet aber zwischen Lücken im engeren Sinne und Lücken im weiteren Sinne 38 . Lücken im engeren Sinne könnten nach der immanenten Teleologie des Gesetzes geschlossen werden. Dagegen fülle man Lücken im weiteren Sinne losgelöst von der Teleologie des Gesetzes aus. Im ersten Fall gehe es um eine gesetzesimmanente, im zweiten Fall um eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung 39 . Voraussetzung für die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung sei, daß eine Rechtsfrage besteht, die nicht durch eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung beantwortet werden kann4o . Weiterhin komme es darauf an, ob eine Lücke im weiteren Sinne vorliege, oder ob es um ein contra-Iegem-Judizieren gehe. Eine Lücke im weiteren Sinne sei gegeben, wenn zwar nicht der Plan des Gesetzes eine Unvollständigkeit erkennen läßt, wohl aber der Maßstab der Gesamtrechtsordnung. Eine Rechtsfortbildung sei in diesen Fällen zulässig, wenn rechtliche Kriterien, insbesondere allgemeine Rechtsprinzipien, sie legitimieren. Ein daruberhinausgehendes contra-Iegem-Judizieren will Canaris nur zulassen, wenn ein Rechtsnotstand droht41 • Obwohl Canaris durch die Differenzierung zwischen engen und weiten Lücken gegenüber der herrschenden Lehre stärker strukturiert, ist auch sein Lückenbegriff nach dem hier vertretenen Ansatz zu weit. Ein nur am Maßstab der Gesamtrechtsordnung behebungsbedürftiges Fehlen einer Regelung ist anders zu beurteilen als eine nach der Regelungsabsicht eines Gesetzgebers plan widrige Lücke. Deshalb soll hier der enge Lückenbegriff verwandt werden, nach dem eine Lücke nur gegeben ist, wenn das Gesetz gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers unvollständig ist. 2. Arten von Lücken Die Lücken werden üblicherweise unter verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt. Man unterscheidet zwischen anfänglichen und nachträglichen, bewußten und unbewußten, offenen und verdeckten Lücken.

38 Larenz/ Canaris, Lücken, S. 35 ff. 39 Larenz/Canaris, 40 Larenz/Canaris, 41 Larenz/ Canaris,

Methodenlehre, S. 198, 245 ff.; sinngemäß bereits Canaris, Methodenlehre, S. 245. Methodenlehre, S. 245f. Methodenlehre, S. 246, 251 f.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

85

a) Nachträgliche Lücken aa) Die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse

Nachträgliche Lücken sind solche, bei denen die Unvollständigkeit des Gesetzes erst nach Erlaß des Gesetzes entstanden ist42 . Sie können u. a. durch eine Veränderung der tatsächlichen Umstände entstehen. Als Beispiel kann der Fuhrwerkfall des BGH aus dem Jahre 1957 dienen 43 . Nach § 3 Nr. 6 des Preußischen Gesetzes betreffend den Forstdiebstahl vom 15.4.1878 war beim Holzdiebstahl die Strafe zu verschärfen, wenn der Täter "zum Zwecke des Forstdiebstahls ein bespanntes Fuhrwerk, ein(en) Kahn oder ein Lasttier" mitführte. Der BGH hatte im Jahre 1957 nach diesem Gesetz eine Tat zu beurteilen, bei der der Täter ein Kfz benutzte. Im Wege der Auslegung kann man das Mitführen eines Kfz nicht als Anwendungsfall des § 3 Nr. 6 des Preußischen Gesetzes betreffend den Forstdiebstahl verstehen. Nach der herrschenden Meinung bildet der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung 44 . Unter einem bespannten Fuhrwerk ist aber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kein Kfz zu verstehen. Demnach war die Strafschärfung nicht erfüllt. Auch nach der hier vertretenen Ansicht, nach der es auf den Willen des Gesetzgebers ankommt, kommt man mit Auslegung nicht ans Ziel. Der Gesetzgeber des Jahres 1878 hatte nicht die Absicht, auch den Fall des Forstdiebstahls mit Hilfe eines Kfz zu regeln. Kraftwagen standen zu dieser Zeit am Beginn ihrer Entwicklung und waren kein vom Gesetzgeber zu berücksichtigendes Transportmittel. Es kommt also lediglich eine Rechtsfortbildung in Betracht. Dabei sei hier das strafrechtliche Analogieverbot außen vor gelassen. Es geht hier lediglich um die Frage, ob eine Gesetzeslücke vorliegt. Obwohl man keine unmittelbare Absicht zur Regelung dieses Falles erkennen kann, könnte er nach dem gesetzgeberischen Plan in die bestehende Regelung einzubeziehen sein. Das Gesetz könnte hier gemessen an der Absicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne lückenhaft sein. Mit dem Begriff der Absicht im weiteren Sinne sind die Erwägungen gemeint, die hinter der Normierung bestimmter Fallgruppen stehen. Letzteres ist bei Schaffung des Gesetzes die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im engeren Sinne. Es geht ihm einmal um die Schaffung einer bestimmten Norm mit konkreten Tatbestandsmerkmalen. Dahinter stehen aber weitergehende Erwägungen zum Zustand vor Erlaß des neuen Gesetzes, zu den beteiligten Interessen, der gerechtesten oder zweckmäßigsten Regelung (Absicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne). Diese ganzen Vorüberlegungen werden in 42 Canaris, Lücken, S. 135; Engisch, Einführung, S. 145; Larenz, Methodenlehre, S.379. 43 BGH, Urt. v. 13.9.1957, BGHSt 10, S. 375. 44 Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 1. b).

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

eine vergleichsweise kurze Norm gezwängt, die den maßgeblichen Erwägungen möglicherweise nicht genug Raum läßt. So läßt sich im Fuhrwerkfall die Intention des Gesetzgebers ermitteln, den Diebstahl mit Hilfe von Transportmitteln, die es ermöglichen, größere Mengen zügig fortzuschaffen, strenger zu bestrafen als das Grunddelikt. Die Strafschärfung in den aufgezählten Fällen der Nr. 6 wurde außerdem mit der größeren Leichtigkeit der Flucht und erhöhten Schäden am Holz begründet45 . Diese Hintergrundüberlegungen müssen herangezogen werden, um festzustellen, ob das Gesetz lückenhaft ist. An ihnen wird die Vollständigkeit der Regelung überprüft. Im Fuhrwerkfall sind Kfz den aufgezählten Hilfsmitteln vergleichbar. Sie werden ohne weiteres von der Absicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne erfaßt. Die gesetzgeberischen Erwägungen für die Strafschärfung treffen auf sie genauso, wenn nicht noch stärker zu. Die Rechtsfortbildung wäre dennoch verboten, wenn der Gesetzgeber die gewünschte Regelung bewußt nicht getroffen hat. Ist nach der gesetzgeberischen Absicht der fragliche Fall bewußt ausgeschlossen, so liegt keine plan widrige Regelungslücke vor. Eine Rechtsfortbildung im Wege der Lückenfüllung kommt dann nicht in Betracht. Für den Gesetzgeber des Preußischen Gesetzes betreffend den Forstdiebstahl stellte sich das Problem des Diebstahls mit Kfz aber überhaupt nicht, es trat erst durch eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse auf. Die Nichtregelung dieses Falles beruht also nicht auf einer bewußten Entscheidung des Gesetzgebers. Im Fall der Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse greift man zur Lückenfeststellung also auf die gesetzgeberische Regelungsabsicht im weiteren Sinne zurück und fragt, ob der Gesetzgeber den fraglichen Fall einbezogen hätte, wenn er ihn hätte voraussehen können. bb) Die Veränderung der rechtlichen Verhältnisse

Zu untersuchen ist noch, ob eine nachträgliche Regelungslücke auch durch eine Veränderung des rechtlichen Umfeldes einer Norm auftreten kann46 . Hierbei sind zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden. Im ersten Fall kollidiert die ältere Norm in einem Teilbereich mit einer neueren Vorschrift. Bei der älteren Norm besteht dann Anpassungsbedarf, weil sonst die Regelung des neueren Gesetzes nicht planmäßig wirken kann. Als Beispielsfall kann hier § 620 Abs. 1 BGB dienen, dessen Anwendungsbereich für Arbeitsverhältnisse eingeschränkt wird, soweit eine Umgehung zwingender 45 Drucks. des Herrenhauses, Session 187 11, Nr. 9, S. 10; Drucks. des Abgeordnetenhauses, 2. Session 1877 - 1878, 2. Band, Nr. 212, S. 1550. 46 Bejahend Canaris, Lücken, S. 135; Larenz, FS für Henkel, S. 31, 41. Bydlinski, Methodenlehre, S. 585 ff spricht allein bei dieser Fallgestaltung von nachträglichen Lücken.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Kündigungsschutzvorschriften zu befürchten ist. Arbeitsverhältnisse, die dem Kündigungsschutzgesetz oder Sonderkündigungsschutzbestimmungen unterliegen, endigen nur dann mit Ablauf der Zeit, für die sie eingegangen sind, wenn ein sachlicher Grund für die Befristung gegeben ist47 • Der Gesetzgeber des BGB hatte allerdings nicht die Absicht, Befristungen von Arbeitsverhältnissen in irgendeiner Weise zu beschränken. Ihm ging es schlicht um eine Beendigungsregelung für Dienstverhältnisse (die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Dienstverhältnissen traf man noch nicht). Die Regelung des § 620 Abs. 1 BGB galt als selbstverständlich48 . Erst mit der Einführung eines weitreichenden allgemeinen Kündigungsschutzes und verschiedener besonderer Kündigungsschutzvorschriften trat das Problem der Begrenzung von Befristungen auf. Die Unvollständigkeit des BGB besteht demnach nicht gemessen an der Regelungsabsicht des ursprünglichen Gesetzgebers, sondern ergibt sich erst aus der Regelungsabsicht der Gesetzgebers des Kündigungschutzgesetzes und der Sonderkündigungsschutzbestimmungen. In diesem Fall kann man zwar auch mit den Absichten eines Gesetzgebers argumentieren. Es sind aber nicht die Absichten des Gesetzgebers, der das fortzubildende Gesetz erlassen hat. Sollte es sich in einem anderen Fall doch um denselben Gesetzgeber handeln, so sind es doch andere, spätere Absichten, die gegenüber dem Regelungsplan des ersten Gesetzes angeführt werden. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der Unvollständigkeit des Gesetzes durch nachträgliche rechtliche Veränderungen von dem der Unvollständigkeit durch nachträgliche tatsächliche Veränderungen. Im letztgenannten Fall kommen nur die Absichten eines Gesetzgebers zu ein und demselben Gesetz zum Tragen, bei rechtlichen Veränderungen hat man es mit mindestens zwei Regelungsplänen eines oder mehrerer Gesetzgeber zu tun. Man kann hier nicht von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen an der Absicht des Gesetzgebers des fortzubildenden Gesetzes sprechen49 . Eine Lücke im Sinne des engen Lückenbegriffes liegt nicht vor. Im zweiten Fall gerät die ältere Norm nicht mit einer jüngeren in Konflikt. Es geht vielmehr darum, daß durch eine rechtliche Veränderung die ältere Regelung durchkreuzt wird. So z. B. in folgendem hypothetischen Fall: Ein Gesetz sieht vor, daß Eltern, deren Einkommen unter einer 47 BAG, Urt. v. 12.10.1960, AP Nr. 16 zu § 620 BGB Befristetes Arbeitsverhältnis; seitdem ständige Rechtsprechung: BAG, Urt. v. 2.8.1978, AP Nr. 46 zu § 620 BGB Befristetes Arbeitsverhältnis; BAG, Urt. v. 29.8.1979, AP Nr. 50 zu § 620 BGB Befristetes Arbeitsverhältnis; BAG, Urt. v. 14.1.1982, AP Nr. 64 zu § 620 BGB Befristetes Arbeitsverhältnis; BAG, Urt. v. 4.4.1990, AP Nr. 136 zu § 620 BGB Befristetes Arbeitsverhältnis; MünchArbR-Wank, § 113, Rdnr. 9, I1ff. 48 Vgl. die Protokolle der 1. Kommission zur Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuchs (1881 - 1889), zitiert nach Jakobs/Schubert, Beratung, S. 793. 49 Bydlinski, Methodenlehre, S. 585.

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1.' Teil: Die Interpretation von Gesetzen

bestimmten Grenze liegt und deren jüngstes Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat, gegen den Staat einen Anspruch auf ganztägige Betreuung ihrer Kinder haben. Das soll allerdings nur dann gelten, wenn vor der Geburt des Kindes beide Elternteile berufstätig waren 50 . Nach der erkennbaren Regelungsabsicht des Gesetzgebers soll diese Vorschrift dazu dienen, dem Elternteil, das Erziehungsurlaub genommen hat, direkt im Anschluß daran den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen, damit es zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann. Deshalb wurde eine Altersgrenze von drei Jahren ausgewählt. Wird später der Erziehungsurlaub auf zwei Jahre herabgesetzt und der Anspruchszeitraum für das Erziehungsgeld ebenfalls entsprechend verkürzt, so wird die Regelungsabsicht des Gesetzgebers des Gesetzes, das den direkten Wiedereinstieg in den Beruf ermöglichen soll, durchkreuzt. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht im engeren Sinne, einen Anspruch nach drei Jahren zu gewähren, deckt die gesetzgeberische Regelungsabsicht im weiteren Sinne nicht mehr ab. Im Gesetz entsteht gemessen an dem ihm zugrundeliegenden Regelungsplan eine Lücke. Eine nachträgliche Regelungslücke kann also durch die Veränderung des tatsächlichen oder des rechtlichen Umfeldes einer Norm entstehen. Bei den rechtlichen Veränderungen ist aber genau zu prüfen, ob die ältere Norm gemessen am Regelungsplan ihres Gesetzgebers unvollständig wird, oder ob sie mit der neueren Regelung kollidiert und deshalb angepaßt werden soll. Im zuletztgenannten Fall liegt keine Lücke im Sinne des engen Lükkenbegriffs vor. b) Anfängliche Lücken Eine Regelungslücke kann aber nicht nur nachträglich entstehen. Eine Unvollständigkeit gemessen an der Regelungsabsicht im weiteren Sinne kann auch von Anfang bestehen (anfängliche Regelungslücke)51. Als Beispiel läßt sich § 571 Abs. 2 S. 1 BGB anführen52 . Diese Norm gilt gern. § 581 Abs. 2 BGB auch für Pachtverträge. Dem BGH lag 1968 ein Fall vor, in dem es um eine Vergütung für Gebäude ging, die ein Pächter auf einem gepachteten Grundstück errichtet hatte53 . Die Vertragsparteien hatten für den Fall der Kündigung durch den Verpächter eine solche Vergütung vorgesehen. Der Verpächter veräußerte das Grundstück an einen Dritten, 50 Der Einfachheit halber sollen hier sonstige Personen, die nach dem BErzGG Anspruch auf Erziehungsgeld haben, außer Betracht bleiben. Die genaue Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen ist hier ebenfalls nicht von Interesse. 51 Canaris, Lücken, S. 135; Engisch, Einführung, S. 145; Larenz, Methodenlehre, S. 379 52 Beispiel nach Larenz, Methodenlehre, S. 382 f. 53 BGH, Drt. v. 18.12.1968, BGHZ 51, S. 273.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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der dem Pächter zum nächsten Termin kündigte, ihm aber keine Vergütung für die errichteten Gebäude zahlen wollte. Der Pächter wollte daraufhin den ursprünglichen Verpächter in Anspruch nehmen. Durch Auslegung läßt sich der Anspruch weder nach der herrschenden Meinung noch nach der hier vertretenen Ansicht begründen. Nach herrschender Auffassung ist Grenze der Auslegung der mögliche Wortsinn54 . Weder nach allgemeinem Sprachgebrauch noch nach üblichem juristischen Sprachverständnis ist der Anspruch des Pächters gegen den Dritten ein Schadensersatzanspruch. § 571 Abs. 2 S. 1 BGB erwähnt aber nur die Haftung des Veräußeres für vom Erwerber zu ersetzenden Schäden. Demnach kommt eine Auslegung des § 571 Abs. 2 S. 1 BGB in dem Sinne, daß der Veräußerer auch für von Anfang an als solche bestehende Geldleistungspflichten des Erwerbers haftet, nicht in Betracht. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt es auf den Willen des Gesetzgebers an. Seine Regelungsabsicht (im engeren Sinne) bezog sich aber lediglich auf die Haftung des Veräußerers für Schadensersatzpflichten des Erwerbers55 . An ursprüngliche Geldleistungspflichten des Erwerbers hat der Gesetzgeber offensichtlich nicht gedacht. Ein Anspruch des Pächters gegen den Veräußerer kann hier also nur im Wege der Rechtsfortbildung begründet werden. Will man sich auf die Ausfüllung einer Gesetzeslücke berufen, so müßte man aus der Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne entnehmen können, daß die Nichterfüllung einer ursprünglichen Geldleistungspflicht ebenfalls die Haftung des Veräußeres begründen müßte. Ein solcher Anspruch dürfte auch nicht bewußt verworfen worden sein. Der Gesetzgeber hat sich nicht bewußt gegen einen solchen Anspruch des Pächters gegen den Veräußerer ausgesprochen. Der Grund für die Regelung des § 571 Abs. 2 S. 1 BGB lag darin, daß der ursprüngliche Vermieter sich nicht durch die Veräußerung des Grundstücks seinen Vertragspflichten entziehen können soll56. Der Mieter soll nicht der Gefahr ausgesetzt werden, daß er seine Ansprüche gegen einen möglicherweise zahlungsunfähigen Erwerber nicht realisieren kann. Der ursprüngliche Vermieter kann zwar das Grundstück veräußern, hat dann aber auch für die Nichterfüllung der Vermieterpflichten des Erwerbers zu haften. Bei dieser Begründung ist der Anspruch des Mieters nicht auf Schadensersatzansprüche gegen den Erwerber, für die der Veräußerer haften soll, beschränkt. Die "Nichterfüllung der Vermieterpflichten" umfaßt auch solche Verpflichtungen, die von vornherein auf eine Geldleistung gehen, also keine Schadensersatzansprüche darstellen. Bei der Gesetzesfassung wurde dann aber eine Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 1. b). Protokolle der Vorkommission des Reichs-Justizamts (1891 - 1893), zitiert nach Jakobs/Schubert, Beratung, S. 592. 56 Protokolle der Vorkommission des Reichs-Justizamts (1891 - 1893), zitiert nach Jakobs/Schubert, Beratung, S. 592. 54 55

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Formulierung gewählt, die nur den typischen Fall der Nichterfüllung solcher Pflichten des Vermieters umfaßt, die ursprünglich nicht in einer Geldleistung bestehen. Eine Geldschuld entsteht hier erst als Sekundärpflicht, als Schadensersatzpflicht. Aus dieser Gesetzesfassung läßt sich aber nicht ablesen, daß die Haftung des Veräußeres bewußt nicht auf ursprüngliche Geldleistungsansprüche des Mieters gegen den Erwerber erstreckt wurde. Vielmehr wurde bei der Regelung des typischen Falles der atypische übersehen und das weitere Regelungsprogramm nicht in eine adäquate Formulierung gebracht. Nach der gesetzgeberischen Absicht im weiteren Sinne haftet der Veräußerer auch für ursprüngliche Geldleistungspflichten des Erwerbers aus dem Mietvertrag. Es besteht also eine Gesetzeslücke. Diese Lücke war bereits bei der Schaffung der Norm gegeben. Es handelt sich um eine anfängliche Regelungslücke. Auch nach dem engen Lückenbegriff kann es demnach anfängliche und nachträgliche Lücken im Gesetz geben, wie sie die herrschende Meinung unterscheidet. Die nachträglichen Lücken entstehen durch Veränderungen im tatsächlichen Umfeld einer Norm, zum Teil auch durch rechtliche Veränderungen. Anfangliche Lücken treten auf, wenn die Umsetzung der gesetzgeberischen Absichten im weiteren Sinne nicht gelingt.

c) Bewußte und unbewußte Lücken Eine weitere Einteilung, die üblicherweise stattfindet, bezieht sich darauf, ob die Lücke dem Gesetzgeber bewußt war, oder ob sie unbewußt auftrat 57 . Eine anfängliche unbewußte Lücke ist im Fall des § 571 Abs. 2 S. 1 BGB gegeben. Eine "anfängliche bewußte Regelungslücke" ist keine Lücke im Sinne des engen Lückenbegriffs58 . Das Gesetz ist zwar unvollständig, weil eine zu regelnde Frage offen gelassen wurde. Die Unvollständigkeit ist aber nicht planwidrig: Es fehlt nicht an einer bestimmten Regelung nach der Absicht des Gesetzgebers59 . Die Frage ist zwar zu entscheiden, dabei kann man aber nicht auf eine bestimmte Regelungsabsicht des Gesetzgebers zurückgreifen. Es liegt eben keine erkennbare Inhaltsvorstellung des Gesetzgebers vor, nach der die Regelung ausgefüllt werden könnte.

57 Canaris, Lücken, S. 134f.; Engisch, Einführung, S. 141; Larenz, Methodenlehre, S. 379. 58 A. A. Canaris, Lücken, S. 134 f.; Engisch, Einführung, S. 141; Larenz, Methodenlehre, S. 379, wobei letztere auf die Nähe zum unbestimmten Rechtsbegriff hinweisen, der durch Auslegung zu konkretisieren ist. 59 Canaris, Lücken, S. 134 f. verlangt ebenfalls, daß die bewußte Lücke planwidrig ist, hält diesen Fall aber auch für möglich.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Bei den nachträglichen Lücken wird die Unterscheidung zwischen bewußten und unbewußten Lücken nicht gemacht60, obwohl sie auch hier logisch möglich ist. Bewußt ist eine nachträgliche Lücke dann, wenn sie dem Gesetzgeber bekannt wird. Dabei kann es sich um einen anderen Gesetzgeber als im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes handeln. Die Unterscheidung ist für die Feststellung nachträglicher Lücken allerdings ohne Bedeutung. Jede nachträgliche Regelungslücke ist zunächst eine unbewußte Lücke. Auch wenn sie dem Gesetzgeber bewußt wird, bleibt es bei einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Allerdings kann es Einfluß auf die Lückenausfüllung haben, wenn der (neuere) Gesetzgeber die Lücke entdeckt und sich dazu äußert61 . d) Offene und verdeckte Lücken Eine weitere Unterscheidung geht dahin, ob die Lücke offen oder verdeckt ist. Von einer offenen Lücke spricht man, wenn für eine Fallgruppe eine anwendbare Norm fehlt, während bei der verdeckten Lücke eine Regelung gegeben ist, dieser aber eine Einschränkung hinzugefügt werden müßte62 . Eine nachträgliche offene Lücke bestand in der Regelung des § 3 Nr. 6 des Preußischen Gesetzes betreffend den Forstdiebstahl 63 . Eine anfängliche offene Lücke ist bei § 571 Abs. 2 S. 1 BGB hinsichtlich primärer Geldleistungspflichten des Erwerbers gegeben64 . Als Beispiel für eine nachträgliche verdeckte Lücke wird von Larenz der Tonbandfall des BGH aus dem Jahr 1955 angeführt65 . Gern. § 11 Abs. Abs. 1 des Gesetzes über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst vom 19.06.1901 66 hatte der Urheber eines Werkes die ausschließliche Befugnis zur Vervielfältigung und Verbreitung seines Werkes. Ergänzend waren nach § 15 Abs. 1 des Gesetzes Vervielfältigungen ohne Einwilligung des Urhebers verboten. § 15 Abs. 2 desselben Gesetzes machte hiervon aber eine Ausnahme. Danach waren VervielfäItigungen von Werken der Literatur oder der Tonkunst ohne Erlaubnis des Urhebers zulässig, wenn sie allein dem persönlichen Gebrauch und nicht der Erzielung von Einnahmen dienen sollten. Der BGH hatte zu entscheiden, ob diese Ausnahme zum VervielfälCanaris, Lücken, S. 134; Larenz, Methodenlehre, S. 379. Wank, Rechtsfortbildung, S. 229 ff. spricht plastisch von einer Sperrwirkung bevorstehender Gesetze. 62 Canaris, Lücken, S. 136f.; Larenz, Methodenlehre, S. 377. 63 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. D. I. 2. a) aa). 64 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. D.I.2.b). 65 BGH, Vrt. v. 18.5.1955, BGHZ 17, S. 266; dazu Larenz, Methodenlehre, S. 379f. 66 Das Gesetz wurde erst 1965 durch das Vrheberrechtsgesetz abgelöst. 60

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

tigungsverbot des § 15 Abs. 1 des Gesetzes über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst vom 19.06.1901 auch im Falle der Aufnahme eines Werkes auf Tonband galt. Zunächst ist zu klären, ob es sich bei einer Tonbandaufnahme überhaupt um eine Vervielfältigung des Werkes im Sinne des Gesetzes handelt. Daß dies der Fall ist, ergibt sich aus der Fassung des § 22 bei Erlaß des Gesetzes. Dessen Satz 1 handelte von zulässigen Vervielfältigungen durch Übertragung eines Werkes auf "Scheiben, Platten Walzen, Bänder und ähnliche Bestandtheile von Instrumenten ... , welche zur mechanischen Wiedergabe von Musikstücken dienen". Daraus ergibt sich, daß es sich bei einer solchen Übertragung um eine Vervielfältigung des Werkes im Sinne des Gesetzes handelt. Gleiches gilt dann für die Vervielfältigung einer solchen Aufnahme 67 • Nach dem Wortlaut der Ausnahmevorschrift war diese Fallgestaltung also abgedeckt, so daß nach dem Auslegungsbegriff der herrschenden Meinung nur eine Rechtsfortbildung in Betracht kam. Auch wenn man nach dem Willen des Gesetzgebers fragt, fielen Tonbandaufnahmen zum privaten Gebrauch in den Bereich der erlaubnisfreien Vervielfältigung. Zwar war diese Technik bei Erlaß des Gesetzes noch gar nicht bekannt. Der Gesetzgeber wollte aber nicht nach den unterschiedlichen Vervielfältigungstechniken unterscheiden, sondern allein danach, ob die Vervielfältigung nur dem privaten Gebrauch und nicht der Erzielung von Einnahmen dienen sollte68 . Bei einer solchen Gesetzesfassung waren auch neu hinzukommende Techniken von der Regelungsabsicht des Gesetzgebers im engeren Sinne abgedeckt. Das Gesetz war allerdings gemessen an der gesetzgeberischen Regelungsabsicht im weiteren Sinne lückenhaft. Eine Lücke ist gegeben, wenn nach dem Regelungsplan des Gesetzgebers eine Einschränkung für Tonbandaufnahmen im Gesetz enthalten sein müßte. Eine ausdrückliche Ablehnung einer solchen Einschränkung durch den Gesetzgeber konnte es 1901 mangels der Existenz von Tonbändern noch nicht geben. Bei der Schaffung der Ausnahmevorschrift hatte der Gesetzgeber einzelne Personen oder Kleingruppen im Blick, die Gedichte oder Noten abschreiben wollen, um sie in kleinem, privatem Kreis zu benutzen69 . Wirtschaftliche Einbußen für den Urheber 67 Vgl. dazu auch die Begründung zum neuen § 12 Abs. 2 Nr. 5 der Novelle vom 12. Mai 1910, Verhandlungen des Reichstags, XII. Legislaturperiode, 11. Session, Band 275, Nr. 341, S. 1789. 68 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, Verhandlungen des Reichstags, X. Legislaturperiode, 11. Session, 1. Anlagenband, Nr. 97, S. 398 f. 69 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, Verhandlungen des Reichstags, X. Legislaturperiode, 11. Session, 1. Anlagenband, Nr. 97, S. 398 f. und den Bericht der XI. Kommission über den Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, Verhandlungen des Reichstags, X. Legislaturperiode, 11. Session, 2. Anlagenband, Nr. 214, S. 1282f.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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waren dadurch nicht zu befürchten, da Duplikate von Privatpersonen in gleicher Qualität wie das Original nicht oder jedenfalls nicht mit vertretbarem Zeitaufwand hergestellt werden konnten 7o • Deshalb war die "Kopie" nur ein Notbehelf. Eine Konkurrenz zum verlegten Werk war nicht zu befürchten. Bei den Abschriften war außerdem an Auszüge gedacht, die das ganze Werk nicht ersetzen konnten und so für das ganze Werk auch keine Konkurrenz darstellen konnten71 . Die grundSätzliche Koppelung von Verbreitung des Werkes und Einnahmenerzielung war also durch die Ausnahmevorschrift nicht gefährdet. Mit der Entwicklung des Tonbandes entstand aber für die breite Masse eine Möglichkeit, ohne großen Aufwand selbst eine Kopie einer Aufführung herzustellen, die qualitativ einer Schallplattenaufnahme vergleichbar ist. Dadurch trat eine Konkurrenz zum verlegten Werk auf, die auch bei nur privatem Gebrauch geeignet war, wirtschaftliche Einbußen des Urhebers zu bewirken. Bei qualitativ hochwertigen Bandaufnahmen war mit einem Rückgang des Plattenverkaufs zu rechnen 72 • Dadurch daß die Kopie anders als zuvor gut genug war, um das Original ohne Unannehmlichkeiten für den Benutzer zu ersetzen, entgingen dem Urheber Einnahmen aus dem Verkauf des verlegten Werkes. Die Möglichkeiten zur privaten Vervielfältigung hatten sich gegenüber dem Stand von 1900 derart verbessert, daß die Unterscheidung zwischen privater und gewerblicher Nutzung allein zur Sicherung der berechtigten wirtschaftlichen Interessen des Urhebers nicht mehr genügte. Das gleiche Problem trat etwas später hinsichtlich der Photokopiergeräte auf, die schnelle, qualitativ hochwertige Duplikate von Druckwerken möglich machten. Mit der allgemeinen Zugänglichkeit solcher Geräte und der immer günstigeren Preisgestaltung wurden Kopien zur echten Konkurrenz gegenüber dem verlegten Werk. Diese Entwicklung war für den Gesetzgeber des Jahres 1901 nicht vorhersehbar. Es kam zu einer nachträglichen Verschiebung seines Interessenausgleichs 73. Wurde zunächst das wirtschaftliche Interesse des Urhebers durch Vervielfaltigungen zum privaten Gebrauch nicht erheblich beeinträchtigt, so änderte sich diese Sachlage mit der Entstehung einfacher, preisgünstiger Vervielfältigungsmöglichkeiten. Es war aber die Absicht des Gesetzgebers, den wirtschaftlichen Nutzen aus einem Werk dem Urheber zu überlassen 74 . Die BGH, Urt. v. 18.5.1955, BGHZ 17, S. 266, 285f. Vgl. den Bericht der XI. Kommission über den Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, Verhandlungen des Reichstags, X. Legislaturperiode, 11. Session, 2. Anlagenband, Nr. 214, S. 1282f. 72 BGH,Urt. v. 18.5.1955, BGHZ 17, S. 266, 289. 73 Zu der Maßgeblichkeit der gesetzgeberischen Interessenabwägung BGH, Urt. v. 18.5.1955, BGHZ 17, S. 266,276. 74 Vgl. dazu § 11 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, die Begründung zu diesem § 11 und die Begründung zu § 15 des Gesetzes, Verhandlungen des Reichstags, X. Legislaturperiode, 11. Session, 1. Anlagenband, Nr. 97, S. 395 ff., 398 f. 70

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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Ausnahmevorschrift des § 15 Abs. 2 des Gesetzes über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst vom 19.06. 1901 konnte deshalb in dieser Form nicht bestehen bleiben. Es fehlte nach dem Regelungsplan des Gesetzgebers eine Einschränkung der freien, unentgeltlichen Vervielfältigung im privaten Bereich. Damit war eine nachträgliche verdeckte Regelungslücke aufgetreten. Diese Lücke wurde vom BGH dadurch ausgefüllt, daß § 15 Abs. 2 des Gesetzes über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst vom 19.06. 1901 auf Tonbandaufnahmen nicht angewandt wurde75. Eine entsprechende Regelung ist heute in den §§ 53 ff. des Urheberrechtsgesetzes enthalten. e) Zusammenfassung zu den Lückenarten Damit sind Lückenfälle im Sinne des engen Lückenbegriffs die Fälle der nachträglichen Regelungslücke aufgrund der Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse und die Fälle der anfänglichen unbewußten Regelungslücke. Auch durch die Veränderung der rechtliche Verhältnisse können Lücken entstehen. Die "anfängliche bewußte Regelungslücke" ist gemäß dem engen Lückenbegriff keine Lücke. Mit der herrschenden Meinung ist zwischen offenen und verdeckten Lücken zu unterscheiden. 3. Die richterliche Kompetenz zur Ausfüllung von Gesetzeslücken (Das "Ob" der Lückenfüllung) Eine Gesetzeslücke ist nur dann gegeben, wenn eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen an der gesetzgeberischen Regelungsabsicht nachgewiesen werden kann. Zur Ausfüllung einer solchen Lücke kann sich der Richter also auf die erkennbare Absicht des Gesetzgebers stützen. Er ordnet sich den gesetzgeberischen Vorstellungen unter, so daß kein erheblicher Eingriff in die Kompetenzen der Legislative stattfindet. Auch unter dem Gesichtspunkt der sachgerechten Aufgabenwahmehmung76 wird der Richter durch eine solche Rechtsfortbildung nicht überfordert. Man darf aber nicht verkennen, daß die Lückenfeststellung und -füllung auch einen schöpferischen Anteil enthält. Schon bei der Feststellung der Absicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne existiert ein Interpretationsspielraum bei der Deutung der Materialien. Bei der Bewertung des ungeregelten Falles kommt ein weiteres schöpferisches Moment hinzu. Es muß entschieden werden, ob die ermittelte Absicht des Gesetzgebers den nichtgenannten Fall BGH, Urt. v. 18.5.1955, BGHZ 17, S. 266, 273ff. Dazu lpsen, Richterrecht, S. 134f.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 91 f., ders., ZGR 1988, S. 314,322. 75

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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erfaßt oder die nichtgenannte Ausnahme fordert. Immerhin geht es aber um eine Bewertung anhand des gesetzgeberischen Maßstabes. Die Wertung des Richters kann bei der Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen werden, sie kann nur möglichst eng an die Vorstellungen des Gesetzgebers angebunden werden. Im Fall der Lückenfüllung hat man mit dem Regelungsplan des Gesetzgebers einen besonderen Maßstab zur Verfügung. Durch diesen Maßstab wird die Rechtsfortbildung an den demokratisch legitimierten Gesetzgeber angekoppelt. Es wird der Wille des Gesetzgebers durchgesetzt. Allerdings existiert auch im Zeitpunkt der Rechtsfortbildung ein Gesetzgeber. Das kann ein neuer Gesetzgeber sein, es kann sich aber auch um denselben Gesetzgeber handeln, der das fortzubildende Gesetz erlassen hat. Diesem Gesetzgeber des Fortbildungszeitpunkts gegenüber muß ein Eingreifen des Richters gerechtfertigt werden. Die bloße Existenz eines (neuen) Gesetzgebers schließt aber die Rechtsfortbildung nicht aus. Solange dieser Gesetzgeber den Fall nicht selbst regelt oder eine solche Absicht zumindest zu erkennen gibt, bleibt der Wille des ursprünglichen Gesetzgebers maßgeblich. Dieser Wille wird ja auch bei Auslegungsfragen nicht automatisch durch die Vorstellungen des neuen Gesetzgebers ersetzt. Es bestehen immer Gesetze mit Regelungsplänen unterschiedlicher Gesetzgeber nebeneinander. Es ist also nicht ungewöhnlich, im Fortbildungszeitpunkt nach dem Willen des alten Gesetzgebers zu fragen 77. Außerdem hat der gegenwärtige Gesetzgeber nicht zu allen vor seiner Zeit erlassenen Gesetzen eigene Sinnvorstellungen und Regelungspläne. Wäre der Richter also allein auf den neuen Gesetzgeber verwiesen, würde ihm in der Regel der Maßstab für die Lükkenfeststellung und -füllung fehlen. 4. Die Art und Weise der Lückenfüllung Die Rechtsfortbildungsbefugnis des Richters stützt sich bei der Lückenfüllung darauf, daß eine Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen am gesetzgeberischen Plan gegeben ist. Daraus ergibt sich die Art und Weise der Lückenfüllung. Der Richter darf nur notwendige Ergänzungen oder Einschränkungen vornehmen. Er ist dabei an den Regelungsplan des Gesetzgebers gebunden. Aus diesem Plan leitet er ab, welche Regelung der Gesetzgeber bei der vollständigen und konsequenten Umsetzung seiner Regelungs77 Für Wank, Rechtsfortbildung, S. 68 f. steht bei alten Gesetzen der Konflikt Richter - neuer Gesetzgeber im Vordergrund. Er will bei Anpassungsfragen nach dem Willen des neuen Gesetzgebers fragen. Das Erkenntnisproblem beim jungen Gesetz (Was will der Gesetzgeber?) gehe beim alten in eine Kompetenzfrage über. Es gehe dann darum, ob der Richter oder der Gesetzgeber die Anpassung vornehmen soll.

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

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absicht getroffen hätte. Die Regelung muß sich in das System des geregelten Sachbereichs einpassen78. Hier zeigt sich auch noch 'einmal der Vorteil des engen Lückenbegriffs. Mit dem weiten Lückenbegriff vergibt man die Möglichkeit, sich bei der Ausfüllung solcher Unvollständigkeiten, die sich aus der Regelungsabsicht des Gesetzgebers ergeben, auf diese Absicht zu stützen. Argumentiert man mit dem Regelungsplan des Gesetzgebers, so bindet man nicht nur das "Ob" der Lückenfüllung sondern auch das "Wie" eng an die gesetzgeberischen Vorstellungen. Die Legitimation der richterlichen Rechtsfortbildung wird dadurch erleichtert. Diese Argumentation versperrt man sich, wenn Lücken auch mit Hilfe aller möglichen anderen Kriterien festgestellt werden können. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Norm erfolgt durch Analogie; die Rechtsfolge des geregelten Falles wird auf den ungeregelten Fall angewandt79 • Die Einschränkung einer Norm geschieht durch teleologische Reduktion, d. h., daß ihre Rechtsfolge nicht auf Fälle angewandt wird, die nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne ausgeschlossen sein müßten 80 . 11. Die Ausfüllung anfänglicher bewußter "Lücken" Eine "anfängliche bewußte Regelungslücke" ist keine Lücke im Sinne des engen Lückenbegriffs. Trotzdem stellt sich die Frage, ob und wie der Richter in solchen Fällen den Inhalt der Norm bestimmen darf. Im Gesetz treten anfängliche bewußte "Lücken" als unbestimmte Gesetzesfassungen oder Generalklausein auf. Die Inhaltsfestsetzung richtet sich also nach den hierzu entwickelten Kriterien. Es handelt sich dabei nicht um eine Rechtsfortbildung im hier zugrundegelegten Sinne, da es nicht um eine Abweichung vom gesetzgeberischen Willen geht. Es muß vielmehr erst eine Inhaltsfestsetzung vorgenommen werden. Das Problem liegt weniger bei der Ausfüllung der Norm durch den Richter, als bei der vorhergehenden Delegation VOn Rechtssetzungsaufgaben durch den Gesetzgeber81 .

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Wank, RdA 1987, S. 129, 155ff. Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff. Canaris, Lücken, S. 83; Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff. Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. D.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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111. Rechtsfortbildung bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen

1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung

Nachträgliche rechtliche Veränderungen führen zum Teil dazu, daß das Gesetz lückenhaft wird. In anderen Fällen beruht der Wunsch, vom Auslegungsergebnis abzuweichen, aber nicht auf dem Regelungsplan des Gesetzgebers der Norm, sondern auf den Absichten des oder der späteren Gesetzgeber, die die rechtlichen Veränderungen hervorgerufen haben82 . Eine Regelungslücke ist bei einem solchen Sachverhalt nicht gegeben. Ein Regelungsbedarf besteht deshalb aber nicht weniger dringend als bei der Lückenfüllung. Wenn das alte Gesetz die Regelungen neuerer Gesetze zu untergraben droht, stehen sich zwei (oder mehr) gesetzgeberische Willen gegenüber, die ihre Durchsetzung verlangen. So ist z. B. die Effektivität des Kündigungsschutzgesetzes gefährdet, wenn § 620 Abs. I BGB in seiner alten Auslegung beibehalten wird. Andererseits wird der Wille des Gesetzgebers des § 620 BGB nur teilweise beachtet, wenn man ihn den neuen Gesetzen zum Kündigungsschutz anpaßt. Die Rechtfertigung für eine Abweichung vom Willen des Gesetzgebers des älteren Gesetzes ergibt sich daraus, daß der neuere Gesetzgeber grundsätzlich Vorrang genießt 83 • Er könnte jede ältere Regelung seinen Vorstellungen entsprechend ändern. Das geschieht allerdings aus Zeitgründen nicht und weil der Änderungsbedarf nicht immer erkannt wird 84 . Auch die Weiterentwicklung eines Rechtsprinzips kann dazu führen, daß bei bestehenden Vorschriften Anpassungsbedarf entsteht. So ist z. B. § 254 BGB auch auf Schadensfälle anzuwenden, in denen auf Seiten des Geschädigten eine Sach- oder Betriebsgefahr mitgewirkt hat85 • Eine solche Ausdehnung des § 254 BGB ist möglich, weil sich nach der Schaffung des BGB das Prinzip der Gefährdungshaftung durchgesetzt hat. Diesem Grundsatz entsprechend sind Gefährdungstatbestände aber nicht nur für die Begründung einer Schadensersatzpflicht relevant, sondern auch für die Begrenzung von Ansprüchen des Geschädigten, auf dessen Seite eine Sachoder Betriebsgefahr besteht.

82 Bydlinski, Methodenlehre, S. 585, der aber auch in diesen Fällen von Lücken spricht. 83 Bydlinski, Methodenlehre, S. 585 stützt sich bei deutlichen Änderungen des Wertbewußtseins, die in absehbarer Zeit wahrscheinlich nicht umgekehrt werden, auf die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Bestandteile der Rechtsidee. 84 Bydlinski, Methodenlehre, S. 586. 85 Palandt-Heinrichs, § 254 BGB, Rdnr. 3. 7 Kamanabrou

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

2. Die richterliche Kompetenz zur Anpassung älterer Vorschriften an neuere Gesetze (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) Auch wenn ein Anpassungsbedarf bei älteren Gesetzen erklärt werden kann, muß doch begründet werden, warum die Änderung durch den Richter zulässig sein soll. Man könnte auch auf den Gesetzgeber verweisen, dessen Aufgabe nicht nur die Neuschöpfung von Normen, sondern auch die Änderung bestehender Gesetze ist. Die Rechtsfortbildungsbefugnis des Richters kann bei dieser Art der Rechtsfortbildung auf die Vorstellungen des neueren Gesetzgebers gestützt werden. Dadurch wird gewährleistet, daß das schöpferische Element der Rechtsfortbildung in einem von diesem vorgegebenen Rahmen bleibt. Die gesetzgeberischen Befugnisse sind aber nicht durch richterliche Übergriffe gefährdet, wenn der Richter den Willen des Gesetzgebers verwirklicht. Wie bei der Lückenfüllung kann man sich auch in diesem Fall auf einen gesetzgeberischen Willen berufen. Es ist zwar nicht der des Gesetzgebers des ausgelegten Gesetzes. Hier geht es aber nur um den Konflikt zwischen dem Richter und dem neuen Gesetzgeber. Zwischen diesen besteht aber dann keine Spannung, wenn der Richter nur den Plan des neuen Gesetzgebers verwirklicht. Neben den Bedenken wegen eines zu starken Eingriffs in den Bereich der Legislative, die hier nicht durchgreifen, ist noch der Gesichtspunkt der sachgerechten Aufgabenwahrnehmung zu beachten. Auch von daher ergeben sich aber keine Hinderungsgründe für eine richterliche Rechtsfortbildung, da in dieser Fallgruppe das Rechtsfortbildungsbedürfnis nur dann deutlich wird, wenn die Lösung schon vom neueren Gesetzgeber vorgezeichnet ist. Der Richter wird also auch nicht durch zu hohe Anforderungen an die Tatsachenkenntnis oder die Folgen der Regelung 86 überfordert. 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen Die Rechtsfortbildungsbefugnis des Richters stützt sich bei nachträglichen rechtlichen Änderungen darauf, daß der Regelungsplan des neueren Gesetzgebers durchgesetzt werden soll. Daraus ergibt sich die Art und Weise der Rechtsfortbildung. Der Richter darf nur notwendige Einschränkungen an der älteren Norm vornehmen. Er ist dabei an den Regelungsplan des neueren Gesetzgebers gebunden. Aus diesem Plan leitet er ab, welche

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322.

Zu diesen Punkten Wank, Rechtsfortbildung, S. 9lf., ders."ZGR 1988, S. 314,

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Änderungen an der alten Nonn der neue Gesetzgeber bei der vollständigen und konsequenten Umsetzung seiner Regelungsabsicht vorgenommen hätte. Auch hier kann man wieder von einer teleologischen Reduktion der eingeschränkten Vorschrift sprechen. Dabei ist aber zu beachten, daß das Telos, das die Einschränkung rechtfertigt, nicht, wie bei der Lückenfüllung, vom Gesetzgeber der beschnittenen Nonn stammt, sondern von einem neueren Gesetzgeber. Man muß also bei der teleologischen Reduktion darauf achten, auf wessen Telos man abstellt, da die Rechtfertigung für die Rechtsfortbildung jeweils unterschiedlich ist. IV. Rechtsfortbildung bei der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers 1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung

Ein ähnliches Problem kann zwischen Nonnen desselben Gesetzgebers auftreten, die zur gleichen Zeit entstanden sind. Auch in diesem Fall ist es denkbar, daß die uneingeschränkte Anwendung der einen Nonn die beabsichtigten Wirkungen der anderen vereitelt. Auch hier stehen sich wieder zwei Regelungsabsichten gegenüber, die ihre Durchsetzung verlangen. Anders als bei der Lückenfüllung verändert man nicht ein und dieselbe Nonn, um den gesetzgeberischen Plan zu verwirklichen, sondern es wird zugunsten einer Nonn eine andere eingeschränkt. Man hat also einen höheren Argumentationsbedarf, weil in eine andere Nonn, die einen eigenen Regelungsplan hat, eingegriffen wird. So wird z. B. § 167 Abs. 2 BGB, nach dem Vollmachten fonnlos erteilt werden können, für Fonnvorschriften mit Warnfunktion eingeschränkt. Die Vollmacht bedarf abweichend von § 167 Abs. 2 BGB der Fonn, wenn sich der Vollmachtgeber bereits weitgehend bindet, insbesondere wenn das Vertretergeschäft weitgehend vorweggenommen wird 87 . Über die Voraussetzungen im einzelnen bestehen Streitigkeiten, die Einschränkung wird aber jedenfalls einhellig für unwiderrufliche Vollmachten für Grundstücksgeschäfte anerkannt 88 . Weiterhin soll § 813 Abs. 1 S. 1 BGB bei der Mängeleinrede gern. § 478 BGB nicht anwendbar sein. Das wird damit begründet, daß eine gleichwohl 87 RG, Urt. v. 28.4.1911, RGZ 76, S. 182, 184; RG, Urt. v. 19.3.1924, RGZ 108, S. 125, 127; BGH, Urt. v. 11. 7.1952, NJW 52, S. 121Of. 88 RG, Urt. v. 19.3.1924, RGZ 108, S. 125, 127; BGH, Urt. v. 11. 7.1952, NJW 52, S. 121Of.; Erman-Brox, § 167 BGB, Rdnr. 4; MK-Schramm, § 167 BGB, Rdnr. 15ff.; Soergel-Leptien. § 167 BGB, Rdnr. 11 ff.; Staudinger-Dilcher, § 167 BGB, Rdnr. 21 f.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

geleistete Zahlung nach dem Zweck des § 477 BGB im Interesse der Verkehrssicherheit die Rechtslage stabilisieren soll 89 . Die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 BGB für Ersatzansprüche aus unerlaubter Handlung soll zurücktreten, wenn dadurch der Zweck einer anderen, kürzeren VeIjährungsvorschrift vereitelt würde 9o . Das ist z.B. für die sechsmonatige VeIjährungsfrist des § 558 BGB für Ersatzansprüche des Vermieters gegen den Mieter wegen Verschlechterungen der Mietsache anerkannt 91 . Das Bedürfnis für eine Einschränkung einer Norm ergibt sich in solchen Fällen daraus, daß eine andere Norm sonst in einem wesentlichen Punkt nicht plangemäß wirken könnte. 2. Die richterliche Kompetenz zur Auflösung der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers (Das "Ob" der Rechtsfortbildung)

Auch in diesem Fall der Rechtsfortbildung muß begründet werden, warum der Richter vom Gesetz abweichen darf und die Lösung nicht dem Gesetzgeber zu überlassen hat. Der Richter kann sich wiederum auf gesetzgeberische Vorstellungen stützen. Er muß feststellen, daß die eine Norm die Einschränkung der anderen fordert. Gleichzeitig darf die andere Norm nicht in wesentlichen Bereichen eingeschränkt werden. Es hat also eine Abwägung stattzufinden, bei der das Interesse an der Durchsetzung der "gefährdeten" Norm das an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung der anderen Norm überwiegen muß. Wenn diese Voraussetzungen eingehalten werden, bleibt der Übergriff in legislative Aufgaben gering. Problematisch ist hier die Abwägung und Bewertung der jeweiligen Regelungsziele. Es fragt sich, ob der Richter alle dafür maßgeblichen Gesichtspunkte ermitteln kann und die notwendige Ubersicht über die Folgen seiner Einschränkung hat. Bei der Abwägung kommt es aber im wesentlichen auf die jeweiligen Regelungsziele an, die bei der Auslegung ohnehin zu ermitteln sind. Die richterliche Regelung erfolgt also nicht frei und unabhängig. Sie ist an gesetzliche Vorgaben gebunden, so daß die Einschränkung nicht unbedingt durch den Gesetzgeber selbst erfolgen muß. 89 RG, Urt. v. 22.11.1929, RGZ 128, S. 211, 215f.; RG, Urt. v. 9.3.1934, RGZ 144, S. 93, 95; Ennan-Westermann, § 813 BGB, Rdnr. 3; Soergel-Mühl, § 813 BGB, Rdnr. 9; Staudinger-Lorenz, § 813 BGB, Rdnr. 13. 90 Ennan-Schiemann, § 852 BGB, Rdnr. 9. 91 BGH, Urt. v. 31.1.1967, BGHZ 47, S. 53, 55; BGH, Urt. v. 24.5.1976, BGHZ 66, S. 315, 320; Ennan-Schiemann, § 852 BGB, Rdnr. 9; Staudinger-Schäfer, § 852 BGB, Rdnr. 149.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

101

3. Die Art und Weise der Auflösung der Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers Wie in den bisher beschriebenen Fällen der Rechtsfortbildung ergibt sich auch hier die Art und Weise der Regelung aus der Problemstellung. Eine Einschränkung darf nur soweit erfolgen, wie es erforderlich ist, sie darf die eingeschränkte Norm nicht wesentlich verändern. Die teleologische Reduktion, von der man auch hier sprechen kann, stützt sich wieder auf ein anderes Telos als in den vorangegangenen Fällen: Es geht anders als im Fall der nachträglichen rechtlichen Veränderung um Zweckvorstellungen des Gesetzgebers der eingeschränkten Norm. Die Vorstellungen beziehen sich aber anders als bei der Lückenfüllung nicht auf diese Regelung selbst, sondern auf eine andere Vorschrift desselben Gesetzgebers.

v.

Rechtsfortbildung zum Zweck des Umgehungsschutzes

1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung Eine Rechtsfortbildung könnte möglicherweise auch aus Gründen des Umgehungsschutzes in Betracht kommen. Als Beispielsfall kann die Ausdehnung des § 181 BGB auf Geschäfte des Vertreters mit einem Untervertreter genannt werden. Hier wird zum Teil eine Analogie befürwortet, um die Gesetzesumgehung zu vereiteln 92 • Nach der hier vertretenen Auffassung, nach der die Auslegung nicht durch den Wortlaut begrenzt ist, ist zunächst zu fragen, ob der Wille des Gesetzgebers im engeren Sinne die Fälle mit Drittbeteiligung umfaßt. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber diese Fälle als vom Text des § 181 BGB urnfaßt ansah oder sie ebenfalls regeln wollte, die Regelung aber im Verlauf der weiteren Beratungen untergegangen ist. Durch Auslegung können die Fälle der Untervertretung also nicht dem § 181 BGB unterworfen werden. Eine Regelungslücke wäre gegeben, wenn der Wille des Gesetzgebers im weiteren Sinne die Fälle mit Drittbeteiligung umfaßt hat. Der Gesetzgeber hatte aber nicht etwa alle Fälle der Interessenkollision bei der Stellvertretung im Blick, sondern befaßte sich allein mit den Personen des Vertreters und des Vertretenen. Ausgehend von der Frage, ob überhaupt ein gleichzeitiges Handeln des Vertreters für sich und als Vertreter für seinen Geschäftsherrn denkbar sei, betrachtete er nur den möglichen Interessenwiderstreit 92 Erman-Brox, § 181 BGB, Rdnr. 15; MK-Schramm, § 181 BGB, Rdnr. 21; Soergel-Leptien, § 181 BGB, Rdnr. 29.

102

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

bei diesen Personen93 . Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers ist nicht weit genug, um auch die Fallgestaltungen mit Drittbeteiligung abzudecken. In anderen Fällen mag aber eine Lücke im Gesetz gegeben sein, so daß eine Analogie zur Lückenfüllung bei Umgehungsproblemen nicht stets ausgeschlossen ist. Für den hier besprochenen Fall muß man die Rechtsfortbildung anders begründen. Anders als bei den bisherigen Fällen der Rechtsfortbildung kann man sich nicht mehr auf einen gesetzgeberischen Willen stützen, sei es der des alten oder der eines neueren Gesetzgebers. Man muß hier· zur offenen Korrektur des Gesetzes übergehen. Der Gesetzgeber hat vom Fall her eine Norm entwickelt, die nach ihrer Schutzrichtung sinnvollerweise auch andere Fälle erfassen sollte. Die Interessen des Vertretenen können nicht effektiv geschützt werden, wenn der Vertreter nachteilige Geschäfte mit Hilfe eines Untervertreters abschließen kann 94 • Trotzdem kann man nicht von einem entsprechend weiten Regelungsplan des Gesetzgebers sprechen. Man kann nur feststellen, daß er eine weitere Regelung hätte treffen sollen. Mayer-Maly hält eine Rechtsfortbildung bei legislativen Fehlern nicht für möglich 95 • Ihm ist insoweit zuzustimmen, als es sich nicht um Lückenfüllung handelt. Ob Rechtsfortbildung in diesem Bereich aber völlig ausgeschlossen ist, muß noch untersucht werden. Für die Rechtsfortbildung spricht, daß der Gesetzgeber ein bestimmtes Ergebnis vermeiden wollte. Er wollte verhindern, daß der Geschäftsherr durch Insichgeschäfte des Vertreters geschädigt wird. Das Regelungsziel wird bei einer Übertragung auf Fälle mit Drittbeteiligung weiterhin dem Gesetz entnommen. Der wesentliche Punkt, der Interessenkonflikt, bleibt auch in diesen Fällen ausschlaggebend, die Abweichung zum gesetzlich geregelten Fall betrifft nur einen unwesentlichen Punkt, nämlich die Durchführung des konfliktträchtigen Geschäftes. Man entnimmt dem Gesetz also, daß der Gesetzgeber einen bestimmten Erfolg nicht zulassen wollte. Dann stellt man fest, daß dieser unerwünschte Erfolg durch eine andere Fallgestaltung ebenso erreicht würde, und daß der vom Gesetzgeber befürchtete Interessenkonflikt auch dabei grundsätzlich besteht. Daraus ergibt sich, daß eine Rechtsfortbildung notwendig ist, um das Ziel des Gesetzgebers zu erreichen. Man kann sich nicht mehr an seine Regelungsabsicht halten, wohl aber danach fragen, ob das gesetzgeberische Ziel ohne die Rechtsfortbildung erreicht wird. Das Rechtsfortbildungsbedürfnis ergibt sich daraus, daß dieses Ziel sonst nicht erreicht wird.

93 94

95

Motive I, S. 224 f. MK-Schramm, § 181 BGB, Rdnr. 21. MK-Mayer-Maly, § 134 BGB, Rdnr. 11 ff., 13.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

103

2. Die richterliche Kompetenz zur Vermeidung einer Gesetzesumgehung (Das "Ob" der Rechtsfortbildung)

Wieder stellt sich die Frage nach der richterlichen Kompetenz zur Rechtsfortbildung. Die Bindung an gesetzgeberische Vorstellungen ist in diesen Fällen geringer als bei den zuvor behandelten Fällen der Rechtsfortbildung. Der Regelungsplan des Gesetzgebers ist zu eng, als daß er die Ausdehnung der Norm rechtfertigen könnte. Man kann sich nur noch auf eine gesetzgeberische Zielvorstellung stützen. Mit dem gesetzgeberischen Ziel hat der Richter aber Anhaltspunkte genug, um die Rechtsfortbildung ohne schwerwiegende Übergriffe in legislative Befugnisse vorzunehmen. Allerdings muß hier noch mehr als in den zuvor behandelten Fällen darauf geachtet werden, daß alle vom Gesetzgeber beachteten Interessen berücksichtigt werden. Das Verhältnis, das der Gesetzgeber ihnen zugewiesen hat, darf nicht grundlegend verändert werden. Es darf vor allem nicht dazu kommen, daß ein Interesse völlig zurückgedrängt wird, um den Schutz des anderen zu verstärken. Eine sachgerechte Aufgabenwahrnehmung durch die Gerichte ist ebenfalls möglich. Umgehungsfalle betreffen Fallgestaltungen, die sich in demselben Bereich auswirken wie der gesetzlich geregelte Sachverhalt. Die Feststellung dieser Wirkung ergibt sich ohne größere Nachforschung. Die Bewertung, ob der Umgehungseffekt auf den Besonderheiten des Einzelfalles beruht, oder ob er bei der fraglichen Fallgestaltung generell auftritt, übersteigt die Möglichkeiten des Richters nicht. Ist eine solche Fallgestaltung erst einmal in das Blickfeld gerückt, so ist ihre Einordnung als typischer Umgehungsfall leicht vorzunehmen. Das Problematische dieser Fälle liegt eher darin, daß sie bei der Gesetzgebung übersehen werden und erstmals in einem Rechtsstreit auffallen. Der Umgehungsschutz muß also nicht zwingend dem Gesetzgeber überlassen werden, er kann durch den Richter im Wege der Rechtsfortbildung vorgenommen werden. 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung beim Umgehungsschutz

Die Rechtsfortbildung zum Zwecke des Umgehungsschutzes erfolgt durch eine analoge Anwendung der gesetzlichen Regelung auf den Umgehungsfall. Dabei stützt man sich aber nicht, wie bei der Lückenfüllung, auf den Regelungsplan des Gesetzgebers, sondern nur auf ein Regelungsziel, das er mit seinen Regelungsvorstellungen nicht effektiv erreichen kann. Dabei ist die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift möglichst eng zu halten, damit nicht auch andere als Umgehungssachverhalte von ihr erfaßt werden.

104

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Bei dieser Rechtsfortbildung muß die Kritik Herzbergs berücksichtigt werden, der vor der einseitigen und vorschnellen Festlegung gesetzgeberischer Zwecke und Ziele warnt 96 . Seine auf die teleologische Auslegung bezogenen Ausführungen lassen sich auf andere Fälle, in denen mit gesetzgeberischen Absichten und Zielen gearbeitet wird, übertragen. Es müssen dabei alle Interessen einbezogen werden, die der Gesetzgeber bei der Regelung beachtet hat. Im Falle der Anwendung des § 181 BGB auf Fälle mit Drittbeteiligung ist zu berücksichtigen, daß Insichgeschäfte trotz des möglichen Interessenkonflikts zunächst zulässig sein sollten, um den Rechtsverkehr nicht unnötig zu erschweren97 • Bei der Überarbeitung des Entwurfs zum BGB wurde die Interessenbewertung umgekehrt, der Schutz des Geschäftsherrn erhielt den Vorrang 98 • Die Interessen des Rechtsverkehrs bleiben aber beachtlich. Eine Ausdehnung des § 181 BGB, der sie zu sehr in den Hintergrund schiebt, wäre mit der Absicht des Gesetzgebers nicht vereinbar. In den Fällen der Drittbeteiligung wird zwar eine neue Fallgruppe der Regelung des § 181 BGB unterstellt, so daß beim freien und ungehinderten Rechtsverkehr Abstriche gemacht werden müssen. Es ist aber immer noch derselbe Sachbereich, die Stellvertretung, betroffen. Außerdem trifft dieselbe Überlegung, die zum Verbot von Insichgeschäften führte, auch auf die Fälle mit Drittbeteiligung zu: Ein Interessenkonflikt ist in solchen Fällen grundsätzlich zu befürchten. Das Gegeninteresse, das bei der Ausdehnung des § 181 BGB zu berücksichtigen ist, ist also in diesem Fall dem Schutz des Geschäftsherrn nachrangig. VI. Rechtsfortbildung bei Verfassungsverstößen des Gesetzgebers 1. Das Bedürfnis für ein Abweichen vom Willen des Gesetzgebers

Bei der Behandlung der verfassungskonformen Auslegung war offen geblieben, ob eine "verfassungskonforme Rechtsfortbildung" möglich ist. Es geht dabei um diejenigen Fälle, in denen die gesetzgeberische Regelungsabsicht gemessen an der Verfassung zu eng oder zu weit ist. Eine verfassungskonforme Auslegung kommt in den hier zu behandelnden Fällen, in denen man den Willen des Gesetzgebers ermitteln kann, nicht in Betracht. Nach dem Grundgesetz ist folgendermaßen vorzugehen: Hält ein Instanzgericht eine nachkonstitutionelle Norm für verfassungswidrig, so muß es 96 97

98

Herzberg, NJW 1990, S. 2525, 2527. Motive I, S. 225. Protokolle I, S. 174f.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

105

das Normenkontrollverfahren gern. Art. 1()() Abs. 1 GG einleiten. Im Falle der Verfassungswidrigkeit ist die Norm vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder mit dem Grundgesetz nicht vereinbar zu erklären. Bei vorkonstitutionellen Gesetzen haben auch die Instanzgerichte eine Verwerfungskompetenz, soweit der nachkonstitutionelle Gesetzgeber das Gesetz nicht in seinen Willen aufgenommen hat99 . Eine Neuregelung erfolgt jeweils durch den Gesetzgeber. Hier stellt sich also nicht die Frage, ob ein Bedürfnis dafür gegeben ist, vom gesetzgeberischen Willen abzuweichen. Durch den Verfassungsverstoß besteht eine Notwendigkeit für eine solche Abweichung. So wie der Gesetzgeber sie wollte, bleibt die Norm auf keinen Fall bestehen. Es fragt sich aber, ob durch eine richterliche Rechtsfortbildung eine Kassation der Norm vermieden werden kann.

2. Unterschiedliche Auswirkungen einer Kassation und einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung Zunächst ist zu klären, ob und gegebenenfalls wie weit der Richter mit einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung überhaupt über die Nichtigerklärung einer Norm hinausgeht. Bei der Nichtigerklärung wird das verfassungswidrige Gesetz mit Wirkung ex tune für nichtig erklärt 1OO. Möglich ist auch eine bloße Teilnichtigerklärung einzelner Normen oder Normteile 101 • Bei Gesetzen gilt in Umkehrung des § 139 BGB, daß ein Gesetz im Zweifel nicht insgesamt nichtig ist, wenn einzelne Bestandteile davon nichtig sind 102. Teilnichtigerklärungen bilden in der Rechtsprechungspraxis den Regelfall 103 . Ein Gesetz ist nur dann insgesamt für nichtig zu erklären, wenn die verbleibenden verfassungsmäßigen Bestimmungen keine selbständige Bedeutung haben, oder wenn der verfassungswidrige Teil mit der restlichen Regelung eine untrennbare Einheit bildet. Das Gesetz darf nicht 99 BVerfG, Urt. v. 24.2.1953, E 2, S. 124, 128ff.; BVerfG, Beschl. v. 17.1.1957, E 6, S. 55, 65; BVerfG, Beschl. v. 26.1.1972, E 32, S. 296, 299f.; BVerfG, Beschl. v. 20.3.1984, E 66, S. 248, 254f.; BverfG, Beschl. v. 4.6.1985, E 70, S. 126, 129f. 100 Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 688; Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr.344. 101 BVerfG, Beschl. v. 12.11.1958, E 8, S. 274, 301; BVerfG, Urt. v. 16.6.1981, E 57, S. 295, 334; BVerfG, Beschl. v. 6.12.1983, E 65, S. 325, 358; BVerfG, Urt. v. 4.11.1986, E 73, S. 118, 151. Vgl. zur Teil- oder Gesamtnichtigerklärung von Gesetzen auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99 ff. 102 Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 62 f. m. w. N., Fn. 3. 103 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99; Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 349.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

durch die Teilnichtigerklärung einen neuen Sinn bekommen 104. Die Teilnichtigerklärung tritt in zwei Varianten auf. Im ersten Fall wird ein Teil des Normtextes gestrichen. Skouris spricht bei dieser Erscheinungsform von "quantitativer Teilnichtigkeit,,105. So hat das BVerfG z.B. bei § 49 Nr. la EStDV 1955 und § 29 Wohngeldgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. April 1965 Satzteile für nichtig erklärt lO6 • Aus dem Niedersächsischen Landesrundfunkgesetz vom 23. Mai 1984 wurde § 3 Abs. 3 S. 4 für nichtig erklärt l07 , aus dem Bremischen Maßregelvollzugsgesetz vom 28. Juni 1983 § 29 Abs. 2 108 . Im zweiten Fall bleibt der Normtext unverändert, die Norm wird aber für nichtig erklärt, soweit der durch den Text ausgedrückte Wille des Gesetzgebers verfassungswidrig ist. Man spricht hier von "qualitativer Teilnichtigkeit"I09. So hat das BVerfG § 32 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 HRG vom 26. Januar 1976 für nichtig erklärt, "soweit die Zulassung zu einem medizinischen Zweitstudium auch bei solchen Bewerbern vom Erfordernis der sinnvollen Ergänzung des Erststudiums abhängig ist, die dieses bis einschließlich Wintersemester 1974/75 im Vertrauen auf die damals bestehende Möglichkeit zu einem solchen Zweitstudium begonnen haben,,11o. In beiden Fällen wird der Anwendungsbereich der Norm gegenüber den gesetzgeberischen Vorstellungen eingeschränkt. Die Rechtfertigung dafür ergibt sich aus der Verwerfungskompetenz des Richters 111. Eine solche Verwerfungskompetenz hat für nachkonstitutionelle Gesetze allein das Bundesverfassungsgericht, für vorkonstitutionelle Gesetze, die der nachkonstitutionelle Gesetzgeber nicht in seinen Willen aufgenommen hat, steht sie auch den Instanzgerichten ZU 112 . Bei der Teilnichtigerklärung ist allerdings zu beachten, daß eine Regelung zurückbleibt, die der Gesetzgeber so nicht gewollt hat 113. Eine voll104 BVerfG, Beschl. v. 12.11.1958, E 8, S. 274, 301; BVerfG, Beschl. v. 6.12.1983, E65, S. 325, 358; BVerfG, Urt. v. 4.11.1986, E73, S. 118, 151; Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 63; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 76ff., 83ff. hält neben der Teilbarkeit der Norm, den Willen des Gesetzgebers für ausschlaggebend. 105 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 90ff. 106 BVerfG, Beschl. v. 21.2.1957, E 6, S. 273, 274; BVerfG, Beschl. v. 24.11.1969, E 27, S. 220. 107 BVerfG, Urt. v. 4.11.1986, E 73, S. 118, 119. 108 BVerfG, Beschl. v. 12.12.1991, E 85, S. 134, 134f. 109 Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 351; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 92ff. Vgl. zur Teilnichtigerklärung mit und ohne Veränderung des Normtextes auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99. 110 BVerfG, Beschl. v. 3.11.1982, E 62, S. 117, 118f.; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 16.10.1984, E 67, S. 348, 349; BVerfG, Urt. v. 10.3.1992, E 85, S. 360,261 f.; BVerfG, Beschl. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 264. III Vgl. Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 63. 112 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. D. VI. 1.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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ständige Nichtigerklärung hätte möglicherweise seinen Vorstellungen eher entsprochen. Auch bei der kompletten Nichtigerklärung einer Norm oder eines ganzen Gesetzes ergibt sich aber ein Rechtszustand, den der Gesetzgeber nicht gewollt hat (deshalb ist er ja gesetzgeberisch tätig geworden). Es fragt sich also nur, was dem gesetzgeberischen Willen mehr entspricht. Die Teilnichtigerklärung ist nicht von vornherein bedenklicher als die vollständige Nichtigerklärung. Welche der beiden Lösungen vorzuziehen ist, kann nur im jeweiligen Einzelfall geklärt werden l14 . Bei der verfassungskonformen Rechtsfortbildung sind dieselben Varianten denkbar wie bei der Teilnichtigerklärung. Sie könnte mit oder ohne Änderung des Normtextes vorgenommen werden 115. Einschränkungen des Anwendungsbereichs der Norm würden sich genauso auswirken wie Teilnichtigerklärungen 116. Müller hält Gesetzeskorrekturen durch verfassungskonforme Auslegung für unzulässig, da sie stärker als die Nichtigkeitserklärung in die legislativen Kompetenzen eingreift l17 • Zwar kann von Auslegung bei einer Gesetzeskorrektur nicht mehr die Rede sein. Müller übersieht aber, daß es außer der vollständigen Nichtigerklärung auch die Teilnichtigerklärung gibt, die sich ebenso auswirkt wie eine verfassungskonforme Einschränkung der Norm. Eine solche Rechtsfortbildung ist aber trotzdem unzulässig: Da die Teilnichtigerklärung als Regelungsinstrument bereits vorhanden ist, besteht für eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung insoweit kein Raum mehr 118 • Bei nachkonstitutionellen Gesetzen haben die Instanzgerichte allerdings keine eigene Kassationsbefugnis, sie können nur unter den Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht erreichen. In diesen Fällen könnte man an eine verfassungskonforme Einschränkung von Normen durch die Instanzgerichte denken 119. Dadurch würde aber die Regelung des 113 Vgl. Haak, Normenkontrolle, S. 301 f.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99; Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 353.; zur verfassungskonformen Auslegung Wank, Rechtsfortbildung, S. 110. 114 Einzelfallorientiert ist auch Skouris, Teilnichtigerklärung, S. 76. 115 Schia ich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 411 und Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108 f. erwähnen nur den zuletztgenannten Fall. 116 Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. looff.; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 120ff., 123 f., 132; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 171; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108f.; dagegen nehmen Eckardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 57 ff. und Haak, Normenkontrolle, S. 303 Unterschiede zwischen verfassungskonformer Auslegung und Teilnichtigerklärung an. 117 Müller, Methodik, S. 87. 118 A. A. Göldner, Verfassungsprinzip, S. 72, 170 ff., ohne Begründung dafür, warum eine Rechtsfortbildung zulässig sein soll, wenn ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren zur Problemlösung gegeben ist. 119 Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 412 will die Gleichsetzung von verfassungskonformer Auslegung und teil weiser Nichtigerklärung nur für das

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Art. 100 Abs. 1 GG ausgehöhlt. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts soll die Autorität nachkonstitutioneller Gesetzgeber wahren. Es würde unterlaufen, wenn den Instanzgerichten statt der Nichtigerklärung eine Rechtsfortbildung aufgrund Verfassungsverstoßes erlaubt wäre 120. Denkbar wäre aber eine verfassungskonforme Ausdehnung einer Norm. Dabei würde nicht ein Teil der Norm gestrichen, sondern etwas hinzugefügt. Mit der Feststellung der Nichtigkeit der Norm in ihrer vorliegenden Form würde ihre Umgestaltung verbunden. Die Auswirkungen einer solchen Ausdehnung sind also anders als bei der (Teil)nichtigerklärung.

3. Die richterliche Kompetenz zur Ausdehnung von Normen bei Verfassungsverstäßen (Das "Ob" der Rechtsfortbildung) Eine richterliche Rechtsfortbildung erscheint hier allerdings bedenklich. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits über Erweiterungen des Anwendungsbereichs einer Norm aufgrund eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu entscheiden 121. Es hat solche Ausdehnungen abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht begründet diese Ansicht zutreffend damit, daß dem Gesetzgeber ein Regelungsspielraum hinsichtlich der Neuregelung zusteht, so daß eine richterliche Lösung nicht in Betracht kommt 122. Auch bei einem Verstoß gegen andere Normen des GG ist eine Erweiterung durch den Richter abzulehnen, da es Sache des Gesetzgebers ist, die verfassungswidrige Norm neu zu gestalten 123. Sie kann vom Richter nur für nichtig erklärt werden. Der Gesetzgeber kann dann den zuvor ausgeschlossenen Sachverhalt in die Regelung einbeziehen, bisher erfaßte Fälle herausnehmen, oder eine völlige Neuregelung treffen. BVerfG zulassen, da sonst eine verfassungskonforme Auslegung durch die Instanzgerichte wegen Art. 100 Abs. 1 GG nicht zulässig wäre. Die Gerichte sollten und müßten aber verfassungskonform auslegen. Dagegen ist einzuwenden, daß nicht vom gewünschten Ergebnis her argumentiert werden darf, sondern vielmehr aus der Übereinstimmung von Teilnichtigerklärung und verfassungskonformer Auslegung Konsequenzen für (oder besser gesagt gegen) letztere zu ziehen sind. 120 Vgl. auch Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 125; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 172; gegen eine verfassungskonforme Auslegung durch nicht verwerfungsbefugte Gerichte auch Skouris, Teilnichtigkeit, S. 112f.; kritisch auch Wank, Rechtsfortbildung, S. 110. 121 BVerfG, Beschl. v. 11.6.1958, E 8, S. 28. 122 BVerfG, Beschl. v. 11. 6. 1958, E 8, S. 28, 37 f.; BVerfG, Beschl. v. 27.5. 1970, E 28, S. 324, 36lf.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 111. Die vereinzelt gebliebene Entscheidung für eine "verfassungskonforme Erweiterung" BVerfG, Beschl. v. 17.6. 1953, E 2, S. 336 ist aus diesen Gründen abzulehnen. 123 Vgl. BVerfG, Urt. v. 14.12.1965, E 19, S. 242, 247.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Verfassungskonfonne Rechtsfortbildungen sind demnach nicht zulässig 124 • In einigen Bereichen kann man das gewünschte Ergebnis durch eine Teilnichtigerklärung der Nonn erreichen. In anderen Fällen stehen Art. 100 GG oder die vorrangige Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers entgegen.

VII. Die gesetzesvertretende Rechtsfortbildung Schließlich kommt noch eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung in Betracht. Darunter sind diejenigen Fälle der Nonnsetzung durch den Richter zu verstehen, in denen kein "passendes" Gesetzesrecht vorliegt und auch von einer Lücke im Gesetz nicht gesprochen werden kann 125. Gesetzesvertretendes Richterrecht stellt z. B. die Rechtsprechung des BAG zum Arbeitskampf dar 126 •

1. Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung Eine von dem vorgegebenen Gesetzesmaterial abweichende Entscheidung kann nicht auf den Willen oder die Zielsetzung eines Gesetzgebers gestützt werden. Ältere Gesetzgeber haben die Frage entweder nicht bedacht oder sie bewußt den bestehenden Regelungen unterworfen. Der gegenwärtige Gesetzgeber bleibt untätig. Trotzdem kann die bestehende Gesetzeslage so unbefriedigend sein, daß eine Rechtsfortbildung gewünscht wird. Man muß zunächst einen Maßstab finden, anhand dessen man beurteilen kann, ob der bestehende Rechtszustand das Problem "befriedigend" löst. Damit nicht jeder einzelne Richter seine Vorstellungen von einer gerechten Ordnung der Lebensverhältnisse durchzusetzen versucht, muß man auf Wertvorstellungen zurückgreifen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Es bieten sich dazu die Nonnen des Grundgesetzes an. Für das Bedürfnis nach einer Abweichung von den bestehenden gesetzlichen Regelungen kann eine Parallele zu Wesentlichkeitstheorie gezogen werden. Nach dieser Theorie braucht die Verwaltung für solche Maßnahmen eine gesetzliche Ennächtigung, durch die ein grundrechtsrelevanter Bereich betroffen ist 127 . Den Gedanken kann man dahin fortführen, daß der Richter zur Verbesserung einer unbefriedigenden Gesetzeslage an Stelle des Gesetzgebers nur dann tätig werden darf, wenn Grundrechtspositionen betroffen sind. 124 Gegen eine Kompetenz der Gerichte zur verfassungsmäßigen Rechtsfortbildung auch Ipsen, Richterrecht, S. 185ff.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 103. 125 Vgl. zum Lückenbegriff oben 1. Teil 2. Kap. D.L1. 126 Grundlegend BAG, Urt. v. 28.1.1955, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG, Urt. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 127 Dazu oben 1. Teil 1. Kap. C.I. und D.

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1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

Wie bereits festgestellt, hat die Gesetzesbindung Verfassungsrang und kann deshalb nur mit ranggleichen Argumenten überwunden werden 128. Wenn durch die bestehende Gesetzeslage Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt werden, ist ein Bedürfnis für weitergehende Regelungen geben. 2. Die richterliche Kompetenz zur Ersatzgesetzgebung (Das "Ob" der Rechtsfortbildung)

Das Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung allein rechtfertigt sie noch nicht. Zu begründen ist noch, warum und ab wann der Richter eine Regelungskompetenz erhält, wenn eine "wesentliche" gesetzgeberische Regelung fehlt. Zum Teil wird das Rechtsverweigerungsverbot herangezogen 129. Es kann aber, wie oben ausgeführt, eine Rechtsfortbildungskompetenz nicht begründen, da irgendeine Entscheidung dem Richter anband des gesetzlichen Materials immer möglich ist 130 • Eine Rechtsfortbildung ist also nicht notwendig, um eine drohende Rechtsverweigerung abzuwenden. Auch die Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der Richter an Gesetz und Recht gebunden ist, kann eine Rechtsfortbildungskompetenz nicht begründen 13l • Larenz will eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung 132 zulassen, wenn die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs 133, die Natur der Sache 134 oder rechtsethische Prinzipien 135 sie fordern 136. Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung setzt seiner Ansicht nach voraus, daß eine Rechtsfrage vorliegt und eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung nicht möglich ist 137 • Außerdem dürfen die Gerichte nur in den Bereichen tätig werden, in denen spezifisch rechtliche Erwägungen zum Ziel führen. Zweckmäßigkeitsfragen oder Detailregelungen seien dem Gesetzgeber zu überlassen 138. Über diese Siehe oben 1. Teil 2. Kap. C. 11. Roellecke, Politik, S. 144f.; Rüthers, RdA 1969, S. 161, 178; Säcker, Grundprobleme, S. 116. 130 V gl. oben 1. Teil 2. Kap. C.!. 131 V gl. oben 1. Teil 2. Kap. C.!. 132 Darunter versteht Larenz eine Rechtsfortbildung, die nicht auf einer Lücke in seinem Sinne beruht. 133 Larenz, Methodenlehre, S. 414ff. 134 'Larenz, Methodenlehre, S. 417ff. 135 Larenz, Methodenlehre, S. 421 ff. 136 Eine andere Einteilung nahm Larenz noch in der FS für Nikisch, S. 275, 281 vor. 137 Larenz, Methodenlehre, S. 426. 138 Larenz, Methodenlehre, S. 426 f. 128

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

111

Grenzen hinaus sei eine richterliche Ersatzgesetzgebung nur zulässig, wenn wegen des Fehlens einer gesetzlichen Regelung ein "echter Rechtsnotstand" besteht 139. Damit wird der Bereich der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung zwar strukturiert und mit Grenzen versehen. Die Frage nach der Begründung der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz wird dadurch allerdings nicht beantwortet l40 . Bevor man auf die von Larenz genannten Kriterien eingeht, muß man aber die Kompetenzfrage klären. Wank leitet die Befugnis zur Rechtsfortbildung zutreffend aus dem materiellen Rechtsstaatsprinzip ab, nach dem die Gerichte für eine gerechte Ordnung mitverantwortlich sind. Sie sollen als sachnächste Organe subsidiär an die Stelle des Gesetzgebers treten 141. Voraussetzung dafür ist zunächst, daß ein rechtswidriges Unterlassen des Gesetzgebers gegeben ist. Dem Gesetzgeber steht ein Ermessen darüber zu, ob und wie er gesetzliche Regelungen trifft l42 . Sein Schweigen kann also durch die Umstände gerechtfertigt sein. Außerdem muß man abwägen zwischen dem Interesse an der Beachtung der Kompetenzverteilung und dem Schaden, der durch den ungerechten Regelungszustand entsteht 143. Auch die Dauer der gesetzgeberischen Untätigkeit und die Regelungsdichte im fraglichen Bereich spielen hierbei eine Rolle. Wank verzichtet bewußt auf eine starre Grenzziehung, die in dieser Frage nicht geleistet werden kann 144. Ähnlich wie bei der Inhaltsfestsetzung im Rahmen der Auslegung müssen hier verschiedene Aspekte gewürdigt werden, wobei es immer auf die jeweilige Konstellation im Einzelfall ankommt. Eine feste Rangordnung zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten kann es nicht geben. Damit wird der Richter aber nicht in den Bereich freier Rechtsfindung entlassen. Die Abwägung unterschiedlicher Werte des Grundgesetzes ist aus dem Verfassungsrecht bekannt und hat sich als praktikabel erwiesen.

Es mag widersprüchlich erscheinen, daß nach der hier vertretenen Ansicht bei einem Verfassungsverstoß des Gesetzgebers durch ein verfas-

139 Larenz, Methodenlehre, S. 427. Ursprünglich hat Larenz, FS für Henkel, S. 31, 43 einen Rechtsnotstand angenommen, wenn einer der drei von ihm genannten

Fälle gegeben ist (so auch in der zweiten Aufl. seiner Methodenlehre, Berlin, Heidelberg, New York 1969, S. 401). Inzwischen ist die Begründung durch einen Rechtsnotstand neben diese Fälle getreten. 140 Zu der allgemeinen Begründung, die Larenz für die Rechtsfortbildung abgibt, siehe oben 1. Teil 2. Kap. c.1. 141 Wank, Rechtsfortbildung, S. 238f.; ders., ZGR 1988, S. 314, 323. 142 Wank, Rechtsfortbildung, S. 232ff., 238. 143 Wank, Rechtsfortbildung, S. 239. 144 Wank, Rechtsfortbildung, S. 240.

112

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

sungswidriges Gesetz eine Rechtsfortbildung abzulehnen 145, sie aber bei einem Verfassungsverstoß durch Unterlassen einer gesetzlichen Regelung zuzulassen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen besteht aber darin, daß bei einem verfassungswidrigen Gesetz der Gesetzgeber immerhin tätig geworden ist. Er hat also seine Gesetzgebungsaufgaben wahrgenommen, wenn auch mangelhaft. In diesem Fall ist es gerechtfertigt, die Gewaltenteilung zu respektieren und dem Gesetzgeber die Neuregelung zu überlassen. Dagegen vernachlässigt der Gesetzgeber bei rechtswidrigem Unterlassen der Gesetzgebung seine Aufgaben völlig. Man kann von einer Verwirkung seiner (alleinigen) Rechtssetzungskompetenz sprechen 146. Bedenken aus der Wesentlichkeitstheorie bestehen gegen die so charakterisierte gesetzesvertretende Rechtsfortbildung nicht l47 . Zwar sind grundrechtsrelevante Fragen grundsätzlich vom Gesetzgeber zu regeln. Hier geht es aber um eine "Notgesetzgebungsfunktion" der Gerichte. Sie treten dem Gesetzgeber nicht entgegen, sondern an seine Stelle. Damit stehen ihnen in dem engen Bereich, in dem sie gesetzgeberisch tätig werden dürfen, auch seine Befugnisse zu. Anders ist die Situation bei der Auslegung. Hier hat sich der Richter zunächst noch zurückzuhalten, die Wesentlichkeitstheorie begrenzt seine Befugnis zur Inhaltsfestsetzung. Der Unterschied liegt darin, daß es bei der Auslegung um eine gesetzesgebundene Entscheidung geht, bei der nur geringfügige Übergriffe in legislative Aufgaben gestattet sind. Bei der gesetzes vertretenden Rechtsfortbildung übernimmt der Richter jedoch die Rolle des Gesetzgebers in Fällen, in denen bei rechtswidrigem Unterlassen die Durchsetzung von Grundrechten vorrangig vor der Einhaltung der Kompetenzordnung ist. 3. Die Art und Weise der Rechtsfortbildung bei der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung Auch zur Art und Weise der Rechtsfortbildung kann man losgelöst vom Fall nur wenige Aussagen machen. Zwar sollte der Richter nur so geringfügig wie möglich in die legislativen Aufgaben übergreifen, dabei muß er aber soweit vorausschauen, daß die von ihm entwickelten Grundsätze auch im nächsten Fall tragfähig sind. In der Rechtsprechung zeigt sich ein tastendes Vorgehen, das eine Rückkopplung mit der Rechtswissenschaft erlaubt. Sachlich kann an die jeweils betroffenen Grundrechte angeknüpft werden. Allerdings lassen sich aus ihnen keine konkreten Lösungen im Wege der 145 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. D. VI. Das Problem stellt sich nur für "verfassungskonforme Erweiterungen", bei Einschränkungen greift die Rechtsfigur der Nichtigkeitserklärung ein, so daß für Rechtsfortbildungen ohnehin kein Raum ist. 146 V gl. Wank, Rechtsfortbildung, S. 238. 147 Hierzu Hillgruber, JZ 1996, S. 118, 123 f.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

113

Deduktion ableiten. Es kommt, wie gesagt, auf eine Abwägung an, bei der dem Richter nur die allgemeinen Regeln, wie z. B. die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Wahrung der Rechtssicherheit, an die Hand gegeben werden können.

E. Zusammenfassung zu den Fallgruppen der Rechtsfortbildung Eine Rechtsfortbildung ist zunächst zur Ausfüllung von Regelungslücken zulässig. Dabei ist ein enger Lückenbegriff zugrundezulegen. Bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen kann eine Anpassung der alten Norm an das neue Gesetz erforderlich sein, wenn nicht schon ein Fall der Gesetzeslücke gegeben ist. Kollisionen zweier zur gleichen Zeit entstandenen Normen desselben Gesetzgebers können den Richter ebenso zur Rechtsfortbildung berechtigen wie ein erforderlicher Umgehungsschutz. Auch eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung ist in engen Grenzen zulässig. Dagegen sind Fortbildungen von Gesetzen bei Verfassungsverstößen nicht gestattet. Anlaß der Rechtsfortbildung

Maßstab der Rechtsfortbildung

Lücke (enger Lückenbegrift)

Regelungsplan des Gesetzgebers des fortzubildenden Gesetzes

nachträgliche rechtliche Veränderung (aber keine Lücke)

Regelungsplan des Gesetzgebers des neuen Gesetzes

Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers

Regelungsplan des Gesetzgebers des fortzubildenden Gesetzes

Umgehungsschutz

Regelungsziel des Gesetzgebers des fortzubildenden Gesetzes

gesetzesvertretende Rechtsfortbildung

Verfassung

8 Kamanabrou

114

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen 3. Kapitel

Das Redaktionsversehen A. Das Redaktionsversehen in der Literatur Eine Argumentationsfigur bei der Interpretation von Gesetzen, die bisher noch nicht angesprochen wurde, ist das Redaktionsversehen. Der Begriff des Redaktionsversehens wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Riedl trennt Irrtümer bei der Willensbildung, die vor und während der Beratungen zu Gesetzen auftreten, von solchen, die bei der Willensbetätigung unterlaufen 1. Letztere unterteilt er weiter in Fehler bei der Beschlußfassung, die er als Redaktionsversehen bezeichnet, Fehler bei der Ausfertigung und Fehler bei der Verkündung 2 • Irrtümer bei der Willensbildung will er in seiner Untersuchung außer Betracht lassen3 . Das widerspricht jedoch seiner Definition des Redaktionsversehens. Darunter versteht Riedl vor oder bei der Sanktionierung unabsichtlich entstandene Unrichtigkeiten4 • Bei der Sanktionierung, d. h. bei der Beschlußfassung, können Fehler im Text nicht auftreten. In diesem Zeitpunkt wird der Gesetzestext nicht bearbeitet. Abgestimmt wird über eine bestimmte Vorlage, die danach zur Ausfertigung und Verkündung weitergegeben wird. Bei der Sanktionierung können deshalb keine Fehler in den Gesetzestext einfließen. Davor liegt aber die Willensbildung. Fehler, die in diesem Stadium auftreten, und die Riedl ausdrücklich zu den Redaktionsversehen zählt, sind Fehler bei der Willensbildung. Diese wollte Riedl aber aus seiner Betrachtung ausschließen. Enneccerus/Nipperdey unterscheiden zwischen Druckfehlern und Redaktionsversehen 5 . Ein Druckfehler sei gegeben, wenn die veröffentlichte Gesetzesfassung vom sanktionierten Text abweicht. Dagegen liege ein Redaktionsversehen vor, wenn eine Abweichung vom gewollten Wortlaut schon vor oder bei der Sanktion entstanden ist. Larenz spricht von einem Redaktionsversehen, wenn die Gesetzesredaktoren lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten 6 .

1 2

3 4

5 6

Ried!, AöR 119 (1994), Ried!, AöR 119 (1994), Ried!, AöR 119 (1994), Ried!, AöR 119 (1994), Enneccerus/Nipperdey, Larenz, Methodenlehre,

S. S. S. S.

642, 642, 642, 642,

643. 645. 643. 645. AT I, S. 322.

S. 400.

3. Kap.: Das Redaktionsversehen

115

Schack führt Redaktionsversehen auf Druckfehler in Parlamentsakten zurück. Sie könnten aber auch dadurch auftreten, daß der Wille des Gesetzgebers unrichtig zum Ausdruck kommt7 •

Nach Staats entstehen Redaktionsversehen bei der Ausarbeitung eines Gesetzestextes 8 . Sie könnten schon in der Gesetzesinitiative enthalten sein oder dem Parlament bei der Änderung des Entwurfs unterlaufen. Staats bezeichnet Redaktionsversehen als Mängel in Gesetzesbeschlüssen des Bundestags 9 • Diese Ausführungen gehen alle in die Richtung, daß der Wille des Gesetzgebers im Gesetz nicht richtig zum Ausdruck gekommen ist. Die Gründe dafür unterscheiden sich aber zum Teil erheblich.

B. Fehler beim Zustandekommen eines Gesetzes Auf eine eigene Definition des Redaktionsversehens soll hier verzichtet werden, da es wenig hilfreich erscheint, den bisher bestehenden Begriffsbestimmungen noch eine weitere hinzuzufügen. Das Redaktionsversehen wird bei aller Verschiedenheit der Definitionen zur Argumentation herangezogen, um eine Unvollkommenheit im Gesetz zu bezeichnen. Im folgenden sollen die Zeitpunkte, in denen Fehler auftreten können, aufgeführt werden. Soweit es hier von Interesse ist, wird die Behandlung der dadurch möglichen Mängel besprochen. Bei der Schaffung eines neuen Gesetzes können in verschiedenen Stadien Fehler auftreten. Sie können sich schon in die Beratungen einschleichen, dann liegen sie bereits bei der Beschlußfassung vor. Sie können aber auch erst nach der Beschlußfassung bei der Ausfertigung oder Verkündung entstehen. Bei der Beschlußfassung können, wie bereits ausgeführt, keine Textfehler aufkommen. Fehler, die nach der Beschlußfassung auftreten, sollen hier außer Betracht bleiben. In diesen Fällen wird nicht die Entscheidung des Gesetzgebers in Frage gestellt, sondern der ordnungsgemäße Ablauf des weiteren Verfahrens. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO 11) sieht für diese Fälle Lösungswege vor, die hier nicht untersucht werden sollen. Bis zur Beschlußfassung können Fehler dadurch entstehen, daß die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne unvollkommen umgesetzt wird. Sie können auch durch fehlerhafte Niederschriften aufkommen, die 7

8

9 8*

Schack, DöV 1964, S. 469. Staats, ZRP 1974, S. 183, 184. Staats, ZRP 1974, S. 183 f.

116

1. Teil: Die Interpretation von Gesetzen

weiterbearbeitet werden, ohne daß der Irrtum bemerkt wird. Im ersten Fall liegt der Mangel nicht bei der korrekten Weitergabe des Textes an die Stellen, die sich nachfolgend mit ihm befassen müssen, sondern bei der Willensbildung durch den Gesetzgeber. Im zweiten Fall hat der Gesetzgeber eine Regelungsabsicht im engeren Sinne gebildet, die seine Regelungsabsicht im weiteren Sinne zutreffend umsetzt, der dafür gewählte Ausdruck wird aber versehentlich verändert. Zu den fehlerhaften Gesetzen gehören nicht die Fälle, in denen der Gesetzgeber einen bestimmten Willen gebildet und auch entsprechend umgesetzt hat, in denen der Rechtsanwender die Lösung aber nicht für sinnvoll hält. Wie eine Norm ausgestaltet wird, ist Sache des Gesetzgebers, dessen Entscheidung nicht durch eine vermeintlich bessere Regelung ersetzt werden darf. Ist ein Fehler dadurch entstanden, daß durch die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im engeren Sinne seine Regelungsabsicht im weiteren Sinne nicht korrekt umgesetzt wurde, so kann es sich um den Fall einer anfänglichen unbewußten Lücke handeln, der dementsprechend zu behandeln ist. Möglicherweise ist die Regelung aber nicht zu eng (offene Lücke) oder zu weit (verdeckte Lücke) geraten, sondern schlicht von der eigentlich gewollten Norm verschieden. So z.B., wenn in einem Gesetz bei einer Geldsumme versehentlich von 500 DM anstatt von 700 DM die Rede ist, der Fehler aber so aufgetreten ist, daß die Norm der Regelungsabsicht im engeren Sinne entspricht. In diesem Fall geht es nicht um eine zu enge Norm. Sie ist nicht erweiterungsbedürftig, sondern "falsch". Man kann in solchen Fällen überhaupt nicht von einer Regelungslücke sprechen, da die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne nicht unvollständig sondern einfach unzutreffend umgesetzt wurde. Man kann aber die Kompetenz des Richters zur Abweichung vom durch Auslegung ermittelten Norminhalt in diesen Fällen ebenso begründen wie bei der Lückenfüllung. Es geht darum, die erkennbare Absicht des Gesetzgebers durchzusetzen 10. Da man vom Auslegungsergebnis abweicht, handelt es sich bei der Korrektur solcher Redaktionsversehen um Rechtsfortbildung. Etwas anderes gilt, wenn ein falsch abgefaßter Text zum Gegenstand des weiteren Verfahrens wird. Es kommt nicht darauf an, in welchen Worten der gesetzgeberische Wille durch Beschlußfassung verbindlich wird. Entscheidend ist, ob den Abgeordneten bei der Beschlußfassung der Wille der maßgebenden Ausschüsse und Kommissionen ersichtlich war. Läßt sich durch Auslegung ermitteln, wie die Frage geregelt werden sollte, oder kann man den Inhalt mit den dafür zugelassenen Kriterien festsetzen, so gilt

10 Siehe zur Kompetenz des Richters bei Lückenfüllung oben 1. Teil 2. Kap. D.I.3.

3. Kap.: Das Redaktionsversehen

117

diese Regelung unabhängig vom Wortlaut des Gesetzes. Ist die Auslegung erfolglos, so ist das Gesetz insoweit nicht anwendbar. Demnach sind die Fälle des fehlerhaft abgefaßten Gesetzes je nach Art des Mangels durch Auslegung oder Rechtsfortbildung zu lösen. Eine eigene Fallgruppe bei der Interpretation von Gesetzen bilden sie nicht. Eine Erweiterung gegenüber den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich lediglich insoweit, als zu den Fallgruppen der Rechtsfortbildung eine weitere hinzutritt: Wenn durch die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im engeren Sinne die Regelungsabsicht im weiteren Sinne nicht korrekt umgesetzt wird, ohne daß es sich um einen Lückenfall handelt, ist ebenfalls eine Rechtsfortbildung möglich. Redaktionsversehen fehlerhafte Niederschrift/Weitergabe des vorgesehenen Textes

Wille des Gesetzgebers kann durch Auslegung durchgesetzt werden

fehlerhafte Umsetzung der Regelungsabsicht im weiteren Sinne Lücke im Gesetz

keine Lücke im Gesetz

Rechtsfortbildung

Rechtsfortbildung nach den Grundsätzen über die Lückenfüllung

2. Te i I

Die Interpretation von Rechtsgeschäften 1. Kapitel

Die Auslegung im engeren Sinne A. Willenserklärung, Rechtsgeschäft und Vertrag Das BGB enthält im allgemeinen Teil zwei grundlegende Auslegungsregeln, von denen sich die eine, § 133 BGB, auf Willenserklärungen, die andere, § 157 BGB, auf Verträge bezieht. Beide Normen finden sich in dem Abschnitt über Rechtsgeschäfte. Bevor man sich mit der Auslegung beschäftigen kann, müssen die Begriffe "Willenserklärung", "Rechtsgeschäft" und "Vertrag" und ihr Verhältnis zueinander geklärt werden. Die Begriffe sind im BGB nicht definiert. Wie im ersten Teil dargelegt, ist die Bedeutung gesetzlicher Ausdrücke dadurch zu ermitteln, daß man den gesetzgeberischen Willen erforschtl. Dazu dienen vor allem die Materialien.

I. Die Begriffe nach den Materialien zum BGB In den Motiven zum BGB findet sich eine Definition des Begriffs Rechtsgeschäft. Es soll eine Privatwillenserklärung sein, die auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet ist, der nach der Rechtsordnung deswegen eintritt, weil er gewollt ist2 . Der Begriff der Willenserklärung wird nicht direkt definiert. Durch den Verweis, daß unter Willenserklärung die rechts geschäftliche Willenserklärung verstanden wird und die Begriffe "Rechtsgeschäft" und "Willenserklärung" im Entwurf in der Regel gleichbedeutend gebraucht werden 3 , eröffnet sich aber der Rückgriff auf die Definition des Rechtsgeschäfts. Allerdings ist darin der Begriff der Willenserklärung enthalten. Dieser kann 1 2

3

Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. B.1. 2. Motive I, S. 126. Motive I, S. 126.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

119

aber nicht mit sich selbst erklärt werden, so daß die Definition insoweit abgewandelt werden muß4 • Der Vertrag wird in den Motiven dem einselugen Rechtsgeschäft als zweiseitiges Rechtsgeschäft gegenübergestellt5 . Nach der Terminologie des BGB bildet also der Begriff des Rechtsgeschäfts den Oberbegriff, der in zweiseitige Rechtsgeschäfte (zwei Willenserklärungen, Bezeichnung: Vertrag) und einseitige Rechtsgeschäfte (eine Willenserklärung, keine besondere Bezeichnung) untergliedert ist. Dabei wird aber die Unterscheidung zwischen Rechtsgeschäft und Willenserklärung nicht strikt durchgeführt.

11. Die Begriffe in der Literatur In der Literatur wird das Rechtsgeschäft als Tatbestand bezeichnet, der aus mindestens einer Willenserklärung und möglicherweise noch weiteren Elementen besteht, die zur Herbeiführung einer Rechtsfolge erforderlich sind6 . So tritt z. B. bei der Eigentumsübertragung gern. § 929 S. 1 BGB der gewünschte Rechtserfolg nur ein, wenn zusätzlich zur Einigung die Sache dem Erwerber auch übergeben wird. Die Willenserklärung wird als Äußerung eines Willens bezeichnet, durch die eine Regelung in Geltung gesetzt wird 7 . Unter einem Vertrag wird ein Rechtsgeschäft verstanden, bei dem mindestens zwei Personen durch übereinstimmende Erklärungen Rechtsfolgen herbeiführen8 . Die Begriffe des Rechtsgeschäfts und der Willenserklärung können also zusammenfallen, wenn ein Rechtsgeschäft allein aus einer Willenserklärung besteht (einseitiges Rechtsgeschäft, z. B. Kündigung, Rücktrittserklärung)9. In der Regel erfordert ein Rechtsgeschäft jedoch mehrere Willenserklärungen (zwei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft, z. B. Kaufvertrag), möglicherweise ist noch eine weitere Handlung erforderlich 10. Zum hier verwandten Begriff siehe unten 2. Teil I. Kap. A. III. Motive I, S. 127. 6 Brox, BGB AT, Rdnr. 94f.; Flume, AT 11, S. 26f.; Larenz, BGB AT, S. 314ff.; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 2. 7 Flume, AT 11, S. 25; Larenz, BGB AT, S. 334f. 8 Brox, BGB AT, Rdnr. 76ff.; Larenz, BGB AT, S. 319f. 9 Flume, AT 11, S. 25f.; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 2. 10 Flume, AT 11, S. 26ff.; Larenz, BGB AT, S. 315f.; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 2. 4

5

120

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Bei den zwei- oder mehrseitigen Geschäften wird noch zwischen Verträgen und Beschlüssen unterschieden ll. Letztere sollen Verlautbarungen der Willensäußerungen von Personenvereinigungen sein, die auch diejenigen Mitglieder binden, die nicht zugestimmt haben. Dazu unterscheidet die Beschlüsse von Verträgen, daß sie nicht die Beziehungen der beschließenden Personen untereinander, sondern ihren gemeinsamen Rechtskreis gestalten 12.

IH. Hier zugrundegelegte Begriffe Die in der Literatur entwickelten Begriffe weichen unterschiedlich stark von denen aus den Materialien zum BGB ab. Das Rechtsgeschäft wird weitgehend gleich definiert, wobei die Literatur zum Tatbestand des Rechtsgeschäfts auch noch andere Handlungen als Willenserklärungen zählen will, wenn sie zur Herbeiführung der Rechtsfolge erforderlich sind. Dadurch wird aber kein entscheidender Unterschied begründet. Ähnliches gilt für den Vertragsbegriff, den die Literatur nur insoweit präzisiert, als auch mehr als zwei Parteien beteiligt sein können. Die abweichende Definition der Willenserklärung erklärt sich durch den Widerstreit unter den Anhängern der verschiedenen Theorien der Willenserklärung. Zur Zeit der Schaffung des BGB standen sich die Willens- und die Erklärungstheorie gegenüber. Ihre jeweiligen Vertreter stritten sich über die Behandlung von Willensmängeln 13 • Es ging also um den Fall des Abweichens des inneren Willens des Erklärenden vom Erklärten 14. Während nach der Willenstheorie in diesem Fall die Erklärung nichtig war, galt nach der Erklärungstheorie das Erklärte unabhängig vom Willen des Erklärenden. Beiden Theorien lag nach Larenz die Vorstellung zugrunde, daß die Willenserklärung Äußerung eines Wollens des Erklärenden ist 15 . Neben diese Flume, AT 11, S. 602; Larenz, BGB AT, S. 320. Larenz, BGB AT, S. 320. 13 Vertreter der Willenstheorie waren u.a. Eiseie, Jhr.Jb. 25 (1887), S. 414; Pernice, ZHR 25 (1880), S. 77, 113ff.; Savigny, System III, S. 258; Windscheid, AcP 63 (1880), S. 72; Windscheid/Kipp, Pandektenrecht I, S. 376f., Fn. la; Zitelmann, Jhr.Jb. 16 (1878), S. 357. Vertreter der Erklärungstheorie waren u.a. Bähr, Jhr.Jb. 14 (1875), S. 393,401; Danz, Auslegung, S. 14; Kahler, Jhr.Jb. 16 (1878), S. 325, 329ff.; Leonhard, ZHR 26 (1881), S. 284, 296ff.; ders., Irrtum, S. 322; ders., AcP 120 (1922), S. 14; Röver, Bedeutung des Willens, S. 47; Schall, Parteiwille, S. 30,41 ff.; Thon, Rechtsnorm, S. 354. 14 Dazu unten 2. Teil 1. Kap. B.1. 2. a). 15 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 37 ff. 11

12

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

121

Theorien trat später die Geltungstheorie 16 . Nach ihr waren Willenserklärungen nicht als Äußerung eines Wollens sondern als Äußerung, daß etwas gelten soll, zu verstehen 17 . Deshalb wurde der Umstand, daß eine Regelung in Geltung gesetzt wird, in die Definition der Willenserklärung aufgenommen. Flume widerspricht der Ansicht, daß nach der Willenstheorie der Charakter der Willenserklärung als Geltungserklärung verkannt wurde 18. Der Unterschied zwischen der Willens- und der Geltungstheorie liege allein darin, daß nach der letzteren die Erklärung auch dann gelte, wenn sie nicht dem Willen des Erklärenden entspreche 19 . Ein Gegensatz bestehe allein hinsichtlich des Nichtigkeitsdogmas der Willenstheorie. Die Geltungstheorie sei nichts anderes als die Erklärungstheorie2o •

Ob diese Auffassung zutreffend ist, oder ob die Unterschiede zwischen den Theorien doch größer waren, ist hier nicht von Bedeutung. Diese Frage soll daher nicht weiter verfolgt werden. Es kommt allein darauf an, ob sich die Geltungstheorie mit der Definition der Willenserklärung in den Motiven vereinbaren läßt, und welche Begriffsbestimmung zutreffend ist, falls das nicht der Fall ist. Zwar richtet sich die Bedeutung gesetzlicher Begriffe nach dem Willen des Gesetzgebers, so daß abweichende Literaturmeinungen grundsätzlich nicht zu einem anderen Gesetzesinhalt führen können 21 • Der Vorwurf der Vertreter der Geltungstheorie geht aber dahin, daß eine andere Theorie der Willenserklärung das Wesen solcher Erklärungen verkennt. Weicht also die Definition in den Motiven wesentlich von den Vorstellungen der Befürworter der Geltungstheorie ab, so muß man sich mit der Frage auseinandersetzen, ob der Gesetzgeber damit eine "falsche", dem Wesen der Willenserklärung nicht gemäße und damit korrekturbedürftige Definition in Kraft gesetzt hat. Nach der Geltungstheorie handelt es sich bei der Willenserklärung um eine Willensverwirklichung, die nicht zugleich Aussage über ein Wollen sein kann 22 • In dem Moment, in dem der Wille durch die Erklärung verwirklicht wird, ist für ein Wollen kein Raum mehr, der Rechtserfolg ist bereits herbeigeführt23 . Dieser Ansicht widerspricht die Definition der Wil16 Vertreter der Geltungstheorie sind u. a. Dulckeit, FS für Fritz Schulz I, S. 158 f.; Enneccerus/Nipperdey, AT 11, S. 898; Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts; ders., BGB AT, S. 333ff.; Pawlowski, BGB AT, Rdnr. 429ff.; Soergel-Hefermehl, Vor § 116, Rdnr. 7; Stathopoulos, 1. FS für Larenz, S. 357, 358ff. 17 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 45; ders., BGB AT, S. 334f. 18 Flurne, AT 11, S. 58 f. 19 Flurne, AT 11, S. 59. 20 Flurne, AT 11, S. 59. 21 Siehe dazu oben 1. Teil 1. Kap. B.II. 6. 22 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 48 ff. 23 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 49.

122

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

lenserklärung in den Motiven nicht. Nach den Motiven ist die Willenserklärung auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet, der nach der Rechtsordnung deshalb eintritt, weil er gewollt ist. Nach dieser Definition geht es also um eine Äußerung, durch die ein hinter ihr stehender Wille rechtlich umgesetzt werden soll. Die Äußerung ist auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet, sie soll einen Willen verwirklichen. Sie ist also nicht Kundgabe eines Wollens, sondern In-Geltung-setzen eines Rechtsfolgewillens. Das von Larenz betonte Moment der Willensverwirklichung, des Bewirkens einer Rechtsfolge, der rechtlichen Bindung wird mit dieser Definition also erfaßt. Es geht nicht um die bloße Mitteilung eines Willens, sondern um seine Verwirklichung durch die Erklärung. Durch die Definition wird aber auch berücksichtigt, daß die Äußerung auf einer Willensbildung des Erklärenden beruht, daß er eine bestimmte Rechtsfolge herbeiführen will. Dieses der Erklärung vorgeschaltete Wollen wird von Larenz in seinen Ausführungen zur Geltungstheorie zu stark in den Hintergrund gedrängt. Mit der Geltungstheorie meint Larenz, den Dualismus zwischen Wille und Erklärung überwunden zu haben. Es kommt seiner Ansicht nach für die Auslegung auf den Willen des Erklärenden gar nicht an 24 • Nach Larenz beruht ein Inhaltsirrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 BGB nicht auf einem Auseinanderfallen von Wille und Erklärung, sondern auf einer Divergenz zwischen der gemeinten (subjektiven) und der rechtsrnaßgeblichen (zurechenbaren) Erklärungsbedeutung 25 • Aber auch für Larenz ist eine solche Divergenz denkbar. Die gemeinte Bedeutung ist dabei nichts anderes als die Bedeutung, die dem Willen des Erklärenden entspricht, denn der Erklärende wollte mit der Erklärung eine bestimmte Rechtsfolge verwirklichen. Auch Larenz muß sich also mit dem Problem auseinandersetzen, daß die Erklärung möglicherweise rechtlich mit einem anderen Sinn wirksam wird, als es der Erklärende beabsichtigt hat26 . Larenz nimmt für diese Frage das Ergebnis vorweg, da nach seinem Gegensatzpaar die gemeinte Bedeutung der rechtsrnaßgeblichen gegenübersteht, selbst also von vornherein nicht rechtsmaßgeblich sein kann. Wie Enneccerus/Nipperdey zutreffend feststellen, ist es keine Frage der Logik, sondern eine Frage der Bewertung, ob man für die Gültigkeit einer Erklärung verlangt, daß der innere Wille mit der Erklärung übereinstimmt27 • In der Terminologie Larenz' würde man danach fragen, ob die gemeinte Bedeutung mit der nach den objektiven Verständnismöglichkeiten der Parteien gegebenen Bedeutung28 übereinstimmen muß. Da es sich aber Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 69. Larenz. Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 68. 26 Kritisch zur Geltungstheorie deshalb Flume. AT 11, S. 59; Hübner, BGB AT, Rdnr. 675; Soergel-Hejennehl. Vor § 116 BGB, Rdnr. 7. 27 Enneccerus/Nipperdey. AT 11, S. 1019f. 28 Zu dieser Erklärungsbedeutung Larenz. Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 69. 24 25

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

123

um eine Bewertungsfrage handelt, kann man das Problem nicht einfach hinwegdefinieren, indem man den Begriff der Willenserklärung so bildet, daß es auf die Vorstellungen des Erklärenden nicht ankommt und diesen Begriff als einzig richtigen, dem Wesen der Willenserklärung entsprechenden darstellt29 . Auch Larenz bemüht sich um eine Begründung dafür, daß die Erklärung mit ihrer objektiven Bedeutung gelten soll. Er stützt sich dabei auf die Zurechenbarkeit der Erklärungsbedeutung, also auf den Gedanken, daß die Bedeutung rechtsverbindlich ist, die für den Erklärenden die objektive iseo. Maßgeblich ist, wie der Gesetzgeber des BGB die Bewertung vorgenommen hat. Das Problem, wie die Fälle des Willensmangels zu lösen sind, wird an anderer Stelle wieder aufgegriffen 3l . Für die Frage nach dem Begriff der Willenserklärung kommt es nur darauf an, daß mit der Definition in den Motiven der Charakter der Willenserklärung als Geltungserklärung nicht verkannt wird. Gegenüber der Begriffsbestimmung der Geltungstheorie hat sie den Vorteil, daß der hinter der Äußerung stehende Wille des Erklärenden nicht aus den Augen verloren wird. Bei der Auslegung des § 133 BGB wird sich zeigen, daß entgegen der Ansicht von Larenz auch der Wille des Erklärenden, also sein subjektives Verständnis von der Erklärung, für die Auslegung eine Rolle spielt. Damit ist nicht gesagt, daß er unbedingt Geltung erlangen muß. Ein Mangel der Definition aus den Motiven besteht allerdings darin, daß das Definiendum ("Willenserklärung") durch den Verweis auf den Begriff des Rechtsgeschäfts auch im Definiens vorkommt. Um diesen Mangel zu beheben, braucht man aber nur das Wort Willenserklärung auf der Seite des Definiens zu ersetzen, z. B. durch "Äußerung eines Willens", ohne gleich den Rest der Definition fallenzulassen. Die Willenserklärung ist demnach Äußerung eines Willens, die auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet ist, der nach der Rechtsordnung deshalb eintritt, weil er gewollt ist.

B. Die §§ 133, 157 BGB Die Auslegungsnormen der §§ 133, 157 BGB sind als gesetzliche Vorschriften selbst auslegungsbedürftig. Sie werden hier zunächst getrennt daraufhin untersucht, welcher Auslegungsgegenstand erfaßt wird, was das Auslegungsziel ist, und welche Auslegungsmittel in Betracht kommen. Danach soll das Verhältnis der §§ 133, 157 BGB zueinander geklärt werden, insbe29 Vgl. auch die Kritik von Staudinger-Dilcher.. Vorbem. zu §§ 116 - 144, Rdnr. 10; kritisch zur Geltungstheorie auch Kellmann, JuS 1971, S. 609,610. 30 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 70ff.; ders., BGB AT, S. 335f. 31 Siehe unten 2. Teil 1. Kap. B.1. 2. a).

124

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

sondere die Frage, ob und wie weit ihre Anwendungsbereiche sich unterscheiden. Maßgeblich sind die Vorstellungen des Gesetzgebers, die vor allem anband der Materialien und mitHilfe systematischer Erwägungen ermittelt werden können 32 . I. § 133 BGB

1. Der Auslegungsgegenstand Auslegungsgegenstand ist bei § 133 BGB die Willenserklärung. Darunter ist eine Äußerung eines Willens zu verstehen, die auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet ise 3 . Bevor man aber eine Willenserklärung auslegen kann, muß man feststellen, ob es sich bei der fraglichen Äußerung überhaupt um eine Willenserklärung handelt. a) Die Tatbestandsmerkmale der Willenserklärung nach den Materialien In den Motiven wird von einer Willenserklärung (lies: Willensäußerung) gesprochen, die auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet ist, der nach der Rechtsordnung deswegen eintritt, weil er gewollt ise 4 • Aus dem Merkmal der Erklärung oder Äußerung kann man ableiten, daß ein äußerlich wahrnehmbares Verhalten gegeben sein muß, rein innerliche Vorgänge genügen nicht. Außerdem muß dem Erklärenden nach den Materialien bewußt sein, daß er eine rechtserhebliche Erklärung abgibt, denn sonst kann man nicht von einer Erklärung sprechen, die auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet ist. b) Die Tatbestandsmerkmale der Willenserklärung nach der Literatur, Stellungnahme In der Literatur wird zwischen der Erklärungshandlung als äußerlichem Merkmal der Willenserklärung und dem inneren Willen des Erklärenden unterschieden. Als Erklärungshandlung wird ein äußerlich wahrnehmbares Verhalten des Erklärenden gefordert35 . Insoweit besteht Übereinstimmung Zur Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 2. und 3. Siehe oben 2. Teil 1. Kap. A. III. 34 Motive I, S. 126. 35 Brox, BGB AT, Rdnr. 86ff.; Kellmann, JuS 1971, S. 609, 610; Staudinger-Dileher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr. 9. 32 33

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

125

mit dem Begriff nach den Materialien. Der innere Wille des Erklärenden wird in Handlungswillen, Erklärungsbewußtsein und Geschäftswillen unterteilt 36 . Unter dem Handlungswillen ist das Bewußtsein zu handeln zu verstehen. Es geht darum, ob ein vom Willen beherrschtes Tun gegeben ist37 . Mit dem Erklärungsbewußtsein ist das Bewußtsein einer Person gemeint, daß sie eine rechtserhebliche Erklärung abgibes. Auch dieses Merkmal läßt sich, wie gezeigt, aus der Definition in den Materialien ableiten. Der Begriff des Geschäftswillens wird nicht einheitlich verwande 9 . Zum Teil ist damit der Wille, eine bestimmte Rechtsfolge herbeizuführen, gemeint4o . Nach anderer Ansicht unterscheidet der Geschäftswille die mit rechtlicher Bindungsabsicht vorgenommene Erklärungshandlung von außerhalb solcher Bindungen verbleibenden Erklärungen (z. B. im Rahmen von Gefälligkeiten)41. Diese Abgrenzung wird aber schon durch das Erfordernis des Erklärungsbewußtseins geleistet. Damit ist das Bewußtsein gemeint, eine rechtserhebliche Erklärung abzugeben. Dadurch wird bereits die Grenze zwischen außerrechtlichen und rechtlich bindenden Äußerungen gekennzeichnet. Der Begriff des Geschäftswillens ist also nur im Sinne der ersten Ansicht als zusätzliches Element sinnvo1l 42 . Der Handlungswille wird als subjektives Merkmal neben einer Äußerung, die auf einen Geschäftswillen (und damit auch auf Erklärungsbewußtsein) schließen läßt, fast einhellig gefordert43 . Auf das Erklärungsbewußtsein des Erklärenden und seinen tatsächlichen Geschäftswillen soll es nach überwie. gender Ansicht nicht ankommen 44.

Vgl. die Darstellung bei Flume, AT 11, S. 46 f. Brox, BGB AT, Rdnr. 82; Flume, AT 11, S. 46; Larenz, BGB AT, S. 333; MK-Kramer, Vor § 116 BGB, Rdnr. 7a. 38 Brox, BGB AT, Rdnr. 83; Flume, AT 11, S. 46f.; Larenz, BGB AT, S. 354f.; MK-Kramer, Vor § 116 BGB, Rdnr. 8. 39 Flume, AT 11, S. 47. 40 Brox, BGB AT, Rdnr. 84. 41 Eisenhardt, JZ 1986, S. 875, 879; Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr. 21. 42 Vgl. auch Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 131. 43 Larenz, BGB AT, S. 333; MK-Kramer, Vor § 116 BGB, Rdnr. 7a; SoergelHefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 15; Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr. 17; a.A. Kellmann, JuS 1971, S. 609, 613f. 44 BGH, Urt. v. 7.6.1984, BGHZ 91, S. 324, 327ff.; Brox, BGB AT, Rdnr. 83; Bydlinski, JZ 1975, S. 1 ff.; Larenz, BGB AT, S. 354ff.; MK-Kramer, Vor § 116 BGB, Rdnr. 12; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 12f.; a.A. für das Erklärungsbewußtsein Canaris, Vertrauenshaftung, S. 427f.; Enneccerus/Nipperdey, AT 11, S. 901 ff.; Hübner, BGB AT, Rdnr. 677f.; Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr. 20. 36 37

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

aa) Handlungswille

Gegen das Erfordernis des Handlungswillens wendet sich Kellmann. Er will im Einklang mit der herrschenden Lehre schon für die Frage, ob überhaupt eine Willenserklärung vorliegt, die §§ 133, 157 BGB anwenden 45 . Danach komme es für die Einordnung eines Verhaltens als Willenserklärung allein auf das Urteil eines vernünftigen Beobachters an, dem dieselben Umstände bekannt sind wie dem Erklärungsempfänger. Subjektive Elemente beim Erklärenden seien völlig unbeachtlich 46 . Außerdem sei die Möglichkeit der Zustimmung bei Willenserklärungen eines MindeIjährigen nicht erklärbar, wenn bei rechts geschäftlicher Handlungsunfähigkeit schon keine Willenserklärung vorläge47 . Von dem Standpunkt aus, daß die §§ 133, 157 BGB auch für die Frage nach dem "Ob" der Willenserklärung gelten, ist Kellmanns Ansicht konsequent48 . Betrachtet man die Äußerung normativ, so sind subjektive Mängel beim Erklärenden solange unbeachtlich, wie sie nicht erkennbar hervortreten. Wer vom gleichen Ausgangspunkt aus den Handlungswillen für erforderlich hält, muß für das Abweichen von der rein normativen Betrachtung eine Begründung geben. Der Handlungswille wird jedoch ohne Begründung für unverzichtbar gehalten. Es ist aber schon abzulehnen, die Frage nach dem "Ob" einer Willenserklärung nach den §§ 133, 157 BGB zu bestimmen. Ob eine Willenserklärung gegeben ist, bestimmt sich danach, welche Erfordernisse man für sie für unentbehrlich erklärt. Der Begriff muß nicht unbedingt mit dem zusammenfallen, was nach außen hin (normativ betrachtet) wie eine Willenserklärung aussieht. Die Fragen nach dem "Ob" und nach dem Inhalt können nach verschiedenen Regeln entschieden werden49 . Was erforderlich ist, damit eine Willenserklärung gegeben ist, ergibt sich aus der Definition des Gesetzgebers. Möglicherweise muß diese noch ergänzt werden. Jedenfalls entscheidet sich die Frage nach dem "Ob" einer Willenserklärung danach, ob alle Merkmale der als maßgeblich ermittelten Definition vorliegen, nicht nach den §§ 133, 157 BGB.

45 Kellmann, JuS 1971, S. 609; ebenso Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 82f.; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 25; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 17. 46 Kellmann, JuS 1971, S. 609, 614. 47 Kellmann, JuS 1971, S. 609, 614. 48 Vorausgesetzt, man geht mit der herrschenden Lehre davon· aus, daß Willenserklärungen gern. §§ 133, 157 BGB normativ auszulegen sind. Zu dieser Frage . siehe unten 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. a). 49 AK~Hart, §§ 133/157 BGB, Rdnr. 7.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Damit ist noch nicht gesagt, daß Rechtsfolgen allein dann eintreten, wenn der Wille des Erklärenden der normativ betrachteten Erklärungshandlung vollständig entspricht oder wenn zumindest alle subjektiven Erfordernisse für eine Willenserklärung erfüllt sind. Möglicherweise kommt in Fällen fehlender Übereinstimmung eine Zurechnung des Erklärungstatbestandes als Willenserklärung in Betracht5o . Indem Kellmann auf die Zustimmungsmöglichkeit bei Erklärungen Minderjähriger verweist, verwendet er einen anderen Handlungsbegriff als den, um den es bei der Frage nach dem Handlungswillen geht. Er stellt auf die rechtsgeschäftliehe Handlungsfähigkeit ab, also auf einen normativen Begriff. Beim Handlungswillen geht es aber um eine tatsächliche Frage, nämlich darum, ob willensgesteuertes Verhalten vorliegt. Das kann auch bei Kindern der Fall sein, auch wenn das Gesetz ihren rechts geschäftlichen Erklärungen die Wirksamkeit versagt. Die rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit ist also von dem auf das Tatsächliche bezogene Handlungswillen zu unterscheiden. Es fehlt aber noch ein positive Begründung dafür, warum der Handlungswille notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer Willenserklärung ist. Sieht man das Erklärungsbewußtsein als notwendiges Merkmal für eine Willenserklärung an, so ergibt sich daraus im Regelfall, daß der Erklärende auch einen Handlungswillen gehabt haben muß. Nur wer sich willentlich auf eine bestimmte Art und Weise verhält, kann eine zielgerichtete Erklärung abgeben. Das trifft allerdings nicht auf den Fall der vis absoluta zu. Hier kann dem Erklärenden durchaus bewußt sein, daß seine "Erklärung" rechtserheblich ist, ohne daß er selbst handelt und handeln will. Allerdings kann man in diesem Fall schon nicht von einer Willensäußerung des Gezwungenen sprechen, es äußert sich vielmehr der Wille desjenigen, der Zwang anwendet. Anders ist es wiederum bei Anwendung von vis compulsiva, hier gibt der Gezwungene eine eigene Erklärung mit Handlungswillen ab - unfreiwillig, aber willentlich. Wegen dieses Zusammenhangs soll die Frage nach der Erforderlichkeit des Handlungswillens zusammen mit der Frage nach der Notwendigkeit des Erklärungsbewußtseins beantwortet werden. bb) Erklärungsbewußtsein

Ob das Erklärungsbewußtsein notwendiger Bestandteil der Willenserklärung ist, ist streitig. Nach einer Ansicht ist es erforderlich, weil sonst kein Akt der Selbstbestimmung des "Erklärenden" vorläge51 . Außerdem soll sich Dazu unten 2. Teil 1. Kap. B. I. 1. c). Canaris, Vertrauenshaftung, S. 428; Hübner; BOB AT, Rdnr. 678; für das Erfordernis des Erklärungsbewußtseins auch Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14,68. 50

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

das Erfordernis des Erklärungsbewußtseins aus § 119 Abs. 1 BGB ableiten lassen. Die Vorschrift zeige, daß doch immerhin eine Erklärung gegeben sein muß, bevor die Anfechtungsregeln zur Anwendung kommen 52 . Auch die Regelung des § 118 BGB soll für die Notwendigkeit des Erklärungsbewußtseins sprechen. Wenn schon die bewußt abgegebene Scherzerklärung nichtig sei, müsse das erst recht gelten, wenn das Bewußtsein, eine rechtserhebliche Erklärung abzugeben, aus anderen Gründen fehle 53 . Dagegen wird eingewandt, daß das Recht der Willenserklärung nicht nur vom Gedanken der Selbstbestimmung, sondern auch von dem des Vertrauensschutzes geprägt sei54 • Die Selbstbestimmung des Erklärenden werde durch die Anfechtungsmöglichkeit gern. § 119 Abs. 1 BGB (analog) gewahrt55 . § 119 Abs. 1 BGB sage über das Erklärungsbewußtsein nichts aus, weil der Wortlaut des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB auch auf den Fall passe, daß jemand überhaupt keine Erklärung abgeben wollte. Außerdem werde der Begriff der Willenserklärung in § 119 Abs. 1 BGB vorausgesetzt, nicht aber definiert56 . Schließlich sei der Größenschluß mit Hilfe des § 118 BGB nicht zutreffend, die beiden Fälle seien nicht vergleichbar57 • Von dem hier zugrundegelegten Standpunkt aus, nach dem vor allem der Wille des Gesetzgebers zu erforschen ist, sind die Argumente beider Seiten nicht entscheidend. Die Lösung ergibt sich bereits aus der Definition der Willenserklärung in den Materialien. Es soll deshalb hier auch auf eine ausführliche Darstellung der Streitfrage verzichtet werden. Die Definition der Willenserklärung enthält das Erfordernis, daß die Erklärung auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet sein muß. Sie ist zwar insofern unvollkommen, als sie das Wort Willenserklärung auch auf der Seite des Definiens enthält. Man kann es jedoch dort ohne weiteres durch "Willensäußerung" ersetzen, ohne den Sinn zu verfälschen. Auf den Rest der Definition hat das keinen Einfluß. Es bleibt bei dem Erfordernis, daß die Äußerung Enneccerus/Nipperdey, AT 11, S. 902, Fn. 26; Lehmann/Hübner; AT, S. 260. Enneccerus/Nipperdey, AT 11, S. 902, Fn. 26; Wieacker; JZ 1967, S. 385, 389. 54 BGH, Urt. v. 7.6.1984, BGHZ 91, S. 324, 330; Bydlinski, JZ 1975, S. 1, 4f.; Larenz, BGB AT, S. 356; MK-Kramer; § 119 BGB, Rdnr. 83; gegen das Erfordernis des Erklärungsbewußtseins auch Bickel, Auslegung, S. 125 ff., 129f. Mit anderer Begründung will auch Jahr; JuS 1989, S. 249, 256 den Fall des fehlenden Erklärungsbewußtseins dem § 119 Abs. 1 BGB gleichstellen, so daß die Äußerung zunächst gilt, aber mit der Folge der Verpflichtung zum Schadensersatz angefochten werden kann. 55 BGH, Urt. v. 7.6.1984, BGHZ 91, S. 324, 330; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB, Rdnr. 14. 56 Bydlinski, JZ 1975, S. 1, 2; MK-Kramer; § 119 BGB, Rdnr. 82; Kramer; Grundfragen, S. 170. 57 Bickel, Auslegung, S. 130f.; Flume, AT 11, S. 414f.; MK-Kramer; § 118 BGB, Rdnr. 9; vgl. auch Kramer; Grundfragen, S. 171. 52

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1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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auf einen rechtlichen Erfolg gerichtet sein muß. Der Erklärende muß also mit Erklärungsbewußtsein handeln. Daraus ergibt sich auch, daß die Erklärungshandlung mit Handlungswillen gesetzt worden sein muß. cc) Geschäftswille

Ob der Geschäftswille notwendiger Bestandteil der Willenserklärung ist, wird meist nicht diskutiert. Er ist es sinnvollerweise für diejenigen, die in ihm das Abgrenzungskriterium zur Erklärung ohne Rechtsbindungswillen sehen58 . Ansonsten wird darauf verwiesen, daß nach § 119 BGB eine fehlerhafte Äußerung des Geschäftswillens nicht den Tatbestand einer gültigen Willenserklärung ausschließt59 • Der Geschäftswille im hier zugrundegelegten Sinne ist für die Frage, ob eine Willenserklärung vorliegt, unerheblich. Wer sich mit Handlungswillen und Erklärungsbewußtsein äußert, hat auch den Willen, eine bestimmte Rechtsfolge herbeizuführen. Ein Geschäftswille ist also immer dann gegeben, wenn die beiden anderen Voraussetzungen erfüllt sind. Es kann zwar Abweichungen zwischen der tatsächlich gewollten Rechtsfolge und dem normativen Erklärungssinn geben. Ob eine Willenserklärung vorliegt, ist davon aber unabhängig. dd) Zusammenfassung zu den Tatbestandsmerkmalen der Willenserklärung

Zum Tatbestand einer Willenserklärung gehören demnach als äußerer Tatbestand eine äußerlich wahrnehmbare Erklärungshandlung und als innerer Tatbestand der Handlungswille und das Erklärungsbewußtsein des Erklärenden. Ein Geschäftswille des Erklärenden kann immer dann ermittelt werden, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, so daß der Geschäftswille kein zusätzliches Erfordernis für das Bestehen einer Willenserklärung ist. Bei ihm stellt sich nur die Frage, ob der letztlich geltende Erklärungsinhalt dem entspricht, was sich der Erklärende vorgestellt hat. Die Tatbestandsmerkmale der Willenserklärung kann man der Definition in den Materialien unmittelbar (Erklärungshandlung, Erklärungsbewußtsein) oder mittelbar (Handlungs wille) entnehmen.

58

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Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr. 21. Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 131; Soergel-Hefermehl, Vor § 116 BGB,

Rdnr. 11.

9 Kamanabrou

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

c) Zurechnung des äußeren Tatbestandes als Willenserklärung Nach den vorhergehenden Ausführungen kann bei normativer Betrachtung also der Anschein einer Willenserklärung vorliegen, obwohl tatsächlich keine gegeben ist. Das ist dann der Fall, wenn dem Erklärenden der Handlungswille oder das Erklärungsbewußtsein fehlt, und dies dem Erklärungsempfänger nicht erkennbar war. Es ist zu klären, ob dann dem "Erklärenden" die Äußerung als Willenserklärung zugerechnet wird, ob er also so behandelt wird, als ob er eine Willenserklärung mit dem Inhalt der fraglichen Äußerung abgegeben hätte. aa) Anlehnung an gesetzliche Fiktionen von Willenserklärungen

Eine solche Zurechnung trotz fehlenden Erklärungsbewußtseins oder Geschäftswillens 60 befürwortet Eisenhardt für den Fall, daß die Äußerung bei normativer Betrachtung als Willenserklärung zu verstehen war61 . Er stützt sich dabei auf die Fälle gesetzlicher Fiktionen von Willenserklärungen. Daß rechtlich relevantes Verhalten als Willenserklärung zugerechnet werde, sei zwar nicht der Regelfall, sei aber auch nicht außergewöhnlich 62 • Warum aber gerade in diesen Fällen eine Fiktion über die im Gesetz hinaus genannten Fälle eingreifen soll, begründet Eisenhardt nicht. Diese fingierten Willenserklärungen sollen jedenfalls in entsprechender Anwendung des § 119 BGB anfechtbar sein, mit der Folge der Ersatzpflicht gern. § 122 BGB 63 . Nach dem hier zugrundegelegten Begriff des Geschäftswillens tritt, anders als für Eisenhardt, die Zurechnungsfrage bei fehlendem Handlungsund Erklärungsbewußtsein, nicht aber bei fehlendem Geschäftswillen auf. Nach der gesetzlichen Konzeption werden rechtsgeschäftliche Verpflichtungen durch Willenserklärungen begründet. Fehlt es an einer Willenserklärung, so gibt es kein Rechtsgeschäft und keine daraus folgenden Verpflichtungen. Die Fälle fingierter Willenserklärungen bedurften gegenüber diesem Grundsatz besonderer Regelung. Ihre Übertragung auf weitere Fälle ist zwar möglich, bedarf aber einer Begründung, aus der hervorgeht, warum Rechtsfolgen im rechtsgeschäftlichen Bereich ohne Willenserklärung eintreten sollen. Die gesetzlichen Fiktionen treten an die Stelle fehlender Parteientscheidungen 64 • Sie dienen der Ergänzung einer bereits in gewissem Umfang bestehen60 61

62 63

Im Sinne von Wollen rechtlicher Geltung, vgl. oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 1. b). Eisenhardt, JZ 1986, S. 875, 880. Eisenhardt, JZ 1986, S. 875, 880. Eisenhardt, JZ 1986, S. 875, 880f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

131

den Rechtsbeziehung, sie ersetzen notwendige Parteierklärungen, ohne die die Rechtsbeziehung in der Schwebe hinge (vgl. z.B. §§ 108 Abs. 2 S. 2, 177 Abs. 2 S. 2,415 Abs. 2 S. 2, 516 Abs. 2 S. 2 BGB). Bei Äußerungen, die aufgrund des fehlenden Handlungswillens oder Erklärungsbewußtseins keine Willenserklärungen sind, handelt es sich in der Regel nicht um solche notwendigen Erklärungen. Meist sollen sie eine Rechtsbeziehung erst begründen. Fehlt in einem solchen Fall die Erklärung einer Partei, so ist das Rechtsverhältnis nicht entstanden. Möglicherweise sollen die fehlerhaften Erklärungen auch eine bestehende Rechtsbeziehung ausgestalten. Dabei handelt es sich aber normalerweise nicht um notwendige Ausgestaltung. Wenn solche Erklärungen nicht gemacht werden, ist es nicht erforderlich, daß das Gesetz eine adäquate Rechtsfolge bereitstellt. Handelt es sich um einen Punkt, der notwendigerweise zu regeln ist, wie z. B. Fragen der Gewährleistung, so stehen gesetzliche Vorschriften bereit, nach denen auftretende Schwierigkeiten zu lösen sind. Das Rechtsverhältnis hängt nicht in der Schwebe, wie in den Fällen, in denen der Gesetzgeber Fiktionen vorgesehen hat. Es besteht daher kein Grund, das Modell gesetzlicher Fiktionen von Willenserklärungen auf die Fälle des fehlenden Handlungswillens oder Erklärungsbewußtseins zu übertragen. Es gibt auch keine Anzeichen für eine Regelungslücke seitens des Gesetzgebers, die es erlaubte, eine Rechtsfortbildung in Anlehnung an gesetzliche Fiktionen durchzuführen. bb) Zurechnung aus Gründen des Vertrauensschutzes

Für eine Zurechnung als Willenserklärung könnte das Interesse des Erklärungsempfängers sprechen65 . Für diesen ist in der Regel nicht erkennbar, ob Handlungswille und Erklärungsbewußtsein des Erklärenden vorlagen. Er verläßt sich auf den äußeren Tatbestand der Willenserklärung und stellt sich auf ihre Rechtsfolgen ein oder gibt eine seinerseits erforderliche Erklärung ab, um eine Rechtsfolge herbeizuführen. So ist z. B. der Verkäufer eines Zeitungsabonnements weniger daran interessiert, ob ein Kunde sein Kaufangebot bewußt und willentlich abgegeben hat, sondern daran, das Abonnement zu verkaufen. Die Geltung als Willenserklärung muß aber für den Erklärungsempfänger nicht immer wünschenswert sein. Angenommen, einem Mieter geht eine "unbewußte" Kündigung seines Vermieters zu. Wenn dieser Mieter nicht von sich aus an der Beendigung des Mietverhältnisses interessiert ist, ist es für ihn die angenehmere Folge, wenn die Äuße64 Flume, AT II, S. 117; Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 116 - 144 BGB, Rdnr.43. 65 Hier soll der praktisch häufigere Fall der empfangsbedürftigen Willenserklärung besprochen werden. Die Überlegungen gelten aber z. B. auch für den Fall der Auslobung. 9*

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

rung nicht als Willenserklärung gewertet wird, also nicht die Rechtsfolge der Beendigung des Mietverhältnisses herbeiführt. Hier läge es vielleicht eher im Interesse des Vermieters, die Erklärung gelten zu lassen, wenn sich herausstellt, daß die Erklärung für ihn günstig war. Warum sollte ihm aber die versehentliche Äußerung zugute kommen? Zwar werden in den meisten Fällen die Interessen anders liegen. Man sollte trotzdem nicht den Normalfall unzulässig verallgemeinern und dabei die anderen Fallkonstellationen vernachlässigen. Selbst wenn man aber von dem Interesse des Erklärungsempfängers an der Geltung der Äußerung als Willenserklärung ausgeht, ist dieses Interesse nicht unbedingt vorrangig vor den umgekehrten Wünschen des Erklärenden. Der Erklärungsempfänger wird z. B. auch nicht in seinem Vertrauen auf die Geschäftsfähigkeit seines Geschäftspartners geschützt. Er kann also nicht davon ausgehen, daß immer dann, wenn der äußere Tatbestand einer Willenserklärung gegeben ist, auch tatsächlich eine wirksame Willenserklärung vorliegt. Der Vertrauens schutz des Erklärungsempfängers ist also nicht absolut. Bei hinreichenden Gegengründen auf Seiten des Erklärenden sind von seinen Interessen Abstriche zu machen. Gegen die Zurechnung als Willenserklärung spricht entscheidend die gesetzliche Konzeption, rechtsgeschäftliehe Bindung an Willenserklärungen zu koppeln. Die Selbstbestimmung des einzelnen spricht gegen seine Verpflichtung durch nicht willentlich oder ohne Erklärungsbewußtsein abgegebene Äußerungen. Eine Zurechnung des äußeren Tatbestandes als Willenserklärung ist daher abzulehnen. d) Exkurs: Ersatz des Vertrauensschadens bei fehlendem Erklärungsbewußtsein Keinem der beiden Interessen kann aber voll Genüge getan werden, ohne die andere Seite zu beeinträchtigen. Gibt man der Selbstbestimmung des Erklärenden den Vorrang, so entstehen möglicherweise beim Erklärungsempfänger, abgesehen vom entgangenen Geschäft, Schäden, weil er auf den äußeren Erklärungstatbestand vertraut hat. Die Frage des Ersatzes des Vertrauensschadens ist auch die eigentliche Problematik zumindest in den Fällen des fehlenden Erklärungsbewußtseins (die Fälle des fehlenden Handlungswillens werden nicht diskutiert). Eisenhardt, der die Zurechnung als Willenserklärung befürwortet, hält § 119 BGB für entsprechend anwendbar66 . Ebenso entscheiden sich die Vertreter der Ansicht, nach der das Erklärungsbewußtsein nicht notwendiger Bestandteil der Willenserklärung ist67 • Es geht also letztEisenhardt, JZ 1986, S. 875, 880f. BGH, Urt. v. 7.6.1984, BGHZ 91, S. 324, 330; Bydlinski, JZ 1975, S. 1, 5; Errnan-Brox, § 119, Rdnr. 24; Larenz, BGB AT, S. 357; MK-Kramer, § 119 BGB, Rdnr.87. 66 67

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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lich nicht darum, ob der "Erklärende" an die Primärfolgen seiner Erklärung gebunden ist, sondern darum, ob er den Vertrauensschaden des Erklärungsempfängers ersetzen muß. Im folgenden soll zunächst die Interessenlage zwischen den Parteien genauer untersucht werden, bevor die möglichen Rechtsgrundlagen für eine solche Haftung betrachtet werden. aa) Interessengegensatz der Parteien und Ersatz des Vertrauensschadens

Auf Seiten des Erklärungsempfängers gibt es mehrere Möglichkeiten. Er kann den Mangel der Willenserklärung erkannt oder nicht erkannt haben. Hat er ihn nicht erkannt, so kann diese Unkenntnis auf Fahrlässigkeit beruhen oder unverschuldet sein. Hat der Empfänger den Mangel erkannt, so ist sein Vertrauen auf das Vorliegen einer Willenserklärung nicht schutzwürdig. Andererseits ist es schutzwürdig, wenn er den Mangel ohne Verschulden nicht erkennt. Bei fahrlässiger Unkenntnis des Mangels ist die Bewertung zweifelhaft. Auch auf Seiten des Erklärenden sind mehrere Varianten denkbar. Beim fehlenden Erklärungsbewußtsein kann er den äußeren Erklärungstatbestand mit oder ohne Verschulden gesetzt haben. Beim fehlenden Handlungswillen fehlt es bereits an einem zurechenbaren Verhalten des "Erklärenden". Die Frage nach einem Verschulden kann also nur dahingehend gestellt werden, ob der "Erklärende" den entsprechenden Zustand hätte vermeiden können. Wurde der Erklärungstatbestand ohne Verschulden gesetzt, so spricht von der Person des Erklärenden her für eine Haftung auf Schadensersatz nur, daß er für seine Sphäre verantwortlich ist. Das unterscheidet ihn auch vom Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen, der diese generelle Verantwortung nicht trägt. Zumindest für den Fall des fehlenden Handlungswillens sind aber Zweifel anzumelden, weil dem "Erklärenden" dann selbst die Zurechenbarkeit für sein Verhalten fehlt. Hat er den Erklärungstatbestand schuldhaft gesetzt oder die Situation verschuldet, in der er keinen Handlungswillen hatte, so kann man ihm zusätzlich diesen Sorgfaltsverstoß vorwerfen und zum Anknüpfungspunkt einer Haftung machen. Kombiniert man diese Fallgruppen, so wird man die Haftung sicherlich für die Fälle ausschließen, in denen der Erklärungsempfänger den Mangel der Willenserklärung erkannt hat. Dagegen kann man die Haftung leicht befürworten, wenn er den Mangel unverschuldet nicht erkannt hat und der "Erklärende" schuldhaft handelte. Auch bei schuldlosem Setzen des Erklärungstatbestandes kann man möglicherweise mit Hilfe des Sphärengedankens die Haftung noch begründen. Schwieriger zu beurteilen sind die Fälle,

134

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

in denen der Erklärungsempfänger den Mangel fahrlässig nicht erkannt hat. Nicht nur den Erklärenden, auch den Erklärungsempfänger treffen Sorgfaltspflichten. Für die Schutzwürdigkeit seines Vertrauens spielt es eine Rolle, ob und in welchem Maße er seinerseits unsorgfältig gehandelt hat. Bei beiderseitigem Verschulden ist eine Schadensteilung je nach Maß des jeweiligen Verschuldens gerechtfertigt. Bei unverschuldeter Setzung des Erklärungstatbestandes durch den "Erklärenden" läßt aber das Verschulden des Erklärungsempfängers den Sphärengedanken zurücktreten, er muß seinen Schaden selbst tragen.

~

Erklärungstatbestand mit Verschulden gesetzt

Erklärungstatbestand ohne Verschulden gesetzt

Mangel erkannt

keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden

keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden

Mangel schuldhaft nicht erkannt

Schadensteilung

keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden

Mangel ohne Verschulden nicht erkannt

Schadensersatzpflicht des Erklärenden

Schadensersatzpflicht des Erklärenden?

Erklärungsempfanger

bb) Anspruchsgrundlage für den Schadensersatzanspruch des Erklärungsempfängers

Die Interessenbewertung hat ergeben, daß zumindest in elmgen Fällen des fehlenden Handlungswillens oder Erklärungsbewußtseins eine (teilweise) Schadensersatzpflicht des "Erklärenden" gerechtfertigt ist. Dabei geht es aber nur um den Ersatz des negativen Interesses. Das BGB stellt für diesen Fall keine Anspruchsgrundlage zur Verfügung. Es handelt sich bei der Äußerung nicht um eine Willenserklärung, so daß eine Anwendung der §§ 119, 122 BGB unmittelbar nicht in Betracht kommt. Möglicherweise enthält aber das BGB hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs des Empfängers der Äußerung eine Lücke, so daß man § 122 BGB analog anwenden kann 68 . In Betracht kommt eine anfängliche offene 68 In der Literatur wird nach überwiegender Meinung § 122 BOB direkt oder analog angewandt. So etwa von Erman-Brox, § 122 BOB, Rdnr. 3; Larenz, BOB AT, S. 367; MK-Kramer, § 122 BOB, Rdnr. 5. Nach anderer Ansicht besteht gegebenenfalls ein Schadensersatzanspruch aus c. i. c. Diese Auffassung vertreten Enneccerus/Nipperdey, AT, S. 902 Fn. 26 und Medicus, BOB AT, Rdnr. 608. Vgl. auch Lehmann/Hübner, AT, S. 260

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

135

Lücke. Eine solche Lücke ist gegeben, wenn der ungeregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne der gesetzlichen Regelung unterfallen müßte 69 . § 122 BGB gehört zu den Regelungen des BGB über Willensmängel. Aus den Materialien geht hervor, daß man die Fälle des Willensmangels einzeln betrachten und die widerstreitenden Interessen jeweils in billiger Weise zum Ausgleich bringen wollte 7o . Die Überlegungen wurden aber immer auf der Grundlage angestellt, daß überhaupt eine Willenserklärung vorliegt. Der Fall des Schadens bei Nichtbestehen einer Willenserklärung wurde nicht angesprochen. Man kann aus den Materialien deshalb nur schließen, daß diese Frage nicht bedacht wurde. Ein gesetzgeberischer Plan, über die Fälle der fehlerhaften Willenserklärung auch die der Nicht-Willenserklärung zu regeln, ist nicht erkennbar. Eine Lücke ist demnach nicht gegeben.

In Betracht käme nur eine gesetzes vertretende Rechtsfortbildung. Voraussetzung dafür wäre, daß die Nichtregelung des Schadensersatzanspruchs Grundrechte des Empfängers der Äußerung berührt. Ob diese Frage tatsächlich Grundrechtsrelevanz hat, ist zumindest zweifelhaft. Diese Frage muß aber nicht weiter verfolgt werden, da sich möglicherweise eine andere Lösung anbietet, die eine Rechtsfortbildung entbehrlich macht. Nach der Gegenüberstellung der Interessen des Erklärenden und des Erklärungsempfängers sollte letzterem ein Schadensersatzanspruch grundsätzlich nur dann zustehen, wenn den Erklärenden ein Verschulden trifft. Für den Fall, daß den Erklärenden kein Verschulden trifft, und der Empfänger den Mangel ebenfalls ohne Verschulden nicht erkannt hat, ist die Frage zunächst noch offen geblieben. Einen verschuldensabhängigen Schadensersatzanspruch könnte der Erklärungsempfänger möglicherweise aus c. i. c. geltend machen 71. Sein Mitverschulden wäre dann gern. § 254 BGB anspruchsmindemd zu berücksichtigen. Diese Lösung entspräche also der oben vorgenommenen Interessenbewertung. Das Vertrauen des Erklärungsempfängers wird im Vorfeld eines Vertragsschlusses geweckt, so daß die Regeln der c. i. c. anwendbar sind. Allerdings könnte die Anwendung dieses Rechtsinstituts deshalb zweifelhaft sein, weil es in der Regel an einer bewußten Aufnahme von Vertragsverhandlungen durch den Erklärenden fehlt. Es besteht aber kein Anlaß, den Schadensersatzanspruch aus c. i. c. auf solche Fälle zu beschränken, in denen der Erklärende die Vertragsbeziehung bewußt angebahnt hat. Auch wenn dem Erklärenden der HandlungsZum Lückenbegriff bei Gesetzen siehe oben 1. Teil 2. Kap. D.1. 1. Motive I, S. 94, 107. 71 Vgl. auch Enneccerus/Nipperdey, AT, S. 902 Fn. 26; Lehmann/Hübner; AT, S.260. 69

70

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

wille oder das Erklärungsbewußtsein fehlt, ist der Vertragspartner im oben dargelegten Umfang schutzwürdig. Da den Erklärenden eine Haftung nur bei Verschulden trifft, wird ihm mit der Verpflichtung zum Schadensersatz auch keine unzumutbare Last auferlegt. e) Keine Beschränkung auf einseitige Rechtsgeschäfte Mit Blick auf § 157 BGB stellt sich die Frage, ob § 133 BGB nur auf einseitige Rechtsgeschäfte anzuwenden ist, nicht aber auf Willenserklärungen in Verträgen. An dieser Stelle sollen aber Fragen, die sich aus dem Verhältnis der beiden Vorschriften zueinander ergeben, noch offen bleiben. Deshalb soll hier zunächst angenommen werden, daß § 133 BGB für alle Willenserklärungen gilt. Das kann aber in diesem Stadium der Untersuchung nur eine vorläufige Feststellung sein, die möglicherweise nach der Auslegung des § 157 BGB revidiert werden muß. f) Zusammenfassung zum Auslegungsgegenstand

§ 133 BGB ist auf Willenserklärungen anwendbar. Eine Willenserklärung ist gegeben, wenn eine Person einen äußeren Erklärungstatbestand mit Handlungswillen und Erklärungsbewußtsein gesetzt hat.

2. Das Auslegungsziel

a) Wille des Erklärenden oder normativer Erklärungssinn Auslegungsziel ist es entsprechend dem Ziel bei der Gesetzesauslegung, den Sinn der Willenserklärung zu ermitteln72. Welchen Sinn eine Erklärung hat, kann man aus verschiedenen Perspektiven zu ermitteln versuchen. Als Erklärungsinhalt und damit als Auslegungsziel kommen das subjektive Verständnis des Erklärenden von der Erklärung, das subjektive Verständnis des Erklärungsempfängers oder ein normativer Erklärungssinn in Betracht. Das subjektive Verständnis des Erklärenden oder des Erklärungsempfängers ist der Sinn, den der eine oder der andere tatsächlich mit der Erklärung verbunden hat. Der normative Erklärungssinn ist von diesen subjektiven Auffassungen von der Erklärung unabhängig, er beinhaltet das, was der Erklärungsempfänger nach den ihm erkennbaren Umständen der Erklärung hätte entnehmen müssen 73 . Häufig wird auch von einem objektiven Erklärungs72

B.1.

Zum Ziel der Auslegung bei der Gesetzesauslegung siehe oben 1. Teil 1. Kap.

73 Brox, BGB AT, Rdnr. 134; Larenz, BGB AT, S. 338f.; Pawlowski, BGB AT, Rdnr. 439f., 442; Soergel-Hefermehl, § 133 BGB, Rdnr. 14.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

137

sinn gesprochen74 . Das ist zwar insofern korrekt, als man die subjektiven Ansichten der Beteiligten zurückstellt. Durch das Wort "objektiv" wird aber ein aus der Erklärung ableitbarer Sinn suggeriert, den die Erklärung selbst in sich trägt. Wie sich bei der Gesetzesauslegung gezeigt hat, gibt es einen solchen objektiven Sinn von Worten aber nicht 75. Deshalb ist es vorzuziehen, von einer normativen Bedeutung zu sprechen. Eine solche normative Bedeutung kann im Gegensatz zu subjektiven Vorstellungen nicht festgestellt werden. Es handelt sich nicht um die Ermittlung eines tatsächlich existierenden Willens, sondern um eine Festsetzung des Erklärungsinhalts nach den Umständen. Auch bei der Auslegung von Willenserklärungen stößt man also auf das Gegensatzpaar Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung. Fraglich ist, aus welcher Perspektive nach § 133 BGB der Inhalt von Willenserklärungen zu bestimmen ist, ob es danach um Inhaltsfeststellung oder Inhaltsfestsetzung geht. § 133 BGB bestimmt für Willenserklärungen, daß nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen ist. Daraus scheint sich zu ergeben, daß Auslegungsziel bei der Auslegung von Willenserklärungen der Wille des Erklärenden, sein subjektives Verständnis von der Erklärung ist. Was er mit der Erklärung ausdrücken wollte, wäre dann ihr Inhalt. Das hieße, daß es nicht auf die Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers oder - bei nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen - eines Durchschnittsadressaten ankommt, sondern daß allein der Wille des Erklärenden den Inhalt der Erklärung bestimmt: Ein Ergebnis, das in der Literatur und Rechtsprechung als nicht interessengerecht angesehen und nirgends vertreten wird. Die Auswertung der Materialien führt aber auch zu einem anderen Resultat.

Zwar steht in den Motiven zu § 73 des ersten Entwurfs, dem heutigen § 133 BGB, ausdrücklich, daß die Regel unhaltbar ist, nach der "es bei einem Vertrag nicht auf den wirklichen Sinn der Rede des Vertragschließenden, sondern darauf ankomme, wie der andere Vertragschließende dieselbe nach den ihm vorliegenden Umständen auffassen mußte,,76. Damit scheint die Berücksichtigung des Empfängerhorizonts bei der Auslegung ausgeschlossen zu sein. Mit diesem Satz wenden sich die Redaktoren aber allein gegen die Möglichkeit, den Erklärenden an einen von ihm nicht gewollten Erklärungssinn zu binden. Der Erklärende dürfe nicht an seiner Erklärung im mißverstandenen Sinne festgehalten werden, denn damit 74 Brox, BGB AT, Rdnr. 133; Larenz, BGB AT, S. 338f.; Pawlowski, BGB AT, Rdnr.439. 75 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B.1. 1. b). 76 Motive I, S. 155.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

würde das Prinzip durchbrochen, daß Verträge nur durch übereinstimmende Willenserklärungen zustande kommen 77. Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob umgekehrt der Erklärungsempfänger an den ihm nicht erkennbaren Sinn der Willenserklärung nach dem Willen des Erklärenden gebunden ist. Auch das läßt sich aber aus den Materialien beantworten. In den Motiven heißt es gleich im Anschluß an die soeben zitierte Stelle, daß von der Verständnismöglichkeit des Empfängers die Tragweite seiner Erklärung abhängt78 . Nach den Motiven wird also weder der Erklärende an dem von ihm nicht gewollten Sinn der Erklärung festgehalten, noch der Erklärungsempfänger an dem ihm nicht verständlichen Sinn, den der Erklärende der Erklärung beigelegt hat. Daß der Empfängerhorizont für den Vertragsinhalt nicht maßgeblich ist, bedeutet allein, daß der Erklärende nicht an etwas gebunden wird, was seinem Willen nicht entspricht. Es heißt nicht, daß der Erklärungsempfänger einen Erklärungssinn gegen sich gelten lassen muß, der ihm nicht erkennbar war. Dieser Auffassung steht auch nicht das sogenannte Willensdogma entgegen, das dem Entwurf zum BGB noch zugrunde lag 79 . Es besagte nicht, daß der Wille des Erklärenden stets Geltung erlangen sollte. Nach ihm sollte es lediglich ausgeschlossen sein, daß der Erklärende an einen Erklärungsinhalt gebunden wurde, der nicht seinem Willen entsprach 8o . In den Motiven zu § 73 des Entwurfs wird damit bereits der Fall des Willensmangels angesprochen, nämlich der Fall, daß der Wille des Erklärenden nicht mit dem übereinstimmt, was der Erklärungsempfänger der Erklärung nach den Umständen entnehmen konnte. Die Willensmängel haben aber eine gesonderte Behandlung erfahren. Die Probleme, die in solchen Fällen entstehen, sind also nicht allein aus den kurzen Hinweisen in der Begründung zu § 73 des Entwurfs zu lösen. Hier geht es zwar nicht um Willensmängel, sondern um die Bestimmung des Auslegungsziels. Auch dafür ist aber ein Blick auf die §§ 116ff. BGB hilfreich. Auch aus diesen Vorschriften läßt sich ableiten, daß der Wille des Erklärenden nicht allein und letztgültig den Inhalt der Erklärung bestimmt. In ihnen werden Fälle geregelt, in denen der Wille des Erklärenden von dem abweicht, was er erklärt hat. Deutlicher als in der heutigen Fassung wird das noch in den entsprechenden Paragraphen des Entwurfs (§§ 95 ff.), in denen von der mangelnden Übereinstimmung des wirklichen Willens des Erklärenden mit seinem erklärten Willen die Rede ist. Wäre die Ansicht zutreffend, daß der Inhalt von Willenserklärungen sich nach dem Willen des Erklärenden bestimmt, so könnte eine solche mangelnde Übereinstimmung nie auftreten. 77

78 79

80

Motive I, S. 155. Motive I, S. 155. Zum Willensdogma im Entwurf des BGB Motive I, S. 189ff. Vgl. Motive I, S. 189f.; siehe dazu auch Flume, AT 11, S. 54f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

139

Der erklärte Wille entspräche dann immer dem wirklichen Willen des Erklärenden, Willensmängel wären ausgeschlossen 81 . Nur dann, wenn "das Erklärte" nicht automatisch mit dem Gewollten übereinstimmt, ist ein Auseinanderfallen von Wille und Erklärung möglich. Aus diesen Vorschriften läßt sich allerdings nicht ablesen, was "das Erklärte" ist, wenn es nicht der Wille des Erklärenden ist. In Betracht kommen das subjektive Verständnis des Erklärungsempfängers oder ein normativer Erklärungssinn. Um zu ermitteln, was "das Erklärte" im Sinne der §§ 116ff. BGB ist, muß man auf die Begründung zu § 73 des Entwurfs zurückgreifen, aus der sich ergibt, daß es für den Erklärungsempfänger nicht auf sein wirkliches Verständnis ankommt, sondern allein auf den normati ven Erklärungssinn82. Sowohl aus der Begründung zu § 73 des Entwurfs als auch aus einer systematischen Auslegung mit Blick auf die §§ 116ff. BGB ergibt sich also, daß Auslegungsziel bei der Auslegung von Willenserklärungen nicht allein der Wille des Erklärenden ist. Festgestellt wurde aber auch, daß es nach der Ansicht der Redaktoren nicht allein auf die Verständnismöglichkeit des Empfängers ankommt. Bis hierhin ergibt sich also, daß bei der Auslegung einer Willenserklärung sowohl die Verständnismöglichkeit des Empfängers als auch der Wille des Erklärenden zu ermitteln sind 83 . Man kann aber nicht an diesem Punkt die Untersuchungen zum Auslegungsziel abbrechen und es bei dieser Zweigleisigkeit bewenden lassen. Wenn ein solches doppeltes Auslegungsziel besteht, muß geklärt werden, was in dem Fall gilt, in dem der Wille des Erklärenden und der normative Erklärungssinn auseinanderfallen. Auch in solchen Fällen muß entschieden werden, ob und wenn ja mit welchem Sinn die Erklärung (vorläufig) Gültigkeit erlangt. Antwort darauf geben die §§ 116ff. BGB. Dabei soll § 117 BGB aus der Betrachtung ausgenommen werden, da er anders als die anderen Normen über Willensmängel einen Fall betrifft, in dem die Vertragsparteien sich trotz der Abweichung von Wille und Erklärung verstanden haben. Für die Mentalreservation gilt im Regelfall, daß sie unbeachtlich ist. Die Erklärung gilt gern. § 116 S. 1 BGB in dem Sinne, in dem der Erklärende 81 Larenz, BGB AT, S. 338; Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 53, 73f.; Reinicke, JA 1980, S. 455. 82 Motive I, S. 155, dazu schon oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. a); gegen eine Berücksichtigung des tatsächlichen Verständnisses des Erklärungsempfängers Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 108 ff. 83 Anders deutet dagegen Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 80f. § 133 BGB. Seiner Ansicht nach kommt es nicht auf den inneren Willen des Erklärenden an, sondern auf den individuellen Sinn des Vertrages. Auch nach Bicke!, Auslegung, S. 160 kommt es auf den wahren Willen des Erklärenden überhaupt nicht an.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

sie verstehen mußte. Gern. § 116 S. 2 BGB ist bei einer Mentalreservation bei einer empfangs bedürftigen Willenserklärung die Erklärung aber nichtig, wenn der Empfänger den Vorbehalt kennt. Daraus ergibt sich, daß im Regelfall die Erklärung mit dem Inhalt gilt, den der Erklärungsempfänger verstehen konnte. Auch beim erkannten Vorbehalt gilt aber nicht etwa der wirkliche Wille des Erklärenden als Erklärungsinhalt. Die Erklärung ist dann nichtig, sie wird mit keiner der möglichen Bedeutungen wirksam. Im Fall der Scherzerklärung ist die Erklärung gern. § 118 BGB nichtig, der Erklärende ist allerdings gern. § 122 Abs. 1 BGB zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet, wenn nicht der Geschädigte den Grund der Nichtigkeit kannte oder kennen mußte (§ 122 Abs. 2 BGB). Die Erklärung erlangt also in keinem Sinne Gültigkeit. Im Falle des Irrtums gilt die Erklärung gern. § 119 BGB zumindest zunächst in dem Sinne, in dem sie der Erklärungsempfänger verstehen mußte. Der Erklärende ist also entgegen den Ausführungen zu § 73 des Entwurfs zunächst an einen Erklärungssinn gebunden, den er nicht gewollt hat. Allerdings kann er sich von dieser Bindung lösen, indem er die Erklärung anficht 84 • In diesem Fall gilt die gleiche Regelung zum Ersatz des Vertrauensschadens wie bei § 118 BGB. Aus diesen Vorschriften ergibt sich also, daß die Willenserklärung bei Willensmängeln entweder nichtig ist, oder (zunächst) in dem Sinne gilt, in dem sie der Erklärungsempfänger verstehen mußte. Der wirkliche Wille des Erklärenden ist in keinem Fall vorrangig, in diesem Sinne gilt die Erklärung nie. Ziel der Auslegung von Willenserklärungen ist es also zum einen, den Willen des Erklärenden zu ermitteln und zum anderen, die Verständnismöglichkeit des Erklärenden zu bestimmen85 • Für den Fall, daß diese Inhalte 84 Die Irrtumsregelung war im Entwurf noch anders gestaltet. Nach der ursprünglichen Regelung war zwar in § 98 die Nichtigkeit der Erklärung vorgesehen. Die Willenserklärung war aber gern. § 99 gültig, wenn dem Erklärenden grobe Fahrlässigkeit zur Last fiel. In diesem Fall sollte der Erklärende also tatsächlich ohne Ausweg am normativen Erklärungssinn festgehalten werden. Mit der Anfechtungsregelung besteht kein Widerspruch zu der Stelle in den Materialien, nach der der Erklärende nicht an eine nicht willens gemäßen Erklärungssinn gebunden sein sollte (Motive I, S. 155), da der Erklärende ja die Möglichkeit hat, sich von der Erklärung zu lösen. 85 Ähnlich Brox, Irrtumsanfechtung, S. 108, 111 f., 116f., der zwischen "Richterauslegung" und "Empfängerauslegung unterscheidet". In beiden Fällen geht es ihm um die Ermittlung des "inneren, wirklichen Willens des Erklärenden" (S. 117). Der Unterschied soll darin liegen, daß dem Erklärungsempfänger weniger Auslegungsmaterial zur Verfügung steht (S. 112). Dem entspricht die hier gestellte Frage nach dem Willen des Erklärenden einerseits, bei der alle greifbaren Materialien herangezogen werden sollen, und die Frage nach der Verständnismöglichkeit des Empfängers andererseits, für die nur die ihm erkennbaren Umstände heranzuziehen sind.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

141

sich unterscheiden, ist nach den §§ 116ff. BGB zu klären, ob die Erklärung nichtig ist oder (vorläufig) mit dem Inhalt gilt, den der Erklärungsempfänger ihr nach den Umständen entnehmen mußte. Für die Frage nach Inhaltsfeststellung oder -festsetzung bedeutet das, daß zunächst beides geschieht, Inhaltsfeststellung für den Inhalt der Erklärung aus der Sicht des Erklärenden, Inhaltsfestsetzung für den Inhalt der Erklärung aus der Sicht des Erklärungsempfängers. Wenn dabei widersprüchliche Ergebnisse auftreten, gilt je nach Art des Willensmangels die Erklärung mit dem festgesetzten Inhalt, oder sie gilt überhaupt nicht. b) Geltung des übereinstimmend Gewollten Es kann vorkommen, daß eine Erklärung normativ betrachtet nicht eindeutig zu verstehen ist, die Parteien aber übereinstimmend einen bestimmten Erklärungssinn angenommen haben. Wieling bildet dazu folgendes Beispiel 86 : Ein Großhändler bietet einem Kaufmann einen Posten Eier zum Preis von 1 DM pro Stück an. Der Kaufmann erkennt, daß der angegebene Preis nicht stimmen kann. Er erkennt, daß entweder 10 oder 12 Eier für 1 DM verkauft werden sollen. Ohne nähere Anhaltspunkte geht er davon aus, daß 12 Eier 1 DM kosten sollen und nimmt das Angebot an. In diesem Fall ist die Erklärung normativ betrachtet unverständlich. Daß nicht ein Ei 1 DM kosten soll, ist erkennbar, ob aber 10 oder 12 Stück zu diesem Preis verkauft werden sollen, läßt sich nicht sagen. Trifft der Erklärungsempfänger das Verständnis des Erklärenden nicht, so ist keine Einigung gegeben. Trifft er es aber, so liegt es nahe, die Erklärung mit dem übereinstimmend angenommenen Sinn gelten zu lassen, auch wenn sie normativ betrachtet keinen Sinn enthält. Das gilt auch dann, wenn der Erklärungsempfänger den Irrtum nicht bemerkt, aber seinerseits irrtümlich das Angebot für die richtige Anzahl Eier versteht. So z. B., wenn der Kaufmann das Angebot nur flüchtig liest und irrtümlich davon ausgeht, es wären darin 12 Eier für 1 DM angeboten. Nach den zuvor dargestellten Gesichtspunkten müßte man einen Vertragsschluß auch bei übereinstimmendem Verständnis der Parteien verneinen, da es für den Erklärungsempfänger auf den normativen Sinn der Erklärung ankommt und ein solcher normativer Sinn nicht besteht. Der Großhändler hätte kein annahmefähiges Angebot abgegeben, die Antwort des Kaufmanns könnte also lediglich ein neues Angebot darstellen, das noch der Annahme durch den Großhändler bedürfte. Auch wenn eine Erklärung normativ verständlich ist, können die Parteien ein übereinstimmendes abweichendes Verständnis haben. So z. B., wenn V dem K eine Sache für 100 DM verkaufen will, irrtümlich aber von 86

Wieling, AcP 172 (1972), S. 297, 298 (Fn. 5).

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

100 Dollar spricht, K den Irrtum des Verkennt und das Angebot mit den Worten "Geht in Ordnung" annimmt. Möglicherweise erkennt der Erklärungsempfänger den Irrtum auch gar nicht, meint aber trotzdem zufälligerweise dasselbe wie der Erklärende. So in dem vorhergehenden Fall, wenn K den Irrtum des V zwar nicht erkennt, aber irrtümlich das Angebot des V mit einem Kaufpreis von 100 DM versteht und annimmt87 . In diesem Fall ist die Erklärung des V zwar anders als im von Wieling gebildeten Fall normativ verständlich, der Kaufvertrag ist normativ betrachtet mit einem Kaufpreis von 100 Dollar abgeschlossen worden 88 : Die Erklärung des V war von K normativ mit dem Inhalt ,,100 Dollar" zu verstehen, die Tragweite der Erklärung des K bestimmte sich nach diesem Verständnis, hätte also ebenfalls die Bedeutung ,,100 Dollar" 89. Das übereinstimmende Verständnis der Parteien weicht aber von diesem Erklärungssinn ab. Auch hier liegt es nahe, dem Verständnis der Parteien Geltung zu verschaffen. In beiden Fällen muß man begründen, warum für die Tragweite der Erklärung des Erklärungsempfängers ein anderer als der normative Erklärungssinn der Erklärung des Vertragspartners ausschlaggebend sein soll. Denn nach den Motiven kommt es für die Erklärung des Erklärungsempfängers nicht darauf an, wie er die Erklärung tatsächlich verstanden hat, sondern wie er sie nach den Umständen verstehen mußte. Diese Betrachtung ist aber dann wenig sinnvoll, wenn sich die Parteien tatsächlich verstanden haben. Die Literatur greift auf die gemeinrechtliche Regel falsa demonstratio non nocet zurück, um dem übereinstimmenden Verständnis der Parteien Geltung zu verschaffen 90, 91. Danach soll die objektive Mehrdeutigkeit oder Unrichtigkeit einer Bezeichnung dann nicht schaden, wenn der Empfänger sie in der vom Erklärenden gemeinten Bedeutung verstanden hat92 • Wieling weist zu Recht drauf hin, daß man die falsa-demonstratio-Regel dann nicht bemühen muß, wenn sich schon aus den Umständen der Erklärungssinn ergibt, den auch die Parteien zugrundegelegt haben 93 • Mayer-Maly betont, daß es nicht um das Abweichen von Wille und Erklärung, sondern um den Vgl. auch den Fall von Wieling, Jura 1979, S. 524,525. Vorausgesetzt ist hier, daß sich nicht aus den Umständen ergibt, daß ein Preis von 100 Dollar nicht gemeint sein kann. 89 Daran ändert sich auch nichts, wenn man berücksichtigt, daß die Erklärung des K aus seiner Sicht den Inhalt ,,100 DM" hat. Nach den Umständen ist seine Antwort "Geht in Ordnung" als Annahme eines Angebots über 100 Dollar anzusehen. 90 Gegen eine Berücksichtigung des übereinstimmenden Partei willens, der nicht aus den Umständen erkennbar ist, Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 103ff. 91 Dagegen begründet Stathopoulos, 1. FS für Larenz, S. 357, 365 umgekehrt die Regel "falsa demonstratio non nocet" mit der Geltung des übereinstimmenden Parteiwillens. 92 Danz, Auslegung, S. 63; Larenz, BGB AT, S. 339; sinngemäß auch Flume, AT 11, S. 303; MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 14; Staudinger-Dilcher. §§ 133, 157 BGB, Rdnr. 19f. 87

88

l. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Vorrang des übereinstimmenden Parteiverständnisses vor der normativen Auslegung geht94 . Deshalb gehören die Fälle nicht hierher, in denen das übereinstimmende Partei verständnis auch bei normativer Betrachtung Auslegungsergebnis ist. Das ist aber u. a. dann der Fall, wenn die Parteien bewußt vom üblichen Sprachgebrauch abweichen und deshalb den Erklärungen einen anderen Inhalt beilegen, als man ihn gewöhnlich annähme 95 , so z. B. in folgendem Fall: A möchte der B ein Bild des C schenken. Um ihren Geschmack zu treffen, zeigt er ihr im Atelier des C unter einem Vorwand mehrere Bilder und fragt sie nach ihrer Meinung. Am Ende der Besichtigung sagt er zu C, daß er den antiken Holzrahmen kaufen möchte, den C restauriert hat. Diesen Satz hatten A und C zuvor als Code für den Fall verabredet, daß A das Bild "Fliegende Pferde" kaufen möchte. C antwortet: "Geht in Ordnung." Nach üblichem Verständnis haben A undC sich über den Kauf eines Holzrahmens geeinigt. Beide legten allerdings der Erklärung den Sinn bei, daß das Bild "Fliegende Pferde" verkauft sein sollte. Auf den üblichen Sinn einer Erklärung kommt es jedoch auch gar nicht an. Bei der normativen Auslegung fragt man nicht nach dem üblichen Verständnis in irgendeinem Kontext, sondern nach dem Erklärungssinn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles. Hier ergibt sich bereits aus den Umständen (der vorherigen Absprache), wie die Erklärung zu verstehen ist (nämlich in dem Sinn, daß das Bild verkauft ist), die normative Auslegung führt also zu dem Verständnis, das die Parteien zugrundegelegt haben. Der normative Erklärungssinn und das Verständnis der Parteien stimmen überein. Dasselbe gilt auch für die zuvor genannten Irrtumsfälle: Wenn sich schon aus den Umständen ergibt, was gemeint war, fallen der normative Erklärungssinn und das Verständnis der Parteien zusammen, die Auslegung ist insofern unproblematisch. Daß die Erklärungen üblicherweise anders verstanden werden, spielt keine Rolle. Allerdings erweckt die Darstellung in der Literatur oft den Eindruck, als ob die falsa-demonstratio-Regel schon für die Anerkennung der normativen Erklärungsbedeutung bemüht wird, wenn diese vom "objektiv Erklärten" abweicht. Das ist nur dann verständlich, wenn man von der Existenz einer objektiven, in den Erklärungszeichen selbst enthaltenen Bedeutung einer Äußerung ausgeht. Diese Bedeutung würde dann zum Maßstab für das Verständnis der Parteien gemacht. Wie bereits dargelegt, kann man bestenfalls 93 Wieling, AcP 172 (1972), S. 297; ders., Jura 1979, S. 524, 525; ebenso Reinicke, JA 1980, S. 455, 456; vgl. auch Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 103ff. 94 MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 14. 95 Dagegen will Reinicke, JA 1980, S. 455, 456 diese Fälle über § 117 BGB lösen. Es geht hier aber nicht um zwei Rechtsgeschäfte, sondern um ein Geschäft mit einer besonderen Wortbedeutung. Zu diesem Unterschied siehe unten 2. Teil 1. Kap. c.m.l.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

feststellen, daß es eine übliche Verwendung bestimmter Zeichen gibt. Einen objektiven Sinn haben sie aber nicht 96 . Auch diese übliche Verwendung kann sinnvollerweise die Auslegung nicht begrenzen. Auslegungsziel für den Inhalt der Erklärung aus der Sicht des Erklärungsempfängers ist nicht "der" Erklärungssinn, sondern die Bedeutung, die der Erklärungsempfänger nach den ihm erkennbaren Umständen der Erklärung entnehmen mußte. Dadurch daß man auf den Empfängerhorizont abstellt, ist die Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch bereits gerechtfertigt. Zu begründen sind lediglich Abweichungen vom normativen Erklärungssinn. Die falsa-demonstratio-Regel ist also höchstens in den zuletzt genannten Fällen anzuwenden. Die Geltung des übereinstimmend Gewollten ist unproblematisch, wenn es mit dem normativen Erklärungssinn übereinstimmt. Es bleiben aber die anfangs genannten Irrtumsfälle, in denen das Parteiverständnis vom normativen Erklärungssinn abweicht oder eine Übereinstimmung besteht, ohne daß die Erklärung bei normativer Betrachtung einen Inhalt hätte (Bsp.: Eierfall und Dollarfall). Die falsa-demonstratioRegel, die die Literatur zur Lösung heranzieht, bedarf ihrerseits der Begründung, denn normalerweise soll ja für den Erklärungsempfänger der normative Erklärungssinn von Bedeutung sein. Eine Begründung wird aber in der Regel nicht gegeben, vereinzelt findet sich der Hinweis, daß es keinen Anlaß dafür gibt, den Parteien einen anderen Erklärungssinn aufzuzwingen97 • Wieling wendet dagegen ein, daß es zur Begründung einer Ausnahme nicht genügt, daß man keinen Grund habe, an der Regel festzuhalten 98 . Auch nach dem hier zugrundegelegten Ansatz ist eine solche Erklärung ungenügend. Durch Auslegung des Gesetzes hat sich ergeben, daß es für den Erklärungsempfänger auf den normativen Sinn einer Erklärung ankommt. Wenn ein anderer Erklärungssinn gelten soll, muß diese Abweichung vom Gesetz begründet werden. Die Vorschläge aus der Literatur sind zwar sinnvoll und entsprechen dem Grundsatz der Privatautonomie, sie stehen aber ohne Anknüpfung an das Gesetz im Raum. Wieling nimmt den Fall der falsa demonstratio zum Anlaß, den Grundsatz der objektiven Auslegung 99 generell in Frage zu stellen. Seiner Ansicht nach kommt es aus Gründen der Selbstbestimmung grundsätzlich auf den Willen des Erklärenden an 100. Begrenzt werde die Geltung dieses Willens Siehe dazu oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 1. b). Flume, AT 11, S. 299; Jahr, JuS 1989, S. 249, 251, 255; Larenz. BGB AT, S. 338; vgl. auch Mangold, NJW 1962, S. 1597; Wieser, JZ 1985, S. 407f. 98 Wieling. AcP 172 (1972), S. 297, 299. 99 Wieling, AcP 172 (1972), S. 297 spricht von objektiver Auslegung und objektivem Erklärungssinn; aus den oben 2. Teil 1. Kap. B.1. 2. a) genannten Gründen ist die Bezeichnung "normativ" vorzuziehen. lOO Wieling. AcP 172 (1972), S. 300. 96 97

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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nur durch die schutzwürdigen Interessen des Erklärungsempfängers, wenn dieser den Willen des Erklärenden nicht erkannt hat und auch nicht erkennen mußte. Auch dann gelte aber die Erklärung nicht in ihrer objektiven Bedeutung, sie sei vielmehr unwirksam. Den Interessen des Erklärungsempfängers genüge der Ersatz seines Vertrauensschadens 101. Dem widerspreche auch nicht § 119 Abs. 1 BGB, denn die Anfechtbarkeit bedeute nicht die Gültigkeit der Erklärung, sie sei eine besondere Form der Ungültigkeit, auf die der Erklärende sich berufen müsse lO2 . § 119 Abs. 1 BGB besage also durchaus nicht, daß Erklärungen in ihrem objektiven Sinn gelten lO3 . So weit ist Wieling aber nicht zuzustimmen. Er sieht in § 119 Abs. 1 BGB eine den Erklärenden begünstigende Regelung, weil er die Wahl hat, die Erklärung zu vernichten, oder sie in ihrem normativen Sinne gelten zu lassen. Die Regelung ist aber für den Erklärenden nicht unbedingt immer günstig, da er Gefahr läuft, die Anfechtungsfrist zu versäumen. Dann wird er doch am normativen Erklärungssinn festgehalten. Auch wenn er die Frist nicht versäumt und seine Wahlmöglichkeit nutzt, bleiben ihm nur die Möglichkeiten, daß die Erklärung nicht gilt, oder daß sie in ihrer normativen Bedeutung gilt. Sein subjektives Verständnis kann dagegen nur dann gelten, wenn der Erklärungsempfänger diese Bedeutung akzeptiert, wovon im Regelfall nicht auszugehen ist. Wenn also der Erklärung Geltung zukommen soll, dann kann das im Normalfall nur mit ihrem normativen Sinn geschehen. Darüber hinaus läßt sich die Geltung des normativen Erklärungssinnes nicht nur aus § 119 Abs. 1 BGB begründen, sondern auch aus anderen Hinweisen aus den Materialien. Danach ist der normative Erklärungssinn für den Inhalt der Erklärung aus der Sicht des Erklärungsempfängers maßgeblich 104. Damit bleibt die Begründung offen, warum bei übereinstimmendem abweichenden Parteiverständnis für den Erklärungsempfänger ein anderer als der normative Erklärungssinn gelten soll. Um diese Frage zu beantworten, muß man sich zunächst vor Augen führen, warum für ihn der normative Erklärungssinn maßgeblich ist. Es ging bei der Unterscheidung zwischen dem Willen des Erklärenden und der Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers darum, den Erklärenden nicht an einen von ihm nicht gewollten Erklärungssinn zu binden und den Erklärungsempfänger nicht an einen für ihn nicht erkennbaren Sinn 105. Was bei Abweichungen Wieling, AcP 172 (1972), S. 30lf. Wieling, AcP 172 (1972), S. 302; vgl. auch Jahr, JuS 1989, S. 249, 255, der den Ersatz des Vertrauensschadens als wesentliche Rechtsfolge bei der Irrtumsanfechtung ansieht. 103 Wieling, AcP 172 (1972), S. 304. 104 Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. a). 105 Motive I, S. 155. 101

102

10 Kamanabrou

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

zwischen diesen Inhalten gelten soll, regeln die §§ 116ff. BGB. Man wollte in ihnen die Fälle des Willensmangels jeweils einzeln betrachten und die widerstreitenden Interessen in billiger Weise zum Ausgleich bringen 106. Dabei wurde der Fall nicht besprochen, daß die Parteien die Erklärung im selben Sinne verstanden haben, d. h. das subjektive Verständnis des Erklärenden dasselbe wie das des Erklärungsempfängers ist. In diesem Fall gibt es zumindest im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Erklärung keinen Interessenwiderstreit. Dieser tritt in solchen Fällen erst dann auf, wenn eine der Parteien die Erklärung nicht mehr in dem ursprünglich gemeinten Sinn gelten lassen will, weil ein anderes Verständnis inzwischen für sie günstiger ist. Es kann aber nicht darauf ankommen, was für Wünsche und Ziele eine Partei nach dem Wirksamwerden ihrer Willenserklärung hat. Die Möglichkeit, seine Rechtsverhältnisse durch Rechtsgeschäfte selbst zu gestalten, schließt auch die Bindung an vereinbarte Regelungen ein.· Demnach kommt es also für die Frage nach dem Inhalt der Erklärung auf den Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens an 107. In diesem Moment waren sich die Parteien aber in den genannten Fällen einig, wenn auch ihr Erklärungssinn für andere nicht erkennbar war. Ein Interessenkonflikt, wie ihn der Gesetzgeber in den §§ 116ff. BGB lösen wollte, ist nicht gegeben. Die hier geschilderten Fälle sind aber vom Gesetzgeber des BGB nicht gesondert betrachtet worden. Es findet sich in den Materialien kein Hinweis darauf, daß der normative Erklärungssinn nicht maßgeblich sein soll und sie nicht den Regeln über den Dissens (Eierfall) oder der Anfechtung (001larfall) unterliegen sollen. Durch Auslegung läßt sich der Wille der Parteien demnach nicht für maßgeblich erklären. Man könnte aber möglicherweise durch eine Rechtsfortbildung das gewünschte Ergebnis erreichen. § 133 BGB, nach dem der normative Erklärungssinn für den Erklärungsempfänger ausschlaggebend ist, könnte gemessen am Willen des Gesetzgebers lückenhaft sein, weil ihm eine Einschränkung für den Fall des übereinstimmenden Verständnisses der Parteien fehlt (anfängliche verdeckte Lücke). Eine anfängliche Lücke ist dann gegeben, wenn es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, seine Regelungsabsicht im weiteren Sinne fehlerlos umzusetzen 108. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht im engeren Sinne ging dahin, weder den Erklärenden an einen von ihm nicht gewollten Erklärungssinn zu binden, noch den Erklärungsempfänger an einen für ihn nicht erkennbaren Sinn. Für den Fall des Auseinanderfallens der jeweils maßgeblichen Erklärungsinhalte wurden die Regelungen der §§ 116ff. BGB mit ihrem oben 106 107 108

Motive I, S. 94, 107. AA ohne Begründung Staudinger-Dilcher, § 133 BGB, Rdnr. 19. Siehe zu anfänglichen Gesetzeslücken oben 1. Teil 2. Kap. D.1. 2. b).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

147

beschriebenen Inhalt geschaffen. Welcher Erklärungssinn in einem solchen Fall letztlich gilt, wurde vom Gesetzgeber über die Fälle des Willens mangels geregelt. Deshalb sind seine Überlegungen zu den Willensmängeln auch für die Frage nach dem Auslegungsziel relevant. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht im weiteren Sinne war dabei, die Interessenkonflikte in diesen Fällen jeweils in billiger Weise zum Ausgleich zu bringen. Diese Absicht ist insoweit nicht korrekt verwirklicht worden, als die Fälle der Willensübereinstimmung trotz Irrtums nicht gesondert betrachtet wurden. Sie fallen unter die Irrtumsregeln (Dollarfall) oder die Regeln über den Dissens (Eierfall), ohne daß der übliche Interessenwiderstreit gegeben ist. Die Normen schießen also über ihr Ziel hinaus. Es ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber ebenfalls die naheliegende und der Privatautonomie entsprechende Lösung gewählt und in diesen Fällen das Verständnis der Parteien für maßgeblich erklärt hätte. Man kann also von einer Lücke gemessen an der gesetzgeberischen Absicht ausgehen. Diese Lücke war von Anfang an im BGB enthalten, es handelt sich um eine verdeckte Lücke, da es an einer Einschränkung der normativen Auslegung fehlt. Diese anfängliche verdeckte Regelungslücke kann im Wege der teleologischen Reduktion geschlossen werden. § 133 BGB, nach dem der normative Erklärungssinn für den Erklärungsempfänger maßgeblich ist, findet dann keine Anwendung, wenn die Parteien übereinstimmend von demselben Erklärungssinn ausgegangen sind. In diesem Fall ist dieser Erklärungssinn maßgeblich. Das gilt zum einen dann, wenn irrtumsbedingt das subjektive Verständnis des Erklärenden vom normativ feststellbaren Erklärungssinn abweicht (Dollarfall). Es gilt auch dann, wenn irrtumsbedingt eine Erklärung abgegeben wurde, die keinen normativen Erklärungssinn hat (Eierfall)109. Für die Frage nach Inhaltsfeststellung oder Inhaltsfestsetzung bedeutet dies folgendes. Durch Auslegung hat sich ergeben, daß eine Willenserklärung nur mit einem festgesetzten Inhalt oder überhaupt nicht wirksam werden kann. Durch Rechtsfortbildung kommt man zu dem Ergebnis, daß auch der festgestellte Erklärungssinn, den die Parteien übereinstimmend angenommen haben, Geltung erlangen kann. Wie diese zwei endgültigen Auslegungsziele zueinander stehen, muß noch geklärt werden llO .

109 Es sei noch einmal daran erinnert, daß es auf die Unterscheidung zwischen den denkbaren Erklärungsbedeutungen nicht ankommt, wenn der normative Erklärungssinn und das subjektive Parteiverständnis zusammenfallen. Denn in einem solchen Fall kommt man zum selben Ergebnis, gleich ob man den normativen oder den jeweiligen subjektiven Sinn der Erklärung betrachtet (siehe dazu oben 2. Teil 2. Kap. B.I.2.b». 110 Dazu unten 2. Teil 1. Kap. B.I.4. 10*

148

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

c) Mehrere Bedeutungen einer Willenserklärung Die vorstehenden Grundsätze können ohne Probleme angewandt werden, wenn nur zwei Personen beteiligt sind. Schwierigkeiten treten dann auf, wenn die Erklärung mehrere Personen angeht und diese die Erklärung jeweils unterschiedlich verstehen. So z. B. in folgenden Fällen: Auslobungsfall' I I: A lobt eine Belohnung für nützliche Hinweise zur Ergreifung des Täters im Fall X aus, meint aber "im Fall Y". B gibt nützliche Hinweise im Fall X. C errät, worum es dem Auslobenden eigentlich ging und gibt nützliche Hinweise im Fall Y. Steht beiden eine Belohnung zu? B hat die Erklärung in ihrem normativen Sinne verstanden, C in dem Sinn, in dem A sie gemeint hat. Betrachtet man die Verhältnisse zwischen A und Bund A und C jeweils für sich, käme man deshalb in beiden Fällen zu einer Geltung der Erklärung im Sinne des Empfängers. Dann würde aber ein und dieselbe Erklärung zwei verschiedene Bedeutungen haben, was zunächst befremdlich wirkt II2 . Möglicherweise gilt also allein ein Erklärungssinn. Will man nur eine Bedeutung gelten lassen, so muß man wohl der normativen den Vorzug geben, da sie dem "normalen" Verständnis des Durchschnittsempfängers entspricht. Allerdings ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, warum C, der das eigentliche Anliegen des A erkannt hat, leer ausgehen soll. Gegen eine unterschiedliche Geltung ist aber letztlich auch nichts einzuwenden. Der Erklärende, der sich an mehrere Personen zugleich wendet, bewirkt selbst die Gefahr von Mißverständnissen. Er wendet sich für seine Zwecke an einen unbestimmten Personenkreis, stellt also selbst den Kontakt zu einer Vielzahl von Personen her. Damit muß er auch das Risiko tragen, daß er von einigen in seinem Sinne, von andern im normativen Sinne der Erklärung verstanden wird. Gegen keine der Bedeutungen kann er Einwände erheben, da die eine von ihm gewollt war, die andere von ihm hervorgerufen wurde'l3. Ein ähnliches Problem stellt sich in folgendem Zustimmungsfall II4: Die siebzehnjährige M will bei V einen Computer kaufen. V führt ihr einen 486 SX33 mit entsprechendem Zubehör zum Preis von 3.500 DM vor, der der M auch zusagt. Sie erklärt dem V, daß sie zunächst die Zustimmung ihrer Nach Jahr, JuS 1989, S. 249, 256 (Fn. 83). Daß eine Erklärung zwei verschiedene Bedeutungen hat, gilt nicht bereits in den Fällen, in denen das subjektive Verständnis des Erklärenden vom normativen Verständnis des Erklärungsempfängers abweicht. Zwar werden zunächst diese unterschiedlichen Inhalte festgestellt, letztlich gilt aber die Erklärung entweder nicht, oder in einem (dem normativen) Sinne. 113 Für eine unterschiedliche Auslegung bei teils normativem, teils tatsächlichem Verständnis der Erklärung auch Flume, AT 11, S. 304 f. 114 Vgl. zu zustimmungsbedürftigen Rechtsgeschäften Flume, AT 11, S. 305. 111

112

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

149

Eltern einholen muß und bittet ihn deshalb um ein schriftliches Angebot, anhand dessen sie ihren Eltern die Vorzüge des Gerätes darlegen kann. V verfaßt ein solches Angebot, bei dem er irrtümlich an Stelle von ,,486 SX33" ,,486 DX 4/100" schreibt ll5 . Das Angebot bezieht sich ausdrücklich auf das vorgeführte Gerät. Die Eltern der M sind von dem Preis-Leistungsverhältnis überzeugt und stimmen dem Kauf zu. Daraufhin schließen M und V einen Kaufvertrag über den 486 SX 33 ab. Als die Eltern davon erfahren, verlangen sie von V gegen Rückgabe des Computers den Kaufpreis heraus, sie hätten diesem Geschäft nicht zugestimmt. Der Kaufvertrag zwischen M und V sollte nach ihrem übereinstimmenden Verständnis über den 486 SX 33 geschlossen werden. Das wäre auch das Ergebnis einer normativen Auslegung des Angebots des V aus der Sicht der M. Insofern unterscheidet sich dieser Fall vom Auslobungsfall, in dem das Verständnis des C durch normative Auslegung nicht ermittelt werden konnte. Hier fällt im Verhältnis zwischen M und V ihr subjektives Verständnis mit der normativen Bedeutung des Angebots zusammen. Die Eltern haben das Schreiben des V so verstanden, daß ihrer Tochter ein 486 DX 4/100 für 3.500 DM angeboten wird. Ihr Verständnis weicht also vom Parteiverständnis ab. Von ihrem Empfängerhorizont her war das Angebot aber auch nur in ihrem Sinne zu verstehen. Nur dafür haben sie ihre Zustimmung erteilt. Dem Kauf, wie ihn M und V verstanden haben, haben sie nicht zugestimmt, sie wollen ihn auch offensichtlich nicht genehmigen. Es ist Sache der Vertragsparteien, ihre Erklärungen so zu formulieren, daß der Zustimmende sie richtig versteht. Sie haben es selbst in der Hand, sich verständlich auszudrücken. Deshalb müssen sie, ähnlich wie der Auslobende im vorhergehenden Fall, das Risiko eines Mißverständnisses tragen. Der Kaufvertrag zwischen V und M ist daher mangels Einwilligung der Eltern unwirksam, V muß den Kaufpreis gern. § 812 Abs. 1 S. 1 BGB zurückzahlen. Das Problem unterschiedlicher Bedeutungen einer Erklärung kann auch dann auftreten, wenn die Erklärung je nach Empfängerhorizont einen anderen normativen Sinn hat. Es geht dann nicht mehr um den Konflikt zwischen übereinstimmendem subjektivem Verständnis einerseits und normativem Erklärungssinn andererseits, sondern um zwei unterschiedliche normative Bedeutungen 1l6 • So z.B. in folgendem Fall: A besitzt ein Haus mit drei Wohnungen. Nur eine der Wohnungen hat einen Balkon. Sie liegt im 1. Stock. A verhandelt Dabei handelt es sich um einen leistungsfähigeren Prozessor. Flume, AT II, S. 304f. behandelt nur den Fall, daß die Erklärung z. T. im Sinne des Erklärenden, z. T. in ihrer normativen Bedeutung verstanden wurde. Auf kollidierende normative Bedeutungen geht er nicht ein. 115

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

mit B darüber, ihm "die Wohnung mit Balkon" zu vermieten. Dabei denkt er irrtümlich, es handele sich um die Wohnung im 2. Stock. Allein diese Wohnung will er vermieten. Schließlich schreibt er an B, er wolle ihm, wie besprochen, die Wohnung im 2. Stock ab dem 1. 1. 1996 für sechs Monate vermieten. Der Mietzins soll 800 DM pro Monat betragen. Da zuvor von Stockwerken nicht die Rede war, geht B davon aus, daß es sich um die Wolmung mit Balkon handelt, über die verhandelt worden ist. Er schreibt dem A, daß er das Angebot annimmt. Am 1. 1. 1996 übergibt A dem B die Schlüssel. Dieser kann aber vorerst noch nicht umziehen, so daß der Irrtum unbemerkt bleibt. Am 3.1.1996 veräußert A das Grundstück an C. Da dieser nach bestehenden Mietverträgen fragt, legt er ihm den Brief an B und dessen Antwort vor. C entnimmt daraus, daß die im ersten Stock liegende Wohnung mit Balkon frei ist. Er vermietet die Wohnung seinerseits ab dem 15.1.1996 an D. B verlangt von C, daß er ihm die Wohnung mit Balkon für sechs Monate überläßt. Da die Mietdauer jedenfalls weniger als ein Jahr beträgt, greifen die §§ 580, 566 BGB nicht ein. Formfragen sind also hier noch nicht von Bedeutung. Betrachtet man zunächst nur das Verhältnis zwischen A und B, so ist der Mietvertrag über die Wohnung mit Balkon abgeschlossen worden. A meinte, einen Mietvertrag über die Wohnung im zweiten Stock abzuschließen, B ging davon aus, daß er mit seiner Antwort die Wohnung mit Balkon mietet. A und B haben ihre Erklärungen also nicht in einem übereinstimmenden Sinn verstanden. Die Erklärungen sind aufgrund der Vorverhandlungen normativ dahin auszulegen, daß der Mietvertrag über die Wohnung mit Balkon im 1. Stock zustandegekommen ist. Betrachtet man allein die Verständnismöglichkeit des C, so muß man davon ausgehen, daß die Wohnung im 2. Stock vermietet wurde. Anders als im Auslobungsfall ist C zwar nicht potentieller Erklärungsempfänger, sondern steht außerhalb der Vertragsbeziehung von A und B. Deren Mietvertrag ist aber bedeutend für eine eigene rechtsgeschäftliche Entscheidung des C. Ob er das Haus des A kauft und ab wann er welche Wohnung weitervermietet, hängt auch davon ab, welche Vereinbarung zwischen A und B besteht, in die C gern. § 571 Abs. 1 BGB eintritt. Ihn gehen die Erklärungen von A und B also etwas an. In diesem Fall käme man gar nicht weiter, wenn man auf "die" normative Bedeutung der Erklärung abstellen wollte. Denn anders als im Auslobungsfall gibt es zwei normative Bedeutungen, die einander ausschließen ll7 . Will man nicht willkürlich einer den Vorzug geben, so kann C gegenüber nur die ihm erkennbare Bedeutung gelten, zwischen A und B aber der dem B verständliche Sinn. D. h., daß B gegen C keinen Anspruch 117 Ebenso ist es im Minderjährigenfall, nur daß in dem Fall auch ein übereinstimmendes Verständnis der Parteien existiert (siehe S. 37).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

151

darauf hat, daß er ihm die Wohnung für sechs Monate überläßt, daß er aber gegenüber A Schadensersatzansprüche hat, da dieser ihm nicht den vertragsgemäßen Gebrauch an der Mietsache einräumen kann. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Anspruch gern. § 571 Abs. 2 BGB, da C nicht die Pflicht hat, B die Wohnung zu überlassen. Anspruchsgrundlage ist vielmehr § 325 Abs. 1 BGB. Auch in diesem Fall liegt es in der Hand einer der Vertragsparteien, ob die Erklärung für andere relevant wird. Dadurch daß A eine Wohnung vermietet und dann das Haus, in dem sie liegt veräußert, "öffnet" er seine Vertragsbeziehung zu B für einen Dritten. Es ist wiederum Sache der Vertragspartner, sich so auszudrücken, daß Personen, für die der Vertrag aus Rechtsgründen von Bedeutung ist, ihre Vereinbarung verstehen können. Willenserklärungen können also, wenn sie mehrere Personen angehen, unterschiedlich ausgelegt werden II 8. Es ist jeweils auf das übereinstimmende Verständnis oder die Verständnismöglichkeiten innerhalb der fraglichen Personenbeziehung abzustellen. Es gibt nicht "den" Erklärungssinn, der durch Auslegung zu ermitteln ist. Welche Bedeutung rechtlich verbindlich ist, ist vielmehr eine personenbezogene Frage. Die Erklärung muß aber die Person, die Ansprüche geltend machen oder abwehren möchte, im rechtlichen Sinne etwas angehen. Das war in den genannten Fällen dadurch der Fall, daß sie entweder potentieller Erklärungsempfänger (Auslobungsfall) war, um eine erforderliche Zustimmung gebeten worden war (Zu stimmungsfall), oder in die Verpflichtungen einer Partei eintreten mußte (Mietwohnungsfall). Anders ist es, wenn sich z. B. die Freundin F der M wegen des günstigen Preises ebenfalls einen 486 DX 41100 kaufen will. Wenn sie mit Blick auf das Angebot von V an M ein anderes Angebot über 4.000 DM nicht angenommen hat, so daß sie schließlich 4.500 DM zahlen muß, kann sie sich nicht auf das Angebot von V an M berufen und deshalb von V Schadensersatz verlangen. d) Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung Wie bei der Gesetzesauslegung läßt sich auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften zwischen Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung unterscheiden. Eine Willenserklärung kann letztlich entweder im übereinstimmenden Sinne der Parteien oder mit ihrem normativ aus der Sicht des Erklärungsempfängers gegebenen Inhalt Gültigkeit erlangen. Diese Bedeutungen können zusammenfallen oder sich unterscheiden; es kann auch vorkommen, daß nur eine dieser Bedeutungen ermittelt werden kann. 118 Pawlowski, BGB AT, Rdnr. 438; vgl. auch Flume, AT 11, S. 304f., der allerdings den Fall verschiedener normativer Bedeutungen nicht behandelt.

152

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

kein übereinstimmendes Parteiverständnis

und kein

normativer Erklärungssinn

kein übereinstimmendes Parteiverständnis

aber

normativer Erklärungssinn

übereinstimmendes Parteiverständnis

entspricht

normativem Erklärungssinn

übereinstimmendes Parteiverständnis

abweichend vom

normativen Erklärungssinn

übereinstimmendes Parteiverständnis

ohne Existenz eines

normativen Erklärungssinnes

Wenn man das übereinstimmende Verständnis der Parteien vom Erklärungssinn ermittelt, handelt es sich um Inhaltsfeststellung. Man erfährt, was die Parteien sich tatsächlich vorgestellt haben. Man kann aber umgekehrt nicht sagen, daß es sich stets um Inhaltsfestsetzung handelt, wenn man den normativen Erklärungssinn betrachtet, denn dieser kann ja mit dem übereinstimmenden Verständnis der Parteien zusammenfallen. Um Inhaltsfestsetzung handelt es sich erst dann, wenn der normative Erklärungssinn das Parteiverständnis ersetzt. In diesem Fall entscheidet man für die Parteien, wie ihre Erklärungen zu verstehen sind. e) Zusammenfassung zum Auslegungsziel Als Auslegungsziel kommen verschiedene Bedeutungen einer Willenserklärung in Betracht. Es sind sowohl die jeweiligen subjektiven Inhaltsvorstellungen der Parteien als auch der normative Sinn der Erklärung zu ermitteln. Welche Bedeutung letztlich rechtserheblich ist, richtet sich danach, ob die Parteien die Erklärung übereinstimmend verstanden haben oder nicht. Bei übereinstimmendem Verständnis hat die Erklärung diesen Inhalt, bei unterschiedlichem Verständnis muß man die §§ 116ff. BGB heranziehen, um festzustellen, ob die Erklärung überhaupt gültig ist 1l9. Wenn sie nach diesen Vorschriften gültig ist, dann mit dem normativen Erklärungssinn. Der Erklärende kann sich aber unter Umständen von der Erklärung lösen, er ist dann nur noch zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet. Außerdem hat sich gezeigt, daß man die maßgebliche Erklärungsbedeutung jeweils für Zwei-Personen-Verhältnisse neu ermitteln muß. Willens er119 Zum Vorrang der Inhaltsfeststellung vor der Inhaltsfestsetzung siehe unten 2. Teil 1. Kap. B. I. 4.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

153

klärungen können im Verhältnis verschiedener Personen zueinander unterschiedliche Bedeutungen haben. 3. Die Auslegungsmittel

Schließlich muß noch geklärt werden, mit welchen Auslegungsmitteln Willenserklärungen ausgelegt werden können. a) Hinweise aus den Materialien In den Motiven zum BGB wird auf den Gebrauch von Auslegungsregeln in neueren Gesetzen hingewiesen 120. Deren wesentlicher Inhalt sei, daß keine strenge Wortauslegung stattfinden solle, sondern auch andere Umstände bei der Willensforschung zu berücksichtigen seien. Es werden u. a. die Verkehrssitte, ein besonderer Sprachgebrauch und Vorverhandlungen genannt 121 . Solche Detailregelungen werden für das BGB in den Motiven abgelehnt, da sie den Richter nur über praktische Logik belehrten. Es bestehe die Gefahr, daß nur die im Gesetz genannten Umstände herangezogen würden, ansonsten aber allein der Wortlaut berücksichtigt würde. Dabei sei es doch gar nicht möglich, alle Umstände aufzuzählen, die gegebenenfalls maßgeblich seien 122. In das BGB wurde deshalb nur die Grundregel aufgenommen, daß nicht der buchstäbliche Sinn maßgeblich sei, sondern der wirkliche Wille zu erforschen sei. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß die Berücksichtigung der Umstände der Erklärung bei der Auslegung von Willenserklärungen für den Gesetzgeber des BGB völlig selbstverständlich war. Von einer konkreteren Normierung wurde nur abgesehen, um den Kreis der berücksichtigungsfähigen Tatsachen nicht einzuschränken. Der Erklärungssinn soll also mit Hilfe aller irgendwie aussagekräftiger Umstände ermittelt werden. b) Die Auslegungsmiuel im einzelnen In der Literatur werden die Auslegungsmittel häufig nicht näher besprochen, sondern nur die Umstände aufgezählt, die Aufschluß über den Sinn der Erklärung geben können (z. B. Vorverhandlungen, frühere Geschäftsbeziehungen). Zum Teil wird aber versucht, Parallelen zur Gesetzesauslegung Motive I, S. 154f. Motive I, S. 155; gegen die Berücksichtigung solcher Umstände, die nicht aus der Erklärung hervorgehen, Leonhard, AcP 120 (1922), S. 14, 69ff., der aber andererseits feststellt, daß nach § 133 BGB alle Umstände, vor allem auch die Vorverhandlungen, zu berücksichtigen sind (S. 79). 122 Motive I, S. 155. 120 121

154

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

zu ziehen. So wird von grammatikalischer, systematischer, historischer und teleologischer Auslegung gesprochen und die Relevanz der einzelnen Kriterien für die Auslegung von Rechtsgeschäften überprüft 123 . Durch eine solche Gruppierung der maßgeblichen Umstände könnte die Auslegung durchsichtiger gestaltet werden. Möglicherweise lassen sich auch - wie bei der Gesetzesauslegung - generelle Rangüberlegungen anstellen. Für einen Vergleich mit der Gesetzesauslegung ist eine solche Einteilung ebenfalls wünschenswert, so daß sie hier unternommen werden soll.

aa) Die Auslegung nach dem Wortsinn Der Wortsinn wird ebenso wie bei der Gesetzesauslegung als Ausgangspunkt für die Sinnermittlung genommen 124. Auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften wird der allgemeine Sprachgebrauch als mehr oder weniger verbindlich angesehen 125. Auch hier findet sich die These, daß der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung bildet 126. Die Ermittlung des Wortsinns ist bei der Auslegung von Rechtsgeschäften ebenso wie bei der Gesetzesauslegung Auslegungsziel und nicht Auslegungsmittel. Die Suche nach dem Sinn der Erklärung ist gleichbedeutend mit der Ermittlung ihres Wortsinns 127. Abweichungen hiervon können sich ergeben, wenn eine konkludente Erklärung vorliegt. Soweit der Sinn einer konkludenten Erklärung nicht durch Worte vermittelt wird, stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Wortsinns nicht. Auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften kann das persönliche Verständnis des Interpreten, das in der Regel auf einer üblichen Bedeutung der verwandten Ausdrücke beruht, nur einen tatsächlichen Einstieg in die Auslegung bieten. Es ist aber für das Auslegungsergebnis in keiner Weise bestimmend 128. Letztlich kommt es auf das übereinstimmende Partei verständnis oder auf die normativ zu ermittelnde Bedeutung der Erklärung im konkreten Fall an. Was der Ausdruck üblicherweise bedeutet, ist demgegenüber uninteressant. Maßgeblich ist nicht irgendein mögliches Verständnis der Erklärung, sondern das, von dem die Parteien übereinstimmend aus ge123 Für Satzungen und Gesellschaftsverträge Wiedemann, DNotZ 1977, Sonderheft, S. 99. 124 MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 48; Soergel-Hejermehl, § 133 BGB, Rdnr.24. 125 Danz, DJZ 1904, S. 660, 664; Larenz, BGB AT, S. 339; Soergel-Hejermehl, § 133 BGB, Rdnr. 24. 126 Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 32; Mangold, NJW 1962, 1597, 1599. 127 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11.1. a). 128 Vgl. für die Gesetzesauslegung oben 1. Teil 1. Kap. B.II. 1. a).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

155

gangen sind oder dasjenige, welches nach den Umständen vom Erklärungsempfänger zugrunde gelegt werden mußte. Der mögliche Wortsinn ist bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen ebensowenig bestimmbar wie bei sonstigen Äußerungen; er kann deshalb auch keine Grenzfunktion für die Auslegung übernehmen l29 . Wolf, der das Grenzpostulat vertritt, gibt es außerdem selbst dadurch auf, daß er die Grenze dort ansiedelt, "wo eine bestimmte Bedeutung mit dem Wortlaut oder dem sonstigen Verhalten ... gerade noch in vertretbarer Weise verbunden werden kann" 130. Damit stimmt er zwar mit der hier vertretenen Auffassung überein, daß das "sonstige Verhalten" maßgeblich zu berücksichtigen ist, gibt aber gleichzeitig die Wortlautgrenze auf. Soll diese gelten, so kann das sonstigen Verhalten an einem nach ihr unzureichenden Ausdruck nichts ändern. Ergibt sich also bei einer fehlerhaften oder unüblichen Wortverwendung aus den Umständen (z. B. Vorverhandlungen), was mit der Erklärung gemeint ist, so gilt aufgrund normativer Auslegung dieser Erklärungssinn. Dafür muß man die falsa-demonstratio-Regel nicht bemühen 131.

bb) Die historische Auslegung

Auch bei der Auslegung von Willenserklärungen wird von historischer Auslegung gesprochen. Man kann entsprechend dem Vorgehen bei der Gesetzesauslegung zwischen der Vorgeschichte und der Entstehungsgeschichte der Erklärung unterscheiden. Zur Vorgeschichte zählen frühere rechtsgeschäftliche Verbindungen zwischen den Parteien, die Entstehungsgeschichte umfaßt den gesamten Vorgang des Zustandekommens der Erklärung. In ihrem Rahmen greift man z. B. auf vorhergehende Äußerungen des oder der Erklärenden, auf Vorverhandlungen, Prospekte und Preislisten zurück. 129 Vgl. zum möglichen Wortsinn oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 1. b). Zusätzlich sei noch einmal auf die Ausführungen Depenheuers zur Ausschließlichkeit der Grenzoder Gegenstandsfunktion des Wortlautes verwiesen (s. oben 1. Teil 1. Kap. B. 11.1. b». Für den Vorrang des "individuellen" Wortsinns vor dem "überindividuellen" auch Grabau, Gesetzes- und Vertragsinterpretation, S. 126f., der andererseits aber davon spricht, daß ein Rechtsfall aus dem Wortlaut oder aus dem Sinn entschieden werden kann (S. 153). 130 Soergel- Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 32. 131 Vgl. Wieling, AcP 172 (1972), S. 297, 297f.; zur Geltung des übereinstimmend Gewollten bei unvollkommenem, unrichtigem oder sinnlosem Wortlaut BGH, Urt. v. 23.2.1956, BGHZ 20, S. 109, 110. Siehe dazu auch oben 2. Teil 1. Kap.

B.1. 2. b).

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

So hat z. B. der BGH zur Auslegung eines Vergleichs die Vergleichsverhandlungen herangezogen 132. Die Parteien hatten einen Vergleich abgeschlossen, in dem sich der Beklagte zur Beseitigung von Senkungsschäden an einem Gebäude verpflichtet hatte. Sie stritten später darüber, ob der Beklagte zur Beseitigung sämtlicher Schäden verpflichtet war, die durch die Senkung am Gebäude entstehen, oder ob er sich nur um Senkungsrisse kümmern mußte. Der BGH griff u. a. auf die Vergleichsverhandlungen zurück, in deren Verlauf der Anwalt des Klägers dafür sorgte, daß das zunächst gewählte Wort "Senkungsrisse" durch "Senkungsschäden" ersetzt wurde. Dem hat der BGH entnommen, daß der Kläger sich mit seinem Wunsch, daß sämtliche Senkungsschäden vom Beklagten beseitigt werden sollten, durchgesetzt hat l33 . Der Beklagte konnte deshalb mit seiner engeren Auslegung keinen Erfolg haben.

cc) Die systematische Auslegung 134

Systematische Auslegung bedeutet, den Auslegungsgegenstand in einem weiteren Zusammenhang zu sehen. Bei Willenserklärungen bieten sich hier zunächst die einzelnen Bestandteile der Erklärung an, soweit sie sich untergliedern läßt. So ist z. B. die Annahmeerklärung eines Vertragsangebots eine Willenserklärung, wenn auch bei komplexeren Verträgen die unterschiedlichsten Regelungen dadurch in Kraft gesetzt werden. Der Zusammenhang zwischen ihnen kann Aufschluß über die Reichweite einzelner Teile bieten. Entsprechendes gilt für die einzelnen Anordnungen in einem Testament. Ferner können andere Willenserklärungen, die mit der auszulegenden in Zusammenhang stehen, zur Auslegung herangezogen werden. Ein Beispiel für systematische Vertragsauslegung findet sich im Schwimmerschalterfall des BGH 135. In diesem Fall hat der BGH für die Frage nach der Reichweite einer Haftungsfreizeichnung auch den Standort der Freizeichnungsklausel in den AGB der Beklagten berücksichtigt 136 . Die Klausel befand sich in einem Abschnitt mit der Überschrift "Haftung für Mängel der Lieferung". In diesem Zusammenhang hielt es das Gericht nicht für deutlich erklärt, daß auch Ersatzansprüche aus unerlaubter Handlung von der Freizeichnungsklausel erfaßt sein sollten 137. BGH, Urt. v. 31.5.1961, NJW 1961, S. 1668, 1669. BGH, Urt. v. 31.5.1961, NJW 1961, S. 1668, 1669. 134 Zur systematischen Auslegung Grabau, Gesetzes- und Vertragsinterpretation, S. 123ff. 135 BGH, Urt. v. 24.11.1976, BGHZ 67, S. 359. 136 BGH, Urt. v. 24.11.1976, BGHZ 67, S. 359, 366f. 137 BGH, Urt. v. 24.11.1976, BGHZ 67, S. 359, 366f. 132

133

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

157

dd) Die teleologische Auslegung

Bei der Gesetzesauslegung wurde die teleologische Auslegung in die subjektiv-teleologische und die objektiv-teleologische Auslegung eingeteilt. Diese Einteilung läßt sich auch bei der Auslegung von Willenserklärungen nutzen. (1) Subjektiv-teleologische Auslegung der Willenserklärung

Subjektiv-teleologische Auslegung einer Willenserklärung bedeutet, die Regelungswünsche des oder der Erklärenden zu berücksichtigen. Sie können sich aus der Entstehungsgeschichte ergeben, dann handelt es sich um einen Teil der historischen Auslegung. Sie können auch, insbesondere in Verträgen, ausdrücklich genannt sein. Insofern besteht Übereinstimmung mit der Gesetzesauslegung 138 . Bei zwei- oder mehrseitigen Rechtsgeschäften muß man die Interessen und Absichten der einzelnen Beteiligten von ihren gemeinsamen Vertragszwecken unterscheiden. Bei der subjektiv-teleologischen Auslegung sind nicht die Vorstellungen der einzelnen Personen isoliert zu betrachten. Es kommt auf die Zwecke an, auf die man sich geeinigt hat, die nach dem Vertragsschluß von allen verfolgt werden. Ein solcher gemeinsamer Vertragszweck muß allerdings nicht notwendigerweise den Interessen aller Parteien dienen. Eine Partei kann sich auch auf eine Regelung einlassen, um an anderer Stelle ihre Wünsche durchzusetzen. (2) Objektiv-teleologische Auslegung der Willenserklärung Den Begriff der objektiv-teleologischen Auslegung könnte man für Willenserklärungen entsprechend einer Formulierung Bydlinskis fassen. Bydlinski möchte bei der Gesetzesauslegung unter dieser Bezeichnung nach den Zielen forschen, die Menschen im allgemeinen verfolgen, wenn sie eine Norm wie die auszulegende erlassen 139. Für Willenserklärungen könnte man dementsprechend nach den Zielen fragen, die Menschen in der Regel mit solchen Erklärungen unter solchen Umständen verfolgen. Anders formuliert heißt das, daß man die Verkehrs sitte heranzieht, um den Vertragsinhalt festzulegen. So kann man z. B. unter Berücksichtigung der Verkehrssitte folgenden Fall lösen: M mietet von V ein Ladenlokal, um darin Lebensmittel zu ver138

Vgl. zur subjektiv-teleologischen Auslegung von Gesetzen oben 1. Teil 1. Kap.

B. 11.4. a). 139 Bydlinski, Methodenlehre, S. 454.

158

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

kaufen. Nach einigen Monaten bringt er an einer Außenwand des Ladenlokals einen Süßwarenautomaten an. V verlangt Beseitigung des Automaten. Das OLG Hamm hat in einem solchen Fall eine Duldungspflicht des Vermieters bejaht. Die Anbringung von Warenautomaten an der Außenfront von Geschäftsräumen sei als Verkehrs sitte anzusehen. Die Auslegung des Vertrages nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte ergibt daher, daß V den Warenautomaten dulden muß. ee) Die gesetzeskonforme Auslegung (1) Die Ansicht Hagers

Bei der Auslegung von Gesetzen hat sich die verfassungskonforme Auslegung als Auslegungsmittel durchgesetzt 140. Seit einigen Jahren ist eine entsprechende Auslegungsmethode für Rechtsgeschäfte im Gespräch - die gesetzeskonforme Auslegung. Allerdings ist dieses Auslegungsmittel noch nicht besonders verbreitet, oft wird es gar nicht erwähnt 141 . Eine gründliche Untersuchung hat Hager unternommen, dessen Ansicht hier exemplarisch vorgestellt werden soll. Hager stellt fest, daß eine gesetzeskonforme Auslegung in Rechtsprechung und Literatur immer wieder stattfindet, ohne daß diesem Vorgehen ein einheitliches dogmatisches Konzept zugrundeläge 142 . Er lehnt es ab, ohne weiteres die Erkenntnisse zur verfassungskonformen Auslegung auf Rechtsgeschäfte zu übertragen 143 . Entscheidend ist für Hager, daß das zwingende Recht schon bei der Auslegung zu berücksichtigen ist und nicht nur eine Kontrollfunktion hat. Auslegung bedeute nicht nur Ermittlung des Gewollten, sondern sei auch ein Akt der Wertung 144. Die Privatautonomie stehe der gesetzeskonformen Auslegung nicht entgegen. Die Rechts setzungsmacht des einzelnen werde gerade anerkannt, wenn das Rechtsgeschäft bei einem Gesetzesverstoß nicht unwirksam sei, sondern aufrechterhalten werde. Außerdem sei die Privatautonomie keine absolute Größe 145 . Der Durchsetzungsanspruch des zwingenden Rechts hindere die gesetzeskonforme Auslegung ebenfalls nicht. Ihm werde durch eine entsprechende Siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. III. Erwähnt wird sie z. B. von MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 13. Auch der BGH spricht gelegentlich von rechtskonfonner Auslegung, so in BGH, Urt. v. 3.3.1971, WM 1971, S. 503, 504 und BGH, Urt. v. 14.3.1990, WM 1990, S. 1202, 1204. 142 Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 31 ff., 125ff. 143 Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 9ff. 144 Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 132ff., 139. 145 Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 143f. 140 141

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

159

Auslegung des Rechtsgeschäfts Genüge getan 146. Der Schutzzweck eines Gesetzes könne dagegen die Aufrechterhaltung eines Rechtsgeschäfts geradezu fordern, damit das Erfüllungsinteresse gewahrt werde l47 . Kollidiere der Schutzzweck eines Gesetzes mit der Privatautonomie, so habe diese zurückzustehen. Auch ein entgegenstehender Wille der Parteien sei dann unbeachtlich l48 . Einen größeren Spielraum hätten die Parteien, wenn das Gesetz nicht eine von ihnen schützen solle l49 . Eine Aufrechterhaltung des Rechtsgeschäfts sei aber nur dann möglich, wenn sich der Inhalt aus dem Gesetz oder dem Rechtsgeschäft ergibt. Besonderheiten ergäben sich außerdem, wenn ein Gesetz dem Schutz einer Partei diene 150.

(2) Die eigene Lösung Bei der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen lassen sich zwei Situationen unterscheiden 151. Im ersten Fall kann der Wille des Gesetzgebers festgestellt werden, dieser Wille widerspricht dabei der Verfassung. Im zweiten Fall geht es um die Auswahl zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten, die mangels eines feststellbaren gesetzgeberischen Willens offen bleiben. Während die verfassungskonforme Auslegung in der ersten Variante eine Korrektur des gesetzgeberischen Willens bedeutet und deshalb unzulässig ist, ist sie in der zweiten Variante als Sonderfall der objektivteleologischen Auslegung einzuordnen. Dementsprechend kann man auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften zwei Fallgestaltungen unterscheiden: Die Willenserklärung(en) ist (sind) von den Parteien übereinstimmend verstanden worden, mit diesem Inhalt verstößt das Rechtsgeschäft aber zumindest teilweise gegen ein Gesetz. Die Parteien haben die Willenserklärung(en) nicht im selben Sinne gedeutet, sie muß (müssen) normativ ausgelegt werden. Im ersten Fall kommt eine gesetzeskonforme Auslegung des Rechtsgeschäfts nicht in Betracht. Was die Parteien wollten, ist gesetzlich untersagt. Eine gesetzeskonforme Auslegung liefe auf eine Korrektur des Willens der Vertragsparteien hinaus. Wenn der Hauptgegenstand des Rechtsgeschäfts gesetzwidrig ist, hilft möglicherweise eine Umdeutung. Handelt es sich um 146 147 148 149 150

151

C.III.

Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 169ff. Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 171 ff. Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 187 ff. Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 194 ff. Hager; Gesetzeskonfonne Auslegung, S. 197ff., 199ff. Zur verfassungskonfonnen Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap.

160

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Nebenabreden, so kann die entstandene Lücke nach den für Lücken üblichen Grundsätzen gefüllt werden 152. Im zweiten Fall kann bestehendes Gesetzesrecht entsprechend dem Vorgehen bei der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen als Sonderfall der objektiv-teleologischen Auslegung berücksichtigt werden. Gesetzeskonforme Auslegung bedeutet dann, daß die bestehende Rechtsordnung in den Empfängerhorizont einbezogen wird. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, da den Parteien oft mehr gedient ist, wenn das Rechtsgeschäft mit dem gesetzeskonformen Inhalt aufrechterhalten wird, als wenn es unwirksam ist. Allerdings kann es auch Fälle geben, in denen der Normzweck des Gesetzes, gegen das verstoßen wurde, die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts verlangt. Selbst wenn die Aufrechterhaltung des Rechtsgeschäfts dem Schutzzweck der Norm nicht widerspricht, könnte ihr aber der Wille der beteiligten Parteien entgegenstehen. Wollen beide Parteien das Rechtsgeschäft mit dem gesetzeskonformen Inhalt nicht, so ist es nichtig. Will dagegen nur eine der Parteien das Rechtsgeschäft so nicht gelten lassen, so kommt es auf den Schutzzweck der Norm an, ob ihr Wille beachtlich ist oder nicht. Die damit verbundenen Probleme sollen hier nicht weiter vertieft werden i53 . c) Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln Demnach kann man die einzelnen Auslegungsmittel, die häufig in beliebiger Reihenfolge genannt werden, ebenso wie bei der Gesetzesauslegung ordnen. Der Wortsinn dient als Einstieg, systematische, historische und teleologische Erwägungen ergeben den Erklärungsinhalt. Für diese drei Auslegungskriterien - der Wortsinn ist kein Auslegungsmittel - stellt sich die Frage nach einer Rangfolge. 4. Die Rangfolge der Auslegungsziele und -mittel

a) Die Rangfolge der Auslegungsziele Wie bei der Gesetzesauslegung gibt es auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften zwei Auslegungsziele. Man kann die übereinstimmenden Vorstellungen der Parteien ermitteln, oder den Erklärungssinn nach "objektiven" Kriterien bestimmen. Wie bei der Gesetzesauslegung kann man hier von Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung sprechen. Auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften hat die Inhaltsfeststellung Vorrang vor der Inhaltsfestsetzung. Wenn die Parteien dasselbe gewollt haben, gibt es keine 152 153

Siehe dazu unten 2. Teil 2. Kap. B. III. Zu diesem Problemkreis Hager, Gesetzeskonforme Auslegung, S. 171 ff.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

161

Rechtfertigung dafür, ihnen einen anderen Erklärungssinn aufzuzwingen. Der Grundsatz der Privatautonomie gewährleistet den Rechtssubjekten ein Selbstbestimmungsrecht im Rahmen der Gesetze. Damit ließe sich eine Auslegung entgegen den übereinstimmenden Vorstellungen nicht vereinbaren. § 133 BGB läßt sich auch im Wege der teleologischen Reduktion einschränken, so daß diese Vorschrift der Geltung des von den Parteien übereinstimmend Gewollten nicht entgegensteht. b) Die Rangfolge der Auslegungsmittel Bei der Inhaltsfeststellung spielen objektiv-teleologische Erwägungen noch keine Rolle. Die Vorstellungen der Beteiligten vom Erklärungsinhalt werden mit Hilfe systematischer, historischer und subjektiv-teleologischer Erwägungen ermittelt. Rangfragen sind hier ebenso wie bei der Gesetzesauslegung zu lösen. Die Zweckvorstellungen der Beteiligten geben die maßgeblichen Anhaltspunkte für ihr Sinnverständnis der Erklärung(en). Unter ihnen sind die ausdrücklich genannten den erschlossenen Zweckvorstellungen vorzuziehen. Ausdrückliche Regelungsabsichten können sich in Unterlagen aus Vorverhandlungen, bei Verträgen auch im Vertragstext selbst finden. Aus der Vor- und Entstehungsgeschichte und dem systematischen Zusammenhang der Erklärung(en) kann man dann versuchen, auf die Zwecke des oder der Erklärenden zu schließen, wenn sich ausdrückliche Äußerungen nicht finden. Der Wortlaut ist kein Auslegungsmittel, sondern allein Sinnträger 154 . Er ergibt keine verbindlichen Vorgaben für das Auslegungsergebnis und muß daher auch nicht zu den Auslegungsmitteln ins Verhältnis gesetzt werden. Er hat lediglich Einstiegsfunktion für die Auslegung. Zur Inhaltsfestsetzung wird die Verkehrssitte als objektiv-teleologisches Kriterium herangezogen. Außerdem kann es eine Rolle spielen, ob sich das Rechtsgeschäft bei einer bestimmten Auslegung mit zwingendem Gesetzesrecht vereinbaren läßt. Die Ergebnisse aus der Willenserforschung bleiben bei der Inhaltsfestsetzung von Bedeutung, sie bilden den Rahmen, der nicht verlassen werden darf.

154

Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B.1. 3. b) aa).

11 Kamanabrou

162

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften Auslegungsziel

Auslegungsrniuel

Übereinstimmendes Parteiverständnis (Inhaltsfeststellung)

Vorrangig ausdrückliche Erklärungen (,,zweckklausel" im Vertrag, Erklärungen bei Vorverhandlungen), wenn danach kein Ergebnis -> Schlüsse aus der Vor- und Entstehungsgeschichte und der Systematik

Wenn obiges Auslegungsziel nicht erreicht werden kann: Auslegungsziel Bestimmung der normativen Erklärungsbedeutung (Inhaltsfestsetzung)

Auslegungsrniuel Objektiv-teleologische Kriterien, begrenzt durch die übereinstimmenden Vorstellungen der Parteien

11. § 157 BGB 1. Der Auslegungsgegenstand

Auslegungsgegenstand im Rahmen des § 157 BGB sind Verträge. Der Begriff des Vertrages wird in der Literatur nicht anders verstanden als in den Materialien. Die Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 157 BGB auf Willenserklärungen soll hier noch unberücksichtigt bleiben. Diese Frage hängt mit dem Verhältnis der §§ 133, 157 BGB zueinander zusammen, das erst später behandelt wird. Mit der Bestimmung des Auslegungsgegenstandes "Vertrag" scheinen allerdings noch zwei Möglichkeiten offenzubleiben. Man kann die einzelnen Willenserklärungen auslegen, die den Vertrag entstehen ließen. Man kann aber auch versuchen, den Vertrag als Ganzes zu betrachten. Dabei könnte es sich um verschiedene Auslegungsgegenstände handeln. Möglicherweise muß man beide Vorgehensweisen kombinieren. Ob bei Verträgen die jeweiligen Willenserklärungen auszulegen sind, oder ob "der Vertrag" Gegenstand der Auslegung ist, wird selten erörtert. Larenz unterscheidet zwischen der Auslegung des Vertrages "als eines Sinnganzen" und der Auslegung der einzelnen Erklärungen 155. Mit der Auslegung der vertraglichen Regelung bezeichnet er aber ausschließlich die ergänzende Vertragsauslegung l56 , so daß die erläuternde Auslegung allein die vertragsbildenden Willenserklärungen zum Gegenstand hat. 155

Larenz, BGB AT, S. 340; ders., NJW 1963, S. 737, 739.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

163

Es ist zutreffend, zwischen erläuternder und ergänzender Auslegung zu unterscheiden. Mit der ergänzenden Vertragsauslegung verfolgt man ein ganz anderes Ziel als mit der erläuternden Vertragsauslegung. Während diese den Vertragsinhalt zutage fördern soll, dient die ergänzende Auslegung, wie ihr Name sagt, der Ergänzung. Sie findet erst statt, wenn die erläuternde Auslegung beendet ist, und danach eine Regelung im Vertrag fehlt, die zu seiner Abwicklung erforderlich ist. Mit ihr erforscht man nicht, was die Parteien geregelt haben, sondern fügt nach der herrschenden Meinung hinzu, was sie geregelt hätten, wenn ihnen der Regelungsbedarf aufgefallen wäre 157 . Allerdings macht es keinen Unterschied, ob man bei der erläuternden Auslegung die einzelnen Erklärungen betrachtet oder den Vertrag "als Sinnganzes". Es ist auch nicht etwa das eine charakteristisch für die erläuternde, das andere für die ergänzende Auslegung. Es stehen sich nur scheinbar zwei verschiedene Auslegungsgegenstände gegenüber. Dadurch, daß zwei Erklärungen zusammen einen Vertrag bilden, wächst ihnen kein zusätzlicher Sinn zu. Vertraglich geregelt ist, soweit man die ergänzende Auslegung beiseite läßt, was sich aus den Erklärungen ergibt, nicht mehr 158 . Daher handelt es sich um denselben Auslegungsgegenstand, gleichgültig ob man von den Erklärungen oder vom Vertrag spricht. Auch bei der erläuternden Vertragsauslegung legt man also Willenserklärungen aus. Wenn man die einzelnen Erklärungen betrachtet, ist allerdings zu berücksichtigen, daß sie nicht isoliert ergangen sind. Sie wurden aufeinander bezogen abgegeben, um einen Vertrag zustandezubringen. Insofern betrachtet man mehr als nur einzelne Erklärungen. Ein zusätzlicher Sinn kommt ihnen aber dadurch nicht zu. Die Willenserklärung im Vertrag hat nicht etwa einen isolierten Sinn und einen Sinn in Bezug auf die andere Vertragserklärung. Sie ist von vornherein als eine von zwei Willenserklärungen zu betrachten. Auslegungsgegenstand des § 157 BGB sind also die einzelnen Willenserklärungen des Vertrages. 2. Das Auslegungsziel

Der Inhalt eines Vertrages ist gern. § 157 BGB nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrs sitte zu bestimmen.

156 Larenz. BGB AT, S. 536ff.; auf diese Seiten wird zuvor auf S. 340 für die Auslegung des Vertrages als eines Sinnganzen verwiesen. Zu der Ansicht Larenz·. daß dem Vertrag ein Sinn' zukommt, der über den Sinn der ihn bildenden Willenserklärungen hinausgeht, siehe unten 2. Teil 2. Kap. A.1. 157 Zur ergänzenden Auslegung siehe unten 2. Teil 2. Kap. 158 Lüderitz. Auslegung von Rechtsgeschäften. S. 399. 11*

164

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Aus den Protokollen ergibt sich, daß die Verkehrs sitte dazu dienen sollte, die Ausfüllung von Treu und Glauben im Einzelfall zu ermöglichen 159. Sie gibt also kein Auslegungsziel vor, sondern ist Auslegungsmittel. Auslegungsziel ist die Ermittlung des Vertragsinhaltes nach Treu und Glauben. "Treu und Glauben" sind im Gesetz nicht definiert, auch in den Materialien findet sich keine Erläuterung. In seiner Funktion als Auslegungsmaßstab wird der Begriff so verstanden, daß für das Auslegungsergebnis die berechtigten Interessen der beteiligten Parteien zu berücksichtigen sind 160. Es muß auch mit den Erfordernissen des redlichen Geschäftsverkehrs vereinbar sein l61 . Der Vertragsinhalt ist also normativ zu bestimmen 162. Es kommt darauf an, wie redliche Menschen unter gleichen Umständen die Vereinbarung deuten würden 163. Der normative Sinn der Vertragserklärungen ist aber dann nicht maßgeblich, wenn die Parteien die Erklärungen übereinstimmend anders verstanden haben. Treu und Glauben verlangen dann, der Erklärung diesen Sinn beizulegen, denn wo Einigkeit erzielt wurde, kommt es auf andere Verständnismöglichkeiten nicht an. Mit der Auslegungsregel sollte nach den Motiven auch die ergänzende Vertragsauslegung nach dem Maßstab von Treu und Glauben ermöglicht werden. Auch die Ergänzung des fehlenden Parteiwillens durch den Richter werde noch als Auslegung verstanden 164. Im Gesetz werde so die weitere Bedeutung des Wortes "Auslegung" zugrunde gelegt l65 .

3. Die Auslegungsmittel Zu den Auslegungsmitteln, die zur Feststellung des Vertragsinhaltes heranzuziehen sind, findet sich in den Materialien nur wenig. Ausdrücklich heißt es, daß die Konkretisierung des Maßstabes von Treu und Glauben im 159

Protokolle I, S. 625.

MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 3ff.; Palandt-Heinrichs, § 133 BGB, Rdnr. 20; Staudinger-Dilcher, §§ l33, 157 BGB, Rdnr. 33. 161 MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 9f.; Palandt-Heinrichs, § 133 BGB, 160

Rdnr.20. 162 Auch für Willenserklärungen in Verträgen gilt natürlich § 119 BGB. Der Erklärende kann sich also von der so nicht gewollten vertraglichen Bindung lösen. 163 Enneccerus/Nipperdey, AT, S. 1260f. Nach Bickel, Auslegung, S. 164ff. bedeutet die Berücksichtigung von Treu und Glauben, daß alle erkennbaren Umstände zur Auslegung herangezogen werden müssen. 164 Protokolle I, S. 625. 165 Deshalb geht der Einwand Bickels, Auslegung, S. 172 fehl, daß es sich bei der ergänzenden Auslegung nicht um ein Erkennen des Vertragsinhaltes und damit nicht um Auslegung handelt. Bickel verwendet damit einen engeren Auslegungsbegriff als der Gesetzgeber. Beide Begriffe haben ihre Berechtigung, maßgeblich ist nach dem hier vertretenen Ansatz aber der Begriff, den der Gesetzgeber des BGB zugrundegelegt hat.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

165

Einzelfall unter Berücksichtigung der Verkehrs sitte erfolgen soll 166. Unter Verkehrs sitte wird in der Literatur die im Verkehr bestimmter Kreise tatsächlich bestehende Übung verstanden 167. Die Verkehrssitte ist aber nicht der einzige Anhaltspunkt bei der Ermittlung des Vertragsinhaltes. Das ergibt sich schon daraus, daß sie nur zu "berücksichtigen" ist. Was Treu und Glauben im jeweiligen Einzelfall erfordern, kann durch die unterschiedlichsten Umstände bestimmt werden. Da derselbe Auslegungsgegenstand wie bei § 133 BGB vorliegt und auch hier alle Umstände zur Auslegung herangezogen werden sollen, kann man die Aussagen zu den Auslegungsmitteln übertragen l68 . Dieselbe Einteilung und Rangfolge wie bei einzelnen Willenserklärungen gilt auch für solche Erklärungen, die Bestandteil eines Vertrages sind. 111. Das Verhältnis der §§ 133, 157 BGB zueinander

Bisher wurde festgestellt, daß die Frage, mit welchem Inhalt eine Erklärung letztlich Gültigkeit erlangt, sich nicht allein nach den §§ 133, 157 BGB entscheidet, sondern auch nach den §§ 116ff. BGB. Soweit es allein um die §§ 133, 157 BGB geht, bestimmt § 133 BGB, daß der Wille des Erklärenden zu ermitteln ist und daß für den Erklärungsempfänger ein normativer Erklärungssinn maßgeblich ist. Mit Hilfe einer Rechtsfortbildung kann man auch dem übereinstimmenden Parteiverständnis Geltung verschaffen, so daß man auch nach dem subjektiven Verständnis des Erklärungsempfängers fragen muß. Bei § 157 BGB sollen Treu und Glauben den Vertragsinhalt bestimmen. Das bedeutet, daß es entweder auf den normativen Erklärungssinn ankommt oder auf das übereinstimmende Parteiverständnis l69 . Auch hier muß man also die subjektiven Vorstellungen der Parteien und den normativen Erklärungssinn aus der Sicht des jeweiligen Erklärungsempfängers bestimmen. Nach beiden Normen sind also sowohl die jeweiligen subjektiven Inhaltsvorstellungen als auch gegebenenfalls der normative Sinn der Erklärung(en) zu ermitteln. Der Auslegungsgegenstand ist ebenfalls für beide Normen derselbe: es geht um das Verständnis von Willenserklärungen. Schließlich wendet man auch dieselben Auslegungsmittel an. Es stellt sich daher die Frage, ob verProtokolle I, S. 625. Erman-Hefermehl, § 157 BGB, Rdnr. 5; MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 15; Palandt-Heinrichs, § 133 BGB, Rdnr. 21. 168 Vgl. oben 2. Teil 1. Kap. B.I.3. 169 Findet sich kein übereinstimmendes Partei verständnis, so kommt es für die Geltung der Erklärung im normativen Sinne darauf an, welche Regelung der §§ 116ff. BGB eingreift. 166

167

166

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

sehentlich zwei inhalts gleiche Auslegungsvorschriften in das BGB aufgenommen wurden, oder ob doch noch ein Unterschied zwischen § 133 BGB und § 157 BGB besteht. 1. Hinweise aus den Materialien Die Materialien sind für diese Frage unergiebig. Als die Auslegungsvorschrift des § 157 BGB ihre heutige Gestalt bekam, wurde auch erwogen, sie als Abs. 2 des § 133 BGB (§ 73 des Entwurfs) in das BGB aufzunehmen. Die Frage nach der Stellung wurde zunächst aber noch offen gelassen. Das spricht dafür, daß die Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs § 157 BGB einen anderen Sinn zuschrieb als § 133 BGB. Zwar wurde er letztlich nicht als Abs. 2 des heutigen § 133 BGB gefaßt. Diese Stellung wurde aber erwogen, was nur sinnvoll war, wenn die Bearbeiter die Normen nicht als inhaltsgleich betrachteten. Worin dann aber der Unterschied bestehen soll, läßt sich aus den Materialien nicht ableiten. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Bearbeiter des BGB sich tatsächlich mit dem Verhältnis der beiden Auslegungsnormen auseinandergesetzt haben. Zunächst existierte nur der heutige § 133 BGB. Als diese Vorschrift beraten wurde, gab es eine dem heutigen § 157 BGB entsprechende Regelung noch nicht. Eine Abstimmung beider Normen war also noch nicht möglich. Als dann § 157 BGB aufgenommen wurde, fanden zu § 133 BGB keine inhaltlichen Beratungen mehr statt. Eine Koordination wäre zwar möglich gewesen. Das Verhältnis der beiden Vorschriften wurde aber nicht diskutiert. Aus der Entstehungsgeschichte kann die Frage nach dem Verhältnis der §§ 133, 157 BGB zueinander also nicht gelöst werden. Sie steht jedenfalls

der Betrachtungsweise, daß versehentlich zwei inhaltsgleiche Normen mit verschiedenem Text in das BGB aufgenommen wurden, nicht entgegen. 2. Die Deutung der §§ 133, 157 BGB in der Literatur In der Literatur werden die §§ 133, 157 BGB als inhaltlich verschiedene, sich ergänzende Normen angesehen, die zusammen bei der Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen angewandt werden. Dabei soll § 133 BGB subjektive Elemente in die Auslegung einführen, § 157 BGB obj ektive 170. Der herrschenden Meinung in der Literatur ist schon deshalb nicht zu folgen, weil die §§ 133, 157 BGB keinen verschiedenen Inhalt haben. Trotzdem soll ihr Vorgehen bei der Auslegung näher betrachtet werden. 170 Larenz, Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 6f.; MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 19f.; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 8ff.; Staudinger-Dilcher, §§ 133, 157 BGB, Rdnr. 7f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

167

Üblicherweise wird bei der Auslegung zwischen empfangsbedürftigen und nichtempfangsbedürftigen Willenserklärungen unterschieden. Während es bei ersteren auf die Verständnismöglichkeit des Empfängers ankomme, könne bei letzteren in der Regel das wirkliche Verständnis des Erklärenden voll zur Geltung kommen 171. Als Beispiel für nichtempfangsbedürftige Willenserklärungen werden mit Vorliebe Testamente genannt, bei denen die möglichst weitgehende Berücksichtigung des Willens des Erklärenden besonders einleuchtet. Weniger verständlich ist eine rein subjektive Auslegung aber bei Erklärungen, die zwar nicht empfangsbedürftig sind, sich aber an einen unbestimmten Personenkreis richten und bei ihnen ein rechtserhebliches Verhalten hervorrufen sollen (z. B. Auslobung, Bevollmächtigung). Hier wird der gerade aufgestellte Grundsatz auch gleich wieder eingeschränkt, in diesen Fällen soll es auf das durchschnittliche Verständnis innerhalb dieses Adressatenkreises ankommen 172. Damit unterscheidet die Literatur bei der Auslegung aber nicht zwischen empfangsbedürftigen und nichtempfangsbedürftigen Willenserklärungen, sondern zwischen empfangsbedürftigen Willenserklärungen, Testamenten und sonstigen nichtempfangsbedürftigen Willenserklärungen. Larenz geht bei etwas abweichender Terminologie ausdrücklich von einer solchen Dreiteilung aus 173. Dadurch vermeidet er die Schwäche der üblichen Einteilung, daß für einen großen Teil der nichtempfangsbedürftigen Willenserklärungen der für sie aufgestellte Auslegungsgrundsatz nicht anzuwenden ist. Innerhalb dieser Dreiteilung werden die erste und die letzte Gruppe prinzipiell gleichbehandelt, indem man auf die Verständnismöglichkeit einer vom Erklärenden verschiedenen Person abstellt, nur daß man bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen diese Person benennen kann, bei nichtempfangsbedürftigen Erklärungen auf einen Durchschnittsadressaten abstellen muß. Der größere Unterschied bei der Auslegung besteht zwischen all diesen Erklärungen einerseits und den Testamenten andererseits, bei denen die Interessen der Bedachten nicht ausschlaggebend sein sollen. Damit geht es aber nicht mehr um die Empfangsbedürftigkeit und das Wirksamwerden der Erklärung mit oder ohne Zugang bei einer anderen Person, sondern um Vertrauensgesichtspunkte. Die Frage des Vertrauensschutzes ist von der Empfangsbedürftigkeit unabhängig. Das zeigt sich z. B. am Fall der Auslobung. Die Auslobung ist eine nichtempfangsbedürftige Willenserklärung. Trotzdem ist derjenige, der daraufhin eine Handlung vornimmt mit dem für ihn geltenden normativen Verständnis von der Erklärung ebenso schutzwürdig wie der Empfänger einer Willens171 MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 26af.; Soergel-Hefermehl, § 133 BGB, Rdnr. 11 ff.; Staudinger-Dileher, §§ 133, 157 BGB, Rdnr. 30ff.; a. A. Biekel, Auslegung, S. 177ff., 179. 172 MK-Mayer-Maly, § 133 BGB, Rdnr. 26a; Soergel-Hefermehl, § 133 BGB, Rdnr. 15 ff.; Staudinger-Dileher, §§ 133, 157 BGB, Rdnr. 32. 173 Larenz, BGB AT, S. 337ff., 346ff.

168

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

erklärung. Das liegt daran, daß die Auslobung letztlich doch an andere Personen gerichtet ist, und sie zu einem rechtserheblichen Verhalten veranlassen soll. Ebenso ist es z. B. bei der Bevollmächtigung. Davon unterscheidet sich der Fall der letztwilligen Verfügung. Das Testament bezweckt keine Bindung des Testators, es ist nicht darauf gerichtet, daß Dritte sich darauf verlassen können. Deshalb kommt es nicht auf die Verständnismöglichkeit anderer Personen an, sondern auf den Willen des Testators 174 • Eine weitere Schwäche der üblichen Einteilung zeigt sich bei der Auslegung von Erklärungen, die gern. §§ 151, 152 BGB ausnahmsweise nicht empfangs bedürftig sind. Hier müßte man konsequenterweise allein auf das Verständnis des Erklärenden abstellen, wodurch aber die Interessen des Adressaten der Erklärung grob vernachlässigt würden. Eine solche Auslegung wird auch nicht vorgeschlagen. Auch dieses Beispiel zeigt, daß es nicht auf das Erfordernis der Empfangsbedürftigkeit ankommt, sondern auf Vertrauenserwägungen.

3. Die eigene Lösung Ein Unterschied zwischen den §§ 133, 157 BGB könnte darin liegen, daß im Rahmen des § 157 BGB mindestens zwei Willenserklärungen vorliegen, während § 133 BGB (auch) für einseitige Rechtsgeschäfte gilt. Der Umstand, daß zwei Willenserklärungen mit Bezug aufeinander abgegeben werden, ist bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen. Dieser Unterschied liegt aber allein in den tatsächlichen Gegebenheiten, die bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, er ist nicht durch eine von § 133 BGB verschiedene Auslegungsanweisung in § 157 BGB verarbeitet worden. Man kann und muß dieselben Umstände beachten, gleich welche der beiden Normen man anwendet. Ein Unterschied zwischen den Vorschriften wäre aber nur gegeben, wenn nach einer von ihnen ein Auslegungsmittel anwendbar wäre, auf das man nach der anderen nicht zurückgreifen könnte. Für die erläuternde Auslegung von Willenserklärungen entsprechen sich die §§ 133, 157 BGB also völlig, so daß eine Unterscheidung nicht sinnvoll ist. Da aber auch keiner der Paragraphen den Vorrang verdient, können sie zur Auslegung nebeneinander genannt werden. Ein Unterschied zwischen § 133 BGB einerseits und § 157 BGB andererseits kann daher lediglich in der Begrenzung der ergänzenden Auslegung auf die Vertragsauslegung liegen. § 157 BGB eröffnet die Möglichkeit der ergänzenden Vertragsauslegung. Im Rahmen des § 133 BGB ist von ergänzender Auslegung nicht die Rede, so daß diese bei einseitigen Rechtsge174

Flume, AT 11, S. 331; Larenz, BGB AT, S. 347 f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

169

schäften entfallen könnte. Für diese Frage ist es von Bedeutung, ob die §§ 133, 157 BGB auf alle Willenserklärungen unterschiedslos anzuwenden

sind, wie es in der Literatur vertreten wird, oder ob die Anwendung des § 157 BGB auf Willenserklärungen in Verträgen beschränkt ist. Nach dem üblichen Sprachgebrauch unterscheiden sich die §§ 133, 157 BGB deutlich dadurch, daß ersterer auf alle Willenserklärungen anzuwenden ist, während letzterer nur für Verträge gilt. Zwar ist der übliche Sprachgebrauch bei der Gesetzesauslegung nicht maßgeblich, wenn sich ein anderes Verständnis des Gesetzgebers ermitteln läßt. Er ist aber von Bedeutung, wenn ein Sondersprachgebrauch des Gesetzgebers nicht zu erkennen ist. Ebenso wie sich für § 133 BGB keine Anhaltspunkte ergeben, daß die Norm nicht für alle Willenserklärungen gilt, gibt es bei § 157 BGB keinen Hinweis darauf, daß er auch für Willenserklärungen gilt, die nicht Bestandteil eines Vertrages sind. Die §§ 133, 157 BGB haben also insofern unterschiedliche Anwendungsbereiche. Dieser Unterschied, der sich bei der erläuternden Auslegung nicht bemerkbar macht, spielt für die ergänzende Auslegung von Rechtsgeschäften eine Rolle.

c.

Auslegung und Form

I. Andeutungstheorie und falsa demonstratio Besondere Probleme bei der Auslegung werfen die formbedürftigen Rechtsgeschäfte auf. Während lange Zeit umstritten war, ob bereits die Auslegung solcher Rechtsgeschäfte eingeschränkt ist, herrscht inzwischen Einigkeit, daß die Auslegung wie gewöhnlich vorzunehmen ist 175 • Es können alle Auslegungsmittel benutzt werden. In einem zweiten Schritt wird dann festgestellt, ob das Auslegungsergebnis formgerecht erklärt wurde 176. Bei diesem zweiten Schritt kommt die sogenannte Andeutungstheorie zum Zuge, nach der nur das formgerecht erklärt ist, was in der 175 BOH, Urt. v. 27.2.1985, BOHZ 94, S. 36, 38; BOH, Urt. v. 8.12.1982, BOHZ 86, S. 41, 45ff.; Foer, Falsa demonstratio, S. 66ff.; Häsemeyer, Form der Rechtsgeschäfte, S. 155ff.; Larenz, BOB AT, S. 343; Medicus, BOB AT, Rdnr. 330; MK-Mayer-Maly, § l33 BOB, Rdnr. 28; Scherer, Andeutungsformel, S. l3; SoergelHefermehl, § l33 BOB, Rdnr. 28; entgegen der damals h.M. schon 1911 Danz, Auslegung, S. 167ff., 181 ff. 176 BOH, Urt. v. 8.12.1982, BOHZ 86, S. 41, 45ff.; BOH, Urt. v. 27.2.1985, BOHZ 94, S. 36, 38; Brox, JA 1984, S. 549, 552ff.; Foer, Falsa demonstratio, S. 66ff.; Häsemeyer, Form der Rechtsgeschäfte, S. 155ff.; Larenz, BOB AT, S. 343; Medicus, BOB AT, Rdnr. 330; MK-Mayer-Maly, § 133 BOB, Rdnr. 28; Scherer, Andeutungsformel, S. 13; Soergel-Hefermehl, § 133 BOB, Rdnr. 28; Wieser, JZ 1985, S. 407, 408.

170

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Erklärung zumindest andeutungsweise Ausdruck gefunden hat l77 . Eine Ausnahme hiervon wird von der Rechtsprechung bei der falsa demonstratio gemacht 178 . Diese Regel soll auch bei formbedürftigen Rechtsgeschäften gelten. In diesen Fällen kann man aber gerade nicht von einer Andeutung des Gewollten in der Erklärung sprechen, so daß der Anwendungsbereich der Andeutungstheorie insoweit eingeschränkt wird. Die von der Rechtsprechung entwickelte Andeutungstheorie hat Zustimmung und Kritik erfahren. Ihre Berechtigung wird in neuerer Zeit anhand der Formzwecke überprüft 179. Damit untersucht man zugleich ihre Einschränkungsmöglichkeiten. Denn da, wo die Andeutungstheorie nach den Formzwecken nicht berechtigt ist, kann die falsa-demonstratio-Regel ohne weiteres zur Anwendung kommen. Fordert aber der Formzweck eine Andeutung im Vertrag, kann eine Ausnahme nicht zugelassen werden. 11. Die Andeutungstheorie

Der Inhalt der Andeutungstheorie hat sich im Laufe der Zeit verändert. In ihrer neueren Form dient sie nur noch der Beurteilung, ob der Sinn der Erklärung, der als Auslegungsergebnis ermittelt wurde, formgerecht erklärt wurde. Es wird gefragt, ob dieser Erklärungssinn in der formgerechten Äußerung einen Ausdruck gefunden hat, wenn auch nur einen unvollkommenen 180 . Als Problemfall wird dann der Fall betrachtet, daß das Parteiverständnis vom objektiven Erklärungssinn abweicht. Hier wurde anfangs entschieden, nicht vom objektiven Erklärungssinn zu sprechen, da diese Terminologie eine allgemeine Erkennbarkeit des Erklärungssinnes suggeriert. Ein in diesem Sinne objektiver Erklärungssinn ist aber mangels eindeutiger Wortbedeutungen nicht feststellbar. Soweit ein übereinstimmendes Verständnis der Parteien nicht ermittelt werden kann, ist der normative Erklärungssinn maßgeblich. Dieser normative Erklärungssinn bestimmt sich nach den Umständen, die dem Erklärungsempfänger erkenn177 BGH, Vrt. v. 8.12.1982, BGHZ 86, S. 41, 47; BGH, Vrt. v. 27.2.1985, BGHZ 94, S. 36, 42; Scherer, Andeutungsformel, S. 13; Soergel-HefermehZ, § 133 BGB, Rdnr. 28. 178 BGH, Vrt. v. 4.11.1968, NJW 1969, S. 131, 132; BGH, Vrt. v. 14.7.1969, NJW 1969, S. 2043, 2045; BGH, Vrt. v. 25.3.1983, BGHZ 87, S. 150ff. 179 Brox, JA 1984, S. 549, 553 ff.; Foer, Falsa demonstratio, S. 81 ff.; Larenz, BGB AT, S. 344; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 194ff.; MK-FräschZer, § 125 BGB, Rdnr. 24; Reinicke, JA 1980, S. 455, 460f.; Scherer, Andeutungsformel, S. 13; Soergel-HefermehZ, § 125 BGB, Rdnr. 20. 180 BGH, Vrt. v. 8.12.1982, BGHZ 86, S. 41, 47; BGH, Vrt. v. 27.2.1985, BGHZ 94, S. 36, 42; Scherer, Andeutungsformel, S. 13; Soergel-HefermehZ, § 133 BGB, Rdnr. 28.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

171

bar waren. Damit ist also keine allgemeinverständliche, "objektive" Erklärungsbedeutung gemeint. Der normative Erklärungssinn kann durchaus nur den beteiligten Personen erkennbar sein 181 . Der normative Erklärungssinn in diesem Sinne wird in der Literatur regelmäßig als objektiver Erklärungssinn bezeichnet. Die Abweichung ist aber lediglich terminologischer Art. Auch nach der herrschenden Meinung kommt es auf die Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers an. So sind z. B. im Mietwohnungsfall 182 im Verhältnis zwischen A und B die Erklärungen aufgrund der Vorverhandlungen normativ dahin auszulegen, daß der Mietvertrag über die Wohnung mit Balkon im 1. Stock zustandegekommen ist. Das ist der normative ("objektive") Erklärungssinn, auch wenn er Dritten nicht erkennbar ist. Nach üblichem Sprachgebrauch bedeuten die schriftlichen Erklärungen von A und B, daß ein Mietvertrag über die Wohnung im 2. Stock abgeschlossen wurde 183 . Im Rahmen der Andeutungstheorie hat der Begriff "objektiver Erklärungssinn" aber eine andere Bedeutung. Wenn man danach fragt, ob der Wille in der Erklärung Ausdruck gefunden hat, nimmt man eine objektive, allgemein gültige und allgemein erkennbare Wortbedeutung zum Maßstab eine Wortbedeutung die nicht existiert 184. Abgesehen davon wechselt man aber auch bei einem solchen Vorgehen für die Beachtung der Form gegenüber der Auslegung den Maßstab. Bei der normativen Auslegung kommt es nicht darauf an, was ein Wort üblicherweise bedeutet 185. Entscheidend ist allein die Verständnismöglichkeit des Empfängers. Ob das übliche Verständnis sich mit dem normativen deckt, ist irrelevant. Dann ist es aber auch nicht sinnvoll, bei Formfragen plötzlich den üblichen Sprachgebrauch zum Maßstab zu machen. Man könnte bestenfalls danach fragen, ob das Auslegungsergebnis sich mit dem normativen Erklärungssinn deckt. Aber auch das ist wenig sinnvoll, wenn man bedenkt, daß es unterschiedliche normative Bedeutungen 18\ Wie bereits festgestellt, kann eine Erklärung im Verhältnis zwischen verschiedenen Personen unterschiedliche Bedeutungen haben (siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. c». 182 Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. c). 183 Zum Unterschied zwischen üblicher und "objektiver" Wortbedeutung siehe oben 1. Teil 1. Kap. B.II. 1. b). 184 VgI. auch Brox, JA 1984, S. 549, 555: "Es gibt keine objektiven Kriterien, wann der Wille der Parteien in einer fonngebundenen Erklärung keinen und wann er einen, wenn auch unvollkommenen Ausdruck gefunden hat." 185 Das wird in der Literatur aber nicht immer erkannt. Dort wird häufig die falsa-demonstratio-Regel schon zur Durchsetzung einer nonnativen aber vom Üblichen abweichenden Erklärungsbedeutung benutzt (siehe die Nachweise oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. b». Von diesem (unzutreffenden, siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. b» Standpunkt aus wird mit der Andeutungstheorie bei Fonnfragen kein anderer Maßstab angelegt als bei der Auslegung.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

einer Erklärung geben kann. Keine von ihnen könnte für Formfragen Vorrang beanspruchen. Für die Parteien gilt entweder ihr übereinstimmendes Verständnis oder das für sie bei normativer Betrachtung Erklärte. Für Dritte gilt die Erklärung entweder im subjektiven Sinn, wenn dieser mit dem Parteiverständnis übereinstimmt, oder in dem Sinn, der sich für sie bei normativer Betrachtung ergibt. Selbst wenn es in einem Fall sowohl im Verhältnis zwischen A und B als auch zwischen' ihnen und C jeweils auf den normativen Erklärungssinn ankommt, kann dieser unterschiedlich sein. So ist es z. B. im Mietwohnungsfall. Es ließe sich in diesem Fall kaum begründen, welcher der beiden normativen Bedeutungen der Vorrang einzuräumen ist. 111. Die eigene Konzeption

Einigkeit besteht wohl insoweit, als nicht jeder beliebige Erklärungssinn von der Form gedeckt sein kann, sobald eine mögliche Bedeutung formgemäß geäußert wurde l86 . Man befürchtet, daß die Formvorschriften praktisch unbedeutend würden und ihre Zwecke nicht mehr erfüllen könnten. Die verschiedenen Formzwecke sind in neuerer Zeit auch in der Literatur in den Vordergrund gerückt. Nach ihnen soll sich bestimmen, ob das von den Parteien Gewollte ungeachtet des Ausdrucks gelten kann l87 . Die Formzwecke werden in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich stark gegliedert l88 • Im wesentlichen geht es um den Schutz des Erklärenden vor Übereilung, um Sicherstellung fachmännischer Beratung (bei notarieller Beurkundung), um den Schutz Dritter und um den Beweis des Inhalts der Abrede l89 . Dementsprechend soll hier von der Warnfunktion, der Beratungsfunktion, drittschützenden Funktionen und der Beweisfunktion gesprochen werden. Dabei werden zunächst allein Zwei-Personen-Verhältnisse betrachtet. Das Hinzukommen Dritter soll später untersucht werden. Die drittschützenden Funktionen von Formvorschriften spielen im Zwei-Personen-Verhältnis noch keine Rolle, sie können zunächst außer Betracht bleiben.

186 BGH, Urt. v. 20.12.1974, BGHZ 63, S. 359, 362f.; BGH, Urt. v. 12.5.1980, BGHZ 77, S. 116, 119f.; BGH, Besch!. v. 9.4.1981, BGHZ 80, S. 246, 250f. 187 Foer, Falsa demonstratio, S. 81 ff.; Larenz, BGB AT, S. 344; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 194ff.; MK-Fröschler, § 125 BGB, Rdnr. 24; Scherer, Andeutungsformel, S. 13; Soergel-Hefermehl, § 125 BGB, Rdnr. 20. 188 Siehe dazu den Überblick bei Scherer, Andeutungsformel, S. 63 f. 189 Bemard, Formbedürftige Rechtsgeschäfte, S. 39ff.; Heldrich, AcP 147 (1941), S. 89, 91 ff.; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 194ff.; Scherer, Andeutungsformel, S. 63 f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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1. Formzwecke im Zwei-Personen-Verhältnis

Es besteht die Möglichkeit, daß die Beteiligten die Erklärung(en) übereinstimmend so verstehen, wie sie bei normativer Betrachtung auszulegen ist (sind), und daß dieses Verständnis auch anderen Personen erkennbar ist. So z. B., wenn A dem B sein Grundstück x verkauft und beide Parteien auch tatsächlich das Grundstück meinen, das im Grundbuch so bezeichnet ist. In diesem Fall können die verschiedenen Formzwecke voll erfüllt werden. Die Parteien werden durch den formellen Abschluß gewarnt, sie können umfassend beraten werden, und der Erklärungssinn geht aus der Urkunde hervor. Hinsichtlich der beiden zuletztgenannten Formzwecke der Beratung und der Beweissicherung muß man aber bereits in diesem Fall Einschränkungen machen. Eine gründliche Beratung ist lediglich möglich, es ist aber nicht automatisch gewährleistet, daß sie tatsächlich stattfindet, und daß der Erklärungssinn aus der Urkunde hervorgeht, ergibt sich erst durch Auslegung, bei der auch Gesichtspunkte außerhalb der Urkunde Beachtung finden konnten. Im zweiten Fall verstehen die Parteien die Erklärung(en) übereinstimmend so, wie sie bei normativer Betrachtung auszulegen ist (sind), dieser Erklärungssinn ist Dritten aber nicht erkennbar. So z. B. im Fall der bewußten Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch. A schenkt dem B seine "Bibliothek", worunter beide den Weinbestand des A verstehen, weil A diesen schon immer als seine Bibliothek bezeichnet hat. Der Vertrag wird notariell beurkundet. Auch hier wird A durch die formelle Erklärung gewarnt. Allerdings können weder die Beratungs- noch die Beweisfunktion zum Tragen kommen. Abgesehen davon, daß von einer hilfreichen Beratung auch bei Übereinstimmung des Ausdrucks mit dem üblichen Verständnis nicht unbedingt ausgegangen werden kann, schätzt das Gesetz selbst die Beratungsfunktion nur gering ein. In § 518 Abs. 2 BGB ist die Heilung des Formmangels durch Vollzug der Schenkung bestimmt, die Beratung kann also auch nach der gesetzlichen Konzeption entfallen. Gleiches gilt dann für die Beweisfunktion, die eine nicht vorhandene Urkunde nicht erfüllen kann. Eine entsprechende Regelung enthält § 313 S. 2 BGB für Grundstücksgeschäfte 190. Die Formzwecke stehen also in diesem Fall der Anerkennung des Parteiverständnisses nicht entgegen. Im dritten Fall verstehen die Beteiligten die Erklärung(en) zwar im selben Sinne, dieser weicht aber von der normativen Erklärungsbedeutung 190 Ebenso § 766 S. 2 BGB für Bürgschaften, anders aber § 15 Abs. 3 GmbHG für die Abtretung von Gesellschaftsanteilen. Diese Formvorschrift soll aber nach Lutter/Romme/hoff, § 15 GmbHG, Rdnr. 11 vor allem den "leichten und spekulativen Handel mit Gesellschaftsanteilen" verhindern und dient damit Zwecken, die über das Partei verhältnis hinausgehen.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

ab. So z. B., wenn Adern B in einem notariell beurkundeten Vertrag seine Sonderausgabe Schillers gesammelter Werke schenkt, dabei aber seine Sonderausgabe Goethes gesammelter Werke verschenken möchte und B irrtümlich (ohne daß der Wille des A normativ betrachtet erkennbar wäre) davon ausgeht, ihm würde die Goethe-Sonderausgabe geschenkt. Wenn A sich hier im Zeitpunkt der Beurkundung vorstellt, die Sonderausgabe Goethes gesammelter Werke zu verschenken, ist er durch den formellen Vertragsschluß hinreichend gewarnt. Nur wenn er eine solche Vorstellung hat, kann man aber auch davon sprechen, daß sein Wille auf die Schenkung dieser Bücher gerichtet ist. Deshalb ist das Erfordernis dieser Vorstellung kein zusätzliches Kriterium; es ist immer schon erfüllt, wenn die Falschbezeichnung durch A festgestellt werden kann. Zur Beratungs- und Beweisfunktion gilt das zum zweiten Fall Gesagte. Auch hier hindern also die Formzwecke eine Anerkennung des Partei verständnisses nicht. Schließlich können im vierten Fall die Parteien die Erklärung(en) übereinstimmend verstehen, ohne daß sie bei normativer Betrachtung einen eindeutigen Sinn hat (haben). So z. B. in folgendem Bürgschaftsfall: S möchte bei G Waren auf Kredit kaufen, dieser verlangt eine Bürgschaft als Sicherheit. S findet keinen Bürgen. B, der Freund des S, hört von dessen Bedrängnis und will sich für einen Teil der Schuld des S gegenüber G verbürgen. Er will eine Bürgschaft in Höhe von 5.000 DM übernehmen. Die Bürgschaft soll eine Überraschung für S sein, dem er deshalb nichts davon erzählt. Auch mit G trifft er keine Absprache, sondern schickt ihm direkt die unterschriebene Bürgschaftserklärung. Der Sekretär des B, der den Vertrag vorbereitet hat, hat aber hinter den Betrag eine Phantasiewährung eingesetzt, um den B zu ärgern. G, der den Brief nur flüchtig liest und deshalb von der Phantasiewährung nichts bemerkt, geht von einer Bürgschaft über 5.000 DM aus. Er ruft den B an und erklärt, daß er dessen Bürgschaft annimmt. Der Bürgschaftsvertrag erfordert gern. § 766 S. 1 BGB lediglich Schriftform, keine notarielle Beurkundung. Die Beratungsfunktion ist hier also nicht zu berücksichtigen. Für die Warn- und Beweisfunktion gilt dasselbe wie im dritten Fall, sie stehen also auch in dieser Fallgruppe der Anerkennung des Partei verständnisses nicht entgegen. Daraus ergibt sich, daß im Zwei-Personen-Verhältnis die Formzwecke entweder ebensogut gewahrt werden, wenn man das Verständnis der Parteien zugrundelegt, oder daß sie ohnehin nicht unbedingt verwirklicht werden können. Wenn die Erklärungshandlung formgerecht vorgenommen wurde, spricht also nichts dagegen, den Erklärungssinn als formgerecht erklärt anzusehen, von dem die Parteien übereinstimmend ausgegangen sind. Auch wenn man zu einem abweichenden Ergebnis bei der Beteiligung Dritter kommt, ist die formgerechte Erklärung im Verhältnis zwischen den

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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Parteien von Bedeutung, da sich daraus Anspruche auf Erfüllung, nötigenfalls auf Abgabe einer für Dritte verständlichen Erklärung ergeben können. Das wäre nicht der Fall, wenn man die Erklärung in ihrem Verhältnis als nicht formgemäß betrachten wollte. Gegen diese Lösung läßt sich einwenden, daß die Vertragsparteien dann die Formnichtigkeit eines Grundstücksgeschäfts wegen unrichtiger Preisabrede dadurch umgehen könnten, daß sie eine eigene Zahlenbedeutung vereinbaren. Wollen die Parteien Gebühren sparen oder Preisbindungen umgehen, können sie das auf zwei Wegen versuchen. Sie können zwei Rechtsgeschäfte abschließen, von denen sie nur eines beurkunden lassen. Dann handelt es sich bei dem vorgeschobenen Geschäft um ein Scheingeschäft, das gern. § 117 Abs. 1 BGB nichtig ist. Das eigentlich gewollte Geschäft unterliegt gern. § 117 Abs. 2 BGB den dafür üblichen Vorschriften. Es ist dem Notar nicht vorgelegt und demnach auch nicht beurkundet worden. Gern. § 125 S. 1 BGB ist es daher ebenfalls nichtig. Allerdings kann das verdeckte Geschäft gern. § 313 S. 2 BGB wirksam werden, so daß die Parteien ihr Ziel erreichen können, wenn sie nicht nachträglich in Streit geraten und eine Seite den verdeckten Vertrag nicht mehr gelten lassen will. Die andere Möglichkeit ist, daß die Parteien nur ein Rechtsgeschäft abschließen, das sie auch vom Notar beurkunden lassen. In diesem Vertrag benutzen sie dann ein Zahlwort, für das sie intern eine andere Bedeutung vereinbaren (z. B. 50.000 soll 100.000 bedeuten). Dieser Vertrag wird dann beurkundet. Zwischen den Parteien gilt nach dem oben Gesagten die von ihnen vereinbarte Bedeutung. Der Vertrag ist wirksam, so daß die anschließende Auflassung und Eintragung mit Rechtsgrund erfolgt. Lüderitz will dieses Ergebnis nicht zulassen, weil der Sinn der Formvorschrift dadurch verfehlt würde l9l . Aber auch beim Abschluß eines Scheingeschäfts können die Parteien ihr verdecktes Geschäft durchführen. Durch die Vereinbarung einer anderen Zahlenbedeutung wird den Parteien also kein sonst nicht erreichbarer Erfolg ermöglicht. Ein Unterschied liegt allerdings darin, daß das vom Scheingeschäft verdeckte Geschäft gern. § 313 S. 2 BGB erst mit Auflassung und Eintragung gültig wird, das Geschäft mit der abweichenden Zahlenbedeutung aber von Anfang an wirksam ist. Während sich die Parteien also im ersten Fall noch von dem Geschäft lösen können, sind sie im zweiten Fall bereits mit Beurkundung des Vertrages gebunden. Diese Bindung ist aber höchstens aus erzieherischen Grunden abzulehnen. Man könnte es für wünschenswert 191 Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 190f.; Foer, Falsa demonstratio, S. 91 ff. bespricht diese Fallgestaltung nicht. Er differenziert zwar zwischen unbewußter und bewußter Falschbezeichnung, bringt allerdings für letztere nur das Beispiel des Scheingeschäfts, nicht auch den Fall der vereinbarten besonderen Wortbedeutung.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

halten, dem Geschäft die Wirksamkeit zu versagen, mit dem Gebühren gespart oder Preisbindungen umgangen werden sollen. Das ist aber ein Argument, das außerhalb des Formzwecks des § 313 BGB liegt. "Der Sinn der Formvorschrift", auf den Lüderitz sich beruft, fordert die Unwirksamkeit nicht. Das gilt auch dann, wenn man der Ansicht ist, daß § 313 BGB u. a. die Erkennbarkeit des Vertragsinhalts für Dritte gewährleisten soll. Durch die Heilungsmöglichkeit des § 313 S. 2 BGB ist ein solcher Formzweck im Gesetz selbst relativiert. Die Vereinbarung kann allerdings aus anderen Gründen nichtig sein. Soll z. B. eine Preisbindungsnorm umgangen werden, so kann sich die Nichtigkeit des gewollten Geschäfts aus § 134 BGB ergeben. Der Grund für die Unwirksamkeit liegt dann aber in der Preisbindungsnorm, nicht in der Formvorschrift des § 313 BGB. Die Ersparnis von Notargebühren wird dagegen nicht gleich zur Nichtigkeit des Vertrages führen. Es besteht aber auch kein Grund, den Vertrag hier nicht gelten zu lassen. Die Ansprüche des Notars können über die §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB gewahrt werden. Die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts hätte darüber hinaus lediglich eine Erziehungsfunktion, die dem BGB grundsätzlich fremd ist. Im Zwei-Personen-Verhältnis bleibt es also dabei, daß bei förmlicher Äußerung das übereinstimmend Gewollte formgerecht erklärt ist l92 .

2. Drittschützende Formvorschriften Es bleiben die Fälle zu untersuchen, in denen die Erklärung Dritte im rechtlichen Sinne "etwas angeht". Das ist z. B. bei Wohnraummietverträgen mit einer Laufzeit von über einem Jahr der Fall, die gern. §§ 580, 566 BGB der Schriftform bedürfen. Diese Formvorschrift dient zumindest auch dem Schutz eines späteren Erwerbers des Grundstücks, der gern. § 571 Abs. 1 BGB in die Pflichten des Vermieters eintritt. Dazu der folgende Mietdauerfall : A und B verhandeln über einen Mietvertrag für eine Wohnung im Haus des A. Die Mietdauer soll sieben Jahre betragen. In den endgültigen Vertrag schreibt A versehentlich eine Mietdauer von fünf Jahren, beide Parteien bemerken das Versehen nicht, sie gehen beide davon aus, daß der Mietvertrag für sieben Jahre geschlossen ist. Nach einem Jahr veräußert A das Haus an C. Da dieser nach bestehenden Mietverträgen fragt, legt er ihm den Vertrag vor, den er mit B geschlossen hat. Centnimmt daraus, daß die Wohnung an B für fünf Jahre vermietet wurde. Dritte sind auch im Falle der Einwilligungsbedürftigkeit eines Rechtsgeschäfts betroffen. So z. B. in folgendem Minderjährigenfall: Die minderjäh192 A.A. Wieling, Jura 1979, S. 524, 528f., der wegen der Forrnzwecke fordert, daß der Inhalt des Rechtsgeschäfts sich aus der Urkunde ergibt.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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rige M verkauft dem A ihr Grundstück in der Parkstraße. In dem notariellen Kaufvertrag ist ein Kaufpreis von 100.000 DM genannt. Mund A gingen aber übereinstimmend von einem Kaufpreis in Höhe von 80.000 DM aus, der höhere Betrag wurde versehentlich in den Vertrag aufgenommen. Nach Einsicht in die Vertragsurkunde genehmigen die Eltern der M das Geschäft. Das Grundstück wird auf A übertragen. Als dieser nur 80.000 DM zahlen will, verlangen die Eltern der M von ihm weitere 20.000 DM, weil sie den Vertrag nur mit diesem Inhalt genehmigt haben. Wie bereits festgestellt, müssen Dritte in diesen Fällen nicht das Verständnis der Parteien gegen sich gelten lassen. Es gilt ihnen gegenüber entweder ihr subjektives Verständnis, wenn es sich mit dem übereinstimmenden Parteiverständnis deckt, oder die aus ihrer Sicht bestehende normative Bedeutung. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn die Erklärung formbedürftig ist. So ist im Minderjährigenfall die Genehmigung nicht für das von den Parteien gewollte Geschäft erteilt worden, Formfragen stellen sich dann nicht mehr. Es fragt sich aber, ob das, was dem Dritten gegenüber gilt, formgerecht erklärt worden ist. Diese Frage stellt sich allerdings nur dann, wenn für den Dritten eigene Rechte und Pflichten aus der Vereinbarung entstehen. Das ist im Minderjährigenfall nicht der Fall. Die Beteiligung des Dritten war hier Wirksamkeitsvoraussetzung für den Vertrag. Das vom Parteiverständnis abweichende Verständnis hat hier keine Folgen im Verhältnis der Parteien zum Dritten, sondern im Verhältnis der Parteien untereinander. Es bewirkt, daß die Parteivereinbarung unabhängig von Formfragen mangels einer Wirksamkeitsvoraussetzung nichtig ist. Die Eltern der M können also von A nicht weitere 20.000 DM verlangen. Um eigene Rechte und Pflichten des Dritten geht es aber im Mietdauerfall. In diesem Fall kommt es für die Frage, ob der dem Dritten gegenüber geltende Inhalt formgemäß erklärt worden ist, auf den Zweck der Formvorschrift an. So dient z. B. § 566 BGB u. a. dazu, dem Erwerber eines Grundstücks die Möglichkeit zu geben, sich über langfristige Mietverträge zu informieren 193. Er soll also den Inhalt bestehender Vereinbarungen ermitteln können. Da für den Erwerber die Erklärungen in dem ihm erkennbaren Sinne gelten, wird der Informationszweck immer dann erfüllt, wenn die Erklärungshandlungen formgerecht vorgenommen wurden. D.h. für den Mietdauerfall, daß es nur darauf ankommt, daß die Erklärungen von A und B schriftlich abgefaßt wurden. Denn dann hat der Erwerber die Möglichkeit, den für ihn maßgeblichen Inhalt des Vertrages zwischen Vermieter und Mieter zu ermitteln. Ob für die Parteien ein abweichender Inhalt gilt, spielt keine Rolle. Der für den Dritten erkennbare Inhalt ist formgerecht erklärt, 193

Erman-Brox, § 566 BOB, Rdnr. 2; Palandt-Putzo, § 566 BOB, Rdnr. 1

12 Kamanabrou

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

wenn die Erklärungen in der notwendigen Form abgegeben wurden. Das eigentliche Problem liegt nicht in der Form der Erklärungen, sondern in der Geltung unterschiedlicher Bedeutungen einer Erklärung zwischen mehreren Personen. Diese Frage ist aber schon entschieden worden, bevor Formfragen hinzugekommen sind 194. C gegenüber ist also die Wohnung für fünf Jahre an B vermietet. Bei Grundstücksgeschäften stellt sich außerdem die Frage, ob bei einer Falschbezeichnung des übertragenen Grundstücks der Erwerber automatisch als Eigentümer des richtigen Grundstücks eingetragen ist und damit das Erfordernis der Eintragung des § 873 Abs. 1 BGB erfüllt ist. So z. B. in folgendem Grundstücksfall: A und B einigen sich über den (Ver)kauf eines der Grundstücke des A, das im Grundbuch unter der Nr. 21 eingetragen ist. In die Vertragsurkunde wird versehentlich das Grundstück mit der Nr. 12 eingetragen, das auch dem A gehört. Dementsprechend wird B vom Grundbuchamt als Eigentümer des Grundstücks Nr. 12 eingetragen. B ist nur dann Eigentümer des Grundstücks Nr. 21 geworden, wenn er als Eigentümer dieses Grundstücks in das Grundbuch eingetragen wurde. Die Eintragung erfolgte aber mit dem Inhalt, wie ihn der Grundbuchbeamte dem Vertrag entnehmen konnte. B wurde also für das Grundstück Nr. 12 eingetragen. Eine andere Eintragung wollte der Grundbuchbeamte nicht vornehmen. Durch diese Eintragung mag zwar mangels entsprechendem Vertrag zwischen A und B das Grundbuch unrichtig geworden sein, eine andere Eintragung ist aber nicht erfolgt. So ist ja auch im Minderjährigenfall die Genehmigung nur für das den Eltern erkennbare Geschäft erteilt worden, nicht für das von A und M gewollte. IV. Zusammenfassung zu den Formfragen Demnach ergibt sich für die Auslegung formbedürftiger Rechtsgeschäfte, daß der für eine Person maßgebliche Sinn immer dann formgerecht erklärt wurde, wenn die Erklärungshandlungen dem Formerfordernis genügen l95 . Welche Bedeutung die Erklärung hat, ist unabhängig von Formfragen zu ermitteln 196. Ob diese Bedeutung formgerecht erklärt wurde, hängt nicht von ihrem Inhalt ab, sondern allein davon, ob die Äußerung - ohne Rücksicht auf ihren Inhalt - formgerecht ist. Siehe dazu oben 2. Teil l. Kap. B. I. 2. c). Zu einer differenzierten Betrachtung für die Parteien einerseits und Dritte andererseits kommt auch Scherer; Andeutungsfonnel, S. 81 ff., während Foer; Falsa demonstratio, S. 96 ff. bei drittschützenden Vorschriften auch den Vertragsparteien gegenüber den objektiven VertragsinhaIt geiten lassen will. 196 Dagegen will Stathopoulos, l. FS für Larenz, S. 357, 371 eine objektive Bedeutung ermitteln, die dann für alle Beteiligten gilt. 194 195

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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2. Kapitel

Die Auslegung im weiteren Sinne (ergänzende Auslegung von Rechtsgeschäften) A. Die ergänzende Vertragsauslegung in Literatur und Rechtsprechung I. Die Vertragslücke Neben der erläuternden Auslegung gibt es auch die ergänzende Auslegung von Verträgen 1• Die ergänzende Auslegung soll stattfinden, wenn die vertragliche Vereinbarung lückenhaft ist. Der Begriff der Vertragslücke wird nicht einheitlich definiert. Mayer-Maly geht von einer Lücke aus, wenn eine regelungsbedürftige Situation eintritt, die nach dem objektiven Regelungsgehalt des Rechtsgeschäfts nicht geregelt ist2 . Andere Autoren sprechen von einer Lücke, wenn die Parteien eine jetzt eingetretene Situation nicht bedacht haben 3 . Die zuerst genannte Definition greift insoweit zu kurz, als es bei der erläuternden Auslegung nicht unbedingt auf den "objektiven" (nach der hier benutzten Terminologie "normativen") Inhalt ankommt, sondern vorrangig der übereinstimmende Parteiwille gilt4 • Es kann also auch eine regelungsbedürftige Situation eintreten, die nach dem (maßgeblichen) subjektiven Regelungsgehalt des Rechtsgeschäfts nicht geregelt ist. Die zweite Definition vernachlässigt demgegenüber, daß Situationen, an die die Parteien nicht gedacht haben, zum Teil auch schon durch normative Auslegung der vertraglichen Regelung unterworfen werden können. Wenn man diese Aspekte berücksichtigen will, muß man danach fragen, ob eine regelungsbedürftige Situation eingetreten ist, die von dem durch Auslegung ermittelten Vertragsinhalt nicht erfaßt wird 5 . Einen ganz anderen Lückenbegriff benutzt Mangold. Er spricht nicht nur dann von einer Lücke, wenn eine Regelung im Vertrag völlig fehlt, sondern auch dann, wenn eine Vertragsbestimmung mehrdeutig ist6 . Allerdings hält 1 Einige Autoren halten allerdings jede Auslegung für Ergänzung. So z. B. Danz, Auslegung, S. 75. 2 MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 29. 3 Brox, BGB AT, Rdnr. 137; Larenz, BGB AT, S. 538; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr.103. 4 Allgemeine Meinung; vgl. dazu oben 2. Teil 1. Kap. B. 1. 2. b). 5 Im Ergebnis ebenso Flume, AT H, S. 323; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 409. 6 Mangold, NJW 1961, S. 2284, 2285. 12*

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Mangold eine vertragliche Regelung auch dann für eindeutig, wenn man ihren Sinn aus einer besonderen Vereinbarung oder der Verkehrssitte ermitteln kann 7 • Damit reduziert sich der Unterschied zum sonst gebräuchlichen Lückenbegriff. Mangold erfaßt so die Erklärungen, deren besonderen Sinn die Parteien vereinbart haben und diejenigen, deren Inhalt durch normative Auslegung zu ermitteln ist. Ohne Grund schließt er damit aber die Fälle des zufällig übereinstimmenden Parteiverständnisses aus. Dieser Lückenbegriff, der mit einem eigenwilligen Verständnis von Eindeutigkeit kombiniert ist, ist wenig sinnvoll. Die mehrdeutige Erklärung ist auszulegen, damit man den Vertragsinhalt herausfindet. Was sich nicht durch Auslegung ermitteln läßt, kann möglicherweise durch ergänzende Auslegung zur Geltung gelangen. Es besteht aber ein Unterschied zwischen dem, was den Parteien als Erklärungsinhalt zurechenbar ist und der Ergänzung des Vertrages 8 . Henckel nimmt eine Vertragslücke an, wenn die regelungsbedürftige Situation nach dem übereinstimmenden Willen der Parteien vom objektiven Vertragsinhalt nicht mehr erfaßt wird 9 . Wie die Parteien zum "objektiven" Vertragsinhalt stehen, kann aber in der Regel gar nicht ermittelt werden. Wenn die Parteien ihre Erklärungen nicht im normativen Sinn verstanden haben, ist ihnen dieser normative Sinn im Regelfall auch nicht bewußt. Sie haben über ihn also keinen Willen gebildet, so daß dieser Wille auch nicht zur Ermittlung von Vertragslücken herangezogen werden kann. Larenz geht auch dann von einer Lücke aus, wenn die Tragweite einer Vertragsbestimmung nicht eindeutig festgestellt werden kann lO • Ob letzteres eine Frage der Ergänzung des Rechtsgeschäfts ist, hängt davon ab, wie Larenz diesen Zusatz gemeint hat. Zunächst ist es eine Frage der erläuternden Auslegung, die Tragweite einer Vertragsbestimmung durch Inhaltsfeststellung oder -festsetzung zu bestimmen. Insoweit handelt es sich nicht um ein Problem der ergänzenden Vertragsauslegung. Man kann sich aber nach Beendigung der erläuternden Auslegung fragen, ob die durch Auslegung ermittelte Regelung wirklich in diesem Umfang gelten soll, oder ob sie erweitert oder eingeschränkt werden muß. Auch hier kann man davon sprechen, daß es um die Tragweite der Regelung geht, nämlich darum, wie sie letztlich zur Anwendung kommt. Diese Untersuchung findet im Rahmen der ergänzenden Auslegung statt. Die Fälle der zu weit oder zu eng geratenen vertraglichen Regelung erfaßt aber auch der oben vorläufig gebildete LückenbegrifflI: Bei der zu weiten vertraglichen Regelung ist die "regelungsbedürftige Situation" ein Sonderfall, der die Einschränkung der VerMangold, NJW 1961, S. 2284, 2285f.; ders., NJW 1962, S. 1597, 1599. Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 118. 9 Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 115. 10 Larenz, BOB AT, S. 538. 11 Siehe oben 2. Teil 2. Kap. A.1.

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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tragsbestimmung fordert, die aber durch erläuternde Vertragsauslegung nicht erreicht werden kann. Bei der zu engen Regelung geht es um nicht bedachte Situationen, die ebenfalls einer vertraglichen Regelung unterfallen sollten, von der sie aber nach der erläuternden Auslegung nicht erfaßt werden. Es handelt sich bei Larenz' Zusatz zur Lückendefinition also nicht um eine Erweiterung des Lückenbegriffs. Larenz macht noch einen weiteren Zusatz, indem er angelehnt an den Begriff der Gesetzeslücke von einer Vertragslücke spricht, wenn die Regelung der Parteien "eine Bestimmung vermissen läßt, die erforderlich ist, um den ihr zugrundeliegenden "Regelungsplan" der Parteien zu verwirklichen.,,12 Der Regelungsplan der Parteien soll dem "Gesetzesplan" (in der hier verwandten Terminologie: Regelungsabsicht des Gesetzgebers im weiteren Sinne 13 ) entsprechen. Bei der Rechtsfortbildung soll der Plan des Gesetzgebers den Begriff der Gesetzeslücke begrenzen. Allerdings wird dieser Lückenbegriff erheblich aufgeweicht, indem Dinge in den Regelungsplan des Gesetzgebers einbezogen werden, die nicht unbedingt dorthin gehören 14. Diesem (mißglückten, weil nicht konsequent durchgeführten) Begrenzungsversuch entsprechend scheint Larenz auch bei Verträgen nicht jede Unvollständigkeit als Lücke anerkennen zu wollen, sondern nur die Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien eine Ergänzung fordert.

Der Regelungsplan der Parteien ist aber für den Lückenbegriff nicht von Bedeutung. Auch Larenz erkennt an, daß es um das Fehlen von Bestimmungen geht, die zur Durchführung des Vertrages erforderlich sind 15. Anders als bei der Gesetzesauslegung geht es bei der Vertragsauslegung nicht um die Regelung neuer Fälle, die von den bereits geregelten Fällen unabhängig sind, sondern um die Durchführung ein und derselben Vertragsbeziehung. Die Absichten der Parteien können zwar für die Ausfüllung der unvollständigen Regelung Bedeutung haben. Ob eine Unvollständigkeit besteht, richtet sich aber allein danach, ob die Vertragsbeziehung der Parteien in ihrer Vereinbarung umfassend geregelt ist. Der Regelungsplan der Parteien ist für diese Frage irrelevant. Wie bei der Gesetzesauslegung spricht Larenz auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften davon, daß die geschaffene Regelung ein eigenes Gewicht erhält. Der Vertrag soll eine objektive Regelung enthalten, sein Sinngehalt soll über den Vorstellungskreis der Parteien hinausreichen l6 . I

12 Larenz, BGB AT, S. 538. Wieder anders formulierte Larenz in NJW 1963, S. 737, 738 f. Danach ist eine planwidrige Unvollständigkeit gegeben, wenn eine Regelung fehlt, die durch den Vertragszweck gefordert wird. 13 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. I. 2. a) aa). 14 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. I. 1. 15 Larenz, BGB AT, S. 538. 16 Larenz, BGB AT, S. 537 ff.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Dieses "mehr" soll Gegenstand der ergänzenden Auslegung sein. Die Ansicht, daß ein Text ein Eigenleben führt und eine objektive Bedeutung in sich trägt, wurde bereits im ersten Teil abgelehnt 17. Auch für die Vertragsauslegung gilt, daß der Inhalt des Vertrages nicht über die einzelnen Erklärungen hinausreicht 18 . Er ist kein lebendiges Gebilde, das sich ständig fortentwickelt und von selbst Antworten auf neue Probleme zwischen den Vertragsparteien gibt. Der Sinn eines Vertrages kann nur insoweit über die Vorstellungen einer Partei hinausgehen, als möglicherweise ein normativer Erklärungssinn Geltung erlangt, an den sie nicht gedacht hat l9 . Auch in diesem Fall handelt es sich aber nicht um ein Abweichen des Vertrages von dem Inhalt der'einzelnen Erklärungen. Schon deren Inhalt weicht von den Vorstellungen der Partei(en) ab. Das liegt daran, daß diese Vorstellungen nicht unbedingt den Erklärungsinhalt bestimmen.

11. Der Maßstab für die Lückenfüllung

Der Maßstab für die Lückenausfüllung wird im wesentlichen gleich bestimmt. Es wird gefragt, was die Parteien unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und der Verkehrs sitte gewollt hätten, wenn sie den fraglichen Umstand berücksichtigt hätten 2o . Der hypothetische Parteiwille wird also als normatives Kriterium betrachtet21 .

111. Das Verhältnis der ergänzenden Auslegung zur Anwendung dispositiven Rechts

Problematisch ist das Verhältnis der ergänzenden Auslegung zur Ergänzung der vertraglichen Regelung durch dispositives Recht. In einigen Fällen, in denen eine vertragliche Regelung fehlt, gibt es konkrete Rechtsnormen, die die Frage regeln. In anderen Fällen könnte man auf Generalklausein zurückgreifen, um das anstehende Problem zu lösen. In der LiteraSiehe oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 1. a) und 3. d). Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. II. 1.; so auch Bickel, Auslegung, S. 163; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 399. 19 Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. a). 20 BGH, Urt. v. 18.12.1954, BGHZ 16, S. 71, 76; BGH, Urt. v. 3.7.1981, BGHZ 81, S. 135, 141; BGH, Urt. v. 1.2.1984, BGHZ 90, S. 69, 77; BGH, Urt. v. 4.5.1990, BGHZ 111, S. 214, 218; BGH, Urt. v. 21.9.1994, BGHZ 127, S. 138, 142; Brox, BGB AT, Rdnr. 138; Flume, AT II, S. 322; Larenz, BGB AT, S. 539ff.; Medicus, BGB AT, Rdnr. 343; MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 39ff.; SoergelWolf, § 157 BGB, Rdnr. 129ff. 21 So ausdrücklich Flume, AT II, S. 322; Larenz, BGB AT, S. 541 f. 17

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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tur wird dem dispositiven Recht der Vorrang eingeräumt, solange der ergänzungsbedürftige Vertrag dem gesetzlich geregelten Normaltypus entspricht22 . Die Rechtsprechung differenziert nach verschiedenen Fällen. Bei Vertragslücken, die aufgrund einer Inhaltskontrolle nach dem AGBG entstehen, soll eine ergänzende Auslegung (erst) in Betracht kommen, wenn zur Lückenfüllung nicht auf dispositives Recht zurückgegriffen werden kann 23 . Daß zunächst versucht wird, dispositives Recht anzuwenden, beruht auf der Regelung des § 6 Abs. 2 AGBG, nach der die "gesetzlichen Vorschriften" unwirksame Klauseln ersetzen. Bei Gesellschaftsverträgen soll die ergänzende Vertragsauslegung stets Vorrang vor der Anwendung dispositiven Rechts haben 24 . Soweit es sich nicht um solche Sonderfälle handelt, lassen sich aus zwei Entscheidungen des BGH Hinweise auf das Verhältnis der ergänzenden Vertragsauslegung zur Anwendung des dispositiven Rechts entnehmen. In dem einem Urteil heißt es, daß Verträge nach den allgemeinen dispositiven gesetzlichen Vorschriften des jeweiligen Vertragstyps zu ergänzen sind. Wenn solche nicht vorhanden seien oder nicht dem Parteiwillen entsprächen, sei die Lücke durch ergänzende Vertragsauslegung zu füllen 25 • In dem anderen Urteil geht der BGH davon aus, daß die Parteien die Ausgestaltung ihrer vertraglichen Beziehungen den Gesetzesvorschriften überlassen, wenn sie zu einem bestimmten Punkt keine Regelung treffen. Eine Vertragslücke setze voraus, daß der Vertrag innerhalb des durch ihn gesteckten Rahmens oder innerhalb der wirklich gewollten Vereinbarungen ergänzungsbedürftig ist26 . Nach beiden Urteilen ist grundSätzlich das dispositive Recht zur Lückenfüllung heranzuziehen.

22 Flume, AT H, S. 325; Larenz, BGB AT, S. 547f.; ders., NJW 1963, S. 737, 740; MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 37f.; Medicus, BGB AT, Rdnr. 344; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 113; Staudinger-Dilcher, §§ 133,157 BGB, Rdnr. 39. 23 BGH, Urt. v. 1. 2. 1984, BGHZ 90, S. 69, 72 ff.; BGH, Urt. v. 7.3. 1989, BGHZ 107, S. 273, 276; BGH, Urt. v. 12.7.1989, WM 1989, S. 1729, 1732; BGH, Urt. v. 18.9.1991, NJW 1992, S. 1164, 1165; BGH, Urt. v. 22.1.1992, BGHZ 117, S. 92, 98; BGH, Urt. v. 4.11.1992, BGHZ 120, S. 108, 122. 24 BGH, Urt. v. 23.11.1978, NJW 1979, S. 1705, 1706; BGH, Urt. v. 21.10.1985, BB 1986, S. 42l.; BGH, Urt. v. 5.6.1989, BGHZ 107, S. 351, 355. 25 BGH, Urt. v. 19.10.1977, DB 1978, S. 978, 979. 26 BGH, Urt. v. 25.6.1980, BGHZ 77, S. 301, 304.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

B. Die eigene Konzeption I. Ergänzende Vertragsauslegung und Privatautonomie

Wie bei der Rechtsfortbildung stellt sich auch bei der ergänzenden Vertragsauslegung zunächst die Frage, ob sie grundsätzlich zulässig ist. Gegen eine ergänzende Vertragsauslegung könnte sprechen, daß die Parteien im Rahmen der Gesetze ihre Vertrags beziehungen autonom regeln können. Damit könnte eine Ergänzung durch Dritte unvereinbar sein. Das BGB sieht aber durchgängig die Ergänzung von Verträgen durch dispositives Gesetzesrecht vor. Es ist also sogar der Regelfall, daß nicht nur gilt, was die Parteien vereinbart haben. Allein das Argument der autonomen Regelung spricht daher nicht gegen eine Ergänzung von Verträgen. Wenn der Fall der bewußten Entscheidung der Parteien gegen eine bestimmte Regelung aus dem Lückenbegriff ausgeklammert wird 27 , entscheidet man bei der Lückenfüllung nicht gegen den Willen der Parteien. Es gibt deshalb auch keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Ergänzung. Die Nichtregelung ist ebenso wie die geplante Ergänzung nicht gewollt. Man kann also auch nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß in einem solchen Fall eben der Vertragsinhalt, so wie er durch Auslegung ermittelt wurde, zu gelten hat.

11. Die Rechtsgrundlage für die ergänzende Vertragsauslegung

Auch wenn eine ergänzende Vertragsauslegung im Einklang mit der Privatautonomie steht, ist es denkbar, daß sie nach der Konzeption des BGB nicht vorgesehen ist. Es findet sich keine ausdrückliche gesetzliche Regelung für die ergänzende Vertragsauslegung. Als Rechtsgrundlage wird in der Regel § 157 BGB herangezogen z8 . Ob § 157 BGB auch die ergänzende Auslegung von Verträgen erfaßt, ist durch Auslegung der Vorschrift zu ermitteln. Maßgeblich ist dabei der Wille des Gesetzgebers des BGB. In den Materialien zum heutigen § 157 BGB heißt es, daß die Berücksichtigung von Treu und Glauben und der Verkehrs sitte häufig keine "Auslegung des Parteiwillens im streng wissenschaftlichen Sinne", sondern "Ergänzung des fehlenden Willens durch das Gesetz sei"z9. Der Gesetzgeber wollte also mit der Regelung auch die Ergänzung von Verträgen regeln. Der Zusatz Dazu unten 2. Teil 2. Kap. B. III. 1. BGH, Urt. v. 22.4.1953, BGHZ 9, S. 273, 277f.; BGH, Urt. v. 18.12.1954, BGHZ 16, S. 71, 76; Errnan-Hefermehl, § 157 BGB, Rdnr. 16; Palandt-Heinrichs, § 157 BGB, Rdnr. 2; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 103; Grabau, Gesetzes- und Vertragsauslegung, S. 155 leitet ihre Zulässigkeit aus dem Gedanken der Privatautonomie ab. 29 Protokolle I, S. 625. 27

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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"durch das Gesetz" erklärt sich dadurch, daß die Ergänzung durch einen im Gesetz mit Treu und Glauben vorgeschriebenen normativen Maßstab erfolgt. § 157 BGB wird also in der Rechtsprechung und Literatur zu Recht als Grundlage für die ergänzende Vertragsauslegung angesehen. 111. Die Vertragslücke

1. Der Lückenbegriff

Mit dem Begriff der ergänzenden Vertragsauslegung wird angedeutet, daß es um ein Hinzufügen zu etwas Unvollständigem geht. Die erste Frage, die man sich deshalb stellen muß, ist, wann ein Vertrag unvollständig ist, so daß er der Ergänzung bedarf. In der Literatur ist dafür der Lückenbegriff geprägt worden. Von einer Lücke im Vertrag kann man dann sprechen, wenn es an einer vertraglichen Regelung einer bestimmten Situation fehlt. Man kann den Begriff aber auch enger fassen, und von einer Lücke nur dann sprechen, wenn die problematische Situation weder nach dem Vertrag noch nach gesetzlichen Regelungen bewältigt werden kann. Dann müßte man allerdings auch fragen, ob ein solcher Fall überhaupt auftreten kann, oder ob eine gesetzliche Regelung nicht immer, wenn auch nur in Form einer konkretisierungsbedürftigen Generalklausei zur Verfügung steht3o . Wie man den Lückenbegriff bestimmt, hängt also davon ab, woran man die Vollständigkeit der vertraglichen Regelung messen will. Man kann verlangen, daß sich die Rechtsbeziehungen der Parteien vollständig aus dem Vertrag ergeben, soweit nicht zwingendes Gesetzesrecht besteht3l . Möglich ist es aber auch, die Regelung als vollständig anzusehen, wenn sie mit Hilfe dispositiver gesetzlicher Vorschriften komplettiert werden kann. Das würde möglicherweise bedeuten, daß es keine unvollständigen Verträge gibt. Beide Begriffsbestimmungen sind gleichwertig, es ist nicht die eine richtig und die andere falsch. Man kann sich lediglich auf einen Begriff festlegen und diese Wahl begründen. Um eine notwendig so gefaßte Definition handelt es sich nicht. Sinnvoller ist es, allein auf den Inhalt der vertraglichen Regelung zu sehen, um die Vollständigkeit des Vertrages zu beurteilen. Was die Parteien übereinstimmend gewollt haben, oder was dem Vertrag normativ als Inhalt zu entnehmen ist, gilt zwischen den Parteien als ihre selbstgeschaffene Regelung. Bestimmungen des dispositiven Rechts gelten dagegen als Vgl. zu diesem Problem Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 13ff. Das zwingende Recht können die Vertragsparteien nicht abändern, so daß sich hier vertragliche Regelungen erübrigen. 30

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

gesetzliche Anordnungen, sie treten zum Vertrag hinzu. Rechtsfolgen entstehen nicht allein aus der vertraglichen Vereinbarung, sondern auch aus gesetzlichen Vorschriften. Zwischen diesen Rechtsquellen kann man aber unterscheiden. So wird z. B. häufig in Kaufverträgen die Rechtslage bei Mangelhaftigkeit der Kaufsache nicht angesprochen. Tritt in einer solchen Vertragsbeziehung ein Mangel an der Kaufsache auf, so ist dieser Fall nicht etwa unlösbar, weil die vertragliche Regelung nicht von Mängeln spricht. Die Rechte des Käufers ergeben sich aus den §§ 459ff. BGB. Der Käufer kann nach diesen Vorschriften unter bestimmten Umständen wandeln oder mindern. Dieser Anspruch ergibt sich aber in dem hier gebildeten Fall nicht aus dem Vertrag sondern allein aus dem Gesetz. Im Vertrag ist also eine bestimmte Frage nicht geregelt, er beantwortet einen Teil der Rechtsfragen zwischen den Vertragsparteien nicht und ist deshalb unvollständig 32 • Die Lösung ergibt sich allein aus hinzutretendem Gesetzesrecht. In solchen Fällen soll hier von einer Unvollständigkeit des Vertrages gesprochen werden. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß man den Vertrag auch als vollständig ansehen könnte, weil der nicht geregelte Fall gesetzlich geregelt ist, eine vertragliche Vereinbarung also nicht zwingend notwendig ist. Hier soll die Frage nach der Vollständigkeit aber daran gemessen werden, ob die Rechtsverhältnisse der Parteien sich allein nach dem Vertrag und den zwingenden gesetzlichen Regelungen beurteilen lassen 33 . Nicht immer, wenn ein Anspruch, ein anderes Recht (z. B. Gestaltungsrecht) oder eine Obliegenheit vertraglich nicht vorgesehen ist, fehlt es aber an einer entsprechenden Regelung 34 • Das Nichtbestehen einer bestimmten Regelung kann auch bedeuten, daß das von einer Partei geltendgemachte Recht nicht besteht und auch nicht bestehen soll. So ist es z. B. denkbar, daß die Parteien eines Kaufvertrags dem Käufer das Risiko der Mangelhaftigkeit der Kaufsache auferlegen wollten. Wenn in einem solchen Fall Ansprüche des Käufers bei Mangelhaftigkeit der Sache nicht im Vertrag erwähnt sind, entspricht das ihrem Willen, ihm keine Ansprüche zu gewähren. Auch die Frage nach einem Konkurrenzverbot beim Praxentausch oder Verkauf eines Geschäfts kann negativ geregelt sein, indem die Vertragspar32 Eine ähnliche Formulierung benutzt der BGH im Urt. v. 21. 9.1994, BGHZ 127, S. 138, 142. 33 Vgl. auch Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 112f. Ähnlich versteht Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften, S. 401 ff, 409f. den Lückenbegriff. Er fragt danach, ob die gewünschte Rechtsfolge von den Parteien autonom nicht geregelt wurde. In solchen Fällen, in denen Ergänzung möglich aber nicht nötig ist, spricht er von einer Vertragslücke. 34 Gleiches gilt für nichtvorhandene Einschränkungen vertraglicher Bestimmungen.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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teien es bewußt nicht vorgesehen haben. Es kommt also entscheidend darauf an, ob das Nichtbestehen einer bestimmten Regelung gewollt war (oder sich bei normativer Auslegung ergibt), oder ob der Punkt tatsächlich nicht geregelt wurde. Diese Frage ist durch erläuternde Auslegung des Vertrages zu klären. Erst wenn man auf diesem Wege festgestellt hat, daß eine vertragliche Regelung nicht besteht, stellt sich das Problem der Ergänzung des Vertrages. Handelt es sich um eine bewußte Auslassung der Regelung, so ist diese Parteientscheidung im Rahmen der §§ 134, 138 BGB zu respektieren. Eine Korrektur der vertraglichen Regelung kommt darüber hinaus nicht in Betracht, da es Sache der Parteien ist, ihr Rechtsverhältnis zu gestalten. Ob der Vertrag den Vorstellungen des Auslegenden entspricht, ist irrelevant. Da in dieser Schrift sowohl bei der ergänzenden Vertragsauslegung als auch bei der Rechtsfortbildung von einer "Lücke" gesprochen wird, ist es notwendig, auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Gesetzes- und Vertragslücken hinzuweisen. Den Begriff der Gesetzeslücke wurde so gebildet, daß es sich um eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers handelt. Daraus ergab sich, daß die Art und Weise der Ausfüllung der Lücke bereits vorgezeichnet ist: Die Regelungsabsicht, aus der sich die Lücke ergibt, bestimmt auch ihre Ausfüllung. Anders ist es bei Verträgen. Eine Vertragslücke ist immer dann anzunehmen, wenn eine Rechtsfrage bei der Durchführung eines Vertrages nicht durch Auslegung desselben gelöst werden kann. Daraus allein ergibt sich noch nichts dafür, wie die Lücke auszufüllen ist. Möglicherweise ist ein weitergehender Regelungsplan der Parteien erkennbar, der zur Lückenfüllung herangezogen werden kann. In diesem Fall ähneln sich Rechtsfortbildung und ergänzende Vertragsauslegung. Denkbar ist aber auch, daß sich aus dem Regelungsplan der Parteien nichts zu der regelungsbedürftigen Frage ergibt, dann muß man die Lücke mit Hilfe anderer Kriterien füllen, eine Parallele zur Gesetzeslücke besteht in diesen Fällen nicht. 2. Arten von Lücken

Eine Vertragslücke kann unbewußt entstanden oder von den Parteien bewußt hingenommen worden sein35 . Eine bewußte Lücke besteht, wenn die Parteien die Regelungsbedürftigkeit eines Punktes erkannt, eine Regelung aber hinausgeschoben haben; z. B. weil sie sich zunächst nicht einigen konnten. In diesem Fall stellt sich zuerst die Frage, ob der Vertrag überhaupt abgeschlossen wurde. Nach der Auslegungsregel des § 154 BGB ist 35 Vgl. zum Anwendungsbereich der ergänzenden Auslegung Flume, AT 11, S.323.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

das im Zweifel nicht der Fall. § 154 BGB ist aber nicht anwendbar, wenn sich die Parteien trotz der Unvollständigkeit erkennbar binden wollten 36. Hat man einen solchen Bindungswillen der Parteien ermittelt, so muß man den unfertigen Vertrag vervollständigen. Unbewußte Nichtregelungen können darauf beruhen, daß die Parteien eine Frage zwar gesehen, ihre Regelung dann aber vergessen haben, daß die Parteien das Problem von vornherein übersehen haben oder daß sie eine Regelung getroffen haben, die aufgrund eines Gesetzesverstoßes nichtig ist (Fälle der anfänglichen unbewußten Lücke)37. Sie können auch dadurch auftreten, daß sich tatsächliche oder rechtliche Veränderungen auf die Vertragsbeziehung auswirken (nachträgliche unbewußte Lücken). In diesen zuletzt genannten Fällen war der Vertrag zunächst - in Hinblick auf die zu ergänzende Regelung - vollständig. Für einen Teil der Fälle der unbewußten Nichtregelungen gilt § 155 BGB: Sollte in einem Punkt eine Regelung getroffen werden, und ist das dann später (versehentlich) nicht geschehen, so gilt das Vereinbarte, wenn anzunehmen ist, daß der Vertrag auch ohne eine Regelung dieser Frage geschlossen worden wäre. Hier muß man also ebenso wie bei § 154 BGB durch Auslegung ermitteln, ob der Vertrag geschlossen ist und der Ergänzung bedarf, oder ob schon der Vertragsschluß zu verneinen ist, wodurch die Frage nach der Ergänzung entfällt. § 155 BGB erlaßt aber nicht alle Fälle der unbewußten Nichtregelung, denn er setzt voraus, daß über den Punkt eine Regelung getroffen werden sollte. Haben die Parteien die Frage aber vollständig übersehen, haben sie eine gesetzwidrige Regelung getroffen oder ist die Lücke erst nachträglich entstanden, stellt sich ebenfalls die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Vertrag zu ergänzen ist.

IV. Der Maßstab für die Lückenfüllung Im folgenden sollen zwei Fälle unterschieden werden. Wie bereits ausgeführt, kann es ungeregelte Fragen (Lücken) geben, zu deren Bewertung durch die Parteien sich Anhaltspunkte aus ihrem Regelungsplan ergeben. An solchen Anhaltspunkten kann es in anderen Fällen fehlen. Daraus ergeben sich Unterschiede für den Maßstab der Lückenfüllung.

36 37

Palandt-Heinrichs, § 154 BOB, Rdnr. 2. Vgl. zum zuletzt genannten Fall BOH, Urt. v. 1.2.1984, BOHZ 90, S. 69, 74.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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1. Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet

Entsprechend der Situation bei Gesetzen kann auch bei Verträgen die Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne38 Aufschluß darüber geben, wie die Parteien den ungeregelten Fall entschieden hätten, wenn er bei Vertragsschluß geregelt worden wäre. In all diesen Fällen kann man zur Lückenfüllung auf den tatsächlichen Willen der Parteien zurückgreifen. Solche Fälle sollen hier anhand von Beispielen für die eben ermittelten Lückenarten gezeigt werden. Als Beispiel für eine anfängliche unbewußte Lücke, für deren Ausfüllung die Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne Anhaltspunkte liefert, dient folgender Pachtvertragsfa1l 39 : V verpachtet P ein Grundstück, auf dem P ein Gebäude errichtet. Für den Fall der Kündigung durch V ist eine Vergütung für das Gebäude vorgesehen. Außerdem vereinbaren V und P, daß V bei einer Veräußerung für alle Schäden haftet, die der Erwerber P zu ersetzen hat, weil er die Pflichten nicht erfüllt, die gern. §§ 581 Abs. 2, 571 Abs. 1 BGB auf ihn übergehen. Dadurch soll P davor geschützt werden, daß er seine Ansprüche gegen einen möglicherweise zahlungsunfähigen Erwerber nicht realisieren kann. Diese Absicht geht aus dem Briefwechsel hervor, der zwischen P und V vor Vertrags schluß stattgefunden hat. V veräußert das Grundstück an einen Dritten, der dem P zum nächsten Termin kündigt, ihm aber keine Vergütung für das errichtete Gebäude zahlen will. P will daraufhin V in Anspruch nehmen. Durch Auslegung läßt sich der Anspruch weder nach der herrschenden Meinung noch nach der hier vertretenen Ansicht begründen. Nach herrschender Auffassung ist Grenze der Auslegung der mögliche Wortsinn4o . Weder nach allgemeinem Sprachgebrauch noch nach üblichem juristischen Sprachverständnis ist der Anspruch des P gegen den Dritten ein Schadensersatzanspruch. Im Vertrag ist aber nur von einer Haftung des V für vom Erwerber zu ersetzende Schäden die Rede. Demnach kommt eine Auslegung des Vertrages in dem Sinne, daß V auch für von Anfang an als solche bestehende Geldleistungspflichten des Erwerbers haftet, nicht in Betracht. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt es auf das Verständnis der Parteien an. Ihre Regelungsabsicht (im engeren Sinne) bezog sich aber lediglich auf die Haftung des V für Schadensersatzpflichten des Erwerbers. An ursprüngliche Geldleistungspflichten des Erwerbers haben die Parteien 38 Zum Begriff der Regelungsabsicht im weiteren Sinne siehe oben 1. Teil 2. Kap. D.1. 2. a) aa). 39 Der Fall ist an die anfängliche unbewußte Regelungslücke bei § 571 Abs. 2 BGB angelehnt, vgl. dazu oben 1. Teil 2. Kap. D.I.2.b). 40 Vgl. oben 2. Teil 1. Kap. B.I.3.b)aa).

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

offensichtlich nicht gedacht. Ein vertraglicher Anspruch des P gegen V kann hier also nur im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung begründet werden. Eine Vertragslücke ist gegeben, da für die Abwicklung des Vertrages zwischen V und P eine Regelung erforderlich ist, die nicht durch erläuternde Auslegung aus dem Vertrag abgeleitet werden kann. Anhaltspunkte für die Art und Weise der Ergänzung ergeben sich aus der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne, die sich aus ihrer Korrespondenz ableiten läßt. Danach sollte P generell vor zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Erwerbern geschützt werden. Daß diese Absicht geändert wurde, ist nicht ersichtlich. Vielmehr wurde bei der Regelung des typischen Falles der atypische übersehen und das weitere Regelungsprogramm nicht in eine adäquate Formulierung gebracht. Nach der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne haftet V auch für ursprüngliche Geldleistungspflichten des Erwerbers aus dem Pachtvertrag. Der Regelungsplan der Parteien bedingt auch die Ausfüllung der nachträglichen Regelungslücke, die in folgendem Grunddienstbarkeitsfall durch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse entstanden ist: D und H haben nebeneinanderliegende Grundstücke. H betreibt ein landwirtschaftliches Unternehmen. Um von seinem Grundstück aus einen ansonsten unzugänglichen Acker zu erreichen, möchte er mit dem Traktor das Grundstück des D befahren. D genehmigt ihm die Durchfahrt nicht. Der Großvater des D hatte 1905 zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Grundstücks, dessen Eigentümer H zur Zeit ist, eine Grunddienstbarkeit eintragen lassen. Die Grunddienstbarkeit hat den Inhalt, daß der Eigentümer des dienenden Grundstücks es dulden muß, daß der Eigentümer des herrschenden Grundstücks es mit landwirtschaftlichen Pferdefuhrwerken und Gespannen befährt. Dadurch sollte sichergestellt werden, daß vom herrschenden Grundstück aus der Acker bewirtschaftet werden kann. D meint, daß die Grunddienstbarkeit nicht die Durchfahrt von Traktoren beinhaltet. H trägt dagegen vor, die Verhältnisse hätten sich eben geändert, so daß die Grunddienstbarkeit entsprechend angepaßt werden müsse. Durch erläuternde Auslegung läßt sich die Grunddienstbarkeit nicht im Sinne des H deuten. Nach der herrschenden Meinung steht einer solchen Auslegung die Wortsinngrenze entgegen, da man wohl kaum Traktoren als landwirtschaftliche Pferdefuhrwerke oder Gespanne bezeichnen kann. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt es auf das Verständnis der Parteien an. Ihre Regelungsabsicht (im engeren Sinne) bezog sich aber lediglich auf die Durchfahrt der genannten Gefährte. An zukünftige landwirtschaftliche Fahrzeuge dachten sie nicht. Deshalb kann H nur mit Hilfe einer ergänzenden Auslegung Erfolg haben. Die erforderliche Vertragslücke liegt vor, da eine regelungsbedürftige Frage nicht durch erläuternde Auslegung geklärt werden kann. Auch in diesem Fall ergeben sich Anhaltspunkte für die Art

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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und Weise der Ergänzung aus der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne. Ihr Ziel war es, die landwirtschaftliche Nutzung des Ackers zu ermöglichen. Dazu wurden zu der Zeit, als die Grunddienstbarkeit eingeräumt wurde, nur die genannten Fahrzeuge benutzt. Wäre der Stand der Technik damals schon fortgeschrittener gewesen, hätten die Parteien die entsprechenden neueren Fahrzeuge aufgezählt. Es ging nicht darum, die Durchfahrt ausschließlich für landwirtschaftliche Pferdefuhrwerke und Gespanne zuzulassen. Zweck der Regelung war es vielmehr, sie für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge (und nicht für Gefährte aller Art) zu gestatten. Nach der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne darf H deshalb auch mit Traktoren das Grundstück des D befahren, um zu dem Acker zu gelangen. Bei Lücken, die durch nachträgliche rechtliche Veränderungen entstehen, kann ebenfalls die Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne die Ergänzung des Vertrages vorzeichnen. So z.B. in folgendem Fall: V möchte sein Segelboot für 8.000 DM an K verkaufen. Das Boot muß überholt werden, wodurch Kosten von 1.000 DM entstehen werden. V möchte, daß K diesen Betrag übernimmt. K ist zwar bereit, 8.000 DM für das Boot zu zahlen. Mit der Übernahme der Kosten für die Überholung ist er aber nicht einverstanden, da ihm durch den Kauf noch Gebühren in Höhe von 1.000 DM für die Anmeldung des Bootes im städtischen Segelclub entstehen. V und K einigen sich schließlich darauf, daß sie sich die Kosten für die Überholung und die Anmeldung des Bootes teilen. K soll die Rechnungen begleichen, dafür muß er nur 7.000 DM an V zahlen. Dieser Betrag wird in den schriftlichen Kaufvertrag aufgenommen. Zwischen dem Abschluß des Kaufvertrages und der Anmeldung des Bootes im städtischen Segelclub reduziert die Stadt die Gebühren für die Anmeldung auf 500 DM. V verlangt von K Zahlung von weiteren 250 DM. K verweigert die Zahlung. Nach der herrschenden Meinung, nach der es auf den Wortsinn des Vertrages ankommt, kann V von K lediglich 7.000 DM verlangen. Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man nach der Regelungsabsicht der Parteien im engeren Sinne fragt. Als Kaufpreis sollte nach den vorherigen Verhandlungen ein Betrag in Höhe von 7.000 DM festgelegt werden. Auch in diesem Fall führt eine erläuternde Auslegung also nicht zu dem vom Anspruchsteller verfolgten Ziel. V kann aber aufgrund einer ergänzenden Vertragsauslegung von K 250 DM verlangen. Die erforderliche Vertragslücke ist hier durch eine nachträgliche rechtliche Veränderung (die Reduzierung der Anmeldegebühren) entstanden. Aus den Verhandlungen ergibt sich, daß V und K sich die zusätzlichen Kosten teilen wollten. In den Vertrag wurde aber der Kaufpreis nur als fester DM-Betrag aufgenommen. Daß die Anmeldegebühr gesenkt werden könnte, so daß der Kaufpreis sich ent-

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

sprechend ändern müßte, haben die Parteien nicht bedacht. In diesem Fall hätten sie aufgrund ihrer Regelungsabsicht im weiteren Sinne, die Kosten zu teilen, den Kaufpreis anders festgesetzt. Teilt man die tatsächlich entstandenen Kosten durch zwei, so ergibt sich, daß V und K je 750 DM zahlen müssen, V hat aber für seinen Anteil an den Kosten 1.000 DM auf den Kaufpreis nachgelassen, er kann deshalb weitere 250 DM von K verlangen. Auch bei Lücken, die durch Gesetzesverstöße entstehen, kann die Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne zur Lückenfüllung herangezogen werden. Das kommt allerdings nur in Betracht, wenn nicht auch die hinter der Regelung stehende Regelungsabsicht dem Gesetz widerspricht. Dann muß nicht nur die einzelne Vertragsklausel sondern auch der Regelungsplan der Parteien korrigiert werden. Haben die Parteien eine Regelung treffen wollen, dann aber vergessen, sie in den Vertrag aufzunehmen, so können sich daraus ebenfalls Hinweise für die Ergänzung des Vertrages ergeben. So z. B. in folgendem Bäckereitauschfall: Bund K sind Bäcker in benachbarten Dörfern. Aus familiären Gründen wollen sie in das jeweils andere Dorf ziehen. Sie vereinbaren, ihre Bäckereien zu tauschen. Während der Verhandlungen kommt das Gespräch auf eine mögliche Rückkehr eine der beiden Parteien. Bund K sind sich einig, daß eine solche Rückkehr innerhalb der ersten drei Jahre das Geschäft des anderen ruinieren würde und nehmen sich vor, ein entsprechendes Rückkehrverbot in den Vertrag aufzunehmen. Unter den vielen notwendigen Vorbereitungen wird diese Klausel jedoch vergessen. Nachdem B und K ein Jahr in ihren neuen Bäckereien tätig waren, kehrt B in sein Dorf zurück und eröffnet wieder eine Bäckerei. Alle Dorfbewohner kehren zu ihrem alten Bäcker zurück. K meint, man habe doch ein Rückkehrverbot in den Vertrag aufnehmen wollen. B beruft sich darauf, daß eine solche Klausel nicht im Vertrag steht. Durch erläuternde Auslegung des Vertrages kann der Anspruchsteller wie in den vorangegangenen Fällen sein Ziel nicht erreichen. Eine Vertragslücke, die durch ergänzende Auslegung gefüllt werden kann, ist hier dadurch entstanden, daß die Parteien die Aufnahme einer erforderlichen und bereits ausgehandelten Regelung in den Vertrag vergessen haben. Hier kommt es im wesentlichen auf Beweisfragen an. Wenn K beweisen kann, daß die Regelung in seinem Sinne geplant war und tatsächlich nur vergessen wurde, kann der Vertrag entsprechend ergänzt werden. Dabei muß er aber nachweisen, daß die Klausel nicht etwa wieder fallengelassen wurde, weil B Einwände erhoben hat, gegen die K sich nicht durchsetzen konnte. In diesem Fall wäre durch die Auslassung die Frage des Rückkehrverbotes im Vertrag in dem Sinne geregelt, daß es nicht besteht.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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2. Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien keine Anhaltspunkte für die Lückenjüllung bietet

In den soeben behandelten Fällen konnte man aus der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne den Maßstab für die Lückenfüllung gewinnen. Möglicherweise ist der Regelungsplan der Parteien im weiteren Sinne aber nicht erkennbar oder zu der ungeregelten Frage nicht aufschlußreich. Dann bekommt die ergänzende Vertragsauslegung ein anderes Gesicht. Während man im zuvor erwähnten Fall tatsächlich auf den Willen der Parteien zurückgreift, kann eine Ergänzung in diesen Fällen nur nach dem in Rechtsprechung und Literatur genannten normativen Maßstab erfolgen. Mangels eines feststellbaren Partei willens geht es nicht darum, diesen vollständig zur Geltung zu bringen, sondern um die möglichst sinnvolle Ergänzung einer fehlenden Regelung. Die Vertragslücke soll zwar bei der ergänzenden Vertragsauslegung nach dem hypothetischen Parteiwillen ausgefüllt werden. Dieser Wille soll sich aber danach richten, was die Parteien nach Treu und Glauben vereinbart hätten. Es gilt also ein normativer Maßstab41 .

V. Ergänzende Vertragsauslegung oder Anwendung dispositiven Rechts 1. Diskussion der Lösung in der Literatur

Schon bei der Frage nach dem Lückenbegriff wurde die Möglichkeit angesprochen, offene Fragen in der Vertragsbeziehung mit Hilfe dispositiven Rechts zu klären. Auch wenn die Unvollständigkeit allein am Regelungsumfang des ausgelegten Vertrages gemessen werden soll, stellt sich bei der Lückenjüllung die Frage, ob die fehlende Regelung nicht immer dem dispositiven Recht zu entnehmen ist, für eine darüber hinausgehende Vertragsergänzung also gar kein Raum besteht. Allerdings ist es auch möglich, daß die Frage im dispositiven Recht nicht geregelt ist. Dann kommt möglicherweise eine Rechtsfortbildung in Betracht, unter Umständen hilft aber allein eine ergänzende Vertragsauslegung, wenn das Rechtsgeschäft nicht scheitern soll. In der Literatur wird die Frage nach dem Verhältnis von dispositivem Recht und ergänzender Auslegung so entschieden, daß dispositives Recht anzuwenden ist, solange der ergänzungsbedürftige Vertrag dem gesetzlich geregelten Normaltypus entspricht42 . Damit ist die Möglichkeit ergänzender Vertragsauslegung bereits erheblich eingeschränkt, sie kommt nur bei atypi41

So ausdrücklich Flume, AT H, S. 322; Larenz, BGB AT, S. 541 f.

13 Kamanabrou

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

schen Verträgen in Betracht, und wenn bei einem typischen Vertrag die Umstände gerade dieser Vertragsbeziehung gegen eine Anwendung der üblichen dispositiven Regelungen sprechen. Sandrock weist indes darauf hin, daß bei atypischen Verträgen möglicherweise dispositives Richterrecht zur Verfügung steht oder herausgebildet werden muß 43 . Er will die ergänzende Vertragsauslegung unabhängig vom Vertragstyp dann zulassen, wenn der Tatbestand besondere individuelle Züge aufweist oder die rechtsgeschäftliche Regelung atypisch ist44 . Damit schränkt er aber nur die ergänzende Vertragsauslegung bei atypischen Verträgen ein, ansonsten geht es auch ihm um die Besonderheiten des jeweiligen Vertragsverhältnisses. Allerdings werden in der Literatur Fallgestaltungen in diese Ausnahmekategorien eingeordnet, die nach der hier vertretenen Ansicht den üblichen dispositiven Vorschriften unterfallen. So bringt Larenz 45 das Beispiel, daß bei einem Kaufvertrag der Verkäufer zwar nicht Hersteller der Ware, aber immerhin Fachmann ist, so daß er zur Reparatur in der Lage ist. Wenn der Verkäufer den Käufer auf seine Fähigkeiten hinweist und angibt, die Ware selbst geprüft zu haben, kann sich nach Larenz aus diesen Umständen ergeben, daß ein Nachbesserungsrecht des Käufers im Interesse beider Parteien liegt und dem Sinn des Vertrages entspricht. Die ergänzende Auslegung des Vertrages, die zu einem solchen Anspruch führt, gehe der Anwendung der dispositiven Regelungen, nach denen ein solcher Anspruch nicht besteht, dann vor46 . Gegen dieses Beispiel lassen sich gleich mehrere Einwände erheben. Erstens geht Larenz zu Unrecht davon aus, daß der Gesetzgeber ein Nachbesserungsrecht des Käufers deshalb nicht in das BGB aufgenommen hat, weil der Händler typischerweise nicht auch Hersteller "und daher zu einer sachgemäßen Ausbesserung nicht in der Lage ist,,47. Larenz gibt für diese Motivation des Gesetzgebers keinen Beleg an. Aus den Protokollen ergibt sich, daß ein Vorschlag für ein Nachbesserungsrecht des Verkäufers aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit abgelehnt wurde48 . Ein Nachbesserungsrecht des Käufers wurde überhaupt nicht diskutiert. Ob es aus 42 Flume, AT 11, S. 325; Larenz, BGB AT, S. 547f.; ders., NJW 1963, S. 737, 740; MK-Mayer-Maly, § 157 BGB, Rdnr. 37f.; Medicus, BGB AT, Rdnr. 344; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 113; Staudinger-Dilcher. §§ l33, 157 BGB, Rdnr. 39. 43 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 53. 44 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 53, 63, 72f., 77, 85; dagegen sieht Mangold, NJW 1962, S. 1597, 1600 die ergänzende Auslegung stets als Problem der Ergänzung des Gesetzes. 45 Larenz, BGB AT, S. 548. 46 Larenz, BGB AT, S. 548. 47 Larenz NJW 1963, S. 737, 740; siehe auch Larenz BGB AT, S. 548. 48 Protokolle I, S. 698.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Gründen des Händlerschutzes nicht aufgenommen wurde, oder weil man kein entsprechendes Interesse des Käufers sah, kann man den Materialien nicht entnehmen. Man kann also bestenfalls sagen, daß sie nicht gegen diese Motivation sprechen. Zweitens liegt ein Nachbesserungsrecht eher im Interesse des Verkäufers, dem möglicherweise daran gelegen ist, lieber Arbeit aufzuwenden, als eine Ersatzsache beschaffen zu müssen. Für den Käufer ist eine Nachbesserung nur interessant, wenn eine Ersatzsache nicht beschafft werden kann, oder die Beschaffung ihm zu lange dauert. In diesem Fall bleibt ihm aber immer noch die Möglichkeit der Minderung. Da häufig die Minderung nach den Reparaturkosten vorgenommen werden kann 49 , kommt der Käufer so in der Regel zu einer mangelfreien Sache zu dem von ihm akzeptierten Kaufpreis. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, daß es Fallgestaltungen gibt, in denen ein Nachbesserungsanspruch dem Käufer am meisten zusagt. Drittens ist der Sachverhalt so vage beschrieben, daß man wohl kaum verneinen kann, daß in einem näher zu beschreibenden Einzelfall ein solcher Nachbesserungsanspruch interessengerecht sein kann. Es sind aber ebenso viele Fälle dieser Art denkbar, bei denen die besonderen Fähigkeiten des Verkäufers keinen Unterschied begründen. Man kann Larenz' Beispiel z. B. dahin ausfüllen, daß ein Fernsehmechaniker in seinem Laden für Rundfunk- und Fernsehgeräte mit angeschlossenem Reparaturbetrieb Fernseher verkauft. Weist er dabei auf seine Qualifikation hin und erklärt, das Gerät selbst geprüft zu haben, so kann das mit Blick auf eine Zusicherung oder Garantiezusage relevant werden. Hinsichtlich der Auswahl der Rechtsfolgen ergibt sich kein Unterschied zum Kauf eines Fernsehers in einem Kaufhaus, in dem man ebenfalls Geräte zur Reparatur abgeben kann. Auch Sandrock bringt Beispiele, bei denen die Atypizität zumindest fraglich ist. In einigen von Sandrock gebildeten Fällen fehlt es schon an der Regelungslücke. So z. B. in folgendem Fall 50 : V verpachtete sein Landgut an P. Der Pachtzins sollte durch die Lieferung von Roggen bezahlt werden. Der auf dem Gut angebaute Roggen war jahrzehntelang mittlerer Art und Güte. Als die Qualität in einem Jahr unterdurchschnittlich ausfiel, verlangte V gern. § 243 Abs. 1 BGB Roggen mittlerer Art und Güte, während P nur Roggen vom gepachteten Gut liefern wollte. Hier kann der Inhalt der Lieferverpflichtung schon durch erläuternde Vertragsauslegung ermittelt werden. Da auf dem Landgut Roggen angebaut wurde, ist anzunehmen, daß es sich um eine eingeschränkte Gattungsschuld des P handelte, daß er also Roggen mittlerer Art und Güte aus der Ernte des Landgutes zu liefern hatte. 49 BGH, Urt. v. 19.10.1988, WM 1988, S. 1901, 1903; BGH, Urt. v. 26.6.1991, WM 1991, S. 1591, 1593; Erman-Grunewald, § 472 BGB, Rdnr. 5; Palandt-Putzo, § 472 BGB, Rdnr. 8. 50 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 30. 13*

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Ebenso ist es in folgendem Fall 5l : Ein Bauunternehmer bestellt einer Bank, mit der er in Geschäftsverbindung steht, ein Pfand "für alle Forderungen, die der Bank gegen ihn zustehen und in Zukunft zustehen werden". Später streitet man sich darüber, ob sich das Pfand auch auf solche Forderungen erstreckt, die der Bank von Dritten zediert worden sind. Das ist eine Frage der normativen Auslegung. Es ist zu untersuchen, wie solche Klauseln üblicherweise (nach der Verkehrssitte) zu verstehen sind. In anderen Fällen, die Sandrock anführt, fehlt zwar eine vertragliche Regelung, es ist aber nicht ersichtlich, inwiefern die konkrete Vertragsbeziehung atypisch ist. So in folgendem Fall 52 : Eine Werkstätte kauft von einem Herstellerunternehmen eine Präzisionsmaschine. Bei ihrer Inbetriebnahme stellt sich heraus, daß sie die nach dem Kaufvertrag an sie zu stellenden Erwartungen nicht ohne weiteres erfüllt, sondern den speziellen technischen Bedingungen des Käuferbetriebes durch gewisse Umbauten erst noch angepaßt werden muß. Die Käuferin wandelt. Die Verkäuferin bietet darauf unverzüglich Nachbesserung an. Muß sich die Käuferin darauf einlassen? Diese Frage hängt von der Vertragsgestaltung ab. Wenn vertraglich lediglich die Lieferung des Gerätes mit den üblichen Eigenschaften zugesagt wurde, trägt die Käuferin das Risiko, daß sie das Gerät nicht nutzen kann. Gewährleistungsrechte stehen ihr dann überhaupt nicht zu. Da Sandrock von einem Gewährleistungsrecht ausgeht53 , will er den Fall aber wohl so verstanden wissen, daß das Gerät auf die Werkstätte zugeschnitten sein sollte. Dann spricht einiges dafür, daß die Parteien einen Werklieferungsvertrag über eine unvertretbare Sache im Sinne des § 651 Abs. 1 2. Halbs. BGB abgeschlossen haben, so daß ohnehin die Vorschriften des Werkvertragsrechts Anwendung finden, nach denen der Hersteller zunächst einmal die Möglichkeit zur Nachbesserung hat. Sollte der Fall dagegen so liegen, daß es sich um einen Kaufvertrag handelt, und hat das Herstellerunternehmen sich keine Nachbesserungsmöglichkeit ausbedungen, so ist nicht ersichtlich, warum der Käufer nicht wie bei jedem anderen Kaufvertrag ohne weiteres die Wandlung verlangen kann 54 • Die Entscheidung, daß ein Einzelfall nicht dem gesetzlichen Normaltyp des Vertrages unterfällt, scheint also stark von der Ansicht des Betrachters abzuhängen. Auch wenn es sich um einen solchen Sonderfall (z. B. Praxentausch) oder einen atypischen Vertrag handelt (z. B. Leasing), fragt sich, ob die fehlende Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 56. Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 24. 53 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 24. 54 Dagegen steht für Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 31 "mit einiger Sicherheit" fest, daß § 459 Abs. 1 BOB nicht anwendbar ist. 51

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Regelung nicht im Wege der Ergänzung des dispositiven Rechts, also durch Rechtsfortbildung, bereitzustellen ist. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, in solchen Fällen auf § 242 BGB zurückzugreifen. Auch die Konkretisierung dieser Generalklausei könnte der ergänzenden Vertragsauslegung vorgehen.

2. Die eigene Konzeption Wie bereits ausgeführt, können ungeregelte Fragen (Lücken) auftreten, zu deren Bewertung durch die Parteien sich Anhaltspunkte aus ihrem Regelungsplan ergeben. An solchen Anhaltspunkten kann es in anderen Fällen fehlen. In der Literatur wird zwischen diesen Fallgruppen nicht unterschieden. Es hat sich aber gezeigt, daß der Maßstab für die Lückenfüllung jeweils unterschiedlich ist. Die Vermutung liegt nahe, daß die Differenzierung auch für das Verhältnis der ergänzenden Vertragsauslegung zur Anwendung des dispositiven Rechts eine Rolle spielt. Dieses Verhältnis soll deshalb für beide Fälle jeweils gesondert geklärt werden. a) Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet Im ersten Fall wird der Vertrag durch eine ergänzenden Auslegung nach dem tatsächlichen Parteiwillen ergänzt. Dagegen benutzt man bei der Lükkenfüllung durch Anwendung des dispositiven Rechts einen normativen Maßstab. In diesen Fällen spricht der Grundsatz der Privatautonomie dafür, den Parteien keine fremde Regelung aufzuzwingen, wie es durch die Anwendung des dispositiven Rechts geschähe. Auch wenn sich für die eine Partei aus der Ergänzung des Vertrages Härten ergeben, ist es in solchen Fällen doch der hinter dem Vertrag stehende Gedanke, der durchgesetzt wird, so daß dieser Partei kein Unrecht geschieht. Die Anwendung des dispositiven Rechts tritt in solchen Fällen also hinter der Verwirklichung des Parteiwillens zurück. Diese Ansicht entspricht dem Vorgehen in der Rechtsprechung. Nach Ansicht des BGH ist dispositives Recht zur Lückenfüllung nicht anzuwenden, wenn es dem Parteiwillen nicht entspricht55 .

55 BOH, Vrt. v. 19.10.1977, DB 1978, S. 978, 979; vgl. auch BOH, Vrt. v. 1.6.1979, BOHZ 74, S. 370, 373f.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

b) Fälle, in denen der Regelungsplan der Parteien keine Anhaltspunkte für die Lückenfüllung bietet Im zweiten Fall fehlen Hinweise auf den tatsächlichen Parteiwillen, so daß auch die ergänzende Vertrags auslegung nach einem normativen Maßstab erfolgt. Bevor entschieden wird, ob in diesen Fällen die ergänzende Vertragsauslegung oder die Anwendung des dispositiven Rechts den Vorrang haben soll, sollen hier Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Lösungswege aufgezeigt werden. aa) Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Lückenfüllung durch dispositives Recht oder ergänzende Vertragsauslegung

Wenn man eine vorhandene gesetzliche Regelung auf einen lückenhaften Vertrag anwendet, füllt man ihn mit Hilfe allgemeiner gesetzgeberischer Erwägungen aus. Das dispositive Gesetzesrecht ist so gefaßt, daß es auf verschiedenartige Vertragsgestaltungen paßt. Die Vertragslücke wird bei seiner Anwendung nach außerhalb des Vertrages liegenden Maßstäben gefüllt. Seine Besonderheiten und seine spezielle Gewichtung der beiderseitigen Leistungen werden nicht berücksichtigt. Das scheint dafür zu sprechen, eine direkt auf den einzelnen Vertrag zugeschnittene Vervollständigung durch ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen - zumindest dann, wenn der Vertrag gegenüber dem gesetzlichen Normalfall Besonderheiten aufweist. So bestimmt die herrschende Meinung das Verhältnis von dispositivem Recht und ergänzender Vertragsauslegung. Dagegen wurde bereits eingewandt, daß die Grenze zwischen Normalfällen und Sonderfällen kaum verläßlich gezogen werden kann. Vorrang vor der Anwendung dispositiven Rechts hätte die ergänzende Vertragsauslegung dann, wenn durch sie der Wille der Parteien verwirklicht würde. In den Fällen der ergänzenden Vertragsauslegung, die hier besprochen werden, ist das mangels eines feststellbaren Parteiwillens aber nicht der Fall. Besonderheiten können also nur insoweit berücksichtigt werden, als man danach fragt, was redliche Parteien gerade für diesen Vertrag vereinbart hätten 56 . Man kann aber nicht aus dem durch Auslegung ermittelten Vertragsinhalt auf die Ergänzung schließen57 • Selbst wenn aus der Gewichtung der verschiedenen Pflichten eine gewisse Linie erkennbar ist, kann man ohne konkrete Anhaltspunkte nicht sagen, ob sich die Bewertung der Parteien so fortgesetzt hätte, oder ob der Vertrag hier "gekippt" wäre. Mög56 Flume, AT 11, S. 324 will allerdings ermitteln, was die Parteien für diesen Vertragstyp vereinbart hätten. Dagegen Larenz, AT, S. 540; Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 102. 57 Flume, AT 11, S. 324; Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 117.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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licherweise hätten gerade an diesem Punkt die Zugeständnisse einer Partei aufgehört. Wie das Vertragsgleichgewicht unter Berücksichtigung des neuen Punktes tatsächlich ausgesehen hätte, ist nicht festzustellen. Immerhin ist es aber in gewissem Maße möglich, vertragliche Besonderheiten zu berücksichtigen. Dagegen ist die Lückenfüllung bei der Anwendung dispositiven Rechts vom einzelnen Vertrag losgelöst. Die Interessenbewertung für einen bestimmten Vertragstyp ist vom Gesetzgeber vorweggenommen worden. Insoweit unterscheidet sich die Anwendung dispositiven Rechts von der ergänzenden Vertragsauslegung. Gemeinsam ist beiden Arten der Lückenfüllung aber, daß der Vertrag normativ ergänzt wird. Sowohl bei der Anwendung dispositiven Rechts als auch bei der ergänzenden Vertragsauslegung gilt zwischen den Parteien eine Regelung, die sie nicht durch ihren übereinstimmenden Willen selbst gesetzt haben. Ihre Rechtsbeziehung ist insoweit fremdbestimmt. Es fragt sich nun, ob man es in die Hände des Auslegenden legen soll, wann ein Vertrag vom gesetzlich geregelten Grundtyp abweicht und einer vom dispositiven Recht abweichenden Ergänzung bedarf.

bb) Vorrang der Anwendung dispositiven Rechts vor der ergänzenden Vertragsauslegung Die Anwendung der abstrakten gesetzgeberischen Lösung ist vorzuziehen. Es läßt sich wohl kaum sagen, welche Lösung im Einzelfall die gerechtere ist. Wenn nach dem dispositiven Recht die Lösung für den Vertragspartner A günstig ist, wird B versuchen, durch eine ergänzende Auslegung seine Interessen durchzusetzen. Gibt man der ergänzenden Auslegung den Vorrang, so hat man die Verhältnisse nur umgekehrt, nicht verbessert. Deshalb ist die neutrale gesetzgeberische Interessenbewertung der Ergänzung nach dem subjektiven Rechtsempfinden des Auslegenden vorzuziehen. Die Anwendung dispositiven Rechts trägt auch insofern zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei, als es vorab erkennbar in Gesetzen niedergelegt ist. Dagegen ist die jeweilige ergänzende Auslegung für die Parteien nicht vorhersehbar. Zwar nehmen die Parteien bei einer unbewußten Vertragslücke das dispositive Recht nicht tatsächlich zur Kenntnis, da sie ja den regelungs bedürftigen Punkt übersehen oder im Laufe der Verhandlungen vergessen. Es geht hier aber auch nicht um eine tatsächliche Kenntnisnahme, sondern nur um ihre Möglichkeit. Diese Möglichkeit ist beim dispositiven Recht anders als bei der Lösung durch ergänzende Vertragsauslegung gegeben. Daher ist in den Fällen, in denen der Regelungsplan der Parteien nicht ermittelt werden kann oder unergiebig ist, der Anwendung des dispositiven

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Rechts stets der Vorrang vor der ergänzenden Vertragsauslegung zu geben58 . Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß man den Inhalt des dispositiven Rechts zuvor sorgfältig klären muß, möglicherweise ist es auch einer Rechtsfortbildung zu unterziehen. Der so ermittelte Inhalt des dispositiven Rechts ist dann zur Lückenfüllung heranzuziehen. cc) Fälle, in denen dispositives Recht nicht gegeben ist oder nur Generalklauseln existieren

Die Frage nach dem Verhältnis zum dispositiven Recht stellt sich nicht, wenn das dispositive Recht keine Lösung des Problems bereithält. So befaßt sich z. B. Sandrock mit dem Fall, daß zu einer Zeit, als die Feuerbestattung noch nicht zugelassen war, ein Erbbegräbnis von einer Kirchengemeinde gepachtet wurde 59 • Später, nach Einführung der Feuerbestattung, stellte sich dann die Frage, ob der Pächter in der Grabstelle auch Urnen beisetzen darf. In einem weiteren Beispielsfall hat ein Konzessionär des städtischen Wasserwerks sich verpflichtet, kostenlos Wasser für die Feuerwehr zur Verfügung zu stellen6o . Nach Einführung der Dampfspritze, die wesentlich mehr Wasser verbraucht als die bis dahin benutzten Handspritzen, will der Konzessionär das Wasser nicht mehr kostenlos liefern. In beiden Fällen kommt man durch erläuternde Auslegung nicht zum Ziel. Ein übereinstimmendes Parteiverständnis besteht nicht. Es konnte auch gar nicht bestehen, weil die Frage zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht existierte. Zu einer Zeit, als die Feuerbestattung nicht zugelassen war und Dampfspritzen noch nicht bekannt waren, lagen entsprechende Regelungen außerhalb des Vorstellungskreises der Vertragsparteien. Eine normative Auslegung des Vertrages kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil man nach Treu und Glauben unter der Berücksichtigung der Verkehrssitte weder die eine noch die andere Lösung als miterklärt und damit als vertraglich vereinbart ansehen kann. In beiden Fällen kommt man auch mit Hilfe des dispositiven Rechts nicht weiter. Man könnte bestenfalls auf § 242 BGB zurückgreifen. Es fragt sich, ob die Anwendung des § 242 BGB zu anderen Ergebnissen führen würde als die ergänzende Vertragsauslegung. Bei der Anwendung des § 242 BGB kommt es darauf an, was die Parteien nach Treu und Glauben vereinbart hätten, wenn sie die regelungsbedürftige Situation berücksichtigt 58 Im Ergebnis ebenso Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 122. Henckel faßt die Voraussetzungen der ergänzenden Vertragsauslegung so zusammen, daß sowohl eine Lücke im Vertrag als auch eine Lücke im Gesetz bestehen muß (AcP 159 (1960), S. 106, 124). 59 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 56, 72, 98. 60 Sandrock, Ergänzende Vertragsauslegung, S. 56, 72 f., 98 f.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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hätten. Die Lückenfüllung erfolgt also nach einem nonnativen Maßstab. Man fügt das hinzu, worauf die Parteien sich redlicherweise unter Berücksichtigung ihrer beiderseitigen Interessen verständigt hätten. Bei der ergänzenden Vertragsauslegung soll die Vertragslücke zwar nach dem hypothetischen Partei willen ausgefüllt werden. Das klingt zunächst nach einem subjektiven Maßstab. Dieser Wille soll sich aber danach richten, was die Parteien nach Treu und Glauben vereinbart hätten, wenn sie die regelungsbedürftige Situation berücksichtigt hätten. Man benutzt also dieselbe Fonnel wie bei der Anwendung des § 242 BGB. Es macht also keinen Unterschied, ob man sich für die Lückenfüllung auf eine ergänzende Vertragsauslegung stützt oder auf § 242 BGB 61. So würde man beispielsweise im Erbbegräbnisfall auf Seiten des Pächters nach seinem Interesse an einer Urnenbestattung fragen, auf Seiten der Kirche nach den Gründen für eine Ablehnung der Bestattung von Urnen. Man stieße dabei darauf, daß die Feuerbestattung kirchenrechtlich noch bis zur Mitte dieses Jahrhunderts untersagt war und auch im heutigen cic in Can. 1176 § 3 nur geduldet wird 62 . Berücksichtigt man dann, daß es sich nicht um eine beliebige Grabstätte handelt, sondern um eine kirchliche, so ist es der Gemeinde nicht zuzumuten, daß sie auf ihrem Friedhof Begräbnisse entgegen ihren kirchlichen Regeln dulden muß. Das Interesse des Pächters gerade an einer Feuerbestattung ist demgegenüber nachrangig. Dieser besondere Hintergrund des Verpächters ist sowohl bei der Anwendung des § 242 BGB als auch bei einer ergänzenden Vertragsauslegung nach § 157 BGB zu berücksichtigen. Man kommt nach beiden Vorschriften zum selben Ergebnis. So ist es auch im Fall der kostenlosen Wasserlieferung an die Feuerwehr. Sowohl nach § 242 BGB als auch nach § 157 BGB (ergänzende Auslegung) muß man beachten, daß der Konzessionär sich unter den neuen Bedingungen nicht ohne weiters zur kostenlosen Lieferung von Wasser bereiterklärt hätte. Andererseits kann man aber auch nicht davon ausgehen, daß die Feuerwehr ihr Wasser dann wie jeder andere Kunde hätte bezahlen müssen. Unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen liegt es nahe, einen gegenüber dem Nonnalpreis geminderten Wasserpreis zugrundezulegen. Auch in diesem Fall ergibt sich kein Unterschied bei der Anwendung des § 242 BGB oder des § 157 BGB. Der Maßstab für die Lückenfüllung ist bei beiden Nonnen derselbe. Allerdings könnte man in den Fällen, in denen kein dispositives Recht besteht, an eine Fortbildung des dispositiven Rechts denken. Sandrock will diesem Vorgehen in bestimmten Fallgruppen den Vorrang vor der ergänzen61

62

Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 12lf. Vgl. auch Can. 1184 § 1.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

den Auslegung geben63 . Eine Rechtsfortbildung kommt nach der hier vertretenen Ansicht nur nach den im ersten Teil beschriebenen Grundsätzen in Betracht. Wenn eine solche Rechtsfortbildung möglich ist, steht die Lückenfüllung mit Hilfe des fortgebildeten Rechts zur ergänzenden Vertragsauslegung ebenso, wie die Lückenfüllung mit Hilfe des durch Auslegung ermittelten dispositiven Rechts. VI. Ergänzende Vertragsauslegung und Wegfall der Geschäftsgrundlage Um das Verhältnis der Lückenfüllung mit Hilfe von Generalklauseln zur Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung zu klären, wurde neben dem Erbbegräbnisfall der Wasserlieferungsfall von Sandrock betrachtet. Zumindest in letzterem Fall könnte man für die Lösung auch an die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage denken. Die Berechtigung und der Anwendungsbereich dieses Rechtsinstituts sind stark umstritten. Zu diesem Streit soll hier nicht näher Stellung genommen werden. Es besteht ein breiter Konsens darüber, daß ein Vertrag anzupassen oder notfalls aufzulösen ist, wenn die Geschäftsgrundlage eines Vertrages fehlt oder wegfällt64 • Als Geschäftsgrundlage werden dabei Umstände angesehen, die mindestens von einer Vertrags partei als wesentlich für den Vertragsschluß angesehen wurden, und auf deren Berücksichtigung sich der Vertragspartner redlicherweise hätte einlassen müssen65 . Diese Ansicht wird hier zugrundegelegt, um auf ihrer Basis das Verhältnis von der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage zur Frage der Lückenfüllung - und damit auch zur ergänzenden Vertragsauslegung - zu untersuchen. Larenz hält die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht für ein Instrument der Lückenfüllung66 . Seiner Ansicht nach geht es bei der Lükkenfüllung um die Durchsetzung des Regelungsplans der Parteien. Dazu soll Sandrock. Ergänzende Vertragsauslegung, S. 48 ff., 69. Brox. Schuldrecht AT, Rdnr. 84; Ennan-Wemer, § 242 BGB, Rdnr. 179; Hübner, BGB AT, Rdnr. 1115ff.; Larenz. Schuldrecht AT I, S. 303f.; Medicus. Bürgerliches Recht, Rdnr. 168ff.; Nicklisch. BB 1980, S. 949, 950. 65 Brox. Schuldrecht AT, Rdnr. 84; Fikentscher, Schuldrecht, Rdnr. 175; Hübner, BGB AT, Rdnr. 1112; Medicus. Bürgerliches Recht, Rdnr. 165a; Nicklisch. BB 1980, S. 949, 950. 66 Larenz. BGB AT, S. 545; im Ergebnis ebenso Haarmann. Wegfall der Geschäftsgrundlage, S. 30f., für den der Unterschied darin besteht, daß man beim Wegfall der Geschäftsgrundlage weiter geht als bei der ergänzenden Vertragsauslegung, weil man beim Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht an den Wortlaut als unüberwindliche Grenze gebunden ist. Die Auffassung, daß der Wortlaut die Auslegung begrenzt, wurde bereits abgelehnt (siehe oben 2. Teil 1. Kap. B.I.3.b)aa». Die Rechtsprechung läßt nicht erkennen, ob sie das Rechtsinstitut des Wegfalls der 63

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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die ergänzende Vertragsauslegung dienen. Beim Fehlen oder Fortfall der Geschäftsgrundlage soll es dagegen nicht um die Ausfüllung solcher Lücken gehen, sondern um die Korrektur des Regelungsplans der Parteien67 • Die Abgrenzung besteht für Larenz also darin, daß die ergänzende Vertragsauslegung sich im Rahmen des Regelungsplans der Parteien hält, die Anwendung der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage dagegen nicht. Als Beispiel führt Larenz zwei Fälle des BGH an, in denen es um Wertsicherungsklauseln ging. Im ersten Fall hatten die Parteien bei der Bestellung eines Erbbaurechts vereinbart, daß der Besteller jährlich statt eines Geldbetrages eine bestimmte Menge Roggen als Erbbauzins erhalten sollte. Damit Wollte sich der Besteller vor der Geldentwertung absichern. Da der Roggenpreis aber nicht den allgemeinen Preissteigerungen folgte, wurde dieser Zweck verfehlt. Der BGH gewährte dem Besteller des Erbbaurechts im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung einen erhöhten Erbbauzins. Larenz stimmt dieser Lösung zu, weil die Vereinbarung einer Wertsicherung im Regelungsplan der Parteien lag. Im zweiten Fall verlangte ebenfalls der Besteller eines Erbbaurechts eine Erhöhung des Erbbauzinses. Die Parteien hatten aber anders als im ersten Fall überhaupt keine Wertsicherungsklausel vorgesehen. Da die Lebenshaltungskosten im fraglichen Zeitraum um über 200 % angestiegen waren, gab der BGH dem Antrag des Klägers auf Erhöhung des Erbbauzinses nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage statt. Larenz stimmt dieser Entscheidung zu. Eine ergänzende Vertragsauslegung sei nicht möglich, weil die Parteien überhaupt keine Regelung über die Anpassung des Erbbauzinses getroffen hatten. Diese Unterscheidung wäre zutreffend, wenn eine Vertragslücke nur im Falle der mißglückten Umsetzung des Regelungsplanes der Parteien bestünde. Hier wurde der Lückenbegriff aber anders gebildet. Eine Vertragslücke liegt vor, wenn eine regelungsbedürftige Situation eintritt, die von dem durch Auslegung ermittelten Vertragsinhalt nicht erfaßt wird 68 . Im übrigen führt Larenz seine Unterscheidung selbst nicht konsequent durch. Das zeigt sich, wenn man seine Argumentation zum zweiten Wertsicherungsklausel-Fall auf die Fälle des Arztpraxentauschs überträgt. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob man im Wege ergänzender Vertragsauslegung ein Konkurrenzverbot der Ärzte am ursprünglichen Arbeitsort begründen kann. Eigentlich müßte Larenz in solchen Fällen eine ergänzende Vertragsauslegung ablehnen, da die Parteien ja überhaupt keinen Versuch Geschäftsgrundlage für ein Instrument zur Lückenfüllung hält, sie beschränkt sich darauf, den Vorrang der ergänzenden Auslegung festzustellen (BGH, Urt. v. 1.6.1979, BGHZ 74, S. 370, 373). 67 Larenz, BGB AT, S. 545. 68 Siehe oben 2. Teil 2. Kap. B. Ur. 1.

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2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

gemacht haben, die Konkurrenzfrage zu regeln. Larenz bringt den Fall des Praxentauschs aber als Beispielsfall für die ergänzende Vertragsauslegung69 . Allerdings ist Larenz insoweit zuzustimmen, als von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht die Rede sein kann, wenn sich die Lücke nach der Regelungsabsicht der Parteien im weiteren Sinne füllen läßt. Eine Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage zur ergänzenden Vertragsauslegung ist also nur noch für den Fall erforderlich, daß die Vertragslücke nicht nach dem erkennbaren Partei willen gefüllt werden kann. In den Fällen, in denen man die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage anwendet, handelt sich um Situationen, die die Parteien nicht oder nicht vollständig im Vertrag geregelt haben. Es geht also um Lückenfälle. Wenn man eine Vertragslücke festgestellt hat, fragt sich, ob man es beim bisherigen Inhalt des Vertrages beläßt, oder ob man eine Erweiterung oder Einschränkung hinzufügt. Mit der Bezeichnung "Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage" benennt man Lückenfälle, in denen man eine Ergänzung gegenüber dem Vertragsinhalt letztlich vornehmen will 70 . Man erfaßt damit also eine Gruppe von Lückenfällen, in denen eine Ergänzung nach demselben Grundgedanken gerechtfertigt ist. Eine Rechtsfortbildung von Gesetzen kann auf unterschiedliche Gründe gestützt werden und bedarf dann jeweils einer anderen Rechtfertigung 71 • Ähnlich kann man hier für die Vertragslücken eine Gruppe bilden, für die die Ergänzungsbedürftigkeit gleichförmig begründet werden kann. Daher ist der Auffassung Brox' zu folgen, daß die Fälle des Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage durch ergänzende Vertragsauslegung gelöst werden können72 . Weder handelt es sich um zwei verschiedene Methoden der Lükkenfüllung, noch geht es bei der Geschäftsgrundlage um anderes als Lükkenfälle. Die ergänzende Vertrags auslegung beschreibt die Methode zur Lückenfüllung, der Begriff des Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage bezeichnet eine Fallgruppe, in denen die Ergänzung nach dem gleichen Gedanken erfolgt73. 69 70

Larenz, BGB AT, S. 540f.

Henckel, AcP 159 (1960), S. 106, 116 will dagegen von der Frage, ob eine

Anpassung oder Aufhebung notwendig ist, schon das Bestehen einer Lücke abhängig machen. 71 Siehe oben l. Teil 2. Kap. D. I., III., IV., V. und VII. 72 Brox, Irrtums anfechtung, S. 184f. 73 Nicklisch, BB 1980, S. 949, 952f. hält die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage und die ergänzende Vertragsauslegung für Institute der Lückenfüllung, die man zu einem zusammenfassen könnte. Der Unterschied soll darin bestehen, daß man bei der ergänzenden Vertragsauslegung mehr auf den Vertrag zurückgreift, beim Wegfall der Geschäftsgrundlage mehr normative Gesichtspunkte zur Ergänzung heranzieht.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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VII. Die ergänzende Auslegung einseitiger Rechtsgeschäfte In der Literatur wird die Frage nach dem Gegenstand der ergänzenden Auslegung meist nicht problematisiert. Das Augenmerk richtet sich vor allem auf Verträge, weshalb auch von ergänzender Vertragsauslegung gesprochen wird. Auch hier wurde bisher der Vertrag als Gegenstand der Ergänzung zugrundegelegt. Bei einseitigen Rechtsgeschäften scheint die ergänzende Auslegung selten zum Problem zu werden. Ein Fall wird allerdings häufig besprochen: die ergänzende Auslegung von Testamenten74 . Testamente sind einseitige Rechtsgeschäfte. Rechtsgrundlage für die ergänzende Vertragsauslegung ist § 157 BGB, der nach der hier vertretenen Ansicht allein für Verträge gilt. Es fragt sich also, welche Rechtsgrundlage für die ergänzende Auslegung von Testamenten oder anderen einseitigen Rechtsgeschäften gelten kann. In der Literatur wird oft lapidar festgestellt, daß die ergänzende Auslegung bei allen Rechtsgeschäften vorgenommen werden kann75 • Die Ergänzung ist insoweit unproblematisch, als es sich um die Anwendung dispositiven Rechts handelt. Dessen Anwendung bedarf keiner besonderen Rechtfertigung: es ist kraft gesetzlicher Anordnung dazu da, unvollständige Parteivereinbarungen zu ergänzen. Anders ist es bei einer Erweiterung oder Einschränkung des Vertrages durch ergänzende Auslegung. Hier greift ein Dritter in nicht vorhersehbarer Weise in die Vertragsbeziehung ein. Die Fremdbestimmung für die Parteien ist nicht größer, als wenn die Lücke durch dispositives Gesetzesrecht gefüllt wird. Ebenso wie die Anwendung dispositiven Rechts bedarf die ergänzende Auslegung aber der Legitimation. Die ergänzende Auslegung einseItIger Rechtsgeschäfte kann nicht auf § 133 BGB gestützt werden. Anders als in den Materialien zu § 157 BGB 74 Eine ergänzende Auslegung kann aber auch bei anderen einseitigen Rechtsgeschäften von Interesse sein. So z. B. bei folgendem Fall: A bevollmächtigt den B, für ihn in seinem Namen Bilder zu erwerben. Dafür darf B jährlich 50.000 DM verwenden. Nach einigen Jahren wird die DM durch den Euro ersetzt. B fahrt fort, Bilder für A zu kaufen. Er verwendet dabei den Betrag in Euro, der 50.000 DM entspricht. A hat inzwischen keinen Gefallen mehr an Bildern und will diesen Betrag nicht an den Verkäufer zahlen. Er beruft sich darauf, daß er eine Bevollmächtigung für Käufe mit Euro nicht erteilt habe. Hier handelt es sich bei der Bevollmächtigung um ein einseitiges Rechtsgeschäft, dabei ist eine Situation eingetreten, die A bei Erteilung der Vollmacht nicht bedacht hat. Da sich die Lösung nicht aus dispositivem Recht ergibt, ist eine ergänzende Auslegung der Bevollmächtigung in Betracht zu ziehen. In diesem Fall zeigt sich auch, daß es bei einseitigen Rechtsgeschäften nicht ohne weiteres auf den mutmaßlichen Willen des Erklärenden ankommen kann. Auch das Vertrauen des Bevollmächtigten und der jeweiligen Vertragspartner ist zu berücksichtigen. 75 Brox, JA 1984, S. 549, 552; Erman-Brox, § 133 BGB, Rdnr. 20; Palandt-Heinrichs, § 157 BGB, Rdnr. 2; Soergel-Wolf, § 157 BGB, Rdnr. 115.

206

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

findet sich in den Stellen zu § 133 BGB kein ausdrückliches Bekenntnis zur ergänzenden Auslegung. Bei § 157 BGB wurde die Ergänzung an die Berücksichtigung von Treu und Glauben und die Verkehrs sitte geknüpft. Diesen Anknüpfungspunkt hat man bei § 133 BGB nicht. Zwar ist bei der Auslegung nach § 133 BGB auch der Empfängerhorizont zu beachten, so daß es nicht nur auf die Vorstellungen des Erklärenden ankommt. Es geht aber immer nur um erläuternde Auslegung. Eine darüberhinausgehende Ergänzung ist nicht vorgesehen. Möglicherweise kann man durch Rechtsfortbildung eine Rechtsgrundlage für die ergänzende Auslegung bei einseitigen Rechtsgeschäften finden. § 133 BGB könnte eine Lücke hinsichtlich der ergänzenden Auslegung enthalten, die man durch eine entsprechende Anwendung des § 157 BGB auf einseitige Rechtsgeschäfte füllen könnte. In Betracht kommt eine anfängliche offene Lücke. Eine solche Lücke ist dann gegeben, wenn der Gesetzgeber seine Regelungsabsicht im weiteren Sinn nicht komplett umgesetzt hat. Hier ergibt sich aber nichts dafür, daß der Gesetzgeber für einseitige Rechtsgeschäfte eigentlich die ergänzende Auslegung regeln wollte, diese Regelung dann aber aus irgendwelchen Gründen unterblieben ist. Mangels konkreter Hinweise aus den Materialien kann man nur davon ausgehen, daß die Frage übersehen wurde. Eine Lücke nach dem Regelungsplan des Gesetzgebers ist nicht zu ermitteln. Nach der hier vertretenen Einteilung der Rechtsfortbildungsfälle kommt nur noch eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung in Frage. Der Gesetzgeber des BGB hat die Frage der ergänzenden Auslegung bei einseitigen Rechtsgeschäften nicht bedacht, spätere Gesetzgeber haben keine passende Regelung geschaffen. Als Maßstab dafür, wann die bestehende gesetzliche Regelung unbefriedigend ist und fortgebildet werden sollte, sind die Grundrechte heranzuziehen. Nur Argumente mit Verfassungsrang sind in diesen Fällen stark genug, um die Gesetzesbindung des Richters zu überwinden und ihn als Ersatzgesetzgeber tätig werden zu lassen76 . Deshalb müßte die fehlende Möglichkeit einer ergänzenden Auslegung grundrechtsrelevant sein, um im Wege der Rechtsfortbildung korrigiert werden zu können. Man könnte daran denken, daß ohne die Möglichkeit der ergänzenden Auslegung einseitiger Rechtsgeschäfte der Grundsatz der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt wird. Allerdings ist dabei zu beachten, daß durch die ergänzende Auslegung nicht unbedingt dem Willen der Beteiligten oder auch nur des Erklärenden zur Geltung verholfen wird. Man muß hier zwischen verschiedenen Arten einseitiger Rechtsgeschäfte unterscheiden. 76 Zu den Voraussetzungen der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. VII.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

207

Bereits bei der erläuternden Auslegung hat sich gezeigt, daß es einen entscheidenden Unterschied macht, ob die Erklärung schutzwürdiges Vertrauen hervorruft oder nicht77 . Bis auf den Fall des Testaments ist ein solcher Vertrauenstatbestand auch für einseitige Rechtsgeschäfte zu bejahen. So sind z. B. die Auslobung oder die Bevollmächtigung geeignet, bei den Betroffenen ein rechtserhebliches Verhalten auszulösen. Ihr Vertrauen in den Erklärungssinn ist also beachtlich, so daß eine Ergänzung, die ihre Interessen nicht berücksichtigt, nicht zulässig ist. Man kann sich deshalb bei der Ergänzung solcher einseitiger Rechtsgeschäfte nicht ohne weiteres auf die Privatautonomie des Erklärenden stützen und die Erklärung in seinem Sinne ergänzen. Es geht in diesen Fällen um die Frage eines billigen Interessenausgleichs zwischen den Parteien. Diesem Anliegen ist aber - so wichtig es im Rechtsverkehr sein mag - kein Verfassungsrang zuzuerkennen. Die Bindung der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung an Fälle mit Grundrechtsbezug würde sinnlos, wenn man jeder Frage des einfachen Recht Grundrechtsrelevanz zuerkennen wollte. Das Problem wird dadurch entschärft, daß man ungerechte Ergebnisse über § 242 BGB venneiden kann 78 • Wie bei der ergänzenden Vertragsauslegung festgestellt, kann man die Ergänzung des Vertrages ebensogut auf § 157 BGB wie auf § 242 BGB stützen. Da sich der Gesetzgeber für einseitige Rechtsgeschäfte nicht bewußt gegen eine Ergänzung entschieden hat, steht der Weg über § 242 BGB auch hier offen. Eine Ergänzung ist also nur in dem engen Bereich nicht möglich, in dem allein die ergänzende Auslegung zum Ziel führen würde. Anders ist es beim Testament. Es bezweckt keine Bindung des Testators, es ist nicht darauf gerichtet, daß Dritte sich darauf verlassen können. Deshalb kommt es nicht auf die Verständnismöglichkeit anderer Personen an, sondern auf den Willen des Testators 79. Dementsprechend kann auch die Ergänzung allein nach dem Willen des Testators vorgenommen werden, ohne daß die Interessen Dritter zu berücksichtigen sind. In diesem Fall geht es bei der Frage nach der ergänzenden Auslegung also tatsächlich allein um die Sicherung der Privatautonomie. Die ergänzende Auslegung von Testamenten dient dazu, den Willen des Erblassers durchzusetzen. Allerdings wird Art. 2 Abs. 1 GG hier durch Art. 14 Abs. 1 GG verdrängt, der das Erbrecht gewährleistet. Art. 14 Abs. 1 GG hat ebenso wie andere Grundrechte nicht nur eine Dimension als Abwehrrecht gegen den Staat, es wird hier in seiner Funktion als Einrichtungsgarantie relevant. Der Staat muß Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B.1. 1. d) aa). So läßt sich auch der in Fn. 74 gebildete Fall mit Hilfe des § 242 BGB lösen. Man wird dem Vertretenen hier die Berufung auf den Wortlaut der Bevollmächtigung nach Treu und Glauben versagen, da ihm andernfalls ein dem BGB unbekanntes Reuerecht eingeräumt würde. 79 Flume, AT II, S. 331; Larenz, BGB AT, S. 347f. 77

78

208

2. Teil: Die Interpretation von Rechtsgeschäften

Rechtsfonnen zur Verfügung stellen, um das Vererben zu ennöglichen. Diese Möglichkeiten müssen effektiv ausgestaltet werden. Es geht bei der Testierfreiheit darum, daß der Erblasser vererben kann, an wen er will. Dieser Wille muß möglichst vollständig wirken können. Dazu dient die ergänzende Auslegung, wenn dem Erblasser ein erkennbarer Irrtum unterlaufen ist. Das Fehlen der Möglichkeit einer ergänzenden Auslegung hat in diesem Bereich also Grundrechtsrelevanz. Es kommt weiterhin darauf an, ob das Interesse an der Fortbildung das an der Beachtung der Kompetenzverteilung überwiegt 8o . Es sind hier keine Gründe ersichtlich, die ein Schweigen des Gesetzgebers in dieser Frage rechtfertigen. Insbesondere handelt es sich nicht um eine stark umstrittene Frage, deren Lösung vor allem von der politischen Ansicht abhängig ist, die man zugrundelegt. Eine Regelung der Frage fehlt inzwischen seit fast 100 Jahren. Das Bedürfnis für eine ergänzende Auslegung war auch so groß, daß sie ständig praktiziert wird. Im Ergebnis besteht über die Möglichkeit der ergänzenden Auslegung von Testamenten kein Streit. In der Regel wird ihre Möglichkeit aus verschiedenen gesetzlichen Auslegungsvorschriften abgeleitet, aus denen sich ergeben soll, daß der Wille des Erblassers nach Möglichkeit zu verwirklichen ist81 . Dieser Ansicht ist zwar nicht zu folgen, weil man allein daraus, daß solche Nonnen bestehen, keine weitergehende Regelung ableiten kann. Rechtsfortbildung ist nach der hier vertretenen Ansicht nur in den im ersten Teil dargelegten Grenzen möglich. Diese Lösung zeigt allerdings, daß eine ergänzende Auslegung als notwendig angesehen wird. Danach überwiegt das Fortbildungsinteresse das Interesse an der Wahrung der Kompetenzverteilung. Der Richter darf in diesem Fall als Ersatzgesetzgeber tätig werden und im Wege der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung die ergänzende Auslegung von Testamenten zulassen.

c. Zusammenfassung zur ergänzenden Auslegung Eine ergänzende Auslegung ist nur bei Verträgen und Testamenten zulässig. Bei einseitigen Rechtsgeschäften, die keine Testamente sind, scheidet sie mangels Rechtsgrundlage aus. Nach welchem Maßstab die ergänzende Auslegung vorzunehmen ist, richtet sich danach, ob der Regelungsplan der 80 Zu den Voraussetzungen der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung siehe oben I. Teil 2. Kap. D. VII. 81 MK-Leipold, § 2084 BGB, Rdnr. 38; Soergel-Loritz, § 2084 BGB, Rdnr. 34. Brox, Erbrecht, Rdnr. 199 verweist auf das besondere Bedürfnis der ergänzenden Testamentsauslegung, weil Änderungen nicht möglich sind. Staudinger-Otte, Vorbem. zu §§ 2084 - 2086, Rdnr. 85 stützt die ergänzende Testamentsauslegung auf den Vorrang der privatautonomen Gestaltung vor der Anwendung des dispositiven Rechts.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

209

Parteien im weiteren Sinne Aufschluß auf ihre Bewertung des ungeregelten Falles gibt oder nicht. Kann man die Vertragslücke nach dem Willen der Parteien schließen, so hat diese Art der Lückenfüllung Vorrang vor allen anderen denkbaren Lösungen, weil so der Privatautonomie am besten Rechnung getragen wird. In den anderen Fällen, in denen Vertragslücken nur mit Hilfe eines normativen Maßstabs gefüllt werden können, geht die Anwendung dispositiven Rechts der ergänzenden Auslegung stets vor.

14 Kamanabrou

3. Te i 1

Vergleich der Interpretation von Gesetzen mit der Interpretation von Rechtsgeschäften 1. Kapitel

Die Auslegung im engeren Sinne Mit Auslegung im engeren Sinne ist bei Gesetzen der Bereich der Interpretation gemeint, der nicht Rechtsfortbildung ist. Bei Verträgen handelt es sich um die Interpretation, die nicht ergänzende Vertragsauslegung ist. In den beiden ersten Teilen wurde für die Auslegung im engeren Sinne jeweils der Ausdruck (erläuternde) Auslegung benutzt.

A. Inhaltsfeststellung Sowohl bei der Gesetzesauslegung als auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften kommt es für den Inhalt der Regelung zunächst auf den Willen des Urhebers der Regelung an. Bei Gesetzen ist der Urheber "der Gesetzgeber", der in unterschiedlichen Gestalten auftritt. Bei Rechtsgeschäften kommt es auf den Willen des oder der Erklärenden an. Bei der Gesetzesauslegung wird der gesetzgeberische Wille mit Hilfe der Materialien, der Systematik und Zweckerklärungen im jeweiligen Gesetz ermittelt. Zu den Materialien gehören nur vor der Beschlußfassung über das Gesetz vorliegende Äußerungen. Wenn bei der Gesetzesauslegung der Wille des Gesetzgebers mit diesen Auslegungskriterien nicht ermittelt werden kann, bedeutet das zugleich, daß sein Wille nicht feststellbar ist. Andere Erkenntnismittel stehen nicht zur Verfügung, man muß von der Inhaltsfeststellung zur Inhaltsfestsetzung übergehen. Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften kann eine Willensübereinstimmung auf jede beliebige Art festgestellt werden. Auch hier kommen historische, systematische und teleologische Aspekte zum Zug. Es können aber, anders als bei der Gesetzesauslegung, auch private Aufzeichnungen einer Partei zur Ermittlung ihres Willens herangezogen werden. Nach der gesetzlichen Regelung der Irrtumsfälle werden solche nicht erkennbare Willensinhalte unter Wahrung der Vertrauensinteressen des Erklärungsempfängers

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

211

berücksichtigt. Daneben sind, ebenfalls abweichend vom Vorgehen bei der Gesetzesauslegung, auch nachträgliche Erklärungen der Partei(en) zum Inhalt des Rechtsgeschäfts beachtlich. Wenn z. B. vor Gericht die Erklärungen der Parteien eines Vertrages über dessen Inhalt übereinstimmen, ist dieser Inhalt als gewollt anzunehmen. Eventuell beteiligte Dritte sind dadurch geschützt, daß für sie dieser Inhalt nur dann verbindlich ist, wenn sie ihn ebenfalls angenommen haben, sonst gilt der für sie erkennbare normative Erklärungssinn. Diese Unterschiede bei der Auslegung von Gesetzen einerseits und Rechtsgeschäften andererseits sind in ihrer unterschiedlichen Entstehung und Zwecksetzung begründet. Eine nachträgliche Befragung der Beteiligten scheidet beim Gesetz aufgrund der Art seines Zustandekommens aus. Den Abgeordneten, die das Gesetz verabschieden, werden die Inhaltsvorstellungen der maßgeblichen Ausschüsse und Kommissionen zugerechnet. Eine solche Zurechnung von Inhaltsvorstellungen kommt aber nur in Betracht, wenn demjenigen, dem etwas zugerechnet werden soll, der Inhalt erkennbar ist. Bei Rechtsgeschäften tritt dieses Problem nicht auf, nachträgliche Äußerungen können deshalb berücksichtigt werden. Schwierigkeiten liegen hier auf der Ebene des Beweisrechts, wenn es darum geht, ob die späteren Erklärungen den Willen bei Abschluß des Geschäfts zutreffend wiedergeben. Unveröffentlichte Materialien können bei Gesetzen nicht zur Auslegung herangezogen werden, weil dann nicht gewährleistet wäre, daß die Ermittlung des Gesetzesinhalts allgemein gleich gut möglich ist. Gesetze müssen aus Gründen der Gleichbehandlung mit einem einheitlichen Inhalt gelten. Diesem Zwang sind Rechtsgeschäfte nicht unterworfen. Während Gesetze in der Regel eine Vielzahl von Fällen abstrakt generell erfassen sollen, dienen Rechtsgeschäfte der Ausgestaltung ganz bestimmter Beziehungen. Zwar können auch Gesetze einen bestimmten Personenkreis betreffen oder nur einen einzelnen Sachverhalt regeln. Ebenso können Verträge auf Dauer angelegt sein oder einen unbestimmten Personenkreis betreffen. Auch in diesen Fällen muß aber das Gesetz für die Betroffenen einheitlich gelten, während beim Rechtsgeschäft ein weitergehender Schutz der individuellen Vorstellungen möglich ist. Bei Rechtsgeschäften reicht es, wenn bei der Auslegung Wille und Vertrauen der Beteiligten berücksichtigt werden, während bei Gesetzen der Gleichbehandlungsaspekt hinzukommt. Wenn aber ein unterschiedlicher Inhalt von Rechtsgeschäften zulässig ist, können auch nicht allgemein erkennbare Materialien (wie z. B. Berechnungen einer Partei, die sie nicht offengelegt hat) zur Willensfeststellung herangezogen werden. Vertragspartner und Dritte werden wiederum dadurch geschützt, daß für sie ihr Empfängerhorizont maßgeblich ist, wenn sie den Willen des Erklärenden nicht erkannt haben. 14*

212

3. Teil: Interpretation von Gesetzen und von Rechtsgeschäften

B. Inhaltsfestsetzung Kann der Wille der maßgeblichen Personen oder Gremien nicht ermittelt werden, so findet sowohl bei Gesetzen als auch bei Rechtsgeschäften eine Inhaltsfestsetzung statt. Bei Gesetzen versucht man zu ermitteln, was der Gesetzgeber in seiner Regelungssituation vemünftigerweise gewollt haben kann. Bei Rechtsgeschäften fragt man, was der Erklärende nach den dem Empfänger erkennbaren Umständen mit seiner Erklärung wohl gemeint hat. In beiden Fällen kommt es also auf die konkrete Regelungssituation an. Außerdem ist entscheidend, was dem Adressaten erkennbar ist. Bei Gesetzen ist die Erkennbarkeit schon bei der Inhaltsfeststellung erheblich, bei Verträgen spielt diese Einschränkung nur dann eine Rolle, wenn die Parteien sich nicht verstanden haben. Ein Unterschied besteht allerdings darin, daß die Inhaltsfestsetzung bei Gesetzen nur zu einem einheitliche Ergebnis für alle Adressaten führen darf, während bei Rechtsgeschäften der Empfängerhorizont des jeweils Betroffenen maßgeblich ist, das Rechtsgeschäft also unterschiedliche Inhalte haben kann.

2. Kapitel

Die Auslegung im weiteren Sinne Unter Auslegung im weiteren Sinne ist bei der Gesetzesauslegung die Rechtsfortbildung, bei der Auslegung von Rechtsgeschäften die ergänzende Auslegung zu verstehen. In beiden Fällen geht es darum, die Regelung mit einem anderen als dem durch die Auslegung im engeren Sinne ermittelten Inhalt gelten zu lassen. Ein Unterschied zwischen der Rechtsfortbildung und der ergänzenden Auslegung besteht zunächst darin, daß eine ergänzende Auslegung nicht bei allen Rechtsgeschäften zulässig ist, während eine Rechtsfortbildung bei jedem Gesetz in Betracht kommen kann. Ausgenommen von der ergänzenden Auslegung sind einseitige Rechtsgeschäfte, die nicht letztwillige Verfügungen sind. Die Rechtsfortbildung von Gesetzen ist zulässig, wenn sie auf einen gesetzgeberischen Willen gestützt werden kann, oder wenn aus besonderen Gründen eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung erforderlich ist. Ein Rechtsgeschäft kann ergänzend ausgelegt werden, wenn eine entscheidungsbedürftige Frage in ihm nicht geregelt ist und auch mit Hilfe des dispositiven Gesetzesrechts nicht gelöst werden kann.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

213

Die Rechtsfortbildung einerseits und ergänzende Auslegung andererseits verfolgen unterschiedliche Ziele. Rechtsgeschäfte sollen für einen begrenzten Personenkreis (beim Vertrag normalerweise zwei Personen) eine nach ihrer Einschätzung sinnvolle Ausgestaltung ihrer Rechtsbeziehungen bewirken. Deshalb kommen Ergänzungen auch nur dann in Betracht, wenn eine gerade für die beteiligten Parteien wichtige Frage beim Vertragsschluß übersehen wurde oder sich die Verhältnisse gerade für sie geändert haben. Gesetze dienen in der Regel dazu, eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten mit einer ebenfalls unbestimmten Zahl von Beteiligten zu regeln. Rechtsfortbildungen von Gesetzen zielen dementsprechend darauf ab, die Norm für alle denkbaren Anwendungsfälle zu korrigieren. Sie werden zwar anhand eines Einzelfalles vorgenommen, gelten dann aber auch für andere Fälle. Maßstab für die Rechtsfortbildung ist zum Teil der Wille des Gesetzgebers, der das Gesetz erlassen hat. Zum Teil orientiert man sich am Willen eines späteren Gesetzgebers. Bei der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung greift man auf den Willen der Schöpfer der Verfassung zurück. Bei der ergänzenden Auslegung von Rechtsgeschäften versucht man zunächst, die Vorstellungen der Parteien (des Testators) zu ermitteln. Ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte für die Lückenfüllung, so greift man auf einen normativen Maßstab zurück. Sowohl bei der Rechtsfortbildung als auch bei der ergänzenden Auslegung von Rechtsgeschäften treten also Fälle auf, in denen man die Abweichung vom durch Auslegung ermittelten Inhalt auf den Willen der Personen oder Organe stützt, die die Regelung geschaffen haben. Für beide Auslegungsgegenstände gibt es aber auch Fälle, in denen die Abweichung anders begründet wird.

4. Te i 1

Die Interpretation von Tarifverträgen Nachdem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Auslegung von Gesetzen einerseits und Rechtsgeschäften andererseits herausgearbeitet worden sind, kann das Problem der Auslegung von Tarifverträgen angegangen werden. Der Tarifvertrag nimmt eine eigene Position zwischen Gesetzen und Verträgen ein. In seinem Zustandekommen entspricht er dem Vertrag, da er durch Verhandlungen zweier Parteien ausgehandelt wird, durch deren übereinstimmende Willenserklärungen er zustandekommt. In seiner Wirkungsweise entspricht er aber teilweise dem Gesetz. Tarifverträge bestehen aus einem schuldrechtlichen und einem normativen Teil. Der schuldrechtliche Teil regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (z. B. Durchführungspflicht, Friedenspflicht), der normative Teil wirkt direkt auf die Arbeitsverhältnisse der Tarifgebundenen ein. Gern. §§ 1, 4 TVG enthält der Tarifvertrag insoweit Rechtsnormen, die unmittelbar und zwingend wirken. Die Auslegung des schuldrechtlichen Teils folgt nach herrschender Meinung den Regeln über die Auslegung von Rechtsgeschäften 1. Gröbing will den schuldrechtlichen und den normativen Teil einheitlich nach den Regeln für die Gesetzesauslegung behandeln 2 . Hier soll aus Raumgründen nur die Auslegung des normativen Teils näher untersucht werden. Bei den Tarifnormen ist die Auswahl der Auslegungsmethode stärker umstritten. Die rechtsgeschäftliche Entstehungsweise spricht dafür, die Normen des Tarifvertrages auch wie Vertragsregelungen auszulegen. Die normative Wirkung spricht aber dafür, die Regeln der Gesetzesauslegung anzuwenden. Bei dieser Konfliktlage ist es wenig sinnvoll, einen der beiden Aspekte in den Vordergrund zu schieben und so ohne weitere Begründung die Weichen für die Auslegung zu stellen. Statt dessen sollen hier bei den 1 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (A) II) 2. b.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 157; Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 305; HuecklNipperdey, Arbeitsrecht II11, S. 360; LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 430; Nikisch, Arbeitsrecht II, S. 224; Schaub, NZA 1994, S. 597, 598; differenzierend Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 140ff.; WiedemannlStumpf, § I TVG, Rdnr. 413. 2 Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 237 f.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

215

einzelnen Auslegungsschritten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Gesetzes- und Rechtsgeschäftsauslegung untersucht werden. Auch die Fortbildung von Tarifverträgen hat Anlaß zu Diskussionen gegeben. Sie wird hier im Anschluß an die Auslegung im engeren Sinne erörtert.

1. Kapitel

Die Auslegung im engeren Sinne A. Die Auslegung von Tarifverträgen nach der Rechtsprechung des BAG I. Das Auslegungsziel nach der Rechtsprechung des BAG Auch bei der Auslegung von Tarifverträgen besteht Streit darüber, ob die objektive oder die subjektive Auslegungstheorie zugrundezulegen ist3 . Das BAG hat in den zahlreichen Urteilen, in denen es sich zur Tarifvertragsauslegung geäußert hat, zum Auslegungsziel nicht klar Stellung bezogen. Zwar findet sich gelegentlich die Aussage, daß es maßgeblich auf den Willen der Tarifvertragsparteien ankommt4 . Diese Feststellung wird aber stets dadurch relativiert, daß dieser Wille nur zu berücksichtigen sei, soweit er im Tarifvertrag erkennbar Ausdruck gefunden hat5 . In jüngeren Urteilen findet sich die vorsichtigere Formulierung, daß der Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen ist, soweit er in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat6 . Häufig heißt es sogar, daß der Wille der Tarifvertragsparteien nur zu berücksichtigen ist, soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig 3 Die Vertreter der verschiedenen Ansichten in der Literatur werden unten in Fn. 83 genannt. 4 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 7.2.1979, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 20.2.1982, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 5 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 7.2.1979, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 20.2.1982, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 6 BAG, Urt. v. 5.1.1980, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 25.11.1987, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Auslösung; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 23.9.1992; AP Nr. 8 zu § 1 TVG Großhandel; BAG, 24.11.1992, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108

216

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

ist7 • Außerdem wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den Regeln über die Auslegung von Gesetzen folgt 8 . Man kann der Rechtsprechung entgegen Liedmeier zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 20.10.1993, AP Nr. 167 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 10.11.1993, AP Nr. 169 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 115 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1. 1994, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 6 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 7 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 8 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 23.2.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Kirchen; BAG, Urt. v. 9.3. 1994, AP Nr. 32 zu § 23 a BAT; BAG, Urt. v. 9.3. 1994, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Graphisches Gewerbe; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 108 zu § 613a BGB; BAG, Urt. v. 4.5.1994, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Elektrohandwerk; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 4 zu § 27 BAT; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen; BAG, Urt. v. 17.8.1994, AP Nr. 49 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; in BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung, BAG, Urt. v. 24.2.1994, AP Nr. 15 zu § 62 BAT und BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 179 zu §§ 22, 23 BAT 1975 heißt es, daß der Wille der Tarifvertragsparteien zur Auslegung des Wortlauts nur in Betracht kommt, wenn er in der Tarifnorm einen erkennbaren Ausdruck gefunden hat. 7 BAG, Urt. v. 10.3.1993, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Brotindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: Versicherungsgewerbe; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bergbau; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge Verkehrsgewerbe; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 9.3.1994, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Graphisches Gewerbe; BAG, Urt. v. 4.5.1994, AP Nr. 1. zu § 1 TVG Tarifverträge: Elektrohandwerk; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 4 zu § 27 BAT. 8 BAG, Urt. v. 23.9.1992, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 23.6.1993, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: Versicherungsgewerbe; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

217

also nicht entnehmen, daß der Wille der Tarifvertragsparteien bestimmend ist9 . Er ist jedenfalls nach den neueren Urteilen lediglich "mitzuberücksichtigen" . Das BAG benutzt seit 1992 in seinen Entscheidungen zur Tarifvertragsauslegung einen einheitlichen Einleitungstext, der in den verschiedenen Urteilen nur im Satzbau leicht variiert. Dieser Vorspann gibt Aufschluß darüber, welche Kriterien das BAG zur Auslegung von Tarifverträgen heranziehen will. Aus ihm lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, welches Auslegungsziel das BAG verfolgt. Deshalb soll nach einem Überblick über die älteren Urteile des BAG diese Rechtsprechung hier dargestellt werden. 11. Die Auslegungsmittel nach der Rechtsprechung des BAG

1. Die ältere Rechtsprechung des BAG Zunächst formulierte das BAG die Grundsätze der Tarifvertragsauslegung noch uneinheitlich. Faßt man die Rechtsprechung auf das Wesentliche zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Auszugehen ist vom Wortlaut der Tarifnorm 10. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist nur zu 24.11.1993, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 6 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 7 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 8 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 9.3.1994, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Graphisches Gewerbe; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 108 zu § 613a BGB; BAG, Urt. v. 4.5.1994, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Elektrohandwerk; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 4 zu § 27 BAT; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen; BAG, Urt. v. 17.8. 1994, AP Nr. 49 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 26. 10.1994, AP Nr. 189 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.11.1994, AP Nr. 12 zu § 21 MTB 11; BAG, Urt. v. 11.1.1995, AP Nr. 10 zu §§ 22, 23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Urt. v. 8.2.1995, AP Nr. 1 zu § 22 MTA; BAG, Urt. v. 10.5. 1995, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Medizinischer Dienst; BAG, Urt. v. 10.5.1995, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Medizinischer Dienst; BAG, Urt. v. 14.6.1995, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Durchführungspflicht; BAG, Urt. v. 26.7.1995, EzA § 4 TVG Großhandel Nr. 4; BAG, Urt. v. 25.10.1995, AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 9 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 22 f., der diese Feststellung auch gleich wieder relativiert, indem er feststellt, daß das BAG auch Elemente der objektiven Auslegung aufnimmt (a. a. 0., S. 25). 10 BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 10.9.1980, AP Nr. 125 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 5.1.1980, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

berücksichtigen, soweit er in der Tarifnorm seinen Niederschlag gefunden hatlI. Auch der Gesamtzusammenhang ist zur Auslegung heranzuziehen 12 . Später heißt es, daß der Gesamtzusammenhang dazu dient, den Willen der Tarifvertragsparteien zu ermitteln 13. Die Anschauungen der beteiligten Berufskreise wurden zunächst mitberücksichtigt 14 , das BAG hat dieses Kriterium aber später aufgegeben 15 . Die Tarifgeschichte und die praktische Übung können herangezogen werden, soweit der Wortlaut nicht eindeutig ist 16 . In § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 30.4.1987, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag; BAG, Urt. v. 4.2.1988, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 1 zu § 27 MTL 11; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Urt. v. 20.4.1988, AP Nr. 93 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 11. 8.1988, AP Nr. 70 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1988, AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation. 11 BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 10.9.1980, AP Nr. 125 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 5.1. 1980, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 30.4.1987, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag; BAG, Urt. v. 4.2.1988, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 1 zu § 27 MTL 11; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Urt. v. 20.4.1988, AP Nr. 93 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 11.8.1988, AP Nr. 70 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11. 1988, AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation. 12 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 10.9.1980, AP Nr. 125 zu § 1 TVG Auslegung. 13 BAG, Urt. v. 27.8.1982, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 30.4.1987, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Urt. v. 20.4.1988, AP Nr. 93 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 24.11.1988, AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation. 14 BAG, Urt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 8.2. 1984, AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung. 15 BAG, Urt. v. 12.9. 1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 16 BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

219

anderen Urteilen will das BAG diese Kriterien verwerten, wenn nach Anwendung der zuvor genannten Auslegungsmittel noch Zweifel bestehen 17. Schließlich ist unter mehreren verbleibenden Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu wählen, die zu einer vernünftigen, gerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt 18. Ein Dissens der Tarifvertragsparteien oder ein Willensmangel führen nicht zur Unwirksamkeit der Tarifnorm 19 . 2. Die Rechtsprechung des BAG seit 1989 Seit 1992 stellt das BAG seinen konkreten Aussagen zum Einzelfall folgenden Text zur Tarifvertragsauslegung voran: "Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung des BAG den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut jedoch nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungser17 BAG, Urt. v. 3.6.1987, AP Nr. 85 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 22.4.1987, AP Nr. 4 zu § 21 TV AL II; BAG, Urt. v. 30.4.1987, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 2 zu § 6 TV Arb Bundespost; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag ; BAG, Urt. v. 4.2. 1988, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Urt. v. 11. 8.1988, AP Nr. 70 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 18 BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 30.4.1987, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag ; BAG, Urt. v. 4.2. 1988, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 24.3.1988, AP Nr. 1 zu § 27 MTL II; BAG, Urt. v. 24.3. 1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Urt. v. 9. 11. 1988, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; BAG, Urt. v. 24.11.1988, AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation. 19 BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

gebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. ,,20 Mit geringfügigen Unterschieden im Satzbau und ohne Anknüpfung an einen eindeutigen Wortlaut findet sich diese Formulierung bereits in Urteilen ab 198921 . Sie wird allerdings erst ab 1992 ständig benutzt. Gelegentlich wird für die Sinnerforschung ohne Bindung an den Buchstaben des Textes auf § 133 BGB Bezug genommen22 . Zum Teil findet sich auch nur eine verkürzte Fassung, in der der letzte Satz oder die letzten beiden Sätze fehlen und auch nicht bei eindeutigem Wortlaut die weitere Auslegung ausgeschlossen wird 23 .

BAG wie Fn. 8. BAG, Urt. v. 16.2.1989, AP Nr. 13 zu § 33 BAT; BAG, Urt. v. 20.4.1989, AP Nr. 128 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 10.5. 1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG; BAG, Urt. v. 29.6.1989, AP Nr. 103 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 28.9.1989, AP Nr. 4 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen; BAG, Urt. v. 19.10. 1989, AP Nr. 4 zu § 35 BAT; BAG, Urt. v. 30.11.1989, AP Nr. 1 zu §§ 22, 23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Urt. v. 7.12.1989, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Urt. v. 15.2.1990, AP Nr. 17 zu § 17 BAT; BAG, Urt. v. 16.1.1991, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 22 BAG, Urt. v. 23.6.1993, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; BAG, Urt. v. 23.9.1993, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen; BAG, Urt. v. 23.11.1994, AP Nr. 12 zu § 21 MTB 11; BAG, Urt. v. 26.7.1995, EzA § 4 TVG Großhandel Nr. 4; BAG, Urt. v. 25.10.1995, AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. § 133 BGB wurde auch in der älteren Rechtsprechung häufig genannt, so in BAG, Urt. v. 12.12.1973, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fliesenleger; BAG, Urt. v. 16.2.1989, AP Nr. 13 zu § 33 BAT; BAG, Urt. v. 28.9.1989, AP Nr. 4 zu §§ 22,23 BAT Zulagen. 23 BAG, Urt. v. 29.1. 1991, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985; BAG, Urt. v. 14.8.1991, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 29.8.1991, AP Nr. 10 zu § 63 BAT; BAG, Urt. v. 29.8.1991, AP Nr. 2 zu §§ 22, 23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Urt. v. 12.2.1992, AP Nr. 20 zu § 15 BAT; BAG, Urt. v. 18.2.1992, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis; BAG, Urt. v.9.9.1992, AP Nr. 3 zu § 626 BGB Krankheit; BAG, Urt. v. 21.10.1992, AP Nr. 165 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 21.10.1992, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Milch-Käseindustrie; BAG, Urt. v. 11.11.1992, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Milch-Käseindustrie; BAG, Urt. v. 17.12.1992, AP Nr. 148 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 20.10.1993, AP Nr. 167 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 10.11.1993, AP Nr. 169 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 115 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG, Urt. v. 9.3.1994, AP Nr. 32 zu § 23a BAT; BAG, Urt. v. 11.1.1995, AP Nr. 10 zu §§ 22,23 BAT Zuwendungs-TV. 20

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1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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3. Die Auslegungsmittel im einzelnen a) Der Wortlaut der Tarifnonn Es hat sich bereits gezeigt, daß das BAG bei der Auslegung von Tarifnonnen großen Wert auf den Wortlaut legt. Er ist Ausgangspunkt für die Auslegung und begrenzt sie in zweierlei Hinsicht. Zum einen kommen bei eindeutigem Wortlaut andere Auslegungsrnittel nicht mehr zum Einsatz24 • Zum zweiten sind die übrigen Auslegungskriterien dann nicht zu berücksichtigen, wenn sie dem Ergebnis der Wortlautauslegung widersprechen 25 . Zur Feststellung der Wortbedeutung hat das BAG mehrfach zum Wörterbuch gegriffen, um den allgemeinen Sprachgebrauch festzustellen 26 . Allerdings läßt es diese Wortbedeutung hinter einem Sondersprachgebrauch der Tarifvertragsparteien zurücktreten, wenn diese deutlich gemacht haben, daß sie eine andere Bedeutung zugrundelegen 27 . Verwenden die Tarifvertragsparteien einen Begriff, der in der Rechtsterrninologie eine bestimmte 24 BAG wie Fn. 8; aus der älteren Rechtsprechung BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 16.11.1989, AP Nr. 2 zu § 13 BAT. 25 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung. 26 BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.12.1973, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fliesenleger; BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 8.2.1984, AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 27.6.1984, AP Nr. 92 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 22.1.1986, AP Nr. 41 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 29.1.1986, AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 12.3.1986, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; BAG, Urt. v. 20.8.1986, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; BAG, Urt. v. 22.4.1987, AP Nr. 4 zu § 21 TV AL II; BAG, Urt. v. 29.4.1987, AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 27.1. 1988, AP Nr. 90 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 10.2.1988, AP Nr. 12 zu § 33 BAT; BAG, Urt. v. 23.11.1988, AP Nr. 101 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 30.11.1988, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Papierindustrie; BAG, Urt. v. 28.3.1990, AP Nr. 130 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 29.8.1991, AP Nr. 10 zu § 63 BAT, BAG, Urt. v. 15.10.1992, AP Nr. 19 zu § 17 BAT; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 23.6.1993, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; BAG, Urt. v. 23.2.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Kirchen; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen. 27 BAG, Urt. v. 29.1.1986, AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 10.11.1993, AP Nr. 169 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 30.11.1989, AP Nr. 1 zu §§ 22,23 BAT Zuwendungs-TY.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Bedeutung hat, so ist nach Ansicht des BAG im Zweifel davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien ihn in diesem Sinne verstanden wissen wollten 28 . b) Der Wille der Tarifvertragsparteien Neben der Wortlautauslegung soll auch der Wille der Tarifvertragsparteien berücksichtigt werden, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat29 . Während sich in der älteren Rechtsprechung zum Teil die Formulierung findet, daß es "in erster Linie" auf den Willen der Tarifvertragsparteien ankommeo, ist ihr Wille nach der neueren Rechtsprechung lediglich "rnitzuberücksichtigen,,31. Dieser Wille wird vom BAG aber nur vereinzelt ausdrücklich herangezogen32 .

28 BAG, Vrt. v. 8.2.1984, AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969; BAG, Vrt. v. 12.3.1986, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; BAG, Vrt. v. 25.2.1987, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Vrt. v. 29.4.1987, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Vrt. v. 24.3.1988, AP Nr. 10 zu § 47 BAT; BAG, Vrt. v. 1.3.1989, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Croupier; BAG, Vrt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG; BAG, Vrt. v. 19.10.1989, AP Nr. 16 zu § 15 BAT; BAG, Vrt. v. 29.8.1991, AP Nr. 2 zu §§ 22, 23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Vrt. v. 23.6.1993, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; BAG, Vrt. v. 12.1. 1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG, Vrt. v. 28.1.1977, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Ziegelindustrie für die Verwendung eines Begriffes, der "im Gesetz einen festen Inhalt hat"; im Vrt. v. 7.9.1989, AP Nr. 129 zu § 611 BGB Gratifikation, nimmt das BAG an, daß eine ständige Rechtsprechung dadurch festgeschrieben wird, daß der alte Tarifwortlaut in neuen Tarifverträgen beibehalten wird. 29 BAG, Vrt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 5.11.1980, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 30.5.1984, AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969; BAG, Vrt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Vrt. v. 23.2.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Kirchen; aus neuerer Zeit BAG wie Fn. 8. 30 BAG, Vrt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung ("maßgeblich"); BAG, Vrt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 7.2.1979, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk. 31 BAG wie Fn. 8. 32 Im Vrt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22,23 BAT 1975, wird aus der Entstehungsgeschichte auf den Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen, um ein Redaktionsversehen zu belegen; auch im Vrt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung, wird die Entstehungsgeschichte mit den Vorstellungen der Tarifvertragsparteien in Verbindung gebracht.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

223

Wie der Wille der Tarifvertragsparteien zu ennitteln ist, läßt sich ebenfalls nur in Einzelfällen aus den Urteilsgründen ableiten. In einer Entscheidung will das BAG ihren Willen mit Hilfe der Entstehungsgeschichte feststellen. Es hält es dabei nicht für ausgeschlossen, Protokolle zu benutzen, Zeugen zu befragen und Auskünfte über die Tarifverhandlungen einzuholen 33 . In einem anderen Urteil zieht es die Entstehungsgeschichte anderer Bestimmungen des auszulegenden Tarifvertrages heran, benutzt also Argumente aus dem Gesamtzusammenhang in Verbindung mit der Entstehungsgeschichte 34 . c) Der Gesamtzusammenhang Das BAG stellt bei seiner Rechtsprechung auch regelmäßig auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ab. Dabei berücksichtigt es die Systematik innerhalb einer Norm und den Zusammenhang mit anderen Vorschriften des Tarifvertrages 35 . Während das BAG zunächst noch von einem möglichen Konflikt der Auslegung nach dem Gesamtzusammenhang mit dem Willen der Tarifvertragsparteien ausging 36 , will es nach seiner neueren Rechtsprechung den Gesamtzusammenhang heranziehen, um aus ihm Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien zu gewinnen37 •

33 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; vgl. auch BAG, Urt. v. 10.9.1962, AP Nr. 115 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 14.6.1980, AP Nr. 9 zu § 4 TVG Effektivklausel. 34 BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 35 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 10.9.1980, AP Nr. 125 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 9.2.1983, AP NI. 47 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 22.1.1986, AP Nr. 41 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 2 zu § 6 TV Arb Bundespost; BAG, Urt. v. 30.11.1988, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Papierindustrie; BAG, Urt. v. 15.2.1990, AP Nr. 17 zu § 17 BAT; BAG, Urt. v. 28.2.1990, AP Nr. 8 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit; BAG, Urt. v. 16.1.1991, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 18.3.1992, AP Nr. 154 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 23.9. 1992, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; BAG, Urt. v. 12.1. 1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG, Urt. v. 13.4.1994, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 17.8.1994, AP Nr. 49 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975; im Urt. v. 20.12.1990, AP Nr. 3 zu § 53 BAT, zieht das BAG darüber hinaus auch andere Tarifverträge zur Auslegung heran. 36 BAG, Urt. v. 10.9.1980, AP Nr. 125 zu § 1 TVG Auslegung. 37 BAG wie Fn. 8.

224

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

d) Die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages In älteren Urteilen des BAG ist sowohl von der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages als auch von der Tarifgeschichte die Rede 38 . Dabei erklärt das BAG nicht, wie es diese Begriffe versteht. Bei der Gesetzesauslegung findet sich die Unterscheidung zwischen der Entstehungsgeschichte und der Vorgeschichte einer Norm39 . Es ist davon auszugehen, daß dementsprechend auch das BAG zwischen der Entstehungsgeschichte der Tarifnorm und ihrer Vorgeschichte (Tarifgeschichte) unterscheidet. In den neueren Urteilen wird nur noch von der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages gesprochen4o . Zum Teil wird der Sinn und Zweck des Tarifvertrages aus der Entstehungsgeschichte abgeleitet41 . Nach Ansicht des BAG ist die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages stets nur subsidiär zur Auslegung heranzuziehen 42 . Dementsprechend selten sind Urteile, in denen das BAG auf die Entstehungsgeschichte eingeht43 .

38 BAG, Urt. Y. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 39 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 2. a). 40 BAG wie Fn. 8. 41 BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108 zu § I TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 42 BAG, Urt. v. 19.6.1963, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § I TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 13.11.1985, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; BAG, Urt. v. 25.11.1987, AP Nr. 18 zu § I TVG Auslösung; BAG, Urt. v. 19.10.1989, AP Nr. 4 zu § 35 BAT; BAG, Urt. v. 16.1.1991, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1992, AP Nr. 58 zu § 7 BUriG Abgeltung; aus neuerer Zeit BAG wie Fn. 8. 43 BAG, Urt. v. 29.11.1973, AP Nr. 8 zu § 3 BUriG Rechtsmißbrauch; BAG, Urt. v. 14.5.1986, AP Nr. 49 zu § 1 FeiertagslohnzahlungsG; BAG, Urt. v. 20.4.1989, AP Nr. 128 zu § 1 BGB Gratifikation. Die Entstehungsgeschichte wird außerdem im Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR zur Stützung des bereits ermittelten Auslegungsergebnisses verwandt; im Urt. v. 31.10.1990, AP Nr. 11 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse und im Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu § 22, 23 BAT 1975 belegt das BAG mit Hilfe der Entstehungsgeschichte ein Redaktionsversehen.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

225

e) Der Sinn und Zweck des Tarifvertrages Auch der Sinn und Zweck des Tarifvertrages wird vom BAG zum Teil zur Auslegung herangezogen44 . Dabei läßt das Gericht nicht erkennen, woraus es den Sinn und Zweck jeweils herleitet. In einem Fall ließ das BAG erkennen, daß es den Sinn und Zweck aus dem Gesamtzusammenhang erschlossen hat45 . So will auch Schaub, der Vorsitzende des für die Auslegung von Tarifverträgen zuständigen vierten Senats des BAG, den Sinn und Zweck von Tarifnormen ermitteln46 . In einem weiteren Urteil griff das BAG auf den allgemeinen Normzweck von Ausschlußfristen zurück47 . f) Die gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung

Tarifverträge sind nach der Rechtsprechung des BAG gesetzes- und verfassungskonform auszulegen. Unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten wählt das BAG gegebenenfalls diejenige aus, die nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstößt48 .

44 BAG, Urt. v. 17.5.1973, AP Nr. 29 zu § 1 FeiertagslohnzahlungsG; BAG, Urt. v. 29.11.1973, AP Nr. 8 zu § 3 BUrlG Rechtsmißbrauch; BAG, Urt. v. 12.12.1973, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fliesenleger; BAG, Urt. v. 17.9.1987, AP Nr. 2 zu § 6 TV Arb Bundespost; BAG, Urt. v. 21.10.1987, AP Nr. 59 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 20.4.1989, AP Nr. 128 zu § 1 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 20.6.1989, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Vorruhestand; BAG, Urt. v. 20.9.1989, AP Nr. 121 zu § 1 TVG Tarifverträge Bau; BAG, Urt. v. 30.11.1989, AP Nr. 1 zu §§ 22, 23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Urt. v. 24.1.1990, AP Nr. 90 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 27.2.1990, AP Nr. 107 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 16.1. 1991, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 29.8.1991, AP Nr. 10 zu § 63 BAT; BAG, Urt. v. 18.3.1992, AP Nr. 154 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 24.3. 1992, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Vorruhestand; BAG, Urt. v. 24. 11. 1993, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 115 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. In seinem Urt. v. 13.4.1994, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel, benutzt das BAG dagegen Sinn und Zweck der Tarifnorm nicht zur Auslegung, sondern will ihn mit Hilfe des Gesamtzusammenhangs ermitteln. 45 BAG, Urt. v. 14.6.1995, AP Nr. 4 zu § I TVG Durchführungspflicht. 46 Schaub, NZA 1994, S. 597, 599. 47 BAG, Urt. v. 7.2.1995, EzA § 4 TVG Ausschlußfristen Nr. 112. 48 BAG, Urt. v. 25.6.1985, AP Nr. 48 zu § I FeiertagslohnzahlungsG; BAG, Urt. v. 23.9.1992, AP Nr. 159 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung.

15 Kamanabrou

226

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

g) Die praktische Tarifübung Auch die tarifliche Übung kann nach Auffassung des BAG bei der Auslegung berücksichtigt werden49 . Eine nachträgliche Tarifübung ist aber nur dann relevant, wenn die Tarifpartner sie kennen und billigen 50. Außerdem soll die Tarifübung unerheblich sein, wenn sie zum objektiven Sinn einer Tarifnorm im Widerspruch steht51 . Tatsächlich berücksichtigt hat das BAG die Tarifübung nur vereinzelt52 . h) Die Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse Weiterhin kommt es nach der Rechtsprechung des BAG auf die Praktikabilität der denkbaren Auslegungsergebnisse an. Im Zweifel soll die Auslegungsmöglichkeit den Vorrang haben, die zu einer sachgerechten, vernünftigen, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt 53 . So hat das BAG entschieden, daß die Kontoführungsgebühren der Arbeitnehmer bei bargeldloser Gehaltszahlung voll vom Arbeitgeber zu tragen sind, wenn den Arbeitnehmern im Tarifvertrag ein Erstattungsanspruch uneingeschränkt eingeräumt wurde. Dabei stützt es sich unter anderem darauf, daß nur so eine praktisch brauchbare, nachvollziehbare Lösung erreicht werden könne. Eine Regelung, nach der die Arbeitnehmer die Gebühren anteilig nach dem Maß der privaten Nutzung des Girokontos zu tragen hätten, sei praktisch nur schwer durchführbar54 . In einem anderen Urteil wird die Auslegungs49 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 25.11.1987, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Auslösung; aus neuerer Zeit BAG wie Fn. 8. 50 BAG, Urt. v. 26. 11. 1964, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifliche Übung; BAG, Urt. v. 25.8.1982, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifliche Übung; BAG, Urt. v. 17.4.1985, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Chemie; BAG, Urt. v. 20.8.1986, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; BAG, Urt. v. 22.4.1987, AP Nr. 4 zu § 21 TV AL 11. 51 BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.4.1986, AP Nr. 3 zu § 10 TV Arb Bundespost; BAG, Urt. v. 22.4.1987, AP Nr. 4 zu § 21 TV AL 11; BAG, Urt. v. 17.12.1992, AP Nr. 148 zu § 611 BGB Gratifikation. 52 BAG, Urt. v. 7.2.1979, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk. 53 BAG, Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.10.1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 9.11.1988, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; BAG, Urt. v. 21. 2.1990, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 4 zu § 33a BAT; BAG, Urt. v. 30.11.1994, AP Nr. 16 zu § 4 TVG; BAG, Urt. v. 17.1.1995, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Tarifverträge: Holzindustrie; aus neuerer Zeit auch BAG wie Fn. 8. 54 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; auch im Urt. v. 9.3.1983, AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung, stützt das BAG seine Argumentation mit Hilfe der Praktikabilität des Ergebnisses.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

227

möglichkeit als sachgerecht und zweckorientiert ausgewählt, die den Normcharakter der Tarifbestimmung wahrt55 . i) Die Anschauungen der beteiligten Berufskreise In älteren Urteilen werden auch die Anschauungen der beteiligten Berufskreise als Auslegungskriterium genannt56 . Später hat das BAG den Auffassungen der beteiligten Berufskreise nur eine ergänzende und bestätigende Funktion zugewiesen, da sie für sich allein über den Willen der Tarifvertragsparteien nichts aussagen und keinen Bezug zum Tarifrecht haben 57 • Allerdings könnten die Tarifvertragsparteien diese Anschauungen zum Gegenstand einer tariflichen Regelung machen, so daß sie im Rahmen des Tarifwortlauts und des Gesamtzusammenhangs zu berücksichtigen sind 58 . In den neueren Urteilen werden die Anschauungen der beteiligten Berufskreise nicht mehr erwähnt59 .

4. Die Rangfolge der Auslegungsmittel nach der Rechtsprechung des BAG

a) Die älteren Urteile des BAG zur Rangfolge der Auslegungsmittel Das BAG hat sich zur Rangfolge der Auslegungsmittel mehrfach geäußert. Grundlegend war zunächst ein Urteil aus dem Jahr 19666 Danach ist zuerst auf den Wortlaut abzustellen. Wenn allein daraus die Auslegung nicht möglich ist, ist auf den Gesamtzusammenhang einzugehen. Sollte mit diesen Kriterien kein brauchbares Ergebnis erzielt werden können, so sind

°.

55 BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: Versicherungsgewerbe. 56 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 9.9.1981, AP Nr. 34 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 8.2.1984, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 57 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 25.11.1987, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Auslösung; zurückhaltend schon BAG, Urt. v. 18.11.1975, AP Nr. 91 zu §§ 22,23 BAT. 58 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 25.11.1987, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Auslösung. 59 BAG wie Fn. 8. 60 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung. 15*

228

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

die Tarifgeschichte und die Tarifübung heranzuziehen. In diesem Rahmen könnten Verhandlungsprotokolle, Zeugenaussagen oder Auskünfte der Tarifvertragsparteien benutzt werden. Wenn auch auf diesem Weg kein brauchbares Ergebnis erzielt werden kann, soll an die Ansichten der beteiligten Berufskreise gedacht werden. Diese Rechtsprechung wurde 1984 geändert61 . Nach der neuen Ansicht sind stets und in erster Linie zwingend der Tarifwortlaut und der tarifliche Gesamtzusammenhang als Auslegungskriterien heranzuziehen. Verbleiben danach noch Zweifel, so kann auf die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages zurückgegriffen werden, um den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien zu ermitteln. Diese Auslegungskriterien können aber angewandt werden, ohne daß eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten ist. Die Anschauungen der beteiligten Berufskreise werden in diesem Urteil als selbständiges Auslegungskriterium verworfen, so daß sie nicht in eine Rangfolge eingeordnet werden müssen. Eine Neuerung gegenüber dem Urteil von 1966 liegt außerdem darin, daß die Praktikabilität der Auslegungsergebnisse berücksichtigt werden soll.

b) Die Rangfolge der Auslegungsmittel nach der neueren Rechtsprechung des BAG Schließlich hat das BAG zu der heutigen Einleitungsformel gefunden 62 . Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Ist dieser nicht eindeutig, so ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien rnitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner sei auf den Gesamtzusammenhang abzustellen, der Anhaltspunkte für den Willen der Tarifvertragsparteien liefere. Habe man auf diesem Weg keine zweifelsfreien Auslegungsergebnisse erreicht, so können ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge die Entstehungsgeschichte und die praktische Tarifübung ergänzend hinzugezogen werden. Auch die Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse gelte es zu berücksichtigen.

61 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; kritisch zur neuen Rangfolge Belling, Anm. zu BAG, Urt. v. 12.9.1984, EzA § I TVG Auslegung Nr. 14. 62 BAG wie Fn. 8.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

229

c) Vergleich der verschiedenen Stellungnahmen zur Rangfolge Beim Vergleich dieser Ausführungen ergeben sich Unterschiede sowohl bei den Auslegungsmitteln als auch bei ihrer Rangfolge. Nach den ersten beiden Urteilen stellte der Wille der Tarifvertragsparteien kein selbständiges Auslegungskriterium dar, er sollte sich vielmehr aus der Anwendung der übrigen Auslegungsmittel ergeben63 . Dagegen scheint nach der neuen Rechtsprechung der Wille der Tarifvertragsparteien als Auslegungsmittel eingeordnet zu werden. Allerdings soll er sich aus dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages ergeben, was wiederum gegen seine Stellung als selbständiges Auslegungskriterium spricht. Der Gesamtzusammenhang ist nach allen genannten Urteilen bei der Auslegung zu berücksichtigen. Nach dem Urteil vom 12.9.1984 ist er stets zur Auslegung heranzuziehen64 , nach dem älteren und den neueren Urteilen nur, wenn die Wortlautauslegung kein eindeutiges Ergebnis gebracht hat65 . Die Entstehungsgeschichte und die praktische Übung sind ebenfalls durchgängig angeführt. In der Entscheidung vom 12.9. 1984 heißt es, daß diese Kriterien zur Ermittlung des wirklichen Willens der Tarifvertragsparteien dienen 66 . Auch aus dem Urteil vom 26.4.1966 kann man ableiten, daß sie Aufschluß auf den Willen der Tarifvertragsparteien geben sollen67 • Aus den neueren Urteilen geht nicht unmittelbar hervor, wie diese Auslegungskriterien und der Partei wille sich zueinander verhalten 68 .

Im Zweifel berücksichtigt das BAG noch die Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse. Dieses Kriterium findet sich sowohl in dem Urteil vom 12.9. 1984 als auch in der neueren Rechtsprechung 69 . Dagegen wird es im Urteil vom 26.4.1966 noch nicht erwähnt70 •

63 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 64 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 65 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG wie Fn. 8. 66 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 67 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung. 68 BAG wie Fn. 8. 69 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAG wie Fn. 8. 70 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung.

230

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

d) Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln und ihrer Rangfolge nach der neueren Rechtsprechung des BAG In seiner neueren Rechtsprechung nennt das BAG folgende Auslegungskriterien7l : -

den Wortlaut, den Willen der Tarifvertragsparteien, den Gesamtzusammenhang, die Entstehungsgeschichte, die praktische Tarifübung, die Praktikabilität der denkbaren Auslegungsergebnisse.

Dabei heißt es zum Gesamtzusammenhang, daß er "Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann". Daraus ergibt sich, daß das BAG vom Gesamtzusammenhang auf den Willen der Tarifvertragsparteien schließen will und von diesem auf den Sinn und Zweck der tariflichen Regelung. Daß der Sinn und Zweck des Tarifvertrages für seine Auslegung erheblich ist, setzt das BAG an dieser Stelle stillschweigend voraus. Einen Anhaltspunkt dafür kann man daraus herleiten, daß das BAG die Regeln über die Gesetzesauslegung für anwendbar hält, nach denen der Sinn und Zweck der Regelung das maßgebliche Auslegungskriterium ist. In der Aufzählung der Auslegungskriterien findet sich der Sinn und Zweck der Regelung aber nicht, obwohl er in verschiedenen Urteilen zur Auslegung herangezogen wurden. Das gilt auch für den Grundsatz der gesetzes- und verfassungskonformen Auslegung73. Abgesehen vom Gesamtzusammenhang, dem Willen der Tarifvertragsparteien und dem Sinn und Zweck der Tarifnormen wird zwischen den Auslegungskriterien kein Abhängigkeitszusammenhang hergestellt. Ihnen wird folgende Rangfolge gegeben: Zunächst kommt es auf den Tarifwortlaut an. Wenn dieser eindeutig ist, sind die übrigen Auslegungsmittel nicht anzuwenden. Bei mehrdeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den Tarifnormen seinen Niederschlag gefunden hat. Dazu ist der tarifliche Gesamtzusammenhang hinzuzuziehen. Nur wenn danach 71

Vgl. zum folgenden BAG wie Fn. 8.

n BAG wie Fn. 44. 73 Angewandt in BAG Urt. v. 25.6.1985, AP Nr. 48 zu § 1 FeiertagslohnzahlungsG; BAG, Urt. v. 23.9.1992, AP Nr. 159 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

231

kein zweifelsfreies Auslegungsergebnis erzielt wurde, sind die Entstehungsgeschichte und die Tarifübung heranzuziehen. Gleichrangig dazu ist die Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse zu berücksichtigen. Bis auf den Wortlaut sind also nach der neueren Rechtsprechung des BAG alle anderen Auslegungskriterien nur subsidiär anzuwenden74 , wobei unter ihnen wiederum eine Staffelung besteht.

e) Die tatsächliche Handhabung der Auslegungsmittel durch das BAG In seinen Entscheidungen weicht das BAG teilweise von diesen Vorgaben ab. Es hat trotz der selbst auferlegten Auslegungssperre bei eindeutigem Wortlaut eine Auslegung gegen den seiner Ansicht nach klaren Wortlaut vorgenommen, wenn es durch die anderen Auslegungskriterien angezeigt schien75 • Außerdem zieht es des öfteren trotz des "klaren" Wortlauts einer Tarifnorm noch andere Auslegungskriterien heran, wenn auch nur unterstützend 76 . Der Wille der Tarifvertragsparteien wird angesichts der zahlreichen Urteile, in denen der Tarifwortlaut für mehrdeutig erklärt wurde, zu selten zur Auslegung herangezogen 77. Den Gesamtzusammenhang wertet das BAG in der Regel aus, ohne daß aus den Erwägungen hierzu auf den Willen der Tarifvertragsparteien oder 74 Allerdings ist nach dem vereinzelt gebliebenen Urteil des BAG vom 31.10.1990, AP Nr. 11 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse, der Gesamtzusammenhang stets zur Auslegung von Tarifverträgen heranzuziehen. 75 BAG, Urt. v. 7.12.1989, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 76 BAG, Urt. v. 24.3.1993, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Süßwarenindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 4 zu § 27 BAT. 77 Zur Häufigkeit des Auslegungskriteriums "Wille der Tarifvertragsparteien" oben 4. Teil 1. Kap. A.II.3.b); für mehrdeutig hält das BAG den Wortlaut u.a. in folgenden Entscheidungen: BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bergbau; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 115 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG, Urt. v. 13.4.1994, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 17.8.1994, AP Nr. 49 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel.

232

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

den Sinn und Zweck ihrer Regelung geschlossen würde78 • Ein entsprechender Hinweis wäre aber nach seiner Einleitungsfonnel angebracht. Außerdem benutzt das BAG mit der Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Tarifnorm und der gesetzes- und verfassungskonfonnen Auslegung Kriterien, die es nicht in seinen Katalog der Auslegungsmittel aufgenommen hat. Dementsprechend werden sie an beliebiger Stelle zur Auslegung eingesetzt, ohne daß ihr Verhältnis zu den anderen Auslegungskriterien geklärt wird. Die Auslegungsmittel Entstehungsgeschichte, Tarifübung und Praktikabilität benutzt das BAG nur subsidiär, wie es in seiner Rechtsprechung vorgesehen ist79 • III. Folgen der Aussagen des BAG zu den Auslegungsmitteln für das Auslegungsziel Nach dieser Rechtsprechung des BAG kann der Wille der Tarifvertragsparteien nicht als Auslegungsziel des Gerichts bezeichnet werden. Eine Auslegung nach den Regeln für die Gesetzesauslegung, bei der zudem ein eindeutiger Wortlaut die weitere Auslegung verhindert, bedeutet ein Zurückdrängen des Willens der Tarifvertragsparteien. Denn nach der herrschenden Meinung sind Gesetze objektiv auszulegen, was bedeutet, daß der Wille des Nonngebers nicht maßgeblich ist8o . Außerdem benutzt das BAG den Willen der Tarifvertragsparteien als Auslegungsmittel, was dagegen spricht, daß es ihn gleichzeitig als Auslegungsziel ansieht. Allerdings hat sich bei der Gesetzesauslegung gezeigt, daß die subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers zum einen das Auslegungsziel sind, zum anderen aber als Auslegungsmittel benutzt werden. Dabei hat der Begriff der "Vorstellungen" aber jeweils einen andem Inhalt8 !. Zwar kann man diese Differenzierung auch für den Willen der Tarifvertragsparteien treffen. Es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, daß das BAG den Begriff in einem solchen doppelten Sinne benutzt. Weiterhin wird die Entstehungsgeschichte, die zusammen mit der Systematik am ehesten Aufschluß auf den Willen des Nonngebers geben kann 82 ,

78 Zum Gebrauch des Gesamtzusammenhangs siehe oben 4. Teil 1. Kap. A. H. 3. c). 79 V gl zu diesen Kriterien oben 4. Teil 1. Kap. A. II. 3. d), g) und h). 80 Zur objektiven Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 1. 81 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. H.4. a). 82 Siehe für die Gesetzesauslegung oben 1. Teil 1. Kap. B. II. 2.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

233

nur subsidiär zur Auslegung eingesetzt. Dadurch wird der Wille der Tarifvertragsparteien oft vernachlässigt. Schließlich berücksichtigt man mit dem Kriterium der Praktikabilität der möglichen Auslegungsergebnisse keine konkreten Normzwecke der Tarifvertragsparteien, sondern lediglich generelle, "objektive" Normzwecke. Die Rechtsprechung des BAG bewegt sich also eher im Bereich der objektiven als der subjektiven Auslegung. Wenn auch subjektive Gesichtspunkte nicht völlig vernachlässigt werden, sind sie doch zu untergeordnet, als daß man von einer subjektiven Auslegung von Tarifverträgen sprechen könnte.

B. Die Auslegung von Tarifverträgen nach der Literatur Man kann die Stellungnahmen in der Literatur danach unterscheiden, ob sie der subjektiven oder der objektiven Auslegungsmethode folgen 83 . Innerhalb dieser beiden Lager gibt es jedoch etliche Nuancen, so daß eine einheitliche Darstellung den einzelnen Ausführungen nicht gerecht würde. Aus der Vielzahl der Stellungnahmen sollen deshalb hier einige herausgegriffen werden, um ihre Auslegungsgundsätze im ganzen vorzustellen.

I. Vertreter der objektiven Theorie Nach Nikisch sind Tarifnormen wie sonstige Vorschriften des objektiven Rechts auszulegen 84 . Ziel und Mittel seien zwar bei der Auslegung von Rechtsnormen die gleichen wie bei privaten Willenserklärungen. Während aber bei der Vertrags auslegung der übereinstimmende Partei wille auch ohne einen entsprechenden Ausdruck im Wortlaut des Vertrages maßgeblich sei, müsse man sich bei Rechtsnormen an den klaren und unmißverständlichen Wortlaut halten können 85 . 83 Vertreter der objektiven Theorie sind u.a. Achilles, Parteiwille, S. 30f, 51 ff.; Brötzmann, Auslegung von Tarifvertragsnormen, s. 27; Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 237; Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 178ff.; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht IVl, S. 356ff.; Müller, DB 1960, S. 119; Neumann, ArbuR 1985, S. 320, 322; Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 219 und Schaub, NZA 1994, S. 597f. Vertreter der subjektiven Theorie sind u. a. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 134ff.; Dütz, FS für K. Molitor, S. 63, 72ff.; Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. S. 45ff., 88; Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 381ff.; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 391 ff.; Zachert, Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 309 und Zöllner, RdA 1964, S. 443, 449. 84 Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 219. 85 Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 220.

234

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Ausgangspunkt für die Auslegung sei der Wortlaut. Um den wahren Sinn einer Tarifnorm erschließen zu können, müsse man aber den Zusammenhang mitberücksichtigen, in dem sie steht. Außerdem sei bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige auszuwählen, die zu einer vernünftigen, gerechten, zweckentsprechenden und praktisch brauchbaren Regelung führt. Wenn man so zu einem zweifelsfreien Ergebnis gelangt sei, scheide jede weitere Auslegung aus 86 . Nur in Zweifelsfällen sollen Auslegungsmittel außerhalb des Vertragstextes herangezogen werden. Die Entstehungsgeschichte und die praktische Tarifübung könnten das Auslegungsergebnis beeinflussen, soweit sie dem Wortlaut nicht widersprechen R7 • Auch Hueck/Nipperdey wollen die Regeln der Gesetzesauslegung auf Tarifverträge anwenden 88 . Es könne nur auf den erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien ankommen, Tarifverträge seien aus sich selbst heraus auszulegen. Hueck/Nipperdey sehen ebenfalls Auslegungsziel und -mittel bei der Gesetzes- und Vertragsauslegung als gleich an. Auszugehen sei vom Wortlaut der Norm, wobei der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien maßgeblich sei, vorausgesetzt, daß er im Wortlaut der Tarifbestimmung erkennbar Ausdruck gefunden hat89 . Bei der Auslegung sind nach Hueck/Nipperdey auch systematische Erwägungen und die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen 90. Letztere sei aber kein eigenständiges Auslegungsmittel. Sie sei nur dann von Bedeutung, wenn der daraus abzuleitende Wille der Tarifvertragsparteien irgendeinen Ausdruck in der Tarifnorm gefunden hat. Über die Entstehungsgeschichte könnten Zeugen gehört werden 91 • Außerdem sei ein Ergebnis zu finden, das Treu und Glauben (§ 242 BGB) entspricht92 . Obwohl der wirtschaftliche und soziale Zweck des Tarifvertrages zu berücksichtigen sei, könne man nicht im Zweifel eine Auslegung zugunsten der Arbeitnehmer vorziehen 93 . Eine tarifliche Übung könne bei Kenntnis und Billigung durch die Tarifpartner eine Rolle spielen, soweit sie nicht dem klaren und eindeutigen Wortlaut widerspricht94 . § 155 BGB und die Regeln über die falsa 86 87 88

89 90 91

92 93 94

Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 220f. Nikisch, Arbeitsrecht H, S. 222. Hueck/Nipperdey. Arbeitsrecht II1\', Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II11; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht 11/1, Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht II11, Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht 11/1, Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht 11/1, Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht lI/I,

S. S. S. S. S. S. S.

356 ff. 358. 359. 361. 359 f. 360. 360,

I. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

235

demonstratio seien auf Tarifverträge nicht anwendbar95 . Schließlich sei auch eine authentische Interpretation durch die Tarifvertragsparteien möglich. Bei Abweichungen zum Ergebnis der objektiven Auslegung handele es sich um eine Abänderung des Tarifvertrages96 .

Gröbing hält die für Rechtsnormen geltenden Auslegungsregeln für anwendbar, will aber die vertragliche Entstehung immer mitberücksichtigen 97 . Dem Theorienstreit mißt er wenig Bedeutung zu. Auf jeden Fall könne für die Tarifunterworfenen nur das gelten, was ihnen erkennbar ist98 . Ausgangspunkt der Auslegung und zugleich ihre äußerste Grenze sei der Wortlaut der Tarifnorm. Bevor der Gesamtzusammenhang berücksichtigt werden könne, sei der Textsinn zu ermitteln. Dabei geht es Gröbing darum, bereichs- und branchenspezifische Wortbedeutungen ausfindig zu machen 99 . Ergänzend soll auch die historische Auslegung zum Zuge kommen. Allerdings seien die Materialien nur bedingt als Erkenntnisquelle zu verwenden. Habe man damit noch kein Ergebnis erzielt, so folge die teleologische Auslegung, in deren Rahmen die Strukturen, die beachtlichen Rechtsprinzipien und der Kontext aufgedeckt würden 100. Schließlich solle die Auslegung möglichst zu einer gerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führen. Außerdem müsse das Auslegungsergebnis gesetzes- und verfassungskonform sein 101. Auch Neumann will die Grundsätze der Gesetzesauslegung anwenden, dabei aber tarifvertragliehe Besonderheiten berücksichtigen 102. Maßgeblich sei der Tarifwortlaut. Der Wille der Tarifvertragsparteien sei über den reinen Wortlaut hinaus zu berücksichtigen. Er ergebe sich in der Regel aus dem Sinn und Zweck und damit aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang Hß . Neben dem so charakterisierten Wortlaut dienten andere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die Tarifübung oder die Entstehungsgeschichte nur noch der Bestätigung. Mit der gebotenen Vorsicht könne auch der Lösung der Vorzug gegeben werden, die zu einer vernünftigen, gerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt 104.

Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht II11, S. 360 f. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II11, S. 361. 97 Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 237. 98 Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 237f. 99 GrÖbing. ZTR 1987, S. 236, 238. 100 Gröbin8, ZTR 1987, S. 236, 238 f. 101 Gröbin8, ZTR 1987, S. 236, 239. 102 Neumann, ArbuR 1985, S. 320, 322. 103 Neumann, ArbuR 1985, S. 320, 322. 104 Neumann, ArbuR 1985, S. 320, 322.

95

96

236

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Herschel will ebenfalls die Regeln über die Gesetzesauslegung anwenden 105. Zwar sieht er in der Praxis keinen großen Unterschied zwischen den beiden Auslegungsmethoden. Während es bei der Vertragsauslegung mehr auf den subjektiven Willen der Parteien ankomme, sei bei der Gesetzesauslegung mehr der objektive, erkennbare Sinn der Norm von Bedeutung. Nach der Methode Gesetzesauslegung müsse daher alles außer Acht gelassen werden, was die Tarifvertragsparteien zwar gewollt haben, was aber in den Normen keinen erkennbaren Ausdruck gefunden hat 106 . Trotz der geringen Unterschiede sei aber entschieden auf die objektive Auslegungsmethode zurückzugreifen. Das ergebe sich schon daraus, daß Normen zu deuten seien. Außerdem komme es für die juristische Interpretation nicht auf die Entstehung sondern auf den Inhalt an. Ausgelegt werde nicht der Erklärungsakt, sondern das Erklärte. Allerdings müsse unter Umständen der Entstehungsart eine gewisse Bedeutung beigemessen werden 107.

Der Wortlaut ist nach Herschel die Grundlage der Auslegung. Er äußert sich kritisch zu der Rechtsprechung des BAG, wonach die Tarifvertragsparteien einen Begriff, der in der Fachsprache eine bestimmte Bedeutung hat, wohl auch in diesem Sinn verstanden wissen wollten. Es sei immer zu prüfen, wie die Tarifvertragsparteien die Norm gemeint haben, ob sie dabei auf die rechtssprachliche Bedeutung abgezielt haben 108 . Bedenken hat Herschel auch bei der Verwendung von Protokollnotizen. Er unterscheidet zwischen den eigentlichen Protokollen und den Protokollnotizen im engeren Sinne 109. Bei ersteren handele es sich um Niederschriften über die Verhandlungen, die Aufschluß über die Entstehungsgeschichte und den Willen einer Partei geben könnten. Letztere teilt er in zwei Gruppen ein. Sie könnten zum einen zum Vertragsinhalt gemacht werden, so daß ihnen konstitutive Bedeutung zukomme. Häufig handele es sich aber um bloße deklaratorische Äußerungen einer Seite. Dieser Typ könne gegebenenfalls dem wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien entsprechen, was aber näher zu untersuchen seilID. Eine Tarifübung, die älter als der auszulegende Tarifvertrag ist, und die den Tarifvertragsparteien bekannt ist, soll für die Auslegung bedeutsam sein 111. Eine jüngere Tarifübung sei ebenfalls zu berücksichtigen, da sie Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 178ff. Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 179. 107 Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 179f. 108 Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 183f.; vgl. auch ders., Anm. zu BAG, Urt. v. 7.2.1979, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk. 109 Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 185. 110 Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 18Sf. 111 Hersehe!, FS für E. Molitor, S. 161, 186f; ders., ArbuR 1976, S. 1,4. 105

106

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

237

Aufschluß darüber geben kann, was die Tarifvertragsparteien mit der Regelung ausdrücken wollten. Allerdings müsse diese Deutung mit dem Wortlaut vereinbar sein 1l2 . Um den Sinn einer Tarifbestimmung zu erfassen, seien auch die Systematik und die Entstehungsgeschichte zu beachten 113. Dagegen soll weder der Auslegungsgrundsatz gelten, daß im Zweifel das dem Arbeitnehmer günstigere Verständnis vorzuziehen ist, noch die Unklarheitenregel aus dem Recht der AGB 1l4 . Herschel befürwortet schließlich die authentische Auslegung durch die Tarifvertragsparteien 115.

Eine objektive Auslegung befürworten in Anlehnung an das BAG auch Achilles 1l6 , Brötzmann 1J7 , Buchner 1l8 , G. Müller 1l9 und Schaub 120. Ananiadis enthält sich einer klaren Stellungnahme. Er betont die Nähe von Vertrags- und Gesetzesauslegung zueinander l2l . Als Auslegungskriterien will er grammatische Elemente 122 , die Systematik 123 , Tarifübungen 124 , die Entstehungsgeschichte 125 und teleologische Aspekte 126 berücksichtigen.

11. Vertreter der subjektiven Theorie LöwischlRieble sehen die Tarifvertragsauslegung in einem Spannungsverhältnis zwischen Vertragsauslegung und Normauslegung. Dabei gebühre zunächst der Vertragsauslegung der Vorrang, da der Vertrag das maßgebliche Regelungsverfahren sei. Erst in zweiter Linie sei eine Objektivierung Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 187; ders., ArbuR 1976, S. 1,4. Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 188; eingehend zur systematischen Auslegung ders., BB 1966, S. 791. 114 Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 183, 188; gegen die Auslegung zugunsten der Arbeitnehmer auch ders., ArbuR 1976, S. 1,4. 115 Herschel, FS für E. Molitor, S. 199ff.; ders., ArbuR 1976, S. 1, 6; ders., Anm. zu BAG, Urt. v. 4.11.1970, AP Nr. 119 zu § 1 TVG Auslegung. 116 Achilles, Parteiwille, S. 30f, 51 ff. 117 Brötzmann, Auslegung von Tarifvertragsnormen, S. 27. 118 Buchner, SAE 1987, S. 45. 119 Müller, DB 1960, S. 119. 120 Schaub, NZA 1994, S. 597f. 121 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 28 ff., 87 f. 122 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 46ff. 123 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 62 ff. 124 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 65 ff. 125 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 68 ff. 126 Ananiadis, Auslegung von Tarifverträgen, S. 70ff. 112 113

238

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

vorzunehmen 127. Die falsa-demonstratio-Regel ist nach LöwischlRiebLe ebensowenig anwendbar wie § 155 BGB 128. Der Wille der Tarifvertragsparteien soll sich in erster Linie aus dem Wortlaut des Tarifvertrages ergeben. Zur Wortlautauslegung sei grundsätzlich der allgemeine Sprachgebrauch heranzuziehen, der aber durch den Gebrauch juristischer Fachwörter, eines besonderen Sprachgebrauchs bestimmter Verkehrskreise oder Definitionen der Tarifvertragsparteien verdrängt werden könne l29 • Bei der systematischen Auslegung wollen Löwischl RiebLe alle Tarifverträge derselben Tarifvertragsparteien für denselben Geltungsbereich berücksichtigen 130. Auch der Zweck der Norm sei für die Auslegung maßgeblich. Dabei komme es zunächst auf den konkreten Regelungszweck der Tarifvertragsparteien an. Außerdem sei der Tarifvertrag so auszulegen, daß sich eine vernünftige und praktisch brauchbare Regelung ergibt l31 . Eine Auslegungsregel, nach der im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer zu entscheiden ist, lehnen LöwischlRiebLe jedoch ab l32 . Die Entstehungsgeschichte, die Tarifgeschichte und eine tarifliche Übung vor Abschluß des Tarifvertrages könnten ebenfalls Aufschluß über den Willen der Tarifvertragsparteien geben. Eine nachträgliche Übung könne aber allenfalls einen Rückschluß auf die Willensbildung bei Vertragsschluß zulassen 133. Schließlich seien Tarifverträge gesetzes- und verfassungskonform auszulegen 134. Zachert gibt ebenfalls der subjektiven Theorie den Vorzug 135. Gegen die objektive Auslegungsmethode wendet er u. a. ein, daß die Geltung eines Tarifvertrages für eine Person im Regelfall des § 3 Abs. 1 TVG anders als bei Gesetzen von ihrem freiwilligen Eintritt und Verbleib in einen Verband abhängt. Der Tarifvertrag wirke also aufgrund eines privatautonomen Willensaktes des Betroffenen 136. Den Theorienstreit hält Zachert allerdings trotz der Unterschiede zwischen subjektiver und objektiver Auslegung im LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 381 ff., 384. LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 381,387. 129 LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 388 ff. BO LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 397. BI LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 400ff. m LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 403. DJ Löwischl Rieble, § I TVG, Rdnr. 405 ff. 134 LöwischlRieble, § I TVG, Rdnr. 411 ff. 135 Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 309. 136 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, S. 573, 587. 127

128

I. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

239

wesentlichen für irrelevant. Auswirkungen hat er seiner Meinung nach nur bei der Behandlung der seltenen falsa-demonstratio-Fälle. In diesen Fällen soll der Wille der Tarifvertragsparteien unbeachtlich sein, wenn der Wortlaut eindeutig vom Gewollten abweicht und sich aus den Umständen nicht ergibt, daß den Parteien eine falsa demonstratio unterlaufen ist I37 . Bei der Auslegung sei zunächst der Wortsinn zu ermitteln. Dabei geht dem allgemeinen Sprachgebrauch ein juristischer Wortsinn vor, der wiederum durch eine Definition der Tarifvertragsparteien verdrängt werden kann J3x . Bevor andere Auslegungsmittel herangezogen werden, sollen Protokollnotizen und gemeinsame Rundschreiben der Tarifvertragsparteien ebenso beachtet werden wie ihre authentischen Interpretationen. Außerdem seien die Parteien anzuhören 139. Eine Tarifül:)ung könne im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden, wenn sie älter als der Tarifvertrag ist. Ist sie jünger, kann sie nach Zachert einen Hinweis auf das Verständnis der Tarifvertragsparteien geben 140. Der maßgebliche Wortsinn kann sich außerdem aus dem Gesamtzusammenhang der Tarifnorm ergeben. Schließlich seien auch Tarifverträge verfassungskonform auszulegen 141. Verbleiben dann noch Zweifel, so will Zachert zwar den Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages, nicht aber seinen Sinn und Zweck zur Auslegung benutzen 142. Bei Unklarheiten sei der Tarifvertrag zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen 143. Auch Däubler hält die Gleichsetzung von Gesetzen und Tarifverträgen bei der Auslegung für unangebracht 144. Tarifverträge seien in der Regel kurzlebiger als Gesetze, so daß nicht wie bei diesen der Zeitablauf Schwierigkeiten bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens aufwirft. Ihr Wille sei zudem leichter feststellbar als der des Gesetzgebers 145. Auch wirkten bei der tarifvertraglichen Rechtssetzung nicht die Normgeber und die Gerichte arbeitsteilig zusammen, wie das bei staatlicher Normsetzung der Fall sei. Tarifnormen seien in einem autonomen Bereich angesiedelt. Eine Auslegung nach den Methoden der Gesetzesinterpretation sei mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar l46 . lJ7

138 139 140 141 142 143 144 145 146

Kempen/ Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 310. Kempen / Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 311 f. Kempen / Zachert. TVG, Grundlagen. Rdnr. 315 ff. Kempen/Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 320. Kempen/Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 325. Kempen/Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 326f., 329f. Kempen/Zachert. TVG, Grundlagen, Rdnr. 330. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 134 ff. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 136, 138. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 137.

240

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Ausgangspunkt für die Auslegung sei der Wortlaut. Dabei sei vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen, der aber von fachsprachlichen Bedeutungen verdrängt werden könne. Rechtsbegriffe würden im Zweifel in ihrem bisherigen Sinne benutzt. Möglicherweise könnten auch gleichlautende Bestimmungen in anderen Tarifverträgen weiterhelfen 147. Aus dem Gesamtzusammenhang könne sich ergeben, daß der eindeutige Wortlaut korrekturbedürftig ist. Der Inhalt von Wortlaut und Gesamtzusammenhang könne weiterhin aus Protokollnotizen, gemeinsamen Rundschreiben und authentischen Interpretationen abgeleitet werden l48 . Wenn sich aus Wortlaut und Gesamtzusammenhang der Wille der Tarifvertragsparteien nicht eindeutig ermitteln läßt, will Däubler weitere Erkenntnismittel zulassen. Dazu gehört die Entstehungsgeschichte, bei der vor allem Verhandlungsprotokolle aufschlußreich sein können 149. Relevant sei auch eine Tarifübung, soweit sie dem Tarifvertrag nicht widerspreche und von den Tarifvertragsparteien gebilligt wurde. Die Tarifgeschichte könne ebenfalls herangezogen werden. Außerdem sei davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine sinnvolle und verständliche Regelung treffen wollten 150. Sei die Auslegung weiterhin offen, so sei diejenige Auslegungsmöglichkeit auszuwählen, die gesetzes- und verfassungskonform ist. Schließlich sei in Zweifelsfällen die dem Arbeitnehmer günstigere Lösung vorzuziehen 151. Nach Dütz zeigen sich sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur deutliche Tendenzen zu einer subjektiven Auslegung l52 • Er wendet sich gegen die Gleichstellung von Gesetzes- und Tarifauslegung durch das BAG. Der Wille der Tarifvertragsparteien sei im Gegensatz zu dem des Gesetzgebers durchaus feststellbar. Ein vom Gericht objektiv ermittelter normativer Wille sei demgegenüber auch nicht leichter vorhersehbar l53 . Ferner bestehe die Gefahr der Entmündigung der Tarifvertragsparteien. Der Wille der Tarifvertragsparteien sei den Mitgliedern zudem kraft ihrer Mitgliedschaft zurechenbar. Schließlich sei es ungerechtfertigt, von völlig unterschiedlichen Auslegungsmethoden bei der Gesetzes- und Vertragsinterpretation auszugehen, da sie sich offensichtlich aufeinander zu bewegten 154. Däubler; Tarifvertragsrecht, Rdnr. 139ff. Däubler; Tarifvertragsrecht, Rdnr. 142f. 149 Däubler; Tarifvertragsrecht, Rdnr. 145. 150 Däubler; Tarifvertragsrecht, Rdnr. 147ff. 151 Däubler; Tarifvertragsrecht, Rdnr. 150f. 152 Dütz, FS für K. Molitor, S. 63, 70ff. 153 Dütz, FS für K. Molitor, S. 63, 72. 154 Dütz, FS für K. Molitor, S. 63, 72f.; ders., Anm. zu BAG, Urt. v. 23.l.1986, EzA § 4 TVG Bühnen Nr. 2. 147 148

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

241

DÜfZ zieht weiterhin Argumente aus der Verfassung heran, um die Bedeutung des Willens der Tarifvertragsparteien zu belegen. Art. 9 Abs. 3 GG gebiete, den feststellbaren übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien zu respektieren 155. Der Richter habe nicht die Befugnis, seine gestaltende Entscheidung an die Stelle der Lösung der Tarifvertragsparteien zu setzen. Eine vom Willen abweichende objektive Auslegung sei eine Korrektur tarifautonomer Regelungen, die den Gerichten nicht gestattet sei l56 .

Siegers hält die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode für eine Scheinfrage l57 . Auslegungsziel und -mittel stimmten bei der Auslegung von Gesetzen und Willenserklärungen überein. Ein entscheidender Unterschied bestehe nur bei der Lösung der falsa-demonstratio-Fälle I58 . Während eine Falschbezeichnung bei der Vertragsauslegung unschädlich sei, sei der Wille des Gesetzgebers nur dann beachtlich, wenn er im Gesetzeswortlaut verständlich ausgedrückt sei. Dieser Unterschied bestehe aber eigentlich nicht zwischen der Gesetzes- und der Vertragsauslegung, sondern hänge damit zusammen, wie groß der von der Erklärung betroffene Personenkreis sei. Der Grundsatz falsa demonstratio non nocet gelte auch im Vertragsrecht nicht bei Erklärungen an einen großen oder unbestimmten Personenkreis. Die zutreffende These, daß er auch bei Tarifverträgen nicht anwendbar sei, müsse also darauf gestützt werden, daß eine unbestimmte Zahl von Verbandsmitgliedern von den Erklärungen betroffen sei. Dagegen komme es nicht auf die Rechtsqualität der Tarifnormen an 159 .

Bei mehrdeutigem Wortlaut soll der festgestellte Parteiwille vor objektiven Auslegungsvarianten den Vorrang haben 160. Diese Abweichung gegenüber der Gesetzesauslegung begründet Siegers zunächst damit, daß Tarifverträge in kürzeren Abständen neugefaßt werden. Dadurch blieben Wille und Norminhalt in einem engeren Zusammenhang als bei Gesetzen, die im Regelfall eine längere Lebensdauer hätten. Anders als der Wille des Gesetzgebers sei der Wille der Tarifvertragsparteien auch leicht feststellbar. Schließlich hätten Tarifverträge in noch stärkerem Maße als Gesetze Komprornißcharakter. Eine objektive Sinndeutung könnte daher das Vertragsgleichgewicht erheblich bedrohen 161. 155 DÜfZ, FS für K. Molitor, S. 63, 74; ders., Anm. zu BAG, Urt. v. 23.1.1986, EzA § 4 TVG Bühnen Nr. 2. 156 DÜfZ, FS für K. Molitor, S. 63, 74f.; ders., Anm. zu BAG, Urt. v. 23.1.1986, EzA § 4 TVG Bühnen Nr. 2. 157 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1633. 158 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1633. 159 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1633. 160 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634. 161 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634. 16 Kamanabrou

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

242

Nur wenn bei mehrdeutigem Wortsinn ein übereinstimmender Partei wille nicht erkennbar sei, müsse nach objektiven Kriterien entschieden werden. Es sei das Auslegungsergebnis vorzuziehen, das zu einer vernünftigen, gerechten, zweckentsprechenden und praktisch brauchbaren Lösung des Streitfalles führt und dem Grundsatz von Treu und Glauben am besten gerecht wird 162. Den Wortlaut betrachtet Siegers als Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung. Maßgeblich sei der allgemein übliche Sprachgebrauch. Das gelte entgegen der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung auch für die Auslegung rechtlicher Fachausdrücke. Entscheidend könne nicht der Horizont fachlich geschulter Anwender sein, sondern nur die Verständnismöglichkeit juristischer Laien, die die Normadressaten seien 163. Authentische Interpretationen, die der Form des § lAbs. 2 TVG genügen, erkennt auch Siegers als verbindliche Normen an. Das gleiche soll für Begleittexte gelten, auf die im Tarifvertrag Bezug genommen wurde 164. Ansonsten könne der Richter entsprechende Texte im Wege der freien Beweiswürdigung in die Auslegung einbeziehen. Habe er auf diesem Weg einen übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien festgestellt, so dürfe er den Text nicht mehr in einem abweichenden Sinn auslegen. Schiedssprüche nach dem ArbGG will Siegers nicht als authentische Interpretationen verstehen 165. Im Rahmen der systematischen Auslegung seien zunächst die übrigen Normen des Tarifvertrages zu beachten. Außerdem könnten andere Tarifverträge des gleichen Sachbereiches herangezogen werden (z. B. Betrachtung von Mantel-, Lohn- und Urlaubstarifvertrag als Einheit). Mitunter könne auch ein Vergleich mit Tarifverträgen anderer örtlicher oder sachlicher Geltungsbereiche weiterhelfen. Schließlich sei der Grundsatz der gesetzes- und verfassungskonformen Auslegung hier einzuordnen 166. Historischen Gesichtspunkten mißt Siegers erhebliche Bedeutung zu. Mit ihrer Hilfe könne man vor allem den jeweiligen Interessenkonflikt herausarbeiten, der der Regelung zugrundeliegt. Neben Korrespondenz und Protokollnotizen will Siegers auch Teilnehmer von Vorgesprächen als Zeugen vernehmen. Die Tarifübung will er in Herschels Sinn berücksichtigen l67 . Bei der teleologischen Auslegung sollen zunächst konkrete Zwecke der Tarifnormen ermittelt werden. Dazu ist der Interessenkonflikt zu berück162 163

164 165 166 167

Siegers, Siegers, Siegers, Siegers, Siegers, Siegers,

DB DB DB DB DB DB

1967, 1967, 1967, 1967, 1967, 1967,

S. S. S. S. S.

1630, 1630, 1630, 1630, 1630, S. 1630,

1634. 1634. 1634f. 1635. 1635. 1635.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

243

sichtigen, der hinter der Regelung steht. Weiter sei das soziale Moment des Tarifvertrages zu berücksichtigen, ohne daß aber immer einseitig zugunsten der Arbeitnehmer zu entscheiden sei. Schließlich sei davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine vernünftige, sachentsprechende, gerechte und praktisch brauchbare Regelung treffen wollten l68 . In engen Grenzen will Siegers endlich auch Entscheidungen gegen den Wortlaut einer Tarifnorm zulassen, um damit bei veränderten Verhältnissen eine Anwendung ihrem Sinn und Zweck entsprechend zu erreichen l69 . Zöllner sieht den wesentlichen Unterschied zwischen der Vertrags- und der Gesetzesauslegung in der Geltung der falsa-demonstratio-Regel bei der Vertragsauslegung. Hieran entscheide sich auch die Frage, welche Grundsätze auf die Tarifvertragsauslegung anzuwenden seien 170. Aufgrund der engen Bindung der Tarifvertragsparteien zu ihren Mitgliedern hält Zöllner die Regeln über die Vertragsauslegung für anwendbar. Demnach komme es zunächst maßgebend auf den übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien an. Dafür spreche auch, daß der Wille der Tarifvertragsparteien im Gegensatz zum Willen des Gesetzgebers feststellbar sei 171. Auf den blanken Text könnten sich die Tarifunterworfenen nicht verlassen. Rechtssicherheitsaspekte würden durch das Schriftformerfordernis gewahrt. Daraus ergebe sich, daß der Wille der Tarifvertragsparteien in der Norm seinen Niederschlag gefunden haben müsse. Aufgrund des Rechtssicherheitszwecks des Schriftformerfordernisses könne hier der Wille der Parteien nicht schrankenlos beachtet werden. Eine falsa demonstratio schade aber nur dann, wenn der Wortlaut eindeutig vom Gewollten abweicht und die Falschbezeichnung nicht aus den Umständen erkennbar ist l72 .

Bei mehrdeutigen Tarifbestimmungen soll der feststell bare übereinstimmende Wille bindend sein. Nur wenn ein solcher Wille nicht zu ermitteln sei, könne eine teleologische Auslegung vorgenommen werden 173. Nach Wiedemann/Stumpj spricht für die subjektive Auslegung zunächst, daß Tarifverträge durch Interessenkompromisse gleichberechtigter und potentiell gleichstarker Partner zustande kommen. Dagegen werde der Gesetzgeber als einheitlicher Willensträger gedacht l74 . Des weiteren seien Tarifverträge leichter zu korrigieren als Gesetze. Außerdem sei der subjektive Wille der Tarifvertragsparteien anders als der Wille des Gesetzgebers 168 169 170 171

172 173 174 16*

Siegers, DB 1967, S. 1630, 1635f. Siegers, DB 1967, S. 1630, 1637. Zöllner, RdA 1964, S. 443, 449. Zöllner, RdA 1964, S. 443, 449. Zöllner, RdA 1964, S. 443, 449. Zöllner, RdA 1964, S. 443, 449. WiedemannlStumpf, § 1 TVG, Rdnr. 391 f.

244

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

feststellbar. Auch nach Ansicht von Wiedemann/Stumpf bewegen sich die Auslegungsmethoden aufeinander zu 175. Der Grundsatz falsa demonstratio non nocet soll aus Gründen der Rechtssicherheit auf Tarifverträge nur dann Anwendung finden, wenn den Normunterworfenen der Wille der Tarifvertragsparteien irgendwie eindeutig erkennbar ist 176. Wiedemann/ Stumpf unterscheiden zwischen allgemeinen und besonderen Auslegungsgrundsätzen. Im Rahmen der allgemeinen Auslegungsgrundsätze sei zunächst der Wortlaut der Tarifnorm zu deuten. Maßgeblich bleibe aber der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien, soweit nicht die Vertrauensinteressen der Normunterworfenen entgegenstünden 177. Ferner könne die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages zur Auslegung herangezogen werden. Um sie zu ermitteln, könnten Niederschriften und Verhandlungsprotokolle benutzt werden 178. Auch systematische und teleologische Argumente seien zu verwerten. Bei letzteren käme es entscheidend auf die wirtschaftlichen und sozialen Zwecke an 179. Eine bestimmte Rangfolge unter den Auslegungsmitteln lehnen Wiedemann/Stumpf ab l80 . Zu den besonderen Auslegungsregeln zählen sie zunächst den Grundsatz der gesetzes- und verfassungskonformen Auslegung l81 . Auch die Tarifübung könne bei der Auslegung berücksichtigt werden. Bei einer Tarifübung, die älter als der Tarifvertrag ist, sei davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien sie kannten und die Formulierung entsprechend verstanden haben. Nachträgliche Tarifübungen seien dagegen grundsätzlich unbeachtlich 182. Das arbeitsrechtliche Schutzprinzip soll bewirken, daß Tarifnormen im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden 183. Schließlich sei auch die Praktikabilität des Auslegungsergebnisses zu berücksichtigen, Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 393f. Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 396. 177 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 397. 178 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 398. 179 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 399f. 180 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 402. 181 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 403 ff. 182 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 406ff. 183 Wiedemann, Gemeins. Anm. zu BAG, Urt. v. 14.11.1973, AP Nr. 16 und BAG, Urt. v. 14.11.1973, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; Wiedemann/ Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 410. 175

176

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

245

soweit man dabei nicht in Konflikt mit dem zuvor ermittelten Ergebnis gerate 184. Zusätzlich zu den allgemeinen und besonderen Auslegungsgrundsätzen befassen sich Wiedemann/Stumpf mit Auslegungshilfsmitteln. Darunter verstehen sie die Protokollnotizen, soweit sie nicht bereits Bestandteil des Tarifvertrages sind 185. Außerdem zählen gemeinsame Erklärungen der Tarifvertragsparteien dazu, wenn sie nicht zu Wortlaut und Sinn des Tarifvertrages im Widerspruch stehen 186. Schuldrechtliche Abreden können ebenso eine Rolle spielen wie andere Tarifverträge. Zur Entstehungsgeschichte können Zeugen vernommen werden l87 . Eine authentische Interpretation, die nicht der Schriftform des § 126 BGB genügt, betrachten Wiedemann/Stumpf nur als ein Auslegungsmiuel unter anderen. Dagegen sehen sie authentische Interpretationen in der Form des § 1 Abs. 2 TVG und § 126 BGB als verbindlich an. Sie könnten bestätigende oder novellierende Wirkung haben l88 . Liedmeier sieht es als Auslegungsziel an, den übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien zu ermitteln. Könne dieser nicht festgestellt werden, so gelte das, was die jeweils andere Partei der Erklärung entnehmen konnte l89 . Damit der Wille der Tarifvertragsparteien in diesem Sinne Geltung erlangen könne, müsse er aber für die Normadressaten erkennbar sein. Die Erkennbarkeit werde in der Regel durch die Unterstützungsmöglichkeiten durch die Tarifvertragsparteien gewährleistet l9o . Außerdem müsse der Wille grundsätzlich mit dem Text der Tarifnorm vereinbar sein. Dafür bestehe nur dann kein schutzwürdiges Interesse der Normadressaten, wenn der Text den Willen der Tarifvertragsparteien offensichtlich nicht zutreffend wiedergibt, oder wenn der Wille der Tarifvertragsparteien für sie günstiger ist l91 .

Als Auslegungskriterien will Liedmeier den Text des Tarifvertrages und den Willen der Tarifvertragsparteien benutzen. Zum Text zählt er den Wortsinn des auszulegenden Ausdrucks und den tariflichen Bedeutungszusammenhang 192.

184 185 186 187 188 189 190 191 192

Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 411. Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 422ff. Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 426. Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 420f., 425. Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 427f. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S.

45 ff., 88. 57 ff., 88. 71 ff., 88, 90ff. 94 ff.

246

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Ein fachsprachlicher Sondersprachgebrauch soll den allgemeinen Sprachgebrauch nicht verdrängen, weil man nicht davon ausgehen könne, daß der Ausdruck stets in dieser Sonderbedeutung gebraucht und verstanden wird 193. Maßgeblich soll der Sprachgebrauch zur Zeit des Tarifabschlusses sein. Außerdem stehe das Auslegungsergebnis fest, wenn der Wortlaut eindeutig sei 194. Den Bedeutungszusammenhang will Liedmeier erst dann berücksichtigen, wenn der Wortsinn nicht bereits den Inhalt der Tarifnorm ergibt. Dabei seien neben den übrigen Tarifnormen auch schuldrechtliche Bestimmungen des Tarifvertrages zu berücksichtigen 195 . Das zweite Auslegungsmiuel, der Wille der Tarifvertragsparteien, kann nach Liedmeier mit Hilfe des Wortsinns und des Bedeutungszusammenhangs ermittelt werden. Zum Bedeutungszusammenhang sollen auch andere Tarifverträge desselben Geltungsbereichs und das höherrangige Recht gehören 196. Außerdem könnten Niederschriften über die Tarifverhandlungen, Zeugenaussagen und schriftliche Auskünfte der Tarifvertragsparteien Hinweise auf ihre Vorstellungen bei Abschluß des Vertrages geben. Gegebenenfalls könnten auch Äußerungen der Verhandlungsführer und die Auffassung der beteiligten Berufskreise eine Rolle spielen 197. Die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien könnten sich weiterhin aus einer Tarifübung ergeben. Dabei unterscheidet auch Liedmeier zwischen älteren und jüngeren Tarifübungen. Während erstere einen starken Anhaltspunkt für das Verständnis der Tarifvertragsparteien enthalten sollen, hält er letztere nur dann für besonders aufschlußreich, wenn die Tarifpartner sie kannten und billigten l98 . Fehlt es an dieser Voraussetzung, so könne die Tarifübung trotzdem unter Praktikabilitätsgesichtspunkten Bedeutung erlangen. Sie lasse erkennen, welches Ergebnis in der Tarifpraxis als vernünftig, gerecht, zweckorientiert und praktisch brauchbar angesehen wird 199. Schließlich könne sich auch aus Tarifverträgen anderer GeItungsbereiche etwas für die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien ergeben. Diese Erkenntnisquellen sollen ohne eine bestimmte Rangfolge heranzuziehen sein2OO •

193 194 195 196 197 198 199

200

Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier, Liedmeier,

Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche Arbeitsrechtliche

Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge, Kollektivverträge,

S. S. S. S. S. S. S. S.

95. 97 ff. 99 ff. 101 ff. 108 f. 109. 109f. 110.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

247

111. Zusammenfassung zu den Ansichten in der Literatur

So unterschiedlich die Positionen und die dafür vorgetragenen Argumente auch sind, läßt sich doch feststellen, daß niemand die objektive oder subjektive Auslegungstheorie in Reinform zugrundelegen will. Die Vertreter der objektiven Theorie berücksichtigen die vertragliche Entstehungsweise ebenso, wie die Vertreter der subjektiven Theorie die Vertrauensinteressen der Normunterworfenen beachten. Gemeinsam ist allen Stellungnahmen, daß sie die Gesetzesauslegung mit der objektiven Auslegungsmethode verknüpfen und die Vertragsauslegung mit der subjektiven Methode. Insbesondere die Autoren, die der subjektiven Theorie den Vorzug geben, indem sie die Grundsätze der Vertragsauslegung anwenden, halten den Unterschied zwischen der Gesetzes- und der Vertrags auslegung aber für gering. An mehreren Stellen wird betont, daß Auslegungsziel und -mittel übereinstimmen. Deutliche Unterschiede finden sich allerdings in der Auswahl, der Verknüpfung und der Gewichtung der Auslegungsmittel. Was teils als selbständiges Auslegungskriterium genannt wird, behandeln andere als nachrangiges Hilfsmittel oder lassen es zur Auslegung überhaupt nicht zu. Auf dieser Grundlage soll nun mit Hilfe der Erkenntnisse aus den beiden ersten Teilen ein eigener Lösungsansatz entwickelt werden.

c.

Die eigene Konzeption

I. Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung 1. Vorrang der 1nhaitsJeststellung

In den beiden ersten Teilen hat sich gezeigt, daß bei der Auslegung von Gesetzen und Rechtsgeschäften entweder eine Inhaltsfeststellung oder eine Inhaltsfestsetzung in Betracht kommt201 . Das gilt auch für Tarifverträge. Man kann entweder danach fragen, was die Tarifvertragsparteien gewollt haben, oder man gibt dem Text unabhängig davon einen Inhalt. Eine objektive Textbedeutung gibt es nicht202 . Bei der Auslegung von Gesetzen und Rechtsgeschäften hat die Inhaltsfeststellung Vorrang vor der Inhaltsfestsetzung. So ist es auch bei Tarifverträgen. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur die Gründung von Koalitionen, sondern auch ihre koalitionsspezifische Betätigung. Dazu gehört auch die Tarifautonomie, d. h. das Recht der Tarifvertragsparteien, die Arbeitsbedin201 202

Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 1. c); 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. a). V gl. oben 1. Teil 1. Kap. B. I. 1. b).

248

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

gungen durch Tarifverträge festzulegen 203 . Dieses Recht ist für die Tarifvertragsparteien nur dann von Bedeutung, wenn sie auch wirklich den Inhalt der Regelungen bestimmen und nicht nur die Worthülsen zusammenstellen, die dann von den Gerichten ausgefüllt werden. Aufgrund der Garantie der selbständigen Regelung der Arbeitsbedingungen kommt es also auch bei Tarifverträgen auf den von den Urhebern gewollten Inhalt an. Dabei ist es unerheblich, ob man von einer originären Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien ausgeht204 oder von einer staatlichen Ermächtigung 205 . Entscheidend ist - unabhängig von der Begründung -, daß den Tarifvertragsparteien die Regelungsmacht für einen bestimmten Bereich zusteht. 2. Zulässigkeit der Inhaltsfestsetzung bei Tarifverträgen

Führt die Inhaltsfeststellung nicht zum Ziel oder sind aus Vertrauensschutzgründen Abweichungen erforderlich, so wird bei der Auslegung von Gesetzen und Rechtsgeschäften eine Inhaltsfestsetzung vorgenommen. Bei Verträgen ergab sich die Zulässigkeit der Inhaltsfestsetzung aus dem Gesetz. Für die Auslegung von Gesetzen gibt es keine gesetzliche Regelung, nach der die Inhaltsfestsetzung durch den Richter zulässig ist. Das bedeutet aber nicht, daß sie nicht gestattet ist. Bei Gesetzen ist die Inhaltsfestsetzung aus Praktikabilitätserwägungen erwünscht. Sie ist bei Beachtung bestimmter Regeln auch unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten unbedenklich 206 • Deshalb kann auch bei Gesetzen eine Inhaltsfestsetzung stattfinden. Da es bei Tarifverträgen keine gesetzliche Regelung gibt, aus der man die Befugnis des Richters zur Inhaltsfestsetzung ableiten kann, muß man hier wie bei Gesetzen prüfen, ob der Richter anstelle der eigentlich maßgeblichen Instanz den Inhalt der Regelung festsetzen darf. Diese Frage hängt weder mit der vertraglichen Entstehung noch mit der normativen Wirkung von Tarifverträgen zusammen. Es geht vielmehr um die eigene Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, von der abgewichen werden soll. Da es für die Tarifvertragsauslegung keine gesetzlichen Auslegungsvorschriften gibt, muß unter Berücksichtigung der Tarifautonomie geprüft werden, ob der Richter gegebenenfalls anstelle der eigentlich maßgeblichen Instanz den Inhalt der Regelung festsetzen darf. 203 Jarass/Pieroth, Art. 9 GG, Rdnr. 29; von Münch/Kunig-Löwer, Art. 9 GG, Rdnr.71. 204 So Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 102ff.; Hersehel, FS für Bogs, S. 125, 129ff.; Molitor, Außerstaatliches Recht, S. 22; Schnorr, RdA 1955, S. 3, 8. 205 BAG, Urt. v. 23.3.1957, AP Nr. 18 zu Art. 3 GG; Hueek/Nipperdey, Arbeitsrecht II/l, S. 28, 193; Krüger, RdA 1957, S. 201, 202f.; Nikiseh, Arbeitsrecht H, S.45ff. 206 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. I.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

249

Gegenüber der Situation bei Gesetzen ergeben sich in dieser Frage bei Tarifverträgen einige Unterschiede. Die Nichtigkeit einer einzelnen Tarifnorm zieht im Regelfall weniger weitreichende Konsequenzen nach sich als die Nichtigkeit einer gesetzlichen Regelung. Zwar ist auch das System der Tarifverhandlungen schwerfällig, so daß zumindest vorübergehend Unklarheit hinsichtlich des geltenden Rechts herrschen würde. Eine Neuregelung ist aber trotzdem eher zu erwarten als bei Gesetzen, da allein schon der Zuständigkeitsbereich der Tarifvertragsparteien wesentlich enger ist als der des Gesetzgebers und es bei Tarifverträgen auch völlig normal ist, denselben Gegenstand regelmäßig neu auszuhandeln. Dagegen werden gesetzliche Regelungen nach Möglichkeit einmal für möglichst lange Zeit beschlossen. Eine Nachbesserung ist hier kaum zu erwarten 207 . Dennoch würde es zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten kommen, wenn man Tarifvertragsnormen für nichtig halten wollte, für die man keinen übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien feststellen kann. Für das verwandte Problem der Fortbildung von Tarifverträgen weist Liedmeier darauf hin, daß möglicherweise eine Partei nicht zur Neuverhandlung bereit ist, so daß eine Lücke lange bestehen kann 208 • Deshalb ist auch bei Tarifverträgen ein Bedürfnis für die Inhaltsfestsetzung zu bejahen. Anders als bei der Inhaltsfestsetzung bei Gesetzen setzt man sich mit der Inhaltsfestsetzung bei Tarifverträgen aber möglicherweise über den Willen eines Beteiligten hinweg. Bei der Gesetzesauslegung ist ein gesetzgeberischer Wille entweder feststellbar oder nicht. Führt die Inhaltsfeststellung nicht zum Ziel, so besteht ein Konflikt nicht mit dem Gesetzgeber des auszulegenden Gesetzes, sondern "nur" mit dem Gesetzgeber des Auslegungszeitpunkts. Bei Tarifverträgen kann man zusätzlich in Konflikt mit einer der oder sogar mit bei den Tarifvertragsparteien geraten. Allerdings ist nicht einseitig auf den Willen der Tarifvertragsparteien Rücksicht zu nehmen. Sie treffen Regelungen, die die Rechtsposition der Tarifunterworfenen maßgeblich bestimmen. Mit dieser Aufgabe sind nicht nur Freiheit und Selbstbestimmung verbunden, sondern auch Verantwortung. Aus dieser Verantwortlichkeit läßt sich die Bindung der Tarifvertragsparteien an nicht Gewolltes begründen. Allerdings darf daraus kein Freibrief werden, den Tarifvertragsparteien wahllos Regelungen unterzuschieben. Es kann ihnen nur das zugerechnet werden, was vernünftigerweise unter ihren Erklärungen zu verstehen war. Es liegt in ihrer Hand, ihren Willen verständlich kundzugeben und in Geltung zu setzen. Immerhin haben die Parteien mit Abschluß des Tarifvertrages zu erkennen gegeben, 207 Vgl. auch Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634; WiedemannlStumpf, § 1 TVG, Rdnr.393. 208 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 123 f.

250

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

daß sie wirksame Regelungen treffen wollen. Deshalb müssen sie sich im Interesse derer, für die sie Regelungen treffen, auch an dem für sie erkennbaren Sinn festhalten lassen. Dabei handelt es sich nicht um einen richterlichen Übergriff in die Tarifautonomie, da der Richter nicht frei festlegt, was Inhalt der Vereinbarung ist. 3. Einheitliche oder personenhezogene InhaltsJestsetzung

Während bei Gesetzen die Inhaltsfestsetzung ein allgemeingültiges Resultat ergibt, kann bei Rechtsgeschäften der festgesetzte Inhalt der Erklärung(en) je nach der Verständnismöglichkeit des Adressaten variieren. Bei Tarifverträgen kommt ebenso wie bei Gesetzen nur ein einheitlicher, für alle Normadressaten gleichermaßen geltender Norminhalt in Betracht. Dem liegt der Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit zugrunde, der so selbstverständlich erscheint, daß er kaum Erwähnung findet 209 . Die Gerichte müssen Normen gern. Art. 3 Abs. I GG gleich anwenden. Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn bestehendes Recht zugunsten oder zu Lasten einzelner Personen oder Personengruppen nicht angewandt wird 21O . Das beinhaltet auch, daß Normen gleich ausgelegt werden müssen. Nur bei gleicher Auslegung besteht Rechtsanwendungsgleichheit. Zwar sind Rechtsprechungsänderungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Abgesehen von gelegentlichen Fehlerkorrekturen müssen Rechtsnormen aber einheitlich ausgelegt werden. Soweit es um die Auslegung der Rechtsnormen des Tarifvertrages geht, sind die Gerichte an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Diese Lösung ist unabhängig von der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Sie beruht auf der Bindung der Gerichte an Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsnormcharakter tarifvertraglicher Bestimmungen. 4. Zwischenergebnis

Auch bei der Auslegung von Tarifverträgen läßt sich zwischen Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung unterscheiden. Dabei hat die Inhaltsfeststellung den Vorrang. Die Inhaltsfestsetzung muß - wie bei Gesetzen - einheitlich für alle Normadressaten erfolgen. Bei der Inhaltsfestsetzung sind die Ergebnisse der Inhaltsfeststellung zu berücksichtigen.

209 Siehe dazu Schoch, DVBI 1988, S. 863, 873, der die Rechtsanwendungsgleichheit wegen Art. 20 Abs. 3 GG an sich für selbstverständlich hält. 210 BVerfG, Beschl. v. 14.1.1986, E 71, S. 354, 362; v. Münch/Kunig-Gubelt, Art. 3 GG, Rdnr. 44; Schmidt-Bleibtreul Klein, Art. 3 GG, Rdnr. 35.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

251

11. Die Auslegungsmittel bei der Inhaltsfeststellung

Das Vorgehen bei der Inhaltsfeststellung hängt nicht von der Wirkungsweise der Regelung ab, sondern von der Art und Weise ihres Zustandekommens. Der Unterschied liegt darin, ob man den Willen einer maßgeblichen Instanz ermitteln muß, der dann den anderen Beteiligten zugerechnet wird, oder eine Willensübereinstimmung zwischen mehreren Parteien. Es handelt sich hier nicht um ein Wertungsproblem, sondern um einen Unterschied in den tatsächlichen Anforderungen. Beim Tarifvertrag ist das Vorgehen zur Inhaltsfeststellung dasselbe wie bei Verträgen: Es sind zwei Parteien beteiligt, die durch übereinstimmende Willenserklärungen Normen setzen. Die normative Wirkung der Regelungen des Tarifvertrages hat aber Auswirkungen auf die Auswahl der Auslegungsmittel. Im folgenden werden die in Rechtsprechung und Literatur verwandten Auslegungskriterien daraufhin untersucht, ob und in welcher Reihenfolge sie zur Auslegung von Tarifverträgen herangezogen werden können.

1. Die Auslegung nach dem Wortsinn a) Der Wortsinn als Auslegungsmittel Auch bei der Auslegung von Tarifverträgen soll der Wortsinn Ausgangspunkt der Auslegung sein. Dabei wird in der Regel die allgemeinsprachliche Bedeutung eines Ausdrucks ermittelt. Sie soll aber von der fachsprachlichen oder rechtlichen Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Definition der Tarifvertragsparteien verdrängt werden 211 . Ebenso wie bei der Gesetzes- und der Vertragsauslegung ist die Ermittlung des Wortsinns aber als Auslegungsziel und nicht als Auslegungsmittel anzusehen. Nach dem Sinn einer Erklärung zu suchen heißt zugleich, ihren Wortsinn zu ermitteln 212 . Das persönliche Verständnis des Interpreten, das sich normalerweise mit der üblichen Bedeutung des verwandten Ausdrucks deckt, bietet nur einen Einstieg in die Auslegung. Es ist für das Auslegungsergebnis aber in keiner Weise bestimmend 213 . Letztlich kommt es auf 211 Vgl. für die Rechtsprechung oben 4. Teil 1. Kap. A.II.3.a); aus der Literatur Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 139f.; Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 238; Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 31lf. Kritisch zum Sondersprachgebrauch Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 183f.; Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 95; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634. . 212 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B.II. 1. a); 2. Teil 1. Kap. B.1. 3. b) aa). 213 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B.II.1.a); 2. Teil 1. Kap. B.1.3.b)aa).

252

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

das übereinstimmende Verständnis der Tarifvertragsparteien oder auf die normativ zu ermittelnde Bedeutung im konkreten Fall an. Was der Ausdruck üblicherweise bedeutet, ist demgegenüber irrelevant. Maßgeblich ist nicht irgendein mögliches Verständnis, sondern das, von dem die Parteien übereinstimmend ausgegangen sind, oder das, welches nach den Umständen von den Normadressaten zugrunde gelegt werden mußte 214 • Daher ist auch im Ergebnis der Ansicht in der Literatur zu folgen, nach der nicht unbedingt anzunehmen ist, daß die Tarifvertragsparteien von der fachsprachlichen oder allgemeinen rechtlichen Bedeutung eines Ausdrucks ausgegangen sind 215 . Die Begründung Siegers ist dabei allerdings unzutreffend. Es kommt nicht entscheidend auf die Verständnismöglichkeit juristischer Laien an 216 , sondern auf den Willen der Tarifvertragsparteien. Ob diese tatsächlich den Sondersprachgebrauch benutzt haben, oder ob sie möglicherweise ein eigenes Verständnis des Ausdrucks hatten, muß jeweils untersucht werden217 • Wenn man den Wortsinn nicht als Auslegungskriterium ansieht, scheidet auch eine Beschränkung der Auslegung durch einen "eindeutigen Wortsinn" aus, wie sie das BAG vertritt218 . Ein eindeutiger Wortsinn existiert - von Zahlwörtern und Eigennamen abgesehen - nicht, so daß man allein aufgrund einer Betrachtung des Textes der auszulegenden Norm nicht zu einem endgültigen Auslegungsergebnis gelangen kann. Das BAG setzt sich auch selbst über einen von ihm als eindeutig anerkannten Wortsinn hinweg, wenn ihm eine abweichende Auslegung geboten scheint219 . b) Der Wortsinn als Grenze der Auslegung Der mögliche Wortsinn ist bei Tarifverträgen ebensowenig bestimmbar wie bei Gesetzen und Rechtsgeschäften. Er kann deshalb auch die Auslegung nicht begrenzen22o•

Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B.1. 3. b) aa). Hersehel, FS für E. Molitor, S. 161, 183f.; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634. 216 So aber Siegers, DB 1967, S. 1630, 1634. 217 Hersehel, FS für E. Molitor, S. 161, 183f. 218 Vgl. zur Ansicht des BAG die Nachweise in Fn. 8. 219 BAG, Vrt. v. 7.12.1989, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Vrt. v. 24. 11. 1993, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Vrt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 220 Zum Wortlaut als Grenze der Auslegung siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 1. b); 2. Teil 1. Kap. B.1.3.b)aa). 214

215

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

253

2. Der Wille der TariJvertragsparteien Nach der Rechtsprechung des BAG ist der Wille der Tarifvertragsparteien bei der Auslegung mitzuberücksichtigen221. In der Literatur wird dieser Wille nur vereinzelt als Auslegungskriterium genannt 222 . Mit dem Willen der Tarifvertragsparteien können - entsprechend der Unterscheidung bei den Vorstellungen des Gesetzgebers - zwei Dinge gemeint sein. Es kann sich zum einen um ihre Vorstellungen vom Inhalt der Tarifnormen handeln. In diesem Sinne sind die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien das Auslegungsziel. Zum anderen können darunter die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien vom geregelten Sachbereich und ihr Regelungsplan verstanden werden. In diesem Sinne handelt es sich um Auslegungsmittel 223 . Da das BAG den Willen der Tarifvertragsparteien bei der Auslegung mitberücksichtigen will, scheint es ihn im zuletzt genannten Sinn zu verstehen. Die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien vom geregelten Sachbereich und ihr Regelungsplan erschließen sich aber häufig erst auf Umwegen, so daß sie nicht unmittelbar zur Auslegung herangezogen werden können. Für die Gesetzesauslegung hat sich gezeigt, daß sich die Vorstellungen des Gesetzgebers und sein Regelungsplan in der Regel aus systematischen und historisch-teleologischen Aspekten ergeben. Nur bei der subjektiv-teleologischen Auslegung entfällt die Ermittlung der Gesetzeszwecke, sie können direkt zur Erkenntnis der gesetzgeberischen Inhaltsvorstellungen herangezogen werden224 . Diese Feststellungen gelten gleichermaßen für die Auslegung von Rechtsgeschäften 225 . Auch für die Auslegung von Tarifverträgen ergibt sich nichts anderes. Wenn die Tarifvertragsparteien ihre Absichten nicht im Tarifvertrag oder in den Materialien (Verhandlungsprotokollen) ausdrücklich genannt haben, bleibt nur die Möglichkeit, aus der Entstehungsgeschichte oder der Systematik Schlüsse auf ihren Regelungsplan zu ziehen. Obwohl das BAG also völlig zu Recht den Willen der Tarifvertragsparteien bei der Auslegung von Tarifverträgen berücksichtigen will, sollte er nicht als selbständiges Auslegungskriterium in den Kanon der Auslegungsmittel aufgenommen werden. Die Auslegung nach dem Willen der Tarifvertragsparteien geht in der systematischen, der historischen und der subjektiv221 222

Vgl. die Nachweise in Fn. 8. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 94, 10 I ff.; Neumann, ArbuR

1985, S. 320, 322. 223

Vgl. zur Unterscheidung bei den "Vorstellungen des Gesetzgebers" oben

1. Teil 1. Kap. B. 11.4. a). 224 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11.4. a). 225 Siehe oben 2. Teil 2. Kap. B.1.3.b)dd)(l).

254

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

teleologischen Auslegung auf. Außerhalb dieser drei herkömmlichen Auslegungskriterien spielt der Wille der Tarifvertragsparteien als Auslegungsmittel keine Rolle. Deshalb sind die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien im Rahmen dieser Auslegungskriterien zu berücksichtigen.

3. Die Entstehungsgeschichte Sowohl bei der Auslegung von Gesetzen als auch bei der Auslegung von Rechtsgeschäften dient die Entstehungsgeschichte als wesentliches Mittel, um den Willen der maßgeblichen Person(en) festzustellen. Ebenso wie man bei Gesetzen und Rechtsgeschäften zwischen der Vorgeschichte und der Entstehungsgeschichte im engeren Sinne unterscheiden kann226 , kann man bei der Entstehungsgeschichte von Tarifverträgen von der Tarifgeschichte (Vorgeschichte) und der Entstehungsgeschichte im engeren Sinn sprechen. Allerdings sind Hinweise aus der Entstehungsgeschichte bei der Gesetzes- und Vertragsauslegung nicht im gleichen Umfang verwertbar. Bei der Gesetzesauslegung darf nur schriftliches, ,veröffentlichtes Material der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Gremien benutzt werden. Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften können darüber hinaus auch private Aufzeichnungen einer Seite Aufschlüsse auf ihren Willen geben227 . Die Beschränkung bei der Gesetzesauslegung ergibt sich aus Gleichbehandlungs- und Rechtssicherheitsaspekten. Demgegenüber ist bei der Auslegung von Rechtsgeschäften eine Gleichbehandlung der potentiell Betroffenen nicht erforderlich. Ihr Vertrauen wird bei der Auslegung des Rechtsgeschäfts jeweils individuell berücksichtigt, so daß Einschränkungen bei den Erkenntnismi tteln entbehrlich sind 228. Bei Tarifverträgen ist ebenso wie bei Gesetzen auf die einheitliche Geltung für alle Normunterworfenen zu achten. Wie Gesetze sollen sie eine Vielzahl von Fällen abstrakt generell regeln. Damit verträgt sich nur eine einheitliche Auslegung, weshalb allen Auslegenden dieselben Auslegungsmittel zugänglich sein müssen. Bei Gesetzen führt das dazu, daß nur schriftliche, veröffentlichte Materialien benutzt werden dürfen. Dementsprechend sind auch bei der Tarifvertragsauslegung nur schriftliche Äußerungen zu berücksichtigen. Wollte man aber für sie auch eine Veröffentlichung der Materialien verlangen, so wäre die Berücksichtigung der Verhandlungsprotokolle praktisch unmöglich, da sie nicht wie Gesetzesmaterialien publiziert werden. Auf die Veröffentlichung der Materialien kann aber verzichtet werden, wenn sie über die Tarifvertragsparteien zugänglich 226 227 228

Siehe oben I. Teil I. Kap. B.II.2.a); 2. Teil I. Kap. B.1.3.b)bb). Siehe oben 3. Teil I. Kap. A. Siehe oben 3. Teil I. Kap. A.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

255

sind 229. Damit haben es die Tarifvertragsparteien selbst in der Hand, ihrem Willen Beachtung zu verschaffen. Allerdings muß gewährleistet werden, daß jeder, den die Auslegung des Tarifvertrages rechtlich betrifft, Zugang zu den Materialien erhält. Wenn im Einzelfall Verhandlungsprotokolle zurückgehalten würden, wäre der daraus ersichtliche Wille der Tarifvertragsparteien für den Betroffenen mangels Erkennbarkeit nicht beachtlich. Dagegen wären die Materialien für denjenigen zu berücksichtigen, der Zugang zu ihnen hat. So könnte es in verschiedenen Prozessen zu einer uneinheitlichen Auslegung desselben Tarifvertrages kommen, was mit seiner Normwirkung nicht zu vereinbaren wäre. Deshalb muß man den Tarifvertragsparteien zugleich die Pflicht auferlegen, Materialien auch tatsächlich an diejenigen herauszugeben, die ein berechtigtes Interesse an der Auslegung geltend machen. Dieser Verpflichtung können sich die Tarifvertragsparteien nur entziehen, wenn sie die Verhandlungsprotokolle für alle Beteiligten für unbeachtlich erklären. Wenn sie ausnahmslos unzugänglich sind, ist eine gleichmäßige Auslegung ebensogut gewährleistet. Ob die Form des § 126 BGB gewahrt ist, spielt für die Verwertbarkeit der Protokolle keine Rolle. Wenn es an der Unterschrift fehlt, handelt es sich um Material, das bei der historischen Auslegung berücksichtigt werden kann. Sind die Protokolle von beiden Tarifvertragsparteien unterschrieben, so sind sie Bestandteil des Tarifvertrages. Ihre Inhalte können dann im Rahmen der subjektiv-teleologischen Auslegung herangezogen werden 23o . Für ihr Gewicht ergeben sich daraus keine Unterschiede. Die Aussagekraft der Protokolle hängt vielmehr davon ab, wie konkret der Wille der Tarifvertragsparteien im Einzelfall aus ihnen hervorgeht. Auch in zeitlicher Hinsicht unterscheiden sich die Gesetzes- und die Rechtsgeschäftsauslegung beim berücksichtigungsfahigen Material. Bei der Gesetzesauslegung sind nur Äußerungen beachtlich, die vor der Beschlußfassung der Abgeordneten vorlagen, während Rechtsgeschäfte auch mit Hilfe nachträglicher Erklärungen ausgelegt werden können. Bei Tarifverträgen kommt es zwar nicht auf die Erkennbarkeit für Abgeordnete an, eine nachträgliche authentische Interpretation durch die Tarifvertragsparteien könnte aber eine uneinheitliche Auslegung des Tarifvertrages nach sich ziehen. Das wäre dann der Fall, wenn vom zunächst erzielten Auslegungsergebnis durch die Erklärung der Tarifvertragsparteien abge229 Zum Erfordernis des Zugangs der Normunterworfenen zu Erkenntnismitteln betreffend den Willen der Tarifvertragsparteien Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 57 ff. 230 Zur subjektiv-teleologischen Auslegung siehe unten 4. Teil 1. Kap. C. 11. 5. a).

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

wichen werden müßte. Nachträgliche Äußerungen können mangels Erkennbarkeit für die Betroffenen nicht berücksichtigt werden 231 . Allerdings können solche nachträglichen authentischen Interpretationen in der gern. § 1 Abs. 2 TVG für Tarifverträge vorgeschriebenen Schriftform abgefaßt werden. In diesem Fall handelt es sich um Änderungen des Tarifvertrages232 , die den Grenzen der Rückwirkung unterliegen 233 . Authentische Interpretationen können aber schon mit Abschluß des Tarifvertrages vorliegen. In diesem Fall gilt für sie dasselbe wie für Protokollnotizen. Sind die Interpretationen nicht in der Form des § 126 BGB abgefaßt, so können sie bei der historischen Auslegung berücksichtigt werden. Wenn sie den Anforderungen des § 126 BGB genügen, können sie zur subjektiv-teleologischen Auslegung herangezogen werden. Auch hier ergibt sich in der Gewichtung kein Unterschied. Die Interpretation, die sich "nur" in den Materialien findet, gibt genauso Aufschluß auf den Willen der Tarifvertragsparteien wie diejenige, die in den Tarifvertrag aufgenommen wurde. Bei ersterer ist lediglich genauer zu prüfen, ob es sich tatsächlich um ein gemeinsames Verständnis der Parteien handelt.

4. Der Gesamtzusammenhang Mit dem Gebot, den Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen, wird die systematische Auslegung angesprochen. Sie ist bei der Auslegung von Tarifverträgen ebenso heranzuziehen wie bei .der Gesetzes- und Vertragsauslegung234 . Umstritten ist die Reichweite dieses Auslegungsmittels. Neben Normen aus dem auszulegenden Tarifvertrag wollen einige Autoren auch andere Tarifverträge desselben Geltungsbereichs und sogar Tarifverträge anderer Geltungsbereiche heranziehen 235 • Zunächst ist daran zu erinnern, daß nur solche Vorschriften zur Auslegung herangezogen werden können, die zur Zeit des Erlasses der Regelung bestanden, gleichzeitig erlassen wurden oder zumindest schon im fortge231

gung.

Richardi, Anm. zu BAG, Urt. v. 30.9.1971, AP Nr. 121 zu § I TVG Ausle-

Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht IVl, S. 36l. Zur Rückwirkung von Tarifverträgen Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 204ff.; KoberskilClasen/Menzel, § 4 TVG, Rdnr. SOff.; Wiedemann/Stumpf, § 4 TVG, Rdnr. 132ff. 234 Zur systematischen Auslegung bei der Gesetzesauslegung siehe oben l. Teil l. Kap. B. 11. 3.; zur systematischen Auslegung bei der Rechtsgeschäftsauslegung siehe oben 2. Teil l. Kap. B.I.3.b)cc). 235 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 110; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1635; dagegen sprechen sich ausdrücklich Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 398 aus. 232

233

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

257

schrittenen Stadium der Beratung standen236 . Andere Normen konnten die Tarifvertragsparteien noch nicht in ihre Planungen einbeziehen, sie können also auf ihren Willen keinen Aufschluß geben. Andere Tarifverträge desselben Geltungsbereiches stehen, wenn sie diese Voraussetzungen erfüllen, in der Regel in einem engen Zusammenhang zum auszulegenden Tarifvertrag (z. B.: Gehalts- und Urlaubstarifvertrag). Allerdings kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß die Tarifvertragsparteien einen Ausdruck in einem anderen Sachzusammenhang abweichend verstanden haben. Deshalb sind weitere Tarifverträge desselben Geltungsbereiches nur mit Vorsicht zur Auslegung heranzuziehen. Noch zurückhaltender muß man bei der Auslegung mit Hilfe anderer Tarifverträge eines anderen Geltungsbereiches sein. Die Verhältnisse, die jeweils zu regeln waren, können so unterschiedlich sein, daß die Tarifverträge verschieden auszulegen sind. Tarifverträge eines anderen Geltungsbereiches werden also nur sehr selten in einem systematischen Zusammenhang zum auszulegenden Tarifvertrag stehen. Zur systematischen Auslegung wird z. T. auch das Gebot der gesetzesund verfassungskonformen Auslegung gerechnet237 . Dieses Auslegungsmittel soll wegen seiner wachsenden Bedeutung in einem eigenen Punkt behandelt werden.

5. Die teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung kann man in die subjektiv-teleologische und die objektiv-teleologische Auslegung unterteilen. a) Die subjektiv-teleologische Auslegung Bei der subjektiv-teleologischen Auslegung von Tarifverträgen schließt man von den Zweckvorstellungen der Tarifvertragsparteien auf den Inhalt der auszulegenden Norm. Meist muß man diese Zweckvorstellungen erst mit Hilfe der historisch-teleologischen oder der systematischen Auslegung ermitteln. Sie können aber auch ausdrücklich in den Materialien genannt sein. In diesem Fall kann man sie im Rahmen der historischen Auslegung heranziehen. Schließlich können auch im Tarifvertrag selbst Zweckvor-

236 Vgl. auch Baden, Gesetzgebung, S. 92; a.A. Esser, Vorverständnis, S. 127, der die systematische Auslegung "zur Herstellung der aktuellen Ordnungseinheit" benutzen will. 237 Siegers, DB 1967, S. 1630, 1635. 17 Kamanabrou

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

schriften enthalten sein, mit deren Hilfe man andere Normen des Tarifvertrages auslegen kann238 • b) Die objektiv-teleologische Auslegung Bei der Auslegung von Gesetzen sind zur objektiv-teleologischen Auslegung die Folgenbetrachtung und das Kriterium der Sachgerechtigkeit heranzuziehen239 . Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften ist unter der objektiv-teleologischen Auslegung die Auslegung unter Berücksichtigung der Verkehrs sitte zu verstehen 24o • Bei der Tarifvertragsauslegung kommen die Kriterien in Betracht, die das BAG unter dem Oberbegriff "Praktikabilität" der Regelung zusammengefaßt hat. Im Zweifel soll diejenige Auslegungsmöglichkeit ausgewählt werden, die zu einer sachgerechten, vernünftigen, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. Damit sind die Folgenbetrachtung (vernünftige, praktisch brauchbare Regelung) und das Kriterium der Sachgerechtigkeit angesprochen. Das Merkmal "zweckorientiert" hat hier jedoch keinen eigenen Aussagewert. Entweder sollen subjektive Zwecke beachtet werden, wofür die historische, systematische und subjektiv-teleologische Auslegung Raum bietet, oder es geht um objektive Zwecke, dann handelt es sich aber nur um eine Zusammenfassung der Kriterien "sachgerecht", "vernünftig" und "praktisch brauchbar". Sowohl bei der Auslegung von Rechtsgeschäften als auch bei der Gesetzesauslegung dient die objektiv-teleologische Auslegung aber nicht der Inhaltsfeststellung, sondern der Inhaltsfestsetzung. Daran ändert sich auch bei der Auslegung von Tarifverträgen nichts. Mit den genannten objektiv-teleologischen Kriterien ermittelt man nicht den Willen der Tarifvertragsparteien. Man gibt mit ihrer Hilfe der Norm einen Inhalt, wenn man den Willen der Tarifvertragsparteien nicht feststellen kann. Deshalb können objektiv-teleologische Kriterien bei der Inhaltsfeststellung nicht benutzt werden. 6. Die gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung

Was unter gesetzes- und verfassungskonformer Auslegung von Tarifverträgen zu verstehen ist, wird in der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung nicht definiert. Bei der verfassungskonformen Auslegung bezieht man sich auf den Begriff aus der Gesetzesauslegung. Die gesetzeskonforme Auslegung soll offensichtlich entsprechend verstanden werden. 238 239 240

Vgl. für die Auslegung von Gesetzen oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 4. a). Siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. 11. 1. Siehe oben 2. Teil 1. Kap. B.1.3.b)dd)(2).

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

259

Für die Inhaltsfeststellung können diese Kriterien nicht genutzt werden 241 • Übertragen auf die Auslegung von Tarifverträgen dient die verfassungskonforme Auslegung dazu, einen unklaren Norminhalt im Einklang mit der Verfassung zu bestimmen oder eine nach dem Willen der Tarifvertragsparteien zu weite Bestimmung auf das nach der Verfassung zulässige Maß zu reduzieren. Auch eine entsprechend verstandene gesetzeskonforme Auslegung kann auf den Willen der Tarifvertragsparteien keinen Hinweis geben. 7. Die praktische Tarifübung und die Anschauung der beteiligten Berufskreise

Eine Tarifübung kann schon vor dem Zustandekommen der auszulegenden Tarifnorm bei der Anwendung eines Vorläufers entstanden sein. Sie kann aber auch erst nachträglich aufkommen. Ältere und jüngere Tarifübungen haben unterschiedliche Bedeutung für die Auslegung 242 • Eine ältere Tarifübung kann im Rahmen der Vorgeschichte berücksichtigt werden. Es handelt sich bei ihr nicht um ein selbständiges Auslegungskriterium, sondern um einen Teilaspekt der historischen Auslegung. Eine jüngere Tarifübung kann keinen Aufschluß auf den Willen der Tarifvertragsparteien geben, da sie beim Zustandekommen des Tarifvertrages noch nicht existierte. Sie kann deshalb zur Inhaltsfeststellung nicht herangezogen werden. Mayer-Maly will sie bei der Auslegung überhaupt nicht berücksichtigen, weil er nachträgliche Veränderungen des Tarifvertrages durch die Praxis ablehne 43 . Eine jüngere Tarifübung kann aber im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung Hinweise darauf geben, was die Normunterworfenen als sachgerecht, vernünftig und praktisch brauchbar angesehen haben 244 . Sie kann also bei der Inhaltsfestsetzung eine Rolle spielen. Auch eine jüngere Tarifübung ist aber kein selbständiges Auslegungskriterium, sondern hilft nur, die genannten objektiv-teleologischen Kriterien im Einzelfall auszufüllen. Die Auffassung der beteiligten Berufskreise betrachtet das BAG zu Recht nicht als selbständiges Auslegungskriterium. Wie es zutreffend begründet, sagt sie über den Willen der Tarifvertragsparteien nichts aus 245 . Sie kann Für die Gesetzesauslegung siehe oben 1. Teil 1. Kap. B. 11. 5. KempenlZaehert, Grundlagen, Rdnr. 320; Hersehel, FS für E. Molitor, S. 161, 186f.; Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 109; LöwisehlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 407f.; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1635; WiedemannlStumpf, § 1 TVG, Rdnr. 406 ff. 243 Mayer-Maly, Anm. zu BAG, Urt. v. 26.4.1966, SAE 1966, S. 249, S. 251, 252. 244 V gl. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 110. 245 BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 241

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17*

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

deshalb zur Inhaltsfeststellung nicht herangezogen werden. Das BAG weist der Auffassung der beteiligten Berufskreise lediglich eine ergänzende und bestätigende Funktion zu. Hilfreich kann diese Auffassung im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung sein. Sie kann - ähnlich wie eine jüngere Tarifübung - Aufschluß darauf geben, was von den Betroffenen als sachgerechte, vernünftige und praktisch brauchbare Regelung anerkannt wird. Dabei ist die Auffassung der beteiligten Berufskreise aber kein selbständiges Auslegungskriterium, sondern ebenfalls nur Hilfsmittel, um diese Begriffe im Einzelfall· auszufüllen. Demnach sind weder Tarifübungen noch die Auffassung der beteiligten Berufskreise als Auslegungskriterien einzustufen. Sie können aber gegebenenfalls die einzelnen Kriterien der objektiv-teleologischen Auslegung ausfüllen.

8. Auslegung mit Hilfe des arbeitsrechtlichen Schutzprinzips In der Literatur wird zum Teil eine Auslegungsregel befürwortet, nach der Tarifnormen im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen sind. Diese Auslegungsmaxime beruht auf der Prämisse, daß beim Tarifvertrag keine inhaltliche Richtigkeitsgewähr besteht und wird mit dem arbeitsrechtlichen Schutzprinzip begründet246 . Für die Inhaltsfeststellung kann eine solche Auslegungsregel nichts ergeben. Möglicherweise gibt sie aber dem Merkmal "Folgenbetrachtung" bei der objektiv-teleologischen Auslegung ein bestimmte Richtung.

9. Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln bei der InhaltsfeststeUung Damit dienen als Auslegungsmittel bei der Inhaltsfeststellung die historische Auslegung, die Auslegung nach dem Gesamtzusammenhang und die subjektiv-teleologische Auslegung. Der Wortlaut gehört nicht zu den Auslegungsmitteln. Er hat lediglich Einstiegsfunktion für die Auslegung, ohne daß sich aus ihm verbindliche Vorgaben für das Auslegungsergebnis ergeben könnten.

246 WiedemannlStumpf, § 1 TVG, Rdnr. 410; für eine Auslegungsregel, die im Zweifel die Arbeitnehmer begünstigt, auch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 151; Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 330; gegen eine solche Auslegungsregel Herschel, FS für E. Molitor, S. 161, 183; HuecklNipperdey, Arbeitsrecht IVl, S. 360; LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 403; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1636.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

261

IH. Die Auslegungsmittel bei der Inhaltsfestsetzung 1. Die objektiv-teleologische Auslegung Zu den objektiv-teleologischen Auslegungsmitteln zählen die Folgenbetrachtung und das Kriterium der Sachgerechtigkeit247 . Was bei der Auslegung einer Tarifnorm die sachgerechte Lösung ist, kann gegebenenfalls mit Hilfe einer Tarifübung oder der Anschauungen der beteiligten Berufskreise ermittelt werden. Soeben wurde bereits angedeutet, daß das Kriterium der Folgenbetrachtung bei der Auslegung von Tarifverträgen möglicherweise durch das arbeitsrechtliche Schutzprinzip geprägt sein könnte. Bei der Folgenbetrachtung kann man die gesamten Auswirkungen einer bestimmten Auslegung berücksichtigen. Dabei kann man im Einzelfall die der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgeberseite günstigere Auslegungsmöglichkeit wählen. Es kann aber auch Auslegungsprobleme geben, bei denen man weder die eine noch die andere Seite durchgängig begünstigen oder benachteiligen würde. So kann z. B. eine für eine Arbeitnehmergruppe vorteilhafte Auslegung für eine andere Gruppe neutral oder sogar nachteilig sein. Gleiches gilt für die Arbeitgeberseite. Abgesehen davon, daß es Probleme aufwerfen kann, die für "die" Arbeitnehmer günstige Regelung festzustellen, ist eine solche Verkürzung der Folgenbetrachtung unangebracht. Es kann in Zweifelsfällen durchaus sinnvoll sein, die Arbeitgeberseite zu begünstigen, wenn andernfalls der Schaden für sie sehr groß, der Nutzen für die Arbl'!.itnehmer aber nur gering sein würde. Auch wenn man nicht von einer inhaltlichen Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrages ausgeht, handelt es sich doch um ein Verhandlungsergebnis im wesentlichen gleichstarker Partner. Bei einer solchen Sachlage scheint es sinnvoller, verbleibende Unsicherheiten und Zweifel nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip aufzulösen. Das heißt, daß jeweils die Seite (oder Gruppe) zu belasten ist, bei der die Belastung am geringsten ist oder die sie am besten verkraften kann. Das mag in der Mehrzahl der Fälle die Arbeitgeberseite sein. Trotzdem ist es nicht angebracht, sich mit einer Auslegungsregel zugunsten der Arbeitnehmer von vornherein zu binden. Schließlich ist noch zu begründen, warum gerade die Folgenbetrachtung und das Kriterium der Sachgerechtigkeit rechtlich maßgeblich sein sollen248 • Dafür gelten dieselben Gründe wie bei der Gesetzesauslegung. Die hier angeführten Kriterien lassen sich letztlich auf Gerechtigkeits-, Siehe oben 4. Teil 1. Kap. C. 11. 5. b). V gl. zum entsprechenden Vorgehen bei der Gesetzesauslegung oben 1. Teil 1. Kap. C. 11. 2. 247

248

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Rechtssicherheits- und Zweckmäßigkeitserwägungen zurückführen. Damit greift man auf Maßstäbe aus der Verfassung zurück. An diese ist der Richter gern. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG gebunden, so daß durch die Anwendung der objektiv-teleologischen Kriterien die Verfassungsbindung des Richters umgesetzt wird.

2. Die gesetzes- und veifassungskonforme Auslegung a) Die verfassungskonforme Auslegung Zur verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen greift man dann, wenn eine Norm aufgrund eines Verfassungsverstoßes unwirksam zu sein droht. Normen sollen nur dann verfassungswidrig sein, wenn sie nicht verfassungskonform ausgelegt werden können 249 . Diese Auslegungsmethode wird auch für Tarifverträge befürwortet25o .

aa) Arten der verfassungskonformen Auslegung Überträgt man die Aussagen zur verfassungskonformen Auslegung bei Gesetzen auf die Tarifvertragsauslegung, so ist zwischen zwei Arten der verfassungskonformen Auslegung zu unterscheiden251. Bei der ersten Variante wird die Norm eingeschränkt, um sie soweit wie möglich aufrechtzuerhalten. Hier hat sich gezeigt, daß die verfassungskonforme Auslegung entweder überflüssig oder unzulässig ist. Überflüssig sind Argumente aus der Verfassung, wenn kein weitergehender Wille der Tarifvertragsparteien ersichtlich ist. Unzulässig ist die verfassungskonforme Auslegung, wenn ein weitergehender Wille der Tarifvertragsparteien feststellbar ist. Eine Entscheidung gegen ihren Willen ist im Rahmen der Auslegung nicht möglich. In dieser Variante ist die verfassungskonforme Auslegung deshalb abzulehnen252 . Bei der zweiten Variante dient die verfassungskonforme Auslegung dazu, unter mehreren offenen Auslegungsmöglichkeiten diejenige auszuwählen, die der Verfassung am besten entspricht253 . Offen ist das Auslegungsergeb249 BVerfG, Besch!. v. 7.5.1953, E 2, S. 266,282; BVerfG, Besch!. v. 1.3.1978, E 48, S. 40, 45; BVerfG, Besch!. v. 9.8.1978, E 49, S. 148, 157; BVerfG, Urt. v. 1.7.1980, E54, S. 251, 273f; BVerfG, Besch!. v. 3.6.1992, E86, S. 288, 320; BVerfG, Besch!. v. 26.4.1994, E 90, S. 263, 275. 250 BAG, Urt. v. 23.9.1992, AP Nr. 159 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 150f.; Gröbing, ZTR 1987, S. 236, 239; Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 411ff.; Siegers, DB 1967, S. 1630, 1635; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 403ff. 251 Zur Unterscheidung bei der Gesetzesauslegung siehe oben I. Teil 1. Kap. e. 111. 1. 252 Für die Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. III. 1. 253 Für die Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap. e. III. 1.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

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nis dann, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien mit den dafür zugelassenen Mitteln nicht feststellbar ist. In dieser Variante ist die verfassungskonfonne Auslegung ein Sonderfall der objektiv-teleologischen Auslegung. Der Inhalt der Nonn soll durch Zwecke bestimmt werden, die nicht von ihrem Urheber stammen. Der Vorteil der Inhaltsfestsetzung durch den Richter gegenüber einer Nichtigkeit der Nonn läßt sich ebenso wie bei der objektiv-teleologischen Auslegung begründen254 • Auch die Kompetenzfrage zwischen dem Richter und den Tarifvertragsparteien ist mit den gleichen Überlegungen zu entscheiden. Die richterliche Inhaltsfestsetzung wird also nicht durch ein absolutes Regelungsmonopol der Tarifvertragsparteien verhindert. Allerdings ist noch zu begründen, wie sich der Einfluß der Verfassung auf die Auslegung tarifvertraglicher Nonnen rechtfertigt, warum also gerade ihre Inhalte auch den Inhalt der auszulegenden Vorschrift bestimmen sollen. bb) Begründung für den Einfluß der Verfassung auf die Auslegung

Für den Einfluß der Verfassung auf die Auslegung von Tarifverträgen gelten die gleichen Gründe, die bei der Gesetzesauslegung den Ausschlag gegeben haben 255 • Gern. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG ist der Richter an die Grundrechte und an Recht und Gesetz - also auch an die Verfassung gebunden. Läßt sich der Wille der Tarifvertragsparteien nicht feststellen, so können über diese Vorschriften verfassungsrechtliche Aspekte eingeführt werden. Die verfassungskonfonne Auslegung ist also mit der Bindung des Richters an die Verfassung zu begründen, nicht mit der Bindung der Tarifvertragsparteien. Dagegen mag man einwenden, daß eine verfassungskonfonne Auslegung nur dann sinnvoll ist, wenn auch der jeweilige Nonngeber an die Verfassung gebunden ist, da sonst der Auslegende strengeren Bindungen unterläge als dieser. Auch unter dieser Voraussetzung ist aber eine verfassungskonfonne Auslegung möglich, da nach einhelliger Ansicht die Tarifvertragsparteien an die Verfassung gebunden sind 256 • Zwar gibt es erhebliche Streitigkeiten über Art und Umfang dieser Bindung. Auch nach der engsten Theo254 Vgl. für die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen auch lpsen, Richterrecht, S. 171 ft. 255 Siehe dazu oben 1. Teil 1. Kap. C. III. 2. 256 Ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. nur BAG, Urt. v. 20.11. 1977, AP Nr. 111 zu Art. 3 GG; BAG, Urt. v. 6.2.1985, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG, Urt. v. 13.11.1984, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; BAG, Urt. v. 21.10.1992, AP Nr. 165 zu §§ 22, 23 BAT 1975; Blomeyer, ZfA 1980, S. 1,22; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 405ft.; Gamillscheg, Grundrechte, S. 103ft.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 155ft.; Reuter, ZfA 1978, S. 1, 35ft.; Wiedemann, Bindung der Tarifnormen, S. 49ft., 16ft., 151 f.; Wiedemann/Stumpf, TVG, Einl., Rdnr. 57ft.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

rie, die Arbeitgebergrundrechte nur im Wege der mittelbaren Drittwirkung berücksichtigen Will 257 , ist die Verfassung aber zumindest bei der Auslegung durch den Richter zu berücksichtigen. Es genügt aber, daß die Verfassung überhaupt für die Tarifvertragsnormen eine Rolle spielt, um die verfassungskonforme Auslegung zu ermöglichen. Eine verfassungskonforme Auslegung, mit deren Hilfe aus mehreren Auslegungsmöglichkeiten ausgewählt werden soll, ist demnach auch bei Tarifverträgen zulässig. Eine Erweiterung von Tarifnormen durch verfassungskonforme Auslegung ist ebenso wie bei der Gesetzesauslegung unzulässig258 • Das BAG hat eine solche Ausdehnung in einem Fall vorgenommen 259 . Damit hat es in die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien unzulässig eingegriffen. b) Die gesetzeskonforme Auslegung Für die gesetzeskonforme Auslegung von Tarifverträgen gelten die Ausführungen zur verfassungskonformen Auslegung entsprechend. Zwingendes Gesetzesrecht bindet sowohl den Richter als auch die Tarifvertragsparteien, so daß es bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. 3. Zusammenfassung zu den Auslegungsmitteln bei der InhaltsJestsetzung

Bei der Inhaltsfestsetzung sind neben den objektiv-teleologischen Kriterien der Sachgerechtigkeit und der Folgenbetrachtung auch die verfassungsund gesetzeskonforme Auslegung als Auslegungsmittel einzusetzen. IV. Die Rangfolge der Auslegungsmittel Wie bereits festgestellt, hat bei den Auslegungszielen die Inhaltsfeststellung den Vorrang vor der Inhaltsfestsetzung 26o . Es stellt sich daher nur noch die Frage nach der Rangfolge der Auslegungsmittel. 257 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 405ff.; Zöllner, RdA 1964, S. 443, 448. Nach Hagemeierl Kempen I Zachert IZilius, TVG, Einleitung, Rdnr. 129ff. sind die Grundrechte des Arbeitgebers allerdings nur in Ausnahmefällen beachtlich, diese Ansicht wird von KempenlZachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 198 nicht aufrechterhalten. 258 Zur erweiternden verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. III. 2. 259 BAG, Urt. v. 30.11.1970, AP Nr. 148 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 260 Siehe oben 4. Teil 1. Kap. C.1. 1.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

265

Zur Inhaltsfeststellung dienen die historische Auslegung, die Auslegung nach dem Gesamtzusammenhang und die subjektiv-teleologische Auslegung. Für ihr Rangverhältnis gilt das gleiche wie bei der Gesetzes- und der Rechtsgeschäftsauslegung261 . Maßgeblich für das Sinnverständnis der Tarifvertragsparteien vom Normtext sind ihre Zweckvorstellungen. Unter ihnen sind die ausdrücklich genannten Zweckvorstellungen gewichtiger als die erschlossenen. Ausdrücklich nennen die Parteien ihre Regelungsabsichten in den Materialien, Präambeln oder Eingangsvorschriften. Schlüsse auf den Willen der Tarifvertragsparteien lassen sich nötigenfalls aus der Entstehungsgeschichte und der Systematik ziehen. Hat man bei der Inhaltsfeststellung kein Ergebnis erzielt, so sind zur Inhaltsfestsetzung die objektiv-teleologischen Kriterien gleichrangig nebeneinander einzusetzen. Begrenzt wird die Inhaltsfestsetzung einerseits durch das Erfordernis der verfassungs- und gesetzeskonformen Auslegung, die den Kreis der möglichen Auslegungsergebnisse einschränkt. Andererseits bleiben die Ergebnisse aus der Inhaltsfeststellung beachtlich: Soweit der Wille der Tarifvertragsparteien feststellbar ist, darf er nicht mißachtet werden262 . V. Inhaltsfeststellung, Inhaltsfestsetzung und normativer Erklärungssinn Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften konnte man fünf Fälle unterscheiden 263 . - Der übereinstimmende Wille der Parteien entspricht dem normativen Sinn der Erklärungen. - Der übereinstimmende Wille der Parteien weicht vom normative Sinn der Erklärungen ab. - Es besteht ein übereinstimmender Wille der Parteien, ohne daß ein normativer Erklärungssinn existiert. - Es besteht kein übereinstimmender Wille der Parteien, ein normativer Erklärungssinn ist aber gegeben. - Es besteht kein übereinstimmender Wille der Parteien, ein normativer Erklärungssinn ist ebenfalls nicht gegeben. Bei der Tarifvertragsauslegung könnten theoretisch die gleichen Konstellationen vorkommen. Gegenüber der Auslegung von Rechtsgeschäften sind 261 V gl. für die Gesetzesauslegung oben 1. Teil 1. Kap. E. 111. 1.; für die Auslegung von Rechtsgeschäften oben 2. Teil 1. Kap. B.l. 4. b). 262 V gl. für die Gesetzesauslegung oben 1. Teil 1. Kap. E. 111. 2.; für die Auslegung von Rechtsgeschäften oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 4. b). 263 Dazu oben 2. Teil 1. Kap. B. I. 2. d).

266

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

aber die Auslegungsmittel begrenzt, so daß als Ergebnis nur die erste, die vierte und die fünfte Variante auftreten können. Die erste Variante ist gegeben, wenn sich mit den Auslegungsmitteln der Inhaltsfeststellung der Normsinn ermitteln läßt. Man hat dann den übereinstimmenden Willen der Parteien festgestellt,der auch dem normativen Erklärungssinn entspricht. Das ist der Fall, weil zur Inhaltsfeststellung nur solche Auslegungsmittel zugelassen sind, die erkennbar und zugänglich sind. Bei einer solchen Beschränkung der Auslegung ist das gefundene Ergebnis auch allgemein erkennbar, entspricht also dem normativen Textsinn. Die vierte Variante liegt vor, wenn die Inhaltsfeststellung kein Ergebnis gebracht hat, mit Hilfe der Inhaltsfestsetzung aber der Inhalt der Tarifvertragsnorm angegeben werden kann. Die fünfte Variante ist gegeben, wenn weder die Inhaltsfeststellung noch die Inhaltsfestsetzung zum Ziel führt. Die auszulegende Tarifnorm ist dann unwirksam. Die zweite und dritte Variante könnten nur auftreten, wenn man den Willen der Tarifvertragsparteien mit Hilfe nicht erkennbaren Materials ermittelt. Solches Material ist aber zur Auslegung nicht zugelassen 264 . Diese Varianten scheiden also als mögliche Auslegungsergebnisse aus. Das Verhältnis des normativ erkennbaren Textsinns zur Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung ist danach bei der Tarifvertragsauslegung folgendes: Läßt sich der Wille der Tarifvertragsparteien feststellen, so steht damit zugleich der normative Erklärungssinn fest. Muß man erst zur Inhaltsfestsetzung greifen, so ist dieser festgesetzte Inhalt der Tarifnorm gleichzeitig ihr normativer Sinn. VI. Dissens und falsa demonstratio beim Tarifvertrag

1. Der Dissens Für die Behandlung eines Dissenses unter den Tarifvertragsparteien ergibt sich aus den entwickelten Auslegungsgrundsätzen folgendes. Die Inhaltsfeststellung kann ergeben, daß die Tarifvertragsparteien einen Punkt im Tarifvertrag bewußt offen gelassen haben (offener Dissens). Dann stellt sich die Frage, ob und wie die dadurch entstandene "Lücke" zu füllen ist265 • Möglicherweise haben sich die Tarifvertragsparteien aber nicht übereinstimmend verstanden, obwohl sie von einer Einigung ausgingen (versteckter 264 265

Siehe oben 4. Teil 1. Kap. C. 11. 3. Dazu unten 4. Teil 2. Kap. C. III.

1. Kap.: Die Auslegung im engeren Sinne

267

Dissens). In diesem Fall führt die Inhaltsfeststellung nicht zum Ziel, so daß der Inhalt der Tarifvertragsnorm festzusetzen ist. Ist auch das nicht möglich, so ist die Norm unwirksam.

2. Die falsa demonstratio Haben die Tarifvertragsparteien einen Begriff bewußt oder unbewußt anders als im üblichen Sprachgebrauch benutzt, so sind zwei Fälle zu unterscheiden. Im ersten Fall ist ihr abweichendes Verständnis aus der Entstehungsgeschichte oder der Systematik erkennbar. Bei dieser Sachlage ergibt die Auslegung, welchen Sinn die Tarifvertragsparteien mit dem Ausdruck verbunden haben. Die falsa-demonstratio-Regel ist hier überflüssig. Im zweiten Fall ist das Verständnis der Tarifvertragsparteien nicht erkennbar. Hier könnte die falsa-demonstratio-Regel dem Partei verständnis zur Geltung verhelfen. Da aber nur Auslegungsmittel zugelassen sind, die den Betroffenen erkennbar und erreichbar sind, kommt eine Willenserforschung mit weitergehenden Mitteln nicht in Betracht. In diesem Fall müssen sich die Tarifvertragsparteien das als Inhalt ihrer Regelung zurechnen lassen, was als ihr Wille erkennbar ist. Führt die Inhaltsfeststellung zu keinem Ergebnis, gilt der durch Inhaltsfestsetzung bestimmte Inhalt.

268

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

2. Kapitel

Die Auslegung im weiteren Sinne (Fortbildung von Tarifverträgen)l A. Die Fortbildung von Tarifverträgen nach der Rechtsprechung des BAG I. Die Fortbildungskompetenz der Gerichte

Zur Fortbildungskompetenz der Gerichte hat sich das BAG nur vereinzelt geäußert. Zunächst hat es für tarifliche Normen eine Parallele zu Gesetzesvorschriften gezogen 2 . Später hat es diese Begründung erweitert, indem es festgestellt hat, daß Tarifverträge wie alle Verträge für eine ergänzende Vertragsauslegung gern. § 157 BGB und, wie alle Rechtsnormen, für eine ausdehnende Rechtsanwendung offen sind 3 . In einem weiteren Urteil hat das BAG sich nicht mehr auf § 157 BGB berufen, sondern wieder allein auf die Lückenfüllung bei Gesetzen verwiesen4 . In den meisten Fällen setzt das BAG die grundsätzliche Fortbildungskompetenz der Gerichte für Tarifverträge jedoch stillschweigend voraus und beschäftigt sich nur mit den konkreten Voraussetzungen im Einzelfall. 11. Die Voraussetzungen für eine Fortbildung des Tarifvertrages

Das BAG verwendet für die Voraussetzungen für eine Fortbildung von Tarifverträgen zwei Formulierungen. Meistens verlangt es eine unbewußte Lücke im Tarifvertrags. Gelegentlich spricht das BAG aber auch von einer I Tenninologischer Hinweis: In der Rechtsprechung und Literatur wird sowohl von der Fortbildung als auch von der Ergänzung von Tarifverträgen gesprochen. Unabhängig von der Bezeichnung ist damit die Auslegung im weiteren Sinne gemeint. Die Begriffe werden im darstellenden Teil so verwandt, wie sie das BAG oder die jeweiligen Autoren benutzen. Innerhalb der eigenen Konzeption soll von der Fortbildung von Tarifverträgen gesprochen werden, da die Auslegung des Tarifvertrages im weiteren Sinne der Fortbildung von Gesetzen näher steht als der ergänzenden Vertragsauslegung (dazu unten 4. Teil 2. Kap. C. 11.). 2 BAG, Urt. v. 9.10.1956, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Auslegung. 3 BAG, Urt. v. 22.7.1959, AP Nr. 68 zu § 1 TVG Auslegung. 4 BAG, Urt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung. S BAG, Urt. v. 24.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 23.1.1980, AP Nr. 31 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.10.1980, AP Nr. 31 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 7.12.1983, AP Nr. 82 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 10.10.1984, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.1.1985, AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 6.2.1985, AP

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

269

planwidrigen Unvollständigkeit des Tarifvertrages als Voraussetzung für seine Ergänzung 6 • Im folgenden soll untersucht werden, ob diese verschiedenen Ausgangspunkte auch zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Fortbildung von Tarifverträgen führen. 1. Bewußte und unbewußte Regelungslücken

Von der unbewußten Lücke im Tarifvertrag. aussetzungen von den eine Lückenfüllung bei

Regelungslücke unterscheidet das BAG die bewußte Während unbewußte Lücken unter bestimmten VorGerichten ausgefüllt werden dürfen, hält das BAG bewußten Regelungslücken für unzulässig?

a) Die bewußte Regelungslücke Eine bewußte Lücke soll gegeben sein, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewußt nicht geregelt haben und das in einer Auslassung seinen Ausdruck findet 8 . Die Unterlassung der Regelung Nr. 3 zu § I TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Beschl. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 23.8.1990, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Keramikindustrie; BAG, Urt. v. 24.10.1990, AP Nr. 5 zu § 15 BErzGG; BAG, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 29.1. 1992, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985; BAG, Urt. v. 5.8.1992, AP Nr. 144 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BGB. 6 BAG, Urt. v. 3.6.1966, AP Nr. 112 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BAG, Urt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 36 BAT; BAG, Urt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG; BAG, Urt. v. 11. 6. 1992, AP Nr. 1 zu TV AL 11 Anhang D. 7 BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 10.11.1982, AP Nr. 69 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 21.11.1991, AP Nr. 2 zu § 34 BAT; BAG, Urt. v. 29.1.1992, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 179 zu §§ 22,23 BAT 1975. 8 BAG, Urt. v. 29.8.1984, AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 10.10.1984, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 11.9.1985, AP Nr. 106 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.4.1986, AP Nr. 118 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 24.2.1988,'AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 26.8.1987, AP Nr. 138 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 18.5.1988, AP Nr. 145 zu §§ 22,23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 21.11.1991, AP Nr. 2 zu § 34 BAT; BAG, Urt. v. 8.2.1995, AP Nr. 1 zu § 22 MTA; vgl. auch BAG, Urt. v. 10.11.1982, AP Nr. 69 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

270

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

könne ihren Grund auch darin haben, daß die Tarifvertragsparteien sich über den entsprechenden Gegenstand nicht einigen konnten9 . Allerdings hat das BAG zu Eingruppierungsfragen im Bereich der Vergütungsordnung des BAT entschieden, daß das Scheitern von Tarifvertragsverhandlungen über spezielle Eingruppierungsmerkmale nicht unausweichlich zu einer bewußten Tariflücke führt 10. Vom BAT sollten alle Angestelltentätigkeiten des öffentlichen Dienstes erschöpfend und umfassend erfaßt werden, so daß davon auszugehen sei, daß die Tarifvertragsparteien sich deutlich äußern, wenn sie ausnahmsweise eine Angestelltengruppe ausnehmen wollen 11. In der Vergütungsordnung des BAT soll nur dann eine Lücke bestehen, wenn eine Eingruppierung nach den allgemeinen tariflichen Merkmalen für den Verwaltungsdienst nicht möglich ist l2 . Die Ausfüllung bewußter Lücken lehnt das BAG ab, weil die Gerichte nicht befugt seien, in die den Tarifvertragsparteien gern. Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumte Gestaltungsfreiheit einzugreifen. Eine Lückenfüllung gegen den Willen der Tarifvertragsparteien sei mit der Tarifautonomie nicht vereinbar 13 • b) Die unbewußte Regelungslücke Die unbewußte Lücke wird vom BAG nicht definiert. Man kann aber aus seiner Rechtsprechung ableiten, daß es in folgenden drei Fällen eine unbewußte Regelungslücke annimmt:

9 BAG, Urt. v. 29.8.1984, AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 10.10.1984, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 11. 9.1985, AP Nr. 106 zu §§ 22,23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.4.1986, AP Nr. 118 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 18.5.1988, AP Nr. 145 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 21.11.1991, AP Nr. 2 zu § 34 BAT. 10 BAG, Urt. v. 23.4.1986, AP Nr. 118 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 28.1. 1987, AP Nr. 130 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 11 BAG, Urt. v. 29.8.1984, AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 11. 9.1985, AP Nr. 106 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 18.5.1988, AP Nr. 145 zu §§ 22, 23 BAT 1975; bei anderen Tarifverträgen legt das BAG eine solche Vermutung nicht zugrunde, vgl. BAG, Urt. v. 12.4.1957, AP Nr. 3 zu § 9 TVG. 12 BAG, Urt. v. 26.9.1976, AP Nr. 26 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 14.8.1985, AP Nr. 105 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 179 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 13 BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 10.11.1982, AP Nr. 69 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 21.11.1992, AP Nr. 2 zu § 34 BAT; BAG, Urt. v. 29.1.1992, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 179 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

271

- Die Tarifvertragsparteien haben eine Frage nicht bedacht oder eine Regelung nicht für erforderlich gehalten 14. Dabei ist eine Regelungslücke nicht anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine Frage im Tarifvertrag teilweise geregelt haben. Das spricht vielmehr dafür, daß eine Regelung im nicht erwähnten Fall nicht vorgesehen war lS • - Die tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen einer Tarifnorm haben sich geändert l6 . - Der Tarifvertrag ist aufgrund eines Verfassungsverstoßes teilunwirksam 17. Hinsichtlich des Verfassungsverstoßes hat das BAG allerdings in einem Fall eine richterliche Lückenfüllung wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Tarifautonomie abgelehnt. Es hat in diesem Fall nur eine Ergänzung für die Vergangenheit vorgenommen, die es ausnahmsweise für zulässig erklärt hat, weil nur eine Lösungsmöglichkeit bestand 18. Eine Lücke hat das BAG außerdem in einem Fall abgelehnt, in dem in einem Tarifvertrag Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer nicht vollständig geregelt wurden. Insoweit gälten die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes l9 . Ein allgemeines Prinzip in dem Sinne, daß das BAG eine Tariflücke verneint, wenn die Frage durch dispositives Gesetzesrecht geklärt werden kann, ist der Rechtsprechung des BAG jedoch nicht zu entnehmen. In anderen Entscheidungen hat es zwar Zurückhaltung bei der Lückenfüllung angemahnt, sah sich aber durch (möglicherweise) bestehendes Gesetzesrecht nicht von vornherein gehindert, eine Ergänzung des Tarifvertrages vorzunehmen 2o .

14 BAG, Urt. v. 24.2. 1988, AP Nr. 2 zu § I TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen. 15 BAG, Urt. v. 23.2.1977, AP Nr. I zu § I TVG Tarifverträge: Techniker-Krankenkasse. 16 BAG, Urt. v. 9.10.1956, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.11.1964, AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961. 17 BAG, Beschl. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BGB. 18 BAG, Urt. v. 13.11.1985, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG. 19 BAG, Urt. v. 18.10.1990, AP Nr. 56 zu § 7 BUrlG Abgeltung. 20 BAG, Urt. v. 22.7.1959, AP Nr. 68 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

2. Die planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages In einigen Urteilen verlangt das BAG eine planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages als Voraussetzung für seine Ergänzung 21 . Ob eine solche planwidrige Unvollständigkeit besteht, bestimmt das BAG nach unterschiedlichen Maßstäben. In einem Urteil will es vom Standpunkt des Tarifvertrages selbst, der ihm zugrundeliegenden Regelungsabsicht und der mit ihr verfolgten Zwecke des tarifvertraglichen Plans beurteilen, ob eine Lücke vorliegt. Der dem Tarifvertrag zugrundeliegende Regelungsplan sei aus ihm selbst durch historische und teleologische Auslegung zu ermitteln22 . Ähnlich stellt es in einem anderen Urteil darauf ab, ob das Ziel der tariflichen Regelung bei einer reinen Wortlautauslegung erreicht wird 23 . Auch in einer weiteren Entscheidung kam es dem BAG auf die dem Tarifvertrag zugrundeliegende Regelungsabsicht und den mit ihm verfolgten Zweck an. Diese Absichten und Zwecke hat es in diesem Fall allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen, die nach Ansicht des BAG dem Tarifvertrag offensichtlich zugrundelagen 24 . Die Regelungsabsicht ist ebenfalls maßgeblich, wenn das BAG danach fragt, ob ein Wille der Tarifvertragsparteien zur umfassenden Regelung erkennbar ist, der bei der normativen Umsetzung verfehlt wurde25 . In einem Urteil vom 11.6. 1992 nimmt das BAG abweichend hiervon eine planwidrige Unvollständigkeit an, wenn die Tarifvertragsparteien etwas regeln wollten, eine Regelung aber nicht vorgenommen haben 26 . In einem älteren Urteil verlangt das BAG für Eingruppierungsfragen einen erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien, eine abschließende Regelung zu schaffen 27 . Das begründet das Gericht damit, daß Tarifverträge anders als Gesetze nicht mit dem Anspruch aufträten, die Arbeitsbedingungen vollständig und umfassend zu regeln. Dadurch könnten bewußte oder unbewußte tarifpolitische Lücken entstehen, die nicht durch den Richter geschlossen werden dürften.

21 BAG, Vrt. v. 3.6.1966, AP Nr. 112 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BAG, Vrt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Vrt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 36 BAT (ebenfalls abgedruckt unter AP Nr. 1 zu § 1 TVG Arbeitsentgelt); BAG, Vrt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG; BAG, Vrt. v. 7.12.1989, AP Nr. 3 zu § 15 BErzGG; BAG, Vrt. v. 11.6.1992, AP Nr. 1 zu TV AL 11 Anhang D. 22 BAG, Vrt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG. 23 BAG, Vrt. v. 3.6.1966, AP Nr. 112 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 24 BAG, Vrt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 36 BAT (ebenfalls abgedruckt unter AP Nr. 1 zu § 1 TVG Arbeitsentgelt). 25 BAG, Vrt. v. 7.12.1989, AP Nr. 3 zu § 15 BErzGG. 26 BAG, Vrt. v. 11.6.1992, AP Nr. 1 zu TV ALU Anhang D. 27 BAG, Vrt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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Daraus ergibt sich, daß sich das BAG vorwiegend auf den Zweck der tarifvertraglichen Regelung stützt, um ihre Vollständigkeit zu beurteilen. Den Zweck stellt es dabei auf unterschiedlichen Wegen fest. 3. Vergleich der Begriffe "unbewußte Lücke" und "planwidrige Unvollständigkeit" in der Rechtsprechung des BAG

Nach der Tenninologie Larenz' ist eine Gesetzeslücke gegeben, wenn eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes besteht28 • Er unterscheidet weiterhin zwischen anfänglichen und nachträglichen Lücken, wobei er die anfänglichen Lücken in bewußte und unbewußte untertei1t29 . Nach dieser Tenninologie umfaßt also der Begriff der planwidrigen Unvollständigkeit als Oberbegriff für alle Lückenarten den Begriff der unbewußten Lücke. Das BAG benutzt daher, falls es diese Terminologie für Tariflücken zugrundelegt haben sollte, zwei unterschiedlich weite Lückenbegriffe. Obwohl das BAG sich in seinen Urteilen zu Methodenfragen auch auf Larenz stützt30, ist nicht davon auszugehen, daß es die Begriffe der unbewußten Lücke und der planwidrigen Unvollständigkeit in seinem Sinne verstanden hat. Aus der Rechtsprechung des BAG läßt sich ableiten, daß es sich mit anfänglichen und nachträglichen unbewußten Lücken beschäftige!, was mit dem Larenzschen Schema nicht übereinstimmt. Außerdem benutzt das BAG auch die Begriffe der offenen und der verdeckten Lücke ab-

28 29

Larenz, Methodenlehre, S. 373. Larenz, Methodenlehre, S. 379.

30 BAG, Urt. v. 30.1.1970, AP Nr. 142 zu § 242 Ruhegehalt; BAG, Urt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Arbeitsentgelt; BAG, Urt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 36 BAT; BAG, Urt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG. 31 Um anfängliche Lücken ging es u. a. in folgenden Urteilen: BAG, Urt. v. 12.9. 1963, AP Nr. 1 zu § 63 BAT; BAG, Urt. v. 3.6. 1966, AP Nr. 112 zu § 242 Ruhegehalt; BAG, Urt. v. 31.1. 1969, AP Nr. 26 zu § 1 FeiertagslohnzahlungsG; BAG, Urt. v. 30.11.1970, AP Nr. 148 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BAG, Vrt. v. 8.9.1976, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Form; BAG, Urt. v. 23.1.1980, AP Nr. 31 zu §§ 22,23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand; BAG, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 7 TV RatAng; BAG, Urt. v. 18.5.1983, AP Nr. 74 zu § 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 10.10.1984, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.1.1985, AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Vrt. v. 6.2.1985, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 5.8.1992, AP Nr. 144 zu § 611 BGB Gratifikation. 18 Kamanabrou

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

weichend vom üblichen Verständnis in der Literatur 32 • Es bezeichnet unbewußte als verdeckte Lücken und bewußte als offene Lücken. Dagegen werden die Begriffe "offen" und "verdeckt" in der Literatur nicht damit verbunden, ob der maßgeblichen Instanz das Bestehen einer Lücke bewußt war. Zu den offenen Lücken werden vielmehr die Fälle gezählt, in denen eine anwendbare Norm fehlt, während bei einer verdeckten Lücke eine Regelung besteht, der aber eine Einschränkung fehle 3 . Danach ist nicht davon auszugehen, daß das BAG die planwidrige Unvollständigkeit als Oberbegriff für alle Lückenarten einschließlich der unbewußten Regelungslücke versteht. Das Verhältnis der planwidrigen Unvollständigkeit zur unbewußten Regelungslücke in der Rechtsprechung des BAG muß also aus dessen Urteilen selbst geklärt werden. Zur plan widrigen Regelungslücke äußert sich das BAG ebenso wie zur unbewußten Lücke nicht einheitlich. Man kann den Urteilen entnehmen, daß es darauf ankommt, ob die Tarifvertragsparteien eine abschließende Regelung wollten, die ihnen aber nicht gelungen ise 4 . Darüber hinaus werden scheinbar unterschiedliche Aspekte betont. In einem Fall prüft das BAG, ob die Tarifvertragsparteien eine Regelung unterlassen haben, weil sie an den zu beurteilenden Sachverhalt nicht gedacht haben 35 . In einem anderen Urteil untersucht es, ob den Tarifvertragsparteien die normative Umsetzung ihres Willens mißlungen ise6 . Trotz der unterschiedlichen Formulierung geht es aber in beiden Entscheidungen darum, ob die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien im weiteren Sinne in der tariflichen Regelung vollständig umgesetzt wurde oder nicht 37 . Wenn die Tarifvertragsparteien eine Fallkonstellation nicht bedenken, mißglückt ihnen die Umsetzung ihres Regelungsplans in Tarifnormen. Das Ziel der tariflichen Um nachträgliche Lücken ging es u.a. in folgenden' Urteilen: BAG, Urt. v. 23.5.1973, AP Nr. 1 zu § 39 TV Ang Bundespost; BAG, Urt. v. 7.12.1983, AP Nr. 82 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Beschl. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 11. 9. 1985, AP Nr. 106 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 13.11.1985, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; BAG, Urt. v. 10.12.1986, AP Nr. 1 zu § 42 MTB 11; BAG, BAG, Urt. v. 18.5.1988, AP Nr. 145 zu §§ 22, 23 BAT 1975; Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BGB; vgl. auch BAG, Urt. v. 9.10.1956, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.11.1964, AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961. 32 BAG, Urt. v. 4.8.1988, ZTR 1989, S. 147, 148; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen. 33 Canaris. Lücken, S. 136f.; Larenz. Methodenlehre, S. 377. 34 BAG wie Pn. 21. 35 BAG, Urt. v. 11. 6. 1992, AP Nr. 1 zu TV AL 11 Anhang O. 36 BAG, Urt. v. 7.12.1989, AP Nr. 3 zu § 15 BErzGG. 37 Zum Begriff der Regelungsabsicht im weiteren Sinne siehe oben 1. Teil 2. Kap. 0.1. 2. a) aa).

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

275

Regelung wird dann nicht erreicht38 , Regelungsabsicht und Zweck der Tarifvertragsparteien sind nicht mehr von den Normen des Tarifvertrages gedecke 9 , es besteht eine Lücke im Regelungszusammenhang 4o . Bei den Entscheidungen, in denen das BAG auf die planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages abstellt, geht es also trotz der unterschiedlichen Formulierungen immer um die Frage, ob die Tarifvertragsparteien gemessen an ihrem Regelungsplan eine vollständige Norm geschaffen haben. Diese Beschreibung der planwidrigen Unvollständigkeit überschneidet sich mit zwei der drei Fallgruppen, in denen das BAG eine unbewußte Regelungslücke annimmt41 • Wenn die Tarifvertragsparteien eine Regelung nicht für erforderlich gehalten oder nicht bedacht haben, kann gemessen an ihrem Regelungsplan eine unvollständige Norm vorliegen. Ebenso kann der Tarifvertrag gemessen am Regelungsplan der Tarifvertragsparteien unvollständig werden, wenn sich die tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen einer Tarifnorm ändern. Allerdings decken sich die Fälle der plan widrigen Unvollständigkeit und der unbewußten Lücke nicht völlig. Der Tarifvertrag kann gemessen am Regelungsplan der Tarifvertragsparteien vollständig sein, obwohl die Tarifvertragsparteien eine Frage nicht bedacht haben 42 . Das ist der Fall, wenn sie das Problem ohnehin nur der Lösung unterworfen hätten, die sich aus dem bestehenden Tarifvertrag ergibt. Es ist auch möglich, daß sich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse ändern und der Tarifvertrag trotzdem vollständig bleibt. Die dritte Fallgruppe der unbewußten Regelungslücken, die aufgrund eines Verfassungsverstoßes unwirksamen Tarifnormen, wird vom Begriff der planwidrigen Unvollständigkeit überhaupt nicht erfaßt. Der Regelungsplan der Parteien, die Arbeitsbedingungen auf eine bestimmte Art und Weise zu normieren, ist in diesen Fällen fehlerfrei umgesetzt worden - nur entspricht die gewollte Regelung nicht der Verfassung. Zu einem anderen Ergebnis kommt man nur, wenn man fingiert, daß die Tarifvertragsparteien stets in ihren Regelungsplan aufnehmen, daß die Tarifnormen verfassungsgemäß sein müssen. Es ist aber da~on auszugehen, daß sich die Tarifvertragsparteien über die Verfassungsmäßigkeit ihrer Regelungen wenig Gedanken machen, sondern sich vielmehr um eine möglichst weitgehende Durchsetzung ihrer Interessen bemühen.

38 So die Fonnulierung in BAG, Urt. v. 3.6.1966, AP Nr. 112 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 39 So BAG, Urt. v. 15.12.1976, AP Nr. 1 zu § 36 BAT (ebenfalls abgedruckt unter AP NT. 1 zu § 1 TVG Arbeitsentgelt). 40 So BAG, Urt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 BErzGG. 41 Zur unbewußten Regelungslücke in der Rechtsprechung des BAG siehe· oben 4. Teil 2. Kap. A. 11. 1. b). 42 Vgl. Liedmeier; Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 115. 18*

276

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Ist der Begriff der unbewußten Tariflücke, den das BAG gebraucht, demnach teilweise weiter als der der planwidrigen Unvollständigkeit, so könnte er andererseits auch enger sein. Nach Liedmeier werden auch bewußte Lücken vom Begriff der planwidrigen Unvollständigkeit umfaßt, wenn man darunter dem Regelungszusammenhang widersprechende Unvollständigkeiten versteht. Danach käme man zu einer größeren Menge ausfüllbarer Tariflücken, als wenn man für die Fortbildung unbewußte Lücken verlangt43 . Das BAG hat zwar in einer Entscheidung von einer Lücke innerhalb des Regelungszusammenhangs gesprochen, ob eine solche Lücke vorliegt, will es aber anhand der Regelungsabsicht der Parteien feststellen 44 . Ob letztlich eine plan widrige Unvollständigkeit besteht, hängt nach der Rechtsprechung des BAG vom Regelungsplan der Tarifvertragsparteien ab 45 . Zwar kann der Regelungszusammenhang Hinweise auf diesen Plan geben. Es kommt dem BAG aber nicht darauf an, ob aufgrund eines von außen angelegten Maßstabes eine bestimmte Norm fehlt, sondern ob der Tarifvertrag nach der Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien unvollständig ist. Das ist zu verneinen, wenn die Tarifvertragsparteien bewußt eine Regelung unterlassen haben 46 . Ihr gemeinsamer Plan umfaßt dann nicht das ausgesparte Problem. Darüber hinaus benutzt das BAG in mehreren Urteilen, in denen es auf die planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages abstellt, Formulierungen, die nur unbewußte Lücken erfassen. So verlangt das BAG, daß die Tarifvertragsparteien ihre Regelungen im betreffenden Punkt für lückenlos gehalten haben 47 . In einem weiteren Urteil prüft es, ob eine Regelung deshalb fehlt, weil die Tarifvertragsparteien nicht an den streitigen Fall gedacht haben48 . Nach einer anderen Formulierung soll eine Tariflücke nur dann anzunehmen sein, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer umfassenden Regelung feststellbar ist, dieses Ziel bei der normativen Umsetzung aber verfehlt wurde49 . Danach ist davon auszugehen, daß das BAG bewußte Lücken auch dann nicht ausfüllen will, wenn es eine planwidrige Unvollständigkeit als Voraussetzung für die Lückenfüllung verlangt. Der Begriff der unbewußten Tariflücke, den das BAG gebraucht, ist also nicht enger als der der planwidrigen Unvollständigkeit. Er ist aber, wie bereits festgestellt, teilweise weiter. Aus den verschiedenen Formulierungen des BAG können sich daher Unterschiede bei der Lückenfeststellung ergeben. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 115. HAG, Urt. v. 10.5.1989, AP Nr. 2 zu § 15 HErzGG. 45 HAG wie Fn. 21. 46 V gl. zu anfänglichen bewußten Lücken bei Gesetzen oben 1. Teil 2. Kap. D.I.2.c). 47 HAG, Urt. v. 13.6.1973, AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung. 48 HAG, Urt. v. 11. 6. 1992, AP Nr. 1 zu TV AL 11 Anhang D. 49 HAG, Urt. v. 7.12.1989, AP Nr. 3 zu § 15 HErzGG. 43

44

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

277

III. Art und Weise der Ausfüllung von Tariflücken 1. Die Ausfüllung unbewußter Tariflücken

Unbewußte Tariflücken sind nach der Rechtsprechung des BAG unter Berücksichtigung von Treu und Glauben zu schließen. Dabei ist zu berücksichtigen, wie die Tarifvertragsparteien die Frage bei objektiver Betrachtung der wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge bei Abschluß des Tarifvertrages voraussichtlich geregelt hätten, wenn sie an den ungeregelten Fall gedacht hätten 5o • Das BAG will die Lücke aber nur dann ausfüllen, wenn es hinreichende und sichere Anhaltspunkte dafür gibt, wie die Tarifvertragsparteien die Lücke gefüllt hätten oder wenn nur eine ganz bestimmte Regelung billigem Ermessen entspricht51 . Im zuletzt genannten Fall sei davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien sich einer solchen zwingend gebotenen Regelung nicht entzogen hätten 52 . Ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt, so könne ein mutmaßlicher Wille der Tarifvertragsparteien nicht festgestellt werden53 . Eine Ausfüllung der Tariflücke durch die Gerichte sei dann nicht zulässig, da sie einen Eingriff in die den Tarifvertragsparteien gern. Art. 9 Abs. 3 GG gewährte Gestaltungsfreiheit darstellte, zu dem die Gerichte nicht befugt seien54 . In einem älteren Urteil ging das BAG davon aus, daß zwei Vorschriften des BAT derselbe Grundgedanke zugrundeliegt, so daß eine Härteregelung für den einen Fall auf den anderen entsprechend anwendbar sei 55 • Hier 50 BAG, Urt. v. 24.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Besch!. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 23.8.1990, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Keramikindustrie; BAG, Urt. v. 24.10.1990, AP Nr. 5 zu § 15 BErzGG; vg!. auch BAG, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 7 TV RatAng. 51 BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Besch!. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 24.10.1990, AP Nr. 5 zu § 15 BErzGG; BAG, Urt. v. 29.1.1992, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985; vg!. auch BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; ohne diese Einschränkung BAG, Urt. v. 8.2. 1995, AP Nr. 1 zu § 22 MTA. 52 BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 23.8.1990, AP Nr. 1 zu § I TVG Tarifverträge: Keramikindustrie; BAG, Urt. v. 24.10.1990, AP Nr. 5 zu § 15 BErzGG. 53 BAG, Urt. v. 24.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 23.8.1990, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Keramikindustrie; BAG, Urt. v. 24.10.1990, AP Nr. 5 zu § 15 BErzGG. 54 BAG, Urt. v. 24.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAG, Urt. v. 10.12.1986, AP Nr. 1 zu § 42 MTB 11; BAG, Urt. v. 4.9.1991, AP Nr. 113 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; BAG, Urt. v. 29.1.1992, AP Nr. 18 zu § 2 BeschFG 1985. 55 BAG, Urt. v. 12.9.1963, AP Nr. 1 zu § 63 BAT.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

führte das Gericht einen Analogieschluß durch und glich die Normen über die von der Interessenlage her gleichliegenden Fälle an. Auf die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien stellte es nicht ab. Lücken in der Vergütungsordnung des BAT füllt das BAG, indem es die Regelungen für artverwandte und vergleichbare Tätigkeiten übernimmt56 . Das gleiche Kriterium benutzte das BAG auch in einem Fall, in dem es um die Gewährung zusätzlicher freier Tage für einen älteren Mitarbeiter ging, dessen Arbeitsverhältnis im Laufe des Jahres beendet wurde, in dem die freien Tage gewährt werden sollten 57 • In den Fällen, in denen eine Tarifnorm gegen die Verfassung verstößt, erweitert das BAG seine generellen Ausführungen zur Lückenfüllung. Das Gericht hatte sich in mehreren Urteilen mit verfassungswidrigen Tarifnormen über die Kündigung von Arbeitern zu befassen. Dabei ging es um die Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer58 und die Wartezeiten für die Staffelung der verlängerten Kündigungsfristen 59 . Zunächst stellt das BAG auch in diesen Fällen darauf ab, ob sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den Willen der Tarifvertragsparteien ergeben. Welche Entscheidung sie getroffen hätten, wenn ihnen die Nichtigkeit bekannt gewesen wäre, ließe sich aber nur feststellen, wenn ausreichende Umstände für eine bestimmte Ergänzungsregelung sprächen oder diese nach objektiver Betrachtung zwingend geboten sei6o . Über seine üblichen Ausführungen zur Lückenfüllung geht das BAG aber hinaus, wenn es auf diese Art und Weise nicht den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien feststellen kann. In diesem Fall nimmt es an, daß die Tarifvertragsparteien eine andere verfassungskonforme Regelung getrof56 BAG, Urt. v. 8.9.1976, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Form; BAG, Urt. v. 23.1. 1980, AP Nr. 31 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 18.5.1983, AP Nr. 74 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 29.8.1984, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.1.1985, AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 26.8.1987, AP Nr. 138 zu § 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 18.5.1988, AP Nr. 145 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 57 BAG, Urt. v. 24.2.1988, AP Nr. 2 uz § 1 TVG Tarifverträge: Sehuhindustrie. 58 BAG, Besehl. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BGB. 59 BAG, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 21.3.1991, AP Nr. 31 zu § 622 BGB; BAG, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BGB. 60 BAG, Besehl. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BGB; BAG, Urt. v. 21.3.1991, AP Nr. 31 zu § 622 BGB.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

279

fen oder übernommen hätten 61 . Aufgrund dieser Vermutung hatte das BAG die Verfahren bis zur jeweiligen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Neuregelung der Fragen ausgesetzt, um später die neue Gesetzesvorschrift anzuwenden62 . Allerdings begründet das BAG in einer Entscheidung nach Erlaß des Kündigungsfristengesetzes vom 7. 10. 1993 die Anwendung des § 622 BGB dieser neuen gesetzlichen Regelung zweifach63 • Zunächst stellt es fest, daß bei nicht verfassungskonformer Regelung einer Frage durch die Tarifvertragsparteien die tarifdispositive Gesetzesnorm eingreift. Das gleiche Ergebnis ergebe sich, wenn man auf den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien abstelle. Da diese selbst keine Neuregelung getroffen haben und auch nicht ersichtlich sei, daß sie von einer neuen gesetzlichen Regelung abweichen wollten, sei die Tariflücke durch Anwendung des § 622 BGB in der Fassung des Kündigungsfristengesetzes vom 7.10.1993 zu füllen. Damit läßt das BAG die Frage offen, ob überhaupt eine Tariflücke besteht, wenn dispositives Gesetzesrecht angewandt werden kann, und wie gegebenenfalls eine solche Lücke zu füllen ist64 . In den anderen Fällen, in denen das BAG einen Verfassungsverstoß des Tarifvertrages angenommen hat, gab es keine gesetzlichen Vorschriften, mit deren Hilfe der Rechtsstreit hätte entschieden werden können. In einem Fall hat das Gericht eine Tarifnorm durch verfassungskonforme Auslegung erweitert, um ihre Unwirksamkeit zu vermeiden65 . Diese Möglichkeit hat es in einem anderen Fall mit der Begründung verneint, daß den Tarifvertragsparteien mehrere Regelungsmöglichkeiten offen stünden, weshalb ihnen die Neufassung zu überlassen sei66 . Dieser Gedanke hätte das BAG bereits in dem zuerst genannten Urteil hindern müssen, die Tarifnorm verfassungskonform "auszulegen". Das zeigt sich auch daran, daß die Tarifvertragsparteien 1978 in einer Änderungsvereinbarung genau den entgegengesetzten Weg gewählt haben 67 • 61 BAO, Beseh!. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BOB; BAO, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BOB; BAO, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BOB; offengelassen in: BAO, Urt. v. 21.3.1991, AP Nr. 31 zu § 622 BOB. 62 BAO, Beseh!. v. 28.2.1985, AP Nr. 21 zu § 622 BOB; BAO, Teilurt. v. 21.3.1991, AP Nr. 29 zu § 622 BOB; BAO, Beseh!. v. 21.3.1991, AP Nr. 30 zu § 622 BOB; BAO, Teilurt. v. 29.8.1991, AP Nr. 32 zu § 622 BOB; vg!. aueh BAO, Urt. v. 21.3.1991, AP Nr. 31 zu § 622 BOB. 63 BAO, Urt. v. 10.3.1994, AP Nr. 44 zu § 622 BOB. 64 Siehe zu dieser Frage unten 4. Teil 2. Kap. C. III. 1. b). 65 BAO, Urt. v. 30.11.1970, AP Nr. 148 zu § 242 BOB Ruhegehalt. 66 BAO, Urt. v. 16.12.1978, AP Nr. 178 zu § 242 BOB Ruhegehalt. 67 Vg!. BAO, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVO Besitzstand.

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

280

In einem weiteren Urteil hat das BAG eine Regelungslücke, die durch einen Verfassungsverstoß entstanden war, ausgefüllt, obwohl es ausdrücklich festgestellt hat, daß die Regelung in dieser Form von den Parteien beabsichtigt war68 . Damit räumte es ein, daß es bei Lücken durch verfassungswidrige Tarifvertragsnormen nicht um den mutmaßlichen Willen der Parteien geht. Es kam dem Gericht vielmehr darauf an, daß unabhängig von den Absichten der Tarifvertragsparteien die Grundrechtsverletzung behoben wurde. Obwohl es erkannte, daß verschiedene Lösungen denkbar sind, schloß es die Lücke selbst. Das BAG lehnte es ausdrücklich ab, den Rechtsstreit auszusetzen und den Tarifvertragsparteien Gelegenheit zur Neuregelung zu geben. Der erkennende Senat sah auch keine Abweichung zum Urteil vom 23.9.1981, in dem der 4. Senat eine Lückenfüllung abgelehnt hat, wenn mehrere Lösungen billigem Ermessen entsprechen69 . Dieser Grundsatz sei auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden. In dem vom 4. Senat zu beurteilenden Fall sei eine Entscheidung auch ohne eine Lückenfüllung möglich gewesen, dagegen bestünde hier die willkürliche Schlechterstellung der Klägerin fort, wenn die fehlende Regelung nicht ergänzt würde. Zurückhaltender hat sich das BAG wieder in einem späteren Urteil geäußert, in dem es um einen Verstoß gegen Art. 3 GG durch eine Ehefrauenzulage ging. Wenn die Gerichte nichtige Tarifvertragsnormen ersetzten oder ergänzten, griffen sie in unzulässiger Weise in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie ein. Es handele sich nicht um eine verfassungskonforme Auslegung, da sie sich nicht am Willen der Tarifvertragsparteien orientierten70. Es müsse den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, wie sie den Anspruch für die Zukunft regeln wollten. Solange keine Neuregelung bestehe, sei ein Anspruch für keinen Arbeitnehmer gegeben. Für die Vergangenheit regelte das Gericht allerdings die Frage selbst. Es lehnte zwar ausdrücklich den in der zuvor genannten Entscheidung vom 14.12.198271 entwickelten größeren Spielraum bei der Fortbildung ab. Ein Eingriff in die Tarifautonomie sei aber deshalb nicht gegeben, weil für die Vergangenheit praktisch nur eine Regelung möglich sei. Es sei sinnlos, den Tarifvertragsparteien die Normierung zu überlassen, wenn das Ergebnis ohnehin feststünde.

68

69 70 71

BAG, BAG, BAG, BAG,

Urt. Urt. Urt. Urt.

v. v. v. v.

14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand. 23.9.1981, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten. 13.11.1985, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

281

2. Zusammenfassung zur Ausfüllung unbewußter Tariflücken durch das BAG

Trotz der uneinheitlichen Rechtsprechung kann man eine Tendenz des BAG erkennen, den Tarifvertragsparteien bei der Lückenfüllung den Vortritt zu lassen. Die Entscheidungen, in denen es aufgrund der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten von einer eigenen Regelung absieht, überwiegen. Ob eine Lückenfüllung durch die Gerichte zulässig ist, bestimmt das BAG zum Teil nach subjektiven, zum Teil nach objektiven Kriterien. Zunächst untersucht es, ob ein mutmaßlicher Wille der Tarifvertragsparteien erkennbar ist. Eine Ergänzung des Tarifvertrages soll aber auch dann zulässig sein, wenn nur eine der denkbaren Regelungen billigem Ermessen entspricht. Damit löst sich das BAG von den Vorstellungen der Tarifvertragsparteien. 3. Die Ausfüllung planwidriger Unvollständigkeiten

Das BAG hat in den genannten Urteilen, in denen es die Tariflücke als planwidrige Unvollständigkeit des Tarifvertrages definiert hat, nur einmal eine Lücke bejaht72 . In der Entscheidung ging es um eine Anrechnung von Sozialversicherungsrenten von "Beamten" bei einer Privatbahn auf ihr Ruhegehalt. Der Kläger hatte für einige Monate vom Sozialversicherungsträger eine Rente erhalten und gleichzeitig vom Beklagten noch Gehalt bezogen. Die Beklagte hatte eine Anrechnung der Rente auf ihre Gehaltszahlungen an den Kläger vorgenommen. Das BAG stellte eine Regelungslücke fest, da die "Beamten" bei der Privatbahn den Beamten bei der Bundesbahn hätten gleichgestellt werden sollen. Dieses Ziel werde bei einer reinen Auslegung nach dem Wortlaut nicht erreicht. Die Lücke hatte die Vorinstanz nach Ansicht des BAG zutreffend im Wege der ergänzenden Auslegung geschlossen. Allerdings schwankt das Gericht in dieser Entscheidung in der Terminologie zwischen Auslegung und Fortbildung des Tarifvertrages. Es spricht sowohl von einer ergänzenden Auslegung zur Lückenfüllung, als auch von einer erweiternden Auslegung des Tarifvertrages. Es mahnt weiterhin zur Vorsicht bei einer vom Wortlaut abweichenden Auslegung. Während die beiden letzten Formulierungen dafür sprechen, daß die weitergehende Anrechnung dem Tarifvertrag durch Auslegung entnommen werden kann, liegt bei einer "ergänzenden Auslegung zur Lückenfüllung" eine Fortbildung des Tarifvertrages vor. Aufgrund dieser Ungenauigkeit im Ausdruck ist ein Vergleich mit der Lückenfüllung in den Fällen, in denen das BAG von unbewußten Lücken spricht, kaum möglich. 72

BAG, Urt. v. 3.6.1966, AP Nr. 112 zu § 242 BGB Ruhegehalt.

282

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Aus dem Urteil ist jedoch erkennbar, daß es dem BAG maßgeblich um das Ziel der tarifvertraglichen Regelung geht. Damit nimmt es den Willen der Tarifvertragsparteien als Maßstab für die Lückenfeststellung und -ausfüllung. Für die Ausfüllung der unbewußten Regelungslücke benutzt das BAG demgegenüber einen weiteren Maßstab. Neben dem mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien kann für die Lückenfüllung auch sprechen, daß nur eine Regelung billigem Ermessen entspricht. Damit können die unterschiedlichen Formulierungen des BAG zur Tariflücke zu abweichenden Ergebnissen bei der Lückenfeststellung und -füllung führen. IV. Vermischung von einfacher und ergänzender Auslegung in der Rechtsprechung des BAG Soeben wurde bereits ein Urteil vorgestellt, in dem das BAG nicht klar zwischen der Auslegung und der Lückenfüllung trennt. Solche Ungenauigkeiten finden sich auch in weiteren Entscheidungen. So will das BAG eine vom Wortlaut abweichende Auslegung vornehmen, wenn sich die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen nachträglich geändert haben 73. Diesem Vorgehen steht der Grundsatz des BAG entgegen, daß andere Auslegungsmiuel nicht zu berücksichtigen sind, wenn sie zu Ergebnissen führen, die mit dem Wortlaut nicht übereinstimmen74 . Es widerspricht auch der These von der Grenzfunktion des Wortlauts, die das BAG mit der Übernahme der Kriterien für die Gesetzesauslegung auf Tarifverträge übertragen haC 5 .

73 BAG, Urt. v. 9.10.1956, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.11.1964, AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961. 74 BAG, Urt. v. 26.4.1966, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 11.12.1974, AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung. 75 BAG, Urt. v. 23.9. 1992, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 108 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 21.4.1993, AP Nr. 109 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 26.5.1993, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; BAG, Urt. v. 23.6.1993, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: Versicherungsgewerbe; BAG, Urt. v. 21. 7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 24.11.1993, AP Nr. 116 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG, Urt. v. 12.1.1994, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 6 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 7 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 16.2.1994, AP Nr. 8 zu § 14 BBiG; BAG, Urt. v. 9.3.1994, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Graphisches Gewerbe; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen; BAG, Urt. v. 20.4.1994, AP Nr. 108 zu § 613a BGB; BAG, Urt. v. 4.5.1994, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifver-

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

283

Damit läßt sich auch eine Entscheidung des BAG nicht vereinbaren, in der es eine Norm über ihren Wortlaut hinaus verfassungskonform ausgelegt hat76 . Besonders deutlich zeigt sich die Vermischung von Auslegung im engeren und im weiteren Sinne durch das BAG in einem Urteil, in dem es eine unbewußte Lücke feststellt, die im Wege der Auslegung zu schließen sei77 .

B. Die Fortbildung von Tarifverträgen nach der Literatur Nach der überwiegenden Meinung in der Literatur sind Ergänzungen oder Fortbildungen - die Terminologie ist uneinheitlich - von Tarifverträgen grundsätzlich zulässig. Zurückhaltend bis ablehnend haben sich Zilius 78, LöwischlRieble 79 und Zachert 80 geäußert, deren Ansichten deshalb gesondert nach der Darstellung der übrigen Literaturmeinungen vorgestellt werden sollen.

I. Befürworter der Fortbildung von Tarifverträgen 1. Die Fortbildungskompetenz der Gerichte

Mit der Rechtsfortbildungskompetenz der Gerichte befassen sich nur wenige Autoren. Nach WiedemannlStumpj ist die Lückenfüllung bei Tarifverträgen ebenso zulässig wie bei Gesetzen 81 .

träge: Elektrohandwerk; BAG, Urt. v. 18.5.1994, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 4 zu § 27 BAT; BAG, Urt. v. 15.6.1994, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen; BAG, Urt. v. 17.8.1994, AP Nr. 49 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAG, Urt. v. 26.10.1994, AP Nr. 189 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG, Urt. v. 23.11.1994, AP Nr. 12 zu § 21 MTB 11; BAG,Urt. v. 11.1.1995, AP Nr. 10 zu §§ 22,23 BAT Zuwendungs-TV; BAG, Urt. v. 8.2.1995, AP Nr. 1 zu § 22 MTA; BAG, Urt. v. 10.5.1995, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Medizinischer Dienst; BAG, Urt. v. 10.5.1995, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Medizinischer Dienst; BAG, Urt. v. 14.6.1995, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Durchführungspflicht; BAG, Urt. v. 26.7.1995, EzA § 4 TVG Großhandel Nr. 4; BAG, Urt. v. 25.10.1995, AP Nr. 57 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 76 BAG, Urt. v. 30. 11. 1970, AP Nr. 148 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 77 BAG, Urt. v. 5.8.1992, AP Nr. 144 zu § 611 BGB Gratifikation. 78 Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, Einleitung, Rdnr. 259ff. 79 Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rdnr. 424ff. 80 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, S. 573. 81 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 416.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Mayer-Maly zieht dagegen den Vergleich zur ergänzenden Vertragsauslegung. Die Tarifautonomie stehe einer Ergänzung von Tarifverträgen nicht entgegen; auch die allgemeine Vertragsfreiheit genieße verfassungsrechtlichen Schutz, ohne daß deswegen Bedenken gegen eine ergänzende Vertragsauslegung aufgekommen wären. Dem stärkeren Schutz der Tarifautonomie könne man durch den Spielraum der ergänzenden Auslegung von Tarifverträgen Rechnung tragen 82 . Buchner stützt sich für die Fortbildungskompetenz der Gerichte darauf, daß sowohl bei Gesetzen als auch bei Verträgen Fortbildung und Ergänzung anerkannt seien, so daß es für diese Frage auf die Einordnung des Tarifvertrages nicht ankomme 83 .

Auch Schaub befürwortet grundsätzlich die Fortbildung von Tarifvertragsnormen. Während Änderungen und Ergänzungen nicht in Betracht kämen, sei ein Weiterdenken der tariflichen Regelungen mit Art. 9 Abs. 3 GG zu vereinbaren. Außerdem sprächen das Rechtsstaatsprinzip und das Rechtsverweigerungsverbot für eine Rechtsfortbildung 84 . Liedmeier prüft die Fortbildungskompetenz der Gerichte unter den Gesichtspunkten der Tarifautonomie und der geringeren demokratischen Legitimation der Gerichte. Diese Aspekte schlössen eine Ergänzung oder Abänderung von Tarifverträgen durch die Gerichte aus, nicht aber eine Fortbildung, die sich am Willen der Tarifvertragsparteien orientiert 85 . Eine Fortbildung sei auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Normgeber selbst den Tarifvertrag ergänzen könnten. Ob eine solche Ergänzung tatsächlich geschähe, sei fraglich, so daß ohne eine richterliche Fortbildung oft die Unvollständigkeit nicht behoben würde 86 .

2. Das Fortbildungsbedürfnis

Einige Autoren teilen die Ansicht des BAG, daß eine Fortbildung bei Tarifverträgen zurückhaltender als bei Gesetzen vorzunehmen ist. Zur Begründung wird angeführt, daß Tarifverträge von vornherein nicht mit dem Anspruch aufträten, die Arbeitsbedingungen lückenlos zu regeln. Außerdem gelte das sonstige Arbeitsrecht, wenn eine Frage tarifvertraglieh nicht geordnet sei, so daß der Bürger durch Tariflücken nicht rechtlos Mayer-Maly, RdA 1988, S. l36, l37. Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C) I. 84 Schaub, NZA 1994, S. 597, 60l. Das zuletztgenannte Argument benutzt auch Achilles, Partei wille, S. 125. 85 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 122f. 86 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 123 f. 82

83

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

285

gestellt werde 87 . Achilles und Müller weisen darüber hinaus noch darauf hin, daß die Tarifvertragsparteien möglicherweise durch das Offenlassen einer Frage eine freie Entwicklung des Problems ermöglichen wollen 88 . Gegen diese Ansicht wenden sich Wiedemann/Stumpj. Nach Abschluß des Vertrages seien die Tarifvertragsparteien meist nicht mehr bereit, Lücken zu schließen, so daß eine Lückenfüllung nicht weniger erforderlich sei als bei Gesetzen. Es wäre aber ungerecht, den Tarifunterworfenen, die die Unvollständigkeit des Tarifvertrages nicht zu verantworten hätten, eine Entscheidung nach dem Telos des Tarifvertrages nicht zu gewähren. Auch wenn die Streitfrage mit Hilfe arbeitsvertraglicher oder gesetzlicher Regelungen geklärt werden könne, sei deshalb eine Ergänzung erforderlich89 . 3. Fortbildung von Tarifverträgen oder Anwendung bestehenden Gesetzesrechts

Damit beantworten Wiedemann/Stumpj zugleich die weitergehende Frage, ob das Bestehen konkreter vertraglicher oder gesetzlicher Lösungen eine Fortbildung des Tarifvertrages hindert. Nach Buchner ist nur eine "tarifübersteigende,,9o Fortbildung ausgeschlossen. Eine tarifvertragsimmanente Rechtsfortbildung werde dagegen nicht durch die bestehende arbeitsgesetzliehe Ordnung gehindert, da sie nur der Ergänzung des Tarifvertrages nach dem Sinn des Gesamtwerks diene 91 . Däubler will zunächst die Tariflücke mit Hilfe artverwandter und vergleichbarer Regelungen des Tarifvertrages schließen. Fehlten diese, so sei überhaupt keine gültige Tarifnorm vorhanden, so daß arbeitsvertragliehe oder gesetzliche Regelungen gälten 92 • Daraus ergibt sich, daß vertragliche oder gesetzliche Normen nur subsidiär eingreifen sollen, wenn eine Fortbildung nicht geglückt ist.

Dagegen sieht Schaub keinen Regelungsbedarf, wenn die Lücke durch Gesetzesrecht geschlossen werden kann, so daß eine Rechtsfortbildung nicht erlaubt sei93 . 87 Achilles, Parteiwille, S. 128; Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C)II.2.b., c.; Müller, DB 1960, S. 148; vgl. auch Herschel, FS für E. Molitor, S. 192. 88 Achilles, Parteiwille, S. 128; Müller, DB 1960, S. 148. 89 Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 416. 90 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C) H. 2. b., c. lehnt sich an die von Larenz verwandten Begriffe der gesetzesimmanenten und gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung an. 91 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (e) II. 2. c. 92 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 152. 93 Schaub, NZA 1994, S. 597, 601.

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Liedmeier läßt die Frage offen, ob in solchen Fällen bereits keine Lücke vorliegt oder die Lücke durch Gesetzesrecht ausgefüllt wird. Eine Fortbildung scheide jedenfalls aus 94 • 4. Die Behandlung bewußter Lücken in der Literatur

Bewußte Lücken sollen nach überwiegender Ansicht in der Literatur aufgrund des sonst vorliegenden Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 GG nicht durch den Richter gefüllt werden können 95 . Buchner und Müller verweisen zur Begründung zusätzlich darauf, daß auch bei Gesetzen die Ausfüllung bewußter Lücken ausgeschlossen sei96 • Achilles, Liedmeier und Schaub differenzieren danach, weshalb die Frage offen geblieben ist. Die Tarifvertragsparteien könnten eine bestimmte Regelung bewußt unterlassen haben. Es sei aber auch möglich, daß sie das Problem offen gelassen haben, um seine Lösung Wissenschaft und Praxis oder den Gerichten zu überlassen97 . Achilles will keine der beiden Lückenarten durch die Gerichte schließen lassen. Auch Fragen, deren Lösung der Praxis überlassen wurde, dürften von den Gerichten nicht beantwortet werden 98 • Dabei übersieht Achilles, daß solche Fragen früher oder später in einem Rechtsstreit verbindlich geklärt werden müssen. Eine Rechtsfrage, die durch die Praxis geklärt werden soll, wird also letztlich immer im Sinne der einen oder anderen Partei durch die Gerichte entschieden, auch wenn der Richter eine Lückenfüllung ablehnt.

Nach Liedmeier liegt eine ausfüllbare Lücke vor, wenn die Tarifvertragsparteien die Lösung einer Frage den Gerichten überlassen haben. Durch dieses Vorgehen übertrügen die Tarifvertragsparteien nicht unzulässigerweise die Wahrnehmung ihrer Aufgaben die Richter, da diese nur klarstellten, wie nach dem Regelungsplan das Problem bereits geregelt sei. Dagegen will Liedmeier eine Fortbildung des Tarifvertrages in anderen Fällen wohl ausschließen, in denen die Tarifvertragsparteien eine Regelung bewußt offen gelassen haben 99 . Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 133. Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C)II.1.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 152; Dütz, FS für K. Molitor, S. 75; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht 11/1, S. 363; Müller, DB 1960, S. 148; Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 223; Schaub, NZA 1994, S. 597, 601; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 417. 96 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C)II.1.; Müller, DB 1960, S. 148. 97 Achilles, Parteiwille, S. 122; Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 133; Schaub, NZA 1994, S.597, 601. 98 Achilles, Parteiwille, S. 127ff. 94

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

287

Schaub denkt an den Fall, daß die Tarifvertragsparteien sich nur formal einigen, die Lösung aber tatsächlich den Gerichten überlassen. Er will eine Rechtsfortbildung immer dann zulassen, wenn damit nicht in die Tarifautonomie eingegriffen wird. Allerdings bleibt unklar, ob Schaub in dem von ihm hervorgehobenen Fall des Formelkompromisses eine Fortbildung vornehmen will 100. 5. Die ausfüllbare Lücke

Die ausfüllbare Lücke wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Buchner, Liedmeier und Schaub verlangen eine planwidrige Unvollständigkeit lO1 • Däubler setzt diesen Begriff mit dem der unbewußten Regelungslücke gleich 102. Achilles will nur unbewußte Lücken durch die Gerichte schließen lassen 103. Liedmeier hat sich mit dem Begriff der planwidrigen Unvollständigkeit näher auseinandergesetzt. Er verlangt, daß der Wille der Tarifvertragsparteien, der für eine Lücke spricht, sich aus dem Text des Tarifvertrages ergibt 104 . Außerdem bezieht er in den Regelungsplan der Parteien auch ihren Willen zur Gleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte ein 105. Liedmeier ist sich darüber im Klaren, daß dadurch die Möglichkeiten zur Fortbildung erweitert werden. Tarifimmanente und tarifübersteigenden Fortbildung würden so einander angenähert.

Gegen ein so weites Verständnis der planwidrigen Unvollständigkeit sprechen sich Wiedemann/Mangen aus 106. Wenn die Tarifvertragsparteien einen eindeutigen Willen gebildet hätten, dem allein ein (verfassungs)rechtlicher Mangel zugrundeliegt, sei es ausschließlich ihre Aufgabe, den Fehler zu korrigieren. Eine Ausnahme komme nur in Betracht, wenn lediglich eine Lösung möglich ist. Weiterhin nimmt Liedmeier eine planwidrige Unvollständigkeit nicht nur dann an, wenn sich das Fehlen einer Regelung nicht mit dem Regelungsplan vereinbaren läßt. Sie soll auch gegeben sein, wenn eine bestimmte Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 133 f. Schaub, NZA 1994, S. 597, 601. 101 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C)II.1.; Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 125ff.; Schaub, NZA 1994, S. 597, 601; sinngemäß auch Siegers, DB 1967, S. 1630, 1636. 102 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 152. 103 Achilles, Partei wille, S. 127 ff. 104 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 127f. 105 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 126f. 106 Wiedemann/Mangen, Anm. zu BAG, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand. 99

100

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Lösung dem Regelungsplan besser entspricht als der Verzicht auf eine Regelung. Damit werde der Wille der Tarifvertragsparteien so weit wie möglich verwirklicht 107. Ob im Einzelfall ein Fehlen der Regelung dem Regelungsplan am besten entspricht, sei unter Berücksichtigung des Verhältnisses der Leistungen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zu beurteilen 108. Dieses Verhältnis dürfe von den Gerichten nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Bei einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz sei deshalb das vorgesehene Leistungsvolumen zu errechnen und auf die im Hinblick auf Art. 3 GG neu ermittelte Gruppe der Begünstigten zu verteilen. Dadurch vermeide man eine einseitige Begünstigung der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite 109 . 6. Die Ausfüllung von Tariflücken

Unterschiedlich ist auch die Art und Weise der Lückenfüllung. Zum Teil wird entsprechend der Rechtsprechung des BAG verlangt, daß sich der Richter in den Grenzen dessen hält, was nach Treu und Glauben, dem Gesamtzusammenhang und dem in Betracht kommenden wirtschaftlichen und sozialen Zweck unter Berücksichtigung der Belange beider Parteien und ihres aus dem Vertrage hervorgehenden mutmaßlichen Willens zwischen ihnen rechtens sein soll 110. Düfz und Schaub verlangen mit dem BAG, daß sichere Anhaltspunkte bestehen, wie die Tarifvertragsparteien den Fall geregelt hätten 111. Buchner und im Anschluß an ihn Mayer-Maly wollen Fortbildungen zulassen, die durch die Teleologie des Tarifvertrages gefordert werden (tarifvertragsimmanente Fortbildung). Dagegen kämen tarifvertragsübersteigende Fortbildungen, also Fortbildungen, die durch die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs und rechtsethische Prinzipien geboten seien, nicht in Betracht 112 • Achilles fragt nach dem hypothetischen Willen der Parteien. Als Mittel für die Lückenfüllung diene die Analogie, die allerdings nicht angewandt Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 129f. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 130ff. 109 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 132. 110 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht IVl, S. 363f.; Schaub, NZA 1994, S. 597, 601; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 418. III Dütz, FS für K. Molitor, S. 75; Schaub, NZA 1994, S. 597, 601; vgl. auch Gitter, Anm. zu BAG, Urt. v. 24.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 112 Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (e) 11.2. b., C.; Mayer-Maly, RdA 1988, S. 136, 137; vgl. auch Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 127. 107

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2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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werden dürfe, wenn eine Nonn abschließend sein soll. In diesem Fall greife der Umkehrschluß ein 113. Weiterhin seien gegebenenfalls die Natur der Sache, Rechtsprinzipien und das kritische Rechtsgefühl des Richters zur Lückenfüllung heranzuziehen 114. Däubler will Lücken aus dem Sinn und Zweck des Tarifvertrages schließen. Dazu seien artverwandte oder vergleichbare Regelungen heranzuziehen. Fehlten diese, so sei überhaupt keine gültige Tarifnonn vorhanden, so daß arbeitsvertragliche oder gesetzliche Regelungen gälten 115 • Das Erfordernis der artverwandten oder vergleichbaren Regelung nimmt Däubler jedoch sogleich ausdrücklich wieder zurück. Im Anschluß an Mayer-Maly läßt er es genügen, wenn sich der Richter an die Grundgedanken des Tarifvertrages hält und im übrigen die Lösung entwickelt, die redliche Tarifvertragsparteien getroffen hätten 116. Dabei ist unklar, ob diese Erweiterungen der Lückenfüllung nur für Gehaltsbestimmungen gelten sollen oder ob sie auf alle Tarifnonnen Anwendung finden können. Nachträgliche Lücken will Däubler wie anfängliche unbewußte Lücken behandeln 117. Nikisch sieht zwei Möglichkeiten für die Lückenfüllung. Zunächst sei eine Analogie zu versuchen. Wenn eine Entscheidung so nicht getroffen werden könne, sei unter Berücksichtigung des Gesamtinhalts zu ermitteln, wie die Tarifvertragsparteien das Problem bei billiger Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen gelöst hätten 118. Liedmeier verlangt eine Lückenfüllung in der Weise, die dem Regelungsplan am besten gerecht wird 119. Dabei gehe es nicht darum, einen hypothetischen Willen zu ermitteln. Vielmehr sei ein tatsächlich vorhandener Wille festzustellen, der zwar primär auf andere Fragen bezogen sei, über diese aber hinausweise. Aufgrund der Parallele zur Gesetzesauslegung seien auf Tarifverträge auch die dort anerkannten Methoden wie z. B. die Analogie und die teleologischen Reduktion anzuwenden.

Achilles, Parteiwille, S. 130 ff. Achilles, Parteiwille, S. 133ff. Gegen letzteres Vorgehen Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 137 f. 115 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 152. 116 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 153. 117 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rdnr. 154. 118 Nikisch, Arbeitsrecht 11, S. 223. 119 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 135 f. 113

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19 Kamanabrou

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

7. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten Liedmeier, Mayer-Maly und Schaub setzen sich auch mit der Frage auseinander, ob verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten bei der Lückenfüllung einer Fortbildung des Tarifvertrages entgegenstehen.

Nach Mayer-Maly sind die Gerichte an einer ergänzenden Auslegung eines Tarifvertrages auch dann nicht gehindert, wenn mehrere Gestaltungsmöglichkeiten bestehen 120. Ohne eine solche Ergänzung werde im Ergebnis eine der denkbaren Lösungen gewählt, ohne daß man sich mit den anderen auseinandergesetzt habe. Außerdem sei es selten, daß nur ein Auslegungsergebnis in Betracht komme. Auch bei mehrdeutigen Verträgen müsse der Richter den Vertragspartnem ein sinnvolles Vertragsverständnis verschaffen. Schließlich gehe es bei der ergänzenden Vertragsauslegung nicht darum, den mutmaßlichen Willen der Parteien zu ermitteln. Festgestellt werden soll vielmehr, was redliche Tarifvertragsparteien nach Treu und Glauben vereinbart hätten. Die ergänzende Auslegung sei dem objektiven Vertrags sinn verpflichtet 121. Liedmeier differenziert zwischen zwei Fällen. Wenn mehrere Lösungen denkbar sind, die sich mit dem Regelungsplan mehr oder weniger gut vereinbaren lassen, will er diejenige auswählen, die dem Regelungsplan am besten entspricht. Eine richterliche Fortbildung scheide in diesem Fall nicht aus. Nur wenn mehrere Möglichkeiten dem Regelungsplan gleich gut entsprächen, sei eine richterliche Fortbildung ausgeschlossen, da der Richter sich dann nicht mehr am Regelungsplan der Tarifvertragsparteien orientieren könne l22 .

Auch Schaub schließt Fortbildungen nicht völlig aus, wenn die Tarifvertragsparteien mehrere Gestaltungsmöglichkeiten haben 123. Dabei scheint er den Tarifvertragsparteien vorrangig eine Regelungsmöglichkeit einräumen zu wollen, da er auf ein Urteil des BAG verweist, in dem das Gericht nach einer Wartefrist die Lücke systemgerecht geschlossen habe l24 . In diesem Urteil hat es das BAG jedoch ausdrücklich abgelehnt, den Rechtsstreit auszusetzen, um eine Neuregelung durch die Tarifvertragsparteien zu ermöglichen. Als Beispiel für eine zurückhaltende Ersatznormierung durch die Gerichte kann es deshalb nicht dienen.

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Mayer-Maly, RdA 1988, S. 136, 137. Mayer-Maly, RdA 1988, S. 136, 137. Liedmeier; Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 136ff. Schaub, NZA 1994, S. 597, 601 f. BAG, Urt. v. 14.12.1982, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

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11. Kritische Äußerungen zur Fortbildung von Tarifverträgen

Neben diesen der Fortbildung aufgeschlossenen Äußerungen gibt es auch vorsichtigere bis ablehnende Ansichten in der Literatur. Herschel warnt vor einer zu großzügigen Anpassung tarifvertraglicher Nonnen an veränderte Verhältnisse, wie sie das BAG zum Teil fordert l25 . Es könne den Tarifvertragsparteien selbst überlassen werden, (rückwirkende) Änderungen zu vereinbaren 126. Außerdem müsse ein Tarifvertrag die Arbeitsbedingungen nicht vollständig regeln. Selbst wenn der Wille der Tarifvertragsparteien über die getroffene Regelung hinausging, sei eine Ergänzung nicht nötig. Die Frage sei dann eben nicht geregelt. Weiterhin schließt Herschel sich der Meinung Nikischs an, daß eine Neuregelung entgegen dem Willen der Tarifvertragsparteien nicht Aufgabe des Richters sei 127. Zilius will eine ergänzende Auslegung von Tarifverträgen nur sehr eingeschränkt zulassen l28 . Er stimmt der herrschenden Meinung insoweit zu, als er in der Schließung bewußter Tariflücken einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie sieht. In den Bereich autonomer Rechtssetzung werde aber auch dann eingegriffen, wenn unbewußte Lücken geschlossen würden. Ein rechtloser Zustand trete bei einem Verbot der Lückenfüllung nicht ein, da dann einzelvertragliche oder gesetzliche Bestimmungen eingreifen könnten l29 . Bei einem Verstoß der Tarifnonnen gegen den Gleichheitsgrundsatz oder Vertrauensschutz sei dagegen eine ergänzende Auslegung möglich. Dabei handele es sich aber nicht um Lückenfüllung. Der Tarifvertrag werde jeweils nur für den Einzelfall ergänzt, darüber hinaus bleibe es bei der vorrangigen Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien 130.

Widersprüchlich äußern sich LöwischlRieble. Einerseits wollen sie eine richterliche Lückenfüllung überhaupt nicht zulassen 131. Andererseits schließen sie sich aber der Rechtsprechung des BAG zu den Voraussetzungen der Lückenfüllung teilweise an 132 . Sie lehnen zwar die Ansicht des Gerichts ab, daß eine Lücke im Tarifvertrag geschlossen werden kann, wenn nur eine Regelung billigem Ennessen entspricht. Auch dann gehe es noch um eine 125 BAG, Urt. v. 9.10.1956, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urt. v. 12.11.1964, AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961. 126 Herschel, FS für E. Molitor, S. 192. 127 Herschel, FS für E. Molitor, S. 192f. 128 Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, Einleitung, Rdnr. 259ff. 129 Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, Einleitung, Rdnr. 262. 130 Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, Einleitung, Rdnr. 263. 131 LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 424. 132 LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 425ff. 19*

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4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Regelungsfrage, die den Tarifvertragsparteien überlassen werden müsse 133. Nur wenn es sich ausnahmsweise um einen Verstoß gegen Art. 3 GG handele, könne möglicherweise die tarifliche Regelung auf den ungeregelten Sachverhalt erstreckt werden 134. Wie dieses "Erstrecken" der Tarifnorm methodisch einzuordnen ist, lassen LöwischlRieble offen. Gegen die vom BAG vorrangig befürwortete Lückenfüllung nach dem Willen der Tarifvertragsparteien bei hinreichenden und sicheren Anhaltspunkten für ihren Regelungswillen bringen sie keine Argumente vor. Nachdem Löwischl Rieble sich gegenüber anderen Ansichten auf den Standpunkt dieser Rechtsprechung gestellt haben 135, ist unklar, ob sie eine Lückenfüllung tatsächlich generell ausschließen. Zachert will den Tarifvertragsparteien einen weiten Spielraum einräumen, in dem sie von gesetzgeberischen und richterlichen Eingriffen freigestellt werden. Er stützt sich dabei auf die bessere verfahrensrechtliche Legitimation der Tarifvertragsparteien und auf ihre größere Sachnähe 136 . Außerdem seien Tarifverträge gegenüber Gesetzen flexibler, so daß Änderungen durch die Normgeber eher zu erwarten seien 137 . Gegenüber der Regelung der Arbeitsbedingungen durch Einzelarbeitsverträge bestehe aufgrund der machtkompensatorischen Funktion des Tarifvertrages ein geringeres Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Eng damit verbunden sei der Gedanke der Richtigkeitsgewähr oder Richtigkeitschance 138 . Gegenüber der Fortbildung von Gesetzen müsse bei Tarifverträgen bereits die Lückenfeststellung zurückhaltend erfolgen. Auch eigne sich die dort häufig verwandte Analogie nicht zur Lückenfüllung bei Tarifverträgen, da es wegen ihrer kurzfristigen Anlage oft an den erforderlichen ähnlichen Regelungen fehle. Außerdem erfordere ein solches Vorgehen Wertungen nach dem Zweck der Tarifnormen, was sich mit der vorwiegend grammatischen und systematischen Auslegung von Tarifverträgen nicht vereinbaren lasse 139 . Gegen die Ausfüllung unbewußter Lücken durch das BAG wendet Zachert ein, daß auch bei tarifimmanenter Rechtsfortbildung Regelungsfragen mit ihren entsprechenden Spielräumen durch die Richter entschieden würden. Darüber hinaus enthalte bereits die Lückenfeststellung Wertungselemente 140 . Spielräume bei LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 428. LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 428. 135 l:öwischIRieble, § 1 TVG, Rdnr. 426. 136 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, 137 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, 138 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, 139 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, TVG, Grundlagen, Rdnr. 333. 140 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, TVG, Grundlagen, Rdnr. 334. 133

134

S. S. S. S.

573, 580f., 584. 573, 581 f. 573, 582f., 585. 573, 591; Kempen/Zachert,

S. 573, 592; Kempen/Zachert,

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

293

der Lückenfeststellung seien nur dann nicht gegeben, wenn es um Lücken durch Verstoß gegen höherrangiges Recht gehe. Wenn ausnahmsweise in diesen Fällen nur eine Lösung möglich sei, fehle auch bei der Lückenausfüllung ein Bewertungsspielraum 141.

C. Die eigene Konzeption I. Die generelle Zulässigkeit einer Fortbildung von Tarifverträgen durch die Gerichte Die Zulässigkeit der ergänzenden Vertragsauslegung ergibt sich aus § 157 BGB. Über die generelle Zulässigkeit der Fortbildung von Gesetzen gibt es dagegen keine eigene Regelung. Auch für Tarifverträge gibt es keine Norm, die ihre Fortbildung oder Ergänzung gestattet. Man muß sich deshalb ebenso wie bei Gesetzen fragen, ob der Richter überhaupt über die Auslegung hinausgehen und von dem durch sie ermittelten Inhalt des Tarifvertrages abweichen darf. Die Regelung des § 157 BGB ist nicht ohne weiteres anwendbar. Der Tarifvertrag weist gegenüber den Verträgen des BGB die Besonderheit auf, daß er ein Normenvertrag ist. Man kann deshalb nicht unbesehen die Normen des BGB über Verträge auf ihn anwenden. Vielmehr sind Methodenprobleme beim Tarifvertrag unter Berücksichtigung seiner Eigenheiten zu lösen. Dabei kann der Tarifvertrag einmal dem Vertrag, einmal dem Gesetz näher stehen. Aus diesem Grund ist für die Fortbildung oder Ergänzung von Tarifverträgen selbständig zu untersuchen, welche Argumente für oder gegen sie sprechen. Gegen eine Fortbildung oder Ergänzung sprechen möglicherweise die Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG. Streitig ist, ob Gesetze im Sinne dieser Vorschriften nur formelle oder auch materielle Gesetze sind l42 . Selbst wenn man die materiellen Gesetze hinzunimmt, ist aber zweifelhaft, ob Tarifverträge zu den materiellen Gesetzen in diesem Sinne gehören. In der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur werden Tarifverträge als materielle Gesetze bezeichnet l43 . LöwischlRieble zählen sie ausdrücklich zu den 141 Zachert, FS Deutscher Arbeitsgerichtsverband, S. 573, 595f.; Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rdnr. 336ff. 142 Für den weiten Gesetzesbegriff: von Münch/Kunig-Schnapp, Art. 20 GG, Rdnr. 36; von Münch-Meyer, Art. 97 GG, Rdnr. 10; Maunz/Dürig/ Herzog /Scholz, Art. 20 GG, Rdnr. 51; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 93. Für den engen Gesetzesbegriff: Isensee/Kirchhof-Schmidt-Aßmann, § 24, Rdnr.37. 143 BAG, Urt. v. 23.3.1957, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG; BAG, Urt. v. 14.7.1961, AP Nr. 1 zu Art. 24 VerfNRW; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht lI/I, S. 350; Schaub, Handbuch, S. 1652; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 14.

294

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Gesetzen im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG I44 . Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 6.5.1954 145 , das in diesem Zusammenhang gelegentlich zitiert wird, den Begriff des materiellen Gesetzes nicht benutzt. Nach Ossenbühl ist zwar unter materiellen Gesetzen ,jeder Rechtssatz" zu verstehen l46 , so daß man auch Tarifverträge unter den Begriff subsumieren könnte. In seiner Auflistung der Rechtsquellen erscheinen sie jedoch nicht. Zum Teil wird in der verfassungsrechtlichen Literatur aber bereits der Begriff des materiellen Rechts enger gefaßt. Meyer spricht von Rechtssätzen der vollziehenden Gewalt l47 , zu denen Tarifverträge nicht gehören. Selbst wenn man aber Tarifverträge als Gesetze im Sinne der Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG ansieht, hindern diese Normen ebensowenig wie bei der Fortbildung von Gesetzen eine Fortbildung oder Ergänzung des Tarifvertrages l48 . Ein Argument gegen eine vom ausgelegten Inhalt abweichende richterliche Entscheidung ergibt sich aber aus Art. 9 Abs. 3 GG. Diese Norm schützt neben der Gründung von Koalitionen auch ihre koalitionsspezifische Betätigung. Dazu gehört u. a. die Tarifautonomie, d. h. das Recht der Tarifvertragsparteien, die Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge festzulegen l49 . Das spricht dafür, die Regelung der Tarifvertragsparteien auf jeden Fall zu respektieren und Abweichungen durch Ergänzung oder Fortbildung des Tarifvertrages nicht zuzulassen. Andererseits ist die Fortbildung von Gesetzen nicht wegen der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers ausgeschlossen. Es wäre überraschend, wenn den Tarifvertragsparteien ein größerer Spielraum eingeräumt wäre als dem Gesetzgeber. Für die Fortbildung von Gesetzen hat sich gezeigt, daß die Gesetzesbindung der Rechtsprechung nicht uneingeschränkt gilt. Sie kann durch andere Verfassungsprinzipien beeinflußt werden und muß gegebenenfalls mit ihnen zum Ausgleich gebracht werden 150. Dasselbe gilt auch für die Rücksichtnahme des Richters auf die Tarifautonomie. Die Tarifautonomie ist ebensowenig uneinschränkbar wie andere Verfassungswerte. Es bleibt zu klären, in welchem Maße Fortbildungen oder Ergänzungen von Tarifverträgen zulässig sind. Grundsätzlich ist es nicht ausgeschlossen, daß der Richter über den durch Auslegung ermittelten Inhalt des Tarifvertrages hinausgeht.

LöwischlRieble, § 1 TVG, Rdnr. 16. BVerfG, Urt. v. 6.5.1964, AP Nr. 15 zu § 2 TVG. 146 Erichsen-Ossenbühl, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rdnr. 4. 147 von Münch-Meyer, Art. 97 GG, Rdnr. 10. 148 V gl. für die Fortbildung von Gesetzen oben 1. Teil 2. Kap. C. 11. 149 larassI Pieroth, Art. 9 GG, Rdnr. 29; von Münch/Kunig-Löwer, Art. 9 GG, Rdnr. 71. 150 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. C.II. 144

145

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

295

11. Die Situation beim Tarifvertrag im Vergleich zur Fortbildung von Gesetzen und der Ergänzung von Verträgen Gesetze dienen nonnalerweise der abstrakt-generellen Regelung bestimmter Ausschnitte der Lebenswirklichkeit. Dagegen sollen Verträge im Regelfall eine bestimmte Rechtsbeziehung zweier Parteien ordnen. Es hat sich gezeigt, daß bei Gesetzen und Verträgen die Abweichung vom durch Auslegung ennittelten Inhalt aus unterschiedlichen Gründen gewünscht und erforderlich ist und sich auch jeweils anders gestaltet l51 . Die Behandlung von Tarifverträgen richtet sich möglicherweise nach einer dieser beiden Vorgehensweisen. Denkbar ist aber auch ein dritter Lösungsweg. Tarifverträge enthalten wie Gesetze abstrakt-generelle Regelungen. Sie sollen die Arbeitsbedingungen für eine Vielzahl von Nonnunterworfenen festsetzen. Zwar regeln Tarifverträge die Arbeitsbedingungen nicht unbedingt umfassend. Die Vorschriften, auf die die Tarifvertragsparteien sich einigen, sollen aber wie Gesetzesnonnen für eine unbestimmte Zahl von Fällen und Personen bestimmend sein. Ein Unterschied zum Gesetz besteht allerdings darin, daß Tarifverträge in der Regel für eine kürzere Dauer als Gesetze angelegt sind. Für diesen Zeitraum sollen sie jedoch wie Gesetze eine allgemeine und gleiche Ordnung für die jeweiligen Verbandsmitglieder oder den einzelnen Arbeitgeber, der einen Haustarifvertrag abschließt, bieten. Insofern besteht keine Übereinstimmung zu Verträgen, die der konkreten Ausgestaltung einer Rechtsbeziehung dienen. Dementsprechend treten auch nicht die Ergänzungsprobleme auf, die sich bei Verträgen zeigen. Bei diesen geht es darum, ob sich die Lösung einer Frage zwischen den Parteien aus dem Vertrag ergibt 152 . Dagegen ist bei Gesetzen die abstrakt-generelle Lösung einer Rechtsfrage dem eigentlichen Plan des Gesetzgebers oder neueren Gesetzen anzupassen. Weiterhin kann eine Fortbildung aus Gründen des Umgehungsschutzes oder in Vertretung des Gesetzgebers erforderlich sein 153. Im folgenden soll die Fortbildung von Tarifverträgen in Anlehnung an die Fortbildung von Gesetzen untersucht werden. Dabei sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird in letzteren Fällen auf die Ausführungen zur Fortbildung von Gesetzen verwiesen.

151 152 153

Siehe oben 3. Teil 2. Kap. Siehe oben 2. Teil 2. Kap. B. III. 1. Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. V. und VII.

296

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

TII. Die Zulässigkeit der Fortbildung von Tarifverträgen im Einzelfall

1. Die Lückenfüllung a) Die Regelungslücke Für die Fortbildung von Gesetzen ist von einem engen Lückenbegriff auszugehen. Eine Lücke ist gegeben, wenn der Gesetzgeber seinen Regelungsplan im weiteren Sinne nicht korrekt umgesetzt hat l54 . Dieser Lückenbegriff kann auf Tarifverträge übertragen werden. Danach kommt entsprechend der einhelligen Meinung in Rechtsprechung und LiteraturiSS in der Tat eine "Lückenfüllung" nicht in Betracht, wenn die Tarifvertragsparteien eine Frage bewußt nicht geregelt haben. Auch für Tarifverträge ist der weite Lückenbegriff abzulehnen, da es bei seiner Anwendung nicht immer um die Durchsetzung des Willens des Normgebers geht. Da aber die verschiedenen Fallgruppen unterschiedlicher Rechtfertigung bedürfen, ist eine Beschränkung auf den engen Lückenbegriff sinnvoll 156. Man kann bei Tarifverträgen wie bei Gesetzen zwischen anfänglichen und nachträglichen, verdeckten und offenen Lücken unterscheiden i57 . Um eine anfängliche offene Lücke handelte es sich z. B. in dem Fall, in dem eine Berechnungsgrundlage für Sonderzahlungen für diejenigen Arbeitnehmer fehlte, die in dem maßgeblichen Zeitraum kein Arbeitsentgelt erhalten hatten 158. Eine nachträgliche offene Lücke durch rechtliche Veränderung entstand in einem Tarifvertrag durch die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmerbeiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung nach dem Zustandekommen des Tarifvertrages 159 . Eine nachträgliche offene Lücke durch tatsächliche Veränderung könnte z. B. dadurch entstehen, daß sich eine neue Berufssparte entwickelte, für die dann keine eigenen tariflichen Vorschriften vorhanden sind. Mit anfänglichen oder nachträglichen verdeckten Lücken hatte sich das BAG bisher noch nicht auseinanderzusetzen. Eine nachträgliche verdeckte Lücke könnte z. B. entstehen, wenn die Tarifvertragsparteien eine Zusatzleistung für alle denkbaren Fehlzeiten eines Arbeitnehmers ausschließen 154 155 156 157 158 159

Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D.1. 1. So BAG wie Fn. 7; Schrifttum wie Fn. 95. Vgl. für die Fortbildung von Gesetzen oben 1. Teil 2. Kap. D.I.1. Zur Terminologie siehe oben 1. Teil 2. Kap. D.1. 2. a), b) und d). BAG, Urt. v. 5.8.1992, AP Nr. 144 zu § 611 BGB Gratifikation. BAG, Urt. v. 10.12.1986, AP Nr. 1 zu § 42 MTB 11.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

297

wollen, bei der Aufzählung aber nur die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Fehlzeiten aufzählen. Wird dann später eine neuer Tatbestand gesetzlich eingeführt, aufgrund dessen der Arbeitnehmer keine Arbeit leisten muß, ist bei einem derart weiten Regelungsplan der Tarifvertragsparteien von einer verdeckten Lücke in der Tarifnorm auszugehen, durch die die Leistung gewährt wird. Eine solche Lücke kann auch bereits von Anfang an bestehen. So ist z. B. eine anfängliche verdeckte Lücke anzunehmen, wenn im genannten Fall die Tarifvertragsparteien eine Regelung für alle bestehenden Fehlzeiten treffen wollen, bei der Aufzählung aber einen Tatbestand übersehen. Von dem Gegensatzpaar unbewußte und bewußte Lücken sind letztere nur dann Lücken im Sinne des engen Lückenbegriffs, wenn sie nachträglich entstanden sind und dann von den Tarifvertragsparteien entdeckt wurden. Eine "anfängliche bewußte Regelungslücke" ist auch bei Tarifverträgen keine Lücke 160. Der Tarifvertrag ist zwar unvollständig, weil eine zu regelnde Frage offen gelassen wurde. Die Unvollständigkeit ist aber nicht planwidrig: Es fehlt nicht an einer bestimmten Regelung nach der Absicht der Tarifvertragsparteien. Die Frage ist zwar zu entscheiden, dabei kann man aber nicht auf eine bestimmte Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien zurückgreifen. Es liegt eben keine erkennbare Inhaltsvorstellung der Tarifvertragsparteien vor, nach der die Regelung ausgefüllt werden könnte. In solchen Fällen muß sich der Richter an gesetzliche oder einzelvertragliche Bestimmungen halten. Die Tarifvertragsparteien können ihre Regelungsbefugnis nicht den Gerichten übertragen. Wenn sie ein Problem nicht selbst lösen, fehlt es an einer tarifvertraglichen Regelung in diesem Punkt, es gilt die allgemeine Rechtsordnung. Jede nachträgliche Regelungslücke ist zunächst eine unbewußte Lücke. Auch wenn sie den Tarifvertragsparteien bewußt wird, bleibt es bei einer planwidrigen Unvollständigkeit des Tarifvertrages gemessen an ihrer Regelungsabsicht. Deshalb sind nachträgliche bewußte Lücken ebenfalls zu den Lücken im Sinne des engen Lückenbegriffs zu zählen. b) Die richterliche Kompetenz zur Ausfüllung von Tariflücken (Das "Ob" der Lückenfüllung) Wie bei der Fortbildung von Gesetzen kann sich der Richter auch bei der Lückenfüllung bei Tarifverträgen auf den Willen des Normgebers stützen. Damit kann die richterliche Kompetenz zur Fortbildung entsprechend der Fortbildungskompetenz bei Gesetzen begründet werden 161. 160 161

Vgl. für Gesetze oben 1. Teil 2. Kap. D.I.2.c). Siehe dazu oben 1. Teil 2. Kap. D. I. 3.

298

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

Möglicherweise scheidet aber eine Lückenfüllung aus, wenn dispositives Recht zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe die Frage entschieden werden kann J62 . Nach einer Ansicht ist in diesen Fällen bereits eine Lücke zu verneinen 163. Dagegen jedoch einzuwenden, daß die Lückenfeststellung nicht davon abhängt, ob für ein Problem überhaupt eine Lösung zur Verfügung steht, sondern davon, ob nach dem Regelungsplan der Tarifvertragsparteien gerade von ihnen eine Regelung geschaffen werden sollte. Auch die Ansicht, die zwar eine Lücke bejaht, sie jedoch nicht durch eine Fortbildung des Tarifvertrages schließen will, ist abzulehnen 164. Eine Lücke ist nur gegeben, wenn ein Regelungsplan der Tarifvertragsparteien feststellbar ist, aus dem sich ergibt, daß die Frage eigentlich anders gelöst werden sollte, als es in den vereinbarten Tarifnormen geschehen ist. Wenn man einen derart konkreten Regelungsplan ermitteln kann, wird der Tarifautonomie am ehesten dadurch Rechnung getragen, daß man ihm zur Durchsetzung verhilft. Gegen dieses Vorgehen könnte sprechen, daß der Regelungsplan der Tarifvertragsparteien den Normunterworfenen nicht erkennbar ist, während sie vom Gesetzesrecht ohne weiteres Kenntnis nehmen können. Deshalb könnte dem dispositiven Recht der Vorrang vor einer Fortbildung des Tarifvertrages einzuräumen sein. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, daß man den Regelungsplan der Parteien mit denselben Auslegungsmitteln feststellt wie den Inhalt der Tarifnorm. Da das so gewonnene Auslegungsergebnis den Normunterworfenen zumutbar ist, kann sich auch der Regelungsplan der Tarifvertragsparteien gegenüber dispositivem Recht durchsetzen. Dispositives Gesetzesrecht hindert also die Fortbildung des Tarifvertrages nicht.

c) Die Art und Weise der Lückenfüllung Auch für die Art und Weise der Lückenfüllung gilt das zu den Gesetzeslücken Gesagte entsprechend 165. Wie Liedmeier zutreffend feststellt, muß sie dem Regelungsplan entsprechen 166. Wenn theoretisch mehrere Möglichkeiten bestehen, die Lücke auszufüllen, so hindert das eine Fortbildung des Tarifvertrages nicht. Welcher der Lösungswege auszuwählen ist, ergibt sich aus dem Regelungsplan der Tarifvertragsparteien. Schaub, NZA 1994, S. 597, 601. BAG, Urt. v. 18.10.1990, AP Nr. 56 zu § 7 BUriG Abgeltung. 164 Im Ergebnis ebenso Buchner, AR-Blattei [D] Tarifvertrag IX Auslegung unter (C)II.2.c.; Wiedemann/Stumpf, § 1 TVG, Rdnr. 416. 165 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. I. 4. 166 Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 135. 162

163

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

299

2. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen Nachträgliche rechtliche Veränderungen können für Tarifverträge auf verschiedenen Ebenen eintreten. Sie können zum einen durch spätere Tarifverträge entstehen - vorausgesetzt, daß diese die älteren Tarifverträge nicht ablösen. Dann ist die Situation dieselbe wie bei älteren Gesetzen, deren rechtliches Umfeld sich durch neuere Gesetze ändert. Zum Teil handelt es sich um Lückenfälle, zum Teil kollidieren die alten und neuen Regelungsabsichten, so daß die älteren Vorschriften angepaßt werden müssen l67 . Es kann aber auch eine Änderung der staatlichen Gesetze eintreten. Für das neue Gesetz besteht dabei keine Gefahr. Es ist entweder tarifdispositiv, so daß ein Vorrang des Tarifvertrages seinem Zweck nicht widerspricht. Oder es ist zwingend, so daß es die tarifvertragliche Regelung verdrängt. Schließlich ist es noch möglich, daß es mit einer tariflichen Regelung nicht direkt in Konflikt gerät. In diesem Fall könnte es durch die Veränderung des rechtlichen Umfelds den Regelungsplan des Tarifvertrages durchkreuzen. Der Regelungsplan der Tarifvertragsparteien wird möglicherweise aufgrund der Veränderung nicht mehr zutreffend umgesetzt. Dann entsteht im Tarifvertrag eine nachträgliche Regelungslücke, für deren Ausfüllung die für Lücken üblichen Regeln gelten.

3. Kollision mit anderen Normen des Tarifvertrages Wie bei Gesetzen kann es auch bei Tarifverträgen zu einer Kollision mit Vorschriften derselben Normgeber kommen, die zur gleichen Zeit wie die ausgelegte Bestimmung entstanden sind. Dafür kommen in der Regel nur Normen desselben Tarifvertrages in Betracht. In solchen Fällen geht es ebenso wie bei Gesetzen um die Einschränkung einer Norm zugunsten einer anderen. Sie läßt sich wiederum dann rechtfertigen, wenn diese zweite Norm andernfalls nicht plangemäß wirken könnte und die ausgelegte Norm nur in einem Randbereich betroffen wird 168. Ist die zuletztgenannte Voraussetzung nicht erfüllt, so führt die Kollision zur Unwirksamkeit beider Normen. Bei der Einschränkung ist zu beachten, daß sie nur zulässig ist, soweit sie unerläßlich ist, und daß die eingeschränkte Norm nicht wesentlich verändert werden darf l69 .

167 168 169

Siehe zum Vorgehen bei Gesetzen oben 1. Teil.2. Kap. D.1. 2. a) bb) und III. 1. Siehe für die Fortbildung von Gesetzen oben '.1. Teil 2. Kap. D. IV. 2. Siehe für die Fortbildung von Gesetzen oben 1. Teil 2. Kap. D. IV. 3.

300

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

4. Die Fortbildung von Tarifverträgen zum Zwecke des Umgehungsschutzes Bei Gesetzen kommt eine Fortbildung auch in Betracht, um eine Umgehung des Gesetzes zu verhindern 170. Dabei kann es sich um Lückenfüllung handeln. Eine eigene Fallgruppe bildet die Fortbildung zum Zweck des Umgehungsschutzes aber, wenn auch der Regelungsplan des Gesetzgebers nicht weit genug reicht und man statt dessen auf das dahinter liegende Regelungsziel zurückgreifen muß. In diesen Fällen ist bei Tarifverträgen - anders als bei Gesetzen - eine Fortbildung nicht möglich. Das liegt an der vertraglichen Entstehungsweise von Tarifverträgen. Den Gesetzgeber kann man sich zumindest insoweit als Einheit denken, als man ihm den Willen zu einer konsequenten und folgerichtigen Lösung der geregelten Fragen unterstellen kann. Zwar können auch Gesetze in ganz erheblichem Maße auf Kompromissen beruhen. Auch dann erwartet man aber, daß die einmal eingeschlagene Richtung beibehalten wird. Bei Tarifverträgen tritt der Kompromißcharakter dagegen stärker zum Vorschein. Was jenseits des gemeinsamen Regelungsplanes der Tarifvertragsparteien liegt, muß grundsätzlich als umstritten angesehen werden. Daß die Verhandlungen darüber hinaus in eine bestimmte Richtung gegangen wären, kann man nicht feststellen. Möglicherweise wäre der Kompromiß gerade an diesem Punkt gescheitert oder zumindest in anderer Form geschlossen worden. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß damit nicht Ergänzungen nach dem Regelungsplan der Tarifvertragsparteien ausgeschlossen werden sollen. Hier geht es vielmehr um Fortbildungen, die nur noch auf Ziele hinter dem Regelungsplan gestützt werden könnten. Solche gemeinsamen Ziele kann man jedoch bei Tarifverträgen nicht annehmen. Eine Fortbildung von Tarifverträgen zum Zwecke des Umgehungsschutzes scheidet daher aus.

5. Die Fortbildung von Tarifverträgen bei Verfassungsverstößen der Tarifvertragsparteien Bei Gesetzen ist eine Rechtsfortbildung, durch die ein Verfassungsverstoß bereinigt werden soll, unzulässig l7l . Soweit es lediglich um Einschränkungen geht, genügt die Möglichkeit der Teilnichtigerklärung. Ausdehnungen sind aufgrund der vorrangigen Regelungskompetenz des Gesetzgebers abzulehnen. 170 17l

Siehe oben L Teil 2. Kap. D. V. Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. VI.

2. Kap.: Die Auslegung im weiteren Sinne

301

Dieselben Argumente sprechen gegen eine Fortbildung von Tarifverträgen bei Verfassungs verstößen. Es ist Sache der Tarifvertragsparteien, die verfassungswidrige Regelung zu korrigieren. Das gilt auch für die Vergangenheit. Für vergangene Zeiträume kann dem gleichheitswidrig nicht begünstigten Kläger aber die Leistung durch das Gericht zugesprochen werden, wenn nur auf diesem Weg die Gleichbehandlung erreicht werden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn Leistungen an einen gemessen an Art. 3 GG zu kleinen Kreis gewährt wurden, die von den Empfängern nicht zurückgefordert werden können. In einem solchen Fall kommt nur eine nachträgliche Zahlung an die zu Unrecht nicht Begünstigten in Betracht. Dementsprechend kann auch das Gericht, das über den Anspruch des Klägers zu entscheiden hat, die Leistung zusprechen, ohne zuvor die Entscheidung der Tarifvertragsparteien abzuwarten. Liedmeier will auch für die Zukunft richterliche Regelungen zulassen, wenn das dem Regelungsplan der Parteien besser entspricht, als der Verzicht auf eine Fortbildung. Es kommt ihm darauf an, daß das von den Tarifvertragsparteien ausgehandelte Leistungsverhältnis gewahrt bleibt 172 • Liedmeier wendet diesen Gedanken auf den Ehefrauenzulagenfall des BAG an. In diesem Fall war eine Ehefrauenzulage an männliche Arbeitnehmer gezahlt worden, während verheiratete weibliche Arbeitnehmer diese zusätzliche Leistung nicht erhielten. Liedmeier will hier das Gesamtvolumen der vorgesehenen Zahlungen ermitteln und diesen Betrag auf alle verheirateten Arbeitnehmer aufteilen 173 •

Nach dem hier vertretenen Lösungsansatz scheidet eine Fortbildung des Tarifvertrages aber aus, wenn sich aus dem Regelungsplan der Tarifvertragsparteien keine konkreten Anhaltspunkte für die Ersatzlösung ergeben. Liedmeiers Lösung hat zwar den Vorteil, daß das Leistungsverhältnis für die Zukunft bestehen bleibt. Das Leistungsverhältnis kann aber trotzdem aus dem Gleichgewicht kommen, wenn für die Vergangenheit die Gleichbehandlung nur durch Nachzahlung erreicht werden kann. Wie diese Summen in die Neuregelung einzubeziehen sind, bleibt nach Liedmeiers Lösung offen. Deshalb sollte die Neuregelung den Tarifvertragsparteien überlassen werden, wobei Abweichungen vom ursprünglichen Leistungsverhältnis zugunsten oder zuungunsten beider Seiten denkbar sind. Das entspricht der Vorstellung, daß sich auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite ungefähr gleich starke Verhandlungspartner gegenüberstehen, die das Risiko der Unwirksamkeit von Tarifnormen gleichermaßen tragen können.

172 173

Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 129 ff. Liedmeier, Arbeitsrechtliche Kollektivverträge, S. 132.

302

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

6. Tarifvertragsvertretendes Richterrecht Gesetzesvertretendes Richterrecht ist bei einer Beeinträchtigung von Grundrechten durch ein Unterlassen des Gesetzgebers zulässig 174. Eine Parallele hierzu gibt es bei Tarifverträgen nicht. Die Tarifvertragsparteien unterliegen keinem Regelungszwang. Wenn sie eine Frage nicht normieren, greifen gesetzliche und einzelvertragliche Regelungen ein. Für tarifvertragsvertretendes Richterrecht besteht deshalb von vornherein kein Bedürfnis.

7. Zusammenfassung zur Fortbildung von Tarifverträgen Tarifverträge dienen ebenso wie Gesetze dazu, für die Norrnunterworfenen abstrakt-generelle Regelungen zu schaffen. Deshalb ergeben sich für die Frage, unter welchen Bedingungen der Richter über den durch Auslegung ermittelten Inhalt des Tarifvertrages hinausgehen darf, Parallelen zur Fortbildung von Gesetzen. Dagegen bestehen keine Übereinstimmungen zur Ergänzung von Verträgen. Trotz der Gemeinsamkeiten mit der Rechtsfortbildung sind die dort entwickelten Fallgruppen nicht vollständig auf die Fortbildung von Tarifverträgen übertragbar. Zwar besteht im Vergleich zur ergänzenden Vertragsauslegung eine größere Nähe der Fortbildung von Tarifverträgen zur Fortbildung von Gesetzen, es herrscht aber keine völlige Übereinstimmung. Zulässig ist bei Tarifverträgen eine Lückenfüllung. Eine Fortbildung kann auch vorgenommen werden, um den Tarifvertrag nachträglichen rechtlichen Veränderungen anzupassen, soweit es sich dabei nicht bereits um einen Fall der Lückenfüllung handelt. Schließlich kann auch eine Kollision zweier Vorschriften, die die Tarifvertragsparteien zum selben Zeitpunkt geschaffen haben, durch Fortbildung des Tarifvertrages aufgelöst werden. Eine Übereinstimmung mit der Fortbildung von Gesetzen besteht auch insofern, als Tarifverträge bei Verfassungsverstößen nicht fortgebildet werden dürfen. Zusätzlich scheiden - anders als bei Gesetzen - auch Fortbildungen zum Zwecke des Umgehungsschutzes und tarifvertrags vertretende Fortbildungen aus.

174

Siehe oben 1. Teil 2. Kap. D. VII.

3. Kap.: Das Redaktionsversehen

303

3. Kapitel

Das Redaktionsversehen Im Gegensatz zu den zahlreichen Definitionen des Redaktionsversehens bei Gesetzen findet sich bei Tarifverträgen nur eine Definition. Ein Redaktionsversehen soll gegeben sein, wenn die Tarifvertragsparteien versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten 1• Entsprechend der Situation bei Gesetzen können Fehler bei der Abfassung des Tarifvertrages vor oder nach seinem Abschluß auftreten 2 . Hier sollen wiederum nur solche Fehler betrachtet werden, die bereits vor Abschluß des Tarifvertrages entstanden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt können Fehler dadurch zustande kommen, daß die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien im weiteren Sinne unzutreffend umgesetzt wird, oder daß fehlerhafte Niederschriften entstehen, die weiterbearbeitet werden. Während man im zuletztgenannten Fall dem Willen der Tarifvertragsparteien durch Auslegung zur Geltung verhelfen kann, muß man bei einer fehlerhaften Umsetzung der Regelungsabsicht im weiteren Sinne zur Rechtsfortbildung greifen. Dabei kann es sich - wie bei Redaktionsversehen bei Gesetzen - zum einen um Lückenfälle handeln. Es kann aber auch statt einer zu engen oder zu weiten Bestimmung schlicht eine falsche Regelung getroffen worden sein. Dann handelt es sich um eine von den Lückenfällen verschiedene Fallgestaltung, in der eine Rechtsfortbildung in Anlehnung an den Willen des Normgebers möglich ist3 . Als Beispiel für einen Fall, in dem die Tarifvertragsparteien ihre Regelungsabsicht im weiteren Sinne nicht korrekt umgesetzt haben, ohne daß eine Lücke gegeben war, kann eine Entscheidung des BAG aus dem Jahr 1990 dienen 4 • Der Kläger war Redakteur bei einem Verlag (Beklagter). Im März 1988 machte er eine Dienstreise, für die ihm der Beklagte 7,7 Stunden pro Tag vergütete. Der Kläger verlangte für die Dauer der Dienstreise eine Mehrarbeitsvergütung für weitere 0,3 Stunden pro Tag, wobei er sich auf § 9 Ziff. 3 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages für Redakteure an Zeitschriften vom 12.5. 1987 (MTV 1987) stützte. Diese Vorschrift lautete: "Für Tage, an denen der Redakteur außerhalb des Beschäftigungsortes tätig ist, wird eine Arbeitszeit von acht Stunden zugrundegelegt. " Das BAG hat einen Anspruch des Klägers auf die geforderte Mehrarbeitsvergütung ver1 BAG AP Nr. 2 zu §§ 22, 23 BAT-O unter Berufung auf Larenz, Methodenlehre, S. 400 und RütherslHeilmann, JZ 1991, S. 422,423. 2 Vgl. zum Redaktionsversehen bei Gesetzen oben 1. Teil 3. Kap. 3 Vgl. zum Redaktionsversehen bei Gesetzen oben 1. Teil 3. Kap. 4 BAG, Urt. v. 31.10.1990, JZ 1991, S. 419.

304

4. Teil: Die Interpretation von Tarifverträgen

neint. Es hat § 9 Ziff. 3 des MTV 1987 entgegen seinem Wortlaut dahin ausgelegt, daß nur eine Arbeitszeit von 7,7 Stunden pro Tag zugrundezulegen ist. Die anderslautende Formulierung der Vorschrift beruhe auf einem Redaktionsversehen. Im MTV 1987 sei die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit gegenüber dem davor gültigen MTV 1984 von 40 auf 38,5 Stunden herabgesetzt worden. Die einzelnen Regelungen seien von einer Redaktionskonferenz umgestellt worden, die aber nicht sämtliche Ziffern des § 9 MTV 1987 an die neue Arbeitszeit angepaßt hätte. Zu einer unvollständigen Umsetzung hätte sie kein Mandat gehabt. Da nicht erkennbar sei, daß die Tarifvertragsparteien in den Einzelregelungen des § 9 MTV 1987 nicht an die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit anknüpfen wollten, hätten alle Regelungen angepaßt werden müssen. Soweit das nicht geschehen sei, handele es sich um ein Redaktionsversehen. Im Ergebnis ist dem BAG zuzustimmen. Allerdings handelt es sich nicht um eine bloße Auslegung des § 9 Ziff. 3 MTV 1987, sondern um eine Rechtsfortbildung. Die Tarifvertragsparteien hatten beabsichtigt, die wöchentliche Regelarbeitszeit auf 38,5 Stunden herabzusetzen. Mit dem BAG ist davon auszugehen, daß dementsprechend auch die einzelnen Regelungen des § 9 MTV 1987 angepaßt werden sollten, da sie an die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit anknüpfen. Die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien im weiteren Sinne war also darauf gerichtet, durchgängig eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden (und damit eine tägliche Arbeitszeit von 7,7 Stunden) zugrundezulegen. Ihre Regelungsabsicht im engeren Sinne bezog sich darauf, die von der Redaktionskonferenz ausgearbeiteten Regelungen in Geltung zu setzen. Danach war in § 9 Ziff. 3 MTV 1987 für Dienstreisen von einer täglichen Arbeitszeit von acht Stunden auszugehen. Die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien im weiteren Sinne wurde also durch ihre Regelungsabsicht im engeren Sinne nicht korrekt umgesetzt. Dabei handelt es sich nicht um eine Lücke im Tarifvertrag, da man nicht sagen kann, daß die Regelung weiter ist als vorgesehen. Es handelt sich um eine fehlerhafte Umsetzung des Regelungsplanes, ohne daß zugleich eine Unvollständigkeit (in dem Sinne, daß eine Einschränkung fehlt) gegeben ist. In diesen Fällen kann, wie bereits ausgeführt, der tatsächliche Wille der Tarifvertragsparteien im Wege der Rechtsfortbildung durchgesetzt werden. § 9 Ziff. 3 MTV ist demnach dahingehend fortzubilden, daß auch bei Dienstreisen nur eine tägliche Arbeitszeit von 7,7 Stunden zugrundezulegen ist.

3. Kap.: Das Redaktionsversehen

305

Redaktionsversehen fehlerhafte Niederschrift/ Weitergabe des vorgesehenen Textes

Wille der Tarifvertragsparteien kann durch Auslegung durchgesetzt werden

20 Karnanabrou

fehlerhafte Umsetzung der Regelungsabsicht im weiteren Sinne Lücke im Tarifvertrag

keine Lücke im Tarifvertrag

Rechtsfortbildung

Rechtsfortbildung nach den Grundsätzen über die Lückenfüllung

Ergebnisse 1. Bei der Auslegung von Gesetzen kann man zwischen der Inhaltsfeststellung und der Inhaltsfestsetzung unterscheiden. Im ersten Fall versucht man, als Gesetzesinhalt den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Im zweiten Fall setzt der Auslegende selbst den Gesetzesinhalt fest. Die Inhaltsfeststellung hat aus verfassungsrechtlichen Gründen Vorrang vor der Inhaltsfestsetzung. Letztere ist nur zulässig, wenn und soweit der Wille des Gesetzgebers nicht feststellbar ist. 2. Zur Inhaltsfeststellung dienen die historische, die systematische und die subjektiv-teleologische Auslegung. Dabei haben ausdrückliche ZweckvorsteIlungen des Gesetzgebers den Vorrang vor einer lediglich erschlossenen Regelungsabsicht. Der Wortsinn einer Norm ist kein Auslegungskriterium. Eine objektive Wortbedeutung ist nicht feststellbar. Das Textverständnis des Auslegenden dient lediglich als Einstieg in die Auslegung, es gibt aber keine verbindlichen Anhaltspunkte für den Inhalt der Norm. Der mögliche Wortsinn einer Norm hat auch keine Grenzfunktion für die Auslegung, da ein solcher "möglicher Wortsinn" im Sinne einer abschließenden Aufzählung der möglichen Bedeutungsvarianten eines Ausdrucks nicht existiert. Objektiv-teleologische Auslegungskriterien sowie die verfassungskonforme Auslegung können zur Inhaltsfeststellung nicht herangezogen werden, da sie keinen Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers geben. 3. Zur Inhaltsfestsetzung dienen die objektiv-teleologischen Auslegungskriterien der Sachgerechtigkeit und der Folgenbetrachtung sowie die verfassungskonforme Auslegung. Bei der Inhaltsfestsetzung darf man sich über die Ergebnisse der Inhaltsfeststellung nicht hinwegsetzen. Eine verfassungskonforme Auslegung, durch die der Wille des Gesetzgebers korrigiert wird, ist daher nicht zulässig. 4. Eine Rechtsfortbildung von Gesetzen ist grundSätzlich zulässig. Sie unterscheidet sich von der Auslegung dadurch, daß durch sie von dem zuvor ermittelten Willen des Gesetzgebers abgewichen wird. Eine Rechtsfortbildungkann vorgenommen werden zur Ausfüllung von Gesetzeslücken, bei nachträglichen rechtlichen Veränderungen, die keine Lücken im Gesetz bewirken, bei einer Kollision zweier Normen desselben Gesetzgebers und aus Gründen des Umgehungsschutzes. Unter .engen Voraussetzungen ist auch eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung möglich. Bei Verfassungsverstößen des Gesetzgebers ist eine Rechtsfortbildung ausgeschlossen.

Ergebnisse

307

5. Redaktionsversehen bei Gesetzen können entweder durch Auslegung oder Rechtsfortbildung bereinigt werden. Im letzteren Fall kann es sich um eine Lückenfüllung oder um eine eigene Fallgruppe der Rechtsfortbildung handeln. 6. Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften kommt es zunächst auf das übereinstimmende Verständnis der Parteien an. Ist ein solches übereinstimmendes Verständnis der Willenserklärung(en) nicht feststellbar, so gelten die Erklärungen jeweils mit ihrem normativen Erklärungssinn. Zur Feststellung des Parteiwillens können entsprechend dem Vorgehen bei der Gesetzesauslegung historische, systematische und subjektiv-teleologische Aspekte herangezogen werden. Dagegen kommen objektiv-teleologische Erwägungen zur Inhaltsfeststellung noch nicht in Betracht. Sie dienen ebenso wie die gesetzeskonforme Auslegung der Bestimmung des normativen Inhalts einer Willenserklärung. Der Wortlaut ist aus den gleichen Gründen wie bei der Gesetzesauslegung weder Auslegungskriterium, noch begrenzt er die Auslegung. 7. Willenserklärungen können für verschiedene Adressaten unterschiedliche Bedeutungen haben. Sie genügen gesetzlichen Formvorschriften, wenn die Erklärung formgerecht abgegeben wurde. 8. Verträge können ergänzt werden, wenn eine Lücke im Vertrag besteht. Das ist der Fall, wenn eine Frage, die innerhalb der Vertragsbeziehung auftritt, vertraglich nicht geregelt ist. Soweit dispositives Recht vorhanden ist, geht seine Anwendung der ergänzenden Auslegung vor, wenn sich aus der Regelungsabsicht der Parteien nicht ergibt, daß sie die Lücke anders gefüllt hätten. 9. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Auslegung von Gesetzen und der Auslegung von Rechtsgeschäften besteht darin, daß für Gesetze nur ein einheitlicher Inhalt ermittelt werden darf, während Willenserklärungen für verschiedene Personen unterschiedliche Bedeutungen haben können. Dementsprechend kann bei der Auslegung von Rechtsgeschäften auch Material benutzt werden, das der anderen Partei oder Dritten nicht zugänglich ist, außerdem können nachträgliche Erklärungen der Parteien berücksichtigt werden. 10. Mit der Auslegung im weiteren Sinne verfolgt man bei Gesetzen und Rechtsgeschäften unterschiedliche Ziele. Bei der Rechtsfortbildung geht es darum, eine Norm für alle denkbaren Anwendungsfalle einheitlich abzuändern. Dagegen sind Verträge zu ergänzen, wenn eine gerade für die beteiligten Parteien wichtige Frage beim Vertragsschluß übersehen wurde oder sich die Verhältnisse gerade für sie geändert haben. Sowohl bei der Rechtsfortbildung als auch bei der ergänzenden Auslegung von Rechtsgeschäften treten Fälle auf, in denen man die Abweichung vom durch Auslegung 20'

308

Ergebnisse

ennittelten Inhalt auf den Willen der Personen oder Organe stützt, die die Regelung geschaffen haben. Für beide Auslegungsgegenstände gibt es aber auch Fälle, in denen die Abweichung anders begründet wird. 11. Auch bei der Auslegung von Tarifverträgen kann man zwischen Inhaltsfeststellung und Inhaltsfestsetzung unterscheiden, wobei die Inhaltsfeststellung wiederum Vorrang hat. Die Auslegungsmittel sind jeweils dieselben, wie bei der Gesetzes- und Vertragsauslegung. Wie bei der Gesetzesauslegung dürfen nachträgliche Äußerungen der Normgeber nicht zur Auslegung benutzt werden. Außerdem können nur solche Materialien herangezogen werden, die die Tarifvertragsparteien allen Betroffenen zugänglich machen. 12. Da Tarifverträge ebenso wie Gesetze dazu dienen, für die Normunterworfenen abstrakt-generelle Regelungen zu schaffen, ergeben sich bei ihrer Auslegung im weiteren Sinne Parallelen zur Rechtsfortbildung. Allerdings sind die dort entwickelten Fallgruppen nicht vollständig auf die Fortbildung von Tarifverträgen übertragbar. Anders als bei Gesetzen scheiden bei Tarifverträgen Fortbildungen zum Zwecke des Umgehungsschutzes und tarifvertragsvertretende Fortbildungen aus. 13. Redaktionsversehen bei Tarifverträgen sind ebenso wie Redaktionsversehen bei Gesetzen durch Auslegung oder Rechtsfortbildung zu beheben.

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Sachregister Analogie 96, 102, 288 f., 292 Andeutungstheorie 169 ff. Anschauungen der beteiligten Berufskreise 218, 227, 259f., 261 arbeitsrechtliches Schutzprinzip 244, 260 argumentum ad absurdum 48, 56 Auslegung - im engeren Sinne 210 - im weiteren Sinne 212 - von Gesetzen - Abgrenzung zur Rechtsfortbildung 41, 76 - Auslegungsmittel 36ff.,56ff. - Auslegungsziel 24 ff., 47 f. - historische 41 ff. - historisch-sprachliche 43 - historisch-teleologische 43 f. - rechtsvergleichende 48, 58 - systematische 44 f. - teleologische 46 ff. - objektiv-teleologische 48 ff., 56ff. - subjektiv-teleologische 47 f. - unbestimmte Rechtsbegriffe 67 - verfassungskonforme 50, 59 ff. - Arten 60 ff. - Begründung. 63 ff. - von Rechtsgeschäften - Auslegungsmittel 153ff., 164f., 169 - Auslegungsziel 136ff., 163f. - ergänzende 163, 164, 168 f., 179ff. - erläuternde 163, 168 - gesetzeskonforme 158 ff. - historische 155 f. - systematische 156

- teleologische 157 f. - objektiv-teleologische 157 f. - subjektiv-teleologische 157 - von Tarifverträgen - Auslegungsmittel 217 ff., 251 ff., 261 ff. - Auslegungsziel 215 ff., 232f., 247ff. - authentische Interpretation 255f. - gesetzeskonforme 258 f., 264 - historische 254ff., 257, 259 - objektive Theorie 215, 233 ff. - schuldrechtlicher Teil 214 - subjektive Theorie 215, 237ff. - systematische 223, 256f. - teleologische 225, 257f. - objektiv-teleologische 258, 259 f., 261 f. - subjektiv-teleologische 257 f. - verfassungskonforme 225, 258f.,262ff. Demokratieprinzip 31 f., 56, 67, 80 dispositives Recht 182 f., 185 f., 193 ff. Dissens 146, 266 f. Einheit der Rechtsordnung 63 f. Empfängerhorizont 137f., 160,211 Entstehungsgeschichte 41 ff., 58, 155f., 157,224, 254ff. Erklärungsbewußtsein 125, 127 ff. Erklärungssinn - normativer 137, 139, 141 ff., 152, 164, 170ff. - objektiver 170 f. Erklärungstheorie 120

320

Sachregister

falsa demonstratio 142ff., 169f., 267 Fiktion 130 f. Folgenbetrachtung 56f., 258, 261 Formzwecke 170 - im Mehrpersonenverhältnis 176ff. - im Zwei-Personen-Verhältnis 173 ff. Geltung des übereinstimmend Gewollten 141 ff. Geltungstheorie 121 ff. Geschäftswille 125, 129 Gesetzesbindung 23, 52, 59, 65, 77, 80, 110 Gewaltenteilungsprinzip 25, 30, 55, 80f., 112 Gleichbehandlungsgrundsatz 83, 108 Handlungswille 125, 126f. Immanente Teleologie des Gesetzes 82f. Inhaltsfestsetzung 29 ff., 53 ff., 75 f., 137, 141, 147, 152,212, 247ff. Inhaltsfeststellung 29 ff., 53, 75 f., 137,141,147,152, 21Of., 247f. Kollektivwille 27 Kompetenz des Richters zur Inhaltsfestsetzung 54 ff., 248 ff. Mentalreservation 139 f. Natur der Sache 28, 48 f., 11 0 Nichtigerklärung 105 ff. Parlamentsvorbehalt 32, 55 f., 67 planwidrige Unvollständigkeit 82, 84, 94, 269, 272ff., 297 Praktikabilität des Auslegungsergebnisses 226f., 258 Privatautonomie 147, 158, 184, 197, 206f. Protokollnotizen 254 ff.

Rangfolge - der Auslegungsrniuel 72 ff., 160ff., 264f. - der Auslegungsziele 72, 160f., 264 Rechtsfortbildung - generelle Zulässigkeit 76ff. - gesetzesimmanente 83 - gesetzesübersteigende 78, 84, 110f. - gesetzesvertretende 109ff. - Rechtsnotstand 84, 111 - Rechtsverweigerungsverbot 78, 110 - richterliche Kompetenz 94f., 98, 100, 103, 108f. , 110ff. - verfassungskonforme 105 ff. Rechtsgeschäft 118 f. rechtspolitischer Fehler 82 Rechtssicherheit 25, 42, 51 f., 59, 63f.,66 Rechtsstaatsprinzip 52, 56, 66, 67, 111 Redaktionsversehen - bei Gesetzen 114 ff. - bei Tarifverträgen 303 ff. Regelungsabsicht - im engeren Sinne 85 - im weiteren Sinne 85 Regelungslücke - bei Gesetzen - anfängliche 88 ff. - bewußte 90f. - nachträgliche 85 ff. - offene 91 - unbewußte 90 f. - verdeckte 91 ff. - bei Rechtsgeschäften - anfängliche 188 - bewußte 187 f. - nachträgliche 188 - unbewußte 188 - bei Tarifverträgen - anfangliche 273, 296f. - bewußte 269f., 273f., 286f., 297

Sachregister - nachträgliche 273f.,296f., 299 - offene 273 f., 296 - unbewußte 270f., 273f., 297 - verdeckte 273f.,296f. Sachgerechtigkeit 57 f. Scherzerklärung 128, 140 Tarifübung 226, 259 Teilnichtigerklärung 105 ff. Treu und Glauben 163f., 182, 184 f., 193, 200, 277 Verkehrssitte 153, 157f., 163f., 182 Vertrag 118 f. Vorgeschichte 42, 155, 224, 254, 259 Wegfall der Geschäftsgrundlage 202ff. Wesentlichkeitstheorie 32, 109, 112 Wille - der Tarifvertragsparteien 215 f., 222(, 231, 253f., 254f.

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- des Erklärenden 124f., 127, 136ff. - des Gesetzes 25,28 - des Gesetzgebers 24f., 26ff., 32 ff., 40, 75 f., 80 Willenserklärung 118 ff. - empfangsbedürftige 167 - nichtempfangsbedürftige 167 f. - Zurechnung als 132ff. Willensmangel 135, 138 f., 147 Willenstheorie 120 Wortsinn - allgemeiner Sprachgebrauch 33 f., 36ff., 154,221 - als Auslegungsmittel 36f., 154 f., 251 - Fachsprache 34, 37 - Grenzfunktion 38 ff., 155, 252 - möglicher 38 f., 252 - persönliches Verständnis des Interpreten 37,251 - Sondersprachgebrauch 36, 38, 22lf. - üblicher Sprachgebrauch 39f., 143