Die Auren des Wort-Bildes. Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens 978-3861100577

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Die Auren des Wort-Bildes. Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens
 978-3861100577

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Sigurd Martin

Die Auren des Wort-Bildes Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens

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Sigurd Martin

Die Auren des Wort Bildes Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens

MANNHEIMER

STUDIEN

ZUR

LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT

HERAUSGEGEBEN VON: JOCHEN HÖRISCH UND REINER WILD

Band 3

Sigurd Martin

Die Auren des Wort-Bildes Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens

Rührig Universitätsverlag St. Ingbert • 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Martin, Sigurd: Die Auren des Wort-Bildes: Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des versehenden Lesens / Sigui'd Martin. -St. Ingbert: Rührig, 1995 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft; Bd. 3) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-86110-057-6

NE: GT © 1995 by Rührig Universitätsverlag Postfach 1806, D-66368 St. Ingbert Alle Urheber- und Verlagsrechte Vorbehalten! Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Mikroverfilmung, Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Copyright-Vermerk der Abbildungen: Urheber Titel_Copyright-Vermerk_ Klee Paul 1929, 90 Hauptweg und Nebenwege © VG Bild-Kunst, Bonn 1994 Klee Paul 1938, 125 Der Graue und die Küste ©VG Bild-Kunst, Bonn 1994 Klee Paul 1938, 126 Vorhaben © VG Bild-Kunst, Bonn 1994 Klee Paul

1939, 124 Angstausbruch III

©VG Bild-Kunst, Bonn 1994

Umschlag: Jürgen Kreher Druck: Strauss Offsetdruck GmbH, Mürlenbach Printed in Germany 1995

Für Almut und unsere Eltern

DIE AUREN DES WORT-BILDES: GUNTER EICHS MAULWURF¬ POETIK UND DIE THEORIE DES VERSEHENDEN LESENS

EINLEITUNG

11

Zum ersten Teil der Arbeit - Zum zweiten Teil der Arbeit Die Druckgestalt der bisherigen "Maulwurf-Ausgaben und der Nutzen einer Konkordanz- Forschungsstand TEIL I: ZU EINER THEORIE DES VERSEHENDEN LESENS

25

1. SIGNUM, SCHRIFT UND GRAMMATEXTUALITÄT 1.1. Zur Theorie der Grammatextualität 1.2. Die chinesische Schrift Geschichte - Unterschiede und Gemeinsamkeiten der gespro¬ chenen Sprache und der Schriftsprache - Strukturmerkmale der chinesischen Schrift - Schreibmaterialien, Schriftduktus und InSchriftebene

25 26 29

2.

37

DIE VERÄNDERUNGEN DES SEHENS UND DAS ERSTARREN DER SCHRIFT 2.1. Die Veränderung des Sehens im ausgehenden Mittelalter 2.2. Zur Rationalisierung des Schriftbildes 2.2.1. Einheit aus Schrift und Bild

37 45 45

Exkurs: Mnemosyne, die Entstehung des Textes auf dem Webstuhl und der Weinberg des Textes

47

2.2.2. Die Entwurzelung des Textes von der Seite 2.2.3. Die Verdinglichung des Textes durch den Druck 2.3. Von der Fläche zur Linie zum Punkt zum - : Die veränderte Lektüre als eine Ursache der Abschleifung von Wortbedeutungen 2.4. Der "Maulwurf "Späne" als poetologische Programmschrift

52 59

3. 3.1. 3.2.

75 75 75

63 70

SEHEN UND LESEN IN DER GESTALTPSYCHOLOGIE Lesen: eine Einführung Gesetze des Sehens Gestaltwahrnehmung und ihre Bedeutung für das Lesen - Die Gliederung des Augenhintergrundes - Bewegung als notwendige Bedingung des Lesens - Die Beziehung vom Ganzen und den Teilen - Noch einmal: Perspektivisches Sehen - Nachbilder Zweiäugiges Sehen

4. FREUDS "TRAUMDEUTUNG" UND VERSEHENDES LESEN Traum und Unbewußtes

83

7

4.1.

Die vier Momente der Traumarbeit Erstes Moment der Traumarbeit: Verdichtung - Zweites Mo¬ ment der Traumarbeit: Verschiebung - Drittes Moment der Traumarbeit: Die Rücksicht auf Darstellbarkeit

Exkurs: "... in dem ein wechselnder und trüber Text sich wölkte, der von Farben schwanger war Walter Benjamins Beitrag zum Phänomen der Wortbrücken 4.2.

Viertes Moment der Traumarbeit: Die sekundäre Bearbeitung Die Regression

5. 5.1. 5.2.

LACANS THEORIE VOM BLICK Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion Die Spaltung von Blick und Sehen

Exkurs: Leonardo da Vincis Versuche der Zähmung des Blickes Spiegel - Die Unterdrückung des Blickes bei Leonardo da Vinci 5.3. 6. 6.1.

6.2.

Die Begegnung des Auges mit dem Text Verlesen: Der Blick begehrt auf gegen seine Unterdrückung Der Signifikant Kuckuck MAGIE DES ANAGRAMMS: DESTRUKTION DER SELBSTGE¬ WISSHEIT Günter Eichs Hörspiel "Das Jahr Lazertis" Aus Versehen/Aus Versen - Namen und Buchstaben - Namen und Eidechsen - "Es nehmet aber / und gibt Gedächtnis die See ..." - "Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen ..." "Was bleibet aber, stiften die Dichter" Anagramme und (Woll-) Lust: Unica Zürn und Roland Barthes

TEIL II: DIE AUREN DES WORTES IN GÜNTER EICHS "MAULWÜR¬ FEN" 1. 2. 2.1.

ZUR EINFÜHRUNG: EINE LEKTÜRE DES "MAULWURFS" "VERGEBLICHER VERSUCH ÜBER BÄUME" DER ALPHABETISMUS Analyse von "Hilpert" "Der Alphabetismus geht zunächst von der Erbsünde aus"

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93 98 107 107 111 113 118 124 112 133 133

153

163

163 173 173

Exkurs: Kierkegaard "Alpha (...) Also der Anfang war Angst"

175

2.2.

185

8

Die Entwicklung des Alphabetismuskonzepts im Werk Eichs “Träume" - "Die Stunde des Huflattichs" - "Eine Stunde Lexi¬ kon. Ein Traumspiel" - "Das Jahr Lazertis" - "Zum Beispiel" "Rückläufiges Wörterbuch"

2.3. Das Umfeld eines Wortes in Wörterbüchern und Lexika als dessen erste Aura

202

3. "ZITATE AUS ESPENLAUB" - ZUR INTERTEXTUELLEN ORGA¬ NISATION DER "MAULWÜRFE" 3.1. Zur Genealogie der "Maulwürfe”: "Wenn ein Blatt sich bewegt, kann auch der Baum erzittern" 3.2. "So ist es klar wie Espenlaub - ein Zitat": "Hölderlin" 1. Konstellation: "Vergangenheit" ist Diotima aus "Hyperion" 2. Konstellation: "Vergangenheit" ist Diotima/Susette Gontard 3. Konstellation: "Hölderlin" und "Patmos" - 4. Konstellation: "Hölderlin" und frühere Texte Eichs 3.3. Die "Formeln" als Text-Monaden (-Nomaden) und Sammellinsen "In fünf Worten kann man viel sagen, fast zuviel, man über¬ schätzt sich oft" - Rezeption der "Formeln" - "Formeln": Ebene der äußeren Erscheinung - Gattungsbestimmung - Begriffserklä¬ rung - Konstitution und Anwendung einer "Formel" - Struktur der "Formeln" ("Formeln” = Miniatur-"Maulwürfe") 3.4. Fremdzitate in den "Maulwürfen" Norbert Wieners "Mensch und Menschmaschine" - Michael A. Bakunin in den "Maulwürfen" 3.5. Die Vereinigung von Selbst- und Fremdzitat als zweite Aura des Wortes "Vergessen, Vergessen, / lind die Toten sterben zum zweiten Mal" Exkurs: Aussatz und Sprache 4. ZUR VERWENDUNG VON SPRICHWÖRTERN UND REDEWEN¬ DUNGEN IN DEN "MAULWÜRFEN" 4.1. Eichs verschiedene Arten der (Um-)Gestaltung von Sprichwörtern und Redewendungen 1. Weitgehend unveränderte Verwendung - 2. Umkehrung 3. Substitution einzelner Signifikanten - 4. Vermischung mehre¬ rer Redewendungen - 5. Erweiterung - 6. Verkürzung - 7. Um¬ schreibung und Metaebene - 8. Graphemwechsel 4.2. Die Einbindung in Sprichwörter und Redewendungen als dritte Aura des Wortes 5. 5.1. 5.2. 5.3.

EMBLEMATISCHE STRUKTUREN IN DEN "MAULWÜRFEN" Der Einfluß der chinesischen Emblematik auf die "Maulwürfe" Emblematische Lektüre von "Zu Schiff Die emblematische Verwendung des Wortes als dessen vierte Aura

209 212 218

237

263

285 289 297 303

317 321 326 334 341

9

SCHLUSS: DIE SEHNSUCHT NACH DEM AUGENBLICK DES StlNDENFALLS

345

ANHANG: 1.

Abbildungen

354

2.

Wortkonkordanz zu Günter Eichs "Maulwürfen"

366

3. 4. 5. 6.

Verzeichnis der behandelten Texte Günter Eichs Namensregister Literaturverzeichnis Danksagung

408 410 414 425

10

EINLEITUNG "Suchen bevor man sucht, ins Suchen kommt. - Das Suchen suchen."1 "Sie lese schwierige Texte so, wie sie etwas suche, das verloren¬ gegangen ist, indem sie zuerst das Suchen suche, die Form des Su¬ chen (sic!), äußerte Ilse Aichinger in einem Fernsehinterview, auf die Frage, ob sie ein Rezept geben könne, ihre Texte zu lesen. Und sie fuhr fort: 'Wenn ich die Form zu suchen gefunden habe, merke ich, daß ich eigentlich die Form zu finden gefunden habe, im Fall des Textes, die Form zu lesen, und daß Lesen und Schreiben wie Suchen und Finden sich einander bis zur Identität annähern können."^ "Lesen hat mit Optik mehr zu tun als mit Germanistik"^ In der Kurzgeschichte "Der entwendete Brief’ berichtet Edgar Allan Poe von einer erfolglosen und einer erfolgreichen Suche nach einem Brief.'1 Diesen Brief, dessen Publizierung die Bestohlene kompromittieren würde, stahl der skrupellose und intrigante Minister D. und versteckte ihn, vermutlich um ihn jederzeit verfügbar zu haben, in seinem Haus. Die Bestohlene schaltete den Polizeipräfekten von Paris ein und setzte auf die Wiederbeschaffung des Briefes eine hohe Belohnung aus. Daraufhin hat man während eines Zeit¬ raums von achtzehn Monaten das Haus des Diebes in jeder Minute seiner Abwesenheit durchforscht und auf den Kopf gestellt, ohne jedoch den ge¬ suchten Brief zu finden. Später stellt sich heraus, daß die Suche daran scheiterte, daß die Suchenden die Form des Suchens nicht gesucht hatten, sondern nach einem starren System vorgingen, das vom Polizeipräfekten wie folgt beschrieben wird: ”(...) als wir alles bis aufs kleinste genau untersucht hatten, durch¬ forschten wir schließlich das Haus als solches. Wir teilten seine Flä¬ chen in kleine Bezirke, die wir mit Nummern versahen, um nichts zu vergessen, und dann wurde jeder Quadratzoll unter die Lupe genom¬ men, nicht nur im Hause des Ministers, sondern auch in den beiden Nachbargebäuden. Die Parzellierung des Sehfeldes in "kleine Bezirke", die dann mit Lupen betrachtet werden, bewirkt, daß das Sehen zu einem Über-Sehen verfeinert wird. Dieses Sehen, das zusätzlich zuvor gerichtet wurde, da die Suche nur die Möglichkeiten des Versteckens in Erwägung zieht, die man selbst wählen würde, dieses Uber-Sehen werde ich nachfolgend das perspektivische Sehen 1 2 3 4 5

Aichinger, Ilse, Kleist, Moos, Fasane, Frankfurt a.M. 1987, S.66 Schafroth, Heinz F., Die Dimensionen der Atemlosigkeit, in: Aichinger, Ilse, schlechte Wörter, Frankfurt a.M. 19772 3 4 5, S.129 Burger, Hermann, Brenner. Roman, Frankfurt a.M. 1989, S.36 vgl. Poe, Edgar Allan, Der entwendete Brief, in: ders., Die Maske des roten Todes. Kurzgeschichten, Ubers.v. Carl W. Neumann, Leipzig 1989, S.18-36 Poe 1989, a.a.O., S.24

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nennen und als Voraussetzung einer über-lesenden Lektüre bestimmen. Dupin, der den Brief schließlich findet, wählt das Uber-Lesen als Beispiel des Uber-Sehens: "Es gibt ein Spiel (...), das an Hand einer Landkarte gespielt wird. Die eine Partei verlangt von der andern, sie solle irgendein bestimm¬ tes Wort finden, den Namen einer Stadt, eines Flusses, Staates oder Königreiches, kurz irgendein Wort auf der bunten, verwirrenden Kar¬ te. Ein Neuling im Spiel sucht seinem Gegner gewöhnlich dadurch Schwierigkeiten zu bereiten, daß er ganz klein gedruckte Namen her¬ aussucht, wer besser Bescheid weiß, wählt solche Worte, die sich in großen Buchstaben von einem Ende der Karte zum andern hinziehen, denn diese werden gerade wegen ihrer großen Aufdringlichkeit am ersten übersehen, ebenso wie die in übertriebenen großen Buchstaben gemalten Plakate und Firmenschilder. Dieses physische Ubersehen entspricht nun durchaus jener geistigen Kurzsichtigkeit, die albern Aufdringliches und Handgreifliches außer acht läßt."8 In der Parzellierung des Sehens und der geistigen Kurzsichtigkeit benennt Dupin einen Zusammenhang, der den auf Engstirnigkeit und Ich-Fixiertheit beruhenden Scharfsinn des Polizeipräfekten als Schafssinn entlarvt. Für Dupin heißt die Form des Suchens suchen, die geistigen Fähigkeiten des Gegenübers sowie dessen Biographie zu berücksichtigen, im Falle des Mini¬ sters, daß dieser Mathematiker und Dichter und von einer Schlauheit ganz besonderer Art sei. Dupin besucht den Minister und läßt seine durch eine grüne Brille verdeckten Augen im Raum schweifen, "bis er (der Blick, S.M.) an einem wertlosen Kartenhalter aus gestanzter Pappe hängenblieb.In einem der Fächer sieht Dupin einen achtlos dort eingesteckten, schmutzigen und zerknüllten Brief, dessen äußere Erscheinung bis auf die Größe gänzlich der des gesuchten Briefes widerspricht, der aber gerade durch sein dem Betrachter Wertlosigkeit suggerierendes Aussehen die Aufmerksamkeit Dupins erregt. Dupin bemerkt, daß der Brief nicht nur der entwendete ist, sondern auch "wie ein Handschuh gewendet und mit neuer Adresse und neuem Siegel versehen worden" sein mußte.8 Am nächsten Tag findet sich Dupin unter einem Vorwand erneut beim Minister und entwendet den Brief auf die gleiche Weise wie zuvor der Minister: er tauscht den Brief gegen einen ähnlichen aus. Bemerkenswert ist die scheinbare Wertlosigkeit und die Entstellung durch Verkehrung und Verunstaltung, die den Brief den suchenden Augen der Polizei entzogen. Und bemerkenswert ist, daß der Brief zweimal durch Austausch gegen ein gleichaussehendes Substitut entwendet werden kann. Zwei Arten der Suche stellt Poe vor: Der Polizeipräfekt sucht nach einem vorgefertigten Schema und findet nicht, Dupin dagegen sucht zunächst die Form des Suchens und findet die Form des Findens. 6 7 8

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Poe 1989, a.a.O., S.32 Poe 1989, a.a.O., S.33 Poe 1989, a.a.O., S.34

Zum ersten Teil der Arbeit

Nach Ilse Aichinger, der Frau Günter Eichs, muß man sich beim Lesen schwieriger Texte an der Vorgehensweise Dupins orientieren, um zum Text (letter) zu kommen, während die Methode des Polizeipräfekten auch bei der Lektüre erfolglos sein wird. Warum dies so ist, möchte ich im ersten Teil der Arbeit untersuchen. Die vom Polizeipräfekten verwendete Methode der zweifachen Parzellierung des Sehens (Einteilung in Bezirke, Lupe) ist nicht so sehr Ergebnis einer verfeinerten Kriminologie als einer strukturellen und funktionalen Wandlung des Sehens, die im Mittelalter einsetzte. Diese Wandlung des Sehens von einem ungerichteten und nicht selektiven zu einem immer stärker per¬ spektivisch gerichteten hatte erhebliche Auswirkungen auf die Form der Lektüre, die Anlage des Schriftbildes von Texten, auf die Schreib- und Drucktechniken und, als Konsequenz all dieser Veränderungen, auf die Se¬ mantik der Worte und das Bewußtsein der Schreibenden und Lesenden. Im ersten Teil der Arbeit werde ich diese Veränderungen des Sehens und Lesens analysieren und zeigen, daß durch das selektive, perspektivische Sehen der Text als ein Geflecht der unterschiedlichsten Einbindungen der Signifikanten in Netze tendenziell unsichtbar geworden ist. Die Form des Lesens suchen bedeutet zunächst, alle durch die Perspektivierung des Le¬ sens verursachten Verdrängungen und Einschränkungen der Wahrnehmung bewußt zu machen und dadurch die Möglichkeiten einer weniger gerichteten und voreingenommenen Lektüre aufzuzeigen. In Poes Kurzgeschichte entzieht sich der Brief den Augen der Polizisten aber nicht nur wegen der Perspektivierung des Sehens, sondern auch weil die Augen zuvor für die Wahrnehmung eines speziellen Aussehens geschult wurden und weil die Eigenarten des Versteckenden - des Ministers D. unberücksichtigt blieben. Die Entstellung des Briefes durch Beschädigung und Umkehrung verweisen in eine Sphäre, in der die Gegenstände ebenfalls entstellt, verschoben und "wie ein Handschuh gewendet" werden: die des Traumes. Auch das Traumgeschehen bedient sich wie der Minister D. der Technik, den zu versteckenden Gegenstand scheinbar wertlos erscheinen zu lassen und dadurch die Aufmerksamkeit von ihm abzulenken. Dieser Umstand ist für die Lektüre der "Maulwürfe" umso wichtiger, als Günter Eich sich zeitlebens wie kaum ein anderer Autor mit dem Traumgeschehen auseinan¬ dergesetzt hat und die Sprung- und Bruchstückhaftigkeit der "Maulwürfe" den Schluß nahelegen, daß in diesen Techniken der Traumarbeit verwendet werden. Eine Lektüre von Freuds "Traumdeutung" soll dazu dienen, diese Techniken näher zu bestimmen, die durch das perspektivische Lesen in das Unbewußte verdrängten Ebenen von Texten zugänglich zu machen und die mimetische Seite der Sprache zu eröffnen. Mit Eichs Interesse für Träume wurde eine seiner Eigenarten als Schrift-

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steller benannt. Weitere sind sein Sinologie-Studium und seine sich nicht nur in zahlreichen Übersetzungen aus dem Chinesischen bekundende Neigung zur chinesischen Schrift und Literatur. Es spricht einiges dafür, daß Eich ver¬ sucht hat, Strukturmerkmale der chinesischen Schrift und Literatur auf die alphabetische Schrift und die Konzepton seiner Texte zu übertragen. Ich werde deswegen Geschichte und Besonderheiten der chinesischen Schrift (insbesondere ihre ideographischen Wurzeln) und die von Eich in einem Rundfunkbeitrag (vgl. IV,382 ff.) dargestellten Zitierweisen in der klassi¬ schen chinesischen Literatur betrachten, welche mir für die Schreibweise der "Maulwürfe" und damit für die Lektüre besonders aufschlußreich erscheinen. Neben der Suche nach der Form des Suchens für die Texte Eichs und vor allem seine "Maulwürfe“ verfolge ich mit dem ersten Teil der Arbeit die Absicht, aus möglichst vielen Richtungen das zu beleuchten, was mitunter als die Aura des Wortes bezeichnet wird. Es soll der Versuch unternommen werden, diesen in der Regel nur metaphorisch verwendeten Begriff unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sehtheorien als wahrnehmungspsycholo¬ gisch, neurologisch und psychoanalytisch beschreibbare Realität zu fassen. Es soll weiterhin gezeigt werden, daß durch die perspektivische Lektüre eben diese Aura des Wortes, in welcher der "Schatten literarischer Rede" aufge¬ hoben ist,^ weggeblendet und verdrängt wird. Wie sich die Suche dem Finden annähert, wird nach Ilse Aichinger auch die Lektüre dem Schreiben ähnlich bis hin zur Identität. Der erste Teil der Ar¬ beit soll diese Annäherung ermöglichen. Es wird dadurch dem Umstand Rechnung getragen, daß eine interpretierende Lektüre, zumal wenn sie das geometrale, perspektivische Sehen zur Grundlage hat, immer zu spät kommt, worauf Eich in seiner "Präambel" der "Maulwürfe" aufmerksam macht: "Meine Maulwürfe sind schneller als man denkt. Wenn man meint, sie seien da, wo sie Mulm aufwerfen, rennen sie schon in ihren Gängen einem Gedanken nach, an eingesteckten Grashalmen könnte man ihre Geschwindigkeit elektronisch filmen. Andern Nasen einige Meter vor¬ aus. Wir sind schon da, könnten sie rufen, aber der Hase täte ihnen leid." (M,7) Der perspektivisch Lesende ist in der Situation des Hasen. Durch das per¬ spektivische Sehen wird er in eine Zeitlichkeit gezwungen, die Lacan als Kennzeichen des Subjekts der Vorstellung definiert. Dieses denkt im nach¬ hinein, daß die Dinge so, wie es sie nach-denkt, auch gewesen sind. Und mit Eich könnte man ergänzen: "Nachher hat man immer recht. Man sollte gleich nachher leben." (M,40) Ziel des ersten Teiles ist es also gerade nicht, eine Methode zu erarbeiten, mit der es möglich wäre, die "Maulwürfe” auf¬ zuschlüsseln oder einzelnen Wörtern eine eindeutige Bedeutung, ein Signifi¬ kat, zu unterstellen. Diese Form des Lesens soll vielmehr gerade problema¬ tisiert und kritisiert und eine Lektüre aufgezeigt werden, die der "Maulwür9

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vgl. hierzu Hart Nibbrig, Christiaan L., Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a.M. 1981

fe" nicht mehr nur dort habhaft zu werden sucht, "wo sie Mulm aufwerfen”, sondern mit ihnen unterirdisch Gedanken nachjagt. Zu bedenken ist dabei, daß die "Maulwürfe" sich nicht nur in bereits gegrabenen Gängen bewegen, sondern auch stets neue graben. Sie bewerkstelligen dadurch die “wegbah¬ nende Arbeit der Spur, die ihren Weg nicht durchläuft, sondern hervor¬ bringt; (..) die Spur, die vorreißt“ und "noch nicht das ‘bewußte Gedächtnis' ist."*0 Der "Maulwurf erzeugt durch sein unterirdisches Wühlen die Schrift, die noch nicht auf die phonetische Schrift reduziert ist.11 Die diesem Schreiben entsprechende Lektüre muß den Augenblick der Ent¬ stehung der Schrift im Vollzug des Lesens wiederholen. Diese Lektüre ist voraussetzungslos insofern, als sie keinen Weg von vornherein als Irrweg oder Sackgasse ausschließt. Anders als beim perspektivischen Lesen wird das Ver-Sehen im Sinne des Verkehrt-Sehens nicht vermieden, sondern ge¬ radezu provoziert, da oft nur dieses Ver-Sehen die durch das Bewußtsein des Subjekts der Vorstellung erzeugten Verkehrungen zu entziffern vermag. Das ver-sehende Lesen kann also zum einen ein die Worte mit Kontexten versorgendes Lesen sei, und es kann zum zweiten eine Überlagerung ver¬ schiedener Wort-Gestalten intendieren, wodurch die Schrift in dem Augen¬ blick wahrgenommen wird, bevor sie sich gänzlich ausdifferenziert hat und erstarrt ist: die Schrift in statu nascendi. Zum zweiten Teil der Arbeit Eines der Hauptanliegen für Eichs Schreiben war spätestens seit der Büchner-Preis-Rede aus dem Jahre 1959 die Kritik der "gelenkten Sprache" (= nur mitteilende Sprache, Information). Die "gelenkte Sprache“ ist die Sprache der Macht, ist eine Sprache, in der das Gedächtnis gelöscht und folglich Erinnerung unmöglich gemacht worden ist. Im zweiten Teil der Arbeit will ich zeigen, wie Eich sein Anliegen umsetzt, die Macht und die gelenkte Sprache durch eine Schreibweise zu kritisieren, in der die Auren der Worte eine Dichte bekommen, die sie gegen die perspektivische Lektüre wider¬ standsfähig macht. In diesen Auren artikulieren sich die von der Macht zur Sprachlosigkeit verdammten Opfer der Geschichte, und indem sie zur Spra¬ che kommen, beginnt ihre und unsere Rettung. Die perspektivische Lektüre ist bestrebt, jedem Wort eine momentan ge¬ nehme Bedeutung zu implantieren (ein Signifikat), gerade diese Absicht aber wird in den "Maulwürfen" dauernd gestört. Das Leserauge entgleist aus der Zeilenspur und schlittert in den Raum zwischen den Zeilen. Die gelenkte Sprache formuliert verabsolutierte Setzungen und treibt dadurch auf die Spitze, was jedem Satz als Gesetztem zwangsläufig innewohnt: der Schein von Identität, also der Anspruch, daß das Begriffene im Begriff und der 10 vgl. Derrida, Jacques, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 19894, S.326 f. 11 zur Phonetisierung der Schrift vgl. Derrida, Jacques, Grammatologie, Frank¬ furt a M. 19882, Erster Teil: Die Schrift vor dem Buchstaben

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Signifikant in einem Signifikat aufgehe. Eich definiert die gelenkte Sprache als den Versuch, die im Negativ des Satzes geborgenen Fragen endgültig zu vernichten, durch welche das Nichtidentische seinen Widerspruch gegen den Totalitätsanspruch der Macht artikuliert. Mit der "Maulwurf-Poetik unter¬ nimmt es Eich, “mit List / die Fragen auf (zu) spüren / hinter dem breiten Rücken der Antwort" (1,156), das heißt das Nichtidentische in seiner Ohn¬ macht starkzumachen gegen die Setzungen (Positionierungen) der Macht. Die Entgleisung des Leserauges aus der Zeile wird in den "Maulwürfen" provoziert durch Kollisionen, die auf der Ebene des Syntagmas*2 meist zwi¬ schen den einzelnen Sätzen auftreten,^ vehementer aber noch durch tekto¬ nische Verschiebungen der einzelnen paradigmatischen Achsen erzeugt wer¬ den. Durch die vertikalen Verschiebungen reißt der in der linearen, perspektvischen Lektüre erzeugte Bedeutungszusammenhang ab, das Leserauge stürzt ins Leere, um sich irgendwo an einem anderen Ort in den Netzen des Textes zu verfangen. Ziel des zweiten Teils der Arbeit ist es, einige der Verfahrensweisen darzustellen, welche die Spannungsverhältnisse zwischen den einzelnen paradigmatischen Achsen hervorrufen. Jede dieser Verfahrens¬ weisen lenkt den Leserblick in eine andere Richtung ab, und alle zusammen erzeugen jenen Wirbel der Buchstaben, der Walter Benjamin dazu motivierte, das Lesen mit dem Blick in ein Schneetreiben zu vergleichen.^ In diesem ungerichteten und zugleich konzentrierten Blick kann sich verwirklichen, was Eich "Meditation" nennt, und für einen Augen-Blick ist der Leser nicht mehr Gefangener seines Selbst (moi)*5 und des von der Macht insbesondere ver¬ mittels der Sprache stabilisierten Gewaltzusammenhanges. Bei der Darstellung der aperspektivischen, versehenden Lektüre werde ich auch immer wieder auf Eichs Hörspiele zurückkommen. Die Berücksichti¬ gung dieser für das akustische Medium geschriebenen Stücke mag paradox erscheinen, allerdings nur auf den ersten Blick. Auch Eichs Hörspiele sind in erster Linie Texte. Eich selbst bezeichnet sie einmal als Lesedramen (IV,531) und bringt damit zum Ausdruck, daß ihm die Präsenz der Stimme kaum von Belang erscheint. Statt dessen durchziehen die Hörspiele Techni¬ ken, die auf den Schriftcharakter der verwendeten Sprache zurückverweisen. Zu nennen ist hier die zum Teil kaum hinter den "Maulwürfen" zurückste¬ hende Zitierpraxis oder die Verwendung der Technik des Anagramms, welche ebenfalls in der Schrift verwurzelt ist.*6 Daß Eich nach "Man bittet zu läu¬ ten" (1964) sich vom Hörspiel abwandte, ja daß ihm "die Form des Hörspiels über" war (IV,533) und er statt dessen die Gattung der "Maulwürfe" konzi12 zu den Begriffen Syntagma und Paradigma vgl. Eco, Umberto, führung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 13 vgl. z.B. den »Maulwurf« »Ohne Symmetrie« (M,51), der sich Lektüre durch die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der verweigert. 14 vgl. das Zitat auf S.93 15 vgl. hierzu Teil I, Kapitel 5 16 vgl. hierzu Teil I, Kap. 6 u. Teil II, Kap. 2.3 16

Zeichen. Ein¬ 19876, S.78 ff. einer linearen Sätze massiv

pierte, führe ich auch darauf zurück, daß bei der Produktion für den Rund¬ funk, also ein Medium, in dem die Sprache stark an die diachrone Zeitachse und an den Dialog gefesselt bleibt, die Schrift in ein Korsett gezwungen wird, das Eich loswerden wollte. Die Druckgestalt der bisherigen "Maulwurf-Ausgaben und der Nutzen einer Konkordanz Die "Maulwürfe" sind Meditationen und für eine meditative Lektüre ge¬ schrieben. Die bisherigen "Maulwurf-Ausgaben vermitteln davon leider nur einen vagen Eindruck. Wie sehr Eich sich um die äußere Textgestalt der "Maulwürfe" bemühte, wurde mir bei einer Durchsicht des Nachlasses im Marbacher Literaturarchiv deutlich. Die meisten überlieferten Handschriften sind, das zeigt das einheitliche Schriftbild, bereits Abschriften früherer Fassungen. Nur in ganz seltenen Fällen sind Exemplare dieser älteren Stufe erhalten, und nur sie überschreiten eine Seite, nicht unbedingt wegen eines größeren Umfangs, sondern einer größeren Handschrift. Die erhaltenen Handschriften des Bandes "Ein Tibeter in meinem Büro" füllen fast aus¬ schließlich nur die oberen dreißig bis fünfzig Prozent des Konzeptpapiers im Din A4-Format (Eich hatte die Angewohnheit, die Entwürfe auf die leeren Rückseiten der Lieferungen "Kirche und Fernsehen" und "Kirche und Rund¬ funk" des Evangelischen Pressedienstes zu schreiben). Nach diesen hand¬ schriftlichen Abschriften fertigte Eich von jedem Text eine maschinen¬ schriftliche Fassung an (ebenfalls auf eptf-Papier), in der die Absätze, das Format und die Einrückungen bereits weitgehend festgelegt sind. Von den Texten des Bandes "Ein Tibeter in meinem Büro" und manchen aus dem ersten "Maulwurf-Band existiert als dritte Stufe jeweils ein Durchschlag (blaue Schrift auf gelbem, transparentem Papier). Dieser zeigt die endgültige Textgestalt. Es ist bedauerlich, daß keine der bisherigen "Maulwurf-Ausgaben sich genau an die typographische Vorlage hält. In den Erstausgaben und dem Band "Gesammelte Maulwürfe", die der Vorlage noch am nächsten kommen, wur¬ den die Texte in Blocksatz gesetzt und sind die längeren "Maulwürfe” zwei¬ seitig wiedergegeben. Die Präsentation der "Maulwürfe" in den "Gesam¬ melten Werken" ist indiskutabel: Bis zu vier Texte werden auf einer Seite zusammengedrängt (1,392), und häufig befinden sich Textteile eines "Maul¬ wurfs" auf der Vorder- und Rückseite eines Blattes, wodurch die Meditation unmöglich gemacht wird. In meiner Arbeit werde ich die "Maulwürfe“ nach der Ausgabe "Gesam¬ melte Maulwürfe" zitieren, die zwar ein paar kleine Fehler enthält, dafür aber zumindest die Erfassung jedes Textes mit einem Blick ermöglicht. Außerdem habe ich mich im Hinblick auf die Erstellung einer Wortkon-

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kordanz für diese Ausgabe entschieden.*^ Mit dieser Konkordanz ist es möglich, durch Vergleich der von einem Wort mitgeführten Kontexte sich relativ schnell einen Überblick über dessen semantisches Spektrum zu ver¬ schaffen. Besonders wichtig ist die Konkordanz bei der Betrachtung der emblematischen Verwendung des Wortmaterials, für welche eine Zusammen¬ stellung von Wortfeldern (Jahreszeiten, Farben, Zahlen etc.) erforderlich ist, bei der Untersuchung der lexikalischen Nachbarwörter (Alphabetismus) und nicht zuletzt bei der Suche nach in der Mediatation aufscheinenden Parallel¬ stellen, die man nicht sofort einem "Maulwurf zuzuordnen vermag. Forschungsstand Michael Kohlenbach gibt im Rahmen seiner Arbeit "Günter Eichs späte Pro¬ sa. Einige Merkmale der Maulwürfe"*8 einen Überblick über die Rezeption der "Maulwürfe“ bis etwa 1978. Betrachtet werden von ihm die wichtigsten Zeitungs-Rezensionen (Böll, Bichsei, Baumgart, Vormweg u.a.), mehrere Monographien (Müller-Hanpft, Schafroth, Briner), die Aufsätze von Karthaus, Großklaus und Sauder, sowie die Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Hil¬ desheimer. Abgesehen von wenigen Ausnahmen kritisiert Kohlenbach zu Recht an den meisten Arbeiten die vorschnelle Rückführung der "Maulwürfe" auf Bekanntes (Dada, Nonsens-Prosa etc.), das kontextlose Herbeizitieren von Einzelworten, denen dann willkürlich eine Bedeutung aufgebürdet werde, die Vernachlässigung von Unterschieden zwischen den einzelnen "Maulwür¬ fen", obwohl sie in “Winterstudentin mit Tochtersohn" ausdrücklich als "indi¬ viduell ausgeprägt" charakterisiert werden, und eine meist zu pauschale, die Komplexität der Texte außer acht lassende Interpretation. In der Einleitung problematisiert Kohlenbach in Bezug auf die literaturwis¬ senschaftliche Bearbeitung der “Maulwürfe" die "Inkompabilität von (szientistisch arbeitendem) Erkenntnissubjekt und (artistisch gearbeitetem) Erkennt¬ nisobjekt hinsichtlich der vom Subjekt realisierten Verfahrensweisen (Forschungs- und Darstellungsmethoden) "(...) erst wenn der approximierende Charakter wissenschaftlicher Er¬ kenntnis auch in der Darstellungs- und Verfahrensweise seinen ihm entsprechenden Ausdruck findet, kann gewährleistet sein, daß er¬ kenntnistheoretische Probleme nicht zugunsten leichtfertiger Ergeb¬ nisse vernachlässigt werden. Das verpflichtet dazu, dem Erkenntnis¬ prozeß, den literarische Texte herausfordern, selbst uneingeschränkte 17 Die erwähnte Häufung von mehreren Texten auf einer Seite in der Ausgabe »Gesammelte Werke« macht diese für die Erstellung einer Konkordanz un¬ geeignet, da man zu jeder Verweisstelle neben der Seitenzahl auch noch den Text angeben müßte, um die Dauer der Suche in erträglichen Grenzen zu halten. Die Konkordanz befindet sich im Anhang. 18 vgl. Kohlenbach, Michael, Günter Eichs späte Prosa. Einige Merkmale der Maulwürfe, Bonn 1982, S.235-260 19 Positiv werden vor allem die Aufsätze dargestellt. 20 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.4

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Aufmerksamkeit zu widmen. Aus diesem Grunde nimmt es sich Kohlenbach vor, nicht mit irgendwelchen literaturwissenschaftlichen Rastern an die Texte heranzutreten. Dezidiert äußert er, daß für ihn "gattungspoetologische Fragen, sowie mögliche litera¬ turhistorische Zuordnungen (...) von sekundärem Interesse” seien, und er auch nicht die Literalität der "Maulwürfe" beweisen wollet Abgelehnt wird von ihm außerdem, sich den "Maulwürfen" mit Hilfe der Textmodelltheorien zu nähern, da diese weder der Variantenvielfalt des "Maulwurf-Diskurses noch den Unbestimmtheitsmomenten in den Texten gerecht würden.2^ Statt dessen bestehe das Ziel seiner Arbeit in der "phänomenologischen Auswei¬ sung der Textsorte Maulwurf, deren essentielle Eigenschaften auf ihre kom¬ munikative Funktion zu untersuchen sind".24 Um dieses Ziel zu erreichen, beginnt Kohlenbach mit einer Reihe von kom¬ mentierenden Einzeltextanalysen, mit denen er einige Charakteristika "der Textsorte Maulwurf herausarbeitet. Im Mittelpunkt dieser Lektüren, deren Methodik im Vollzug besprochen wird, stehen u.a. das sich in den "Maulwür¬ fen" verwirklichende Zeit-Bewußtsein, die Literaturrezeption in den "Maul¬ würfen" (am Beispiel Hölderlins), die Betrachtung einzelner Motive wie das der Reise und der Topographie oder die Analyse der "Maulwurf-Sprache als eine Art Metasprache. Mit Akribie verfolgt Kohlenbach dabei die leisesten Spuren und schmiegt sich aus ständig wechselnden Perspektiven immer mehr an die Sprache und die Strukturen der "Maulwürfe". Auf die Lektüre der Einzeltexte folgen Betrachtungen zur Semiotik der "Maulwürfe”. Im Anschluß an die Arbeiten von Iser und Eco bezeichnet Kohlenbach die "Maulwürfe" als "quasi (..) literarisches Pendant der TextLeser-Theorie": "Der Text diktiert nicht mehr einen wenn auch fiktiven Weltbezug, dem sich der Leser, selbst um ihn zu negieren, anpassen müßte, sondern er vermittelt Zeichen, die dem Leser zur Prüfung ihrer Be¬ deutung angeboten werden."2^ Als besonders wichtig für die Interaktion zwischen Text und Leser erschei¬ nen dabei die von Iser geprägten Begriffe "Leerstelle" und "Negation". Au¬ ßerdem werde die dynamische Wechselwirkung zwischen Text und Leser auf Seiten des Textpols durch das Zusammenspiel von Textrepertoire und -Stra¬ tegie organisiert. Zur weiteren Klärung dieser Begriffe analysiert Kohlenbach das lexikalische Repertoire der "Maulwürfe", die darin verwendeten Zitier¬ techniken, den Sprachgestus u.a. Erst im Schlußteil wagt Kohlenbach "Reflexionen über die Maulwürfe". In zwei knappen Durchgängen versucht er "mögliche Reflexionen über Logik und Poetik der Maulwürfe an(zu)deuten."2^ 21 22 23 24 25 26

Kohlenbach 1982, a.a.O., S.7 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.8 vgl. Kohlenbach 1982, a.a.O., S.9 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.9 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.180 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.260

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Nach Kohlenbach sei die "Maulwurflogik" in einigen Merkmalen analog zu der des von Lövy-Strauss beschriebenen "wilden Denkens": "wie die intellektuelle Bastelei des wilden Denkens, so benutzt auch die Maulwurfarbeit (sprachliche) Abfälle und Bruchstücke, Spuren bio¬ graphischer, psychologischer oder historischer Vorgänge, die zu neuen Bedeutungsverhältnissen montiert werden; (...). Die Texte verwenden fragmentierte Sinnkomplexe, die sie primär als Spielmöglichkeiten nutzen; (...). Weil die Textelemente als Versatz¬ stücke nicht bis zur absoluten Bindungslosigkeit seziert worden sind, initiieren sie die Erwartung, sie würden auch dort noch Mitteilungen präsentieren, wo diese vom Leser nicht mehr realisiert werden kön¬ nen. So erfüllen sie abstrakt die Bedingungen von kommunizierbarer Sprache (das heißt: Sprache, die nicht Privatsprache ist), obwohl un¬ gestörte Kommunikation mit dem Rezipienten fast gar nicht stattfin¬ det. Dazu tritt dann noch die Verbindungsleistung, welche die jeweili¬ ge dem Text inhärente Kombinatorik (Musterbildung) hervorbringt; die Prozesse, in denen sich Sprache aktualisiert, werden in der Maulwurf¬ sprache selbst ausdrücklich. Die Logik der "Maulwürfe” präsentiere ein "an den herrschenden Verfah¬ rensweisen herrschender Bewußtseinsformen wildgewordenes Denken". Die¬ ses kritisiere nicht nur "ein Bewußtsein, das die Welt als abzählbar und auf den Begriff zu bringende, als schon hinreichend verstandene und hinreichend zu verstehende vorstellt",^28 es löse den Begriff der Wahrheit auf. Im zweiten Durchgang bringt Kohlenbach die "Maulwürfe" in Zusammenhang mit Adornos "Ästhetischer Theorie" und versucht beider "philosophisch-äs¬ thetische Wahlverwandtschaft" aufzuzeigen. Die Möglichkeit der Kunst, Ge¬ sellschaftskritik zu üben, verdanke "sich nicht zuletzt dem besonderen Er¬ kenntnistyp ästhetischer Erfahrung; Adorno bestimmt ihn als ‘Zwieschlächtigkeit des Bestimmten und Unbestimmten'; (...) Kunst sei so die ÄT, p.148, 'Begriff so wenig wie Anschauung, und eben dadurch protestiert sie wider die Trennung'; als Sprache verbinde jegliche Kunst unabdingbar Begriffliches und Zeichenhaftes; darin dem Rätsel verwandt, sei der Zweck (!) des Kunstwerks die 'Bestimmtheit des Unbestimmten' (ÄT, p. 188)“.29 Gegen den Zwang der herrschenden Vernunft zur Identitätsbildung paktiere die ästhetische Erkenntnis mit dem Nichtkonformen, Nichtidentischen. Ge¬ rade die "Dunkelheit des Absurden in manchen Werken moderner Literatur (...) sei selber als deren Wahrheit herauszustellen, 'nicht durch Helligkeit des Sinns zu substituieren' (ÄT, p.47)."^® Die von Adorno getroffenen Bestimmungen des Ästhetischen sieht Kohlen¬ bach bei den "Maulwürfen" als gegeben an und schließt die Arbeit, den Zweck des Kunstwerks mit Eichschen Worten wiederholend, mit der Zeile: 27 28 29 30

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Kohlenbach Kohlenbach Kohlenbach Kohlenbach

1982, 1982, 1982, 1982,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S.264 f. S.265 S.273 f. S.275

"'Es ist das Ganze ein Zeichen sozusagen, eine Hieroglyphe.'"^

Ein Jahr vor Kohlenbachs Arbeit erschien "Die Rettung der Poesie im Un¬ sinn. Der Anarchist Günter Eich" von Peter Horst Neumann. Die Hauptthese darin lautet: "Aus einer Grundposition der Schwermut und der Trauer hat sich Eichs Werk unter dem Druck geschichtlicher Erfahrung mit großer Konsequenz entwickelt und radikalisiert. Eichs Schreiben dokumentiert die Kontinuität und Verschärfung seines anarchistischen Denkens. (...) Die Entwicklungsstufen des Werks sind die Stufen von Eichs anarchi¬ schem Denken. Diese Prämisse richtet im weiteren Verlauf Neumanns Interesse aus und schränkt dabei seinen Blick manchmal ein. Gleichwohl ist Neumanns Arbeit fundierter und näher an den Texten als ein Großteil der von Kohlenbach kritisierten Sekundärliteratur. Der oftmals konstatierte Bruch im Eichschen Werk, den Eich selbst durch den Titel seines Lyrik-Bandes "Zu den Akten" und gesprächsweise formulierte Mitteilungen nahelegte, wird von Neumann verneint. Statt dessen sieht er eine dreistufige Entwicklung und formuliert drei Leitgedanken, die die Poetik Eichs ausmachen würden: 1. die "Definition" (der Wirklichkeit und des Selbst), 2. das Übersetzen und 3. das anarchi¬ stische Ressentiment.^ Von diesen sei das "Übersetzungs”-Motiv das wich¬ tigste Anarchie-Motiv der Eichschen Texte. Die Hervorhebung des "Übersetzungs"-Motivs erweist sich bei der weitge¬ hend chronologisch vorgehenden Durchsicht des Eichschen Werkes als fruchtbar und problematisch zugleich. Auf der einen Seite gelingt es Neu¬ mann, sehr interessante Bezüge zwischen dem Eichschen Anarchismus und einigen Texten der Romantik aufzuzeigenP^ Die "Maulwürfe" seien die “unromantische Einlösung romantischer Forderungen".^ Auf der anderen Seite verleitet die Reduktion des Eichschen Anarchismus auf das Übersetzungs¬ theorem Neumann zu einer Nichtbeachtung des politischen Anarchismus. Wie sehr die "Maulwürfe" aber gerade unter dem Einfluß Bakunins stehen, werde ich im zweiten Teil darstellen. Anhand von "Dem Libanon" und "Hilpert" zeigt Neumann, daß die in einem magischen Denken verwurzelten Übersetzungsversuche in einen totalen Realitätsverlust und verschiedene Formen des Wahns einmünden: "(...) es bezeichnet den endgültigen Eintritt in die letzte Phase des Schreibens, daß Eich in seinen ersten Maulwurf-Texten Personen fin¬ det und erfindet, die gleichsam das ganze Leid der Welt tragen und dabei zu Paranoikern, Anarchisten und Narren werden: Kulka und Hil31 Kohlenbach 1982, a.a.O., S.277 32 Neumann, Peter Horst, Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich, Stuttgart 1981, S.16 u. 19 33 vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.24 u. 34 34 z.B. Jean Paul, Eichendorf oder Novalis; vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.90 u. 104 ff. 35 vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.30

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pert."38 Gleichwohl sei der Wahnsinn, den Eich in den "Maulwürfen" ausprobiere, von einer strengen Methodik. "Man könnte sagen: der Wahn - (...) - dient dem Autor und/oder seinem Helden als Hypothese Wichtige Hinweise gibt Neumann vor allem für die "Maulwürfe" "Ein Nach¬ wort von König Midas", "Äquinoktium" und das Hörspiel "Man bittet zu läu¬ ten", das er für den wichtigsten Text des Spätwerks hält und dem er, ab¬ gesehen von Liebherr-Küblers Interpretation,38 die umfangreichste und ge¬ naueste Analyse widmet. Christiaan L. Hart Nibbrig interpretiert im Rahmen der Studie "Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede" den "Maulwurf" "Äquinoktium" (M,70).39 In der Einführung "Die Schwierigkeit über Schwei¬ gen zu reden" beschreibt Hart Nibbrig den Zwiespalt, in dem sich die Aus¬ drucksform des Schweigens befindet: "Kunst bedarf des Gedankens, der sie 'interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von der Kunst gesagt wer¬ den kann, indem sie es nicht sagt.' Kunst, so hofft Adorno, läßt in ihrem Schweigen kritisch reden, was Ideologie verschweigt. Als Darstellungs-, nicht als Mitteilungsform ist das Schweigen bei Adorno gefaßt: höchses Ästheticum, das, kritisch, dem Stand der Zeit ent¬ spricht. Damit aber droht die ideologiekritische Absage an die Sprache des Meinens und der Mitteilung, hinter dem Rücken von Adornos ästhetischer Theorie, in eine Ideologie des Schweigens umzuschlagen, des Stillseins dessen, der sich, mit verbissenen Zähnen, die Ohren zuhält. Damit das Schweigen mehr ist als nur ein (freiwüliges) Verstummen vor der Macht, müsse der Textur eine gestische Sprache eingeschrieben werden, in der sich das Schweigen artikulieren könne. Machtkritik, die sich auf Sprachkritik beschränke, blende den gefährlichen Fall aus, wo Macht sprachlos am Werk ist.41 Insofern müsse auch die Literaturwissenschaft ihr Augenmerk gerade auf das Schweigen der Textur richten, die von Hart Nibbrig als der "Schatten literarischer Rede" gefaßt wird. In diesem Schatten komme zu Wort, was in der offiziellen Sprache untersagt, also unter Redeverbot ge¬ stellt wird, und könne sich das Subjekt als Besonderes gegen den Herr¬ schaftsanspruch des Allgemeinen zur Wehr setzen. Als ein Beispiel des schweigenden Sprechens wendet sich Hart Nibbrig dem Werk Günter Eichs zu. Dieses erscheint schon deswegen als vorzüglich ge36 Neumann 1981, a.a.O., S.124 37 Neumann 1981, a.a.O, S.136 38 vgl. Liebherr-Kübler, Ruth, Von der Wortmystik zur Sprachskepsis. Zu Gün¬ ter Eichs Hörspielen, Bonn 1977, S.161 ff. 39 Hart Nibbrig, Christiaan L., Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a.M. 1981, S.252-263 40 Hart Nibbrig 1981, a.a.O., S.20 f. 41 vgl. Hart Nibbrig 1981, a.a.O., S.42

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eignet, da Eich ausdrücklich in einer Notiz schreibt: "Das was für mich Sprache ist / Sprache beginnt, wo verschwiegen wird. / Es gibt eine aussprechende und eine verschweigende Sprache." (IV, 373)42 Diese verschweigend schweigende Sprache findet Hart Nibbrig im "Maulwurf" "Äquinoktium" vor, der hellhörig mache "für die in der Lüge entstellte ver¬ schwiegene Wahrheit" und den er als eine Art "Pfingstfest gegen den Strich" liest Anselm Haverkamp hat in seinem Habilitationsvortrag den "Maulwurf" "Lauren" durchbuchstabiert und damit eine der ausführlichsten Einzelanalysen vorgelegt. Der "Maulwurf" wird von ihm als ein Palimpsest entziffert, in dem Eich "die historischen Variationen und Transformationen Lauras (Petrar¬ ca, Schiller, Heine, Rilke) zu einem Porträt zusammenfaßt, dessen zusam¬ mengesetzte Machart Ccento') Anlaß zu einer Beschreibung des Prosage¬ dichts in Termini von Intertextualität ist ('metonymische vs. metaphorische L>) "44 "Lauren" erweist sich als ein aus "Espenlaub-Zitaten" (M,10) mon¬ tierter Text, in welchem die einzelnen Stufen der 'laureatischen' PetrarcaAdaptionen sich gegenseitig befragen und in Frage stellen. Sie tun dies in der Gestalt eines Prosagedichts, dessen Gattungs-Mischstruktur genauer zu bestimmen ein weiteres Anliegen Haverkamps ist. Entwertet wird Haverkamps Aufsatz durch einen terminologischen Schwulst, der zur Darstellung seiner Lesart des "Maulwurfs" keineswegs notwendig ist. Unangemessen ist diese Schreibweise insofern, als Eich in seinen Texten um eine ohnmächtige, unscheinbare Sprache gerungen hat. Haverkamps Sprache dagegen ist mäch¬ tig, und zuweilen möchte man mit Eich sagen: "Statt Sekundärliteratur bin ich krank." ("In eigener Sache" M,84) Stetig gewachsen ist in den letzten Jahren das Interesse an den Auswir¬ kungen von Eichs Sinologie-Studium auf seine Texte. Aufmerksam wurde man auch auf Eichs Japan-Reise, welche zum Beispiel im Titel des Ly¬ rik-Bandes "Anlässe und Steingärten", mehreren Gedichten daraus und im "Maulwurf" "Ein Tag in Okayama" Spuren hinterließ. Den Anfang machte Keiko Yamane mit der Arbeit "Asiatische Einflüsse auf Günter Eich: Vom Chinesischen zum Japanischen".4^ Ausgehend von Eichs 42 Die Notiz wird von Hart Nibbrig zitiert (vgl. Hart Nibbrig 1981, a.a.O., S.253); Eichs Notiz entspricht ganz Hart Nibbrigs Anliegen, zumal im Kon¬ text vom "stumme(n) Spiel", also von einem gestischen Sprechen die Rede ist, das eine Qualität des Theaters sei; dieses müsse in die Pausen des Sprechens im Hörspiel übertragen werden. 43 vgl. Hart Nibbrig 1981, a.a.O., S.256, 258 44 Haverkamp, Anselm, Lauras Metamorphosen (Eichs Lauren). Dekonstruktion einer lyrischen Figur in der Prosa der Maulwürfe, in: Deutsche Vierteljah¬ resschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2/1984 (58 jg.), S.317 Abstract 45 Yamane, Keiko, Asiatische Einflüsse auf Günter Eich: Vom Chinesischen zum Japanischen, Frankfurt a.M., Bern, New York 1983 23

Äußerungen zur chinesischen Sprache, Schrift und Kultur und den Überset¬ zungen, die Eich aus dem Chinesischen anfertigte, versucht Yamane in Eichs Hörspielwerk Motive der chinesischen Literatur nachzuweisen. In einem zweiten Schritt werden motivische Übereinstimmungen zwischen Eichs Über¬ tragungen aus dem Chinesischen und den Gedichten aus dem Band "Abgele¬ gene Gehöfte" dargestellt und Parallelen zwischen den Eichschen Texten und dem Buddhismus aufgezeigt. In der zunehmenden Verknappung einiger Gedichte aus den Bänden "Zu den Akten" und "Anlässe und Steingärten" erkennt Yamane eine Anlehnung an die Form des Haiku und versucht außer¬ dem zu zeigen, daß Eich sich im Spätwerk zunehmend der japanischen Tradi¬ tion zuwendet. Die "Maulwürfe" schließlich vergleicht Yamane mit den Koan-Aufgaben, die im Zen-Buddhismus als Meditationsübungen gestellt wer¬ den, und erwähnt, daß laut Ilse Aichinger Eich sich im Hinblick auf seine Arbeit einmal wie folgt geäußert habe: “'Was ich denke und mache, ich hab's festgestellt, ist nichts anderes als Zen.'"46 Bereits Maoping Wei kritisiert in ihrer Arbeit "Günter Eich und China", daß einige der von Yamane zwischen den Texten Eichs und dem Chinesischen aufgestellte Analogien als "äußerst gezwungen erscheinen."46 Wei geht ähnlich vor wie Yamane, doch werden nicht nur Parallelen, sondern auch Differenzen zwischen Eichs Texten und der chinesischen Kultur dargestellt. Die Untersuchungen zu den Einzelmotiven sind meist präziser. Nicht berück¬ sichtigt wird der japanische Kontext des Eichschen Spätwerks, und die "Maulwürfe" finden kaum Erwähnung. Die "Asiatischen Einflüsse in den Maulwürfen" untersucht Sabine Alber im Rahmen ihrer Studie "Der Ort im freien Fall. Günter Eichs Maulwürfe im Kontext des Gesamtwerkes".4^ Alber beschreibt die Anlehnung des "Maul¬ wurfs" "Winterstudentin mit Tochtersohn" an Tibetanische Totenbücher und die taoistische Ying-Yang-Lehre und zeigt an anderen "Maulwürfen" Eichs Beeinflussung durch den Zen-Buddhismus. Alber wiederholt in ihrer Arbeit eine Reihe der von Kohlenbach an seinen Vorgängern kritisierten Fehler. Der im Titel formulierte Anspruch, das Gesamtwerk Eichs zu berücksichtigen, provoziert vielfach eine allzu kur¬ sorische Lektüre. Zum Beispiel wird von insgesamt zwanzig Hörspielen nicht viel mehr als eine Inhaltsangabe geboten und dadurch die Vielschichtigkeit der Sprache negiert. Ähnliches gilt auch für Albers Lesart der "Maulwürfe”, so daß die gesamte Arbeit weit hinter den von Kohlenbach, Neumann und Haverkamp vor zehn Jahren erreichten Stand der Forschung zurückfällt. 46 Yamane 1983, a.a.O., S.196 47 Wei, Maoping, Günter Eich und China. Studien über die Beziehungen von Günter Eich zur chinesischen Geisteswelt, Heidelberg 1989, S.25 48 Alber, Sabine, Der Ort im freien Fall. Günter Eichs Maulwürfe im Kontext des Gesamtwerkes, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1992, S.167-195 24

TEIL I: ZU EINER THEORIE DES VERSEHENDEN LESENS 1. SIGNUM, SCHRIFT UND GRAMMATEXTUALITÄT Im Jahre 1957 stellt Günter Eich auf einem Notizblatt eine Liste von Zei¬ chensystemen zusammen, die seiner Vorstellung vom Signum entsprechen. Hupzeichen werden dort ebenso aufgeführt wie Steinmetzzeichen, Verkehrs¬ zeichen, Gaunerzinken, mathematische Formeln und verschiedene Schriftzei¬ chen. Ein Stern ist als Piktogramm an den Rand gezeichnet, daneben der Satz: "Dies ist ein wunderbarer Stern." Ein gemalter Stern wäre von Rene Magritte vielleicht mit dem Satz kommentiert worden: "Ceci n'est pas une etoile.“ Bei Eich wie gesagt ist das Piktogramm des Sterns ein Stern und noch dazu ein wunderbarer. In Eichs Wörterliste sind noch drei Sätze einge¬ worfen, die den Begriff Signum ein wenig konkretisieren: 1. "Das Signum ist eine Entwicklung des Bildes zum Abstraktum Kann sein", 2. "Zu den Bildern Klees: Übergang von der Metapher, dem Bild, zum Signum in der Spätzeit", 3. "Winken und Kußhand haben zugleich Bild und Signalcharakter." Der Her¬ ausgeber Heinz F. Schafroth kommentiert das Notizblatt im Anhang mit den Worten: "Es (das Blatt, S.M.) wird in diesem Band erstmals veröffentlicht und müßte für die Diskussion über E.'s spätere Gedichte, Formeln und Maulwürfe von Interesse sein." (IV,467) Der erste der drei oben zitierten Sätze charakterisiert das Signum als einen dynamischen Prozeß, der vom Bild ausgeht und auf Abstraktion ausgerichtet ist. Das Signum besetzt somit einen Zwischenraum, der zwischen den Extre¬ men Bild und Abstraktum vermittelt: den Raum des "Im-Begriff-Seins"J Alle auf dem Notizblatt versammelten Zeichensysteme (einige von Eich mit einem Fragezeichen versehen) gehören in diesen Bereich. Warum ist das Piktogramm des Sterns ein wunderbarer Stern? Knüpfen wir bei Michel Foucaults Interpretation von Magrittes Gemälde "Der Verrat der 1

zum »Im-Begriff-Sein« vgl. Wohlfart, Günter, Denken und Sprechen, Mün¬ chen, Freiburg 1984, S.88 ff.: Nach Wohlfart fächert Leibniz die Erkenntnis (cognitio) in die cognitio obscura (dunkle Erkenntnis) und die cognitio clara (klare -) auf, die cogni¬ tio clara wiederum in die cognitio clara confusa (klare, verworrene Er¬ kenntnis) und die cognitio clara distincta (klare, deutliche Erkenntnis) und die cognitio clara distincta schließlich in die cognitio clara distincta inadaequata und die cognitio clara distincta adaequata. »Die ästhetische >Erkenntnis< ist cognitio clara confusa. Klarheit ist die Vollkommenheit der Anschauung, Deutlichkeit die Vollkommenheit des Be¬ griffs. Die ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung des Im-Begriff-Seins der vollkommenen Klarheit der Anschauung, in die Deutlichkeit des Be¬ griffs überzugehen. Ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung des Sichlibersetzens (des Hinübertragens) der Anschauung in den Begriff.« Wohl¬ fart 1984, a.a.O., S.89 Wichtig ist noch Wohlfarts Hinweis, daß Baumgarten im Gegensatz zu Leibniz die cognitio clara confusa nicht nur als eine Vorstufe zur cognitio clara distincta ansieht, sondern als eine genuine Form der Erkenntnis: als sinnliche Erkenntnis. 25

Bilder" an.2 Das Gemälde zeigt eine Pfeife, darunter den Satz: "Ceci n'est pas une pipe." "Michel Foucault hat drei Möglichkeiten (der Deutung des Wortes "ceci", S.M.) aufgezeigt. Erstens, wenn 'dies' sich auf das Bild der Pfeife bezieht, dann ist der Satz referentiell und impliziert: 'dies (dieses Bild einer Pfeife) ist keine Pfeife'. Zweitens, wenn sich 'dies' auf den auf die Leinwand gemalten Satz bezieht, dann wird dieser Satz selbstreferentiell und impliziert: 'dies ist keine Pfeife, sondern dies sind lediglich gemalte Buchstaben'. Drittens, wenn 'dies' sich auf Magrittes Gemälde bezieht, das heißt dasjenige, welches sowohl eine Pfeife enthält als auch einen Satz, der 'dies ist keine Pfeife' behauptet, dann wird dieser Satz wiederum selbstre¬ ferentiell, aber auf eine andere Art, und impliziert: 'dies (dieses Gemälde) ist keine Pfeife'."3 Weder das Bild der Pfeife noch die Buchstabenkombina¬ tion PFEIFE sind folglich in der Lage, eine Pfeife zu erzeugen. Bild und Buchstabenkombination sind die beiden Extreme im oben zitierten Satz von Eich. Dem Signum aber wird von Eich die Kraft zugeschrieben, den bezeichneten Gegenstand zu evozieren. Es ist weder reine Vorstellung noch ab¬ strakter Begriff. Als Paradigma für das Signum wählt Eich das Piktogramm eines Sterns. "Das ist ein wun der ba rer Stern. Acht Striche, seit sechzig Jahren übe ich. Keine krummen Linien, keine Schleifen, alle Spitzen auf einem Kreis, aus der freien Hand. Ein wunderbarer Stern, mir gelingt er nicht, soviel ich auch übe." (M.lll; "Sternzeichner'') Der "Sternzeichner" kann auch als eine Anspielung auf einen alten Schriftursprungsmythos gelesen werden, demzufolge die Sterne die Himmelsschrift der Götter sind.4 5 Bei dieser "Schrift" erscheinen weiße Zeichen auf schwarzem Grund, während Eichs Sternpiktogramm aus schwarzen Linien auf weißem Schriftgrund be¬ steht. In dieser Umkehrung deutet sich in nuce der für Eichs Werk wichtige Begriff "Negativität" an. Im Piktogramm des Sterns ist wie in allen Zeichen¬ systemen des Zwischenraums noch der Kern der ursprünglich magischen Verwendung enthalten, aber bereits der Umschlag zur Abstraktion er¬ kennbar.3 1.1. Zur Theorie der Grammatextualität Die bisherigen Überlegungen führen zu einem Begriff, den Jean Gerard Lepacherie in dem Aufsatz "Der Text als ein Gefüge aus Schrift" zu de¬ finieren versucht: zu dem Begriff "Grammatextualität". "Die 'Grammatextua¬ lität', wie sie hier aufgefaßt wird, - 'Grammatizität' wäre vielleicht ein noch besserer Begriff - impliziert eine relative Autonomie der Schrift sowohl 2 3

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vgl. Foucault, Michel, Das ist keine Pfeife, München 1974 Edson, Laurie, Das Durchbrechen der Konvention: Sprachliche und bildliche Darstellung von Alltagsobjekten bei Francis Ponge und Ren4 Magritte, in: Bohn, Volker (Hrsg.), Bildlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, S.260 vgl. Glück, Helmut, Schrift und Schriftlichkeit, Stuttgart 1989, S.212 vgl. hierzu Benjamin, Walter, Lehre vom Ähnlichen, in: Gesammelte Schrif¬ ten II.l, Frankfurt a.M. 1980, S.209

gegenüber dem Sprechen, das sie festhält und konserviert, als auch gegen¬ über der Rede, der sie eine Gestalt gibt und die sie übermittelt."6 7 Lepacherie arbeitet eine Reihe von grammatextuellen Praktiken heraus, die er in ein Diagramm einträgt. Dessen Horizontale wird gegliedert durch die Stufen der bildlichen Darstellung, in der eine Schrift erscheint: "von links nach rechts und vom Figürlichen zum Nicht-Figürlichen sind dies das Ikon, das Ideo¬ gramm, das Diagramm und das abstrakte Alphabet." 7 Ikon und abstraktes Alphabet sind die beiden Extreme, welche gänzlich verschiedene Rezeptions¬ weisen aktivieren. Ein Schriftstück, das im Zeichensatz des abstrakten Al¬ phabets abgefaßt ist, kann als Text gelesen werden und teilt Rede mit. Der ikonische Pol ist figürlich, "es gibt keinen Text aus Wörtern", sondern "es wird mit der Schrift gezeichnet; die Buchstaben und alle andern Schrift-Zei¬ chen entwerfen analoge Figuren und sollen Formen und Umrisse sichtbar machen."8 Ikonische Schriftzeichen finden wir nur in archaischen Schriften. Nach Lepacherie ist das Ikon rein figürlich, das abstrakte Alphabet dagegen ganz und gar nicht-figürlich. Diese Beschreibung muß meiner Ansicht nach korrigiert werden. Das Ikon wie ein Piktogramm setzen beide eine hohe Abstraktionsleistung voraus. Die im Ikon figurativ dargestellten Gegenstände müssen aus der Umgebung isoliert und ihre Formen auf einige prägnante Merkmale reduziert werden. Erst durch diesen Vorgang der Isolierung und Reduktion wird aus dem Bild ein ikonisches Schriftzeichen entwickelt. Das abstrakte Alphabet dagegen bewahrt wenn auch geringe Restbestände seiner von einer figurativen Schrift ausgegangenen Entwicklungsgeschichte in sich auf. Als Beispiel des Ideogramms nennt Lepacherie die entwickelte Stufe der Hieroglyphenschrift, welche auch auf Eichs Notizblatt erwähnt wird ("Hiero¬ glyphen nur in der Spätform"): "In der altägyptischen Schrift werden von Experten drei Klassen von Zeichen unterschieden: die Ideogramme im engeren Sinne, die 'Phonogramme', die Konsonanten wiedergeben, und die 'Determinative', die nicht gesprochen werden, die aber den vom vorangegangenen Zeichen ausgedrückten Begriff näher bestimmen. Im hieroglyphischen System gibt es also neben den figürlichen Ideogrammen Zeichen (die 'Phonogramme'), die einer Logik des Alphabets entstammen, und andere (die 'Determinativa'), die eine klassifizierende Funktion haben. Diese Zei¬ chen besitzen das Äußere einer Zeichnung, aber was sie übermitteln (einen Konsonanten zum Beispiel), hat keinerlei Bezug zu dem, was ihr Bild (ein Skarabäus beispielsweise, der für das Phonogramm /1/ steht) darstellt. Des weiteren kommt es bei den Ideogrammen im eigentlichen Sinne vor, daß die Beziehung zwischen dem Dargestellten 6 7 8

Lepacherie, Jean Gerard, Der Text als ein Gefüge aus Schrift (Uber Grammatextualität), in: Bohn, Volker 1980, a.a.O., S.69 Lepacherie 1980, a.a.O., S.79 Lepacherie 1980, a.a.O., S.75 27

und dem Gemeinten keineswegs direkt ist. So bedeutet ein Ideo¬ gramm, das einen Krug darstellt, 'Bier'."** Hinter der figürlichen Darstellung der Ideogramme können sich also enorme Abstrahierungen wie die Isolierung und Benennung von Lauten und die Klas¬ sifizierung von Gegenständen verbergen. Ähnlich verhält es sich mit den chinesischen Schriftzeichen, die in einem gesonderten Exkurs genauer be¬ trachtet werden sollen, da sie für die graphische Gestaltung der Texte Eichs die größte Bedeutung haben. "Die vierte Stufe in der Reihe der Schriftanalogien, das nur im Rah¬ men einer Beziehung Figürliche, wird durch das aus der amerikani¬ schen Semiotik und der graphischen Semiologie kommende Konzept des 'Diagramms' definiert. Ein Diagramm ist ein Ikon der Beziehungen. Die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Teilen eines Zeichens oder zwischen mehreren Zeichen bestehen, entsprechen jenen, die zwischen den einzelnen Teilen des präsentierten Objekts bestehen."^ Für die Abfolge der genannten Stufen der Bildlichkeit gilt, daß vom Ikon zum abstrakten Alphabet die Rezeption sich immer stärker von der einer Betrachtung eines Bildes ähnlichen Rezeption zu einer linearen Lektüre entwickelt. Die Vertikale von Lepacheries Diagramm der grammatextuellen Praktiken ist zweistufig. Sie zeigt die Ebenen der In-Schrift. Die In-Schrift geschieht durch ein "Zusammenwirken der Hand und des Auges im Bereich des Graphischen". Die Einschreibung der Buchstaben auf einen Untergrund erzeugt Linien und die Summe der Linien eine Fläche. Buchstabe und Linie bilden die erste Ebene der In-Schrift, die von Lepacherie als Schrift-Ebene bezeichnet wird, die Seite oder Fläche die zweite Ebene, die Inschrift-Ebene. Exakter wäre es, von drei Ebenen (Einzel¬ buchstabe, Zeile, Seite) oder gar vier Ebenen auszugehen (die genannten drei plus eine, welche die Einbindung der Seite in ein Buch oder ein anderes Umfeld beschreibt). Für jede Stufe der bildlichen Darstellung und für jede Ebene der In-Schrift nennt Lepacherie in einer den Aufsatz abschließenden Übersicht literarische Beispiele.11 Eine Form, die nahezu jede Stufe und jede Ebene berücksichtigt, ist das Kalligramm. Es kann wie ein Bild und linear wie ein Text, der in Form des abstrakten Alphabets abgefaßt ist, gelesen werden.

9 Lepacherie 1980, a.a.O., S.73 10 Lepacherie 1980, a.a.O., S.76 11 Lepacherie 1980, a.a.O., S.86 28

1.2. Die chinesische Schrift "Schwedhelm: Wenn man Ihre Gedichte aufmerksam liest und dann etwas darüber erfährt, daß Sie sich mit Sinologie beschäftigt und Sinologie studiert haben, dann wird einem manches in der Bildsprache dieser Verse klar. Die äußerste Vereinfachung, das Zusammendrängen auf ganz wenige Linien im Wort, die etwa Ähnlichkeit haben mit ostasiatischen Tuschzeichnungen. Ich weiß nicht, ob Sie selbst diese Verwandtschaft auch empfinden, aber mir ging es beim Lesen der Gedichte so. Eich: Ja, auch ich empfinde eine gewisse Verwandtschaft überhaupt des Gedichts zu einem chinesischen Schriftzeichen, worin also der Sinn konzentriert ist, wo nicht alphabetisch oder lautlich das Wort ausgedrückt wird, sondern durch ein Sinnbild; also in äußerster Komprimierung. Schwedhelm: Und wobei das Gedicht in allen seinen Strophen eine Ganzheit darstellt, nicht die einzelne Verszeile für sich ge¬ nommen werden soll. Eich: Es ist das Ganze ein Zeichen sozusagen, eine Hieroglyphe." (IV,483) Im Forschungsbericht habe ich auf die beiden größeren Arbeiten über die asiastischen Einflüsse hingewiesen. Unberücksichtigt bleibt bei diesen aber die Auswirkung der Strukturmerkmale der chinesischen Schrift auf Günter Eichs Werk. Nachfolgend werden einige Strukturmerkmale der chinesischen Schrift erläutert. Geschichte Die chinesische Schrift zählt zu den ältesten der Welt; mit Sicherheit ist sie die älteste heute noch verwendete Schrift. Ihre Anfänge reichen zurück in die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus. Vor der Erfindung der chinesischen Schrift wurden wie in indianischen Kulturen Knotenschnüre verwendet, auf den Riukiu-Inseln sind sie heute noch in Gebrauch.12 Ein weiterer Schriftvorläufer war die symbolische Verwendung von Dingen nach dem Prinzip der Lautgleichheit: Zum Beispiel bedeutet das Wort ‘Ring1 auch 'zurückkehren'. Also überbrachte man einem Verbannten, dem die Rückkehr gestattet wurde, einen Ring.1^ Aus dem Sachrebus entwickelte sich später der Schriftrebus. Auf der Schwelle zur eigentlichen Schrift stehen die acht Trigramme des Yih-King (auch I Ging), dem einzigen nicht verlorengegange¬ nen Orakelbuch. Jensen erwähnt auch die Möglichkeit, es handele "sich bei 12 vgl. Jensen, Hans, Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin (Ost) 1969, S.1SS 13 Jensen 1969, a.a.O., S.156 29

dem Yih-King eher um ein Wörterbuch der Staatsmoral in Stichwörtern, das später nicht mehr verstanden und von einer Priesterkaste zu Orakelzwecken benutzt wurde."14 Die ältesten Zeugnisse der eigentlichen chinesischen Schrift reichen zurück in die Zeit der Yin-Dynastie (1500-1028 v.Chr.). Es handelt sich dabei um eine große Anzahl beschrifteter Schildkrötenpanzer und Knochen, welche Orakelzwecken dienten.15 Als einzige weitere Textgruppe sind aus der YinDynastie Herrscherüsten bekannt. Die Texte der Chou-Dynastie (1027-256 v.Chr.) zeichnen sich durch eine größere Vielfalt aus (dichterische, histori¬ sche, philosophische und ritual-religiöse Literatur).18 Die frühesten von Eich übersetzten Gedichte stammen aus der Han-Dynastie (in der Eich-Werkausgabe datiert mit 206 vor - 220 nach Chr.). Karlgren schreibt über die Entwicklung der Schriftzeichen: "Ihre Form hat sich zwar im Laufe vieler Jahrhunderte erheblich verändert, aber die dahin¬ terstehende Vorstellung ist die gleiche geblieben.Einem gebildeten Chi¬ nesen bereitet es keine Schwierigkeiten, Texte aus den verschiedenen Ent¬ wicklungsstadien der Schrift zu lesen und zu verstehen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten Schriftsprache

der gesprochenen

Sprache

und der

Im Chinesischen muß deutlicher als in anderen Sprachen zwischen der ge¬ schriebenen und der gesprochenen Sprachform unterschieden werden. "Man kann - stark vergröbernd - sagen, daß das Chinesische über sei¬ ne Schrift als Sprache definiert ist. Die chinesische Schrift ist ein graphisches Esperanto, das im Prinzip ohne Rekurs auf die gesprochene Sprache gelesen und geschrieben werden kann. Altchinesische Klassi¬ ker sind für gebildete Chinesen mühelos lesbar, ohne daß sie Vorstel¬ lungen darüber entwickeln müßten, wie die jeweiligen Texte in ihrer Entstehungszeit in gesprochener Sprache realisiert worden sind."18 Die chinesische Schriftsprache und die Umgangssprache differieren so sehr, daß Eich von zwei gänzlich verschiedenen Sprachen spricht (IV,384). Weder in der Umgangssprache noch in der Schriftsprache gibt es eine Flexion, eine Unterscheidung der Wortarten, mehrsilbige Stammwörter oder durch Ablei¬ tungssilben gebildete einfache Wörter. Diese Gleichförmigkeit ist nicht, wie früher vielfach angenommen, ein Zeichen von Primitivität, sondern ein Er¬ gebnis einer langen Sprachentwicklungsgeschichte und wurde begünstigt durch die starke Unabhängigkeit von Schrift- und Umgangssprache. Während jedoch der Schriftsprache 50 000 Zeichen zur Verfügung stehen, muß die 14 Jensen 1969, a.a.O., ebenda 15 vgl. Karlgren, Bernhard, Schrift 19892 (engl. Orig. 1923), S.3 16 vgl. Karlgren 19892, a.a.O., S.5 17 Karlgren 19892, a.a.O., S.8 18 vgl. Glück 1989, a.a.O., S.15 30

und

Sprache

der

Chinesen,

Heidelberg,

gesprochene Sprache, die wie die Schriftsprache monosyllabisch ist, mit we¬ nig mehr als vierhundert Silben auskommen. Zwar können diese vierhundert Silben durch unterschiedliche Betonung (die vier Töne, welche nach Karlgren die letzten Überbleibsel von ehemals vorhandenen Ableitungssilben sind) *9 zur Bezeichnung eines Vielfachen an Worten verwendet werden, doch ver¬ bleibt eine ungeheure Zahl von Homonymen: "Von den 69 i hat der Pe¬ king-Dialekt sieben im ersten Ton, siebzehn im zweiten, sieben im dritten und nicht weniger als achtunddreißig im vierten."20 Wegen dieses hohen Grades an Homophonie ist eine Alphabetschrift zur Verschriftung des Chi¬ nesischen ungeeignet. Hinzu kommt das Problem, daß es so unterschiedliche Dialekte gibt, daß eine phonetische Schrift den Zerfall der Spracheinheit Chinas bewirken würde. Die chinesische Schrift wird als graphisches Espe¬ ranto bezeichnet, weil sie den Sprechern aller Dialekte die Verständigung untereinander ermöglicht. Strukturmerkmale der chinesischen Schrift Die chinesische Schrift ist ein Mischsystem, ähnlich dem der schon er¬ läuterten Hieroglyphenschrift. Karlgren unterscheidet drei Hauptgruppen von Zeichen.^l Die erste Gruppe und früheste Stufe sind Zeichen, die aus der Zeichnung von Gegenständen entwickelt wurden. Diese Ideogramme haben Abbildcharakter. In die zweite Gruppe gehören jene Zeichen, welche ab¬ strakte Ideen veranschaulichen. Dies geschieht durch symbolische Bilder, welche nach vier Methoden erzeugt werden: 1. Fixierung einer Gebärde, 2. Pars pro toto, 3. Metapher, 4. Metonymie (Ursache statt Wirkung, Wir¬ kung statt Ursache) .22 Das Zeichen für 'mathematische Wurzel' stellt einen Baum mit einem Querstrich durch den unteren Teil dar, das Zeichen für 'Reisen' aufeinandertreffende Straßen. Die dritte Gruppe sind Zeichen, die nach der Methode der phonetischen Entlehnung erstellt wurden (Schriftre¬ bus; vor allem während der Chou-Dynastie). Diese drei Zeichengruppen sind die Grundbestandteile der Schrift, welche selbständig verwendet werden können. Neunzig Prozent der chinesischen Schriftzeichen sind allerdings zu¬ sammengesetzte Zeichen, die aus einem sinntragenden Teil (Radikal) und ei¬ nem Lautangeber bestehen. Die Zahl der Radikale (auch 'Determinative' oder 'Klassenkämpfer' genannt) ist gering. Bis zur Schriftreform in diesem Jahr¬ hundert waren es 214, dann 186. Der Lautangeber deutet die Aussprache des Wortes an, der sinntragende Bestandteil des Wortes die Bedeutung oder zumindest die Kategorie (Beispiel: Radikal 'Erde' plus fang = Bezirk, Radikal 'Sprechen' plus fang = fragen, Radikal 'Holz' plus fang = Brett, Radikal 'Seide' plus fang = spinnen). Radikal und Lautangeber sind wiederum aus mehreren Bestandteilen zusammengesetzt. Das Zeichen " ko ’(Einzel-) 19 20 21 22

vgl. Karlgren 19892, a.a.O., S.15 Karlgren 19892, a.a.O., S.22 Karlgren 19892, a.a.O., S.32 vgl. Jensen 1969, a.a.O., S.189

31

stück' zerlegt sich in den Radikal A- , 'Mensch', den Lautangeber iD ku, 'fest', letzteres besteht wiederum aus dem Radikal LI , 'Einfassung' und dem Lautangeber h ku, 'alt', welches wiederum in die Elemente f 'zehn' und 'O 'Mund' zerlegt wird."23 Anhand dieses Beispiels wird deutlich, warum Ernest Fenollosa in "Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium" die chinesische Schrift über die alphabetische stellt: "Nur Gelehrte und Dichter fühlen sich mühsam zurück am Faden unserer Etymologien und setzen, so gut sie können, aus vergessenen Fragmenten unsere Diktion zusammen. Diese Blutarmut der modernen Sprache wird nur zu sehr ermutigt durch die schwache Kohäsionskraft unserer phonetischen Symbole. Es gibt wenig oder nichts in einem phonetischen Wort, was die embryonalen Stadien seines Wachstums vorführen würde. Es trägt seine Metapher nicht im Gesicht. (...) Hier zeigt das Chinesische seinen Vorzug. Seine Etymologie ist dauernd sichtbar. Es bewahrt den schöpferischen Impuls und Prozeß sichtbar und hält ihn in Tätigkeit. Nach Tausenden von Jahren sind die Linien des metaphorischen Fortschreitens noch immer zu sehen und in vielen Fällen auch tatsächlich im Sinn bewahrt. Auf diese Weise wird ein Wort, anstatt mit uns allmählich ärmer und ärmer zu werden, reicher und noch reicher von Generation zu Generation, fast bewußt leuchtend."2^ Durch die Verschachtelung der einzelnen Bestandteile eines Zeichens ähnelt die Lektüre dem Entschlüsseln eines Rebus (Abb. 1). Die Entfaltung eines Zeichens in die Bedeutungen seiner Bestandteile macht aus jedem Zeichen einen Text en miniature. Eich versucht in extrem verknappten Gedichten und insbesondere in den "Formeln" dieses Merkmal der chinesischen Zeichen in die alphabetische Schrift zu übertragen. Auf dem eingangs dieses Kapitels erwähnten Notizblatt verzeichnet er allerdings nur die "Radikale der chinesi¬ schen Schrift". Unerklärlich ist, warum er die lautangebenden Zeichen ver¬ schmäht. Vielleicht ist es von Bedeutung, daß die Radikale das Ordnungssy¬ stem der chinesischen Wörterbücher vorgeben. Unter jedem Radikal sind in der Reihenfolge der Strichanzahl alle Zeichen angeführt, in welchen er vor¬ kommt (vgl. Alphabetismus bei Eich). Schreibmaterial, Schriftduktus und In-Schriftebene In der frühesten Zeit wurde auf Stein, Metall, Knochen und Bambusstäbchen geschrieben. Man verwendete zum Schreiben einen metallenen Stift bzw. ei¬ ne Bambusfeder und Lack. Ab ca. 200 v.Chr. schrieb man mit Haarpinseln und Tusche auf Seidenpapier.25 Die neuen Schreibmaterialien ermöglichten eine schnelle Schreibweise und förderten eine rasche Entwicklung des 23 Karlgren 19892, a.a.O., S.45 f. 24 Fenollosa, Ernest, Das chinesische Schriftzeichen als poetisches (hrsg.v. Ezra Pound), Starnberg 1972 (engl. Orginal. 1936), S.28 25 vgl. Jensen 1969, a.a.O., S.164 32

Medium

Schriftduktus (Abb. 2). Aus dem 213 v.Chr. von Li Si herausgegebenen Zeichenverzeichnis ("kleines Siegel") entwickelte man die Schrift li shu. In dieser Schrift sind die Kreise durch Quadrate ersetzt.26 Eine weitere Stufe repräsentiert die sogenannte Normalschrift k'ie shu. Mit der Einführung von Haarpinsel, Tusche und Seidenpapier wurden auch eine Kurrentschrift (hing shu ) und eine Kurzschrift möglich, "die den schönen Namen ts'ao shu oder ts'ao tsi 'Grasschrift' erhielt. Diese Kurzschrift ist kein starr durchgeform¬ tes System wie unsere westliche Stenographie, sondern ein sehr beweglicher Stil, der dem Einzelnen beträchtliche Freiheit läßt, bzw. weitere Variationen zuläßt, und die Abkürzungen können gradmäßig verschieden sein: wir haben das siao ts'ao, das 'kleine Gras', welches noch ziemlich methodisch durchge¬ formt ist, und das ta ts’ao, das 'große Gras', welches nahezu unüberwindli¬ che Schwierigkeiten bietet."2^ Auch ohne diesen Hinweis kann man durch vergleichende Analysen darauf kommen, daß das Wort 'Gras' bei Eich mit der Bedeutung 'Schrift' konnotiert ist, und zwar der ihm gemäßen Schrift (vgl. insbesondere den "Maulwurf "Hohes Gras"; M,120 f.). Je "höher" das "Gras”, desto verkürzter die Schrift, und es gibt einen Grad der Verkürzung, von dem an die Schrift in ihrer Existenz gefährdet ist. "Die formale Entwicklung, welche die Normalschrift und die Gras¬ schrift hervorgebracht hatte, fand ihren Abschluß in der frühen christ¬ lichen Zeit, und Nachlässigkeit und Freizügigkeit in der Schreibweise hatten schon solche Ausmaße angenommen, daß die Existenz der Schrift bedroht war. Ein Gelehrter fühlte sich fast entehrt, wenn er die Handschrift eines Schreibers hatte. Gerettet wurde die solcherart gefährdete Schrift durch die Initiative eines einzigen Mannes, des Hü Shen, der mit seinem 100 n. Chr. veröffentlichten Wörterbuch, dem SHUO-WtN-KIE-TSI ‘Erörterungen der Bildzeichen und Erklärung zusammengesetzter Schriftzeichen' das Interesse der Gelehrten für Etymologie und Orthographie weckte."28 Da in der Schrift Wortarten nicht unterschieden werden und Flexion und Interpunktion fehlen, entscheidet allein die Wortstellung darüber, welche Funktion ein Wort im Satz übernimmt. Dies bereitet dem Übersetzer aus dem Chinesischen enorme Probleme. Drei weitere Schwierigkeiten sind laut Karlgren 1. die Bedeutungsvielfalt der einzelnen Zeichen, 2. das Finden der zusammenpassenden Bedeutungen bei zusammengesetzten Zeichen (die Be¬ standteile der Komposita erscheinen als Einzelwörter) und 3. "der ausge¬ sprochen brachylogische Charakter des chinesischen Satzes", der Karlgren von einem Telegrammstil sprechen läßt.29 Diese Erschwernisse (besonders 1. und 3.) sind dem "Maulwurf-Leser nur zu bekannt. Der Gestaltung des Schriftbildes kommt traditionell eine große Bedeutung zu. Nicht nur ist der Schrift auf der Schrift-Ebene ihre Herkunft vom Bild 26 27 28 29

vgl. Karlgren 19892, a.a.O., S.50 f. Karlgren 19892, a.a.O., S.51 Karlgren 19892, a.a.O., S.53 Karlgren 19892, a.a.O., S.70 ff.

33

deutlich anzusehen. Auch auf der Ebene der In-Schrift sind die Übergänge von der bildenden Kunst zur Kalligraphie fließend. Viele Künstler sind zu¬ gleich Maler und Kalligraphen. "Literarische und graphische Kunst sind (...) in China inniger ver¬ bunden als der westliche Mensch es sich vorzustellen vermag. Ge¬ wöhnlich setzt der Künstler seine Signatur unter den Text, oft mit einem eleganten Pinselschwung, und fügt auch seinen Namen in einem roten Siegel hinzu.”^ Bis zu dem Zeitpunkt, als der Einfluß des Abendlandes das feste Kulturge¬ füge Chinas erschütterte, wurde der ästhetische Wert des Schriftbildes nicht einer zunehmenden Rationalisierung geopfert, wie dies bei Alphabetschriften zu beobachten ist. Dies ist um so verwunderlicher, als die meisten Innova¬ tionen der Schreib- und Drucktechnik in China Jahrhunderte vor ihrer Ein¬ führung in Europa bekannt waren. Das älteste chinesische Papier datiert aus dem Jahre 105 n.Chr., während in Deutschland die älteste Papierurkunde aus dem Jahre 1228 stammt. Der Druck mit Holzplatten wurde in China im 6. Jahrhundert n.Chr. erfunden, der Druck mit Druckplatten mit erhabenen Zeichen aus Metall im Jahre 816, der Druck mit beweglichen Lettern aus Ton schließlich soll im Jahre 1045 erfunden worden sein. In der chinesischen Art der Textgestaltung spiegelt sich auf allen Ebenen die gleichwertige und wertschätzende Behandlung von Einzelzeichen und Gesamttext wider. Beginnend bei der Niederschrift des einzelnen Zeichens, das in ein gedachtes, für jedes Zeichen gleich großes Quadrat eingetragen wird, wobei die einzelnen Striche Teil einer einzigen Bewegung sind. Die traditionelle Schreibrichtung geht von oben nach unten und von links nach rechts. In jüngerer Zeit hat man sie an das abendländische Vorbild angepaßt. Die Zeichen mußten bei diesem Schreibrichtungswechsel nicht geändert werden, sie konnten bereits früher, wenn dies aufgrund von Besonderheiten der Schreibfläche nötig war, in jeder beliebigen Richtung angeordnet werden. Die Zeichen ordnen sich wegen der Einteilung der Ebene der In-schrift in kleine Quadrate nicht nur in den Zeilen der Schreibrichtung, sondern auch in Zeilen senkrecht zur Schreibrichtung an. Die Flexibilität der Zeichenanord¬ nung dürfte bewirken, daß die Wahrnehmung beim Erlernen von Schreiben und Lesen wesentlich weniger fixiert und ausgerichtet wird als dies beim Erlernen einer Alphabetschrift der Fall ist. Betrachtet man chinesische Tuschzeichnungen, so kann man auch dort das weniger gerichtete Sehen der Künstler beobachten. Der Raum wird in der chinesischen Kunst nicht durch die Zentralperspektive veranschaulicht, sondern durch Luftperspektive und durch schräg nach oben laufende Parallelen.^ Das letztgenannte Verfahren 30 Karlgren 19892, a.a.O., S.54 31 vgl. Jensen 1969, a.a.O., S.165 f. Carter, Goodrich, The Invention of Printing in China and it' s Spread Westward, New York 19552, S.211 ff. Kapr, Albert, Buchgestaltung, Dresden 1963, S.21 (Abbildung) 32 vgl. Metzger, Wolfgang, Gesetze des Sehens, Frankfurt a. M. 1975, S.237; vgl. auch S.67, Fn. 31

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ähnelt der Axonometrie, welche vor allem in Architekturzeichnungen zur Anwendung kommt. "Es handelt sich dabei um eine Darstellungsform, die geeignet ist, auch komplizierte Konfigurationen zu veranschaulichen, weil sie diese nicht in das übliche Nacheinander von Grundriß, Schnitt, Aufriß auflösen, sondern diese selbst in sich abbilden, inklusive jeden angenom¬ menen Standpunkt der Betrachtung. Das heißt, daß sie nicht eigentlich darstellt, sondern eher konstruiert, in einer Weise, die weder die grundlegende Linearität noch das Ziel der Darstellung zerstört, son¬ dern diese in sich einschreibt und darüber hinausgeht. Denn bei allen Formen der Axonometrie - (...) - liegt der Mittelpunkt der Projektion im Unendlichen, so daß die Projektionsstrahlen planparallel verlaufen können, mit den wahren Längen und unter Erhaltung der Winkel, ohne jemals in der Tiefe zu verkürzen oder zu verkleinern, und kein Punkt den Raum begrenzt. Das hat Folgen für die Sichtweise, die nicht mehr das perspektivisch interpretierende Auge sein kann, wenn über die scheinbare Verzerrung eines Bildes, das in der Tiefendimension ‘wah¬ re’ Längen beibehält, durch eben diese ins Extrem geführte Objektivi¬ tät eine neue und kritische 'Perspektive' zu gewinnen ist.”33 Zwar hat die chinesische Kunst, in der der Raum überhaupt nicht als ein von der übrigen Welt getrenntes Abstraktum existiert, mit Sicherheit nicht den Anspruch, in Bildern und Zeichnungen eine "ins Extrem geführte Objektivi¬ tät" zu erreichen. Auch äußert Derrida in dem Gespräch, aus welchem das obige Zitat entnommen ist, zu Recht erhebliche Zweifel an der Zielsetzung einer solchen Objektivität. Richtig ist jedoch, daß chinesische Bilder und die chinesische Schrift den Blick des Betrachters weniger zentrieren, als dies bei zentralperspektivischen Bildern des Abendlandes und dem abstrakten Alphabet der Fall ist.

33 Meyer, Eva, Architexturen, Basel, Frankfurt a.M., 1986, S.35

35

'

.

2. DIE VERÄNDERUNG DES SEHENS UND DAS ERSTARREN DER SCHRIFT 2.1. Die Veränderung des Sehens im ausgehenden Mittelalter "Schlage ich ein Buch zum Lesen auf, so sehe ich verworren die ganze Seite. Will ich nun die einzelnen Buchstaben, Silben und Worte unter¬ scheiden, so muß ich mich der Reihe nach zum einzelnen hinwenden, ich kann nur sukzessiv einen Buchstaben, Wort, Satz nach dem andern lesen. Du aber, o Herr! siehst und liesest zugleich das ganze Buch ohne Zeitmaß. Lesen zwei zugleich, der eine schneller, der andere langsamer, so siehst du zugleich mit beiden und scheinst zeitlich zu lesen, weil du mit den Lesenden liesest, siehst aber alles über aller Zeit und liesest daher zumal. Denn dein Sehen ist dein Lesen. Alle geschriebenen Bücher oder noch zu schreibenden Bücher hast du zugleich und einmal frei von allem Zeitverzug von Ewigkeit zugleich gesehen und gelesen und dabei liesest du sie mit allen Lesenden der Zeit nach. (...) Dein Auge, o Herr! reicht ohne Hemmung zu allem. Denn daß unser Auge durch die Objekte seine Richtung erhält rührt daher, weil unser Blick nur durch einen quantitativen Winkel sieht, dein Augenwinkel aber, o Gott! ist nicht ein quantitativer, sondern ein unendlicher, er ist ein Kreis, ja die unendliche Sphäre; dein Blick ist das Auge den unendlich Sphärischen und Vollkommenen." Nicolaus von Cues, De visione dei^ "Die Glaswand. Die Perspektive ist nichts anderes als wenn man eine Szene hinter einem flachen und gut durchsichtigen Glas sieht, auf dessen Fläche alle Gegenstände aufgezeichnet sind, die sich hinter diesem Glas befinden: sie lassen sich durch Pyramiden zum Punkt des Auges hinführen und die Pyramiden werden von der genannten Glas¬ fläche geschnitten." ^ "Die Perspektive benutzt in der Entfernung zwei entgegengesetzte Pyramiden. Eine derselben hat ihre Spitze im Auge (...) und ihre Basis fern am Horizont; die zweite hat ihre Basis gegen das Auge zu und die Spitze am Horizont. Aber die erste betrifft das Allgemeine, da sie alle Größen der dem Auge gegenüberliegenden Körper erfaßt. (..) Die zweite Pyramide aber betrifft eine besondere Stelle, und diese zweite Perspektive ergibt sich aus der ersten."1 2 3 beide vorangegangenen Zitate von Leonardo da Vinci 1 2 3

Cusanus, Nicolaus, Gespraeehe Abhandlungen, darin: De visione dei (1453), hrsg. v. Artur Buchenau, Berlin 1947, S.25 f. Leonardo da Vinci, Gemälde und Schriften, hrsg.v. Andr4 Chastel, Frankfurt a.M., München 1990, S.246 , n Leonardo da Vinci, zitiert nach: Gebser, Jean, Ursprung und Gegenwart, Schaffhausen 1986, S.54 f. 37

Nicolaus von Cues' Text "De visione dei" stammt aus dem Jahre 1453. Wider das Bilderverbot verstoßend (vgl. Genesis 20,4), benutzt Cues ein Selbst¬ bildnis Roger von der Weydens (Abb. 3) als Ausgangspunkt einer Unterwei¬ sung seiner Mitbrüder. Das Bild, von Cues als Sinnbild Gottes interpretiert, zeichnet sich dadurch aus, daß der Betrachter, egal, von welchem Stand¬ punkt aus, vermeint, der auf dem Bild dargestellte Mann schaue ihm direkt in die Augen. Behandelt die Schrift von Cues in erster Linie die Allmacht und Fürsorge des dreieinigen Gottes, so kann sie doch auch als ein Traktat über das Sehen gelesen werden. Die Allmacht Gottes findet ihr Symbol im Auge, das über allem und jedem ruht (ganz wie in der Barockmalerei das Auge im Dreieck). Gottes Sehen ist das absolute Sehen: "In ihm sind alle konkreten Arten des Sehens auf nicht konkrete Weise. Denn jede Konkretheit ist in dem Absoluten, weil das ab¬ solute Sehen das Konkrete allen Konkreten ist; denn das Konkrete ist nicht weiter konkret zu machen"^ Als absolutes Sehen ist Gottes Sehen schlechterdings alles: "Dein Sehen ist Lieben", “dein Sehen ist Sein", "dein Sehen ist dein Bewegen", "dein Sehen ist dein Wirken", "dein Sehen ist deine Wesenheit", "dein Reden ist dein Sehen", "wenn dein Sehen dein Erschaffen ist ..." Die Reihe der Attribute des göttlichen Sehens ließe sich fortsetzen. Nicht mehr der Mund ist das schöpferische Organ, sondern das Auge.6 Bezöge man Cues' Aussagen über die Kraft des göttlichen Sehens auf den Schöpfungsbericht, man müßte ihn sich so umdenken, daß Gott durch sein Sehen die Dinge schafft und dann sagt, "daß es gut" ist. "Dein Sehen gibt das Sein, weil es deine Wesenheit ist, weil ein Ding insoweit ist, als du es siehst, und es wäre nicht wirklich, wenn es nicht dich sähe."6 Nicolaus von Cues, Mystiker und Naturwissenschaftler, hat mit "De visione dei" einen Text verfaßt, in welchem sich mittelalterliche Vorstellungen vom Sehen mit den modernsten zeitgenössischen verbinden. Michel de Certeau weist in seinem Aufsatz "Nikolaus von Kues: Die Wahrheit eines Blickes" auf einige Parallelen zu Lacans Theorie des Blicks hin.7 Tatsächlich lassen sich in "De visione dei", weit über die von Certeau beschriebenen Überein¬ stimmungen hinaus, fast alle Grundzüge von Lacans Aufsätzen "Das Spiegel¬ stadium als Bildner der Ichfunktion" und "Vom Blick als Objekt klein a" aufspüren, wenn auch in einer theologischen Fassung. In Bezug auf den 'Spiegelaufsatz' soll dies ein längeres Zitat aus "De visione dei" veranschau¬ lichen: "Alles Seinkönnen bist du, mein Gott! Wenn du daher, mein Gott! 4 5 6 7 38

Cusanus 1947, a.a.O., S.10 Jean Gebser ordnet der von ihm als mythisch bezeichneten Bewußtseins¬ struktur den Mund und der mentalen Bewußtseinsstruktur das Auge zu; vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.lll und 215 Cusanus 1947, a.a.O., S.57 Certeau, Michel de, Nikolaus von Kues: Das Geheimnis eines Blickes, in: Bohn, Volker (Hrsg.) 1990, a.a.O., S.343 ff.

mir als die bildsame Materie vorkommst, weil du die Form eines jeden dich Anschauenden annimmst, so erhebst du mich zu der Einsicht, daß der dich Anschauende nicht dir eine Form gibt, sondern in dir schaut er sich an, weil er von dir empfängt, was er ist. Was du demnach von dem Anschauenden zu erhalten scheinst, ist dein Geschenk an ihn, als seiest du der lebendige Spiegel der Ewigkeit. Blickt jemand in diesen Spiegel, so sieht er seine Form in der Form aller Formen und glaubt nun, die Form die er in diesem Spiegel sieht, sei die Figur seiner Form, weil es in einem materiellen polierten Spiegel so der Fall ist. Und doch ist gerade das Gegenteil hiervon wahr; denn was er in je¬ nem Spiegel sieht ist nicht die Figur, sondern die Wahrheit, deren Figur der Sehende ist. (....) O unerklärliche Liebe! du gibst dich dem Anschauenden hin, als empfingest du von ihm das Sein und machst dich ihm gleichgestaltet, damit er dich umso mehr liebe, je ähnlicher du ihm erscheinst; denn wir können doch unmöglich uns selbst hassen. Wir lieben, was unser Sein angeht und begleitet, wir umfangen unser Gleichbild, weil es uns repräsentiert und wir in ihm uns lieben. (...) In dir, o Gott! koinzidiert das Erschaffenwerden mit dem Er¬ schaffen; denn die Ähnlichkeit, die als von mir erschaffen erscheint, ist die Wahrheit, die mich erschafft, damit ich verstehe, wie innig ich mit dir verbunden sein soll, da in dir das Geliebtwerden mit der Liebe koinzidiert Der sich in Gott Spiegelnde erhält durch die Wahrheit, die er in seinem 'Gleichbild' erkennt, erst das Sein. In dieser Konstruktion "koinzidiert das Erschaffenwerden mit dem Erschaffen", ebenso wie nach Lacans Aufsatz das Kind im eigenen Spiegelbild eine Gestalt sieht und durch sein Sehen er¬ schafft, welche im nachhinein erst das Kind als Subjekt konstituiert. Aller¬ dings ist sich Cues noch bewußt, daß das "Gleichbild, in dem wir uns lieben" "uns (nur) repräsentiert" und nicht mit uns identisch ist. Gott ist ihm das Identisch-Nichtidentische. Aus diesem Bewußtsein heraus kann er die Kraft des Begehrens oder, in der Sprache Lacans, des Imaginären erkennen und sie produktiv wenden. "Wie könnte die Begierde nach dem Nichtseienden begehren? Der Wille mag nach dem Seienden oder Nichtseienden begehren, das Be¬ gehren selbst kann nie ruhen, sondern geht ins Unendliche."9 Wird die Differenz nicht erkannt, wendet sich der Mensch ab vom ‘Gleich¬ bild', das ihn repräsentiert und durch die Repräsentation, durch eine Symbolisierung, in seinem Sein bestätigt, aber nicht identisch ist, dann verbleibt nur noch die Identitätssetzung mit der Figur "im materiellen polierten Spie¬ gel", und das Begehren wird destruktiv. Cues gebraucht dafür das Gleichnis vom verlorenen Sohn.10 Der aus freiem Willen den Vater verlassende Sohn 8 Cusanus 1947, a.a.O., S.45 ff., Hervorhebungen durch mich, S.M. 9 Cusanus 1947, a.a.O., S,49 10 Cusanus 1947, a.a.O., S.24 39

(er verläßt den Blick des vorsehenden Auges des Vaters) gerät in Unfrei¬ heit, in die Sklaverei "der schlechten sinnlichen Lüste". "Wenn jemand mittels des Gesichts aufmerksam einen Herankom¬ menden unterscheiden will und seine Aufmerksamkeit, indem er plötz¬ lich von anderen Gedanken ganz in Anspruch genommen ist aufhört, während das Auge immer noch auf den Herankommenden gerichtet ist, so wird das Auge nicht von der Seele, wohl aber von der unter¬ scheidenden Aufmerksamkeit der Seele getrennt. Würde mit jener Zerstreutheit nicht bloß die unterscheidende, sondern auch die sinnli¬ che Belebungskraft des Auges aufhören, so wäre das Auge tot, weil es nicht belebt würde. Das Auge wird belebt durch das Erblicken des anderen. In dem Maße, wie die unterscheidende Belebungskraft des Auges überbetont wird, wird die sinnliche Belebungskraft, nämlich die, welche durch das Begehren des ande¬ ren aktiviert wird, ins Unbewußte verdrängt. Während Cues an "De visione dei" arbeitete, begann in Mainz Gutenberg mit dem Druck der ersten mit beweglichen Lettern gedruckten Bibel. Der Druck mit beweglichen Lettern entspricht auf der Produktionsseite einer Rezeptions¬ weise, welche Cues in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat als das sukzessive Zusammensetzen von Zeichen beschreibt. Das Abtasten einer Sei¬ te mit dem Sehstrahl wiederum folgt dem Grundprinzip des perspektivischen Sehens. Verweist das Wort 'Person' auf die Maske, durch deren Mund der Schau¬ spieler in der Antike sprach (der Mund ist laut Gebser das der mythischen Struktur entsprechende Organ),^ so deutet das im Wörterbuch auf 'Person' folgende Wort 'Perspektiv' auf den Durchblick, durch den das Auge (das der mentalen Struktur entsprechende Organ) den Raum erschließt. Der Durch¬ blick ist historisch zunächst ein Fenster, an dessen Entwicklung man den Wandel des Sehens im ausgehenden Mittelalter gut verfolgen kann. Im Vergleich zur romanischen Kirchenarchitektur besitzen gotische Kirchen große Fenster, die die Wände für das 'göttliche Licht' öffnen (Diaphanie). Die Fenster sind allerdings noch aus farbigem Glas und sehr hoch ange¬ bracht. Das 'göttliche Licht' strömt von oben herein, der Blick nach draußen bleibt dagegen verwehrt. Erst vom Ende des 12. Jahrhunderts an werden in Privathäusern Fenster aus durchsichtigem Glas eingebaut. Diese Fenster lassen nicht nur Licht herein, sie ermöglichen auch den (Durch-) Blick in die Außenwelt. In diesem Moment beginnt sich das Sehen umzukehren. Ist es vorher in erster Linie ein Gesehenwerden von Gott (in Cues' Aufsatz ist dieses Element noch sehr stark), so wird jetzt auf Seiten des Menschen das Auge aktiviert und setzt eine zunehmende Individualisierung in Gang. Be¬ zeichnenderweise wird in England, wo Glasfenster in Privathäusern am frü¬ hesten eine größere Verbreitung finden, von Roger Bacon eine antike Theo11 40

Cusanus 1947, a.a.O, S.68 f.

rie des Sehens aufgegriffen, welche direkt zur späteren Verwissenschaftli¬ chung der Perspektive hinführt: "Seine Überlegungen veranschaulicht er anhand der im Prinzip von Euklid übernommenen Sehpyramide, mit der spätere Ansätze der geo¬ metrischen Optik vorweggenommen werden. Jeder Punkt der Augen¬ oberfläche bildet die Spitze einer solchen Pyramide, ebenso sendet der Gegenstand eine Fülle von Strahlen aus. Der Vorgang des Sehens besteht nun darin, eine Beziehung zwischen den einzelnen Punkten des Gegenstandes und des Auges herzustellen. Entscheidend an all diesen theoretischen Ansätzen ist die Vorstellung, daß über das Auge etwas Materielles in den Körper eindringt und daß dieser entsprechend auch etwas aussendet. Das Fenster ist zur damaligen Zeit noch untergliedert durch die Bleiver¬ glasung (Abb. 4). Es ähnelt in dieser Form dem Rahmen, welchen Dürer spä¬ ter zur Anfertigung perspektivischer Bilder einsetzt. Die vom Auge ausge¬ henden Sehpyramiden werden nicht nur durch das Fenster begrenzt und aus¬ gerichtet, sondern auch noch durch kleine, voneinander abgegrenzte Scheiben im Fenster parzelliert. Die doppelte Reduktion des Sehwinkels bewirkt eine extreme Segmentierung des Sehens und dadurch eine Präzisierung. Im Ge¬ gensatz zur Zeit vor dem Wandel des Sehens wirkt nicht mehr eine Ganzheit auf das Auge ein, sondern das Auge tastet mit dem Sehstrahl die Außenwelt durch das Fenster Segment für Segment ab und wird so an eine Sehweise gewöhnt, die Cues als vom (Einzel-) Objekt ausgerichtet beschreibt: "Denn daß unser Auge durch die Objekte seine Richtung erhält, rührt daher, weil unser Blick nur durch einen quantitativen Winkel sieht, (..)"13 Vom 14. Jahrhundert an wird das Fenster Motiv der Malerei. Durch das Fenster ist nicht mehr ausschließlich eine biblisch-symbolische Landschaft zu sehen. Der Blick fällt jetzt auf eine Naturlandschaft, deren blitzartige, erst¬ malige Wahrnehmung Petrarca im bekannten Brief von 1336 beglückt und gleichzeitig erschüttert schildert.14 Das aktivierte Auge ist notwendige Vor¬ aussetzung der Individualisierung, doch geht von ihm auch eine bedrohliche und ängstigende Wirkung aus. Es wird anfällig für den Blick, der das Be¬ gehren weckt. Dieser Gefährdung begegnet man mit der Zähmung des Blikkes durch eine Objektivierung des Sehens und die Eintragung der eigenen Person im Bild.15 Auf dem Bild "Das Verlöbnis der Arnolfini" von Jan van 12 Kleinspehn, Thomas, Der flüchtige Blick, Reinbek bei Hamburg 1989, S.42 Gebser konstatiert eine Korrespondenz zwischen zwei Zeiträumen: Er setzt die Zeit zwischen Pythagoras und Aristoteles (550-350 v.Chr.) in Relation zur Zeit zwischen Petrarca und Leonardo da Vinci (1300-1500). In beiden Zeiträumen habe sich die mentale Bewußtseinsstruktur gegenüber der my¬ thischen durchgesetzt, sei aber auch sehr schnell in eine Defizienzphase eingetreten. Defizient wird die mentale Strukur laut Gebser im Zuge der Ausbreitung der Perspektive; vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.145 ff. 13 Cusanus 1947, a.a.O., S.26 14 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.40 15 vgl. hierzu das erste Kapitel »Die Züchtigung des Blicks und die Entzaube¬ rung der Welt« in: Kleinspehn 1989, a.a.O., S.23 ff.

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Eyck (ein Maler, der das Fenstermotiv immer wieder in seinen Bildern ein¬ arbeitet) sehen wir an der Rückwand des abgebildeten Raumes einen Spie¬ gel. Dieser Spiegel, von den Armen der sich soeben Verlobenden einge¬ rahmt, befindet sich zusammen mit einem darüber geschriebenen Satz in einer Fläche, in der sich die Fluchtlinien des noch nicht ganz zentralper¬ spektivisch gemalten Bildes schneiden. Im Konvexspiegel erkennen wir ver¬ zerrt den ganzen Raum, die beiden Verlobten von hinten und zwei Zeugen der Verlobung: den Maler und eine weitere Person. Über dem Spiegel lesen wir den Satz: "Johannes de Eyck fuit hic 1434" (Jan van Eyck ist 1434 hier gewesen). "Das erste Mal in der Geschichte wurde der Künstler im wahr¬ sten Sinne des Wortes der Augenzeuge.Die Zeugenschaft ist eine dop¬ pelte: Nicht nur bezeugt van Eyck, wie Gombrich meint, das Verlöbnis. In¬ dem van Eyck seinen Namen und sein Spiegelbild in den Fluchtpunkt des Bildes einträgt, versichert er sich vor allem seiner eigenen Identität. “Es geht um die Ich-Suche, für die das Sich-Erkennen im Spiegel die zentrale Metapher bildet."17 Im konvexen Spiegel, der den ganzen Raum abbildet ( = sieht), ist zudem eine Omnipotenz angedeutet, die Cues einzig Gott bei¬ mißt. Der Maler schaut seinem Spiegelbild ins Auge, das ein allsehendes Auge ist: Im Imaginären kann sich das Subjekt zum autonomen übersteigern und dadurch vermeintlich die Affekte kontrollieren. "Du, o Herr! der du alles um deiner selbst willen wirkst, hast die ganze Welt um der geistigen Natur willen erschaffen, wie der Maler, der verschiedene Farben mischt, um zuletzt sich selbst zu malen und ein Bild von sich zu haben, an dem er Gefallen finde, in dem seine Kunst zur Ruhe komme und er selbst, da er nicht zu vervielfältigen ist, wenigstens in entsprechendem Abbilde vervielfältigt werde. Er macht viele Bilder, weil das Abbild seiner unendlichen Fähigkeit nur in der Vielfalt vollkommen sich ausprägen kann."1® In der Renaissance erreicht die Ikonomanie ihren ersten Höhepunkt: Wer es sich leisten kann, läßt sich malen, und die Maler verewigen sich in Selbst¬ porträts. Ein Selbstporträt ist als einziges Gemälde von Leon Battista Alberti erhalten, der im Jahre 1434 die Objektivierung des Sehens um einen ent¬ scheidenden Schritt vorantreibt: "In seinen 'Drei Bücher über die Malerei' (’Della Pittura') beschreibt er sehr eingehend den neuen Ansatz, wonach auf der 'Bildfläche die Formen der gesehenen Dinge so darzustellen [sind], als wäre jene [die Bildfläche] von durchsichtigem Glas, bei Festhaltung einer be¬ stimmten Entfernung, einer bestimmten Beleuchtung, einem (sic!) bestimmten Augenpunkte und richtiger ... Lagerung der Gegenstände.' Um nun das Bild auf eine Fläche zu bekommen, müsse die Pyramide an einem bestimmten Punkt quer durchschnitten werden: im Kern ist für Alberti die Malerei nichts anderes als dieser Querschnitt. 16 Gombrich, E.H., Die Geschichte der Kunst, Köln, Berlin 1959, S.189 17 Kleinspehn 1989, a.a.O., S.52 18 Cusanus 1947, a.a.O, S.75 42

Doch bei dieser neuen Perspektive sind nicht nur die Proportionen auf dem Bild selbst entscheidend, sondern die Vorstellung der Pyramide bedeutet auch die eindeutige Beschränkung der Bildfläche, die Alberti als 'ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe [begreift], wel¬ ches ich mir wie ein geöffnetes Fenster vorstelle, wodurch ich das erblicke, was hier gemalt werden soll': seitdem in der Kunstgeschich¬ te als Albertinisches Fenster bekannt."^ Das Albertinische Fenster wird in der Folgezeit perfektioniert. Insbeson¬ dere Leonardo da Vinci beschreibt über die Zentralperspektive hinaus auch die anderen Arten der Perspektive (z.B. die Kugelperspektive und die Anamorphose). Er untersucht die Funktionen des Auges und stellt dabei fest, daß eine Stelle des Auges am unterscheidungsfähigsten ist und diese die Hauptlinie aussendet, während die Ränder "beim Funktionieren des Auges dieselbe Rolle spielen wie die Hunde bei der Jagd, welche die Beute zwar aufspüren, aber nicht zu fassen kriegen; so können diese die Dinge nicht fassen, bewirken aber, daß sich die Hauptlinie zu den Dingen wendet, die diese Linien aufgespürt haben.Daneben untersucht Leonardo die Wirkun¬ gen von Licht und Schatten und beschreibt ein erstes Modell einer Camera obscura.21 Alle Kenntnisse Leonardos sollen ihm dabei helfen, das aus der Malerei zu verbannen, was an das eigene Selbst erinnern könnte. Leonardo möchte seiner Seele das Handwerk legen und verhindern, daß das Urteil der Seele "dem Maler den Arm führt und ihn ein Abbild seiner Selbst machen läßt, denn diese Seele glaubt, dies sei die einzig wahre Art, einen Menschen darzustellen, und wer es nicht so mache wie sie, der mache einen Fehler."22 Stattdessen gibt Leonardo seinen Malerkollegen folgenden Rat: "Schau, daß du die guten Teile vieler schöner Gesichter nimmst, und zwar solcher, die dem Ruf nach als schön gelten und nicht nach dei¬ nem Urteil; denn du könntest dich irren und Gesichter nehmen, die deinem eigenen ähnlich sehen: denn häufig scheint es, als gefielen uns solche Ähnlichkeiten."23 Sein Rat an die Maler gleicht der Zerstückelung des Gesichtes in der Krimi¬ nalistik, nicht aber um das Phantombild eines Täters, sondern das nach gängigem Geschmack idealtypische Gesicht zusammenzusetzen. Das Auge, dessen Ränder "manchmal auf die Jagd gehen", auch wenn man es selbst vielleicht gar nicht will, wird durch das Fenster kontrolliert und wird alsbald zu einem Organ der Normierung ausgebildet, das übersieht, was 19 Kleinspehn 1989, a.a.O., S.46 ff. 20 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.250; in Anlehnung an scholastische Seh¬ theorien faßt Leonardo das Auge als Lichtquelle auf, allerdings, so lassen seine Anmerkungen dazu vermuten, nicht mehr als reale Lichtquelle, son¬ dern in einem übertragenen, theoretischen Sinne; vgl. hierzu Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.247 21 vgl. Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.219 ff. und Kleinspehn 1989, a.a.O., S.48 ff.; interessanterweise wird das Auge als Camera obscura gezeichnet. 22 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.372 23 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.371

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nicht dem Ideal entspricht. Die Funktionalisierung und Objektivierung des Sehens bedeutet den Beginn der Vergesellschaftung des Imaginären. Als Gipfelpunkt der Entwicklung des Fensters in der Renaissance kann Dürers Gitterfenster angesehen werden. Auf dem Holzschnitt "Der Zeichner des liegenden Weibes"24 visiert der Zeichner über eine Zielvorrichtung, welche sein Auge arretiert, durch ein auf einem Tisch installiertes Gitterfenster die einzelnen Partien einer unbekleideten Frau an (Abb. 5). Der Holzschnitt ist in vielerlei Hinsicht aufschlußreich und verräterisch. Durch zwei große Fen¬ ster auf der Rückseite des Raumes sieht man auf eine angedeutete Land¬ schaft. Diese Fenster sind nicht durch Gitterstreben unterteilt. Die Frau liegt auf einem großen Tisch in Kissen gebettet wie auf einem Präsentier¬ teller. Das Gitter schützt sie nicht nur symbolisch vor handgreiflichen Annä¬ herungsversuchen des Zeichners, der sie vom Fußende aus betrachtet, son¬ dern auch vor dessen begehrlichen Blicken, denn diese sind durch die Ziel¬ vorrichtung und das Gitter eingeperrt worden. Das Sehen des Zeichners ist, sein Gesichtsausdruck verrät es, vermittels einer militärischen Technik (die Zielvorrichtung) verwissenschaftlicht, es ist ein objektiviertes, verdinglichen¬ des Sehen. Der Hauptstrahl des Auges wandert von Gittersegment zu Git¬ tersegment und die Hand zeichnet das Gesehene in den entsprechenden Abschnitt des auf dem Papier angebrachten Gitters. Man darf annehmen, daß der Hauptsehstrahl dabei nicht wie bei einer Bildbetrachtung nach einer vorgeprägten Rangfolge des Interesses vorgeht, sondern so wie beim Lesen der abstrakten alphabetischen Schrift: von links nach rechts und von oben nach unten. Es bedarf nicht allzu großer Phantasie, um in Dürers Technik eine Antizpation der Fernsehtechnik zu erkennen, wobei der Sehstrahl mit dem Rahmen die Aufnahmeröhre und die Zeichenhand zusammen mit dem Gitter die Bildröhre präfigurieren. "Der Herr hat den Geist der (..) Medien erweckt, denn er hegt den Plan, Babel zu vernichten. Ja, das ist die Rache des Herrn, die Rache für seinen Tempel." (Jer. 51,11; Einheitsübersetzung)2^

24 vgl. Kleinspehn 1989, a.a.O., S.61 25 Ausgelassen wurden von mir im Zitat die Worte "Könige von”.

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2.2. Zur Rationalisierung des Schriftbildes

"Ich richte mein Augenmerk auf einen wichtigen Augenblick in der Geschichte des Alphabets: den Moment, als - nach Jahrhunderten christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende. (...) Mit George Steiner wünsche ich mir, daß es neben unserem Bildungssystem (..) so etwas wie Lesehäuser geben möge. (...) Damit eine neue Askese des Lesens entstehen kann, müssen wir erkennen, daß das 'klassische' Lesen der letzten 450 Jahre nur eine von vielen Möglichkeiten ist, alphabetische Techniken zu verwenden. Aus diesem Grunde beschreibe und deute ich (...) einen technischen Durchbruch, der um 1150 stattfand, 350 Jahre, bevor man anfing, bewegliche Lettern zu benutzen. Dieser Durchbruch basierte auf der Kombination von mehr als einem Dutzend technischer Erfindungen und Einrichtungen, mittels derer die Buchseite von einer Partitur zum Textträger umgestaltet wurde." Ivan lllich. Im Weinberg des Textes2^ Das von Ivan lllich in den Mittelpunkt seiner letzten Arbeit "Im Weinberg des Textes" gestellte Buch "Didascalion” - von Hugo von St.Victor 1128 verfaßt - markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Lesens und der Gestaltung des Schriftbildes. "Die Umgestaltung der Manuskriptseite inner¬ halb jener 800 Jahre, die Gutenberg vorausgehen, veranschaulichen die Stu¬ fen, die zur Geburt des westlichen Denkens führten."2'7 Die drei wichtig¬ sten Stufen können wie folgt überschrieben werden: 1. Einheit aus Schrift und Bild, 2. Die Entwurzelung des Textes von der Seite, 3. Die Verdingli¬ chung des Textes durch den Druck. 2.2.1. Einheit aus Schrift und Bild In den frühesten Evangeliaren geht die Schrift in den sie umrankenden Ornamenten auf. Das Schrift-Bild zeigt sich als ein Gewebe aus bildlichen Anteilen und Buchstaben. Bezogen auf das Lindisfarne Evangeliar (697 n.Chr. geschrieben und gemalt) bezeichnet lllich die von der Initiale ausgehenden Ranken als Kettfäden, welche die Aufgabe hätten, "das Gewebe zu flechten, welches die Sätze stützt.''28 Buchstaben und Ornament sind vom Licht des Goldgrundes durchflutet, das das kosmische Licht symbolisiert. Im "Book of 26 lllich, Ivan, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne ent¬ stand, Frankfurt a.M. 1991, S.8,10 27 lllich, Ivan/Sanders, Barry, ABC Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988, S.42 28 lllich/Sanders 1988, a.a.O., S.40

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Keils" haben die 'Kettfäden1 die Funktion, den Leser aufzufordern, "die eine Geschichte vom Leben Christi aus vier Erzählungen zu weben. (...) So be¬ trachtet ist das Book of Keils eine Art 'homerisches Blatt', auf dem, zu einem frühen Zeitpunkt in England, mündliches Erzählen für einen Augen¬ blick sichtbar fixiert wurde in der Melodie von Knoten und Glied, die die Buchstabenfolgen durchzieht - so wie die Klänge der Leier den Vortrag des Subjekts durchziehen."29 Takt und Rhythmus der graphischen (nicht sprachlichen) Textur stehen für das Hereinragen der Stegreifdichtung der Rhapsoden (übersetzt: Näher und Flicker) in die Schrift.30 Das Schriftbild ist zu diesem Zeitpunkt im Gegen¬ satz zur Schrift noch nicht seiner Zunge beraubt. Bezogen auf die Anord¬ nung von Buchstaben wurde nämlich im 7. Jahrhundert eine Errungenschaft der Antike wieder eingeführt, welche ein lautes Lesen obsolet machte: der Wortzwischenraum. In spätrömischen Schriftstücken werden die Buchstaben ohne Unterbrechung zwischen den einzelnen Wörtern aneinandergereiht. Die so geschriebenen Texte konnten nur laut gelesen verstanden werden, wes¬ wegen es in den Skriptorien bis zur Wiederbenutzung des Worttrenners Vorleser gab, die den Schreibern diktierten, oder der Schreiber las sich selber vor und schrieb das Memorierte stückchenweise nieder. Auch die wichtigsten Interpunktionszeichen Punkt und Komma werden im 7. Jahrhun¬ dert wieder entdeckt.3* Beides (Wortabstand und Interpunktion) führt zu einem Verstummen der Skriptorien: Das stille, rein optische Lesen ist (wie¬ der) möglich, bleibt aber noch mehrere Jahrhunderte die Ausnahme. Zu den großen Neuerungen, welche die Lesbarkeit der Schrift verbessern, gehört die Einführung der karolingischen Minuskel. Mit ihren ausgepägten 29 Illich/Sanders 1988, a.a.O., S.41-, das "Book of Keils" wurde allerdings in Irland geschrieben. Milman Parry untersuchte in den zwanziger und dreißiger Jahren die Form¬ gesetze der homerischen Epen und fand heraus, daß diese auf den typi¬ schen Prinzipien oraler Improvistionskunst und Mnemotechnik beruhen (Versmaß, Wortwiederholungen). Er untermauerte seine Vermutungen durch ethnologische Feldforschungen an lebendigen epischen Traditionen in Ju¬ goslawien: Die Stegreifdichtungen der Guslaspieler wiesen die gleichen Strukturmerkmale auf wie die Homerischen Epen; vgl. hierzu Illich/Sanders 1988, a.a.O., S.24 ff. und Parry, M. (Hrsg.), The Making of Homeric Verse, Oxford 1971. Eric A. Havelock entwickelte Parrys Thesen weiter von der Beschreibung einer oralen Poetik zu einer oralen Noetik. Der Zwang auswendigzulernen fixiere das Bewußtsein auf eine vorreflexive Repetition. Erst die Erfindung der alphabetischen Schrift, die im Gegensatz zur Silbenschrift eine genaue Niederlegung der Rede erlaube, habe das Denken von den Fesseln der Oralität befreit. Beachtenswert an Havelocks Arbeiten ist die Darstellung der Abhängigkeit des Denkens von seinem Medium. Zu kritiklos wird aller¬ dings das Alphabet als der Gipfel der Entfesselung des Denkens gefeiert; vgl. Havelock, Eric A., Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kultu¬ relle Revolution, Weinheim 1990 (Die Einleitung von Aleida und Jan Ass¬ mann bietet eine sehr gute Einführung in die Gesamtthematik). 30 Illich/Sanders 1988, a.a.O., S.29 und Illich, a.a.O, S.44 31 vgl. Kapr, Albert, Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der la¬ teinischen Buchstaben, München, New York, Paris, London 1983, S.43

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Ober- und Unterlängen wird auf der Schriftebene die heutige Gestalt der Worte vorgeprägt. Die Rationalisierung der Schrift leitet die Auseinander¬ entwicklung von Schrift und Bild ein. Bis ins 12. Jahrhundert bleibt die Einheit gewahrt. Illustrationen übernehmen im Schrift-Bild eine Reihe von Funktionen. "Il¬ lustrationen sind wie feierliche Gewänder, die dem leibhaftigen Wort Gottes auf der Seite durch ihre Schönheit einen seiner Würde entsprechenden Rah¬ men geben.Sie haben eine didaktische Funktion, indem sie "dem leibli¬ chen Auge der Einfältigen zeigen, was ihren Verstand überstieg."33 Sie geben viertens der Schrift einen Klang und erzeugen das, was laut Illich von Dante als das "verführerische 'Lächeln der Seiten' (ridon le carte)" genannt wird. Und die Illustrationen dienen als Gedächtnisstütze bei der von Hugo als Reise verstandenen Lektüre. Ab dem 12. Jahrhundert stehen Schrift und wucherndes Ornament oft beziehungslos nebeneinander und es regen sich schnell Stimmen, die eine asketische Gestaltung des Schriftbildes befürwor¬ ten, was immer bedeutet, alle bildlichen Elemente wie Illustration, Ausma¬ lung der Initialen und Ornament der Schrift zu opfern. Exkurs: Mnemosyne, die Entstehung der Textur auf dem Webstuhl und der Weinberg des Textes "In ihrem klaren Wasser (dem von Mnemosynes Quelle, S.M.) treiben die Reste sterblicher Leben, die Erinnerungen, die Lethe von den Füßen der Gestorbenen wusch, tote Männer in bloße Schatten wan¬ delnd. Ein Sterblicher, der von den Göttern gesegnet ward, kann sich Mnemosyne nähern und den Musen lauschen, die mit ihren verschiede¬ nen Stimmen von dem singen, was ist, was war, was sein wird. Unter dem Schutz der Mnemosyne mag er die Reste sammeln, die in ihren Busen gesunken sind, indem er von ihren Wassern trinkt. Bei seiner Rückkehr von der Quelle - im Traum oder in geistiger Schau - kann er berichten, was er aus dieser Quelle gewonnen hat. Philon sagt, daß der Dichter, der sich an die Stelle eines Schattens versetzt, sich jener Taten erinnert, die ein toter Mann vergessen hat. Auf diese Weise steht die Welt der Lebenden in steter Verbindung mit der Welt der Toten.”33 "Weinberge, gelbe Gevierte an den Hängen." (IV,364) Im literarischen Text wirft das Wort einen Schatten. Aus dem Schatten der Texte "spricht das Schweigen ihrer Textur".36 Das Schweigen ist das von 32 33 34 35 36

Illich 1991, a.a.O., S.114 Illich 1991, a.a.O., ebenda Illich 1991, a.a.O., S.115 Illich/Sanders 1988, a.a.O., S.24 f Hart Nibbrig 1981, a.a.O., S.42; vgl. auch Wohlfart 1984, a.a.O., S.107 ff.

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der Rede Verschwiegene, Nicht-Sagbare, im Schatten der literarischen Rede wird das Schweigen gesprächig. Wer aus dem Licht des Wortes in dessen Schatten tritt, hört das Schweigen sprechen. Jedes Wort hat in Wörterbüchern und Lexika eine Umgebung. Im Schatten des Wortes ‘Philologie' zum Beispiel lesen wir 'Philomele' und 'Philon', den Namen des Philon, der dem Dichter rät, sich "an die Stelle eines Schattens zu versetzen". Betrachten wir 'Philomele1 oder 'Philomela' (vielleicht mit 'Liebe zum Lied' zu übersetzen), wie sie auch manchmal heißt. In Ovids "Metamorphosen" wird der Mythos, in den sie als Gestalt eingebettet ist, wie folgt beschrieben: Nach mehrjähriger Ehe bittet Progne ihren Mann Tereus, ihre Schwester Philomela mit dem Schiff zu einem Wiedersehen abzuholen. Tereus folgt diesem Wunsch, verliebt sich aber in Philomela. Kaum an Land, verge¬ waltigt er Philomela, reißt ihr, da sie droht, das Verbrechen alsbald zu verkünden, die Zunge heraus und sperrt sie in einen Stall. Progne sagt er, Philomela sei tot. Über die gefangene Philomela heißt es: "Stumm entbehrt ihr Mund des Künders. - Groß ist des Schmerzes Geist im Erfinden, es kommt in der Not manch glücklicher Einfall. Klug bespannt sie mit Fäden den fremden, barbarischen Webstuhl, webt in den weißen Stoff die purpur¬ nen Zeichen: der Untat Künder."37 Die Geburtsstunde des Textes! Progne liest im Gewebe das Verbrechen und befreit im Schutze des Bacchus-Festes ihre Schwester. Anschließend tötet sie in einem Zornausbruch den eigenen Sohn und richtet aus dem Leichnam ein Mahl an, das sie Tereus vorsetzt. Statt einer Texteinverleibung (siehe unten) findet eine Einverleibung im Realen statt (nach Lacan). Als Tereus merkt, was er zu sich nahm, und auf Progne und Philomela losstürzt, verwandeln sich die beiden in eine Rauch¬ schwalbe und eine Nachtigall (in älteren Texten Progne in die Nachtigall und Philomela in die Schwalbe). “Nachtigallen kann auf Dauer nur ertragen, wer schwerhörig ist." (M,84)33 Als Nachtigall hat Philomela ihre Stimme wieder¬ bekommen. Im Mythos erwächst aus der Stummheit, dem gewaltsam herbei37 Ovid (Publius Ovidius Naso), Metamorphosen, hrsg.v. Erich Rösch, Mün¬ chen, Zürich, 1988H, $.227 Liber VI, Vs. S74 ff. 38 Daß Günter Eich mit der oben zitierten Zeile nicht nur, wie bisher in der Sekundärliteratur vertreten, seine vermeintliche Ablehnung des Gesangs be¬ kundet, sondern auch auf den Mythos von Philomela und Progne anspielt, läßt sich durch einige Verweise zeigen. Zum einen hat Eich einen »Maul¬ wurf« Uber den Mythos von Marsyas verfaßt, der bei Ovid der Geschichte von Philomele und Progne direkt vorausgeht (vgl. Ovid, a.a.O., 217 und M,68 f.). Zum anderen finden sich in Eichs Werk eine Reihe von Anspie¬ lungen auf die »ars poetica« von Horaz, dessen Namen im Gedicht »Freund und Horazleser« fällt (1,220): vgl. z.B. die Zeilen »Einmal ausgesprochen ist für immer gesagt, zu meinem Leidwesen.« (M,130) und »..das Wort, das du von dir gabst, kennt keine Rückkehr« (Horaz, Ars poetica Dichtkunst, Stuttgart 1984, S.29). Darüber hinaus verwendet Eich im Hörspiel »Die Andere und ich« den Namen Filomena. Bei Horaz wird der Mythos von Philomele und Progne ebenfalls zitiert (vgl. Horaz, a.a.O., S.17). ln der Eichschen Verwendung von Horaz und Ovid ist ein erster Hinweis auf sei¬ ne »Espenlaub«-Zitiermanier gegeben. 48

geführten Schweigen, der Text, welcher das Verbrechen bekundet.Die den Text lesende Progne "schwieg. Der Schmerz verschloß ihr die Lippen, Worte, die solcher Empörung genügten, sucht sie vergeblich.”^0 Philomela webte den Text auf einem barbarischen Webstuhl. Dieser Webstuhl könnte, zumal in allen Phasen der Erzählung von Philomela und Progne Bacchus anwesend ist, auf einen Webstuhl hindeuten, der in einem anderen Mythos genannt wird, in welchem ebenfalls zwei Frauen in Tiere verwandelt werden, welche nachts "zarte, zirpende Töne" von sich geben; die Verwandlung ist allerdings eine Bestrafung durch Bacchus und aus den Frauen werden Fle¬ dermäuse (Minyas Töchter). "Und - zu glauben kaum - der Webstuhl beginnt zu ergrünen und das hängende Tuch als Efeu Blätter zu treiben. Manches wird Rebe, und das, was eben noch Faden gewesen, wandelt in Schosse sich um, und Weinlaub sproßt aus der Kette. Purpurgewebe (vgl. die purpurnen Zeichen im Gewebe Phüomelas) verleiht seine Glut den feurigen Trauben."^ "Im Weinberg des Textes" aber bezieht sich Illich wahrscheinlich in der Nachfolge von Hugo von St.Victor nicht auf diesen Weinberg, sondern auf den im Johannes-Evangelium beschriebenen. Dort (Joh. 15) bezeichnet sich Jesus als den Weinstock, den Vater als den Weingärtner und die Menschen als die Reben (vgl. auch im Wörterbuch die Abfolge Wein, weinen, Wein¬ traube, Weisheit). Im 'Book of Keils' durchranken die Ornamente die Evan¬ gelien und verknüpfen sie. Zum Beispiel könnte es sein, daß sie die Ver¬ knüpfung hersteilen zwischen der obigen Johannes-Passage und Matthäus 26, 27 ff. (aus dem Wein wird das "Blut des Bundes, das vergossen wird für vie¬ le zur Vergebung der Sünden"). Das Schrift-Bild verweist auf den Weinberg, der als Symbol für die durch den Text zusammengehaltene Glaubensgemein¬ schaft steht. Schrift und Bild (die graphischen Komponenten und die Farb¬ gestaltung) ergänzen sich zu einem weitläufigen Bezugssystem. Der Gold¬ grund ist das Licht des Johannes-Prologs, der dem Wort inhärente Logos. Die Schrift aber steht für den Schatten. “SCHWIMMHÄUTE zwischen den Worten, ihr Zeithof ein Tümpel,

39 Nach Gebser ist die mythische Bewußtseinsstruktur gekennzeichnet durch die Ambivalenz, welche sich in den Wortbedeutungen von griech. >mythos< (Rede, Wort, Bericht) und >myeinstumm< und >StimmeDie Eichenkatze< zu sagen! Alle würden aufschaun, wie wenn mitten im furzenden Plänklerfeuer eines Manöverangriffs ein scharfer Schuß fällt! In Hessen sagen sie dagegen Baumfuchs. Ein weitgewanderter Mensch weiß so etwas.' Und da taten die Psychiater wunder wie neugierig, wenn sie Moosbrugger das gemalte Bild eines Eichhönchens zeigten, und er darauf antwortete: 'Das ist halt ein Fuchs oder viel¬ leicht ist es ein Hase; es kann auch eine Katze sein oder so.' (...) wenn ein Eichkatzl keine Katze ist und kein Fuchs und statt eines Horns Zähne hat wie der Hase, den der Fuchs frißt, so braucht man 3

4

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vgl. Metzger 1936, a.a.O., S. IIX: »Der Mensch ist eigentlich nur der gedul¬ dige Schauplatz, auf dem sich all das (das Sehen, S.M.) abspielt.« vgl. auch unten die Erläuterungen zu Lacans Theorie der Aufspaltung von Blick und Auge. Brocher, Tobias, Zu Günter Eich: »Träume«, Sendemanuskript des NDR, Sen¬ dedatum: 4.Nov.l972, S.2

die Sache nicht so genau zu nehmen, aber sie ist in irgend einer Wei¬ se aus alledem zusammengenäht und läuft über die Bäume: Nach Moosbruggers Erfahrung und Überzeugung konnte man kein Ding für sich herausgreifen, weil eins am anderen hing."5 6 7 8 Musil beschreibt in "Der Mann ohne Eigenschaften" den Prostituierten¬ mörder Moosbrugger als einen Mann, der von den Skandierungen des Unbe¬ wußten heimgesucht wird und in solchen Momenten nicht mehr zwischen Worten und Dingen unterscheiden kann. Moosbrugger sagt zu einem Mäd¬ chen "Ihr lieber Rosenmund!", und schon evoziert dieses Wort eine Rose, die ihm gefährlich entgegensprießt und ihn in Versuchung bringt, sie mit einem Messer abzuschneiden. In ‘wachen’ Phasen verfängt sich Moosbrug¬ ger in endlosen Analogieschlüssen und verstrickt sich in einem Netz von Bezügen. Während es den "Klugköpfen" mühelos gelingt, mit Begriffen zu jonglieren und in einem Redefluß über Moosbrugger hinwegzusprechen, "klebten (ihm, S.M.) die Worte zu Trotz gerade in den Zeiten, wo er sie am dringlichsten brauchte, wie Gummi am Gaumen fest, und es verging dann manchmal eine unermeßliche Weile, ehe er eine Silbe losriß und wieder vorwärts kam."'7 Bei Moosbrugger vermögen weder die Träume die erlittenen Kindheits¬ traumata zu überwinden, noch funktioniert die von Freud als "Wächter unse¬ rer geistigen Gesundheit" gepriesene Zensur zwischen Vorbewußtem und Unbewußtem.8 Er ist den Ausbrüchen des Unbewußten hilflos ausgeliefert. Freud sieht in der Unterwerfung des Unbewußten durch das Vorbewußte im Rahmen einer Psychotherapie die einzige Möglichkeit einer Heilung des Patienten. Ich habe diese Gedanken an den Anfang meiner Lektüre der "Traumdeu¬ tung" gestellt, um daran zu erinnern, daß es das Leiden ist, von welchem die Psychoanalyse ihren Ausgang nahm und nimmt und nicht die Feststel¬ lung, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert ist. In allzuvielen Arbeiten taucht dieser Initialpunkt weder positiv noch negativ, das heißt im Schatten der Wörter auf, und der Tod wird oft nur noch abstrakt, quasi als erkenntnistheoretisches Hilfsmittel benannt. Eine solche Abstrahierung des Leidens würde die Zielsetzung der Texte Eichs von vornherein verfehlen. 4.1. Die vier Momente der Traumarbeit Träume vereinigen im wesentlichen die Gestaltungsprinzipien der Frag¬ mentierung und der kaleidoskopischen Mischung des Materials. Die im Wachleben vom bewußten Ich in eine Ordnung eingegliederten Elemente werden im Traum scheinbar wahllos aus dieser Ordnung herausgerissen, 5

Musil, Robert, Der Mann

6 7 8

S.237 240 Musil 1983, a.a.O., S.240 Musil 1983, a.a.O., S.238 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.540

ohne

Eigenschaften,

Reinbek

b.

Hamburg

1983,

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teilweise in Bruchstücke zerlegt, übertragen in eine andere 'Schrift' und zu immer neuen Konstellationen angeordnet. Die syntagmatischen Reihungen des Wachlebens gleichen dem Schrifttyp des abstrakten Alphabets, welches unfigürlich und dazu bestimmt ist, Rede mitzuteilen. Bezogen auf das Lesen kann man den Gebrauch der Elemente im Wachleben mit einer linearen, perspektivischen Lektüre vergleichen. An die Stelle des begrifflichen Denkens treten im Traum figürlichere Dar¬ stellungsweisen (vgl. hierzu Ikon und Ideogramm im ersten Kapitel). Freud vergleicht den Traum mit der chinesischen Schrift und mit Hieroglyphen. Beide Schriftsysteme zeichnen sich durch eine gegenüber dem Alphabet höhere Bildlichkeit, durch ihren Mischcharakter aus, die chinesische Schrift zudem noch durch ihre Tendenz zum Telegrammstil. Freud unterscheidet zwischen (manifestem) Trauminhalt und (latentem) Traumgedanken. Auch wenn es nahezuliegen scheint, Trauminhalt und Traumgedanken in die Sprache der Linguistik zu übertragen und dann den Trauminhalt als die Summe der im Traum erscheinenden Signifikanten und den Traumgedanken als die unter den Signifikanten verborgenen Signifikate zu verstehen, wäre eine solche Übertragung unrichtig oder nur sehr be¬ grenzt richtig, da Freud den Traumgedanken als Spur auffaßt, wie ein von ihm zitierter Auschnitt aus einem Aufsatz von Sully zeigt: Like some letter in cypher, the dreaminscription when scrutinized closely loses its first look of balderdash and takes on the aspect of a serious, intelligible message. Or, to vary the figure slightly, we may say that, like some palimpsest, the dream discloses beneath its worthless surfacecharacters traces of an old and precious communication." [Sperrung von Freud]^

Die von Freud als Traumarbeit bezeichneten Vorgänge bewirken, daß die Elemente der Deckschicht des Palimpsestes gegenüber denen der verdeckten Schicht entstellt sind, das heißt eine andere Ordnung haben. Erstes Moment der Traumarbeit: die Verdichtung

Der Traum ist wie ein Bildrebus, dessen Elemente nicht nach ihrem Bild¬ wert, sondern nach ihrer(n) Zeichenbeziehung(en) zu lesen sind.9 10 Im Exkurs über die chinesische Schrift wurde gezeigt, daß jedes chinesische Schriftzei¬ chen in einen Text übersetzt werden kann und daß die Übertragung eines chinesischen Textes wegen des brachylogischen Charakters der Schriftspra¬ che und der Bedeutungsvielfalt der Einzelzeichen einen um ein Vielfaches umfänglicheren Text ergibt. Ähnliches gilt auch für den Traum. In der Transformation vom begrifflichen Denken des Wachzustands zu konkreten Darstellungsweisen im Traum werden die Einzelelemente metaphorisch auf¬ geladen. Dies geschieht durch die Betonung einer gemeinsamen Eigenschaft, 9 Freud 1982, a.a.O., S.152, Fn. 1 10 Freud 1982, a.a.O., S.280

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indem verschiedene Bilder übereinanderprojiziert werden. Durch die Traum¬ arbeit werden zum Beispiel Sammelpersonen gebildet.11 Michael Kohlenbach zeigt in seiner Analyse des 'Maulwurfs' "Telefonisch" (M,89), daß sich hin¬ ter den Signifikanten "ein wilhelminischer Doppelmörder" eine Sammelperson "Wilhelm" verbirgt, deren Teilpersonen im Text nicht namentlich benannt, aber angedeutet werden: Die Sammelperson "Wilhelm" ist zusammengesetzt aus Friedrich Wilhelm I. von Preußen, William Shakespeare (beide angedeu¬ tet durch den Satz "Baumlange Kerls überall und wenn man hinsieht, ist es ein Wald."), Kaiser Wilhelm II. ("ein kalter Draht zum vierten Schuljahr” = 1917, Erster Weltkrieg), Wilhelm Schäfer ("Wunderschäfer" und "wilhelmini¬ sche Dramaturgie" sowie "Heisterbach" = Andeutung des Namens und ver¬ schiedener Titel aus dem Werk des deutschnationalen Schriftstellers), Wil¬ helm Meister ("Bühnendolche") und dem Flugzeugkonstrukteur Willy Messer¬ schmitt ("Messerschnitt" und der durch den Text gestützte Assoziationsrah¬ men des Dritten Reiches, für welches Messerschmitt Kampfflugzeuge konstruierte). ^ Wie Alexander Kluge in seinem Film "Die Patriotin" 'träumt' Eich in "Telefonisch" die deutsche Geschichte. Im Traum werden aber nicht nur Personen gleichsam übereinandergeblendet, sondern auch Worte, um diese mit Konnotationen aufzuladen. Hierbei ent¬ stehen Wortschöpfungen, die innerhalb des Traumgedankens wichtige Wörter zu einer Wortgestalt zusammenschmelzen. Im "Maulwurf" "Ohne Symmetrie" (M,51) lesen wir "Erbsenkinder", in dieser Wortgestalt kann man bei flüchti¬ ger Lektüre aber auch die "Erbsünder" entdecken, zumal dann, wenn das Se¬ hen durch eine vorhergegangene Lektüre von "Hilpert" (1,310 ff.) für solch ein 'Versehen' vorgeprägt ist. Weitere Beispiele dieser Art finden sich überall in den "Maulwürfen", auch in "Telefonisch", wo in dem Satz "Ober dem Dache sas die Kaze und schaute zu”, wie Kohlenbach zeigt, Anspielun¬ gen auf Dachau, SA und SS und Konzentrationslager (das in 'Kaze' ausge¬ lassene ’t' ist am Wortende zu ergänzen) verborgen sind.13 Zweites Moment der Traumarbeit: die Verschiebung

"Wir konnten bemerken, daß die Elemente, welche im Trauminhalt sich als die wesentlichen Bestandteile hervordrängen, in den Traum¬ gedanken keineswegs die gleiche Rolle spielen. Als Korrelat dazu kann man auch die Umkehrung dieses Satzes aussprechen. Was in den Traumgedanken offenbar der wesentliche Inhalt ist, braucht im Traum gar nicht vertreten zu sein. Der Traum ist gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet, als die Traumgedanken."1'1' 11 12

vgl. Freud 1982, a.a.O., S.192 ff. vgl. Kohlenbach, Michael, Günter Eichs späte Prosa. Einige Merkmale der Maulwürfe, Bonn 1982, S.14 ff. 13 vgl. Kohlenbach 1982, a.a.O., S.38 14 Freud 1982, a.a.O., S.305

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Die Verschiebung der Intensitäten hat den Zweck, den Traumgedanken zu entstellen. Wie die Verschiebung funktioniert, läßt sich anhand des "Maul¬ wurfs" "Ohne Symmetrie" veranschaulichen. Der zweite Absatz beginnt mit den Sätzen: "Jede Nacht ist die tausendundzweite, die zehn Gebote sollten neu formuliert werden, sogar das Alphabet. A ist ein Buchstabe, der nur in Erkältungen vorkommt. Scheherezade fällt nichts mehr ein, sie plant schöne Träume und einer gelingt: Ein Traum von neuerer französischer Geschichte." (M,51) Deutlich ist die Erwähnung der Märchensammlung "Tausendundeine Nacht". Die Rahmengeschichte "erzählt, wie die schöne und kluge (vgl. das Wort "weitläufig" im zweiten Satz des "Maulwurfs", S.M.) Wesirstochter Shehrezad (der persische Name bedeutet 'edel von Art') dem über die Treulosigkeit der Frauen erbitterten König Schehrijar ('Träger der Herrschaft'), der aus Rache drei Jahre lang jede Nacht ein anderes Mädchen zur Frau nimmt, um es am nächsten Morgen köpfen zu lassen, durch Geschichtenerzählen tau¬ sendundeine Nacht so in Spannung hält, daß er die Exekution von Tag zu Tag aufschiebt und Schehrezad, die ihm mittlerweile drei Knaben geboren hat (vgl. den Satz "Hier steigen Erbsenkinder aus den Schößen, dort werden Elegien erzählt" im letzten Absatz des "Maulwurfs”, S.M.) heiratet."16 Durch die andere Zentrierung, das heißt die Verschiebung der Elemente, ist im "Maulwurf das wesentliche Trauma des ursprünglichen Textes gelöscht: die drohende Exekution, welcher Scheherezade in jeder der tausendundeinen Nächte entgegensah. Gemäß dem Freudschen Diktum, daß jeder Traum eine Wunscherfüllung ist, wird der Traumgedanken (die drohende Exekution) so entstellt, daß Scheherezade gerettet ist. "Jede Nacht ist (im Trauminhalt) die tausendundzweite" (die Nacht der Erlösung), da "sollten die zehn Gebote neu formuliert werden" (weil darin das Gebot enthalten ist: "Du sollst nicht töten"), da ist "A ein Buchstabe, der nur in Erkältungen vorkommt", ein Satz, der der Wunscherfüllung dienlich ist, wenn man einen anderen Kontext der "Erkältung" hinzuzieht: “Wegen Erkältung des Delinquenten wird die Hinrichtung verschoben (...)." (M,88) Andererseits enthält auch der entstell¬ te Text Spuren der Drohung: Der "Traum von neuerer französischer Ge¬ schichte" weist darauf hin, daß zur Zeit der Niederschrift der "Maulwürfe" die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich noch ein Traum war. Darüber hinaus sind in "Ohne Symmetrie" einige Spuren gelegt, die via "Dantons Tod" von Büchner in einen Abschnitt der französischen Geschichte deuten, in welchem die Guillotine nicht Stillstand.16 Auch Woyzeck, von dessen Erbsen-Fütterung Eich in seiner Büchner-Preis-Rede spricht ("..seit der Doktor den Woyzeck mit Erbsen fütterte.." IV,615) wurde mit dem Schwert hinge15 Kindlers Literatur Lexikon, München 1974, Bd. 24, S.10 440 16 vgl. Martin, Sigurd, »Wand an Wand mit Sprachtheorien« - Untersuchung zur Sprache in ausgewählten Texten Günter Eichs (unveröffentlichte Magi¬ sterarbeit), Universität Frankfurt a.M. 1989, S.39 ff.

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richtet. Mit Woyzecks Schicksal identifiziert sich vielleicht das Textsubjekt des "Maulwurfs" "Zwischenakt" (M,10): ”(...) Heute werde ich hingerichtet. (..) Der Henkersmahlzeit bin ich gewachsen. Ich hatte mir Erbsen ge¬ wünscht, aber weniger hart. So gleichgültig, wie sie mit mir umge¬ hen, ist es mir nicht. Aber reden wir nicht mehr davon." Vorausgesetzt, die "Erbsenkinder" aus "Ohne Symmetrie" sind die Kinder Scheherezades, dann wurden sie gezeugt in der Todesbedrohung und tragen diesen Makel symbolisiert durch das Wort "Erbsen-" an sich. Drittes Moment der Traumarbeit: Die Rücksicht auf Darstellbarkeit

Durch die Traumarbeit werden Begriffe in eine bildlich darstellbare Form gebracht. Es stehen dafür verschiedene Methoden zur Verfügung. Zum Beispiel kann im Traum die konkrete "Wortfassung" (ein Begriff Freuds) eines metaphorischen Begriffs diesen substituieren. Freud erwähnt einen auf einem Turm stehenden Mann als Substitut einer 'hochstehenden Persönlich¬ keit', die die anderen 'turmhoch' überragt.1^ Verdichtung und Verschiebung sorgen dafür, daß mit Bewegung vom Ab¬ strakten zum Konkreten eine Zunahme der Bedeutungsvielfalt der einzelnen Elemente einhergeht. "Es ist im allgemeinen bei der Deutung eines jeden Traumelements zweifelhaft, ob es: a. im positiven oder negativen Sinn genommen werden soll (Gegen¬ satzrelation) ; b. historisch zu deuten ist (als Reminiszenz); c. symbolisch, oder ob d. seine Verwertung vom Wortlaute ausgehen soll."*® In der zuerst genannten Unsicherheit wird jenes Stadium der Sprachen sicht¬ bar, in welchem die Worte noch nicht in polare Bedeutungen geschieden waren, sondern gleichzeitig Sinn und Gegensinn aufriefen.19 Die Unentschie¬ denheit des Gedankenausdrucks im Traum ist ein weiteres Beispiel für die archaisierende Tendenz der Traumarbeit. Die symbolische Verwendung von Traumelementen nimmt in Träumen den breitesten Raum ein. Die Symbole "sind oft viel- und mehrdeutig, so daß, wie in der chinesischen Schrift, erst der Zusammenhang die jedesmal richti¬ ge Auffassung ermöglicht."20 Freud zählt vor allem die Symbolisierungen der Geschlechtsmerkmale und des Geschlechtsverkehrs auf, verwahrt sich aber an anderer Stelle gegen eine ausschließlich sexuelle Deutung der Traum¬ symbole.21 Wichtiger als die auch bei Freud oft zu eindeutig sexuell festge17 18 19 20 21

vgl. Freud 1982, a.a.O., S.338 f. Freud 1982, a.a.O., S.337 vgl. S.49, Fn. 39 Freud 1982, a.a.O., S.348 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.382

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legte Dechiffrierung der Symbolik des Traumes scheint der Hinweis, daß "diese Symbolik nicht dem Traum zu eigen an(-gehört, S.M.), sondern dem unbewußten Vorstellen, speziell des Volkes und im (sic!) Folklore, in den Mythen, Sagen, Redensarten, in der Spruchweisheit und (..) in den umlau¬ fenden Witzen eines Volkes vollständiger als im Traume aufzufinden (ist, S.M.)."^ Vermutlich pflügen die zu Sprichworten und Redewendungen kri¬ stallisierten Wortgefüge tiefe Furchen ins Unbewußte, so daß die Asso¬ ziationen des Träumenden zwangsläufig in diese Furchen hineinschlittern, so¬ bald sie in deren Umgebung geraten. Dies scheint umso wahrscheinlicher, als in der Großhirnrinde, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, die Wortgestalten und deren Kontexte in dreidimensionalen 'Bildern' abge¬ speichert werden. Sprichwörter und Redewendungen haben wegen der Spu¬ ren, die sie im Gedächtnis/Unbewußten hinterlassen, wie häufig gelesene oder gehörte Zitate die Kraft, auch dann dem Leser aus einer Umgebung heraus ins Auge zu stechen, wenn sie nur sehr bruchstückhaft oder entstellt in einem Text erscheinen. Die im zweiten Teil der Arbeit befindliche Liste der Verwendungen von Sprichwörtern und Redewendungen vermittelt einen Eindruck von dieser spurenden Kraft, wobei zu prüfen sein wird, inwieweit die "Maulwürfe" dieses Spuren nicht subversiv unterwandern und dadurch die Assoziationsbewegung des Lesers entgleisen lassen. Sprichwörter, Redewendungen, Metaphern, Lieder, Mythen usw. wirken wie vorgeprägte Muster und werden zur Darstellung von Traumgedanken ebenso verwendet, wie sie den Blick des Lesers bei der Lektüre vorprägen und auf bestimmte Wort- und Kontextgestalten springen lassen. Daß 'Spuren' auch etwas mit 'Gehorchen' zu tun hat, weiß niemand besser als die Werbetex¬ ter und die Politiker. 'Gute' Werbetexte funktionieren dann auch so, daß sie ein Muster in das Unbewußte/Gedächtnis eingraben, welches wie ein ge¬ steuertes Programm einschnappt und abgespult wird, sobald man den Pro¬ duktnamen hört oder liest. Sie sind noch besser, wenn sie die Assoziations¬ kette von einem mit dem Produktnamen in der Kontextgestalt verknüpften Wort zum Produktnamen hinlenkend 22 Freud 1982, a.a.O., S.346 23 vgl. in diesem Zusammenhang Hartwig, Heinz, Werbetextgestaltung. Verba¬ le Kommunikation heute, München 1978, S.9 ff.; Hartwig stellt dort sein »Kommunikations-Modell« vor, welches hier wegen seiner ungeschützten Absicht Umrissen werden soll: Die Kommunikation sei ein Dreiphasenvorgang: »zuerst eine (oder mehrere) Gemeinsamkeiten su¬ chen - dann eine Verbindung herstellen - und schließlich eine Partner¬ schaft erwirken.« Als Beispiel von Kommunikation führt Hartwig den Um¬ gang des Menschen mit dem domestizierten Tier an: »Spielfreude oder Jagdleidenschaft sind die gemeinsamen Interessen - Unterordnung durch Befehl und Verbot, Lob und Strafe das Verbindungsmittel und Aufstöberund Zubringerdienste als partnerschaftliches Verhalten des Hundes z.B. die Kommunikationsvollendung. Sie ist hier wie immer eben weit mehr als nur simple Verständigung. Fast Freundschaft.« (beide Zitate S.9) In Industrie¬ gesellschaften sei das überredende Wort für die dritte Phase - Bilden einer Partnerbeziehung - notwendig (vgl. S.10). Ein Kommentar erübrigt sich.

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Die Darstellung des Traumgedankens über sogenannte "Wortbrücken"^4 funktioniert nach dem System der Vertauschung homophoner Wörter. Freud beschreibt den Traum einer (englischsprachigen) Frau, in welchem ’violets' eine Rolle spielen. "Den geheimen Sinn der scheinbar recht asexuellen 'violets' suchte ich mir - recht kühn, wie ich meinte - mit einer unbewußten Beziehung zum französischen 'viol' zu erklären. Zu meiner Überraschung assozi¬ ierte die Träumerin 'violate', das englische Wort für vergewaltigen. Die zufällige große Ähnlichkeit von violet und violate - (...) - wird vom Traume benutzt, 'um durch die Blume' den Gedanken an die Gewalttätigkeit der Defloration (auch dieses Wort benutzt die Blu¬ mensymbolik), vielleicht auch einen masochistischen Zug des Mädchens zum Ausdruck zu bringen.”^ Beim Verlesen der Wörter (verlesen hier auch verstanden als ein Klauben im Text) tun sich ähnliche Brücken auf wie im Traum. Die Brücken führen den Leser zu Worten, die mit einer ähnlichen Gestalt versehen sind, sei es phonetisch oder graphematisch. Die Absichtslosigkeit des Versehens wird in den "Maulwürfen" zum Programm. "Raum für individuelle Augenfehler" heißt es in “Farbenblind" (M, 117), "Entscheidungen fallen selten; zum Beispiel wenn man eine stärkere Brille braucht, willkommen, ihr Dioptrien!" in "Be¬ grüßung" (M,54), in einem dritten "Maulwurf ("Konsultation", M,136): "Meine Krankheit ist eine Sehtrübung, Konjunktivitis. Mein Arzt verordnete mir ei¬ nen Indikativ." Das versehende Lesen überbrückt zuweilen die Sprachgrenzen, um die Ein¬ färbung der Brille, welche uns die Muttersprache aufsetzt, kontrastiv auszu¬ gleichen. So scheint die deutsche Sprache (auch in der geschriebenen Sprachform) für die Farbe violett blind zu sein, denn es finden sich nicht wie im Französischen, Englischen oder vielen anderen Sprachen Brücken zu Wörtern, die mit irgendeiner Form der Gewalt konnotiert sind (fr.: violet, violence, violer, viol; engl.: viol, violet, violence, violate). Einzig die Brücke zu Musikinstrumenten (Violine, Viola) scheint allen Sprachen gemeinsam. Günter Eich, der sich in seinen Reden mit der Unzulänglichkeit der Sinne auseinandersetzt (vgl. IV,609, 613), gleicht die Farbenblindheit der deutschen Sprache im "Maulwurf "Farbenblind" (M,117) aus. Er stellt dem "violett" die im Farbkreis gegenüberliegende Farbe "grün" zur Seite, will sagen, er konzi¬ piert den Kontext so, daß der Leserblick die im Deutschen fehlende Wort¬ brücke assoziiert:

24 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.367 ff. 25 Freud 1982, a.a.O., S.368

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"Farbenblind Die Welt, früher flaschengrün, ist heute violett. Ich weiß die Bedeutung der Farben nicht und auf die Wirkung muß ich noch lange warten. Der Erkenntniswert ist gleich plus minus null. Eine Aschenwolke, - wie war die Farbe gleich - adieu ihr Lieben, möge euch der Wind leicht sein. Efeugrün, Asternviolett, aber die Deutung ist unerheblich, Raum für individuelle Augenfehler, die Auto¬ matismen der Wirklichkeit sind in ein paar Farben nicht zu über¬ setzen, der Regenbogen hat auch zu wenig. Aschenwolken stehlen uns die Zeit, das Interesse für Gestorbene läßt sich verschieben. Eine Tombola muß her. Wir hätten Skelette zu verlosen. Tombola und Skelettierungen können zu jeder Farbe stattfinden. Ist das Glück zu teuer? Ein Währungsproblem und jeder schwört auf seine monetäre Einheit. Farben ohne IG sind schlecht im Kurs man sollte nichts darauf geben. Aber gerade waren wir dabei, das Einverständnis zu kündigen, da kommt dieses Violett in alles und in die Dauer, die Zumutung des Lebens wird nicht mehr bemerkt, die Zumutung des Sterbens erbittert nur wenige. Ihr Freunde in den Aschenwolken, wir wollen uns neu entwerfen." (Hervorhebungen durch mich, S.M.) Eine ausführliche Interpretation des "Maulwurfs" und Entschlüsselung der meisten Anspielungen findet sich bei Kohlenbach, so zum Beispiel der Hinweis, daß auch das Wort Tombola in eine andere Sprache deutet (frz.: tombeaux lä = Gräber dort; tomber auch ‘(als Soldat) fallen'), wodurch es sich in den Sinnbezug des “Maulwurfs" einfügt.28 Kohlen¬ bach entging, daß der IG-Farben-Konzern in den Jahren ab 1941 direkt neben dem Konzentrationslager Auschwitz von Häftlingen das Bunawerk IV bauen ließ. In der Folgezeit arbeiteten dort Häftlinge aus Ausschwitz bis zu ihrem physischen Ruin und wurden sofort bei Eintreten der Ar¬ beitsunfähigkeit in die Gaskammern geschickt.2'7 Der Satz "Eine Aschen¬ wolke - wie war die Farbe gleich - adieu ihr Lieben, möge euch der Wind leicht sein“ kann in Verbindung mit der Wortbrücke 'Tombola' - 'tom¬ beaux lä' als kaum verhülltes Zitat der "Todesfuge" von Paul Celan gelesen werden: "Er ruft spielt süßer

den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng"28 26 vgl. Kohlenbach 1982, a.a.O., S.152 ff. 27 vgl. z.B. Kühnl, Richard, Der deutsche Faschismus in Quellen und Doku¬ menten, Köln 19794, S.369 ff. 28 Celan, Paul, Die Todesfuge, in: ders., Gesammelte Werke Bd.3, Frankfurt a.M. 1983, S.61 ff.

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Exkurs: "... in dem ein wechselnder und trüber Text sich wölkte, der von Farben schwanger war - Walter Benjamins Beitrag zum Phäno¬ men der Wortbrücken Wird ein Text mit den Augen fixiert, fangen die Buchstaben alsbald an zu tanzen oder sich gar zu verflüchtigen. Die Worte auf der Seite verschwim¬ men wie Gegenstände in einem Schneegestöber, Phantomen gleich drehen sie ihre Pirouetten auf dem weißen Untergrund, in welchem die Wortgestal¬ ten nicht mehr wurzeln und welcher sie durchdringt. Aus der Bewegung der Phantome ersteht die Pantomime, wortloses Spiel der Worte, eine stumme gestische Artikulation, das Wortgesicht (vgl. das Wittgenstein-Zitat, S.76) ist weiß überschminkt, die Ähnlichkeit mit sich selbst schwindet und dem durch die Schminke seiner Identität beraubten Antlitz erwächst die Möglich¬ keit der mimischen Anverwandlung anderer Wortgesichter. Wie im weißen Licht das gesamte Farbenspektrum enthalten ist (vermutlich einer der Grün¬ de, warum die klassische chinesische Tuschschmalerei ohne Farben aus¬ kommt), so enthält jede Wortgestalt potentiell alle Worte. "Das Buch lag auf dem viel zu hohen Tisch. Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu. So lautlos hatte ich doch schon einmal erzählen hören. Den Vater freilich nicht. Manchmal jedoch im Winter, wenn ich in der warmen Stube am Fenster stand, erzählte das Schneegestöber draußen mir so lautlos. Was es erzählte, hatte ich zwar nie genau erfassen können, denn zu dicht und unablässig drängte zwischen dem Altbe¬ kannten Neues sich heran. Kaum hatte ich mich einer Flockenschar inniger angeschlossen, erkannte ich, daß ich mich einer anderen hatte überlassen müssen, die plötzlich in sie eingedrungen war. Nun aber war der Augenblick gekommen, im Gestöber der Lettern den Ge¬ schichten nachzugehen, die sich am Fenster mir entzogen hatten. Die fernen Länder, welche mir in ihnen begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern."^ Werner Hamacher hat die Texte aus Walter Benjamins "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" ausführlich untersucht und darin das Wort "Wolke" als Zentrum eines allegorischen Sprachbewußtseins beschrieben, das die Eindeu29 Benjamin, Walter, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Gesammelte Schriften IV.l, Frankfurt a.M. 1980, S.275 30 Benjamin 1980, GS IV.l, a.a.O., ebenda, Hervorhebungen durch mich, S.M.; ganz ähnlich liest das Textsubjekt in einem der »Denkbilder« (»Nordische See«, IV.l, S.386) in dem »Schwingengeflecht«, das die »linken Vögel« von zwei Möwenvölkem vor seinen Augen am Himmel weben; im Gegensatz zum Text aus der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« kann allerings die im »Denkbild« festgehaltene Allegorie als eine Entscheidung zur Politi¬ sierung des Schreibens im Angesicht des aufziehenden Faschismus gedeutet werden; vgl. hierzu Lindner, Burkhardt, »Links hatte alles sich zu enträt¬ seln...«, in: ders. (Hrsg.), Walter Benjamin im Kontext, Königstein/Ts. 19852, S.7 ff.

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tigkeit der Wörter zertrümmert und sie für einen dynamischen Prozeß öff¬ net, in welchem sie sich gegenseitig zu durchdringen beginnen (s.o. die andere Flockenschar, die plötzlich in die zuerst beobachtete eindringt).31 "The gap in the archive of likeness - and this gap is language itself the word is the open place in which the 'word1 can enter, dissembled."3^ In den Aufsätzen "Lehre vom Ähnlichen" und "Das mimetische Vermögen" charakterisiert Benjamin die Sprache als das vollkommene Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, welches das gesamte, in der Geschichte der Menschheit ge¬ bildete mimetische Vermögen enthält.33 Das Mimetische der Sprache blitzt auf, wenn die oben von Hamacher beschriebene Kluft in den Worten auf¬ reißt. Das Kind in "Schmöker" reduziert seine Wahrnehmung auf den Gesichtsinn ("Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu"), es verstopft sich die Ohren nach außen und innen und beobachtet das lautlose "Gestöber der Lettern". Im Traum sieht es einmal Bücher in einem Schrank liegen: "Die Bücher standen nicht, sie lagen; und zwar in seiner Wetterecke (der des Schrankes, S.M.). In ihnen ging es gewittrig zu. Eins aufge¬ schlagen, hätte mich mitten in den Schoß geführt, in derti ein wech¬ selnder und trüber Text sich wölkte, der von Farben schwanger war. Es waren brodelnde und flüchtige, immer aber gerieten sie zu einem Violett, das aus dem Innern eines Schlachttiers zu stammen schien. Unnennbar und bedeutungsschwer waren die Titel, deren jeder mir sonderbarer und vertrauter vorkam als der vorige. Doch ehe ich des ersten besten mich versichern konnte, war ich erwacht."3^ Im 'Violett' macht ein weiteres Mal die bereits bekannte Wortbrücke auf sich aufmerksam. In der von Wolken-Brüchen heimgesuchten Ecke des Schranks (Wortbrücke: Schranz = Riß) liegen die Bücher. Aufgeschlagen würde sich ihr "Schoß" entblößt (frz. nu) dem Auge des Kindes darbieten. Der Schoß (im Wörterbuch kurz nach 'Schopf' und 'Schöpfung') birgt einen sich wölkenden Text. Die (Buchstaben-) Wolke löst sich auf in eine reiche Anzahl von Wortbrücken. Im Deutschen führt ein Steg zu 'Wolle', ein ande¬ rer zu 'Wort'.35 Im Englischen gelangen wir von 'cloud' auf mehreren Brükken zu 'cloth' (Stoff, Kleidung), zu 'clough' (Schlucht), 'cloak' (Deckmantel) und 'clown', im Französischen von 'nue' (Wolke, Regenwolke) zu 'nu' (nackt, bloß) oder von 'nuage' zu 'neige' (Schnee), im Spanischen von ’nube' (Wolke) zu 'nudo' (Knoten). Das 'Schneetreiben' der Buchstaben erzeugt einen Text, in welchem die Wolle durch Knoten zu einem Stoff gewoben und daraus Kleidung geschneidert wird, die aber fadenscheinig, das heißt transparent für 31 vgl. Hamacher, Werner, The Word Wolke - if it is one, in: Studies in 20th Century literature, 11 1986/87, Vol.II, S.133-162 32 Hamacher 1986/87, a.a.O., S.153 33 vgl. Benjamin, Walter, GS II.1, Frankfurt a.M. 1980, S.204 ff., insb. S.213 34 Benjamin 1980, GS IV.l, a.a.O., S.275 35 Die Wortbrücken werden teilweise beschrieben von Hamacher 1986/87, a.a.O.

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die Blöße des paradiesischen Zustandes bleibt. Während der Überschreitung der Wortbriicke von 'nude' zu ’nudo' und im Übergang von der immateriel¬ len, vergänglichen Wolke zur versponnenen Wolle klafft der Riß durch die Wörterwelt®® In "Schmöker" ist dem Kind die Rückkehr zum Paradies, zur adamitischen Ursprache (= der von Farben schwangere lUr-lText) verstellt, die "brodelnde(n) und flüchtige(n) Farben gerieten immer zu einem Violett, das aus dem Innern eines Schlachttiers zu stammen schien"®'7 oder, um es mit Eich zu sagen: "Die Welt, (...), ist heute violett." Eine weiterführende Untersuchung des Wortbrücken-Phänomens hätte noch Wittgensteins Sprachspiele zum "Aspekt" zu berücksichtigen.®® Der Aspekt ist die bestimmte Wahrnehmung eines Dinges, eines Worts, einer Figur. Es gibt vorherrschende Aspekte, das sind diejenigen an einer Figur, die man stetig sieht.®9 Die Figur kann aber Umschlagen und plötzlich wird ein ande¬ rer Aspekt sichtbar; Wittgenstein nennt dies das "'Aufleuchten' eines Aspekts“.40 "Aspektblindheit wird verwandt sein mit dem Mangel des 'musika¬ lischen Gehörs'. Die Wichtigkeit dieses Begriffes liegt in dem Zusammenhang der Begriffe 'Sehen des Aspekts' und 'Erleben der Bedeutung eines Wor¬ tes'. Denn wir wollen fragen: 'Was ginge dem ab, der die Bedeutung des Wortes nicht erlebt ?’ Was ginge z.B. dem ab, der die Aufforderung, das Wort 'sondern' auszusprechen und es als Zeitwort zu meinen, nicht verstünde, -oder einem, der nicht fühlt, daß das Wort, wenn es zehnmal nach der Rei¬ he ausgesprochen wird, seine Bedeutung für ihn verliert und ein blo¬ ßer Klang wird?"41 Der Aspekt ist systematisch eine Stufe unter der Wortbrücke angesiedelt, da er, zumindest in der Auffassung Wittgensteins, die Form, an der er sich zeigt, nicht verändert, während die Wortbrücke von der Ausgangsform zu einer ähnlichen führt. Die Zahl der Aspekte eines Wortes ist somit geringer als die der Wortbrücken. Strukturell gleicht aber der Aspekt dem Phänomen der Wortbrücke. Auch bei der Wahrnehmung des Aspekts spielt die mimeti¬ sche Annäherung eine wichtige Rolle. "Im Aspekt ist eine Physiognomie vorhanden, die nachher vergeht. Es ist beinahe, als wäre da ein Gesicht, welches ich zuerst nachahme, und dann hinnehme, ohne es nachzuahmen.- Und ist das nicht eigent¬ lich genug der Erklärung? - Aber ist es nicht zu viel?"42 36 vgl. Fn. 32 37 Benjamin 1980, GS IV.1, a.a.O., ebenda 38 vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S.518 ff. 39 vgl. Wittgenstein 19862, WA Bd.l, a.a.O., S.520 40 Wittgenstein 19862, WA Bd.l, a.a.O., ebenda 41 Wittgenstein 19862, WA Bd.l, a.a.O., S.552 f. 42 Wittgenstein 19862, WA Bd.l, a.a.O., S.547

19862, WA

Bd.l,a.a.O.,

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Ein Kind, das sprechen lernt, versucht die Physiognomie des ihm ein Wort vorsprechenden Erwachsenen und den Klang des gehörten Wortes nachzuah¬ men. Später ist das Erkennen des Wortes wenn nicht an die Nachahmung der Physiognomie des Aspekts, so doch zumindest an das Erkennen dieser Physiognomie gebunden. Der Aspekt regelt die Bedeutung des Wortes in einem Kontext, und die Summe der Aspekte umfaßt die Summe der poten¬ tiellen Bedeutungen eines Wortes, wobei noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, daß Wittgenstein das Sehen des Aspekts dem Erleben einer Wortbedeutung gleichsetzt. Wortbrücken werden sichtbar, wenn beim Erkennen der Physiognomie eine Entgleisung vorkommt, wenn die Physiognomie des Aspekts einer ähnlichen Wortgestalt die Physiognomie des Aspekts des Ausgangswortes überlagert. "In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun 'Muhme' nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf eine gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führ¬ ten. Ein jeder Anstoß war ihm recht. Durch die Wortbrücken werden untergegangene Beziehungen zwischen den Worten sichtbar. Die Wortbrücken führen ins Innere der Welt zu ihren Trümmern und den Trümmern der Sprache, die sich vor den Füßen des Engels der Geschichte anhäufen.^^ Die Wortbrücken bringen die Geschichte zum Sprechen, sie reichen über den Lethe-Fluß. Der 'perspektivisch' Lesende nimmt, wenn überhaupt, nur den vorherr¬ schenden Aspekt eines Wortes wahr, während er für die anderen blind ist. Wortbrücken wird er vermutlich für Unfug erachten und dadurch den Bereich des Unbewußten vergrößern.

43 Benjamin IV.l, a.a.O., S.260 f. 44 vgl. Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, GS 1.2, a.a.O., S.691 ff. »Der Historismus gipfelt von rechtswegen in der Universalgeschichte. (...) Ihr Verfahren (das der Geschichtsschreibung des Historismus, S.M.) ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufiillen.« W.B., a.a.O., S.702 Der Historismus begnügt sich damit, Tatbestände festzuhalten. Er bedient sich dabei einer »informativen Sprache« (vgl. Günter Eich, IV,624 ff.) und zur Niederschrift des abstrakten Alphabets. Informative Sprache und ab¬ straktes Alphabet verhindern aber per se Erinnerung. In der Sprache des historischen Materialisten geht das Wort nicht in der Mitteilung auf, die es transportiert. Das Verhältnis zwischen der Realgeschichte des Historis¬ mus und der Geschichte der Rettung des historischen Materialisten kann »in einer Sprachphilosophie gedacht werden, und zwar als das Verhältnis zwischen Sinnzusammenhang und Mimetischem/Metaphorischem. Daher fungiert Sprachphilosophie für Benjamin als Modell für jede andere Philo¬ sophie, unter anderem auch für Geschichtsphilosophie.« (Gagnebin, JeanneMarie, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, Erlangen 1978, S.142) vgl. auch unten den Abschnitt »Die Regression«, S.98 ff.

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Viertes Moment der Traumarbeit: Die sekundäre Bearbeitung Die sekundäre Bearbeitung ist eine den bisher beschriebenen Momenten der Traumarbeit nachgeordnete Funktion. Freud charakterisiert die sekundäre Bearbeitung als eine Art Zensur, die dann wirksam wird, wenn im Traum für den Träumenden unliebsame Elemente des Traumgedankens zugelassen wur¬ den. Die Zensur funktioniert nicht als Unterdrückung des Gedankens, son¬ dern sie unterlegt den unliebsamen Traumelementen einen Sinn und eine Ordnung, die am weitesten von der eigentlichen Bedeutung des Traumes entfernt liegt.^ Man kann die sekundäre Bearbeitung mit den Methoden jener Politiker vergleichen, welche die unliebsamsten Ziele des politischen Gegners einfach auf die eigene Fahne schreiben, diese dabei aber so defor¬ mieren, daß nichts von ihnen übrigbleibt. Die Art der Umdeutung der Ele¬ mente des Traums läßt Freud darauf schließen, daß die sekundäre Bearbei¬ tung eine Intervention des Wachlebens in den Traum ist. Der Traum ähnelt nach der sekundären Bearbeitung den Tagträumen, über welche Freud schreibt: "Wenn man ihrem Aufbau nachspürt, so wird man inne, wie das Wunsch¬ motiv, das sich in ihrer Produktion betätigt, das Material, aus dem sie gebaut sind, durcheinandergeworfen, umgeordnet und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt hat. Sie stehen zu den Kindheitserinnerun¬ gen, auf die sie zurückgehen, etwa in demselben Verhältnis wie man¬ che Barockpaläste Roms zu den antiken Ruinen, deren Quadern und Säulen das Material für den Bau in modernen Formen hergegeben haben. Die sekundäre Bearbeitung kann folglich als eine Art des Zitierens be¬ zeichnet werden, eines Zitierens allerdings, welches den ursprünglich unge¬ ordneten und fragmentarischen Charakter des Traummaterials beseitigt und den Zitaten einen eindeutigen Sinn unterlegt. Die Zitate werden durch die sekundäre Bearbeitung ihrer Lebendigkeit beraubt, sie erstarren. Man kann Günter Eichs Ablehnung der Teile seines Werks, die zitierfähig geworden waren und dabei beinahe Schlagwortcharakter annahmen, dahinge¬ hend deuten, daß er Zeilen für mißlungen hielt, die sich gegenüber einer 'sekundären Bearbeitung' nicht widerständig erwiesen. In der BüchnerPreis-Rede bestimmt Eich die Sprachlenkung als die größte Gefahr unserer Zeit, gegenüber der alle vorangegangenen Gewaltformen wie eine "Art Bie¬ dermeier der Hölle" wirken (IV,616). Die Sprachlenkung funktioniert wie ei¬ ne gesellschaftlich betriebene, sekundäre Bearbeitung, deren Ideal der Werbe-Spot ist. "Diese Lebensbejahung in gelenkter Sprache, dieses unaufhörliche Kraft-durch-Freude-Motiv und Seid-nett-zueinander! (Aber wehe, wenn ihr nicht nett seid, und wehe, wenn ihr euch nicht freut!) Alles 45 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.472 46 Freud 1982, a.a.O., S.473

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im Aufbau, alles positiv, die Wirtschaft, die Helden und die Liebe, weshalb immer nur die dunklen Seiten des Lebens, das Glück und die Freizeit nehmen zu, sorgt euch nicht, wir sorgen für euch. Dieser ganze fatale Optimismus, so verdächtig erwünscht und so genau nach Maß. (...) Wenn unsere Arbeit (die der Schriftsteller, S.M.) nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbe¬ queme Frage und als Herausforderung der Macht, dann sind wir posi¬ tiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien. Die Chance, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, wäre vertan." (IV,626 f.) Wie die sekundäre Bearbeitung alle unliebsamen Elemente des Traums durch Umgruppierung entschärft, beraubt die Sprachlenkung die Sprache aller Ele¬ mente, die die Macht in Frage stellen könnten, indem sie sie in Information verwandelt (vgl. IV,626). Die Schrift wird dabei dem Zustand des abstrakten Alphabets angenähert. 4..2. Die Regression Der Abschnitt "Die Regression" aus der "Traumdeutung" muß als Versuch verstanden werden, eine Topologie der psychischen Vorgänge zu entwerfen. Wie alle anderen Beschreibungsversuche Freuds, etwa die "Notiz vom ’Wunderblock'", ist auch die "Fernrohr'-Metapher, welche Freud im oben bezeichneten Abschnitt der "Traumdeutung" verwendet, nur ein Modell, das darauf wartet, durch ein besseres ersetzt zu werden, wobei die Verbesse¬ rung wahrscheinlich darin bestünde, ein Modell zu finden, das die Dynamik der psychischen Vorgänge stärker zum Ausdruck bringt. Berücksichtigt man diese Einschränkungen, dann vermag der Abschnitt "Die Regression" sehr viel zum Verständnis der Lokalisierung und Rezeption strukturell verschiede¬ ner Schriftbilder beizutragen. "Wir stellen uns [also] den seelischen Apparat vor als ein zusam¬ mengesetztes Instrument, dessen Bestandteile wir Instanzen oder der Anschaulichkeit zuliebe Systeme heißen wollen. Dann bilden wir die Erwartung, daß diese Systeme vielleicht eine konstante räumliche Orientierung gegeneinander haben, etwa wie die verschiedenen Lin¬ sensysteme des Fernrohrs hintereinanderstehen. Strenggenommen, brauchen wir die Annahme einer räumlichen Anordnung der psychi¬ schen Systeme nicht zu machen. Es genügt uns, wenn eine feste Reihenfolge dadurch hergestellt wird, daß bei gewissen psychischen Vorgängen die Systeme in einer bestimmten zeitlichen Folge durchlau¬ fen werden. (...) Von den Bestandteilen des Apparates wollen wir von nun an der Kürze halber als *4i -Systeme1 sprechen.”47 Wie ein Fernrohr besitzt der seelische Apparat zwei Enden: ein sensibles 47 Freud 1982, a.a.O., S.513 98

und ein motorisches. Am sensiblen Ende treten alle Wahrnehmungen in den psychischen Apparat ein, während das System am motorischen Ende "die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im allge¬ meinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende."4,8 Wie in der später verfaßten "Notiz über den ’Wunderblock"'4^ geht Freud davon aus, daß das erste System am Wahrnehmungsende die ankommenden Reize nur aufnimmt, nicht aber selbst speichert. Sie werden lediglich nach unterschiedlichen Assoziationskriterien in mehreren Erinnerungssystemen festgehalten.8® "Das erste dieser Er-Systeme wird jedenfalls die Fixierung der As¬ soziation durch Gleichzeitigkeit enthalten, in den weiter entfernt liegenden wird dasselbe Erregungsmaterial nach anderen Arten des Zusammentreffens angeordnet sein, so daß etwa Beziehungen der Ähnlichkeit u.a. durch diese späteren Systeme dargestellt würden.”8^ An dieser Stelle ist bereits zu fragen, was es bedeutet, wenn ein Lek¬ türevorgang, der im Mittelalter alle Sinne gleichzeitig beanspruchte, so daß ein Lesender also die gelesenen Worte nicht nur sah, sondern auch hörte, laut Illich die Worte sogar betastete, an den Zeilen nippte wie eine Biene, vielleicht sogar daran roch und zwar durchaus nicht nur metaphorisch, son¬ dern in einem Sinn, den wir uns heute nicht mehr vorzustellen vermögen, wenn sich dieser Vorgang in ein rein visuelles Aufnehmen verwandelt. Un¬ geachtet der Tatsache, daß die Lektüre darüber hinaus früher noch von ei¬ ner Reihe motorischer Aktivitäten begleitet wurde, kann man davon ausge¬ hen, daß dieses erste, nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit assoziierende System bei der Lektüre in der modernen Form vergleichsweise dürftig be¬ dient wird. Die auf Ähnlichkeit geeichten Systeme könnten beim Lesen beispielsweise die Klangähnlichkeit oder die Ähnlichkeit der Wortgestalt festhalten. Hinter den Er-Systemen lokalisiert Freud das Unbewußte, dahinter das Vorbewußte, und im Anschluß daran das Motilitätsende des psychischen Apparats. Während des Traumvorgangs kehrt sich die progrediente Bewegung des Wachlebens vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende um in eine regrediente Bewegung. "Wenn wir den Traumvorgang als eine Regression innerhalb des von uns angenommenen seelischen Apparats ansehen, so erklärt sich uns ohne weiteres die empirisch festgestellte Tatsache, daß alle Denkre¬ lationen der Traumgedanken bei der Traumarbeit verlorengehen oder nur mühseligen Ausdruck finden. Diese Denkrelationen sind nach unserem Schema nicht in den ersten Er-Systemen, sondern in weiter nach vorn liegenden enthalten und müssen bei der Regression bis auf 48 Freud 1982, a.a.O., S.514 49 vgl. Freud, Sigmund, Notiz über den »Wunderblock«, in: Studienausgabe Band III, Frankfurt 1975 und dazu Derrida, Jacques, Freud und der Schau¬ platz der Schrift, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 19894, S.302 ff. und Meyer, Eva 1986, a.a.O., S.76 ff. 50 Freud 1982. a.a.O.. S.515 f. 51

Freud 1982, a.a.O., S.S1S

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die Wahrnehmungsbilder ihren Ausdruck einbüßen. Das Gefüge der Traumgedanken

wird

bei

der

Regression

in

sein

Rohmaterial

aufgelöst."52 Wie beschrieben, verwandelt der Traum Abstrakta in konkrete Bilder. Eine Reihe von Autoren geht davon aus, daß die Regression bis zu den Bildern auf der Netzhaut zurückschreitet.55 In dieser Weise sind Halluzinationen zu erklären, wie die (Rück-)Verwandlung des Wortes 'Rosenmund' in das Bild einer Rose, die Moosbrugger bedrohlich entgegenwuchert. Moosbrugger wird auch tagsüber von Regressionen heimgesucht, die sich seiner Kontrolle ent¬ ziehen. Moosbrugger wird gewalttätig, weil er den in den Fr-Systemen und im Unbewußten aufbewahrten Traumata hilflos ausgeliefert ist. Er ist ein Beispiel dafür, was es bedeutet, wenn die regressive Bewegung der Psyche und die Konkretion die progrediente Bewegung zum Bewußtsein und zur Abstraktion überwiegen. Was aber geschieht, wenn der umgekehrte Fall eintritt und die progrediente Bewegung sich ohne Rückbindung zur Konkre¬ tion und zur Wahrnehmung in Richtung einer immer größeren Abstraktheit fortbewegt? Musil liefert auch für diesen Typus ein Beispiel, der Repräsen¬ tant heißt General Stumm von Bordwehr. Stumms militärische Vernunft läßt ihn über das chaotische Denken der Zivilisten nur den Kopf schütteln. Er möchte Ordnung schaffen und beginnt seine Arbeit damit, daß er ins Inner¬ ste des feindlichen Lagers, die Staatsbibliothek, eindringt, um dort die Kräf¬ te des Gegners zu studieren.5^ Der Bibliothekar schlägt ihm als Hilfsmittel zur Herstellung der Ordnung eine "Bibliographie der Bibliographien (....), al¬ so das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse" vor.55 Der Hinweis auf das Vorhandensein eines potenzierten alphabetischen Regi¬ sters, welches auch den letzten Rest der Gehalte der in ihm nur noch ange¬ deuteten Bücher tilgt, erweckt in Stumm die Vorstellung einer Ordnung, in der die ganze Welt auf den Begriff gebracht ist. Zu Ulrich sagt er: "'Stell dir Ordnung vor. Oder stell dir lieber zuerst einen großen Gedanken vor, und dann noch einen größeren, dann einen, der noch größer ist, und dann immer einen noch größeren: und nach diesem Muster stell dir auch immer mehr Ordnung in deinem Kopf vor. (...) sagen wir, im Anfang ist Ordnung so, wie wenn ein Rekrut mit den Beinen stottert und du bringst ihm das Gehen bei; dann so, wie wenn du im Traum außer der Tour zum Kriegsminister avancierst; jetzt aber stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie!"'56 In General Stumm reift die Erkenntnis, daß die totale Abstraktion alles 52 53 54 55 56 100

Freud 1982, a.a.O., S.519 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.58, 522 vgl. Musil 1983, a.a.O., S.459 ff. Musil 1983, a.a.O., S.462 Musil 1983, a.a.O., S.464

Wirklichen zum Begriff oder zur Zahl in letzter Konsequenz auf den Tod und auf Gewalt hinausläuft. "'Ich habe so etwas Komisches im Gefühl: ein Verständnis dafür, warum wir beim Militär, die wir die größte Ordnung haben, gleichzei¬ tig bereit sein müssen, in jedem Augenblick unser Leben hinzugeben. Ich kann nicht ausdrücken, warum. Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über."'57 Eine andauernd progrediente Bewegung zum Mutilitätsende des psychischen Apparats schneidet den Rückbezug zu den Wahrnehmungen ab, wie er im Traum, aber auch während jeder Erinnerung stattfindet. Im Unterschied zu Moosbrugger, der unter den Skandierungen des Unbewußten dumpf leidet und sich ein möglichst schnelles Ende herbeisehnt, wird ein Mensch, dessen Gewalttätigkeit durch ein Fixiertsein auf Abstraktion ausgelöst wurde, nichts empfinden. Nachfolgend soll Freuds Modell des psychischen Apparats auf die Orga¬ nisation und Rezeption verschiedener Schrifttypen übertragen werden. Es wird dabei eine Stufung der Schrifttypen sichtbar, die allerdings nicht wer¬ tend im Sinne des 'logozentrischen' Denkens als eine qualitative Verbesse¬ rung zu immer größerer Bewußtheit verstanden werden darf. Das erste System des Wahrnehmungsendes nimmt nur auf, ohne zu spei¬ chern, das heißt Dauerspuren zu hinterlassen. Entsprechend bleibt auf Seiten der Schriftanalogien dieser erste Platz leer. Menschheitsgeschichtlich ist dies "die Zeit, da die Seele noch schläft, und so ist sie die traumlose Zeit und die der gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und All."5® Der Mensch dieser von Gebser als archaisch bezeichneten Struktur ist ganz Wahrnehmung und dieser ausgeliefert. Der Mensch der magischen Struktur ist zwar auch in die Natur eingefloch¬ ten, aber ihm stehen Möglichkeiten zur Verfügung, auf die Natur mit magi¬ schen Techniken zu reagieren.60 Diesen Techniken sind die Fr-Systeme von Freud analog. Der magische Mensch erzeugt Dauerspuren durch mimetische Verfahrensweisen, beispielsweise versucht er durch das Darstellen einer Jagdszene wie in den Höhlenmalereien von Lascaux seinen Willen auf das Tier zu konzentrieren und dieses zu beschwören. Bei den durch Bild, Tanz oder Geräusch dargestellten Ähnlichkeiten handelt es sich noch nicht um Schriften im eigentlichen Sinne, so wie die Verständigung innerhalb des Gruppen-Ich (die einzelnen Mitglieder der Gruppe haben kein Ich-Bewußtsein) von Gebser nicht als Sprache bezeichnet wird.61 Vermutlich arbeiten mimetische Verfahrensweisen nach ähnlichen Prinzipien wie die Fr-Systeme, also nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit oder denen der sinnlichen Ähnlich57 58 59 60 61

Musil 1983, a.a.O., S.464 f. Gebser 1986, a.a.O., S.83 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.85 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.88 ff. Laut Gebser bedarf die Verständigung innerhalb des Gruppen-Ichs aller¬ dings auch nicht der Sprache; vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.104 101

keiten (diese werden nach den von Metzger beschriebenen Gestaltgesetzen wahrgenommen) .6^ Den auf die Er-Systeme folgenden Zonen des Unbewußten und des Vor¬ bewußten entsprechen all jene Zeichensysteme, welche im ersten Kapitel in die Gruppe der Signa eingeordnet wurden. Wie der Traum öffnen sich diese Zeichensysteme beiden Richtungen der psychischen Bewegung. In der Re¬ gression evozieren sie, wie beispielsweise die chinesischen Radikale, die Gestalt der bezeichneten Dinge und erschließen so die konkreten Wahrneh¬ mungen. Progredient gerichtet ermöglichen die dem Bereich des Unbewu߬ ten/Vorbewußten zugeordneten Zeichensysteme die Bildung von Begriffen durch Zusammenstellung von Zeichen zu einem Rebus, in welchem die Ein¬ zelzeichen eine andere Bedeutung als die ursprüngliche, konkrete annehmen. Der Unentschiedenheit der Zeichensysteme des Zwischenraums ent¬ spricht kulturgeschichtlich die von Gebser als mythisch gekennzeichnete Struktur.63 Die mythische Struktur markiert einen Angelpunkt, der zum Bei¬ spiel in der Geschichte der Schrifttypen dadurch anschaulich wird, daß die Schreibrichtung wechselt. Für einen kurzen Zeitraum existieren dann die meist vorgängige Schreibrichtung von rechts nach links und die später allein¬ gültige von links nach rechts nebeneinander. Innerhalb der mythischen Struk¬ tur sind die Zeichen der eindeutig mimetischen Verwendungsweise entbun¬ den. Die mythische Struktur ist Ausdruck der zweidimensionalen Polarität.6^ "Es gilt von ihr (der mythischen Aussage, S.M.), was von jeder Aus¬ sage gilt, die sich des Wortes bedient: daß nämlich das Gesagte allein nicht entscheidend ist. Entscheidend wird es erst - und Ent-Scheidung bedeutet Aufhebung des Scheidenden - durch die Mitbeachtung des im Gesagten Verschwiegenen. Nur dort, wo das Nichtgesagte seine stumme Mitsprache hat, erhält das Gesagte jene Tiefung und Polung, die es in die Spannung des wirkenden Lebens tragen. Bloßes Schwei¬ gen ist magische Gebanntheit; bloßes Reden ist rationaler Leerlauf."65 Die Lokalisierung der mythischen Struktur im Bereich des Unbewußten/ Vorbewußten vermag zu erklären, warum Gebser eine Verwandtschaft zwi¬ schen der Mytheninterpretation und "der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie" ausmacht: Mythos und Traum verwenden Zei¬ chen in strukturell ähnlicher Weise.66 Das Symbol der mythischen Struktur ist der gepolte Kreis, z.B. das chinesische T'ai ki 67 In diesem sind Hell und Dunkel zwar voneinander getrennt, werden aber noch durch den Kreis zu¬ sammengehalten und sind ineinander aufgehoben. Die mentale Struktur zerteilt den Kreis und entläßt die Pole in eine vom Gegensatz unabhängige Einseitigkeit. Der dem Bewußtsein zugehörige 62 63 64 65 66 67 102

vgl. Metzger 1936, a.a.O., S.ll ff. vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.107 ff. vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.113 Gebser 1986, a.a.O., S.116 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.117 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.314 ff.

Schrifttyp ist die alphabetische Schrift. Mit dem Übergang zur alphabe¬ tischen Schrift wird die Regression von der Schrift zur konkreten Wahr¬ nehmung weitgehend verstellt. Die Wortgestalt vermag nicht die Gestalt des bezeichneten Gegenstandes anzudeuten. Insofern ist das Alphabet von vorn¬ herein abstrakter als die bisher beschriebenen Schriftsysteme. Allerdings wurde in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, daß es auch Verwendungs¬ weisen des Alphabets gibt, welche zumindest in den Bereich des Unbewu߬ ten/Vorbewußten und vermittels der Wortbrücken in die ER -Systeme hinab¬ reichen. Die perspektivische Verwendung des Alphabets leugnet die Wur¬ zeln der Schrift. Die Abdichtung der Schrift gegenüber dem Unbewußten reduziert die Worte zu reinen Begriffen, aus welchen alles Nicht-Identische ausgetrieben wurde, "die Ratio wird, metabolisch in eine überspitzte Ratio¬ nalisierung umschlagend, ohne es selber zu bemerken oder auch nur zu ahnen, zum minderen Spielball der Psyche."68 Das abstrakte Alphabet ist des Naturhaften (fr-Systeme; magische Struktur) und der Seele (Unbewußtes/Vorbewußtes; mythische Struktur) beraubt. In ihm findet die durchrationalisierte Gesellschaft das ihr gemäße Zeichensy¬ stem, welches eine Zensur überflüssig macht, da das Leiden an der Verobjektivierung nicht mehr ausgedrückt werden kann. Die Entwicklung der Schrift in Richtung des Alphabets erstickt zudem jede Art der Erinnerung im Keim, insofern als Erinnern nach Freud nur in der psychischen Bewegung der Regression zustande kommt. 69 Die Benutzer des abstrakten Alphabets werden auf jene Präsenz festgelegt, die Derrida in der "Grammatologie" als Kennzeichen der Metaphysik ausweist.7® Die Abschottung der Schrift gegen die psychische Bewegung der Regression ergänzt die Degeneration der Sprache zum reinen Informationsmedium (vgl. IV,622 ff.) und in letzter Konsequenz zu einem Bestand sogenannter Plastik-Wörter.7* Beide Entwicklungstendenzen sind Ausdruck eines neuen Sozialisationstypus, der nach Alfred Lorenzer durch eine außerordentlich narzißtische Persönlichkeitsstruktur gekennzeichnet ist.7^ "Es handelt sich um eine Persönlichkeitsstruktur mit folgenden Merk¬ malen: 1. Fehlende Differenzierung zwischen den Objekten, 2. fehlende Differenzierung zwischen Ich und Nicht-Ich im Erleb¬ nisraum, 3. Alternative diffuser Geborgenheit und diffuser Verlassenheitsangst. In unserem Verständnis, und das heißt vom Konzept der Interak68 69 70 71

Gebser 1986, a.a.O., S.164 vgl. Freud 1982, a.a.O., S.518 f. vgl. Derrida 19882, a.a.O., S.173 ff. vgl. Pörksen, Uwe, Plastikwörter: die Sprache der internationalen Diktatur, Stuttgart 1988

72 vgl. Lorenzer, Alfred, Sprachspiel und Interaktionsformen, 1977, S.83 ff.

Frankfurt a. M.

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tionsformen her gesehen, weisen diese drei Merkmale eindrucksvoll auf die Situation der vorsprachlichen, vorsymbolischen Interaktionsfor¬ men hin, bei denen zwar eine Polarisierung von Ich und Nicht-Ich schon einsetzte, ein Ichpol zwar einem Gegenstandspol gegenübersteht, aber noch keine Differenzierung zwischen Selbst und Objekt (die erst auf dem Stande fertiggestellter Handlungsstruktur und sym¬ bolischer Interaktionsformen möglich wird) vorkommt. (...) (..) die Störung (der Sozialisation; S.M.) schlägt (bei der narzißti¬ schen Persönlichkeit; S.M.) auf die vorsprachliche Matrix individueller Praxis durch und sistiert die Entwicklung noch auf der Stufe der Ausdifferenzierung der Interaktionsformen vor dem Hinzutreten der Sprache. Damit wird die Einführung von Sprache nicht verhindert, wohl aber von vornherein qualitativ verformt; die objektive Struktur' der Sprache wird überall dort, wo eine Differenzierung der Interaktions¬ formen stillgelegt wurde, als emotional leeres 'Zeichengefüge' den vorsprachlich fixierten Interaktionsformen übergestülpt."73 Die Abstraktheit des perspektivisch verwendeten Alphabets und der in¬ formativen Sprache ist folglich nicht nur einer Verhinderung der Regression geschuldet, sondern auch einem vorzeitigen Abbruch der Persönlichkeitsent¬ wicklung, welcher eine Ausbildung symbolischer Interaktionsformen verhin¬ dert und dadurch den Symbolsystemen Sprache und Schrift die Grundlage entzieht. Vorsprachliche Interaktionsformen und Sprach- und Schriftzeichen treiben so beziehungslos nebeneinander her und werden im Bedarfsfall kurz¬ geschlossen. "Beim repetitiven Verhalten treten anstelle von symbolischen Inter¬ aktionsformen desymbolisierte, emotional erfahrungsleere Zeichen auf, und setzen sich physisch-emotionale Bedürfnisse in Klischees durch. Das Spiel der Phantasie ist eingefroren, Veränderungen werden nicht zugelassen und d.h. gegenüber den anderen Individuen: Verständigung wird durch bloßen Informationsaustausch (bei dem man über das zu Verständigende meint verständigt zu sein) und blind-rücksichtsloses (wiewohl angepaßtes) Agieren ersetzt. Kurz gesagt: die Arbeit wird unspontan-phantasielos und die Individuen sind gegeneinander iso¬ liert."7^ Die Isolation der Individuen spiegelt sich in der durch perspektivische Ver¬ wendung erzeugten Isolierung der geschriebenen Worte: Vom punkthaft wahrnehmenden Auge des Lesers herausgetrennt aus dem Kontext und dem Netz vorangegangener Verwendungen werden sie zu bedeutungslosen Hüllen mit einer schemenhaften Gestalt, in welcher das Imaginäre des Lesers eine ihm genehme Bedeutung auszumachen vermeint. Da dieser Vorgang wegen der Versperrung der Regression unbewußt abläuft, nimmt der Leser davon nichts wahr: Ihm erscheint das Wort bei jeder Lektüre mit sich selbst iden73 Lorenzer 1977, a.a.O., S.85 ff. 74 Lorenzer 1977, a.a.O., S.203 104

tisch. "Die Stereotypie ist das Wort, das wiederholt wird ohne jede Magie, ohne jede Begeisterung, als wenn es natürlich wäre, als wenn, wie durch ein Wunder, dieses wiederkehrende Wort jedesmal aus anderen Gründen angemessen wäre, als wenn das Imitieren nicht mehr als Imitation empfunden werden könnte: ein zwangloses Wort, das auf Konsistenz Anspruch erhebt und seine eigene Insistenz nicht kennt.

75 Barthes, Roland, Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1986, S.64 105

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5. LACANS THEORIE VOM BLICK "Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. Er konnte sich ihn vorstel¬ len, wie er auf den Dingen saß, mit dem breiten Schädel, dem Haar, das sich wie ein Fell vom Scheitel in die Stirn zog. Er hatte die Dinge dann gern. (...) Die Worte, die er hatte, waren: -Hmhm, soso.Der Tisch war Moosbrugger. Der Stuhl war Moosbrugger. Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst. Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gum¬ mibänder waren einfach weg. (...) Er war bloß innen und außen. (...) Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht. (..) In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot."* 5.1. Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion Bereits in der frühen Arbeit "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion"2 beschreibt Jacques Lacan die Verführbarkeit des Auges. Verweilen wir einen Augenblick beim Titel. Der Zusatz “-Stadium” verweist auf eine gene¬ tische Theorie, auf einen Abschnitt, den der Mensch durchläuft. In späteren Arbeiten geht Lacan jedoch davon aus, daß diese Phase im Leben des Men¬ schen nie ganz abgeschlossen wird.^ "Bildner", wir hören daraus den Gott, der den Menschen nach seinem Eben¬ bild schöpft. Das Spiegelstadium bezeichnet auch ein Gefühl der Allmacht bei absoluter Verkennung der "realen" Verhältnisse. "..der Ichfunktion": Die Beschäftigung mit Lacan konfrontiert einen sehr bald mit der Frage nach dem Ich. Deutlicher als andere Fragenkomplexe konturiert Lacan seine Ablehnung des cartesianischen, das heißt autonomen und selbstgewissen Subjekts: darunter fällt, obwohl Lacans Theorie sonst als "Rückkehr zu Freud"^ bezeichnet werden kann, auch Freuds Variante des 1 2 3 4

Musil 1983, a.a.O., S.397 f. vgl. Lacan, Jacques, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften I, hrsg.v. Norbert Haas, Weinheim Berlin 1986, S.61-70 vgl. Lang, Hermann, Die Sprache und das Unbewußte, Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1987, S.54 vgl. Weber, Samuel M., Rückkehr zu Freud, Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1978 107

cartesianischen Subjekts, bei der die Gewißheit vom Bewußtsein ins Unbe¬ wußte verrutscht ist, Autonomie aber per Analyse als erreichbar gedacht wird. Das von Lacan beschriebene Ich ist ein grundsätzlich anderes, es ist Funktion, nicht im Sinne der Zweckrationalität, sondern im Sinne eines nicht autonomen Gliedes des sprachlichen Diskurses. Dessen Zeit ist das futur anterieur:

"Dieses erschüttert die Identität des Subjekts als eine des Sicherinnemden Denkens in ihren Grundfesten, und zwar durch eine ge¬ doppelte Funktion. Erstens setzt es an die Stelle der abgeschlossenen Vollendung des Immer-schon-gewesen-Seins die unabschließbare Voll¬ endung des Immer-schon-gewesen- Sein- wird, das durch kein Denken je ganz er-innert werden kann, weil sie immer noch aus-bleiben wird. Und dieses wird ist es, welches das Subjekt fortwährend verhindern muß, je ganz zu sich zu kommen. Das Erinnern der Psychoanalyse unterscheidet sich demnach radikal von dem der Metaphysik."8 Ausgangspunkt des Vortrags ist die soeben festgehaltene Unterscheidung des cartesianischen Subjekts und des von Lacan als Ichfunktion bezeichneten Subjekts der Psychoanalyse.^ Bereits erwähnt wurde die zum Zeit¬ punkt der Niederschrift noch genetische Orientierung Lacans. "Le stade du mirroir" wird von Lacan eingegrenzt auf den Zeitraum zwischen dem sech¬ sten und achtzehnten Lebensmonat. "Das Menschenjunge erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber merklicher Dauer, während der es vom Schimpansenjungen an motori¬ scher Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein eigenes Ich als solches."' Dieses Erkennen wird begleitet durch eine lebhafte Mimik und Gestik: Das Kind begrüßt jubilierend dieses, sein Abbild. Im Anschluß daran ist zu beo¬ bachten, daß das Kind den Akt des Erkennens zu wiederholen trachtet, um die Beziehungen zwischen seinem Spiegelbild und der gespiegelten Umge¬ bung sowie das Verhältnis zwischen Spiegelung und Realität zu untersuchen. "Die Jubelreaktion des Kindes vor seinem erkannten Spiegelbild ist ein Zeichen nicht der Bestätigung der Identität des Subjekts, sondern der Konstitution dieser Identität selbst."8 Was heißt das? Zum Zeitpunkt des Eintritts in das Spiegelstadium ist das Kind motorisch weitgehend unkoordiniert. Es kann noch nicht aufstehen und ist völlig angewiesen auf die Unterstützung der Mitmenschen. Dies erklärt sich aus der Unvollendetheit des Pyramidalsystems und der Unkoordiniertheit des Gleichgewichtssinns, dem der Wunsch nach dem Gewiegtwerden durch die Mutter entspricht. Verglichen mit anderen Lebewesen ist dem Menschen 5 6

7 8 108

Weber 1978, a.a.O., S.ll f. Lacan 1986, a.a.O., S.63: »Der Begriff Spiegelstadium (...) (ist) geeignet, die Funktion des Ich (je), wie wir sie in der Psychoanalyse erfahren, zu ver¬ deutlichen. Gerade unsere spezielle Erfahrung stellt uns jeder Philosophie entgegen, die sich unmittelbar vom cogito ableitet.« Lacan 1986, a.a.O., S.63 Weber 1978, a.a.O., S.15

eine spezifische Vorzeitigkeit der Geburt eigentümlich, welche von Embryo¬ logen als Fötalisation bezeichnet wird. In der Entwicklung eilt der Gesichts¬ sinn der Motorik voraus. "Das Auge ist nach vorn gerichtet, ln Raum und Zeit! Das Drama des 'Menschen-Kindes' geht aus von der Insuffizienz zu der 'Vorausset¬ zung'. 'Voraus-Setzung' bedingt und ermöglicht Vorwärtsbewegung, daher: 'Fort-Schritt'. Das Menschenkind findet sofort Gefallen am Spiegelbild (die Jubelreaktion), weil ihm im Spiegel eine ganzheitliche Gestalt erscheint, obwohl sein kleiner Körper alles andere als ganzheitlich ist und dies auch nie sein wird. Der Körper ist, um einen Ausdruck von Lacan zu verwenden, “morcele", zer¬ stückelt, was die Kubisten zu ihrer spezifischen Darstellung des menschli¬ chen Körpers veranlaßt haben mag. Das Auge des Kindes aber sieht eine ganze Gestalt und findet diese, umso mehr wenn der Spiegel die sprechende Mutter ist, ansprechend. Das Spiegelbild ist ansprechend, vielversprechend und Anspruch.1^ Die Fata Morgana im Spiegel antizipiert eine Reifung, die nicht vorhanden ist und nie vorhanden sein wird. Sie konstituiert einerseits "die mentale Permanenz des Ich (je) und präfiguriert gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung.”11 Denn nicht nur erscheint die Gestalt (Spiegelbild), die anti¬ zipierend rückläufig die Ichfunktion entwirft, in einem Außerhalb und ist einer Symmetrie unterworfen, die ihre Seiten verkehrt. Diese Gestalt wird außerdem als veräußerlichte, seitenverkehrte und das Menschenbild in fal¬ scher Ganzheit reflektierende vom Menschenkind zum Ideal, zum Ideal-Ich (moi) erhoben und wird zur symbolischen Matrix für alle sekundären Identi¬ fikationen. Die Imago (Spiegelbild) ist Grundlage einer Persona (Maske), die Gefahr läuft, gänzlich im Imaginären verhaftet zu bleiben. Die Sprache zeigt die Nähe von cartesianischem Subjekt und Spiegelstadium im Wort 'reflektieren', das die Bedeutung von 'spiegeln' und ’nachdenken' hat. Im 'nach-' ist zudem eine ähnliche Verkennung eingeschrieben wie im Spiegelvorgang. Descartes' "Cogito ergo sum" ist von der Zeitstufung dem Erfassen der Gestalt und der anschließenden Konstitution des 'Ich' ver¬ gleichbar: (...) denke, also bin ich dann. (...) betrachte (m)eine Gestalt im Spiegel, also bin ich dann. Das Wort ’nach-denken' aber enthält jene Zeitlichkeit, die von Samuel We¬ ber als das Erinnern der Metaphysik angesehen wurde. Bei Lacan nur in einem kurzen Absatz erwähnt wird die Bedeutung des von Charlotte Bühler beobachteten Phänomens des Transitivismus.12 Her¬ mann Lang führt diese aus.13 Es geht dabei um die Beobachtung, daß Kinder 9 10 11 12 13

Danis, Juana, Einführung in J.Lacan, München 1988, S.22 vgl. Danis 1988, a.a.O., S.20 Lacan 1986, a.a.O., S.65 vgl. Lacan 1986, a.a.O., S.68 vgl. Lang 1987, a.a.O., S.50 ff. 109

ab ungefähr dem zweiten Lebensjahr sich in dualen Rollenspielen spiegelbild¬ lich verhalten: Das eine Kind scheint sich jeweils mimetisch mit der Rolle des anderen zu identifizieren und umgekehrt.^ Lang bringt dieses Phäno¬ men in Zusammenhang mit dem 4. Kapitel aus Hegels "Phänomenologie des Geistes", welches bei Lacan kurz erwähnt wird. "Es ist für das Selbstbewußtsein ein anderes; es ist außer sich ge¬ kommen (Imago, Spiegelbild, S.M.). Dies hat die gedoppelte Bedeu¬ tung; erstlich, es hat sich selbst verloren (Lacan würde vermutlich sagen: Das "sich selbst" hat man immer schon verloren, S.M.), denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Andern Die hier beschriebene Beziehung zu sich und zu den anderen ist narzi߬ tisch, ist die völlig dem Imaginären ausgesetzte. Über Narziß schreibt Lang: "Narziß will im Du nur sich selbst."^ Was übrigens in der deutschen Spra¬ che ausgedrückt wird durch den Ausdruck 'sich verlieben', denn erstens deutet das Reflexiv (s.o.)-Pronomen an, daß der andere nur Auslöser für einen rückwärtsgerichteten, egozentrischen Prozeß ist, und zweitens hat die Vorsilbe 'ver-' in Verbindung mit Reflexivpronomen oft die Funktion, dem zugehörigen Verb eine 'negative' Bedeutung unterzuschieben, wie in 'sich verlaufen' oder 'sich verhören'. Wer sich ver-liebt, liebt nicht den anderen, sondern sich selbst, und auch das in einer entfremdeten, verkennenden Weise. Die narzißtische Beziehung tendiert zu Aggression und Gewalt. Bedeutete schon das Spiegelbild (Imago) für das Subjekt nicht nur Präfiguration einer ganzen Gestalt, sondern in dieser Ganzheit auch einen Anspruch, dem keiner gerecht werden kann, so wiederholt sich diese Entfremdung in der narzißti¬ schen Beziehung zum anderen. Das imaginierte Ich im anderen dient einer¬ seits der Selbstbestätigung, das heißt der Ich-Konstruktion, gleichzeitig droht aber gerade das andere im anderen (das Du) dieses sehr gefährdete, weil auf Verkennungen beruhende Ich zu zerstören. Und weil sich dies in den meisten Fällen dem anderen genauso darstellt, werden zwei in einer narzißtischen Beziehung Befangene in einen Prozeß verwickelt, in welchem jeder der beiden versuchen wird, das andere, welches sein Selbstbild gefähr¬ det, im Gegenüber zu zerstören, nach Hegel: "... muß jedes auf den Tod des anderen gehen." Und Lang ergänzt: "Doch Narziß ist sich selbst sein eigener Rivale. Im Tod des Anderen 14 »Das Kind, das schlägt, sagt, es sei geschlagen worden; jenes, das das an¬ dere stürzen sieht, weint. Und ebenso lebt es in Identifikation mit dem anderen die ganze Skala von Reaktionen des Sichbrüstens und Sichzurschaustellens und macht dergestalt in seinem Gebaren eine strukturelle Ambivalenz evident; Knecht in Identifikation mit seinem despotischen Herrn, Schauspieler in Gleichsetzung mit dem Zuschauer, Identifikation des Verführten mit seinem Verführer.« Lacan, zit. nach Lang 1987, a.a.O., S.52 15 Hegel zitiert nach Lang 1987, a.a.O., S.51 16 Lang 1987, a.a.O., S.53 110

stirbt er selbst, denn der Andere ist nicht nur 'der Andere', sondern auch er selbst, insofern die Identifikation mit ihm 'sein Wesen' war."^ 5.2. Die Spaltung von Auge und Blick "Was den Punkt im Auge angeht, so kannst du ihn vielleicht auf folgende Weise begreifen. Wenn du einem ins Auge schaust, er¬ blickst du darin dein Bild. Wenn du dir dann zwei Linien vorstellst, die von deinen Ohren ausgehen und zu den Ohren deines Bildes ver¬ laufen, das du im Auge des anderen siehst, so wirst du erkennen, daß diese Geraden derart aufeinander zulaufen, daß sie sich nur wenig hinter deinem Spiegelbild in dem bewußten Auge in einem Punkt berühren müssen Leonardo da Vinci versucht zu erläutern, wie man jenen Punkt finden kann, in welchem alle Linien, die von den gesehenen Objekten ausgehen, Zu¬ sammentreffen.Leonardo verlegt den Sehvorgang, den er erläutern will, in das Auge eines anderen. Mag sein, daß er mit dem "du”, wie das in seinen Notizen oft der Fall ist, sich selbst anredet.2® Entscheidend aber ist, daß der andere nicht als Sehender vorgestellt wird, daß bei dieser Aug-in-AugSituation das Auge des anderen durch das eigene Auge gerichtet und fixiert, quasi gebannt wird.21 Wenn der andere überhaupt sieht, dann nur das, was man selbst in seinem Auge gespiegelt sieht. "Sein" Auge ist das eigene, womit gezeigt wurde, daß Leonardo sich dieses andere Auge nur anstelle des eigenen vorstellte, des "bewußten Auges". Die beschriebene Szene führt mitten in Lacans Seminar "Vom Blick als Objekt klein a"22: "Ich sah mich mich sehen, sagt die junge Parze irgendwo. (...) Wir haben es mit dem Philosophen zu tun, dem es um eins der wesentli17 beide Zitate siehe Lang, a.a.O., S.54 18 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.246 f.; Anweisung zur Ortung der Pyrami¬ denspitze beim perspektivischen Sehen; Hervorhebung: S.M. 19 »..Die Perspektive ist der deutliche Beweis, durch den die Erfahrung bestä¬ tigt wird, daß alle Dinge über pyramidenbildende Linien dem Auge ihr Bild schicken; und gleich große Körper werden Pyramiden mit größeren oder kleineren Winkeln haben, je nach dem Unterschied ihres Abstands (vom Auge). Unter pyramidenbildenden Linien verstehe ich diejenigen Geraden, die von den äußeren Rändern der Körper ausgehen und in der Feme in einem Punkt zusammenlaufen. Punkt nennt man, was sich an keiner Stelle mehr teilen läßt, und dieser Punkt ist der, der sich im Auge befindet und die Punkte aller Pyramidenspitzen in sich aufnimmt.« Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.246 20 vgl. hierzu Freud, Sigmund, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: Sudienausgabe Bd.X, Frankfurt a.M. 1969, S.127 21 vgl. in diesem Zusammenhang auch noch einmal das zweite Zitat von Leo¬ nardo auf S.37. Die zweite Pyramide, welche sich aus der ersten (dem ei¬ genen zentralperspektivischen Sehen) ergibt, entspricht dem Punkt im Auge des anderen und den Linien, die an den eigenen Ohren und den Bildohren vorbeiführen. 22 vgl. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin 19802, S.71 ff. 111

chen Korrelate des Bewußtseins im Verhältnis zur Vorstellung geht, das sich als ein ich sehe mich mich sehen abzeichnet. (...) Welche Evidenz kann diese Formel für sich beanspruchen? Wie kommt es, daß sie alles in allem jenem grundlegenden Modus verhaftet bleibt, auf den wir uns im cartesianischen cogito bezogen haben, durch das das Subjekt sich als Denken begreift? (...) den Phänomenologen ist es gelungen, sehr genau und überra¬ schend festzustellen, daß es völlig klar ist, daß ich draußen sehe, daß die Wahrnehmung nicht in mir ist, daß sie auf den Gegenständen ist, die sie erfaßt. Trotzdem ist es so, daß ich die Welt in Form einer Wahrnehmung auffasse, die von der Immanenz des ich sehe mich mich sehen auszugehen scheint. Das Privileg des Subjekts scheint sich hier aus jener zweipoligen reflexiven Beziehung zu ergeben, die bewirkt, daß von dem Punkt an, wo ich wahrnehme, meine Vorstellungen mir gehören."23 Die Formel "ich sehe mich mich sehen" ist Ausdruck des Versuchs, den Blick, in welchem sich das Begehren2^ Geltung verschafft, zu kontrollieren. Der Blick ist eines jener privilegierten "a-Objekte", die die Spaltung des Subjekts markieren.23 Im Gegensatz zu den anderen "a-Objekten" ist der Blick allerdings flüchtig, "nicht zu fassen".26 Lacan charakterisiert den Blick als die Kehrseite des Bewußtseins des Subjekts der Vorstellung.2^ Dieses benutzt als Werkzeug der Beherrschung des Blickes das geometrale Sehen, in welchem der Blick "elidiert" ist. Mit den Worten 'aufgeweckt' und 'hell¬ wach' als Synonyme für 'gescheit', 'verständig' wird in der Sprache zum Ausdruck gebracht, daß das Bewußtsein an Wachheit gebunden ist. Im Wachzustand blendet das Bewußtsein den Blick mit seiner Hellsicht aus, wodurch "nicht nur elidiert ist, daß es (= das Schauspiel der Welt [?], das Begehren [?], S.M.) anblickt, sondern auch daß es zeigt. Auf dem Feld des Traumes dagegen ist das Charakteristische der Bilder: daß es zeigt,"23 Auf dem Schauplatz der Träume nimmt das Subjekt die Position dessen ein, "der nicht sieht."29 Die Bewußtseinsfunktion ist soweit reduziert, daß sich das Subjekt allenfalls sagen kann, der Traum sei nur ein Traum, es kann sich aber nicht mehr als Bewußtsein dieses Traums begreifen: An die Stelle des Sehens des Subjekts der Vorstellung tritt der Blick. Die Optik ist verkehrt, ver-rückt. 23 24 25 26 27 28

Lacan 19802, s.86 f. zum Begriff »Begehren/d'esir« vgl. Danis, a.a.O., S.41 ff. vgl. hierzu Lacan 19802, a.a.O., S.67 ff.; Weber, a.a.O., S.108 ff. Lacan 19802, a.a.O., S.90 vgl. Lacan 19802, a.a.O., S.90 Lacan 19802, a.a.O., S.81; vgl. hierzu auch Freud 1982, a.a.O., S.512: »Der große G.Th. Fechner spricht in seiner Psychophysik (1889, Bd.2, 520 f.) im Zusammenhang einiger Erörterungen, die er dem Traume widmet, die Vermutung aus, daß der Schauplatz der Träume ein anderer sei als der des wachen Vorstellungslebens. Keine andere Annahme gestatte es, die beson¬ deren Eigentümlichkeiten des Traumlebens zu begreifen.« 29 Lacan 19802, a.a.O., S.82

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Exkurs: Leonardo da Vincis Versuche der Zähmung des Blickes In den Notizen Leonardos wird der eben beschriebene Vorgang der Ver¬ kehrung des Sehens im Abschnitt über den größten Fehler des Malers benannt.3^ Der größte Fehler bestehe darin, daß der Maler immer nur eine Abwandlung seiner selbst malt: "...wenn der Maler unbedeutend ist, sind seine Gestalten das na¬ türliche Abbild der Trägheit; wenn der Meister schlecht proportio¬ niert ist, dann sind seine Gestalten wie er; und wenn er verrückt ist, zeigt es sich in seinen Kompositionen in hohem Maße, denn es fehlt ihnen der logische Zusammenhang, und die Gestalten achten nicht auf das, was sie tun, sondern der eine blickt hierhin, der andere dorthin, als würden sie träumen:..."31 Leonardo weiß sehr gut um die Macht des Unbewußten (bei ihm heißt es: die Seele) Bescheid. In seiner Terminologie beschreibt er exakt die wenn auch harmlosesten Folgen des Verharrens im Spiegelstadium.3^ Sein Trug¬ schluß besteht darin zu glauben, man könne das Unbewußte durch Rationa¬ lisierungen beherrschen. Die Ursachen der Rationalisierungen Leonardos versucht Freud in dem Auf¬ satz "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" zu ergründen.33 Leo¬ nardo wuchs als uneheliches Kind bis zum fünften Lebensjahr bei seiner Mutter auf und wurde erst in den Haushalt des Vaters aufgenommen, als dessen Ehe mit einer anderen Frau kinderlos blieb. Freud vermutet, daß die Abwesenheit des Dritten, des Vaters, in der frühesten Kindheit Leonardo in eine ambivalente Beziehung zu seiner Mutter verwickelte, in welcher die Mutter vermutlich an ihm den fehlenden Mann kompensiert habe. Leonardos "kühle Sexualablehnung", die ihn dazu geführt habe, den "Zeugungsakt und alles, was damit in Verbindung steht," als einen "abscheulichen" Vorgang zu bezeichnen, sei in der frühen Kindeit angelegt worden.3^ Im Fehlen des Vaters vermutet Freud darüber hinaus den Grund dafür, daß die infantilen Sexualforschungen sich bei Leonardo zu einem außergewöhnlichen Wissens¬ drang übersteigert hätten, in welchem er gleichzeitig die unterdrückte Libido sublimieren konnte. Die Verdrängung der Kindheit und die Verwissenschaft¬ lichung des Begehrens finden ihren Ausdruck in einem Satz, den Freud als Leonardos Glaubensbekenntnis bezeichnet: "Man hat kein Recht, etwas zu lieben oder zu hassen, wenn man sich 30 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.371 f.; vgl. hierzu auch S.43 dieser Arbeit 31 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.372; Sperrung und Hervorhebung: S.M. 32 vgl. Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., ebenda: »..wenn sie (die Seele; S.M.) je¬ manden findet, der ihrem Körper ähnlich sieht, dem, den sie geformt hat, dann liebt sie ihn häufig und verliebt sich in ihn. Und daher verlieben sich und heiraten viele eine Frau, die ihnen ähnlich sieht...« 33 vgl. Freud 1969, a.a.O. 34 vgl. Freud 1969, a.a.O., S.97 u. 117 ff.; Freud führt darüberhinaus verdrängte homoerotische Wünsche, die er bei Leonardo auszumachen vermeint, auf die Erfahrungen in der Kindheit zurück; vgl. a.a.O., S.124 ff. 113

nicht gründliche Erkenntnis seines Wesens verschafft hat." Und: "..große Liebe entspringt aus großer Erkenntnis des geliebten Ge¬ genstandes, und wenn du diesen wenig kennst, so wirst du ihn nur wenig oder gar nicht lieben können."33 Liebe entspringt der Erkenntnis: In dieser Vereinseitigung zeigt sich das Subjekt der Vorstellung, das das Begehren als seinem Denken unterstellt wissen will. Ferner könnte der zweite Satz bedeuten, daß Leonardo vermit¬ tels der Erkenntnis emotionale Regungen, die ihm in der Kindheit abhanden gekommen waren, wiederzuerlangen sucht. Beides, Kontrolle und Konstitution von Affekten, ist bei ihm sehr stark an eine Ausbildung des Sehens gebun¬ den. Spiegel Mag sein, daß das Vermögen des Spiegels, alles zwar seitenverkehrt, aber naturgetreu abzubilden, Leonardo zunächst faszinierte. Darin unterscheidet er sich nicht von vielen anderen Malern. "Der Geist des Malers muß dem Spiegel ähnlich werden, der, ständig wechselnd, die Farbe dessen annimmt, das vor ihm steht und sich mit ebensoviel Abbildern füllt, wie er Gegenstände vor sich hat. (...)"36 Indem allerdings der Geist sich dem Spiegel ähnlich macht, eignet er sich auch jene Macht des Spiegels an, die ihm von Lacan im Spiegelaufsatz zuge¬ schrieben wird, nämlich die Ichfunktion zu entwerfen. Weiter soll sich nicht nur der Geist dem Spiegel ähnlich machen, sondern auch der Spiegel dem Geist: "Der Maler, der mit Routine und nur dem Auge nach malt, aber ohne nachzudenken, ist wie ein Spiegel, der alles vor ihm Befindliche abbil¬ det, ohne etwas davon zu wissen."3^ Die Macht des Spiegels, das Subjekt zu erschaffen, wird ergänzt durch das "Nachdenken" des Subjekts und bewirkt, "DASS DER MALER DER HERR Uber alle arten von Leuten und über alle dinge ist."38 Durch die Verknüpfung der Spiegelfunktion mit der Ratio wird die Kreatur zum Schöpfer, dessen Sehen allumfassend ist wie das Sehen Gottes in der Be¬ schreibung von Nicolaus von Cues. "Wenn der Maler Schönheiten sehen will, die imstande sind, ihn ver¬ liebt zu machen, ist er fähig, solche zu schaffen, und wenn er un¬ heimliche Dinge sehen will, die ihn erschrecken, oder komische oder lächerliche oder wahrhaft mitleiderregende, so kann er dies als Herr und Gott tun. (...) Alles, was als Wesen, als Dasein oder als Vorstel35 36 37 38 114

Freud 1969, a.a.O., Leonardo da Vinci Leonardo da Vinci Leonardo da Vinci

S.100 1990, 1990, 1990,

f. a.a.O., S.164 a.a.O., S.165 a.a.O., ebenda

lung im Weltall da ist, hat er zuerst in seinem Kopf und dann in seinen Händen, die sich vor allem anderen auszeichnen, daß sie eine ebenmäßige Harmonie schaffen, die ein einziger Blick gleichzeitig erfassen kann so wie die Dinge selbst,"39 Der Geist als denkender Spiegel exemplifiziert die Formel "ich sehe mich mich sehen" und erklärt, warum Leonardo in seinen Aufzeichnungen sich selbst häufig mit "du" anspricht: Er betrachtet sich aus der Sicht des den¬ kenden Spiegels. Aus dieser Sicht kommt er dem Narzißmus auf die Spur, jener - wie er es umschreibt - Fernsteuerung durch die Seele. Leonardo sieht aus der Sicht des denkenden Spiegels sich selbst als einen zerstückel¬ ten Körper und erhebt die Zerstückelung zum Programm, um "eine eben¬ mäßige Harmonie (zu) schaffen." "Also, Maler, sieh dir deinen häßlichsten Körperteil gut an und schaffe Abhilfe durch die Beschäftigung mit ihm; denn wenn du wie ein Vieh aussiehst, werden auch deine Gestalten so aussehen und keinen Geist haben, und in gleicher Weise wird alles, was du an Gutem oder an Dürftigem an dir hast, bei deinen Gestalten durchscheinen."4° In der Parzellierung haben wir ein entscheidendes Merkmal des perspek¬ tivischen Sehens erkannt. Bei Leonardo treten anatomische Studien hinzu: Er zerschneidet mit dem Auge den Körper nicht nur an der Oberfläche, sondern schneidet in ihn hinein, zerlegt ihn in Organe, Muskeln, Sehnen, Nerven¬ stränge und ist nicht weit davon entfernt, den Blutkreislauf zu entdecken (Abb. 7).41 Der denkende Spiegel wird so um eine Funktion erweitert, die ihn befähigt, nach innen zu sehen und malend Körper nicht nur an der Oberfläche, sondern von innen heraus zu gestalten: "Das göttliche Wesen der Wissenschaft des Malers bewirkt, daß sich sein Geist in ein Abbild göttlichen Geistes verwandelt („)."42 Letzte Zweifel über die Unvoreingenommenheit des eigenen Auges bei der Beurteilung des Gesehenen räumt Leonardo aus dem Wege, indem er das mit dem denkenden Spiegel erzeugte Bild erneut spiegelt^3 Das seitenver¬ kehrte Bild erscheint ihm wie das Werk eines Fremden und erleichtert durch diese Distanzierung das Auffinden von Fehlern. Die Reflexion der Reflexion der Reflexion nimmt das Subjekt in einem gesteigerten Egozentrismus gefangen und potenziert die Macht des Ima39 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., ebenda; Hervorhebung durch mich, S.M. 40 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.371; vgl. auch S.43 dieser Arbeit 41 vgl. Leonardo da Vinci, Anatomische Zeichnungen aus der königlichen Bi¬ bliothek auf Schloß Windsor, Hamburger Kunsthalle 1979, Gütersloh 1979 42 Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.165 f.; diese und ähnliche Aussagen Leo¬ nardos machen es verständlich, daß Leonardo von vielen Seiten dem Ver¬ dacht der Häresie ausgesetzt war und Freud vermutet, Leonardo habe sich immer weiter von Kirche und Glauben entfernt; vgl. Freud 1969, a.a.O., S.146 f. 43 vgl. Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.206 u. 378; zur Spiegelung von Bil¬ dern vgl. auch Lacan 19802, a.a.O., S.121 f.: Die Fremdheit des gespiegelten Bildes rührt nach Lacan daher, daß die im Bild verborgene gestische Be¬ wegung des Malaktes die Umkehrung nicht mitzumachen vermag. 115

ginären.44 Ähnlich dem Kind im Spiegelstadium zerfällt das durch die Ver¬ vielfältigung der Spiegelungen konstituierte Individuum der Renaissance in zwei sich widerstreitende Dispositionen: die der Allmacht und die der Angst vor der Destruktion des gefährdeten Selbstbildes.4^ Die Unterdrückung des Blickes bei Leomurdo da Vinci Die Elidierung des Blickes läßt sich bei Leonardo ähnlich idealtypisch be¬ schreiben wie das Gefangensein in der Selbstreflexion. Zu Beginn des Kapi¬ tels über die Veränderung des Sehens wurde eine Beschreibung Leonardos der beiden Pyramiden des perspektivischen Sehens zitiert.4^ Die beiden Pyramiden sind scheinbar identisch mit einem Schema, mit welchem Lacan die Unterscheidung des Subjekts der Vorstellung (Sehen) und des Subjekts des Begehrens (Blick) im Felde der optischen Wahrnehmung darstellt:4^

Während allerdings bei Leonardo die zweite Pyramide (im Schema das Drei¬ eck auf der linken Seite) mit der Basis gegen das Auge und der Spitze am Horizont sich aus der ersten (umgekehrten) ergibt, also ebenfalls vom Sub¬ jekt der Vorstellung aus und unter dessen Kontrolle gedacht wird, manife¬ stiert sich bei Lacan im diffusen Feld der Überschneidung der beiden Pyra¬ miden die Spaltung des Subjekts. Das Subjekt der Vorstellung sieht durch einen realen (Dürers Pförtchen) oder virtuellen Rahmen, ordnet dadurch den Raum und sieht diesen als ein Bild. Gleichzeitig wird das Subjekt des Be¬ gehrens von den Dingen durch den Schirm (die Kehrseite des Rahmens) erblickt. Zur Funktionsweise des Schirms gibt Lacan ein anschauliches Bei¬ spiel: 44 vgl. hierzu Kleinspehn 1989, a.a.O., S.S6 f. 45 zum Allmachtsgefühl vgl. auch Burckhardt, Jacob, Die Kultur der Renais¬ sance in Italien, o.O. 1956, S.72: »..wie die Größten der Renaissance sagte auch er (L.B.Alberti, der erste Theoretiker der Perspektive; S.M.): 'Die Menschen können von sich aus alles, sobald sie wollen.'«, zur Gefährdung des Selbstbildes vgl. Kleinspehn 1989, a.a.O., S.57 ff. 46 vgl. auf S.37 das Zitat von Leonardo nach Gebser 47 vgl. Lacan 19802, S.97 u. 112 116

"Wenn ein Beleuchtungseffekt, der isoliert auftritt, über uns zu herr¬ schen beginnt, wenn beispielsweise ein Lichtstrahl unsern Blick leitet und fesselt, da er uns als ein milchiger Kegel erscheint, der uns hindert zu sehen, was er erhellt - so bewirkt schon der Umstand, daß wir einen kleinen Schirm in dieses Feld halten, der sich gegen das abhebt, was beleuchtet ist, ohne gesehen zu werden, daß das milchige Licht sozusagen wieder in den Schatten zurücktritt und das Objekt auftaucht, welches von dem Objekt verdeckt war. Es geht hier auf der Wahrnehmungsebene um das Phänomen einer Beziehung, die in einer essentielleren Funktion erfaßt werden muß. Das heißt: in ihrem Verhältnis zum Begehren erscheint die Realität nur als marginal.”48 Sowie das Subjekt der Vorstellung sein Sehen auf die Realität einstellt, verbirgt die den Dingen zugewandte Seite des Rahmens (der Schirm) den Bück und macht das Begehren unsichtbar. Erst im Traum verschwindet der Rahmen und mit ihm der Schirm, die Dinge verlieren die durch das wache Sehen erstellte Ordnung, aber es wird an ihnen ein BUckhaftes sichtbar: "In einem Traum ist das Subjekt ein Schmetterling. Was besagt das? Es besagt, daß das Subjekt den Schmetterling in seiner Realität als Blick sieht."49 Leonardo dagegen hat das System Bild/image -Schirm8® in einer für seine Zeit beispiellosen Weise ausdifferenziert. Durch eine Kombination von Selbst-Bespiegelungen und perspektivischem Sehen gelingt es Leonardo, alle seine Identität gefährdenden Affekte zu objektivieren. "Seine Affekte waren gebändigt, dem Forschertrieb unterworfen; er liebte und haßte nicht, sondern fragte sich, woher das komme, was er lieben und hassen sollte, und was es bedeute, und so mußte er zu¬ nächst indifferent erscheinen gegen Gut und Böse, gegen Schönes und Häßliches. Während dieser Forscherarbeit warfen Liebe und Haß ihre Vorzeichen ab und wandelten sich gleichmäßig in Denkinteresse um.”^ Das kontrollierte Forscherauge Leonardos vermag mit wissenschaftlichem Interesse die "von Angst verzerrten Mienen" zum Tode Verurteilter zu studieren und abzuzeichnen; es imaginiert grausame Kriegsmaschinen ebenso wie Bilderrätsel und betrachtet die Geschlechtsorgane und den Geschlechts¬ akt ausschließlich als Übungsfeld anatomischer Skizzen.8^ Nur ein einziges Mal, so scheint es, wurde Leonardos Bild-Schirm von einem Blick durch¬ schlagen: von dem Lächeln der Mona Lisa del Gioconda, "'jene(m) undurch¬ dringlichein) Lächeln, welches bei Leonardo stets wie mit etwas Unheilver¬ kündendem verbunden scheint. (...) Wir können verfolgen, wie es sich von 48 Lacan 19802, a.a.O„ S.114f. 49 Lacan 19802, a.a.O., S.82; vgl. hierzu Benjamins Text »Schmetterlingsjagd« in: Benjamin, GS IV.l 1980, a.a.O., S.244 f. 50 vgl. das Schema auf der vorangegangenen Seite und S.43 51 Freud 1969, a.a.O., S.101 52 vgl. Freud 1969, a.a.O., S.96 ff.; Leonardo da Vinci 1977, a.a.O., 16 A ff.; zu den Bilderrätseln (in den Manuskripten Leonardos als Prophezeiungen beti¬ telt) Leonardo da Vinci 1990, a.a.O., S.330 ff.; zu den Kriegsmaschinen vgl. Burckhardt a.a.O., Abbildungen 61 f. 117

Kindheit auf in das Gewebe seiner Träume mischt Freud vermutet, daß Leonardo im Lächeln der Gioconda das Gesicht der Mutter wiedererin¬ nerte und von diesem so gebannt war, daß er es in edlen der "Mona Lisa" folgenden Gemälden wiederholt.54 Die Begegnung des Auges mit dem Text "Schlage ich ein Buch zum Lesen auf, so sehe ich verworren die ganze Seite.”55 Der entscheidende Augenblick: für einen Moment erscheint die Seite als ei¬ ne Textur, deren Sinn noch unentschieden ist. Kurz darauf ergreifen die Augen das erste Wort und der Verworrenheit ist ein Ende gesetzt. Im Übergang von der Betrachtung der ganzen Seite zur Einrichtung der Augen auf das erste Wort schaltet sich der Bild/rma^e-Schirm ein. Die Augen werden üblicherweise zwangsverpflichtet auf die zweite Pyramide des per¬ spektivischen Sehens, jene, die nach Leonardo ihre Basis gegen das Auge hat und eine "besondere Stelle betrifft”5^ Lacans Schema zufolge aber werden die Augen auf den Blick fixiert. Im Augenblick, da die Augen das Wortgesicht5'7 erfaßt haben, findet die Erhellung statt, aber wo: in den Augen des Lesers, in seinem Kopf, in den Augen des Wortgesichts oder gar im "Kopf des Wortes"? Das Subjekt der Vorstellung wird antworten: "in meinem Kopf" oder viel¬ leicht "in meinen Augen". Wie gezeigt, leitet das Subjekt der Vorstellung die die besondere Stelle betreffende Pyramide aus der ersten, den Raum ord¬ nenden Pyramide ab, als deren Herr es sich begreift. Es könnte zudem auch sein, daß das Subjekt der Vorstellung einen "Wortkopf ausheckt, um sich in den Augen desselben zu spiegeln 58 Die Erhellung geschähe dann scheinbar im Augenpunkt, ein wenig hinter dem Spiegelbild im Auge des "Wortkopfs". Während der Spiegelung vermeint das Subjekt der Vorstellung beim Ins-Auge-fassen des Wortes einen Sinn vorzufinden: ein Signifikat. Das Wortge¬ sicht (Signifikant) aber bleibt bei diesem Vorgang verborgen: Es dient nur als Spiegelfläche und ist wegen des zu genauen Fixierens der Augen abge¬ schirmt. Moosbrugger möchte den Dingen die Köpfe abschlagen, um ihnen den eige¬ nen aufsetzen zu können. "Er hatte die Dinge dann gern."59 Das Subjekt der Vorstellung dagegen schlägt den Worten die Köpfe ab, um ihnen jeweils 53 W.Pater zitiert nach Freud 1969, a.a.O., S.135 54 vgl. Freud 1969, a.a.O., S.132 ff.; das Lächeln der Mona Lisa wird ziemlich durchgängig als zugleich verführerisch und kalt, seelenlos beschrieben. Be¬ merkenswert scheint mir auch der Bildhintergrund der 'Mona Lisa’, eine geradezu apokalyptische Gegend, die einen wie mehrere andere Bildhinter¬ gründe Leonardos an die >Eiswüsten der Ratio< gemahnt. 55 vgl. das Zitat von Cusanus, S.37 56 vgl. das zweite Leonardo—Zitat auf 37 57 vgl. das Wittgenstein-Zitat auf S.95, Fn. 42 58 vgl. S.111; der Augenpunkt ist die Spitze der ersten Pyramide 59 vgl. S.107 118

den eigenen aufsetzen zu können. Es hat die Worte dann gern. Das Gefühl der Macht stellt sich sowohl bei Moosbrugger wie beim Subjekt der Vor¬ stellung aufgrund einer perspektivischen ("geomeralen")60 Sehweise ein, nur auf verschiedenen Ebenen: Moosbrugger scheint es so, als gehorchten ihm plötzlich die Dinge, während das Subjekt der Vorstellung sich die Sprache unterwirft und zu einem Instrument der Herrschaft ausbaut. Diesem ist auch der weitgehend sprachlose Moosbrugger hilflos ausgeliefert.6* Die Fixierung der Augen auf das erste Wort schaltet den BM/image -Schirm ein. Im Moment der Anvisierung des Blickes wird dieser unsichtbar. Der Lesende sieht das Wort, er sieht aber nicht, daß das Wort ihn durch den Schirm anblickt. Der Vorgang selbst dauert nur einen Bruchteil einer Sekunde, das sehende Auge gleitet weiter zum nächsten Wort, und wieder wird ein Schirm installiert. Die Linearisierung und Perspektivierung des Lesens trägt dazu bei, daß das Auge immer genau auf den Blick zentriert wird und dieser dem Subjekt doch verborgen bleibt. Der jeweils bis zur Undurchdringlichkeit verdichtete Schirm läßt den Leser nur den Rand des gelesenen Wortes scharf erkennen: Dieser Umriß erscheint in seinem Ver¬ hältnis zum Subjekt des Begehrens nur als marginal.62 Das Wort wird beim perspektivischen, linearen Lesen von der Netzhaut¬ grube (Fovea) erfaßt. Diese ist spezialisiert auf das distinktive Sehen, nimmt aber keine Lichtwirkungen wahr. Der Blick, der sich allenfalls als ein Schil¬ lern auf dem Schirm zeigt, bleibt unsichtbar, solange das Wort allein von der Fovea erfaßt wird. Die Kontrolle des Blicks durch das perspektivische Lesen funktioniert nie ganz perfekt, denn dazu wäre eine weitgehende Arretierung des Auges wie durch Dürers Visiervorrichtung notwendig. Das Auge bewegt sich aber. In den Sprungphasen von einem Fixationspunkt zum anderen dominieren für einen Moment jene Zonen der Netzhaut, die auf die Wahrnehmung von Lichtwechseln (Bewegungen) spezialisiert sind, über die Fovea. Das Auge ist somit während der Sprünge ungeschützt gegen den Blick. Begünstigt wird dieser Effekt durch mehrere andere Elemente des Seh- und Lesevorgangs, die oben unter den Stichworten "peripheres Lesen", "Zweiäugigkeit" und "Nachbilder" behandelt wurden.63 Sobald der Blick den in der Sprungphase transparenteren Schirm durchdringt, verliert die fest umrissene Wortgestalt ihre Bedeutung. Die Buchstaben beginnen zu tanzen wie in jenem Gestöber 60 vgl. Lacan 19802, a.a.O., S.91 ff.; bei Musil ist vom »geometrischen An¬ blick« der Zelle die Rede; vgl. das Zitat auf S.107 61 »Ergrimmt ahnte Moosbrugger, daß jeder von denen (gemeint sind Ärzte, Geistliche und Juristen; S.M.) sprach, wie es ihm paßte, und daß es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehen, wie sie woll¬ ten. Er hatte das Gefühl einfacher Leute, daß man den Gebildeten die Zunge abschneiden sollte.« Musil, a.a.O., S.235 62 in Anlehnung an Lacan 19802, S.114 f.: »Es geht hier auf der Wahmehmungsebene um das Phänomen einer Beziehung, die in einer essentielleren Funktion erfaßt werden muß. Das heißt: in ihrem Verhältnis zum Begehren erscheint die Realität nur als marginal.« 63 vgl. S.77 ff. 119

der Lettern, das Benjamin in der "Berliner Kindheit" beschreibt.^' Ein Wort dringt ins andere ein, das 'Was' des erblickten Wortes, der identifizierende "Leuchtschopf Bedeutung" zieht sich zurück und weicht einer schillernden Vieldeutigkeit. Das Gleiche geschieht, wenn ein Wort zu genau fixiert oder mit sehr gerin¬ gem Abstand zum Auge betrachtet wird.66 "Vollendeter ist nie die Sprache vom Geist geschieden, nie inniger an den Eros gebunden worden als Kraus es in der Einsicht getan hat: 'Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.' Das ist platonische Sprachliebe. Die Nähe aber, der das Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim. So wird das erotische Urverhältnis von Nä¬ he und Ferne in seiner Sprache laut: als Reim und Name."66 Stillgestellt oder direkt vor das Auge gehalten verschwimmt die Wortgestalt. Die "Scheidung vom Geist" rührt her aus dem Umschlag des perspektivischen Lesens in die vom Blick erzeugte Ambiguität. Das perspektivische, lineare Lesen sondert die Worte voneinander durch Vereinzelung und genaues Er¬ fassen ihrer jeweiligen Gestalt. Wie aber das Wort "sondern" “seine Bedeu¬ tung verliert und ein bloßer Klang wird, wenn es zehnmal nach der Reihe ausgesprochen wird"67, verliert auch das vom Blick erfaßte Wort nach und nach seine Bedeutung und wird zum bloßen, optischen Klang, einer Schwin¬ gung von Grautönen. "Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung ver¬ nimmt."68 Das durch den Reim erzeugte Rauschen, in welchem die von der Bedeutung verschiedenen Wörter im Gleichklang kondensieren, ist das akustische Ge¬ genstück zum Interferenzmuster im Grau der erblickten Wortgestalt. Reim und Graumuster ("das Dunkle ist wie vor der Schöpfung ungeschieden vom Hellen"; 1,210) spannen den Bogen der Ähnlichkeit zwischen den Worten. "Die Bücher standen nicht, sie lagen; und zwar in seiner (der des Schrankes, S.M.) Wetterecke. In ihnen ging es gewittrig zu. Eins aufgeschlagen, hätte mich mitten in den Schoß geführt, (...)"69 Das Kind in "Schmöker" träumt von Büchern; nach Lacan kann es im Traum nicht sehen, sondern nur im Blick sich bewegen. Was zeigt sich da? Gewit¬ terblitze. Im Blick werden Illuminationen erzeugt. Der Reim wiederum läßt die Ohren klingeln. "Liebe ist die Fähigkeit, Ähnlichkeit an Unähnlichem wahrzunehmen."'7® Im Bück wird die Macht des Begehrens freigesetzt. Die Schrift entläßt in den Interferenzmustern der vom Blick erfaßten Worte die Ähnlichkeit des 64 65 66 67 68 69 70

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vgl. S.93 vgl. S.79 Benjamin, Walter, Karl Kraus, in: Illuminationen, Frankfurt a.M. 19843, S.378 vgl. das Wittgenstein-Zitat auf S.95 Benjamin 19843, S.378 vgl. S.94, Fn. 34 Adorno, Theodor W., Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1991, S.253

vom Sehen Unterschiedenen. Im sogenannten Wachzustand durch den instal¬ lierten Bild-Schirm unterdrückt, macht der Blick nur im Verlesen auf sich aufmerksam, dann also, wenn eine fremde Wortgestalt in die auf dem Papier anwesende schlüpft. Durch die Maske des unterschiedenen Wortes wird der Leser von einem anderen Wort angeblickt oder angesprochen, je nachdem, ob die Ähnlichkeit im visuellen oder im akustischen Feld angesiedelt ist. Im Verlesen ist der Leser dem Appell an das Begehren durch den Blick ausge¬ liefert, er unterliegt dem imaginären Befangensein. Nach Lacan steht dem Subjekt aber eine Möglichkeit zur Verfügung, sich dem imaginären Zwang teilweise zu entwinden: "Wie das? In dem Maße, wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt. Tatsächlich vermag der Mensch mit der Maske zu spielen, ist er doch etwas, über dem jenseits der Blick ist. Der Schirm ist hier der Ort der Vermittlung." Das Spiel mit dem Schirm, mit Masken und Verkleidungen schildert Walter Benjamin in "Mummerehlen": "Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. Nur meinem eigenen Bilde nie. Und darum wurde ich ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Lein¬ wandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres. (...) das gequälte Lächeln um den Mund des kleinen Älplers ist nicht so betrü¬ bend wie der Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt. (...) Ganz abseits, neben der Portiere, stand die Mutter starr, in einer engen Taille. Wie eine Schneiderfigurine blickt sie auf meinen Samtanzug, der seinerseits mit Posamenten überladen von einem Modeblatt zu stammen scheint. Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr."^ Im Photoatelier giert die Umgebung vieläugig nach einem identifizierenden Bild des Knaben. Die auf ihn ausgerichteten Augen sind perspektivisch zugerichtet. Als Symbol dieses Sehens kann die Kamera aufgefaßt werden, wahrscheinlich eine Plattenkamera. Den Betrachtern selbst unbewußt, senken sich ihre "Augen voll Gefräßigkeit" (Lacan) auf das Kind. Nicht Leinwand71 72

Lacan 19802, S.114 Benjamin, GS IV.l 1980, a.a.O., S. 261; Hervorhebung durch mich, S.M.

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schirme sind es, die ihnen die wahre Qualität ihres Sehens verstellen. Die Augen des Kindes erblicken das identifizierende Sehen in der Umgebung, gerade weil sie die Augen, von denen dieses ausgeht, nicht sehen. Und Walter Benjamin vermag nachträglich im Blick des Knaben, der er selbst einst war, die Gewalt des identifizierenden Sehens zu entziffern. Die Mutter versenkt ihre Augen im Samtanzug des Kindes, sie senkt ihre Augen vor dem Blick des Kindes, das sie vermutlich hilfesuchend anschaut. Instinktiv folgt das Kind in der Situation, in welcher es identifiziert und auf den Be¬ griff Älpler gebracht werden soll, dem "alten Zwang, ähnlich zu werden und sich zu verhalten". In einer Art Mimikry verschwindet es in der Umgebung, die Ähnlichkeit mit allen Dingen entstellt und rettet es vor dem Festgelegt¬ werden im positiven Bilde. Das Kind hinterläßt seine Spuren in den es um¬ stellenden Dingen, in dem Muschelgehäuse, von dem es umschlossen ist, ähnlich dem nicht gesagten Wort ("allen Wörtern unähnlich und gemein¬ sam"; 1,80) im Johannes-Prolog, das sich in den es umkreisenden Wörtern negativ abdrückt. Im umschließenden Muschelgehäuse erkennt Walter Benjamin eine Allegorie des neunzehnten Jahrhunderts. Inzwischen erwachsen und ins zwanzigste Jahrhundert entwachsen, hält er sich das Muschelgehäuse ans Ohr. Wie man im Rauschen einer Muschel das Rauschen des Meeres und also den Ursprung des Eingedenkens zu horchen vermeint^ und doch nur die Quelle des eige¬ nen Lebens, nämlich die Zirkulation des Blutes, hört, so vermeint Walter Benjamin in der allegorischen Muschel die Quelle der Erinnerung an die Kindheit selbst zu hören. Was er hört, "ist das kurze Rasseln des Anthrazits, der aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen niederfällt, (...) und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbei¬ kommt. Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüssel¬ korbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und der Hintertreppe; endlich ist auch ein Kindervers dabei: 'Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.' Das Versehen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz. Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen als ich es zuerst gesagt bekam. Die Mummerehlen war noch schwerer aufzuspüren." 74 Die in der Muschel erlauschten Geräusche sind all jene, an die sich das Kind, sich in sie bergend, verlor. Wie aus Versehen entspringt den Ge¬ räuschen auch ein Versehen, in welchem das Reimwort entstellt ist. Es sei hier nochmals auf das Zitat von Benjamin zum Reim verwiesen: "Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache ge73 »(...) Es nehmet aber/ Und gibt Gedächtnis die See,/ Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,/ Was bleibet aber, stiften die Dichter.« aus: Höl¬ derlin, Andenken, in: ders., Werke und Briefe Bd.l, hrsg.v. Beißner, F. u. Schmidt, J., Frankfurt a.M. 1982, S.196 74 Benjamin GS IV.l, 1980, a.a.O., S.262 122

langt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt."78 Mit dem Kamm der Sprache könnte jene Wasserscheide bezeichnet sein, welche die semiotische Seite von der mimetischen Seite der Sprache und die Magie des Urteils von der Magie des Namens trennt.76 Mit der 'Muhme Rehlen' gelangt das Kind im Reim auf erzählen' auf den Kamm der Sprache. Im Übergang von der 'Muhme Rehlen' zur 'Mummerehlen ("weil mir nun 'Muhme' nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen")77 überschreitet das Kind den Kamm der Sprache und läuft auf der mimetischen Seite der Sprache talwärts, dorthin, wo die Quellen im Ursprung rauschen. Das blickhafte Hören entstellt das Wort und nähert es dem reinen Klange an.78 Auf der Suche nach der 'Mum¬ merehlen' wechselt die Wahrnehmung von der akustischen zur visuellen Sphäre: "Gelegentlich vermutete ich sie im Affen, welcher auf dem Teller¬ grund im Dunst von Graupen oder Sago schwamm. Ich aß die Suppe, um ihr Bild zu klären. Im Mummelsee war sie vielleicht zu Haus und seine trägen Wasser lagen ihr wie eine graue Pelerine an. Was man von ihr erzählt hat - oder mir wohl nur erzählen wollte -, weiß ich nicht. Sie war das Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem 75 vgl. S.122, Fn. 66 und auch die von Eich zitierte Stelle aus Hölderlins »Andenken«: »(...) Mancher / Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn; / Es be¬ ginnet nämlich der Reichtum / Im Meere. (...)« Hölderlin 1982, a.a.O., S.195 76 »Diese Seite von der Sprache wie der Schrift (die mimetische, das Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeiten enthaltende; S.M.) läuft aber nicht bezie¬ hungslos neben der anderen, der semiotlschen einher. Alles Mimetische der Sprache kann vielmehr, der Flamme ähnlich, nur an einer Art von Träger in Erscheinung treten. Dieser Träger ist das Semiotische. So ist der Sinn¬ zusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt. Denn ihre Erzeugung durch den Men¬ schen ist - ebenso wie ihre Wahrnehmung durch ihn - in vielen und zumal den wichtigen Fällen an ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei. Nicht unwahrscheinlich, daß die Schnelligkeit des Schreibens und des Lesens die Verschmelzung des Semiotischen und des Mimetischen im Sprachbereiche steigert.« aus: Benjamin, Walter, Lehre vom Ähnlichen, in: GS II.1, 1980, a.a.O., S.213 »Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, der aus der Namensprache, der er¬ kennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll et¬ was mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der SUndenfall des Sprachgeistes. Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaf¬ fende Gotteswort, und der Verfall des seligen Sprachgeistes, des adamitischen, der zwischen ihnen steht. (...) Seine Magie (die des mitteilenden, richtenden Wortes; S.M.) ist eine andere als die des Namens, aber gleich sehr Magie.« aus: Benjamin, Walter, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: GS II.1, 1980, a.a.O., S.153 77 Benjamin GS IV.l 1980, a.a.O., S.260 78 »Wenn Benjamin meinte, daß in Malerei und Plastik die stumme Sprache der Dinge in eine höhere, aber ihr ähnliche übersetzt sei, so ließe von der Musik sich annehmen, daß sie den Namen als reinen Laut errettet - aber um den Preis seiner Trennung von den Dingen.« aus: Adorno 199120, a.a.O., S.298 123

Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt. Manchmal wurde ich darin umgetrieben. Das war, wenn ich beim Tuschen saß. Die Farben, die ich mischte, färbten mich. Noch ehe ich sie an die Zeichnung legte, vermummten sie mich selber."79 Der 'Mummerehlen' nachspürend eignet sich das Kind die Möglichkeit an, den Dingen in einer Weise zu begegnen, die sie von der Überbenennung und Uberbestimmung durch die mitteilende Sprache (die Magie des urteilenden Wortes) erlöst.®® Die 'Mummerehlen' ist der Schirm, mit dem das Kind spielt, mit dem es seinen Mummenschanz treibt. Deren Unbestimmtheit färbt ab auf die Dinge, auch sie verlieren ihre scharfen Konturen und wer¬ den zu Schleiern, in die das Kind sich hüllt. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verfließen. Das Spiel mit dem Schirm charakterisiert somit eine Variante des (Sich-) Spiegelns in der Umwelt, die sich radikal von der Re¬ flexion im "Spiegelstadium’’ unterscheidet. Die Reflexion im ''Spiegelstadium" erzeugt einen Panzer, der als Identität aufgefaßt wird, diese durch seine Starrheit beeinträchtigt und Aggressionen freisetzt, sobald das Selbst-Bild durch den Blick gefährdet wird.°^ Beginnt das Subjekt mit dem Schirm zu spielen und die Umwelt wie sich selbst als mit Spiegelfragmenten überzoge¬ ne Zerrspiegel zu verwenden, dann vermag es zuweilen den Panzer zu ver¬ lassen und die Worte und die Dinge ebenfalls aus ihren durch das perspek¬ tivische Sehen geschaffenen Korsetten zu befreien. 5.3. Verlesen: Der Blick begehrt auf gegen seine Unterdrückung "In einer übergroßen Anzahl von Fällen ist es (..) die Bereitschaft des Lesers, die den Text verändert und etwas, worauf er eingestellt ist oder womit er beschäftigt ist, in ihn hineinliest. Der Text braucht dem Verlesen nur dadurch entgegenzukommen, daß er irgendeine Ähnlichkeit im Wortbild bietet, die der Leser in seinem Sinne verän¬ dern kann. Flüchtiges Hinschauen, besonders mit unkorrigiertem Auge, erleichtert ohne Zweifel die Möglichkeit einer solchen Illusion, ist aber keineswegs eine notwendige Bedingung für sie."®^ In dem Aufsatz "Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud" versucht Lacan das Verhältnis von Sprache und Un79 Benjamin GS IV.l, 1980, a.a.O., S.262 80 »Im Verhältnis der Menschensprachen zu der der Dinge liegt etwas, was man als >Überbenennung< annähernd bezeichnen kann: Uberbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens. Die Uberbenennung als sprachliches Wesen des Trau¬ rigen deutet auf ein anderes merkwürdiges Verhältnis der Sprache: auf die Uberbestimmtheit, die im tragischen Verhältnis zwischen den Sprachen der sprechenden Menschen waltet.« aus: Benjamin II.1 1980, a.a.O., S.155 f. 81 vgl. Lacan 1986, a.a.O., S.67 f. 82 Freud, Sigmund, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a.M 1985, S.93

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bewußtem zu erläutern.83 Lacan nimmt den Saussureschen Algorithmus als Ausgangspunkt, "zu lesen als Signifikant über Signifikat, wobei das 'über' dem Balken entspricht, der beide trennt."84 Wie Saussure faßt Lacan die Signifikation nicht als Repräsentation eines Dings durch ein Zeichen, sondern als Artikulation auf.88 Lacans Zeichenbegriff unterscheidet sich von dem Saussures dadurch, daß er dem Signifikanten den Primat vor dem Signifikat einräumt (jedes Signifikat muß einmal Signifikant gewesen sein)8^ und den Balken zwischen Signifikant und Signifikat für weitgehend undurchdinglich hält: "... der Strich, der bei Saussure die zwei Dimensionen des Zeichens voneinander zwar trennte, aber nur, um sie dann im totalen Zeichen um so endgültiger zu vereinen, wird nunmehr zu einer 'barre' - einer Sperre, die zwar Bedeutung (signification) ermöglicht, aber, wie Lacan schreibt, ihr gleichzeitig widerstrebt.”8'7 Die Signifikanten werden im Diskurs zu syntagmatischen Reihen verknüpft und konstituieren dadurch Sinn. "Man kann (..) sagen, daß der Sinn in der Signifikantenkette insi¬ stiert, daß aber nicht ein Element der Kette seine Konsistenz hat in der Bedeutung, deren es im Augenblick gerade fähig ist."88 Unter den anwesenden Signifikanten gleitet das Signifizierte, aber nicht als zweite Linie, welche jedem Signifikanten ein Signifikat gegenüberstellt, sondern als Partitur, in welcher zu jedem Signifikanten all seine früheren Verwendungen sich potentiell in dessen Ober- und Unterstimmen artikulieren. "Es genügt aber, der Poesie zu lauschen, (...) damit eine Vielstim¬ migkeit sich vernehmen läßt, und dein jeder Diskurs sich ausrichtet nach den verschiedenen Dimensionen einer Partitur. Tatsächlich gibt es keine signifikante Kette, die, gleichsam an der Interpunktion jeder ihrer Einheiten eingehängt, nicht alles stützen würde, was sich an bezeugten Kontexten artikuliert, sozusagen in der Vertikalen dieses Punkts. 83 Lacan, Jacques, -, in: ders., Schriften II, Weinheim, Berlin 1986, S.15-56 84 Lacan 1986 II, a.a.O., S.21 85 vgl. Lacan 1986 II, a.a.O., S.26 und Weber, Samuel M., Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1978, S.25 ff. 86 »Die Linguistik hat nicht allein unterschieden das eine von dem anderen, das Signifikat und den Signifikanten. Wenn es etwas gibt, das uns einfüh¬ ren kann in die Dimension des Geschriebenen als solchen, so ist es, zu gewahren, daß das Signifikat nichts zu tun hat mit den Ohren, sondern al¬ lein mit der Lektüre, der Lektüre dessen, was man vernimmt von Signifi¬ kantem. Das Signifikat, das ist nicht das, was man vernimmt. Was man vernimmt, das ist der Signifikant. Das Signifikat, das ist der Effekt des Signifikanten.« aus: Lacan, Jacques, Die Funktion des Geschriebenen, in: ders., Encore, Seminar XX, Weinheim, Berlin 19912, S.38; zur >Vor-Läuflgkeit< des Signifikanten vgl. auch Derrida, Jacques, Grammatologie, Frank¬ furt a.M. 19882, s.17 87 Weber 1978, a.a.O., S.39 88 Lacan 1986 II, a.a.O., S.27; vgl. auch das Zitat von Roland Barthes auf S.105 dieser Arbeit

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So sehen wir, wenn wir unser Wort arbre (Baum) wieder aufgreifen, und zwar nicht mehr in seiner nominalen Vereinzelung, sondern an einer dieser Interpunktionen, daß wir es nicht allein der Tatsache, daß das Wort barre (Balken) sein Anagramm ist, zu verdanken haben, daß es den Balken des Saussureschen Algorithmus durchbricht."89 Indem das Wort 'Baum' vergangene Kontexte, und Lacan nennt hier vor al¬ lem einige symbolische Verwendungen, in den Text hineinträgt, insistieren seine Buchstaben.9® Die entgegengesetzte Bewegung beschreibt Lacans Metaphern-Begriff, der innerhalb der Metaphern-Theorien unter die Substi¬ tutionstheorie einzuordnen ist. Nach Lacan ersetzt das metaphorisch ver¬ wendete Wort ein anderes, "wobei der verdeckte Signifikant gegenwärtig bleibt durch seine (metonymische) Verknüpfung mit dem Rest der Kette."9* Das Herbeizitieren vergangener Kontexte und die metaphorische Substitution eines Wortes setzen die Ebene des Paradigmas (Systems) in Bewegung: Im ersten Fall wird der anwesende Kontext durch andere überlagert, im zweiten der anwesende, metaphorisch verwendete Signifikant durch den substituier¬ ten. Die andere, von Lacan in Anlehnung an Jakobson beschriebene Bewegung ereignet sich auf der Ebene des Syntagmas, das heißt der anwesenden Sig¬ nifikanten. Im Film wird häufig die Technik benutzt, statt des ganzen Kör¬ pers der handelnden Person nur einen bestimmten Körperteil zu zeigen. Beispielsweise sieht der Zuschauer in Robert Bressons Film "Das Geld" von einer Autoverfolgung nur die beiden Füße des Verfolgten beim Kuppeln, Bremsen und Gasgeben. Diese Art des Filmens ist metonymisch.92 Bezogen auf die Sprache heißt das: Die im Syntagma verknüpften Signifikanten reprä¬ sentieren immer nur Fragmente des Signifizierten. Besonders deutlich wird dies bei der Verwendung der rhetorischen Figur Metonymie. Lacan nennt "Zum Beispiel" (1,136) die Metonymie "dreißig Segel", welche ein "Schiff birgt.93 Im Gegensatz zur Metapher durchdringt die Metonymie nicht die Sperre zwischen Signifikant und Signifikat, sie ist die eigentliche symbolische Bewegung, während die Metapher "die Bewegung des Imaginären (verkör¬ pert; S.M.), aber innerhalb des Symbolischen, also nicht hypostasiert wie im Narzißmus des Spiegelstadiums."9^ 89 Lacan 1986 II, a.a.O., S.28 90 Ricoeur hat am Beispiel des Wortes >Gott< die Bedeutung der verschiede¬ nen Redeweisen aufgezeigt, in welchen das Wort eingebunden ist; vgl. Ri¬ coeur, Paul, Gott nennen; in: Casper, Bernhard (Hrsg.), Gott nennen Phänomenologische Zugänge, Freiburg, München 1981, S.45-79, insbes. S.57 ff. 91 Lacan 1986 II, a.a.O., S.32 92 Ein anderes Bsp. ist die Anfangssequenz von Russ Meyers »Mud Honey«. 93 vgl. Lacan 1986 II, a.a.O., S.30; Samuel Weber weist berechtigterweise da¬ rauf hin, daß auch die Metonymie nicht nur auf der Kombination mehrerer Signifikanten beruht, sondern auch auf der Substitution eines Signifikanten durch einen anderen, wodurch die Unterscheidung von Metapher und Me¬ tonymie insgesamt fragwürdig wird; vgl. Weber 1978, a.a.O., S.55 94 Weber 1978, a.a.O., S.91; s.o. S.107 ff.; die Voraus-Setzung einer Identität durch das selbstgewisse Subjekt cartesianischer Prägung ist analog der Voraus-Setzung des Signifikats vor den Signifikanten. 126

Der Signifikant Kuckuck Wollte man einen Signifikanten suchen, der als Knoten im Netz der Sprache Lacans Sprachauffassung kondensiert, man fände vermutlich keinen besseren als das Wort 'Kuckuck1. 'Zum einen': die metonymische Verknüpfung des 'einen' mit 'zum' funk¬ tioniert als Metapher und durchschlägt die Sperre 'zum anderen'. 'Zum Kukkuck': hier wiederum macht die metonymische Verknüpfung deutlich, daß Kuckuck ein Substitut für 'Teufel' ist. Verweilen wir einen Moment bei diesem. Als 'Satan' steht der Teufel anagrammatisch nahe der Geburt (natus, a) des menschlichen Wortes und dem Ende (nata, ae) des benennenden, Namen gebenden Wortes vor dem Sündenfall. "Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namenspra¬ che, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Ma¬ gie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes."^ Vor dem Sündenfall ist das Wort im Namen Ausdruck seiner selbst, die Unterscheidung von Signifikat und Signifikant also nichtig. Doch dann kommt der Widersacher als Schlange und weckt das Begehren: "Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. 95

Benjamin GS II.1, 1980, a.a.O., S.153 »Der Kukuk rufft seinen eigenen Namen auss.« (Deutsches Sprichwörterle¬ xikon , Bd.2, Stuttgart 1987, Stichwort >KukukBauenErbauung< der Frau führt: »lind Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei (wörtlich: ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber; vgl. Spiegelstadium, S.107 ff.). (...) Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute (Hervorhebung durch mich, S.M.) ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. Darum wird ein Mann sei¬ nen Vater und seine Mutter (die Nennung einer Mutter an dieser Stelle erscheint mir absolut paradox, S.M.) verlassen und seinem Weibe an¬ hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.« Genesis 2, 18 ff. (in der Einheitsübersetzung steht für >Weib< und >Männin< >FrauKopfgeburt< der Athene durch

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Der Baum als Augenweide: es begegnet uns hier zum erstenmal jener arbre, der das Anagramm barre mit sich führt; er wird zum Stammbaum der mensch¬ lichen Sprache." Mit dem Biß in den Apfel, der an dieser Stelle noch nicht den erfolgreich bestandenen Zahnarztbesuch bedeutet und auch noch nicht, um eine Werbung neueren Datums zu zitieren, durch den Einstieg in ein Auto (= Selbst = moi) ersetzt wurde, erkennen Adam und Eva, denen wie von der Schlange versprochen die Augen aufgegangen sind (der Blick ist geweckt), daß sie sonder-bar sind, nämlich bloß. Der Satan, von dessen Anagrammen eines auch 'heilig' ist," öffnete Adam und Eva vermutlich die Augen für die Differenz, was Benjamins These un¬ termauern würde, daß mit dem Sündenfall die Geburtsstunde des menschli¬ chen Wortes bezeichnet ist. Worin aber besteht die Differenz? Sie besteht in der An- bzw. Abwesenheit eines weiteren Signifikanten, der durch ’Kukkuck' substituiert wird, des Phallus." "Wie der 'linguistische' Signifikant sich allein in der Opposition diffe¬ rentieller Merkmale konstituiert, bezeichnet auch der Phallus die Alternation, die von der Differenz ausgeht; er tritt immer mit einer 'ja/nein-Alternative' auf. (...) Der Phallus ist ein Buchstabe, 'den man das Alpha und Omega im Alphabet des Wunsches nennen kann. (Leclaire). (Er ist; S.M.) in sich selbst Begriff der Differenzierung."^0

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Zeus (vgl. die Namen in der Konkordanz zu den »Maulwürfen«); die Teil¬ habe der Frau ist bis auf die überraschende Nennung einer »Mutter« ver¬ schleiert; zu >Gott< und >Frau< vgl. auch Lacan, Jacques, Gott und das Genießen der Frau, in ders. 19912, a.a.O., S.71 ff. vgl. auch Benjamin, Walter, Der Baum und die Sprache, in: ders., Illumina¬ tionen, Frankfurt a.M. 19843, S.303; es sei bereits hier darauf hingewie¬ sen, daß auch im Vokabular Eichs >Baum< als Metapher für >Sprache< gelesen werden kann. vgl. >santaKuckuck< Holzapfel, Heinrich, Subversion und Differenz. Das Spiegelmotiv bei Freud - Thomas Mann - Rilke und Jacques Lacan, Essen 1986, S.248 f.; vgl. auch Lacan, Jacques, Die Bedeutung des Phallus, in: ders. Schriften II, a. a.O., S.119 ff., bes. 125 f.: »Es spricht im Andern sagen wir, und bezeichnen mit dem >Andern< eben den Ort, den der Rückgriff auf das Sprechen evoziert in jeder Be¬ ziehung, in die er interveniert. Wenn Es im Andern spricht, egal, ob das dann vom Subjekt mit den Ohren vernommen wird oder nicht, dann deswegen, weil das Subjekt in ihm seine signifikante Stellung findet durch etwas, das jedem Erwecken des Signifikats logisch voraufgeht. Die Entdeckung, was das Subjekt an diesem Ort, d.h. im Unbewußten, artikuliert, läßt uns begreifen, auf Kosten welcher Spaltung es sich konstituiert hat. Der Phallus läßt sich hier aus seiner Funktion heraus erhellen. Der Phallus in der Freudschen Doktrin ist kein Phantasma, wenn man unter Phantasma eine imaginäre Wirkung verstehen muß. er ist als solcher ebensowenig ein Objekt (ein partiales, internes, gutes böses etc.), inso¬ fern dieser Begriff die Realität hervorhebt, die in einer Beziehung ange¬ sprochen wird. Noch weniger wohl ist er das Organ, Penis oder Klito¬ ris, das er symbolisiert. Nicht ohne Grund hat Freud sich auf jenes

Der Sündenfall hat nach Benjamin zur Folge, daß die Worte etwas mitteilen außer sich selbst, sie sind als Signifikanten anwesend, verweisen aber auf ein Abwesendes, kurz: Die Worte beginnen als differenzielle Einheiten zu arbeiten, sie werden "an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen"^! und damit zum Mittel. An die Stelle der Magie der Unmittelbarkeit des Namens tritt die "Magie des Urteils" und, in diesem wurzelnd, die "Abstraktion als ein(es) Vermögen(s) des Sprachgeistes": "Die Unmittelbarkeit (das ist aber die sprachliche Wurzel) der Mitteil¬ barkeit der Abstraktion ist im richterlichen Urteil gelegen. Diese Unmittelbarkeit in der Mitteilung der Abstraktion stellte sich richtend ein, als im Sündenfall der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mittei¬ lung des Konkreten, den Namen, verließ und in den Abgrund der Mitteilbarkeit der Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wor¬ tes verfiel, in den Abgrund des Geschwätzes."^ Auch das mitteilende, das "eitle Wort" degeneriert aber nur "an einem Teile zum bloßen Zeichen". Noch im "Geschwätz" und vielleicht gerade in diesem, erkennt Lacan die Möglichkeit, daß der Sinn überschießt, das Wort in der signifikanten Kette aufgrund der metonymischen Verschiebungen und der metaphorischen Verdichtungen mehr sagt als in der Mitteilung.^ Nicht nur bei Adam und Eva bewirkt die Entdeckung des Phallus den Über¬ gang in die menschliche Sprache. Die Funktion des Signifikanten Phallus ist es, die ein Kind in der ödipalen Phase aus der dualen Beziehung zur Mutter herausreißt, mit einem dritten, dem Vater und dem Gesetz, konfrontiert und dem Kind nach Anerkennung des Gesetzes, welches ihm das primäre Liebesobjekt (die Mutter) verbietet, den Eintritt in die symbolische Ordnung er¬ möglicht.^ 'Kuckuck' ruft's aber nicht nur aus dem Wald, der vor lauter Sprach-Bäumen nicht mehr gesehen wird, sondern zuweilen auch im Kinderzimmer, wenn Erwachsene, sich hinter den Händen oder einem sonstigen Schirm verstekkend, mit Kleinkindern das Fort/da-Spiel einüben. Durch das Verdecken des Gesichts wird dem Kind der Spiegel genommen. Eine Situation, die, das hat die Analyse des Spiegelstadiums gezeigt, bedrohlich für das Kind sein muß. Auf das Kuckuck-Rufen hin beginnt das Kind, lebhaft zu suchen und freut sich sichtlich, wenn der Erwachsene den Schirm beseitigt, womöglich das Kind durch einen Ausruf begrüßt und wieder die Spiegelfunktion übernimmt.

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Simulacrum bezogen, das der Phallus für die Antike war. Denn der Phallus ist ein Signifikant, (..), der Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifi¬ kant.« Benjamin GS II.1, 1980, a.a.O., S.153 Benjamin GS II.1, 1980, a.a.O., S.154 vgl. Lacan 1986 II, a.a.O., S.29 Es würde den Rahmen sprengen, die sehr komplexen Vorgänge der ödipa¬ len Phase hier erklären zu wollen; eine Einführung findet sich zum Bei¬ spiel bei Lang, Hermann, Die Sprache und das Unbewußte, Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1987, S.203 ff.

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Das Verschwinden des Gegenüber, eine Szene, die im Alltag vom Kind als Trauma erlebt wird, zumal wenn es sich um das erste Liebesobjekt handelt, erzeugt im Spiel Lust, es sei denn das 'Fort' dauert zu lange an. Einige Monate später ist das Kind dann in der Lage, das Fort/da-Spiel ohne Zutun der Erwachsenen zu spielen. In "Jenseits des Lustprinzips"10® erwähnt Freud das Spiel eines eineinhalbjährigen Kindes, alle Gegenstände, deren es hab¬ haft wurde, wegzuschleudern und dieses Verschwindenmachen sichtlich be¬ friedigt mit einem langen "oooh" zu begleiten, ein Laut, der nach dem Urteil der Mutter 'fort' bedeutete. Später macht Freud die Beobachtung, wie das Kind mit einer Holzspule das Spiel wiederholt: "(...) es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin ver¬ schwand, sagte dazu ein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte deren Erschei¬ nen aber jetzt mit einem freudigen 'Da'. Das war also ein komplettes Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man meistens nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein uner¬ müdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. Das Kind benutzt im Spiel die Holzspule als Symbol für das Gehen und Kommen der Mutter. Es verschafft sich die Möglichkeit, den Ausfall des Spiegels und des Objekts, das ihm sein Sein ermöglicht und auf das sein Begehren gerichtet ist, durch ein Objekt zu substituieren, das in seiner Macht steht.10^ Die Spule funktioniert dabei als Signifikant, der den ab¬ wesenden Referenten (die Mutter) repräsentiert. In dieser Funktion als Repräsentant ist der Signifikant noch weitgehend dem Imaginären des Spie¬ gelstadiums verbunden, da er als Spiegel gebraucht wird. Allerdings ist das Kind hier nicht mehr das stumme, das vom Spiegel (der Mutter) angespro¬ chen und durch diesen Anspruch "nahe gehalten und festgenommen" wird.10® Vielmehr nimmt das Kind das 'spiegelnde' Objekt selbst in Anspruch ('Oh', 'DA').109 Das Kind löst sich von der Präsenz der Mutter, auf die es im Spiegelstadium eingeschworen war. Ginge es allerdings dem Kind nur darum, ein permanentes Objekt für sein Begehren zu finden,110 die Präsenz der Mutter im Substitut zu verlängern, man täte sich schwer zu erklären, warum 105 vgl. Freud, Sigmund, Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe Bd. 3 Frankfurt a.M. 1975, S.225 f.; meine nachfolgenden Erläuterungen halten sich im wesentlichen an die Ausführungen von Weber 1978, a.a.O., S.108 ff 106 Freud St.A. Bd.3, 1975, a.a.O., S.226 107 Daß die Spule tatsächlich auch die Funktion des Spiegels übernimmt, wird deutlich, wenn man Freuds Bericht über das Verhalten des Kindes vor dem Spiegel berücksichtigt; vgl. Freud St.A. Bd.3, a.a.O., S.225 108 vgl. Danis, Juana, Einführung in J.Lacan, München 1988, S.20 f.; zum Be¬ griff >Anspruch< bei Lacan vgl. auch Weber 1978, a.a.O., S.106 f. 109 Die Duldsamkeit der Dinge, immer zur Verfügung zu stehen, und der Zwang des Begehrens zu verschieben, sind vermutlich Hauptmotor des Konsums. 110 Diese Funktion haben oft Schmusetücher oder andere ausgewählte Gegen¬ stände.

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es dann die Spule wegwirft. Freud erklärt das Wegwerfen damit, daß das Kind sich im Spiel für die Abwesenheit der Mutter rächt: "'Ja, geh' nur fort, ich brauch' dich nicht, ich schick dich selber weg.'"111 Lacan hingegen ver¬ mutet, weit über die Freudsche Erklärung hinausgehend, daß es die Hand¬ lung der Symbolisierung selbst ist, die dem Kind Lust verschafft und die es dadurch teilweise dem Imaginären entzieht.11^ Das Begehren richtet sich im wiederholten Spiel des Fort/da nicht mehr auf die Mutter und auch nicht ausschließlich auf das Objekt als Spiegelersatz, sondern auf das Objekt als Symbol. Das Begehren wird auf diese Weise in zwei Richtungen gespalten, von denen die zweite (die Symbolisierung) auf die Negierung der ersten abzielt. Gleichzeitig beginnt das Kind, Phoneme als artikulierte zu gebrau¬ chen und so die von der Umgebung in Form von konkreten Diskursen dar¬ gebotene Sprache zu assimilieren.113 Im Spiel des Kindes sind also alle Aspekte der symbolischen Ordnung versammelt. Hier wird auch noch einmal deutlich, was im vorangegangenen Abschnitt zum perspektivischen Lesens erläutert wurde. Die perspektivische Lektüre fixiert die 'Augen' der Worte, um diese als Spiegel zu benutzen, und blendet den Signifikanten zugunsten eines vermeintlichen Signifikats weg. Dies aber bedeutet nichts anderes als die Zerstörung der Sprache als symbolische Ordnung. Dem perspektivisch Lesenden geht es letztlich darum, im Wort ein Ersatzobjekt für das entzogene primäre Liebesobjekt zu bekommen, und dieses gerät dadurch in jenen Strudel der narzißtischen Identifikation, an dessen Ende Leichen liegen.11'1 Die perspektivische Lektüre sehnt sich nach dem "präsenten Wort" (Derrida), das selbstverständlich das phonetische sein muß, jener Anspruch aus dem Spiegel, und es soll dem eigenen Willen ge¬ horchen wie die Holzspule dem Kinde. Der perspektivische Leser hat das "o-o-o-o" des Kindes wieder verlernt oder wahrscheinlicher und schlimmer: nie kennengelernt.113 Fort/da, anwesend/abwesend: Der Kuckuck legt den Wirtsvögeln ein nahezu identisches Ei ins Nest, und der geschlüpfte Jung-Kuckuck schmeißt dann das Ei der Wirtsvögel aus dem Kontext. Der Kuckuck ist also bereits in der Natur eine Metapher, die stets ähnliche Kontexte aufsucht (ein Kuckuck sucht immer Nester der gleichen Vogelart auf). Als Pfändungssiegel macht der Kuckuck (= scherzhaftes Substitut für den Reichsadler) aus anwesen¬ den Gegenständen der Bestimmung nach abwesende. Der Kuckuck "ist auch der treulose Ehemann (cuculus) der Römer [=metonymische Verschiebung des Begehrens; S.M.)], (..) anderer¬ seits der Ehemann einer treulosen Frau (cuckold im Englischen, cocu im Französischen OErleiden der metonymischen Verschiebung des 111 Freud St.A. Bd.3, 1975, a.a.O., S.226 112 vgl. Lacan, Jacques, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders., Schriften I, Weinheim, Berlin 19862, S.165 113 vgl. Lacan Schriften I, 19862, a.a.O., ebenda 114 vgl. S.110 f.f. 115 die Worte als Schmusetücher

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Begehrens]). Da niemand sieht, wie der K. verschwindet, so ist er unsterblich, er hat alles gesehen und weiß alles, daher prophezeit er die Lebensdauer"11^ Zu den gegensätzlichen Konnotationen des Kuckucks zählt, daß er alles weiß und gleichzeitig in vielen Sprachen eine Metapher für 'Narr', 'Spötter' und 'Tor' ist. Der Kuckuck führt uns als metaphorischer Vogel in die Nähe der Region, "wo Sinn im Un-Sinn entsteht"117 und Menschen an der Sprache ei¬ nen Narren gefressen haben. Im vorangegangenen Abschnitt wurde beschrieben, wie das perspektivische Lesen einen Bild/ima^e-Schirm errichtet, der den Blick unterdrückt, daß aber in den Sprungphasen zwischen den einzelnen Fixationspausen das aus¬ schließlich distinktive Sehen teilweise überrumpelt wird und der Blick den Schirm durchschlägt. Deutlich wird dies, wenn man sich verliest und das Verlesen ein Straucheln in der Lektürebewegung erzeugt. Das Straucheln läßt einen bewußt werden, daß von einem anderen Ort als dem des Bewußt¬ seins aus etwas Fremdes in den Kontext hineingelegt wurde: ein Kuckucks¬ ei. Vermutlich ereignet sich das Verlesen nicht unvermittelt, sondern be¬ darf einer vorbereitenden Disposition des Unbewußten. Vorstellbar wäre zum Beispiel, daß die Unbestimmtheitshöfe der Worte (die Ablagerungen vergan¬ gener Diskurse) sich so überschneiden, daß sie das Unbewußte in eine Schwingung versetzen, die der durch die metonymische Verknüpfung der Signifikanten erzeugten gegenläufig ist und sie an einem bestimmten Punkt plötzlich zum Kollabieren bringt. Im Extremfall steht der Leser dann plötz¬ lich statt vor der gewohnten Brücke zum nächsten Wort vor einem Abgrund.11® Aus diesem Abgrund blickt dann den Leser das Verdrängte ('fort') an und reißt ihn unter Umständen aus der Sicherheit, in der er sich dank des perspektivischen Lesens wiegte. Das eigentliche Verlesen, das heißt dasjenige, bei dem der anwesende Signi¬ fikant durch einen anderen, aus dem Unbewußten auf tauchenden substituiert wird, fördert allerdings nur Vorgänge ans Tageslicht, die wahrscheinlich bei jeder Lektüreform mehr oder weniger stark wirksam sind. Man kann vermu¬ ten, daß Eichs Diktum, seine späten Texte gäben keine Gedanken mehr wieder, sondern seien bereits Meditationen (IV,534) und deswegen nur einer meditativen Lektüre zugänglich, darauf abzielt, dem Leser vorzuschlagen, sich auf eine Lektüreform einzulassen, die sich durch eine große Bereit¬ schaft zum 'verlesenden' Lesen auszeichnet.

116 Meyers Konversationslexikon Bd. 11, 1908, a.a.O., Stichwort >Kuckuck< 117 Lacan 1986 II, a.a.O., S.33 118 Aus der Physik ist jenes Phänomen bekannt, daß auch der kleinste Luft¬ zug, wenn er eine Brücke oder ein Gebäude im Rhythmus der Eigen¬ schwingung trifft, diese zum Einsturz bringt.

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6. MAGIE DES ANAGRAMMS: DESTRUKTION DER SELBSTGEWISSHEIT 6.1. Günter Eichs Hörspiel "Das Jahr Lazertis" Die Funktionsweise von Anagrammen wird von Eich in dem Hörspiel "Das Jahr Lazertis" thematisiert, das ich nachfolgend betrachten werde. Darüber hinaus veranschaulicht dieses Hörspiel sehr gut viele Überlegungen der vorausgegangenen Abschnitte, insbesondere die zur Aufspaltung von Blick und Sehen. Aus Versehen - Aus Versen "Sagen Sie einmal zwei Sätze mit Schakale und Eidechse." "Scha kale Fieß." - "Ei deck’se doch zu.” Erläuterung: "Kalte Füße sind vernünftiger als sich mit jemand anzulegen. Man kann sagen, daß kalte Füße der Sitz der Vernunft sind." (M,100) Was Schakale sind, ist allgemein bekannt und auch daß sie mit ihren Art¬ genossen, den Immobilien-Haien, in Frankfurt wie überall ihr Unwesen trei¬ ben und buchstäblich für kalte Füße sorgen. Was aber ist die Eidechse für ein Tier? Etymologisch entspringt sie demselben Wortstamm wie 'Hexe' (haghedisse, haghetisse) \ Eich verwendet das Wort 'Eidechse' mehrfach, zum Beispiel im Gedicht des zweiten "Traums" (11,302; vgl. die gleichlautende Notiz IV,365) und in dem "Maulwurf "Unsere Eidechse" (M,29), der vage Bezug nimmt auf die Gedichte der "Träume”. Der Leser studiere diesen "Maulwurf genau und beachte besonders den Satz: "Ich halte mit meinem Wissen zurück, will meine Trümpfe nicht gleich ausspielen, verschweige also, daß ich die Eidechse für einen Gekko halte, einen weiblichen Gekko, ja daß ich mir dessen so gut wie si¬ cher bin." Das Wissen, das Eich hier zurückhält, ist die Schreibweise des Wortes "Gekko": Sie ist so weder im Rechtschreibduden, noch in den beiden von Eich meistzitierten Nachschlagewerken^ noch sonstwo zu finden. Es muß 'Gecko' heißen und findet sich dann beispielsweise zusammen mit der 'Ei¬ dechse' und dem 'Maulwurf' im "Gesetz über reine und unreine Tiere".3 In Wörterbüchern steht der Gecko meist direkt vor dem Wort 'Gedächtnis'.4 1 2 3

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vgl. Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, New York 197521, Stichwort >Eidechse< und >Hexe< Meyers Konversationslexikon, 6. Auflage, und Brehms Tierleben, 4. Auflage vgl. 3. Mos. 11,30: alle drei zählen zu den unreinen Tieren; zwei Kapitel spä¬ ter findet sich das »Gesetz über die Feststellung von Aussatz«; dieser aber spielt, wie wir sehen werden, wie die Eidechse eine wichtige Rolle im Hörspiel »Das Jahr Lazertis«. vgl. im zweiten Teil der Arbeit die Erläuterungen zum Organisationsprinzip Alphabetismus 133

Der Signifikant 'Gekko' hat sich über das 'Gedächtnis' geschoben und deckt dieses bis auf einen kleinen Zipfel zu: das wegen der Vertauschung mit k umso sichtbarere ’c'P Durch neuerliches Verschieben (im Wörterbuch) kann der Leser das Wort 'Gedächtnis' wieder zum Vorschein bringen, es befinden sich aber auch hinter diesem andere Signifikanten (z.B. fremdsprachige Brückenwörter). Durch Verschieben wird ein Wort offengelegt, ein anderes aber zugedeckt: "Ich bemerkte, daß Erinnerung eine Form des Vergessens ist." (1,154), oder: "Ei deck'se doch zu." Das Hörspiel "Das Jahr Lazertis“ beschreibt den Versuch der Figur Paul, nach dreißig Jahren einen Zeitraum zu erinnern, den er statt mit einer Jah¬ reszahl mit einem Wort benannt hat (vgl. die Exposition 111,15). Das Wort heißt "Lazertis", und Paul sagt darüber, daß es "sinnlos ist (..) und nicht das richtige Wort war.” (111,15)6 "Das richtige Wort hörte ich in der Neujahrsnacht und ich hörte es im Schlaf." (111,15; Hervorh. durch mich, S.M.) Erinnerungen, Träume, Schlaf: In "Das Jahr Lazertis" werden die unter¬ schiedlichsten Formen der Regression bis hin zum Wahn ausgelotet.5 6 7 Es bietet sich deshalb an, an diesem die in den vorangegangenen Abschnitten untersuchten Prozesse innerhalb des psychischen Apparates zu veranschaulichen.

Namen und Buchstaben Anhand von "Gekko" wurde gezeigt, wie Eich andere Signifikanten bis auf einen kleinen Rest unsichtbar macht. Es wäre möglich, daß Eich diese Me¬ thode im Text des Hörspiels "Das Jahr Lazertis" perfektionierte, wofür neben der erstmaligen Verwendung des "Gekko" vor allem die Gestaltung der Namen spricht, die die Figuren des Hörspiels tragen. Wüßte man nur diese, man hätte bereits sehr viele Spuren in Händen. Die Namensliste nennt folgende Personen: Paul, Laparte, Bayard, Kingsley, Zeemans, Ri¬ chards, Oliveira, Manuela, Die andere Manuela (111,14). Auffällig ist zunächst die doppelte Nennung von Manuela, die phonetische Ähnlichkeit von Laparte, Bayard und Richards und die Anordnung der Namen: Paul und Manuela (a, u, 1 gemeinsam) als Rahmen, Laparte vor Bayard vor Kingsley, Zeemans vor Richards. Betrachten wir einige der Namen einzeln.

Laparte: Die schillerndste Figur des Hörspiels hat auch einen wie eine Ei¬ dechsen- oder Schlangenhaut schillernden Namen, und jeder der Reflexe ist 5 6 7

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beachte im Hörspiel die scheinbar willkürliche Nennung von »Zwieback« di¬ rekt unter »Gekko«; 111,17 vgl. M, 120: »Ein falsches Wort also. Wir mögen falsche Wörter, man muß sie ausprobieren.« vgl. die Suche nach dem Glück in den Stichwörtern eines Lexikons in »Eine Stunde Lexikon« (11,57 ff.)

für Paul von Bedeutung. Laparte trägt (porter) einen Buckel. In diesem Buckel, dessen Berührung in der Neujahrsnacht Glück bringen soll (111,16 f.), finden sich so viele Wörter, daß hier nur die wichtigsten aufgezählt werden, da sie im französischen Wörterbuch mehrere Seiten füllen und jedes Wort Anteil am Hörspiel hat.® La part - Anteil, Seite, Rolle - ähnelt dem Namen und bildet einen der Kondensationspunkte im Wörterbuch, um die herum gesucht werden muß. Bevor die Suche beginnt, sei hier noch einmal auf die Erläuterungen zum Phänomen der Brückenwörter verwiesen und auf das Wort Partitur in Lacans Aufsatz "Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud", da exakt dort das Handwerkszeug für das weitere Fischen in der Buchstabensuppe gegeben wird.8 9 10 Zu Beginn dieses Aufsatzes fällt ein Satz, der auch Eich als Gedanke nicht fremd gewesen zu sein scheint (vgl. M,10): "Auch das Subjekt, das als Sklave der Sprache erscheinen kann, ist mehr noch einem Diskurs hörig in der universalen Bewegung, in dem sein Platz niedergeschrieben ist bereits bei seiner Geburt - und sei es bloß in der Form des Eigennamens."^ Bezogen auf die Namensliste im Hörspiel, fällt die dortige Differenzierung in Vor- und Nachnamen-Rollen auf; Richards ist eine Art Zwitter, da durch Weglassung des 's' der Nachnamen zum Vornamen wird. Die Namen sind aber nicht nur Eigennamen, sondern auch Bestandteil jener Partitur, in der der Balken zwischen Signifikat und Signifikant dank der Ma¬ gie des Anagramms, durch das Herbeizitieren anderer Kontexte und dank der Insistenz des Sinns in den Verdichtungen und Verschiebungen durch¬ schlagen wird. Eine Spalte vor dem Kondensationspunkt la part lesen wir im Wörterbuch parmesan, nicht aber mit diesem bestreut (parsemer) Laparte die anderen und insbesondere Paul, sondern mit la parole, das Wort, Sprache, Text bedeutet, im Plural auch Stichelreden (vgl. 111,32). Mit subtilen Reden stiftet Laparte Paul zu diversen Handlungen an und wird zu dessen Parze (la Parque), indem er ihn zum Beispiel zur Teilnahme (participation) an einer Ex¬ pedition nach Brasilien überredet. Die Gruppe bricht mit einem Schiff nach Brasilien auf (aufbrechen = partir), entzweit sich (partager) aber auf Betrei¬ ben Lapartes. Nachdem Paul den ihm von den anderen aufgezwungenen Entschluß (le parti) gefaßt hat, Richards ein zweites Md aufzusuchen, 'be¬ hext' ihn der Eidechsenforscher (haghedisse; haghetisse) erneut: "Wenn Sie noch eine Weile nachdenken, entdecken Sie, daß Sie alles mitnehmen müssen." (111,32) La porte - die Tür, das Tor, ist der andere Kondensationspunkt im Wör¬ terbuch. In der entscheidenen Silvesternacht hatten Paul und Manuela Blei 8

9 10

vgl. z.B. Weis/Mattutat, Französisch - Deutsch, Stuttgart 1978, S.648 ff. u. 689 ff.; Eich sprach sehr gut Französisch, weswegen die Bevorzugung franzö¬ sischer Brückenwörter denkbar erscheint. vgl. S.124 ff. Lacan II, 1986, a.a.O., S.19 f.; vgl. auch Benjamin GS II.1 1980, a.a.O., S.150 135

gegossen. Paul zeigt am Morgen sein Stück Blei und fragt Laparte: "Ist dies vielleicht eine Eidechse? - Laparte spöttisch: In Blei ge¬ gossen? - Paul: Manuela meinte, ein Torbogen. - Laparte: Manuela wird recht haben. Viel eher ein Torbogen als eine Eidechse. - Paul: Schade, es hätte so gut gepaßt. - Er lacht. Sie lachen beide." (111,20) Das komplizenhafte Lachen ist das Lachen eines Mannes, der mehr weiß, als er mitteilt. Im Anschluß an das Lachen macht er, den Bleikumpen als ein Schiff nach Pernambuco interpretierend, Paul den oben genannten Vorschlag der Teilnahme an einer Expedition, die Paul zum letzten Tor, dem Tor des Leprosenheims führen wird: "Paul: (...) Störrisch zog es uns durch das breite Tor der Certosa und ich wußte, daß ich am Ziel war. Eine halbe Hand und in Blei gegossen (...)." (111,47) Das Tor hatte sich Paul im Blei und im Namen Laparte offenbart, aller¬ dings unkenntlich gemacht durch die Buchstabenverschiebung. Ein Hafen - le port -, nämlich Algeciras, wurde Richards zum Verhängnis. Es gibt relativ deutliche Hinweise dafür, daß auch für ihn Laparte eine wichtige Rolle (la parte, la parti) spielte. Laparte erwähnt als erster einen kranken Weißen. Wenn man die folgenden Stellen parallel schaltet, hat man den Schlüssel in Händen: "Paul: (...) Aber ich vergaß zu sagen, daß wir vier waren.” (111,24) "Richards: Wir waren vier. Als sie merkten, was es (Lepra; S.M.) war, sind sie davon. Ich bin seit einem Jahr hier." (III,29) Es ist kaum verwunderlich, warum die anderen Expeditionsteilnehmer alles daran setzen, Richards nicht zu begegnen: Vermutlich waren sie es, die ihn im Busch zurückgelassen hatten. Bayard: Auf die phonetische Ähnlichkeit mit Laparte wurde hingewiesen. Der Name Bayard ist ein weiteres Beispiel für Eichs Technik, durch die Aus¬ wechselung eines Buchstabens etwas zu verstecken. Hinter Bayard verbirgt sich bayart, im Wörterbuch steht dahinter "siehe bart" und dort "Trage, barda (militärisch) Gepäck, Tornister".11 Man muß nicht unbedingt wissen, daß in alten chinesischen Emblemen Bucklige und Trage(-korb) dasselbe, nämlich den Herbst symbolisieren,12 um die Parallele zwischen beiden zu erkennen. Diese spiegelt sich in den besonderen Wissensgebieten Lapartes und Bayards: Der eine ist Eidechsen-, der andere Schlangenkenner. Barder bedeutet auf eine Trage laden' - genau das läßt Bayard mit Paul machen - und 'ge¬ fährlich werden', das aber ist Bayard nicht nur für Paul geworden. Kingsley: Diesmal ist ein 'a' durch ein 'e' ersetzt, King slay aber bedeutet 'Königsmörder' und wird interessant in dem Moment, als Bayard sich mit 11 12 136

Weis/Mattutat 1978, a.a.O., S.82 u. 76 vgL Gr^et, Marcel, Das chinesische Frankfurt a.M. 19862, S.64

Denken.

Inhalt,

Form,

Charakter,

dem Laertes aus Shakespeares "Hamlet" identifiziert (111,45), noch mehr aber, wenn man an Shakespeares Dramen über Richard I. und Richard II. denkt. Kingsley scheint zu den vieren zu gehören, von denen Richards spricht. Zeemans: Hier ist die Andeutung durch das 's' am Ende gemacht, welches Zeemans mit Richards gemeinsam hat und das eigentlich statt des 'Z' am Anfang des Namens stehen müßte, um ihn in einen Seemann, einen Matro¬ sen wie Richards zu verwandeln. Zeemans ist der Dritte im Bunde derer, mit denen nicht nur Paul, sondern auch Richards zu tun hatte. Oliveira: Unter diesem Stichwort finden sich im Lexikon einige protugiesische Schriftsteller und eine brasilianische Hafenstadt. Außerdem könnte man noch auf den Schauspieler Laurence Olivier stoßen, der zur Zeit der Niederschrift des Hörspiels als Regisseur und Hauptdarsteller mehrerer Shakespeare-Adaptionen in Erscheinung trat, unter anderem in der Titel¬ rolle des "Hamlet" (1948). Paul und Manuela: Wie erwähnt handelt es sich bei diesen um die einzigen Vornamen des Stücks. Beide Namen sind im Hörspielwerk Eichs mehrfach vertreten, teilweise in geschlechtsverkehrten Versionen (Paula, Manuel, Paulette). Der Sinn der Verdoppelung des Namens Manuela klärt sich im Laufe der Lektüre. Die eine Manuela ist der Eidechse (Gedächtnis, Vergan¬ genheit), die andere dem Tor (Vergessen, Zukunft) zugeordnet; die Spaltung ereignet sich während des Bleigießens in der Silvesternacht. Bereits aus den Namen wird ein guter Teil der Beziehungen und Verflech¬ tungen der Personen des Hörspiels ersichtlich. Durch Austausch einiger Buchstaben kommen jene Facetten der Namen zum Vorschein, die die von den anderen ausgesandten Strahlen reflektieren. Namen und Eidechsen "Laparte: Ich weiß jede Menge Wörter, die ebenso weit davon ent¬ fernt sind wie Lazertis. Einmal ausgesprochen, fallen sie wie Steine zur Erde, das Schweben ist vorbei, die Möglichkeit, im Fluge noch näher heranzukommen." (111,19) "Einmal ausgesprochen ist für immer gesagt, zu meinem Leidwesen." (M,130) "(...) das Wort, das du von dir gabst, kennt keine Rückkehr."13 In der Neujahrsnacht hört Paul durch einen Spalt im Fenster und in seinem traumerfüllten Schlaf das Wort, das "alle Geheimnisse löste. Für seine Dauer war die Welt verwandelt und begriffen, aber im gleichen Hauch war es 13

Horaz, Ars poetica/Die Dichtkunst, Stuttgart 1984, S.29 137

wieder vergessen." (111,15) Das geheimnisvolle Wort verschwindet also, kaum gehört, bereits in Bereiche des psychischen Apparates, die dem Bewußtsein verschlossen sind. Paul eilt den Personen nach, die es ausgesprochen hatten. "In großen Flocken fiel Schnee auf ihre Spuren, die ich bald verlor." (111,15)^ Er kommt vorbei an einem Engel, einem Denkmal: "Einen Augenblick schien es mir tröstlich, daß auch der Name meines Bruders auf der Gedenktafel stand, daß er also zu denen gehörte, die das Wort kannten und nicht durch den Schnee (= zugedeckte Spuren, Unbewußtes; S.M.) zu laufen brauchten, um es zu suchen." (111,16)^ Statt auf das gesuchte Paar stößt Paul auf den buckligen Laparte, welcher ihm, vom Schnee zugeweht, zunächst "wie ein verlassener Seesack und wie eine steinerne Figur, die sich gegen kein Wetter wehrt", erscheint (111,16; Hervorhebung durch mich; S.M.). In der von Paul gesprochenen Exposition des Hörspiels wirbeln nicht nur Schneeflocken durcheinander, sondern Erinnerungen, die sich um einzelne Worte gruppieren, um "Kartause" und "Lazertis", um "Schnee" und "Ge¬ denken" und um "Seesack" und "steinern". "Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin. / 'Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne (1,37) "Die Fliege haut immer noch gegen das Glas (= Hinweis auf Goethes Gedicht "Selige Sehnsucht"; S.M.),^ oh Amazonas, vielleicht blauflüs¬ sig oder grünflüssig. Man erfährts aus den Quellen nicht. Er lacht. Gut gesagt, aus den Quellen! 'Mancher trägt Scheue.' Das hätte mir Hölderlin nicht zugetraut. Aber der wäre auch hier, bestenfalls, pu-

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= weitere Verdrängung und Auslöser für die spätere Spurensuche; vgl. in diesem Zusammenhang auch das Schneegestöber als Allegorie für das Durch¬ einanderwirbeln der Buchstaben; S.93 ff. vgl. das Ende von »Zum Beispiel« (1,136): Auch dort wird das mystische Wort wie in DJL (111,15) als der »Stein der Weisen« bezeichnet; während allerdings Paul zu Beginn des Hörspiels noch glaubt, das geheimnisvolle Wort, das alles begreift, finden zu können, heißt es über die Suche nach dem >Urwort< im Gedicht »(..) Aufgabe, gestellt/für die Zeit nach dem Tode«. vgl. auch 111,713; es ist bezeichnend, daß in diesem Abschnitt ein Gedicht von Goethe (»Selige Sehnsucht«) und eines von Hölderlin (»Andenken«) di¬ rekt nebeneinander erscheinen, wobei Eichs Sympathien Hölderlin gehören. H.P. Neumann erkennt zwar die Kritik Eichs an Goethe (das Sentenzenhaf¬ te), vermeint aber Goethe in zwei seiner Arbeiten gegen Eich in Schutz nehmen zu müssen; vgl. Neumann, H.P., Gestörte Vertraulichkeit. Nützliche Irritationen beim Goethe-Lesen, in: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhard Baumann zum 60.Geburtstag; hrsg. v. Schnitzler, Günter u.a.; München 1980, S.242-248 und ders.. Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich, Stuttgart 1981, S.192 ff.; das Hörspiel Mbzl und das Gedicht »Latrine« zitieren nicht nur beide Hölderlin, sondern sind auch aufeinander bezogen (Latrine - Stuhlgang) = Bsp. für Selbstzitat Eichs; vgl. hierzu Schafroth, Heinz F., Günter Eich, München 1976, S.104

bertär, der käme schon mit den Schlüsseln nicht zurecht." (111,714 f.)^ Der Pförtner aus "Man bittet zu läuten" vermeint, Erinnerung nicht mehr nötig zu haben und wähnt sich gleichzeitig als Herr der Geschichte (die Schlüssel). Das Abschließen von Erinnerungen ist weder Hölderlins noch Eichs Sache.Die beiden oben in Texte Eichs eingebundenen HölderlinZitate stammen aus dem Gedicht "Andenken". Dieses Gedicht aber ist eine der "Quellen", zu denen der Leser/Hörer von "Das Jahr Lazertis" zurückzu¬ kehren keine Scheue tragen sollte: "Es nehmet aber / und gibt Gedächtnis die See, / Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter."^ Die Verwirrung, die soeben durch das Aneinanderreihen von Zitaten gestif¬ tet wurde, ist harmlos vergüchen mit dem Durcheinander in der Exposition des Hörspiels. Ungefähr so müssen die ersten Sitzungen einer Psychoanalyse sein, wenn noch alle Erlebnisebenen - und das heißt Symbolisierungen - so zueinander verschoben sind, daß es dem Analysanten unmöglich ist, irgend¬ welche Zuordnungen vorzunehmen. Die Voraussetzungen dafür werden erst durch jahrelanges Verschieben der Bedeutungsschichten geschaffen. Im Hörspiel "Das Jahr Lazertis" führt Eich das Verschieben und Verdichten von Signifikanten geradezu exemplarisch vor.^ Für die Verschiebung "Zum Bei¬ spiel" (1,136) könnte man im Hörspiel just jene heranziehen, die auch Lacan zur Veranschaulichung der als "Wort für Wortgekennzeichneten, metony¬ mischen Verknüpfung heranzieht, nämlich "Segel" für "Schiff”: "(...) Sehr weit und lange sichtbar fuhr ein weißes Segel in meinem Schlaf, das zugleich der Gedanke war, Manuela aufzusuchen." (111,23) "Segel" steht für "Schiff", und "Schiff" wiederum ist eine Metapher für Rei¬ se und für den Vorgang der Verschiebung, der sowohl Erinnerung als auch Vergessen einschließt: "Paul: Das Schiff nach Pernambuco. (...) ich suche in meinem Ge¬ dächtnis nach einem Schiff und nach einer langen Reise über das Meer. Mein Gedächtnis hat vieles entlassen, offenbar sind es Dinge, die nicht mehr gebraucht werden. Mich überkommt der unnütze Ge¬ danke, was mit diesen Dingen geschieht, wo sie sich ansiedeln, die Heimatlosen. (...) Das Schiff nach Pernambuco. Aber es ist niemand mehr da, den ich fragen könnte, wie lange die Überfahrt gedauert hat und welche Hä¬ fen wir angelaufen haben. Sollte das Vergessen eine Art des Sparens sein, so zweifle ich nicht, daß auch eine Gelegenheit vorgedacht ist, das angesammelte Kapital zu verbrauchen. (...) 17

18 19 20 21

vgl. die hintereinander gestellten »Maulwürfe« »Hölderlin« und »Schlüssel« (M,60 f.;) und S.257 (»Formeln«); die »Schlüssel« sind eine Metapher für die Erschließung der Erinnerung/der Geschichte. vgl. z.B. den Satz: »In meinen Erinnerungen stehen alle Türen offen.« (M,61) vgl. S.122, Fn. 73 vgl. hierzu S.86 ff. u. S.12S ff. vgl. Lacan II, 19862, a.a.O., S.30 ff.: die Formel für die Metonymie = Wort für Wort; die für die Metapher = ein Wort für ein anderes

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Das Schiff nach Pernambuco. Es ist abgewrackt und sein Name ist vergessen in alten Schiffsregistern. Wieder das verdächtige Wort: Vergessen. Es schleicht sich überall ein. Ich will nicht denken, daß es die kleine Münze ist, die ich unter der Zunge trug und die ich dem Fährmann für die Überfahrt geben mußte." (111,23 f.) Dreimal wiederholt Paul in einem langen Monolog den Satz "Das Schiff nach Pernambuco", und jedesmal wird dieser der Auslöser für einen längeren Fluß der Erinnerungen und gleichzeitig für die Reflexion darüber, was die Worte 'erinnern' und 'vergessen' bedeuten. Beim dritten Anlauf ist das Schiff ab¬ gewrackt, und Paul wehrt sich gegen den Gedanken, daß er jetzt zum end¬ gültigen Vergessen (= zum Tode)** verurteilt sein könnte. Das abgewrackte Schiff nimmt die letzte Szene des Hörspiels vorweg, in welcher der Hörer erfährt, daß Paul am Ziel angekommen ist und das Wort "Lazertis" von ihm nicht weiter verschoben wird. Als ein Beispiel für die Metapher sei eine längere Passage aus dem Hör¬ spiel zitiert: "Laparte: Ah, Sie malen wieder? Neue Motive? - Paul: Nur um mich zu beschäftigen. - Laparte: Es fehlt Ihnen an Eidechsen. - Paul: Sie sagen es. - Laparte: Ihre Hütte, nicht wahr? Ein Andenken. - Paul: Richards Hütte. - Laparte: Dennoch ein Andenken. - Paul: Ja. - La¬ parte: (...) Zweifel beginnen, alle Zweifel, die möglich sind. Weshalb zum Beispiel Eidechsen? Große, ernsthafte Leute viele Monate unter¬ wegs, um Eidechsen zu fangen. Das kann es nicht sein. Und man wälzt sich herum und hört Moskitos. Alle Gründe für Eidechsen sind erfunden und alle gleich absurd. Unter anderem fiel mir ein, daß ich Eidechsen nur gesammelt habe, um Sie hierher zu bringen. - Paul: Zuviel gedacht. - Laparte: Eines Morgens stehe ich auf und bin mir klar darüber, daß ich keine Eidechsen mehr sehen möchte. - Paul: Und zu wenig geschlafen. - Laparte: Die meisten Menschen kommen in der Tat ohne Eidechsen aus. - Paul: Ich bin nicht sicher." (111,38 f.) Nicht nur, daß sich hier gleich zweimal der Titel des besagten Hölder¬ lin-Gedichts eingeschmuggelt hat ("Andenken"), wichtiger ist die Verwen¬ dung des Signifikanten "Eidechse", der wie oben dargelegt wurde, an die Stelle von "Gedächtnis" und "Erinnerung" gerückt ist oder auch von "Mnemosyne" (der Titel eines weiteren Hölderlin-Gedichts). Es bleibt dem Leser überlassen, mit diesem Wissen alle Eidechsen-Kontexte erneut zu betrach¬ ten. Zu beachten ist vor allem die unterschiedliche Beziehung der einzelnen Personen zur Eidechse. Laparte zum Beispiel fängt sie, auch auf die Gefahr hin, daß sie auf dem Weg nach Europa eingehen, und verliert später jegli¬ ches Interesse an ihnen (vgl. das Zitat oben). Paul malt die Eidechsen. Beider Umgang mit den Eidechsen ist nur metaphorisch zu verstehen. 22 Der Mythos vom Fährmann Charon taucht hier wie noch in einigen anderen Texten Eichs auf (vgl. z.B. 1,81 »Ende des Sommers«) und steht jeweils für die Überfahrt über den Unterweltsstrom Lethe (Vergessen) in das Reich der Toten. 140

"Es nehmet aber / und gibt Gedächtnis die See ..." "Lehrerin: Vielleicht leiden Sie überhaupt an Gedächtnisstörungen, wenn man es so nennen darf. Was meinen Sie, seit wann Sie es vergessen haben? - Sabeth: Ich weiß nicht, das heißt ich glaube, seitdem mich die andern vergessen haben. Nein, das stimmt auch nicht. Ich glaube, es fing schon früher an. - Lehrerin: Aber wann? - Sabeth: Ich glaube, seitdem ich anfing zu sprechen. - Lehrerin: Ah! - Sabeth: Mit dem Augenblick, wo ich das erste Wort aussprach, begann ich ein Gedächtnis zu haben und begann zugleich zu verges¬ sen. Zuerst nur langsam und nur Einzelnes. Aber als die andern fort¬ flogen, vergaß ich alles. - Lehrerin: Sie sagen: Sie begannen, ein Gedächtnis zu haben, als Sie das erste Wort aussprachen. Vorher hatten Sie also kein Gedächtnis? - Sabeth: Nein, ich glaube nicht.” (“Sabeth", 11,459) Aus den ersten beiden Absätzen der Exposition von "Das Jahr Lazertis" wird ersichtlich, daß es sich bei dem gesamten Text des Hörspiels um einen Versuch Pauls handelt, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen und insbesondere das Jahr, das er in seiner Erinnerung "Lazertis" genannt hat. Alle Dialoge erscheinen als Gedächtnisprotokolle Pauls. Dem erinnerten Text ist ein Muster aus metonymischen Verschiebungen und metaphorischen Ver¬ dichtungen eingewoben, das nachfolgend beschrieben wird. Das Muster weist eine Reihe von Rhythmisierungen auf, die durch mehrere, schon zu Beginn der Exposition (dem Beginn der Erinnerungsarbeit) genannte Bedeutungs¬ knoten getaktet werden: 1. das verdrängte Wort, das ungefähr wie Lazertis klingt (es wurde von Paul als der "Stein der Weisen" bezeichnet); 2. das Wort Stein, lateinisch petra; 3. das Wort Seesack (Nähe zu Buckel). Mit dieser Triade korrespondiert eine andere, nämlich die, in welche sich das in der Neujahrsnacht gegossene Stück Blei auffächert: 1. Eidechse, lateinisch lacerta ("Paul: Ist dies hier vielleicht eine Eidechse?"; 111,19); 2. Torbogen, lateinisch porta ("Manuela meinte, ein Torbogen.") und 3. Schiff ("Laparte: Kein Torbogen, sondern ein Schiff.") Alle Signifikanten werden nachfolgend die beiden Abhänge (Metonymie und Metapher) "des Wirkungsfeldes, das der Signifikant konstituiert, damit der Sinn darin Platz habe",23 hinabgerollt, und dabei werden die assoziierten Wörter aus den metonymischen und metaphorischen Ketten herausgesprengt. Lazertis Metonymie (in Form beinahe-anagrammatischer Verschiebungen): 1. La¬ zertis; 2. Lazerten; 3. Laertes; 4. Lazarus; 5. Laertes; 6. La Certitude; 7. La Certosa.

23 Lacan II, 1986 , a.a.O., S.31 141

Metapher: 1. Substitut für das vergessene "Urwort", dessen Erinnerung das Ende der Verschiebungen bedeuten würdet 2. Eidechsen (Erinnerungen); 3. Odyssee: Hoffnung auf die Heimkehr des verlorenen Sohns; 4. Erlösung im Himmel (Lukas 16,19 ff.; Lazarus sitzt in Abrahams Schoß) und auf Erden (Johannes 11 "Die Auferweckung des Lazarus"); 5. enttäuschte Hoffnung und Tod des Sohnes und der Schwester; Bezug auf die Identifikation mit dem "Laertes" aus Shakespeares Hamlet; 6. Gewißheit = Betrug; wichtig ist auch der Satz: "Dazwischen der Verdacht, nein schon die Gewißheit, daß Richards blind war." 111,34; 7. Leprosenheim = Ziel ("Du bist am Ort." 1,114; vgl. auch I,1S4 und: "Oliveira: Immer denkt man, mit einer Reise käme man weiter. Hier ist der Ort, den Sie erreichen konnten." 111,52), Paradies für die andere Manuela. Stein Metonymie: 1. Stein der Weisen; 2. steinerne Mondlandschaft; 3. Gedenk¬ tafel; Denkmal; 4. steinerne Figur; 5. "Worte, einmal ausgesprochen, fallen wie Steine zur Erde"; 6. Felsen von Gibraltar; 7. Mauer; 8. halb aufgelasse¬ ner Steinbruch, "Manuela: (...) Es war ein heißer und weiter Weg, der nir¬ gends anders hinführte als zu uns und zu dem Steinbruch" (111,22); 9. starrte (Versteinerung); 10. unempfindlich; 11. Stillstand, Bewegungslosigkeit, Mit¬ telpunkt; 12. Mauer; 13. Felsen von Gibraltar; 14. "Der Weg führte nicht zum Steinbruch."; 15. Mauer. Metapher: 1. "Urwort"; 2. Ausdruck der Einsamkeit; 3. Andenken an die Tötend 4. Fühllosigkeit Lapartes; 5. Versteinerung der Sprache, Tod; 6. Meerenge, Tor zwischen Europa und der Neuen Welt (evtl. Metapher für die Trennung von Bewußtem und Unbewußtem, welche es zu erforschen gilt; Meer = Vorbewußtes); 7. Trennungslinie zwischen Manuela und Richards; 8. gleichzeitig Steinbruch der Erinnerung und Symbol für die Versteinerung (Versteinerung/Steinigung vs. Liquidation/Liquidierung); 9. Blick eines Er¬ blickten (= Richards; s.u.); 10. Versteinerung Richards (vgl. 4., Pauls Aussa¬ ge über Laparte); 11. Wahrnehmung des vermeintüchen Zentrums der symbo¬ lischen Ordnung; 12. siehe 7., diesmal aus der Sicht Richards; 13. siehe 6., ebenfalls Sichtwechsel; 14. Brechung des Imaginären^6; 15. Gefängnis. Seesack und Schiff Metonymie: 0. Hafen; 1. Seesack; 2. "Eine Wahrheit, wie ein durchlöcherter Sack." (111,18; Kontext wichtig); 3. Expedition; 4. Schiff; 5. Hafen (Algeciras); 6. Boote mit roten Segeln, Meer; 7. Matrose; 8. "(..) fuhr ein blen¬ dend weißes Segel in meinen Schlaf, das zugleich der Gedanke war, Manuela aufzusuchen." (111,23); 9. Schiff nach Pernambuco; 10. "Ich will nicht denken, daß es die kleine Münze ist, die ich unter der Zunge trug und die ich dem 24 ln dem Moment, wo das Zentrum der symbolischen Ordnung gefunden wird um das sich alles dreht, tritt der Stillstand ein; vgl. 111,35 f. = Ri¬ chards Beschreibung des »Mittelpunkts der Welt« 25 vgl. das Gedicht »Andenken« 1,93 26 zum Begriff des Imaginären vgl. S.107 ff. 142

Fährmann für die Überfahrt geben mußte."; 11. Eidechsenreise; 12. Irrfahrten des Odysseus; 13. Flußdampfer, Amazonas; 14. Bootsreise; 15. Küste; 16. zweite Reise; 17. “Es ist wie eine Reise nach einem andern Friedhof." (111,32)27; ig Küste; 19. Hafen Algeciras, "eigentlich kein Hafen, sondern ein Fischerdorf!!); 20. "konnten nicht auslaufen"; 21. Schiff; 22. Seesack; 23. Strom, Boot; 24. "über das Meer"; 25. Seesack Richards; 26. Sarg, ’le bateau' bedeutet im Französischen 'Schiff' und 'Kindersarg'; 27. Schiffsglocke, Glokken der gestrandeten Schiffe; 28. Kapitän; 29. langsames Schiff; 30. Glocken aller gestrandeten Schiffe; 31. Hafenbecken, Helsingör; 32. Schiff nach Europa; 33. Schiff in die Freiheit. Metapher: 0. Blick auf den Hafen (= Tor zur Fremde, Unbewußtes) durch Mauer versperrt; 1. Verdinglichung und Fühllosigkeit Lapartes; 2. Wahrheit = Binse; 3. aus dem Lateinischen: Feldzug, Unternehmen; auch der Expedi¬ tion Lapartes haftet etwas Gewaltsames an, dem wissenschaftlichen Interes¬ se fallen nicht nur Tiere zum Opfer; 4. Bestimmung, Schicksal (vgl. 9.); 5. für Manuela das Einfallstor des Fremden; 6. Begehren, Sehnsucht (Kontext: "Manuela: Sonst lief ich vor ihnen davon wie ein Zicklein, das ein Fremder lockt." 111,21; wenige Zeilen später wird der Fremde benannt, es ist Ri¬ chards); 7. Personifizierung des Fremden (= Richards); 8. Begehren Pauls; 9. Vergessen (vgl. S.139 f.); 10. Vergessen und Verdrängung = Tod; 11. steht für die Erinnerungsarbeit, für den Vorgang des Verschiebens; 12. Identifikation Bayards mit Laertes; sie wird ihm zum Verhängnis; für Paul bezeichnet die Odyssee dasselbe wie 11.; 13. Verschiebung in Richtung Quelle, Verfeinerung der Erinnerung; vgl. Hölderlins "Andenken"; 14. weitere Präzisierung; An¬ kunft bei der Quelle (= Richards); 15. Abwälzen der Verantwortung (vgl. 111,31); 16. Wiederholung von 14. zur Präzisierung und Klärung; 17. Richards ist bereits tot; 18. Abwälzung der Verantwortung auf Paul und professionelle Hilfsorganisationen (vgl. 111,32 u. 33 f.); 19. siehe Stein 11.; 20. Stau des Begehrens; Langeweüe (Kontext wichtig; 111,35; beachte "Serpentinen" = Schlangen); 21. Schiff ist für die Verschiebung untauglich geworden, da Richards nach dem "Augenblick" alles kennt; 22. siehe 1.; 23. erneute Ver¬ drängung des 'Urworts' (vgl. 111,40); 24. Richards' Rat an Paul, nach Europa zu¬ rückzukehren; 25. Richards stirbt sprachlos und hinterläßt einen Sack mit Papieren (= Text; vgl. “Buckel", S.135); 26. Begraben der Erinnerungen; 111,42 f.: Der Traum bezeichnet den Wendepunkt, die Stelle, an der Paul erkennt, daß es darauf ankommt, die Identität nicht erstarren zu lassen; aufgrund des Traums entgeht er endgültig dem Schicksal von Bayard und Richards; 27. "gestrandet" bedeutet das Ende des Verschiebens und damit den Tod2®; 28. Gesetz ("Gott"); 29. Annäherung an das Ziel; 30. siehe 27., Errettung der 27 Im Kontext sagt Laparte, Paul trete eine Reise zu seinesgleichen an, und versucht dadurch, wie an vielen anderen Stellen auch, Paul dahingehend zu beeinflussen, daß er sich mit Richards identifiziert; vgl.z.B. das Zitat auf S.140: »Laparte: Ihre Hütte, nicht wahr?«; vermutlich weiß er, daß es Ri¬ chards' Hütte ist. 28 vgl. 1,37 »Latrine«, das Gedicht, in dem Hölderlins »Andenken« zitiert wird. 143

Toten durch Erinnerung29; 31. Bayard wird vom Imaginären überwältigt: Wahnsinn; 32. und 33. falsche Reminiszenzen, die von Paul als solche er¬ kannt werden. Eidechse Metonymie: 1. Schillern einer Schlangenhaut; 2. Gekko; 3. Lazerten; 4. Ei¬ dechse; 5. "bewegungslos wie eine Eidechse"; 6. Schlangenkenner (Bayard); 7. Schlangen in Öl; 8. Eidechsenreise; 9. Eidechsen; 10. "Paul: Ich bin es immer, der entscheiden muß, wenn beide Möglichkeiten schlecht geworden sind. Ihr dreht euch um und sammelt Eidechsen und Käfer." (111,32); 11. "Richards: (...) Eine Eidechse saß auf der Mauerkrone, mit erhobenem Kopf war sie in der Bewegung erstarrt." (111,35); 12. "Ich drehte mich um und ging, damit die Eidechse weiterlief und die Augen in der Hecke einem Mäd¬ chen gehören konnten, das mir neugierig nachstarrte. Damit es so würde, drehte ich mich um und ging. Verstehen Sie; damit alles vergessen würde." (111,36); 13. Paul und Lapartes Gespräch über Eidechsen; vgl. S.140; 14. Ei¬ dechsenmann; 15. Schlange; 16. "Manuela: (...) Man brachte ihn (Bayard; S. M.) fort, als er seine Schlangen freiließ." (111,49) Metapher; 1. Zeit; 2. vgl. S.133 f.; 3. erste Verschiebung des Wortes Lazertis; 4. Magie und Wahrsagerei (Apollon)3^; 5. Erstarren; 6. Schlangen gehö¬ ren zu den Seelentieren; sie nehmen in manchen Religionen die Seelen der Verstorbenen auf; außerdem sind sie in chthonischen Gottheiten verkörpert, "spenden Fruchtbarkeit und Leben, sind aber auch die düsteren Mächte der Unterwelt und des Totenreichs"31; 7. vermutlich gelingt es Paul, durch Ma¬ len den Bann der Schlangen zu brechen, dem Bayard später erliegt; beachte: Bayards Schlangen leben in Glaskästen, diese aber könnten als Symbol der kristallenen Ratio aufgefaßt werden; 8. siehe Seesack und Schiff 11; 9. Aus¬ löser einer weiteren Verschiebung des Wortes Lazertis; 10. Erinnerung als Hobby, für welche man keine Verantwortung übernehmen muß; 11. Imaginieren des Todes; 12. Gefühl der Allmacht und absolute, tödliche Verdrängung (= Subjekt der Vorstellung); 13. Diskurs über die Notwendigkeit des Erinnerns; 14. Magier, Wahrsager; 15. - ; 16. Freilassen der dunklen Kräfte. Torbogen (Tür) Metonymie: 1. "Paul: Die Palmen vor der Kartause sind ein dichtes Gitter, vor dem ein Menschenschritt ebenso anhält wie die Zeit." (111,15); 2. Haus; 3. Torbogen; 4. Bahnhof; 5. Haus; 6. Felsen von Gibraltar; 7. Hafen; 8. Mauer; 9. Bayards Haus; 10. Totenreich; 11. "Paul: Die Hütte, wo der kranke 29 vgl. Benjamin, W. 19843, a.a.O., S.253 u. 1,154 ff. 30 Apollon ist u.a. der Gott der Weissagung und in die bildende Kunst auch als Apollon Saurostonos (»Eidechsentöter«) eingegangen; vgl. Meyers Kon¬ versationslexikon 1906, a.a.O., Bd.l, Stichwort Apollon, S.621 f. und Eichs Abrechnung mit Apollon M,68 f. 31 Das große Duden-Lexikon, Bd. 2, Mannheim 1965, S.167 f. 32 Wie bei >Torbogen< 2. und 5., wäre hier die Benennung einer metaphori¬ schen Verwendung nach meinem Dafürhalten nur gewaltsam möglich. 144

Richards lag, war schadhaft. Es ging gegen Abend, und durch die Ritzen der Wand waren Stäbe von Licht gesteckt und bildeten eine Barriere zwischen ihm und mir." (111,28; vgl. 1. und das Ende des ersten "Traums"); 12. An¬ stalt; 13. Friedhof; 14. Gefängnis; 15. "Laparte: (...) Im Mittelalter übrigens trugen die Aussätzigen Klappern, mit denen sie lärmen mußten, wenn sie an die Häuser kamen." (III,32)^3; 16. Häuser; 17. Hölle; 18. Hafen = Fischer¬ dorf, Mittelpunkt der Welt; 19. Felsen von Gibraltar; 20. Hütte (Kontext wichtig: 111,37); 21. Hütte (Kontext wichtig: 111,38); 22. Verbrennen von Richards Hütte; 23. Gehen einer Tür (111,46); 24. Kloster = Leprosenheim; 25. Tor der Certosa; 26. Gefängnis; 27. "Paul: (...) Türen gingen verstohlen hinter uns auf, enttäuschte Augen (...)" (111,47); 28. "Paul: (...) Für Manuela war die Kartause das Paradies." (111,48); 29. Irrenhaus34; 30. Pförtnerzim¬ mer; 31. Türwächter Metapher: 1. Ausschluß der Zeit, eigene Welt; 2. - ; 3. Bestimmung, Wahr¬ sagerei; 4. wie der Hafen ein Tor zur Fremde; 5. - ; 6. siehe Stein 6; 7. siehe Seesack und Schiff 5; 8. ohne Tür: Trennung; 9. Todeszone, die Schwester wird von Paul als stumm oder als Geist charakterisiert; 10. Cha¬ ron erhält einen Obolus für die Überfahrt ins Reich der Toten (Vergessen); 11. Trennung durch Licht (eventuell auch Hinweis auf die erstarrte Sprache Richards, da dieser das Licht nicht wahrnimmt); 12. professionaliserte Hilfe, Abwälzen der Verantwortung (vgl. 111,31); 13. Tod; 14. Eingeschlossensein; 15. die Zeit vor der Ghettoisierung der Leprakranken; Verwendung des Na¬ mens, den Richards im Zusammenhang mit den anderen nannte, die ihn verlassen hatten: Lazarus; 16. - ; 17. Richards ist durch das Tor zur Hölle geschritten (Ursache: vgl. Eidechse 12), Manuela dagegen ins Paradies (vgl. 28); 18. Algeciras ist für Richards kein Hafen (Tor), sondern ein Fischerdorf und der Mittelpunkt der Welt (gleich dem Auge im Hurrikan ist das Loch in der symbolischen Ordnung absolut bewegungslos); 19. siehe 6; 20. Anden¬ ken; 21. absichtliche (?) Verwechslung der Hütten durch Laparte; 22. Ab¬ schied und Loslösung von Richards; 23. Ankündigung des Unheils; 24. er¬ zwungene Abkehr von der Welt; 25. Eingang zur anderen Welt; 26. Isolation (im Kontext: "Glasscherben auf der Mauerzinne“, vgl. III,47); 27. Hunger in jeder Form; 28. siehe 17; 29. Ghettoisierung; 30. und 31. Oliveira als Herr der Pforte (vgl. den Pförtner in "Man bittet zu läuten" und Petrus in "Festianus Märtyrer"). Mit diesen umfangreichen Wortlisten wurde die Grundlage geschaffen, das Muster im von Paul erinnerten Text zu erkennen. Von zwei Triaden wurde ausgegangen; sie werden hier noch einmal vereinigt und ergänzt als Diagramm 33 vgl. auch das Gedicht »Reise«, 1,95, das thematisch der »Eidechsen-Reise« Pauls nahesteht. 34 vgl. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 198S6, insbesondere Kapitel 2, S.68 ff., worin beschrieben wird, wie in Frankreich und auch im übrigen Europa im 17. Jahrhundert >Irrenhäuser< eingerichtet wurden bzw. meistens durch Umwandlung alter Leprosorien entstanden. 145

wiedergegeben: Schiff, Seesack, Liquidation

Stein, Tor, Ver¬ steinerung

Lazertis, Eidechse, "(...) Erinnerung eine Form von Vergessen (...)” (1,154) Die drei Ecken des Diagramm charakterisieren unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit dem Imaginären, welches im sogenannten Spiegel¬ stadium die Bildung der Ich-Funktion ermöglicht, gleichzeitig aber die Gefahr einer wahnhaften, erstarrten Identität in sich birgt.^S ”(...) das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstükkelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganz¬ heit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.’’^ Das Imaginäre setzt an die Stelle der diffusen Ununterschiedenheit von Welt und Selbst, des in seine Funktionen "zerstückelten Körpers" und der Sprach¬ losigkeit eine orthopädische Ganzheit, die Ich-Funktion, welche ohne das Hinzutreten des Symbolischen (der Sprache) versteinert. Betrachten wir zunächst die Liste zum Wort 'Stein'. In der Exposition häu¬ fen sich mit diesem Wort assoziierte Signifikanten. Paul hatte das Wort gehört, das die Welt begreift, er hielt den "Stein der Weisen" in Händen. Sein Glück war, daß er ihn sofort wieder verlor. Hätte Paul den "Stein der Weisen" festgehalten, sein Tod wäre zwangsläufig gewesen. Das 'Urwort' läßt keine Verschiebungen mehr zu, alles wird starrt7 Die Verdrängung ist nicht total: Der erinnerte Klang des Wortes ermöglicht Paul die "Eidechsen¬ reise": "(...) offensichtlich diente diese Eidechsenreise dazu, mir zu zeigen, daß das Wort Lazertis sehr vieles bedeuten konnte, wenn man über¬ haupt annahm, daß es etwas bedeutete." (111,25) Schiff, Dampfer und Boot haben die Funktion, die Arbeit des Verschiebens zu unterstützen: Die Reise verhindert ein Erstarren der Bedeutungen. 35 vgl. oben S.92 ff. 36 Lacan I, 19862, a.a.O., S.67 37 vgl. auch das Hörspiel »Allah hat hundert Namen« (111,343 ff.) und beson¬ ders 111,385 146

An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Bayard interessant. Im Haus Bayards (vgl. Tor 9) herrscht Stille, eine tödliche Stille. Die Schwester Bayards wird von Paul als stumm charakterisiert; vermutlich ist ihr Bruder dafür verant¬ wortlich. In dieser sprachlosen Atmosphäre (Abwesenheit des Symbolischen), zwischen Glaskästen mit Giftschlangen, kann Bayards Wahn gedeihen. Im ersten Gespräch zwischen Paul und Bayard haben wir einen Dialog vor uns, der bereits alle Symptome der späteren Eskalation von Bayards Wahn ent¬ hält. Schon in diesem ersten Gespräch spricht Bayard nicht mehr mit Paul, sondern nur zu sich selbst. Er bezieht das gehörte Wort sofort auf sich, verwandelt es in Laertes und hat damit seine Imago gefunden: "Bayard: Laertes. Das ist der Name, der mir zusteht. - Paul: Und ich hätte es nur Ihrethalben gehört? Nur um es Ihnen zu bringen? Nur um es Ihnen zu sagen, während wir hier auf diesen leeren, sonnigen Platz hinunterschauen? - Bayard: Ja. Darum." (111,26) Die Identifikation mit der Imago ist total und zudem an die Hoffnung ge¬ knüpft, der Sohn möge zurückkehren. Die Imago gleicht einem schwarzen Loch, in das Bayard blickt, von dem er vergiftet wird und angesichts dessen er erstarrt. Die Nachricht aus Kapstadt, sein Sohn sei im Gefängnis gestor¬ ben, trifft Bayard tödlich, da sie die Imago und damit seine Identität zer¬ schlägt. Der Spiegel zerbricht, und übrig bleibt eine weiße Wand. "Bayard: (...) Eines Tages fängt meine Schwester an, irre zu reden, und eines andern Tages ist sie verschwunden, und eines dritten Tages fischt man sie tot aus dem Hafenbecken. (...) Laertes. Wer brachte mich dahin, dem Namen zu vertrauen? Wer nannte mich so? - Paul: Sie selbst. - Bayard: Von Ihnen kam das Wort. Und was wir beide vergaßen: Es gibt einen anderen Laertes, nicht auf Ithaka, sondern in Helsingör. Seine Schwester Ophelia, die den Prinzen Hamlet liebte, ertränkte sich im Wahnsinn. Ein hübscher Witz; wenn man ihn nicht begriffe, man könnte ihn nicht begreifen. Einer von den großen heim¬ tückischen Witzen!" (111,45) Mit wenigen Worten breitet Eich den in jeder Hinsicht ungeheuren Strudel der Gewalt vor uns aus, in den der Psychotiker Bayard und mit ihm seine Schwester gezogen werden. Es ist kein Zufall, daß Bayards anfangs stumme Schwester beginnt, irre zu reden, und zwar nachdem ihr Bruder seine Imago verloren hat. Denn Bayard kann nicht anders, als den zerschlagenen Spiegel sofort durch einen neuen zu ersetzen; die total erstarrte Wahnstruktur verhindert dabei den Austausch auch nur eines Buchstabens. Der Signifikant der neuen Imago ist identisch mit dem der alten, allerdings bezeichnet er etwas anderes. Bayard ist gezwungen, seine Schwester, die in seinem Haus verstummt und zum Geist geworden war, zu opfern, um seine eigene Iden¬ tität zu 'retten'. Und er versucht auch Paul zu opfern, indem er ihn ins Leprosenheim einweist.

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Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen ... Bayard gegenüber steht Richards: Sein Ort im Dreieck ist anzusiedeln bei Schiff, Seesack und Liquidation mit Einsprengseln von Elementen der Ver¬ steinerung. Richards hört nicht ein Wort, das er zur Imago versteinert, sondern er gewahrt seinen Blick, versucht diesen wieder unter seine Herr¬ schaft zu bekommen und erreicht dies nur durch eine totale Negierung des Begehrens.Diese aber hat einen Rückfall in die Gestalt- und Sprachlosig¬ keit zur Folge. Für die Analyse der Begegnung zwischen Manuela und Richards sind fol¬ gende Nummern aus den Wortlisten wichtig: Lazertis: Nr. 6, dort der Satz "Dazwischen der Verdacht, nein schon die Gewißheit, daß Richards blind war." (111,34); beachte auch 111,29: "(..) Als ich eintrat, richtete er sich auf und wandte mir sein Gesicht zu, das, was einmal sein Gesicht gewesen war." Stein: Nr. 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 Seesack und Schiff: Nr. 5, 6, 7, 8, 17, 19, 20 Eidechse: Nr. 5, 11, 12 Torbogen: Nr. 6, 7, 8, 17, 18, 19 Aus dem Bericht Manuelas - es ist immer zu bedenken, daß es sich auch bei diesem um ein Gedächtnisprotokoll Pauls handelt - über die Begegnung mit Richards geht folgendes hervor: Sie lag hinter einer Hecke versteckt, die sich über einer Mauer erhob, und beobachtete von dort aus täglich die vorbeigehenden Personen. Nur hinter der Hecke verborgen wagte sie die Nähe der Menschen. Die Straße vor der Mauer führte zu einem Steinbruch, und man konnte von ihrem Platz aus den Felsen von Gibraltar (Stein) und den Hafen von Algeciras (Schiff, Seesack) sehen. Regelmäßig passierten vier Arbeiter ihr Versteck, deren Namen Manuela wie die Strophen eines seriel¬ len Gedichts wiederholt.39 "Ein einziges Mal kam ein Fremder." (111,22) Dieser ging die “Biegungen" (Richards wird sagen "Serpentinen") des Weges hinauf. "Kurz vor der Mauer blieb er stehen und blickte (!) die Mauer empor auf die Hecke und blickte (!) genau auf die Stelle, wo ich versteckt lag. Obwohl ich sicher war, daß er mich nicht sehen (!) konnte, fühl¬ te ich mich gesehen (!). Aber ich blieb hocken, ebenso bewegungslos wie die Eidechse, die auf der Mauerkrone in der Sonne lag. (...) Mit (...) hellen Augen starrte (!) er unverwandt auf mein Versteck, und es war mir als bewegten sich seine Lider die ganze Zeit nicht. (...) nach diesen wenigen Sekunden war er mir vertraut, ich kannte ihn seit langem, er war wie ein Bruder, mit dem ich aufgewachsen war, und ich liebte ihn.- Unversehens (!) drehte er sich um (...). Mir zog 38 vgl. S.U1 ff. 39 vgl. 111,21 f.: erneut eine .Yierergruppe (vgl. S.136), von der eine Person Ri¬ cardo heißt (beachte die Ähnlichkeit zu Richards) 148

sich das Herz zusammen, aber es war selbstverständlich, daß er ging. (...) Er war heraufgekommen, um die Hecke anzuschauen (!), hinter der ich lag, er war gekommen, damit er sich zu erkennen gebe. Das war geschehen, weiter bedurfte es keines Aufenthalts." (111,22 f.; Hervorhebungen durch mich, S.M.) Geradezu idealtypisch wird von Manuela die Aufspaltung in Sehen (Subjekt der Vorstellung) und Blicken (Subjekt des Begehrens/des Unbewußten) beschrieben. Die Verlangsamung der Schritte, das Halten vor der Hecke, die Unterbrechung der Kopfbewegung, als die Augen das Versteck Manuelas getroffen haben,40 dieses Abbremsen und dann Stocken der Bewegung mündet ein in den terminalen (bösen) Blick. "Der böse Blick ist das fascinum, das. was durch seine Wirkung die Bewegung stocken läßt und buchstäblich das Leben ertötet. Im Au¬ genblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. Die Anti-Lebens-, die Anti-Bewegungsfunktion dieses terminalen Punktes ist das fascinum, und es geht hier durchaus um eine der Dimensionen, in denen der Blick seine Wirkungsgewalt ent¬ faltet. (...) Weil jedes menschliche Begehren auf der Kastration ba¬ siert, übernimmt das Auge eine bösartige, aggressive Funktion, nicht bloß eine täuschende wie in der Natur."41 Der böse Blick hat die Kraft, Lebewesen zu dekomponieren, umzubringen. Manuela überlebt ihn, weil sie diesen Augen-Blick später verschiebt: In Pauls Traum (vgl. 111,42 f.)42 umschreibt Manuela Lacans Formel über das Begehren als Unbewußtes ("das Begehren des Menschen ist das Begehren des Andern")^3 und aufgrund dieser Erfahrung führt ihr Weg weder zum Steinbruch (= Versteinerung der Identität) noch zur Ausschließlichkeit des Schiffes (Liquidation der Identität). "Paul: Mein Leben. - Manuela: Das Leben von andern. - Paul: Das alles war nicht ich. - Manuela: Nicht einmal eine eigene Krankheit.44 - Paul: Und ich meinte - Manuela: Ich meinte es auch von mir. Aber es waren andere Augen, mit denen ich aus der Hecke schaute. Ich muß Ihnen etwas sagen, Paul: Der Weg führte nicht zum Steinbruch." (111,42 f.) Manuela und Paul sind am Ende andere Personen als zu Beginn. Bei Ma¬ nuela wird dies explizit gesagt ("andere Augen", die andere Manuela), wäh¬ rend Paul als Erinnernder des Textes zwar der 'eine Paul' bleibt, aber wie das Wort Lazertis, wie Manuela und wie die Eidechse im Verlauf mehrere Häutungen durchlaufen hat. 40 Wahrscheinlich haben die Ränder der Netzhaut »wie Hunde bei der Jagd die Beute« in der Hecke aufgespürt; vgl. S.43 41 Lacan 19873, a.a.O., S.125 42 Im Traum ist der Blick nicht mehr elidiert, sondern das Sehen des Sub¬ jekts der Vorstellung; der Blick zeigt sich; vgl. S.117 43 Lacan 19873, a.a.O., S.122 44 Hinweis darauf, daß Pauls vermeintlicher Aussatz ihm von Richards und Bayard eingeredet wurde. 149

Der Augen-Blick aus der Sicht Richards: Es mag Zufall sein, daß im Wörter¬ buch 'Blindheit' auf 'Blick' folgt (wie bei Richards) und 'See', 'Seele', 'Se¬ gel', 'Segen', 'Segregation', 'Sehen' und 'Sehnen' beieinanderstehen, als könnte es gar nicht anders sein, ein ganzes Wörtermeer, für dessen Wellen Richards ein schöner Spielball ist. Richards landet in dem Hafen, der seiner Ansicht nach kein Hafen ist, und hört in einer Kneipe einen Satz, der seine spätere Vorstellung von Algeciras prägt: "(...) und er (der Wirt; S.M.) meinte, Algeciras sei der Mittelpunkt der Welt, weil dort alles stillstehe und ringsum sich alles bewege.” (III,35) Jeder andere hätte vermutlich über diesen Satz gelacht. Nicht so Richards, er nimmt den Satz bitter ernst und erhält dadurch die Disposition für den Aussatz. "Ich ging an Bord, aber am nächsten Tag konnten wir nicht auslaufen und langweilten uns weiter. Zu Mittag hielt ich es nirgends mehr aus. Ich schlenderte durch die Gassen und kam auf eine Straße, die in Serpentinen den Abhang hinaufführte. Es war kein Vergnügen, in der Hitze dort zu gehen, ich wollte nirgends hin, die Langeweüe trieb mich. Plötzlich war ich am Mittelpunkt der Welt." (111,35; Hervorhe¬ bung durch mich, S.M.) Richards Augen erhaschen in der Hecke ein anderes Augenpaar, was sie aber sehen (Subjekt der Vorstellung), ist eine Eidechse, von der Richards nachträglich sagt: "Eine Eidechse saß auf der Mauerkrone, mit erhobenem Kopf war sie wie in der Bewegung erstarrt." (111,35) Die “versteinerte" Eidechse reflektiert den terminalen Blick (den von einer unterbrochenen Geste ausgehenden Augenschein), die Invidia Richards..^ Was ereignet sich während des Blickes, und wodurch wird dieser zur Invidia? "Es war aber, als sähen mich aus der Hecke ein Paar Augen an, die ich nicht sah." (111,35) Natürlich hat Richards die Augen bemerkt, und nur zu deutlich. Er hat sogar gesehen, daß die Augen einem Mädchen gehörten, das sich in diesem Au¬ gen-Blick in ihn verliebte und ihn durchschaute. Diese Wahrnehmung aber verfällt dem Unbewußten, und im direkten Anschluß an das obige Zitat redet er vom Felsen von Gibraltar, der das Symbol für seine Versteinerung ist. "Im Augenblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unter¬ bricht, wird es mortifiziert."^° Im Moment, da sich die Augenpaare Richards' und Manuelas treffen, gewärtigt Richards seinen Blick, sieht sich durchschaut und imaginiert, er habe das Zentrum der Welt (der symbolischen Ordnung) wahrgenommen. Alle drei Momente zusammengenommen gefährden Richards Identität, und er versucht sich zu retten, indem er sich nach der Verdrängung des Augen-Blicks als 45 vgl. Lacan 19873, a.a.O., S.122 ff. 46 Lacan 19873. a.a.O.. S.125 150

Herr der Lage aufspielt und sich in die Position des autonomen und selbst¬ gewissen Subjekts der Vorstellung zurückzuversetzen sucht: "(...) Ich drehte mich um und ging, damit die Eidechse weiterliefe (= Verleugnung des Blickes; S.M.) und die Augen in der Hecke einem Mädchen gehören konnten (= Beweis dafür, daß Richards mehr sah, als er wahrhaben will), das mir neugierig nachstarrte (= Projektion der eigenen Erstarrung; Verdrängung der Entdeckung, daß Manuela ihn durchschaute und vermutlich mehr über ihn weiß als er selber, wes¬ wegen sie ihm wahrscheinlich alles andere als neugierig nachsah). Damit es so würde, drehte ich mich um und ging (= Pose des All¬ mächtigen). Verstehen Sie: damit alles vergessen würde." (111,36) Die abschließende Verdrängung wird ergänzt durch das Festhalten an der Vorstellung, am Mittelpunkt der Welt gewesen zu sein, welcher identisch ist mit dem Zentrum der symbolischen Ordnung, jenem vermeintlichen Urwort, das die Welt begreift und das Paul zu Beginn glaubte gehört zu haben: "Richards: (...) Ich kannte alles, ich hatte überall sehr lange gelebt. Und das ist eigentlich der Aussatz. Ich bekam ihn, weil ich ihn schon hatte. - Paul: Sind ihre Augen noch gut? - Richards: Jetzt ändert es sich allmählich. Je schlechter ich sehe, desto neuer wird alles für mich: Ich lebe nach rückwärts. Der Tod, das ist der Augenblick, wo die Welt wie am ersten Tag ist." (111,36) Der Aussatz besteht in dem Glauben, ein Verschieben nicht mehr nötig zu haben. Das Gesicht eines solchen Menschen ist nicht mehr vorhanden, und ein solcher Mensch ist blind. Lepra ist im Hörspiel die Metapher der Liqui¬ dierung des Begehrens. "Was bleibet aber, stiften die Dichter" Das Hörspiel "Das Jahr Lazertis" ist gearbeitet wie ein Palimpsest oder wie ein Gemälde, das auf ein anderes Gemälde gemalt wurde. Dies will sagen, daß dem manifesten Text ein oder mehrere Texte unterlegt sind, die aber nur an manchen Stellen zum Vorschein kommen. Einen Hinweis auf die zugedeckten Texte liefern die Namen, einen anderen die in "Das Jahr La¬ zertis" erwähnten Werke der Weltliteratur. Drei davon wurden bereits ge¬ nannt: die "Odyssee", Shakespeares' "Hamlet"47 und das Gedicht "Anden¬ ken" von Hölderlin. Einen weiteren wichtigen Text erwähnt Paul beiläufig in der letzten Szene: "(...) Professor Fervao wartete darauf, daß ich ihm den siebenten Gesang der Lusiaden vorläse, (...)" (111,52) 47 Wie sehr sich das Hörspiel »Das Jahr Lazertis« auf die Subtexte bezieht, ließe sich z.B. an der 5. Szene des 1. Aufzugs von »Hamlet« zeigen, in welchem einige zentrale Stichwörter des Hörspiels fallen (Lazarus, Aus¬ satz, Schlange); außerdem ist dort wie im 7. Gesang der »Lusiaden« von Inzest die Rede, und es fällt ein Wort, das uns im zweiten Teil der Arbeit beschäftigen wird: das Wort >MaulwurfSchafe, Bäume, eine Hecke scherenGras scherenErbswurst< 56 Auf die Kleinschreibung von b und c ist zu achten, da ABC im Wörterbuch in der Regel vor >Waffen< steht. 57 vgl. hierzu Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt a.M. 19882, S.47 58 zur »Erbsünde der Schrift« vgl. Derrida 19882, a.a.O., S.62; wie oben ge¬ zeigt wurde, kümmern sich Ehlpert und die anderen hauptsächlich um die alphabetischen Relationen der Worte; um diese untersuchen zu können, ist aber eine zumindest gedankliche Überführung der Worte in die geschriebe¬ ne Sprachform notwendig, da die alphabetische Ordnung von der graphematischen Ebene ausgeht. Im übrigen erzeugt die Erbsünde wie gezeigt ein System aus Signifikanten, die nicht mehr durch ein »natürliches Band« an die jeweiligen Signifikate fixiert sind, sondern allein vermittels der Diffe¬ renz auf Bedeutung verweisen; vgl. auch die Zeilen: »Es war kein Tag, 185

Die alphabetische Ordnung bildet einen der Ausgangspunkte zum Spätwerk Eichs. Der Alphabetismus hat aber Voraussetzungen, die hier erwähnt wer¬ den müssen. Ähneln die Worte der mitteilenden, informierenden Sprache entkernten Gebäuden, deren feinsäuberlich renovierte Fassaden den implantierten Kern verbergen, könnte man die vereinzelt in das Alphabet einsortierten Worte als Ruinen auffassen. Als solche entziehen sie sich zunächst jeder bequemen Verwendung, schon gar der Möglichkeit, daß man sich häuslich in ihnen niederläßt und sie für die eigenen Zwecke einrichtet. Herausgesprengt aus jedem hergebrachten Gebrauch, sind sie nur noch Zeugen einer katastropha¬ len Entwicklung und bieten sich gleichzeitig als Baumaterial für neue Text¬ gebäude an, denen die Bruchstückhaftigkeit und ihr Verweischarakter auf frühere Verwendungen noch anzusehen istP^ Die Katastrophen, denen die Worte ausgesetzt sind, hat Eich in seinem Werk ebenso durchgespielt wie die Möglichkeiten für die Meditation, die sich in den Worten eröffnet. Be¬ ginnen wir mit den Katastrophen. "Träume" "Oh, Träume sind wachsamer als Taten und Ereignisse, Träume be¬ wahren die Welt vor dem Untergang, Träume nichts als Träume."^ "Ich beneide sie alle, die vergessen können, / die sich beruhigt schlafen legen können und keine Träume haben / Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit / (...). / Im Grunde aber meine ich, daß auch das gute Gewissen nicht ausreicht, / und ich zweifle an der Güte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen. / Es gibt kein rei¬ nes Glück mehr (-gab es das jemals?-), / und ich möchte den einen oder andern Schläfer aufwecken können / und ihm sagen, es ist gut so. / (...)" (11,351)

"Keine Träume haben": Nach Dschuang Dsi "schliefen die wahrhaften Men¬ schen der früheren Zeiten traumlos", wobei mit den "früheren Zeiten" laut Gebser jenes Stadium innerhalb der Kulturgeschichte der Menschheit be¬ zeichnet wird, das in seiner gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und All dem Paradies des Schöpfungsberichtes gleichgesetzt werden kann.61 Die "blinde Zufriedenheit“ ist Reflex auf den Zustand von Adam und Eva, bevor sie versucht und ihnen durch den Sündenfall die Augen geöffnet wurden. sondern eine Enzyklopädie, die Bäume waren geschrieben, die Tomaten gedruckt, ein würdiges Begräbnis.« (1,313) 59 Den in »Hilpert« als Beispiel für den Alphabetismus genannten Worten ist ihr Verweischarakter auf einige Texte Kierkegaards, die Bibel, Meyers Kon¬ versationslexikon u.a. deutlich anzusehen. 60 Aichinger, Ilse, Die größere Hoffnung, Frankfurt a.M. 19832 (1948), S.79 61 vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.84 186

Auch wenn es dieses reine Glück einmal gegeben haben sollte,62 die Rück¬ kehr zu diesem vermeintlichen Glück lehnt Eich ähnlich wie Kierkegaard ab. Statt dessen fordern die letzten Verse des ersten Gedichts der "Träume" den Leser unmißverständlich auf, die Augen zu öffnen (zu erwachen aus dem traumlosen Schlaf) und zu sehen, "was es gibt", unter anderem "die Angst, die das Leben meint" (11,351). Die Angst ist das Leben, weil nur sie als eine "Bestimmung des träumenden Geistes" (Kierkegaard) den Menschen aus der Bewußtlosigkeit herausführt und auf die eigene Verstrickung in die Schuld aufmerksam macht.63 Der erste "Traum" versetzt den Hörer in einen Güterwagen, in welchem ei¬ ne Familie seit vierzig Jahren eingesperrt durch die Welt rollt.64 Die Fami¬ lienmitglieder sind namenlos und in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite der und die Uralte, welche als einzige noch die Welt außerhalb des Güterwagens erlebt haben. Auf der anderen Seite der Enkel, die Frau und das Kind; sie kennen nur die Innenwelt des Güterwagens. Stereotyp versuchen die beiden Uralten, die Vergangenheit in Worte zu fassen, welche in zwei Sphären zerfällt: in eine Welt, die trotz der Erin¬ nerungsversuche seltsam raum- und zeitlos bleibt, in der aber "alles gut" und sie selbst, ohne es zu wissen, "glücklich waren" (11,353). Die zweite Sphäre beginnt mit dem plötzlichen Auftauchen einer anonymen Macht in Gestalt von vier uniformierten Männern, die sie exakt um vier Uhr nachts aus den Betten holten und in einen Güterwagen sperrten. An keiner Stelle versuchen die Uralten die beiden Sphären zueinander in Beziehung zu set¬ zen. In ihren Erinnerungsversuchen kommt die Frage nach dem "Warum" des Rauswurfs aus ihrer als Paradies empfundenen Umwelt nicht vor. Auch scheinen sie die Möglichkeit der Existenz der Macht und des Bösen inner¬ halb ihres Paradieses, in dem es Dinge gab, die sie "Himmel nannten und Bäume", von vornherein auszuschließen, ja es ist sogar fraglich, ob sie die Macht später irgendwann als solche identifiziert haben ("Uralte: Ich glaube bestimmt, daß es die Feuerwehr war." 11,352). Die Wiederholung der Worte wie "Ziegenmilch" und "Löwenzahn" verlängert deswegen nur den Schlaf, in dem sie sich vor der Verschleppung wiegten. Dennoch provozieren die Wor¬ te die anderen Insassen des Güterwagens: "Enkel: (...) Daß es etwas geben soll, was du gelbe Blume nennst, und irgendwelche Wesen, die du Tiere nennst (...) ? Alles Wörter, Wörter, - was sollen wir damit? Uralter: Man muß es wissen, man kann nicht aufwachsen ohne eine Ahnung von der wirklichen Welt. 62 Der Zweifel daran deutet bereits auf Eichs Aussage innerhalb der BiichnerPreis-Rede hin, daß die Macht = das Böse bereits vor dem Sündenfall exi¬ stierte. 63 vgl. die Verse »Alles, was geschieht, geht dich an« (11,351) und »Denke da¬ ran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen, / das sich fern von dir abspielt.« (11,359) 64 Eine sehr gute Interpretation der »Träume« findet sich in: Post, Klaus Peter, Günter Eich. Zwischen Angst und Einverständnis, Bonn 1977, S.90-143 187

Enkel: Es gibt keine andere Welt außer dieser hier. (...) Ich bin si¬ cher, daß draußen nichts anderes ist als die gleichen dunklen Räume, die sich durch die Finsternis bewegen." (11,354 f.) Der Uralte hätte auch sagen können: "Man muß wissen, man kann nicht aufwachen ohne eine Ahnung der wirklichen Welt." Die Ahnung aber wäre die Angst, und genau sie wird sowohl von den Uralten als auch den anderen im Güterwagen beständig verdrängt. "Beide Seiten sind in ihrer Welt befangen. Die Uralten in ihren Erinne¬ rungen, der Enkel und seine Frau in den Begrenzungen und in der Dunkelheit des Waggons. Nur das Kind steht haltlos zwischen diesen Welten. Es weiß um die Realität des Eisenbahnwaggons, möchte aber trotzden die gelbe Blume akzeptieren. Es muß seine Realität noch su¬ chen und spürt von allen zuerst die Empfindung der Leere und Verlorenheit."^ Bei den Uralten geschieht die Verdrängung durch eine Form der Erinne¬ rung, welche die eigentliche Erinnerung beständig verhindert: Die Wie¬ derholung der Worte entfremdet sie den Alten nicht und macht ihnen das Idyllische der Vergangenheit nicht fragwürdig. Der Enkel und seine Frau dagegen sind ganz in jener Sprache gefangen, welche Eich später als die gelenkte bezeichnet: "Stichwort: Sprache als Information: Information wird heute noch defi¬ niert als Mitteilung von Tatbeständen." (IV,626) Worte haben für den Enkel und seine Frau nur dann Wirklichkeit, wenn sie mit empirisch überprüfbaren Tatbeständen korrespondieren. Alles andere gehört für sie in den Bereich der Märchen, der für sie mit dem der Träume (= Schäume) zusammenfällt (vgl. 11,354). Das Kind lebt ohne die bannende Vergangenheit in der Gegenwart, und die Sprache ist bei ihm noch nicht zum reinen Informationsmedium erstarrt: Gerade deswegen ist das Kind of¬ fen für die Angst. Es bemerkt als erstes die Öffnung der Innenwelt zur Außenwelt. Sowohl der Enkel als auch der Uralte halten aber den Blick nach draußen nicht aus, weil sie das Gesehene nicht mit ihrer bisherigen Lebens¬ welt beziehungsweise mit den Erinnerungen in Einklang bringen können. Beide bekommen Angst (Enkel: Nein, ich habe Angst. (...) Uralte: Nein, ich will nicht mehr hinaussehen. (...) Ich habe Angst. (...) Uralter: An was können wir jetzt noch denken? Uralte: Die Erinnerungen machen mir Angst. 11,356 f.).66 Anstatt jedoch die Angst auszuhalten und als Möglichkeit der Befreiung zu erkennen, beschließen sie, das Loch, durch das die Angst hereinschlüpfte, zu verstopfen: "Uralter: Wir wollen das Loch verschließen. Enkel: Ja, wir wollen es verschließen. So. Frau: Gott sei Dank, daß es wieder ist wie vorher." (11,357) Der Versuch, die Angst wieder auszusperren, scheitert. Die Insassen des 65 Post 1977, a.a.O., S.103 f. 66 vgl. Post 1977, a.a.O., S.104 f. 188

1 Wagens werden durch die eingedrungene Angst überrollt; die Angst kann inun nicht mehr als Instrument der Bewußtmachung eingesetzt werden, son(dern liefert die Familie der Katastrophe aus. “Nicht die Wahnsinnstat einer äußeren Macht läßt die Familie in ra¬ sender Fahrt dem Abgrund zustreben. Der treibende Faktor ist die eigene Lebenslüge."67 1 Die Fahrt der im Güterwagen Eingesperrten wäre nach Freuds Terminologie i der manifeste Trauminhalt, durch den die Lebenslüge als latenter Traumgei danke hindurchschimmert. Indem der Hörer diesen entziffert, wird er auf! merksam auf die Konsequenzen einer perspektivischen Verwendung der Sprache (verklärende 'Erinnerung' bzw. Sprache als Information) und das 'durch diese Verwendung Geleugnete. Die massiven Hörerproteste zeigten, daß die Mehrzahl der Hörer ebenso wie die Insassen des Zuges reagierten: Sie wollte das Loch im Unterhaltungsprogramm des Rundfunks möglichst schnell wieder zustopfen. "Die Stunde des Huflattichs“ Das Hörspiel "Die Stunde des Huflattichs" führt den Hörer in eine Welt, die ähnlich alptraumartig anmutet wie die Schauplätze der "Träume". Tat¬ sächlich scheint "Die Stunde des Huflattichs" aus dem ersten "Traum" ent¬ wachsen zu sein. Die gelbe Blume aus den idyllischen Erinnerungen der Uralten überwuchert in "Die Stunde des Huflattichs” die Welt.^ Außer ein paar übriggebliebenen Menschen gibt es keine anderen Lebewesen (keine andere 'Biomasse') als den Huflattich, dessen üppiges Wachstum alles über¬ deckt hat: die dingliche Welt, die Sprache und die Gefühle. Die letzten fünf Menschen erinnern ihre früheren Namen nicht mehr. Stattdessen rufen sie sich mit den Anfangsbuchstaben des griechischen Alphabets. "Alpha: (...) Uns verbindet nur das griechische Alphabet. Und das ist doch recht zufällig.“ (111,600) Alpha, Beta, Gamma und Delta leben in und außerhalb einer Höhle in der Auvergne. Ihr Sprachgebrauch korrespondiert mit der jeweiligen Einstellung zu ihrer Behausung. Alpha verläßt die Höhle, die er sich gemütlich einge¬ richtet hat, nur selten (vgl. III, 579 und 587) und vertraut zunächst auf die Sprache, die er aus der Zeit vor dem Überhandnehmen des Huflattichs erin¬ nert. Bis kurz vor dem Schluß ist es für Alpha unproblematisch, ungewohnte 67 Post 1977, a.a.O., S.106 68 Es werden hier nur die mit ungeraden Zahlen bezifferten Szenen betrach¬ tet. 69 vgl. die Verse »Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist (...) denke daran jetzt, (...) während du das Wachstum als ein feines Knistern zu hören glaubst« (11,358): Dieses Knistern schwillt in »DStdH« an und verkündet das kommende Unheil (vgl. 111,585 »Knistern in der Luft«, »Lö¬ wenzahn«, »Huflattich« und die Regieanweisung 111,595: »Man hört ein lei¬ ses, aber eindringliches Knistern.«) 189

Erscheinungen (die "Blitze")70 mit überkommenen Wörtern zu etikettieren. Er sieht seine Aufgabe in der Erinnerung, für die im Werk Eichs zusammen mit allen anderen unterirdischen Räumen durchgängig die Höhle steht. An¬ ders als die Uralten des ersten "Traums" wird Alpha allerdings teilweise von den Wörtern überwältigt, und es gelingt ihm nicht immer, sich in solchen Situationen in einen mit Ironie angereicherten Sarkasmus bzw. eine nur ihm eigene anthropozentrische Überheblichkeit zu flüchten. Beta, der Pragmati¬ ker unter den vieren, denkt über das Weben von Kleidern aus Huflattich nach und dringt tiefer in die Höhle ein, um nach dort vermuteten Konser¬ venlagern zu suchen. Betas Sprechen ist fixiert auf die Konserven, und er ist blind für alle Vorgänge außerhalb der Höhle. Er nimmt die "Sprache” der Berge auch dann noch nicht wahr, als das Unheil offenkundig ist, und platzt mitten in die apokalyptisch anmutende Schlußszenerie mit den Worten: "Hier das Gemüse. Alles ganz frisch, als ob es gestern eingemacht wurde." (111,622) Gamma und Delta verlassen sich nicht wie Alpha auf die alten Sprachmuster. Sie leben außerhalb der Höhle und beobachten die Veränderungen der Um¬ welt. Da sie erkennen, daß die alten Benennungen nicht mehr stimmen, begnügen sie sich mit einem negierenden Sprechen: "Gamma: Was war das? - Alpha: Donner. - Delta: Wenn es Donner war. - Alpha: Der Donner, der euch zum Gewitter fehlte. - Gamma: Nein, es ist kein Gewitter. - Alpha: Und die Blitze? - Delta: Sind keine Blitze:" (111,600) Die Sprachskepsis der beiden ist allerdings gepaart mit einer nihilistischen Lethargie, die sie mit allem einverstanden sein läßt. An die bisher gemachten Ausführungen zum Alphabtismus-Konzept läßt sich am ergiebigsten bei der Figur Alpha anknüpfen. In der ersten Szene spricht Alpha vom Sündenfall: "Alpha: Es geht um mein Schamgefühl. - Beta kichert: Schamgefühl. - Alpha: Ich weiß jedenfalls nicht - Es ist schon so lange her. - Beta: Was? - Alpha: Beta, weißt du, ob du ein Mann oder eine Frau bist? Beta: Nun ja. - Alpha: Ich habe den Verdacht, daß es das überhaupt nicht gibt. Es ist nur eine Erfindung von mir, so etwas wie ‘Dauerlauf' oder 'Geburtstag'. Unfaßbar und eine Täuschung meiner Erinnerung. (...) Ich muß gestehen, Beta, ich sehe keinen Unterschied. Möglicherweise gibt es einen, aber ich sehe ihn nicht. - Beta: Ich achte nicht darauf. Alpha: So ist es. Ich achte nicht darauf. Ich sehe nichts. Ich bin vor dem Sündenfall. Und wenn ich an die Verwicklungen denke, möchte ich auch keineswegs einen Apfel essen. Danke. - Beta: Ich möchte gern einen Apfel essen. - Alpha: Dann diese Geschichten, die wir uns erzäh¬ len. Ein Zwang, der uns Kehle, Zunge und Lippen bewegt und unsere Ohren verwirrt. Welches ist deine, welches ist meine Geschichte? Ich 70 vgl. 111,579, 586, 592, 614 71 Nachfolgend verwende ich der Einfachheit halber trotz der Unsicherheit des Geschlechts von Alpha und den anderen maskuline Pronomina. 190

weiß es nicht mehr. Hat Gamma die Rose erfunden und Delta den Sauerteig? Mir geht die Dezimalrechnung mit der Erbsünde durcheinan¬ der..." (111,581) Die Aussagen Alphas sind hier wie überall im Hörspiel paradoxer Art. Alpha spricht von Schamgefühl, gleichzeitig weiß er nicht, welchen Geschlechts er ist. Scham ist nach Kierkegaard aber gerade ein "Wissen um die geschlecht¬ liche Differenz, nicht aber als Verhältnis zu einer geschlechtlichen Differenz, das heißt, der Trieb ist nicht als solcher zugegen."72 Alpha bekleidet sich wie Adam und Eva nach dem Sündenfall mit Blättern und sagt gleichzeitig, er sei vor dem Sündenfall und sähe keinen Unterschied. Immerhin erinnert er noch das Wort 'Sündenfall'. Wie die Worte 'Dauerlauf', 'Geburtstag' und all die anderen sprachlichen Rudimente aus der Zeit vor der explosions¬ artigen Vermehrung des Huflattichs scheint aber auch das Wort 'Sündenfall' für Alpha rätselhaft zu sein, so rätselhaft, wie etwa die Hieroglyphen vor ihrer Entschlüsselung durch Champollion. Wobei dieser Vergleich nicht ganz treffend ist, denn für Alpha sind die Worte nur noch entfernt erinnerte Silbenfolgen, die ihn nicht ins Bild setzen: "Beta entfernt: Spinat, Steinpilze, Ölsardinen. Alpha: Keine Vokabel dabei, die mich lockt. (...) Für sich. Konserven aus Tausendundeiner Nacht und versteckt von den Brüdern Grimm. Ächzend. Mein Gedächt¬ nis, immer neue Beleuchtungen und kein Bild. Wenn ich nur wüßte, wenn ich nur wüßte." (111,583) Manchmal bewegt sich Alphas Zunge wie von selbst, so wenn er die Worte "bürgerliche Vorurteile" artikuliert, ohne auch nur im geringsten zu wissen, was diese bedeuten (vgl. III, 608). Alpha hallen die Worte aus der Vergan¬ genheit im Ohr, sie sind der Zwang, der ihm die Kehle, die Zunge und die Lippen bewegt, und verursachen ihm Schmerzen. "Alpha: Ich aber - Delta: bist im Sterben, ja. - Alpha: Weil ich mich erinnere und nicht erinnere. - Gamma: Und wenn du einmal hinschaust, ganz ohne Erinnerungen? - Delta: Vielleicht ergäbe sich aus dem Wet¬ terleuchten etwas ganz anderes? - Alpha: Ein Wort oder ein Bild? Ich reiße die Augen auf, aber alles fließt ineinander, und es zu ordnen, macht mir Schmerzen. Ganz körperlich, versteht ihr wohl, in der Milz beginnend und quer herüber zur rechten Rippe. - Delta: Dann laß es. Alpha ärgerlich: Aber es drängt mich dazu. - Delta: Uns drängt nichts. - Alpha: Ich nehme es auf mich. - Delta: Wetterleuchten und Ottobrunn. - Alpha: die Schmerzen und die Sätze. Erregt. Sätze, Satzfetzen, ganze Geschichten. Wohin damit? - Gamma geduldig: Orte genug." (111,587 f.) Schemen- und schattenhaft tauchen die Worte in Alphas Erinnerung auf. Wie Worte im Traum sind sie anders zentriert, durcheinandergemischt und inein¬ anderfließend. Alpha versucht sich ihrer zu vergewissern, indem er sie zu verorten trachtet. Barcelona, Cuneo, Ottobrunn: Ähnlich wie Atlantis sind 72 Kierkegaard 1976, a.a.O., S.521

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sie längst versunken. Alpha skandiert ihre Namen und insbesondere den Namen Ottobrunn in der Hoffnung, es mögen weitere Bruchstücke der untergegangenen Sprache an die Oberfläche gespült werden. Die Milz und die Verwendung von Orten als Gedächtnisstützen, beide Ele¬ mente greift Eich später im "Maulwurf" "Exkurs über die Milz (M.130 f.) erneut auf. Es heißt dort: "Gewiß gibt es Punkte auf der Welt, die ich milzähnlich verwende, ich weise ihnen Funktionen zu, sie übernehmen mein Gedächtnis, so habe ich mich auf vier Kontinenten eingerichtet, muß fleißig herumfahren, um alles beisammen zu haben." (M,130)73 Während allerdings Alpha "unter Schmerzen" versucht, Ordnung in die Ver¬ gangenheitsfragmente zu bringen und sich also eher wie der 'Buchhalter' in "Ein Tibeter in meinem Büro" (M,112 f.) verhält, äußert das Text-Subjekt von "Exkurs über die Milz" im Gegenteil: "Ach hebe Milz, erinnere dich an die Oderbuhnen, bring alles durch¬ einander! Es ist so selten, daß man alles in einem Punkt beisammen hat, in einem zugespitzten Augenblick, der den ganzen Bleistift ent¬ hält." Durcheinandergewürfelt soll die Zeit in einem zugespitzten Augenblick kom¬ primiert werden. Alpha dagegen ist Historist: "Alpha: (...) ihr glaubt nicht mehr an die Wissenschaften. (...) Zum Beispiel Geschichte. - Gamma: Geschichten! - Alpha: Laß meine Wörter in Ruh! Ich sagte Geschichte. Wenn man nicht fähig ist, den Fortschritt zu sehen - er ist offenkundig! Alles entwickelt sich, das ist das Merk¬ würdige und ist doch so tröstlich. Da das Gewitter. - Gamma: Es ist kein Gewitter. Ein offenkundiger Fortschritt. - Alpha: Der Blitz. - Del¬ ta: Ist kein Blitz. - Alpha: Das Feuer. - Gamma: Ja. - Delta: Merkwür¬ dig und nicht sehr tröstlich. Der Donner fehlt nämlich." (111,592) Noch während sich die Möglichkeit einer endgültigen Katastrophe andeutet, welche nicht nur den Menschen, sondern jegliches Leben auslöschen wird, findet Alpha Trost in jener Idee, die schon immer Trost gewährte: die des Fortschritts.7^ Um diese retten zu können, muß Alpha die schemenhaft erinnerten Worte gerade so verwenden, als seien sie glasklar und scharf Umrissen und gleichzeitig amöbenhaft genug, um auch Phänomene bezeichnen und einordnen zu können, die die vergangene Welt nicht kannte und die also auch nicht in deren Sprache ihren Ausdruck fanden. Dies bedeutet aber: Alpha flüchtet aus den schmerzlichen Erinnerungen in die "Fröhlichkeit", die dem zunächst gewährt wird, der sich auf eine perspektivische Zurichtung der Worte einläßt/3 73 Im vierten Absatz heißen diese Punkte »Milzorte«; vgl. auch die Ausfüh¬ rungen über die Anfertigung von Gedächtnislabyrinthen, S.S1 f. 74 vgl. hierzu Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, in: ders. Il¬ luminationen, Frankfurt a.M. 19843, S.2S1-261, bes. These IX und XIII ff. 75 vgl. die zweite Szene 111,585: »Cornelia: Und die perspektivische Verkür¬ zung? Hat sie Nachteile? - Raimund: Eher nein. Der Eindruck von Herr¬ schaft verstärkt sich.« 192

Alpha bestürzt: Man sieht den Himmel. (...) Den Himmel! Eine Verän¬ derung, die ich nicht leugnen kann. Nach einer kurzen Pause. Aber ich ordne sie ein. - Epsilon: In die Zusammenhänge, die sich anbieten, in den Staub, ins Feuer. - Alpha: In die Fröhlichkeit Epsilon seufzt - Al¬ pha mit Überzeugung: Die ich Fortschritt nenne." (III,616)76 Alphas Bezug auf die Angst, die "der Anfang war"'7'7, seine einstigen Über¬ legungen zur "Hierarchie unseres Unglücks" (111,581), seine Krankheit zum Tode und seine Versuche, sich zu erinnern, all dies könnte man als die Anstrengung auffassen, in einer unmenschlichen Umgebung letzte Residuen des Humanen zu retten. Doch als es ernst wird, zieht sich Alpha, um sich zu beruhigen, auf die Position der Macht zurück, auf die "Wissenschaften", auf die Idee des Fortschritts und auf einen Anthropozentrismus, der alles begründen soll und in dem Satz gipfelt: "Alpha: Nein, nein, ihr redet leichtfertig. Keine Welt ohne uns. Vergeßt nicht, daß wir den Apfel gegessen haben." (111,619) Wohlgemerkt hat Alpha lange vorher behauptet, er sei vor dem Sündenfall und wolle nicht vom Apfel essen. Verunsichert durch die Reden Deltas, Gammas und vor allem des neu dazugekommenen Nomaden Epsilon glaubt Alpha, sich durch die Erklärungen, die die "Wissenschaft" bereitstellt, retten zu können. Erst als er diesen Glauben verloren hat, so könnte man den Schluß des Hörspiels interpretieren, wird er offen für eine Erinnerung der Worte, die die gegenwärtige Umwelt nicht mehr ausschließt/^ Vielleicht aber läuft Alpha auch nur erneut davon. Am Beispiel der Figur Alpha macht Eich deutlich, wie die schemenhaften Worte plötzlich Umschlagen in eine scheinhafte Präzision, die nur vorüberge¬ hend die Sorge verdeckt. Beide Hörspiele veranschaulichen eine Sprachzerstörung, durch die Namen 76 Das Sichtbarwerden des Himmels gleicht dem Eindringen der Außenwelt in den Güterwagen im ersten Traum; Alpha versucht die Veränderung auf der höheren Ebene eines eingebildeten Fortschritts zu entschärfen und setzt damit die Abdichtung seiner Sinne fort; laut Gebser zeigt die Unterschei¬ dung von Blau und Grün (von Himmel und Erde) das Ende der archaischen Bewußtseinsstruktur an: vgl. Gebser 1986, a.a.O., S.85 77 vgl. 111,592 u.f.; wie oben erläutert, kündigt sich in der Angst nach Kierke¬ gaard der Verlust der Unschuld und der Unwissenheit an. 78 Ich bezeichne Alphas seit Jahrzehnten andauernde Hypochondrie hier ab¬ sichtlich mit einem Buchtitel Kierkegaards; es scheint mir so, als wolle Alpha zu Beginn des Hörspiels in einer scheinbar zeitlosen Welt die Mög¬ lichkeit des Todes behaupten; in der Verzweiflung bewahrt er das, was nach Kierkegaard den Menschen vom Tier unterscheidet; vgl. 111,600: »Alpha: Erinnerungen. - Gamma: Haben wir auch. - Alpha: Aber keine Unruhe darüber. Ihr habt es leicht, ewig zu leben. - Delta: Während du eine Krankheit daraus gemacht hast. - Gamma: Die dich verpflichtet zu sterben.« und Kierkgaard 1984 (A), a.a.O., S.14 ff 79 Ruth Liebherr-Kübler interpretiert die Erinnerungsversuche Alphas am Schluß des Hörspiels als »letzten Widerstandsakt, als letztes bißchen Menschen¬ würde«; vgl. Liebherr-Kübler, Ruth, Von der Wortmystik zur Sprachtechnik, Bonn 1977, S.139 193

gänzlich vernichtet werden und die von den Worten der menschlichen Spra¬ che in ihrer signifikanten Funktion nur Ruinen übrig läßt. Die Differenz ist gelöscht, ohne daß dies die Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Namenssprache im Benjaminschen Sinne bedeutete. Träume führen an jenen Scheitelpunkt heran, auf dem die Namenssprache in die menschliche Sprache umkippt.Wie im ersten Teil der Arbeit anhand von Freuds "Traumdeutung" gezeigt wurde, sind die Worte auf diesem Scheitelpunkt (im Traum) bereits Signifikanten, ohne daß, wie normalerweise im Wachzustand, die Spuren einer mimetischen Verwendung ganz getilgt wären. Das Alphabetismus-Konzept Eichs ist an diesem Scheitelpunkt verortet. Die das Alphabetismus-Konzept vorbereitenden Texte Eichs kann man daran erkennen, daß sie den Unterschied von Namen und Worten in Frage stellen und Wortumfelder in alphabetischen Reihen aufgreifen. "Eine Stunde Lexikon. Ein Traumspiel“ In dem sehr frühen, nur noch als Fragment erhaltenen Hörspiel "Eine Stunde Lexikon. Ein Traumspiel" wird der als Leser bezeichneten Hauptfigur auf einem Jahrmarkt geweissagt, er werde noch in derselben Nacht das große Glück haben (11,56).®^ Heimgekehrt fragt sich der Leser, welches Glück ihm in der kurzen, verbleibenden Zeit des Tages noch beschert werden könnte: "Mir ist, als hätte ich diese Minuten der Erwartung schon einmal erlebt, aber wo war das und in welcher Zeit? Wann erwarteten mich schon einmal die Dinge der Welt? In welchem Leben war das? - Oh, jetzt erinnere ich mich: Es war, wenn ich als Kind im Lexikon las." (11,57) Die kindlichen Phantasiereisen in den Stichwörtern jenes Lexikons, das durch die Nennung der auf den Rücken der einzelnen Bände "in Golddruck" (11,58) eingeprägten Worte leicht als das in "Hilpert" zitierte zu erkennen ist, äh¬ neln denen von Benjamin in "Schmöker" beschriebenen.^ Unversehens ist der Leser in das Lexikon eingetaucht und begibt sich auf die Suche nach einem 'Azzola'. In seiner Phantasie betritt er Geschäfte, fragt nach dem ’Azzola' und wird jeweils von einem Mädchen bedient, dessen Stimme er vorher auf dem Jahrmarkt das Lied von Vergessen und Tod hatte singen hören. Der Name des Mädchens nennt ein Stichwort im Lexikon CCordyline'), allerdings ist sie mit dem Namen nicht zufrieden: "Leser: (..) ich finde Cordyline schön. (...) Aber wo ist sie denn? Nein, sie ist nicht mehr da, ich sitze vor meinem Regal und blättere im Lexi¬ kon: Cordyline, Bäume und Sträucher der Tropen. (...) Da sitze ich und warte, es ist die letzte Stunde des Tages, die stillste Stunde, der si80 = der Moment des >SündenfallsSchriftkeinsmystischer Ort und Stein der WeisenInterjektionAntwortmystischen Ort< - vorstoßen, wo die Summe des Wissens gezogen wird, die mehr ist als ihre Partikel, und wo das vollkommenste Gedächtnis sich selber vergißt: >Interjektion als AntwortAufgabeüber den Jordan / die Wupper gehen< 98 z.B. 111,621: »Das Ach, das sie enthält, und die Nacht, auf die sie sich reimt, das ist sie (die Macht; S.M.): Der Seufzer und die Finsternis in un¬ serem Leben.«; M,116: »Ach und O sind zwei Gedichte, die jeder versteht.«

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"Ach: das ist aqua99 und ist ein Seufzer. Geh in die Meere! Erreiche ohne Wissen Kagoshima, die erste Stadt, ohne Wissen die Seufzer der Anstaltstüren, (...) erreiche um Adieu zu sagen Läden für Schreibwaren und ein mittleres Fährschiff." (1,141 f.; Hervorhebungen durch mich, S.M.) Ein "mittleres Fährschiff', also nicht das letzte Fährschiff (= der Kahn Cha¬ rons), eignet sich, um vom Festland in See (Erinnerung) zu stechen und dabei zwar den Halt des Wissens zu verlieren, aber die Seufzer vergangener und gegenwärtiger Leiden aufzuspüren. Eich kündigt nicht dem Uberset¬ zungsmotiv als solchem seine Gefolgschaft, sondern dem Einverstandensein mit dem Tod, welches er in "Die Mädchen von Viterbo" bekundete. Ange¬ strebt wird nicht mehr die endgültige Übersetzung, denn diese bedeutete den Tod und den Verlust der signifikanten Sprache, sondern nur noch die Übersetzung bis in den Bereich der Signa, in das Reich der Zeichen.100 "Vor allem durch die Schreibwarenhandlung, den Ort und Katalog der fürs Schreiben erforderlichen Dinge, gelangt man in den Raum der Zeichen."101 "Die Bleistiftmine lieb ich am meisten" hieß es in "Inventur" (1,36). Auch in der Zeit kurz nach der Niederschlagung der Nazi-Herrschaft versuchte Eich das "Reich der Zeichen" (- der Signa) zu erreichen, in den dann geschriebe¬ nen Gedichten allerdings von der anderen Seite dieses Reiches. Verstummt durch den Krieg, versucht Eich in den Gedichten aus "Abgelegene Gehöfte" sich in der "Wirklichkeit zu orientieren" und diese durch ein Zur-SpracheBringen zu erzeugen.102 Deshalb sagt Eich in der Rede von 1956: "Ich befinde mich in der Lage eines Kindes, das Baum, Mond, Berg sagt 99 vgl. Meyers Konversationslexikon 1906, a.a.O., Bd.l, Stichwort >ach< 100 vgl. S.25 ff. 101 Barthes, Roland, Im Reich der Zeichen, Frankfurt a.M. 19875, S.116; dieses Zitat belegt wie viele andere, daß zwischen Eich und Barthes, die sich im Jahre 1956 in Vezelay begegneten, eine Kongenialität besteht, deren Aus¬ maß nur in einer eigenständigen Arbeit auszuloten wäre; vgl. aus »Im Reich der Zeichen« auch S.33 ff., 51 ff. und dazu 1,177 ff.; die Überein¬ stimmung der Wahrnehmung von Kleinigkeiten der japanischen Lebens¬ welt, beispielsweise das Zeichnen von Lageskizzen, die Verbeugung am Ende der Rolltreppe, die Zubereitung der Nahrung und die Steingärten gehen Hand in Hand mit einem beinahe identischen Sprach- und Litera¬ turverständnis. 102 vgl. S.198, Fn. 94

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und sich so orientiert." (IV,614) In dieser Zeit betritt Eich in seinen Gedichten das Reich der Zeichen vom sensiblen Ende des psychischen Apparates her. Wirklichkeit wird gefunden und erzeugt, indem Worte gefunden werden. Die Büchner-Preis-Rede steuert das "Reich der Zeichen" bereits vom Motilitätsende an. Die Zerstörung der Wirklichkeit wird nicht mehr aus dem durch die Katastrophen des Krieges und der Nazi-Zeit erzeugten Verstum¬ men abgeleitet, sondern aus einem Sprechen, in dem die Worte wirklich¬ keitsleer geworden sind, gerade weil sie ähnlich wie der Pförtner aus "Man bittet zu läuten" über-bestimmt sind.^ Das Wort "Segeltuch" zu Anfang des Gedichts "Zum Beispiel" ist solch ein überbestimmtes, perspektivisch wahrgenommenes Wort. Eich sieht es so nah an, daß es als eine Buchstabenwolke zwischen "Schöneberg" und "Sternbe¬ deckung" zurücksieht^4 und nähert sich in gewisser Weise der Textkonzep¬ tion des Frühwerks ("Eine Karte in meinem Atlas", "Eine Stunde Lexikon”): hier wie dort werden die überbestimmten Zeichen durch eine traumähnliche Rezeption mit Wirklichkeit erfüllt.^ "Rückläufiges Wörterbuch" (M,83) Für die Darstellung des Alphabetismusprogramms ist nur der zweite Absatz des "Maulwurfs" relevant: "Gleich am Bücherkarren habe ich angefangen zu lesen, eine Trouvaille. Das Wörterbuch ist rückläufig, fängt bei Saba an und endet mit Neger¬ jazz. Neuartig, noch dazu exotisch, viel Stoff für Illuminationen. Ich brauche kaum noch Licht." (M,83) Bereits Neumann deckte auf, daß es sich bei diesem Wörterbuch um Erich Maters "Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" han¬ delt.*^ ln diesem Wörterbuch sind die Stichwörter ohne jeden weiteren Zusatz in vier Spalten "vom Wortende her bis zum Wortanfang hin durchge¬ hend alphabetisch geordnet".^ Der Kontext der Worte erschöpft sich also im Stichwortumfeld, und dieses ist quasi spiegelbildlich angeordnet. 103

Der Pförtner ahnt, daß ihm im Schweigen die Wirklichkeit auf den Leib rücken würde; deswegen redet er ununterbrochen (vgl. inbes. 111,702). 104 vgl. S.120 105 vgl. Käser, Rudolf, Zeichenmagie und Sprachkritik in einem frühen Prosa¬ text Günter Eichs. Eine Fallstudie zur Frage, wie literarische Texte ihre Lesbarkeit problematisieren, in: Sprache im technischen Zeitalter, 101/1987, S.63 ff. 106 vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.98; in der neuen Gesamtausgabe Eichs heißt es in den Anmerkungen, daß sich dieses Wörterbuch, dessen erstes Er¬ scheinen dort allerdings in das Jahr 1965 gelegt wird, in Eichs Besitz be¬ fand; vgl. 1,549; der Titel des Wörterbuchs ist in den Anmerkungen ver¬ mutlich falsch zitiert, es heißt auch heute noch »... der deutschen Ge¬ genwartssprache« und nicht »... der deutschen Umgangssprache«; vgl. Mater, Erich, Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Leipzig 19896 (unveränderte Neuauflage) 107 vgl. Mater 19896, a.a.O.. Vorbemerkungen

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Die Anordnung der Wörter zwingt einen zunächst beim Nachschlagen trotz der rechtsläufigen Schreibrichtung zu einer linksläufigen Leserichtung. Diese Umkehrung zeitigt eine Reihe von Konsequenzen für die Rezeption. Es be¬ darf einiger Übung, sich von der gewohnten Leserichtung zu lösen, denn das Lesen vom Wortende her wirft einen zunächst in das Stadium eines Lesean¬ fängers zurück: Beim Lesen mir dem normalerweise bevorzugten rechten Auge fällt das Wort aus der distinktiven Zone der Netzhaut heraus, und man wird deswegen gezwungen, einzelne Buchstaben zusammenzusetzen.^® Erst wenn es gelingt, das normalerweise der Lektüre des rechten Auges unbe¬ wußt vorauseilende linke Auge zu aktivieren, geht das Nachschlagen ähnlich schnell wie in einem üblich geordneten Wörterbuch. Das rückläufige Wörterbuch geht zurück auf Reimlexika, in denen sich rei¬ mende Wörter gesammelt ^ Unter anderem findet man dort die Nacht, auf die sich die Macht reimt (vgl. IV,621). Es bietet "viel Stoff für Illuminationen", weil man in ihm die Ähnlichkeiten aufspüren kann, die das linke (meist unbewußt lesende) Auge ansprechen und ein Verlesen auslösen, das durch die Übereinstimmung der Wortenden initiiert wird. In den "Maul¬ würfen" spielt Eich mit Worten wie furchtbar/fruchtbar, Harmonie/Hormonie, Kundfahrt/Rundfahrt, rächen/rechen (vgl. unter den genannten Stich¬ wörtern in der Konkordanz). werden.

2.3. Das Umfeld eines Wortes in Wörterbüchern und Lexika als dessen erste Aura "Die Mykologie war seit jeher eine der größten Leidenschaften von Cage, und nur zum Teil deshalb, weil - worauf er aufmerksam machte die Wörter ‘mushroom1 (Pilz) und 'music' in den meisten Lexika unmit¬ telbar aufeinander folgen."^

“Manches wird in der Mischung wirklicher, mindestens möglicher, viel¬ leicht das eigentlich gemeinte." (M,98) Das Alphabetismus-Konzept erfüllt die Funktion, die festen Umrisse der perspektivisch wahrgenommenen Worte aufzulösen. Eich bedient sich dabei der vorwärts-läufigen und der rückläufigen alphabetischen Ordnung, die jeweils den Anfang und das Ende einer Wortgestalt zerfransen, indem ande¬ re Worte der als graphische Paradigmen funktionierenden Indizes die Gestalt des Ausgangswortes überlagern. Nur nebenbei sei bemerkt, daß der links-rechts-läufige Alphabetismus sich eher analytisch und induktiv auswirkt, da er im Falle von zusammengesetzten Worten Worte mit demselben Bestimmungswort versammelt. Beim rückläufi108 vgl. S.82, Fn. 31 109 zum Reim vgl. S.120 ff. 110 Kostelanetz, Richard, John Cage, Köln 1973, S.210

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gen Alphabetismus dagegen werden zusammengesetzte Wörter mit dem gleichen Grundwort vereinigt, weswegen dieser eher deduktiv sortiert. Als eine "Enzyklopädie, die weiterwuchert", bezeichnet der Pförtner aus "Man bittet zu läuten" die größte bisher erschienene Enzyklopädie über Pilze (111,713). Pilze, so könnte man meinen, werden von Eich in diesem Hörspiel als Metapher für das Funktionieren der Psyche verwendet. Nur ein winziger Teil der Pilze wächst über dem Boden, unter der Oberfläche aber wuchert dem Auge unsichtbar ein riesiges, weitverzweigtes Mycel, das einige Pilzar¬ ten zu den größten Lebewesen der Welt macht. Wie die Maulwurfshügel zeigen die sichtbaren Bestandteile der Pilze den Umfang des Bewußtseins an, der weitaus größere Bereich der Psyche (= das Mycel, die Gänge des Maulwurfbaus) bleibt verborgen.111 "Man bittet zu läuten" ist einer der meistinterpretierten Texte Eichs.11^ ich möchte deswegen nachfolgend nur zeigen, wie man mit Hilfe des Alphabe¬ tismus-Konzepts das untergründige "Mycel“ dieses Textes aufdecken kann. Paul aus "Das Jahr Lazertis" nimmt es auf sich, die unbewußten Sphären seines Selbst durch die "Eidechsenreise" zu erkunden. Anders der Pförtner aus "Man bittet zu läuten": Dieser versucht durch ununterbrochenes Spre¬ chen die Wirklichkeit um ihn herum und sein Unbewußtes abzuschotten, kann aber nicht verhindern, daß in seinem anhaltenden, aggressiven Redefluß das Verdrängte ständig durchbricht wie die Pilze aus der Erde: ”(...) Wach auf, gefrorener Christ, der Mai steht vor der Tür,1*3 der Mai, aber auch der Juli und verspätete Taubstumme, verfrühte Blinde, Pankreasinvaliden, Geschlechtskrüppel. Hoppla, blüh auf, blüh auf, keine verdächtigen Reden, kein deutbares Unterbewußtsein, das ist alles reif für Euthanasie und ich hoffe, niemand hat mich gehört." (111,727 f.) In einer Zeit, da Deutschlands Stammtisch ungeniert offen zu rülpsen be¬ ginnt und die Spießer ihre Häuser verlassen, um dem Mob Beifall zu klat¬ schen, wenn dieser Asylantenheime anzündet, ist eine Figur wie der Pfört¬ ner aktueller denn je. Neben seinem Hauptlebensinhalt, der Mykologie, bekennt sich der Pförtner zu Gott und der Schöpfung, ja der Zweck des Pilzfreunde-"Vereins ist letzten die Verehrung Gottes in der NaEndes1*4

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vgl. zu dieser Interpretation des Mycels z.B. den Satz: »Das Mycel unter der Oberfläche wird schon gedeihen.« (111,724) Das Telephonat des Pfört¬ ners mit dem Pilz-Kollegen über die beste Betitelung des Frühlingsfestes hört sich an wie ein Gespräch unter Werbestrategen, die einen Produkt¬ namen suchen, der möglichst versteckt an das Unbewußte der Kundschaft appelliert. vgl. u.a. die hervorragende Interpretation von Neumann in: Neumann 1981, a.a.O., S.139 ff. Das hier fast wörtliche Zitat aus dem »Cherubinischen Wandersmann« von Angelus Silesius taucht erheblich verkürzt wieder auf in »Nördlicher Pro¬ spekt« (M,19); vgl. Silesius, Angelus, Cherubinischer Wandersmann, Stutt¬ gart 1984, S.126 (Drittes Buch, Spruch 90); beachte die anderen Barockge¬ dichte im Intermezzo »letzten Endes«: eine der meistgebrauchten Wendungen des Pförtners

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tur." (111,711) Der Pförtner ist ein Einverstandener,115 und alle Nichteinver¬ standenen sind für ihn Ketzer, Atheisten und Nihilisten, für die es nur eines gibt: das Schwert. Der Pförtner flüchtet sich vor dem Teufel (= Begehren, Verführung), und deswegen ist er bereit, alles zu bekämpfen, was seine Existenz in Frage stellen könnte. "Die Welt ist nicht vollkommen, Ketzereien also das Ergebnis." (III,733)116 In den "Geschlechtkrüppeln", "Eunuchen”, "Taubstummen" etc. bekämpft der Pförtner die verdrängten Seiten seiner Identität, denn, wie er sagt, er "könnte jederzeit taubstumm werden, das ist es ja." (111,702) Die Un¬ nachgiebigkeit in der Bekämpfung des Eigenen in den anderen erinnert sehr an den Nationalsozialismus und den Umgang der Kirchen mit ver¬ meintlichen Hexen und Ketzern.11'" Beides kommt in seiner Rede mehrfach vor ("Euthanasie", "Inquisition", "Juden (im) Stern"; 111,730 f.). Ein Ausschnitt aus einer Szene des Intermezzos soll, angelehnt an Freuds beispielhafte Aufschlüsselung in "Zur Psychopathologie des Alltagslebens",115 mit Hilfe des Alphabetismus-Konzepts entziffert werden, um die Verdrän¬ gung des Pförtners zu verdeutlichen. "(...) Rosa: Einfach mischen und weiter? - Solange: Ein Lebensprinzip. - Victorine: Lauter Prinzipien, es geht mir auf die Nerven. Manchmal auf die Milz. (...) Solange: Pilze sind eine Verirrung. (...) überall kleine Mycele, das gehört sich doch nicht. - Victorine: Deine Kritik ist unan¬ gebracht. - Rosa: Und ergebnislos. Eine Elegie. - Theobald: Ein Stein¬ wurf und ganz mit Recht. - Rosa: Ich finde Mycele spannend. - Victori¬ ne: Was sind das für Attribute? - Rosa: Schließlich ist alles so entstan¬ den. - Theobald: Aus den Mycelen? - Rosa: Ich dachte. Vom Bovist bis zu Homer. - Victorine: Quer durch. Ein einziges Wunder. Sie schluchzt. Ach, ihr seid alle so zartfühlend." (111,723) Zur Überprüfung der alphabetischen Nachbarwörter benutze ich das von Eich bevorzugte "Meyers Konversationslexikon". Es finden sich dort folgende Wörter: Attribut: Attrappe, Attraktion Bovist: s. Lycoperdon Lycopersicum (Liebesapfel, Paradiesapfel)119; inner¬ halb des Stichworts 'Pilz' werden die Lykoperdazeen unter der gleichen 115 Seine Haltung entspricht ziemlich genau dem in der Büchner-Preis-Rede beschriebenen »fatalen Optimismus«; vgl. IV,626 und IV,623: »Gott zu sa¬ gen, wo der Teufel gemeint ist, ist fast eine selbstverständliche Übung geworden.« Auch der Pförtner meint mit Gott den Teufel; vgl. 111,727: »da zeigt Gott den Pferdefuß«. 116 Trotz seiner Verehrung für die Schöpfung ist der Pförtner offensichtlich kein Anhänger von Leibniz' »Theodizee«. 117 Man könnte sagen, daß der Pförtner die Kehrseite von Eidechse, nämlich die Hexe fürchtet und deswegen auch die Eidechse = Erinnerung nicht zuläßt. 118 vgl. Freud 1985 (1954), a.a.O., S.13 ff.; auch dort greifen die Mechanismen des Alphabetismus 119 vgl. S.177, Fn. 19

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Ordnung von den Hymenogastrazeen und den PhaUazeen eingerahmt; "vom Bovist zu Homer" gelangt man über die Zwischenwörter Hymne, Hymnos (Umfeld von Hymen, Hymenäos) Kritik: Kritias Milz: rückläufiges Nachbarwort von Pilz; beachte: Die Milz wird bei Eich immer als Gedächtnisort verwendet Mycel, Mycele, Mykologie, Myzel: Mykenä, Mykonos, Mythologie, Mythus Nerven: Nerval, Gerard de, Übersetzer von Goethe und Uhland (vgl. 111,707), erhängte sich in einem Anfall von Geistesstörung (vgl. 111,734; "Strick um den Hals"); die beiden Verweisstellen werden durch ihre Kontexte miteinander verknüpft: "Penelope", "Siegellack in den Ohren" = Odys¬ seus (s.o. Homer)120 Steinwurf: Steinwurz s. Agrimonia Agrion s. Wasserjungfer; Agrionia (von Frauen gefeiertes Nachtfest des Dionysos in Orchomenos) Nach Gebser wird im Mythos die elementare Ambivalenz der mythischen Bewußtseinsstruktur kenntlich gemacht. "Mythos: das ist ein Schließen von Mund und Augen; und da es damit ein schweigendes Nach-Innen-Sehen (und ein Nach-Innen-Hören) ist, ist es ein Ansichtigwerden der Seele, die gesehen, dargestellt, die gehört, hörbar gemacht werden kann. Und Mythos: es ist dies ein Darstellen, das Hörbar-Machen; es ist die Aussage, der Bericht - wieder stoßen wir hier auf das bewußtseinsandeutende 'Richten' - über das Erblickte und Gehörte. Was das eine Mal stummes Bild war, ist das andere Mal tönendes Wort; das Innen-Erschaute und gleichsam Erträumte findet seine polare Entsprechung und Bewußtwerdung in der dichterisch ge¬ stalteten Aussage. So ist das Wort stets Spiegel des Schweigens; so ist der Mythos die Seele. Erst die blinde Seite ermöglicht die sehende."121 Im schweigenden Nach-Innen-Sehen würde der Pförtner seine Seele/sein Unbewußtes wahrnehmen. Vom Schweigen des Taubstummen-Heims um¬ geben und in seiner Pförtnerloge bis auf einige Telephonate hermetisch abgeschlossen, besteht tatsächlich für ihn dauernd die 'Gefahr', daß er in der Stille nach innen zu hören beginnt. Deswegen redet er ununterbrochen, seine Stimme soll die Stummheit übertönen.1™ In den Reden (Mythos = Rede, Wort) offenbart sich sein zwiespältiges Selbst. Der Pförtner präsen¬ tiert sich als Potenzprotz, dessen Sprechen sexistisch und vulgär ist und seine Wünsche zur Schau stellt. Er phantasiert eine aggressive Verfüh120 vjgl. auch M,73; Nerval »verdankt man auch eine der ersten und besten Übersetzungen von Goethes "Faust"« (Meyers Konversationslexikon): das Wort »Faust« aber findet sich, wie sollte es anders sein, direkt unter »Strick um den Hals« und »Siegellack in den Ohren« (111,734) und weist mit dem dortigen Kontext (»Mit der Faust drohen«) direkt auf die Geste der Auflehnung in »Hilpert« und im Hörspiel, vgl. S.174 und S.207 121 Gebser 1981, a.a.O., S.114 f. 122 Stumm/Stimme = mutus/Mythos: die mythische Polarität deutet sich in den Restbeständen eines ursprünglichen Gegensinnes der Urworte an; vgl. hierzu Freud 19815, a.a.O., S.233 und Gebser 1981, a.a.O., S.183 ff. 205

rungsszene ("faire 1‘amour", "du kommst noch dran" 111,704), spricht von seinem "Fühler im Feuer" und seinem "ausgestreckten Eisen“ (111,704), von "Wein, Weib und Gesang, der Gesang aber ist der größte unter ihnen" (111,714)123 un(j gebraucht mehrfach Wörter wie "bumsen", "Sperma" etc. In der Szene 7 versucht er die phantasierte Verführung in die Tat umzusetzen, scheitert, gerade weil Rosie darauf eingeht, und überspielt seine Impotenz mit Stammtischvulgarität (111,715 f.). In den Szenen nach dem Intermezzo führt der Pförtner seine Verbal-Ergüsse fort, sagt, daß "auch kleine Töchter Zutritt" zum geplanten Fest haben, erinnert sich lebhaft an ein Referat über Morcheln und Phalluskult (111,725) und reichert das Telephonat mit seinem Vereinskollegen an mit den Zoten eines Altherrenabends. Die Phantasie des Pförtners gibt sich also ausschweifend, und doch scheint der Pförtner vor nichts mehr Angst zu haben als vor dem weiblichen Ge¬ schlecht, vor einem Verlust der Selbstkontrolle und vor dem möglichen Unvermögen. Wenn er sich ständig beteuert, man könne "einen Mykologen von einigem Rang (wie ihn, S.M.) nicht mit Blinden und Lahmen, Taubstum¬ men und Stotterern (...), Schizophrenen und Koprophilen, Eunuchen und Hirngeschädigten verwechseln" (111,714), und wenn er aufgrund einer zwei¬ felhaften Karriere als Vertreter12^ versichert, er verspüre "keine Leiden am Ich, keine Kontaktschwächen", dann dient dies in erster Linie der eigenen Beruhigung. Die psychische Disposition des Pförtners wird geordnet durch die Worte Phallus, Hymen, Hymenäos, Lycopersicum und besonders durch Agrimonia. Der Pförtner hat Angst vor dem Dionysischen ("zu bachantisch" 111,711) und davor, sich zu vergessen. Ausgerechnet Lethe behauptet er nicht zu kennen ("Lethe? Nein, nie gehört. Ein Likör?” 111,712). Das Intermezzo reflektiert kaleidoskopisch die Reden des Pförtners. Der Pförtner sagt: "Ich fliege zum Beispiel auf Augen." Dies wird direkt ge¬ spiegelt von einem der Choräle: "Wo nur das Aug man wendet hin, mit Lüsten wirds ergetzet (...)." (111,723) Gerade von den Augen aber droht Gefahr, es ist die Gefahr, der Macht des Blickes (Begehren) zu erliegen und den Kopf zu verlieren. Die Angst vor dem Kopfverlust und die Angst vor der (übermächtigen) Frau wird symbolisiert durch die "Hochzeit der Gottesanbeterin": "Dem Männchen sägt sie den Kopf ab (...) und verzehrt seinen Vorder¬ leib, während sein Hinterleib sie begattet.“ (III,718)125 Doch enthält das Wort Agrionia auch gerade jene Möglichkeit zur Über¬ sprungshandlung, die der Pförtner ergreift: 123 = eine allerdings schon beinahe geniale Persiflage von 1. Korinther 13,13; auch 1. Korinther 7 dürfte für die Interpretation des Hörspiels wichtig sein 124 An dieser und mehreren anderen Stellen wird deutlich Bezug genommen auf »Hotel der reisenden Kaufleute« (1,115) 125 vgl. Kontext »Männchen und Weibchen, (...) Zweiteilung (...) Seid einver¬ standen« (111,718) mit »männliches und weibliches Prinzip (...) Humanitäts¬ duselei ist ein treffliches Wort« usw. (111,705) 206

"Agrionia, von Frauen gefeiertes Nachtfest des Dionysos in Orchomenos. (...) Einen andern Brauch, daß der Dionysospriester Frauen aus dem Minyergeschlecht mit seinem Schwert verfolgte und die Eingeholten töten durfte, knüpfte die Sage an die Töchter des Minyas (...)."*^6 Während des Sprechens verwandelt sich der Phallus (Zeichen der Differenz und Geschlechtsorgan), von dem die Gefahr ausgeht, in das Schwert, das die Projektionsflächen auslöschen soll: "Mein Fühler im Feuer, mein ausgestrecktes Organ, meine Guillotine mit g, u, i." (111,705) Die Angst vor dem Kopfverlust und der Wunsch, das Henkeramt auszuüben, sind zwei Seiten derselben Medaille, wie noch zwei weitere Stellen belegen. Gerade noch einmal der Gefahr des Davongespültwerdens durch das Unbewußte entronnen, äußert der Pförtner: "Unverantwortlich. Aber jetzt bin ich wieder normal, reif für das Schwert." (111,728) Die Satzkonstruktion läßt zwei Auslegungen zu, nämlich daß der Pförtner reif für das Henkeramt ist oder reif für die Hinrichtung. Diese Unsicherheit wird spätestens in der 13. Szene beseitigt. "(...) alles reif für den Korb, der Brief und die Dame." (111,733) Unfähig zur Liebe, sieht der Pförtner die Möglichkeit, durch "die Inqui¬ sition (...) heiter und weise" zu werden. Darüber hinaus versucht er, durch ein System von Rationalisierungen seine Triebe in Schach zu halten (die allnächtliche Punktewertung 111,705 f.), und träumt von einer Heirat (vgl. Hymenaos) ohne Liebe. Wünschenswert wären "Millionärstöchter, neunzehn¬ jährig und proportioniert (...) auf 16 Zimmer sind 4 Klosetts zu wenig (...). Zur Ehe braucht man gesunde Anschauungen. Wo keine Kanalisation ist, bleibt man besser draußen." (111,732) Ein weiteres Mal entpuppt sich der Pförtner, der einmal Vertreter war und für den "Fragen zum Stuhlgang" und in die Kanalisation gespült gehören (111,715), als einer der reisenden Kaufleu¬ te aus dem Hotel mit dem gleichlautenden Titel (1,115). Bleiben noch die Worte Hymne, Elegie und Homer: Alle drei sind Zugänge zu jener Kanalisation, in die die Verse im "Hotel der reisenden Kaufleute" hinabgespült wurden. Daß in dieser Kanalisation jene in "Latrine" (1,37) zitierten Verse Hölderlins zu finden sind, darf man annehmen, denn der Pförtner zitiert selbst aus "Andenken" (vgl. 111,714 f.) Des weiteren schwim¬ men dort vermutlich Verse aus Hölderlins Elegie "Brot und Wein”, aus Ho¬ mers "Illias" und "Odyssee" und aus Novalis' "Hymnen an die Nacht".127 Das Hörspiel endet mit der stummen Geste des Widerstandes durch Laurenz.12“ Die Drohung mit der Faust führt uns zurück zum Ausgangs¬ punkt des Alphabetismus: der Verfluchung Gottes durch Kierkegaards Vater. 126 Meyers Konversationslexikon 1906, a.a.O., Bd.l, Stichwort Agrionia 127 Der Name Novalis fällt im Intermezzo (111,722). 128 Die nächtliche Heimkehr der Taubstummen in Mbzl wird verschlüsselt zi¬ tiert im »Maulwurf« »Äquinoktium« (M,70). 207

Wie sagt der Pförtner in der ersten Szene: "Je mehr man redet, desto mehr fällt einem ein. Schweigen ist Dumm¬ heit. Oder Atheismus. Die Taubstummen sprechen gegen Gott, deswe¬ gen sind sie taubstumm." (111,703)^9 Der Alphabetismus darf als der Versuch gewertet werden, die eindeutigen Wortgestalten auf den Moment des 'S linde nfalls' zurückzubeziehen, in wel¬ chem sie in dieser Eindeutigkeit als urteilende, richtende und abstrakte Worte erstanden. Der Alphabetismus entläßt aus den Worten die Aura der graphischen und phonetischen Paradigmen, in die sie eingetragen sind: die der graphischen, indem er die verschrifteten Umfelder in (fremdsprachigen) Wörterbüchern und Lexika aktualisiert,^0 die der phonetischen, indem er die Worte durch klangliche Überlagerungen dem Status von Interjektionen annähert, beziehungsweise dem Rauschen, das hörbar wird, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält oder wenn man sich die Ohren mit Siegellack verstopft. Das dann vernehmbare Rauschen besteht aus den in der Notiz vor dem "fünften Traum" genannten Lauten, die "unser Ohr mit Ensetzen erfül¬ len" (11,376), ist der plötzlich vernommene Ton in "Fis mit Obertönen" (11,475 ff.), der ganze Landstriche aus ihrer satten Zufriedenheit auf¬ schreckt. In diesem Rauschen werden aber auch die Quellen der Sprache hörbar^ und der Tinnitus, "das unreine Rauschen der Sprache selbst",^2 das in "Ode an meinen Ohrenarzt" (M,16) als "kleiner Mann“ und "kleine Frau im Ohr" Kinder zeugt und dadurch die im 'Sündenfall' ausgelöschten Möglichkeiten der Sprache aufspürt. In einer eigenständigen Arbeit wäre zu untersuchen, inwieweit es Über¬ einstimmungen zwischen Eichs Alphabetismus-Programm, Arno Schmidts Etym-Theorie und einigen Versuchen der Konkreten Poesie mit Wörter¬ büchern gibt.

129 zu den verschiedenen Möglichkeiten, diese Sätze auszulegen, vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.157 f. 130 Einige Beispiele für diese optischen Überlagerungen wurden im ersten Teil der Arbeit genannt; vgl. S.91 ff. (Wortbrücken); in der Tat sind die »Maulwürfe« voll davon: vgl. z.B. »Altem« (M,65), dort steht »Parterre« im Kontext von »männliche und weibliche und Hermaphroditen« siehe >parthenogenisisto alter< (kastrie¬ ren); vgl. Martin 1989, a.a.O., S.34; vgl. auch die Erläuterungen von Kier¬ kegaard zu »Alteration« in: Kierkegaard 1976, a.a.O., S.S11 Anmerkung 3 131 vgl. S.122 f. 132 Klappentext in: Pastior, Oskar, Lesungen mit Tinnitus. Gedichte 1980-1985 München Wien 1986; zwei der Gedichtzyklen sind betitelt mit »Lesung mit Maulwurf im Profil« und »Lesung mit Rabensohn«, beides vermutlich mit Eichs Maulwürfen und seinem Raben Sabeth verwandte Tiere. 208

3. "ZITATE AUS ESPENLAUB" - ZUR INTERTEXTUELLEN ORGANISA¬ TION DER "MAULWÜRFE" "Ottilie: Wann hast du die Zeitung ausgelesen? - Rimböck: Ich lese sie nicht, Ottilie. - Ottilie: Dann leg sie weg. - Rimböck: Du mißverstehst mich. Ich muß durchaus hineinschauen. - Ottilie: Um mich zu kränken. Rimböck: Um nicht zu lesen, Ottilie. Was wäre das Nichtlesen, wenn ich nicht hineinschaute? - Ottilie: bricht in Tränen aus. - Rimböck: Weine nicht! Ich könnte auch behaupten, ich lese; es kommt auf den Standpunkt an. Du meinst doch die kleinen schwarzen Kringel, die man Buchstaben nennt? - Ottilie: Wie? - Rimböck: Sei versichert, daß du sie meinst. Aber die schaue ich nicht an. Ich lese das Weiße drumherum. Ottilie: Das Weiße? - Rimböck: Es ist schwierig, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, etwas Mitteilenswertes zu finden. - Ottilie: Heute abend noch? - Rimböck: Geduld, Ottilie! Wie leben ja länger als einen Abend." (111,543 f.) "Zeitung Was soll ich vergessen?" (IV,363) Die zitierte Stelle aus dem Hörspiel "Der Tiger Jussuf" dokumentiert ziem¬ lich genau, was ich als den Gegensatz zum perspektivischen Lesen auffasse. Rimböck liest das Weiße, die gelöschten Kontexte der in der Zeitung nur informativ (= perspektivisch) verwendeten Worte. Sein Lesen könnte auch als ein negatives Lesen aufgefaßt werden, das jene "Späne" aktualisiert, die beim Schreiben unter den Tisch fielen. Wendet man die negative Lektüre auf den Titel des Hörspiels an, dann kommt neben Else Laskers-Schülers Roman "Der Malik" unter anderem auch ihr Briefwechsel mit Franz Marc schemenhaft zum Vorschein.1 Die negative Lektüre betrachtet jedes Wort als letztes Überbleibsel einer Vielzahl von Geschichten auf einem ansonsten weißen Blatt. Nicht dieses letzte Wort ist das Mitteilenswerte, sondern das Gelöschte. In der "Notiz vom Wunderblock" stellt Freud einen Schreibapparat dar, der die Arbeit des Gedächtnisses veranschaulichen soll. Dieser Apparat besteht im wesentlichen aus einer Tafel mit einer Wachsschicht und einem darauf aufliegenden Deckblatt. '"Ein spitzer Stilus ritzt die Oberfläche, deren Vertiefungen die 1

vgl. Lasker-Schüler, Else, Der Malik. Eine Kaisergeschichte, München 1986 (1919); die an den »Blauen Reiter Franz Marc« adressierten Briefe sind meist mit »Dein (..) Jussuf«, manchmal mit »Dein Tiger« unterzeichnet, vgl. a.a.O., S.19; bei dem Tiger handelt es sich um ein von Else Lasker-Schüler besonders verehrtes Bild (heute im Lenbach-Haus in München); vgl. Marc, Franz, Lasker-Schüler, Else, »Der Blaue Reiter präsentiert Eurer Hoheit sein Blaues Pferd«. Karten und Briefe, München 1987, S.118: es wäre zu prüfen, ob die Metamorphosen des Tigers im Hörspiel sich auf das Maskenspiel des Prinzen Jussuf in »Der Malik« beziehen. 209

>Schrift« ergeben. Beim Wunderblock geschieht dieses Ritzen nicht di¬ rekt, sondern unter Vermittlung des darüber liegenden Deckblattes. Der Stilus drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche des Wachspapiers an die Wachstafel an, und diese Furchen werden an der sonst glatten weißlichgrauen Oberfläche des Zelluloids sichtbar. Will man die Aufschreibung zerstören, so genügt es, das zusammengesetzte Deckblatt von seinem freien unteren Rand her mit leichtem Griff von der Wachstafel abzuheben. Der innige Kontakt zwischen Wachspapier und Wachstafel an der geritzten Stelle, auf dem das Sichtbarwerden der Schrift beruhte, wird damit gelöst und stellt sich auch nicht wieder her, wenn die beiden einander wieder berühren. Der Wunderblock ist nun schriftfrei und bereit, neue Aufzeichnungen aufzunehmen.' Dies betrifft aber nur seine Oberfläche, da die ‘Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung sichtbar wird. "'2 Das negative Lesen kann nur funktionieren, wenn das Weiße um die Worte bei "geeigneter Belichtung" angeschaut wird, also so, daß die vorangegange¬ nen Kontexte aufscheinen. Erst wenn man die Wachstafel gänzlich abkratzt, ist auch das Gedächtnis der Schrift total gelöscht: tabula rasa7 Es wurde im ersten Teil darauf hingewiesen, daß die perspektivische Lektü¬ re nicht nur den Kontext, sondern auch das Gesicht des anvisierten Wortes auslöscht.^ Und es wurde gezeigt, daß das perspektivisch verwendete Alpha¬ bet die Möglichkeit des Erinnerns tendenziell unmöglich macht7 Beide Mo¬ mente koinzidieren in der Legende von der Erfindung der Mnemotechnik, die in den beiden Versionen von Quintilian und Cicero überliefert ist und die Renate Lachmann eingehend untersucht.^ In dieser Legende werden auch Gesichter ausgelöscht, und zwar die Gesichter einer Tischgesellschaft, über der das Haus einstürzte. Simonides, der das Haus kurz vor der Katastrophe verließ, rekonstruiert nachträglich die Namen der Toten, indem er deren Auffindungsort mit der erinnerten Anordnung der Tischgesellschaft ver¬ gleicht, und wird dadurch darauf aufmerksam, daß die räumliche Anordnung des zu Erinnernden der Verbesserung des Gedächtnisses dienlich ist7 "Die tabula der Speisenden wird in der Einsturzkatastrophe zur tabula rasa. Als Gedächtnis-Totenfeld wird sie neu gedeckt. Auf die verheerte Tafel, die zerstörte Festordnung (die alte Ordnung) folgt die Ordnung des Friedhofs. Das Grab als Tisch wird zum Tisch als Grab. (Goldmann hat auf die Paranomasie von mnSma und mneme, Tisch und Grabmal 2 3 4 5 6 7

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Freud zitiert nach Meyer, Eva 1986, a.a.O., S.77 f.; vgl. hierzu auch Derrida 19894, a.a.O., S.306 ff. »tabula rasa (lat.) Schreibtafel (vgl. Pugillares), von der das Wachs abge¬ schabt ist, daher sprichwörtlich soviel wie >nichts mehr vorhandene.« aus: Meyers Konversationslexikon 1906 ff., a.a.O., Bd.19, S.276 vgl. S.118 f. vgl. S.102 f. vgl. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der rus¬ sischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990, S.18 ff. vgl. S.51 f.

hingewiesen.) Der Dichter wird zum Zeugen der alten, verlassenen, durch einen epo¬ chalen Einschnitt unkenntlich gemachten Ordnung, die er durch ein 'inneres Schreiben' und Lesen vermittels der Bilder, die wie Buchstaben funktionieren, restituiert. (...) Am Beginn der memoria als Kunst steht die Technisierung der Trauerarbeit. Die Bildfindung 'heilt' die Zerstö¬ rung: Die Kunst der memoria gibt den Zerschmetterten ihre Gestalt zurück, macht sie kenntlich über die Festellung ihres Ortes (Sitzes) im Leben. (...) Die Ur-Szene des Gedächtnisses heißt Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Umsturz aus Leben in Tod, ist der indexikalische Akt des Zeigens auf die Toten (Ahnen) und der ikonische Akt, die Toten als Lebende in eine Vorstellung von ihnen zu transformieren”8 Die räumlichen Bezüge, die Lokalisierung der Toten, die ihre Identifikation, die Wiederbenennung der Gesichtslosen ermöglicht, überträgt die Mnemo¬ technik auf das Erinnern eines Textes, einer fabula. “Die Schrifttafel wird durch den bebilderten Raum kompensiert. Die Bilder sind die Repräsentanten für Dinge und Worte, und diese werden vertreten, um nicht vergessen zu werden - das ist der primäre Sinn der Bilder. Sie überlagern das Orginal (jetzt sind sie es, die erinnert werden müssen). Das das Wort oder das Ding vertretende Bild, das simulacrum, befördert nicht nur deren Erinnerung, sondern verstellt und löscht sie zugleich, indem es an die Stelle der Ähnlichkeitsbeziehung eine arbiträre setzt?® Nach und nach verselbständigen sich die Bilder und werden selbstreferentiell, das heißt im eigentlichen Sinne referenzlos und leer. Der Poesie fällt die Aufgabe zu, die auch durch das Verschwinden der Gedächtniskunst verschütteten Bezie¬ hungen zwischen Ding/Wort und simulacrum (teilweise) zu heben. Literatur "erscheint als mnemonische Kunst par excellence, indem sie das Gedächtnis für eine Kultur stiftet; das Gedächtnis einer Kultur aufzeichnet; Gedächtnishandlung ist, sich in einen Gedächtnisraum ein¬ schreibt, der aus Texten besteht; einen Gedächtnisraum entwirft, in den die vorgängigen Texte über Stufen der Transformation aufgenommen werden. Die Texte repräsentieren das ausgelagerte materialisierte Ge¬ dächtnis, d.h. das Gedächtnis, das sich in manifesten Zeichen, im 'äu¬ ßeren' Schreiben materialisiert. (...) Jeder konkrete Text als entworfener Gedächtnisraum konkretisiert den Makro-Gedächtnisraum, der die Kultur repräsentiert oder als der die Kultur in Erscheinung tritt. 8 Lachmann 1990, a.a.O., S.22, 24 9 Lachmann 1990, a.a.O., S.26 10 Der Prozeß der Verdoppelung und Verselbständigung der Bilder gegenüber ihren Referenten wird von Lachmann ausführlich dargestellt; vgl. Lachmann 1990, a.a.O., S.27 ff.; noch einmal könnte man gm dieser Stelle auch den Anfang von »Fortsetzung des Gesprächs« (1,154) zitieren: »1 Des Toten ge¬ denken // Ich bemerkte, / daß Erinnerung eine Form des Vergessens ist.« 211

So läßt sich (...) sagen, daß das Gedächtnis des Textes die Intertextualität seiner Bezüge ist. die im Schreiben als einem Abschreiten des Raumes zwischen den Texten entsteht."^ Nachfolgend soll versucht werden, durch eine aperspektivische Lektüre die intertextuellen Bezüge einiger Texte Eichs aufzuspüren und dadurch das in ihnen Erinnerte zu vergegenwärtigen. 3.1. Zur Genealogie der "Maulwürfe": "Wenn ein Blatt sich bewegt, kann auch der Ast erzittern" Sprichwort^ Eich wehrte sich zeitlebens dagegen, biographische Details mitzuteilen oder seine eigenen Werke zu kommentieren. Allerdings verhielt er sich in man¬ chen Interviews seltsam inkonsequent. So äußerte er in einem Gespräch mit Schülern, das Gedicht "Wo ich wohne" sei, außer daß es den Titel einer Erzählung seiner Frau Ilse Aichinger zitiere, auf die Witterungsverhältnisse im Voralpenland (den Föhn) zurückzuführen (vgl. IV,522). Zur Genese des Wortes "Maulwurf" sagt er in einem anderen Interview: "Das Wort 'Maulwürfe' ist ein Wort aus der Familiensprache. Sie wissen ja, es gibt in jeder Familie ein gewisses Vokabular, was man außerhalb der Familie überhaupt nicht versteht. Dieses Wort 'Maulwürfe' hat also meine Frau vor etwa zwölf, dreizehn Jahren zum erstenmal verwendet für kurze Prosastücke. Es war ganz üblich, daß wir alle kurze Prosa 'Maulwürfe' nannten. Das Wort stammt von einem wirklichen Maulwurf, der vor unserm Fenster herumlief und zwar meistens über der Erde, nicht unter der Erde. Es war also ein ganz besonders auffälliges Tier, was uns angeregt hat, ihn als Symbol für unsere Produktionen zu wäh¬ len." (IV.51S) Aha! möchte man sagen, so einfach ist das, und könnte dann die Suche nach vermeintlichen Quellen beenden, bevor sie begonnen hat. Doch kommt nicht nur bei den zitierten Gesprächsauszügen der Verdacht auf, daß Eich sich gern einmal einen kleinen Ulk erlaubte.^ Zwar ist nicht nur für das Wort "Maulwürfe" ein biographischer Hintergrund aufzuspüren, wie der Anmer¬ kungsteil der neuen Eich-Ausgabe belegt. Doch taucht der "Maulwurf', lange bevor er sich im Garten der Familie Eich zu tummeln begann, erstmals aus dem Textuntergrund auf, nämlich im Hörspiel "Rebellion in der Goldstadt" aus dem Jahr 1940, in "Verwesung" (IV,288) aus dem Jahre 1945 und im Gedicht "Fragment" (1,80) aus dem Jahre 1949. Und es mußte auch nicht erst der Föhn wehen, um die Luft in "so eine gläserne Klarheit" zu verset¬ zen, daß das Gefühl entstehen kann, "man sei unter Wasser" (IV,522) und Fische schwämmen durchs Fenster (vgl. 1,94). Die Fische verließen ihr urei11 Lachmann 1990, a.a.O., S.36 12 Tieck, Heinrich (Hrsg.), Wenn ein Blatt sich bewegt, kann auch der Ast er¬ zittern. Gedanken chinesischer Weiser, Wien, Leipzig 1939, S.33 13 vgl. z.B. den Satz: »Meine Kenntnis von Kierkegaard ist relativ gering.« (IV,499) 212

genstes Element bereits in einem über zweihundert Jahre früher verfaßten Text, der von Eich in dem "Maulwurf" "Versuch mit Leibniz" (M,32 f.) per¬ sifliert wird: Leibniz' "Monadologie".^ Die entsprechende Passage lautet: "67. Jedes Stück Natur kann als ein Garten voller Pflanzen und als ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tiers, jeder Tropfen seiner Säfte ist wiederum ein solcher Garten und ein solcher Teich. 68. Und obwohl die zwischen den Pflanzen des Gartens befindliche Erde und Luft oder das zwischen den Fischen des Teichs befindliche Wasser weder Pflanze noch Fisch ist, so enthalten sie deren doch wieder, aber meistens von einer uns unfaßbaren Subtilität."15 Die Monaden werden von Leibniz paradox vorgestellt: Sie sind einfach, das heißt ohne Teile. Gleichzeitig gilt für sie: ”Jede Monade geht als Mikrokosmos auf das Ganze der Welt, alle sind lebendige Spiegel des lebendigen Universums, welches in absolut voll¬ kommener Weise von Gott als der obersten Monade durchstrahlt und beherrscht wird. Diese göttliche Weltregierung garantiert von vornherein und immerdar Cprästabiliert' und durch beständige 'Dazwischenkunft Gottes') die Harmonie zwischen Tun und Leiden, zwischen positiver Wirksamkeit und notwendiger Unvollkommenheit aller einzelnen Mona¬ den. Insbesondere garantiert sie auch die Harmonie zwischen dem Be¬ wegungsmechanismus der Körperwelt und den immatriellen Zustandsän¬ derungen der fensterlos perzipierenden Monaden.”^ Die Fische in der Luft im Gedicht "Wo ich wohne" sind "lästig", ja uner¬ träglich für das Textsubjekt, nicht oder nicht nur, weil der Föhn Eich even¬ tuell Kopfschmerzen bereitete, sondern weil sie von Leibniz zur Veranschau¬ lichung der Monaden verwendet werden, die wiederum die von der "Ur-Monade“ Gott geschaffene "beste aller möglichen Welten" reflektieren. Wenn das Text-Subjekt aus "Wo ich wohne" in der letzten Zeile sagt: "Ich will ausziehen", erteilt es womöglich der Idee der Theodizee eine Absage.Und den "Maulwurf "Versuch mit Leibniz" könnte man dahingehend interpretie¬ ren, daß nur jemand, der in einem fensterlosen Haus lebt, "nur schriftlich 14 Leibniz: »Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten kann. Die Akzidenzen können sich nicht von den Substanzen loslösen und außerhalb ihrer herumspazieren, wie es ehemals die species sensibilis der Scholastiker taten. Also kann weder Substanz noch Akzidenz von außen in eine Monade hineinkommen.« aus: Leibniz, G.W., Monadolo¬ gie, Stuttgart 1979, S.14 Eich: »Hinter der zuen Tür wohnt Leibniz, habe ich mir sagen lassen. (...) Er scheint mich für einen Nomaden zu halten, von denen er behauptet, sie hätten keine Fenster. Aber ich habe Fenster, habe auch eine Wand und ei¬ ne Tür. Seiner Definition nach kann ich nicht zu den Nomaden gehören, aber ich weiß es besser. Sein Satz reizt mich zum Widerspruch, zugleich denke ich ihn weiter.« (M,32) 15 Leibniz 1979, a.a.O., S.29 16 Erläuterung von Hermann Glöckler zu § 51 der »Monadologie«, in: Leibniz 1979, a.a.O., S.61 17 zu Eichs Auseinandersetzung mit der Theodizee vgl. z.B. Neumann 1981, a. a.O., S.168 ff. 213

mit der Welt verkehrt" und folglich nicht allzusehr durch die "prästabilierte Harmonie" von Tun und Leiden tangiert wird, mit "Triumph in der Stimme" und einem fatalen "Optimismus" an die Existenz der "besten aller möglichen Welten" glauben kann. Mit dem Wort "Maulwürfe" verhält es sich, wie oben erwähnt, genauso wie mit "Fische". Es verknüpft von Eich gebildete Kontexte mit vorangegangenen Verwendungsweisen in den Texten anderer Autoren, deren Aktualisierung durch die aperspektivische Lektüre möglich wird. Wendet man diese auf den Kontext des Gedichts "Fragment" an und liest das Wort "Maulwurf im Zusammenhang mit Titeln und Ausschnitten anderer Gedichte aus derselben Gedichtsammlung, also z.B. mit "Mirjam“ (1,70) oder "Wenn du die Klapper des Aussätzigen hörst" (1,75), dann wird ein möglicher Subtext des Palimpsests sichtbar, nämlich das Gesetz mit den Reinheitsvorschriften aus dem Alten Testament (3. Moses, 11-15), worin der Maulwurf den unreinen Tieren zugerechnet wird.^ "Das Wort, das einzige! (...) Noch Stummheit immer, Qual des Schluchzens, die dauert. / Schrecklich gepreßt, wie in Erstickens Angst,^ / mit Augen hervorquellend, so lallt es, / Sprache des Maulwurfs, der Elster Gekrächz." (1,80) Die "Sprache des Maulwurfs" aus "Untergrundbahn'" lockt uns in den TextUntergrund. Dort treffen wir zunächst auf "Maulwürfe" von Adam Scharrer und "Maulwürfe. Der Spottdichter als Pionier des Fortschritts" von Gustav Herrmann.20 Scharrer bezeichnet als Maulwürfe durch politische Machen¬ schaften, den Druck des Kapitals und die Intrigen der Großgrundbesitzer in den Ab-/Untergrund getriebene Kleinbauern: ”(...) wenn einer dös begreift und zu an andern a Wurt sagt, wer uns drosselt, nacha derfindn die Herrn allerhand Sachn, um an aufrechtn Menschen zum Schweign z’ bringa, weils wissn, dös is a Maulwurf in ihrn Reich, und wenn nu aner und nu zwanzig und nu hundert kumma, nacha werdn die Fundamente untergrobn und ihr saubers Geschäft durchschaut und aus is.”2* Die "Herrn", die in diesem etwa zwischen 1910 und 1933 in Franken spie¬ lenden Roman die "Maulwürfe" bekämpfen und dabei mit den Faschisten kollaborieren, heißen, der Zufall will es, die Barone von Eich22 Durch Terror zum Schweigen gebracht, "bleibt halt ka anderer Weg als der unterirdische. Ma ka die Wahrheit 18 Unter die unreinen Tiere fallen auch die Raben, die Eidechse, der Elefant, der Gecko, die Weihe (— Milan) etc., alles Tiere, denen Eich zugetan ist. 19 vgl. 1,163/3: »Mirjam hat mir ein Haus gebaut / (...), da erwarte ich alles, / Scrabble und Atemnot, / Labskaus und jedes / andre Gericht, / auch das jüngste.« und M,37 (»Milan«, »die Angst zu ersticken beginnt wieder«) 20 Den Hinweis auf das letztgenannte Buch verdanke ich Prof. Klöckner. 21 Scharrer, Adam, Maulwürfe. Ein deutscher Bauemroman, Berlin 1945 (1933),

S.210

22 vgl. Scharrer 1949, a.a.O., S.102, 150, 201 ff., 264 ff. u.a. 214

ins Zuchthaus und untern Erdbudn treibn; aus der Welt geschafft wirds net."23 Die gegen die Herrn von Eich, gegen Unterdrückung und den Faschismus kämpfenden "Maulwürfe" Scharrers sympathisieren mit dem Kommunismus und der Arbeiterbewegung. Eichs "Maulwürfe" hingegen sind Anarchisten, was allerdings eine inhaltliche Verwandtschaft zwischen beiden nicht aus¬ schließt, beispielsweise in der Kritik an Staat und Kirche als zwei Herr¬ schaftsinstrumenten. Deutlicher als mit Scharrer sind Eichs "Maulwürfe" mit den "Maulwürfen" von Gustav Herrmann in Verbindung zu bringen.2^ ln diesem 1921 in der Reihe "Zellenbücherei" erschienenen Buch versucht Herrmann, lange bevor Eich das Wort "Maulwürfe" als Bezeichnung einer literarischen Gattung etablierte (vgl. 1,545), die "Species Talpina" zu charakterisieren und eine Art Geschichte der "Maulwurfs"-Literatur zu schreiben. Diese liest sich in der Tat wie ein Stammbaum der Vorfahren der Eichschen "Maulwürfe". Als Motto stellt Herrmann dem Text jenes Zitat aus Shakespeares "Hamlet" voran, das schon von Hegel verwendet wurde, um das "innerliche Fortarbei¬ ten" des Weltgeistes zu veranschaulichen: "Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort? O trefflicher Minie¬ rer!"25 Anschließend daran entwirft Herrmann in der Einleitung ein Bild der Zerstö¬ rung in der Natur: "Waldein pickt ein Specht an dorrender Borke, ein triebloser Ast kracht im leichten Frühwinde, aus einer Maikäfermumie kriecht Getier. Neben¬ bei rieselt das Gerinsel und wäscht am Kiesel, daß er sich rundet, reißt am morschen Steine, der zerfällt - spült unter den Grasüberhang. Frisch und fröhlich ist Zerstörung allüberall am Werke, Kampf gegen das Hem¬ mende, Druck gegen Gespreiztes, Krieg gegen Überlebtes. Und kein Vorwärtsblicken - vorwärts - vorwärts! Wie ich aber so schaue und denke, bewegt sich auch der grüne Grund. Ist es Regendämmertraum? Hügel auf Hügelchen wirft sich empor, spitze Nasen, mit stecknadel¬ witzigen Äuglein dahinter, fahren ans Licht - und da - dort: Der Boden gibt nach, niederkrachend zerächzt der modrige Holzstock am Raine! (...) Seid brüderlich gegrüßt, kleine Geister der Tiefe! Was Stürme nicht vermochten, was keine Art wagte, das vollendet ihr hurtig wüh¬ lenden Grillenfänger. Und wie am Meteore sich uns die Grüße des ganzen Weltalls kundtun, so gewähret ihr mir eine Vision. Lange haben wir Zwiesprache gehalten - denn siehe: Auf einmal verstand ich eure Zunge! Und erkannte euch auf dem weiten Wege der Seelenwanderung 23 Scharrer 1949, a.a.O., S.278 24 Herrmann, Gustav, Maulwürfe. Der Spottdichter als Pionier des Fort¬ schritts, Leipzig 1921 25 Shakespeare, William, Hamlet 1,5 Z.162 f.; vgl. Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 20, S.456 u. 462; Eich bezieht sich in seinem Werk mehrfach auf Shakespeare und auch auf den »Hamlet«, folg¬ lich dürfte ihm die zitierte Stelle bekannt gewesen sein. 215

als Vor- und Nachfahren erlauchter Geister. Nun flugs wieder in euer unterirdisches Gebiet - Sebastian Brant und Johannes Fischart - und ihr alle eures Geschlechts bis zu Heinrich Heine und den Jungen, wie Jüngsten: Wenn der Fänger kommt - oder gar ein Raubvogel, der Frö¬ schespäher, ein mordgieriges Wiesel oder gar ein ehrpusseliger Hund sie möchten euch gar für - Maulwürfe halten !"2t) Herrmann unterscheidet die "Maulwürfe" in "nur nützliche" wie Sebastian Brant. in solche, die sich um die Fortentwicklung der literarischen Sprache bemühten wie Johann Fischart. und nennt Heinrich Heine "eines der wühl¬ wütigsten. bissigsten und mordlustigsten, den Tiger an Grausamkeit über¬ treffenden Exemplare unserer Maulwurfsfamilie" ’P Den "Maulwürfen" Eichs sehr nahe kommt die "Maulwurfs"-Prosa Fischarts, insbesondere dessen "Geschichtklitterung", und zwar im Sinne des Verhältnisses des Negativs zum Positiv oder der (Sprach-) Implosion (Eichs "Maulwürfe") zur (Sprach-) Explosion (Fischarts “Geschichtklitterung“). In der "Geschichtklitterung", in der das Wort "Maulwurf“ an zwei Stellen nachweisbar ist,23 werden die in Abstraktheit erstarrten Worte aufge¬ sprengt, zermahlen und verwandelt in teilweise endlose Wortlisten, die die semantischen, graphischen und phonetischen Paradigmen ins Syntagma hin¬ einreißen und die vorangegangenen Verwendungen in Texten und Sprich¬ wörtern abspulen.29 Gleich in der Anrede gibt Fischart ein gutes Beispiel für dieses Verfahren: "GRoßmächtige. Hoch und Wolgevexirte tieff und außgelärte. eitele, orenfeste. orenfeißte, allerbefeistete, ährenhaffte und hafftären, orenhafen, unnd hafenoren oder hasenasinorige insbesondere liebe Herrn, gönner und freund."3Irrenhaus< verbracht wurde und der Pförtner in der 6. Szene keinen Zweifel darüber läßt, was er mit Fragen und mit >Verrückten< tun würde, der »Maulwurf« endet auch so, als handele es sich um eine Fort¬ führung der Reihe »Latrine«, »Hotel der reisenden Kaufleute« und Ende der 6. Szene von Mbzl: »Ein Vers gerät in die Wasserspülung. Wenn nicht hier, so doch anderswo raut mir der Morgen.« (M,97) :orts. auf der nächsten Seite)

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Hölderlin. Ganz unmetaphorisch strahlen Feuerfliegen wie der Sonnengott Helios/Hyperion selbst in kleinen Mengen Licht aus, funktionieren - einige zusammen in ein Glas gesperrt - als Glühbirne und geben ein so helles Licht, daß man dabei lesen kann."56 Als Metapher könnte das Wort "Feuer¬ fliegen" all die Menschen subsumieren, die wie Hyperion der Fliege gleich sich in die Flamme oder ins Feuer stürzen (wollen), also auch zum Beispiel Empedokles oder der sonnensüchtige Ikarus. Indem der Pförtner "ganz Feu¬ erland" für die "Feuerfliegen" bestimmt, nähert er sich allmählich Gedanken¬ gängen an, die durch Sätze bestimmt sind wie die folgenden, während eines Telephonats geäußerten: "Auch durch die Inquisition sind Menschen heiter und weise geworden. (...) Die Zahl ist übertrieben (vermutlich meint der Pförtner die Zahl der ermordeten Juden; S.M.). Bedauerlich, aber meine Daseinsfreude wird davon nicht berührt. (...) Und wie sich die Juden nach dem Krieg benommen haben! Das können sie im Stern nachlesen, (...)." (111,730 f.; Hervorhebung durch mich, S.M.) "Ganz Feuerland für die Fliegen, Feuerfliegen", zu denken wäre hier auch an den "Maulwurf" "Farbenblind" (M,117): "Eine Aschenwolke, wie war die Farbe gleich - adieu ihr Lieben, möge euch der Wind leicht sein."5^ Tatsächlich lesen sich die an die Assoziation "Feuerland - Feuerfliege" anschließenden Gedanken des Pförtners wie die ersten Begründungsversuche für das, was die Nazis euphemistisch "Euthanasie" nannten.55 "Natürlich ist niemand ohne Fragen, aber sie müssen aus der Welt geschafft werden. Nicht durch Antworten, (...) sondern durch die Peit¬ sche. (...) Ich weiß, wo die geistige Mißbildung beginnt. Ich könnte da manches wirken, (...), Verlautbarungen für die Guillotine. (...) mir muß man nicht klarmachen, was der Normalpegel bedeutet, Basis, sittliche Forderung, und nach der anderen Seite Anarchie. (...) Das einzige, was ich gegen mich sagen kann: Daß ich in letzter Zeit die Glut aminsäure vernachlässigt habe. Aber Zentrifugalkraft ist an mir verloren. Ich bin durchschnittlich im positiven, im staatsbürgerlichen Sinn, der Rest ist 2. die Insel(n) der Seligen: im »Hyperion« einmal erwähnt; nach Bloch kur¬ sierten seit der Antike mehrere Versionen der Sage von der Insel der Seli¬ gen, auf der das Paradies vermutet wurde. Seit dem Beginn der Neuzeit dachte man sich ihre Lage im Südwesten; vgl. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1985, S.884 ff.; vgl. auch Heinse, Wilhelm, Ardinghello und die glückseligen Inseln, Leipzig 19244 (1785); Heinse ist Hölderlins Elegie »Brot und Wein« gewidmet; außerdem wird im »Ardinghello«, dem »der >Hyperion< viel verdankt«, ausführlich die der Fliegen-Allegorie zugrunde liegende Elemente-Lehre der Griechen diskutiert (vgl. a.a.O. S.278 ff.) und ist mehrmals von »Maul¬ würfen« die Rede, z.B. S.151: »die Zeiten meiner Ruhe, des glückseligen Maulwurflebens sind noch nicht gekommen.«; vgl. auch 1,544 Hölderlin 56 Meyer 1907, a.a.O., Bd.6, S.500 57 vgl. S.92; die Verbindung zum »Maulwurf« »Farbenblind« läßt sich auch vom »Hyperion« aus herstellen: Drei Zeilen vor der oben zitierten Stelle (vgl. Fn. 53) sagt Diotima: »Sterblichkeit ist Schein, ist, wie die Farben, die vor unsrem Auge zittern, wenn es lange ln die Sonne sieht!« 58 vgl. auch 111,728. »(...) das ist alles reif für Euthanasie (...)«

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Unterholz. Das steht vor Sonnenuntergängen und will Millionen umar¬ men, fades Gelichter, Triefaugen, schwerhörig und anstaltsreif." (111,714; Hervorhebung durch mich, S.M.) Nicht nur in der Sorge, die Glutanminsäure vernachlässigt zu haben, ver¬ birgt sich die Angst, selbst verrückt zu werdend Schwer- und dickfellig ("Ja, ich bin Christ, ich habe ein dickes Fell." 111,730) glaubt er, daß jede Zentrifugalkraft an ihm verloren und er also durch nichts aus der Ruhe zu bringen sei. Die Erwähnung der "Zentrifugalkraft" zeigt erneut in Richtung "Hyperion", und zwar diesmal zum "Fragment des Hyperion", welches wie das vom Pförtner zitierte Gedicht "An die Freude" in Schillers Zeitschrift "Neue Thalia" veröffentlicht wurdet® "Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzel¬ nen, von einem Punkte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum anderen (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu sein."6^ Jochen Schmidt bezeichnet den exzentrischen Entwicklungsweg Hyperions als eine "via negationis", die durch eine nur als Utopie vorstellbare Mitte - den Zusammenfall von "individueller und universeller Harmonie" in der "Vision der Alleinheit der Natur" - zentriert werdet Der Pförtner setzt an die Stelle der nur durch Negationen bestimmbaren Harmonie die Position der Friedhofsruhe,63 den "Normalpegel" im "positiven, staatsbürgerlichen Sinn". Obwohl er über ein überdurchschnittliches, literarisches Wissen verfügt,6^ befindet er sich auf keiner Entwicklungs-Bahn, schon gar nicht auf einer exzentrischen, sondern hat vermutlich schon immer den Stand-Punkt des vermeintlichen Durchschnitts eingenommen und diesen gegen alle etwaigen Anfechtungen durch das ihm Fremde verteidigt. Der Pförtner ist ohne Feu¬ er, er ist unlebendig 63 59 vgl. S.206; die Glutaminsäure ist reichlicher Bestandteil der Hirnsubstanz und Nachbarwort von >GlutumnachtetHermesin GoldBergBlaukreuzes verschlägt einem die Sprache« ist das gespensti¬ sche Wort >radebrechen< enthalten. 278 Laurenz ist ein Namensvetter des hl. Laurentius, der »auf dem Rost ver¬ brannt« wurde u. im Hörspiel »Festianus Märtyrer« eine der Hauptfiguren ist. 279 vgl. 111,707; dort heißt es vermutlich über Laurenz, er habe etwas »Vierfüßiges« in der Stimme. 280 Ich finde den in der Regieanweisung gewählten und penetrant wiederhol¬ ten Ausdruck »Grunzen« als Charakterisierung der von Laurenz ausge¬ stoßenen Laute wenig glücklich. 281 vgl. Klemperer, Victor, LTI, Frankfurt a.M. 19853 (1957) 275

Stummenheim "Sankt Hubertus" könnte man demnach als Metapher für Deutschland nach dem "Dritten Reich" auffassen: Vergewaltigt durch die Sprachlenkung der Nazis, ist die deutsche Sprache verloren und nur den sogenannten Ewig-Gestrigen weiterhin aussprechbar. Als erste Schlußfolgerung aus der äquinoktialen Achse der hakenkreuz¬ förmigen Orakelembleme der chinesischen Tradition kann festgehalten wer¬ den, daß der "Heilige Geist" sich in den Un-Geist der Nazis verwandelt, dessen "feurigen Zungen" vor allem die zum Opfer fielen, welche Petrus in der Pfingstpredigt als Israeliten anspricht. Mehrfach wurde auf den wichtigsten in "Äquinoktium" eingewobenen SubText "Pseudomenos" von Adorno hingewiesen.282 Die Auslöschung der Dif¬ ferenz von Wahrheit und Lüge, von Adorno am Beispiel der Berichte in der englischen Presse über die Konzentrationslager veranschaulicht, wird im "Maulwurf" in dem Satz "Lügen haben kurze Beine und lange Ohren" und am Ende des letzten Absatzes aufgegriffen: "Der rötliche Schimmer im Schwarz unserer Katze überwältigt uns, wir erfahren für Augenblicke die Wahrheit. Sie hat kurze Beine und lange Ohren." Störrischen, widerborstigen bzw. eigensinnigen Kindern werden zuweilen die Ohren lang gezogen, bis sie aussehen wie die gequälte Kreatur zu Beginn der "Bremer Stadtmusikanten" 288 Auch Midas bekommt von Apollon die Oh¬ ren gewaltsam verlängert, weil er die 'Katzenmusik' des Marsyas, in der das Mißlungene der Welt als Dissonanz hörbar wurde, höher bewertete als die "fade Harmonie" des Apollon (M,68 f.): "Die Wahrheit hat Akne und Furunkulose, das haben Lügen nicht." (M,70) Laut Brehm soll es in China eine Katzenart geben, die der im Schlußsatz von "Äquinoktium" beschriebenen Wahrheit insofern ähnelt, als ihr Haupt¬ charakteristikum lange Hängeohren sind. Doch dünkt dies weniger von Be¬ lang. Von zentraler Bedeutung für die Interpretation des "Maulwurfs" scheint mir indessen eine literarische 'Esel-Katze'. Zu Beginn der Büchner-Preis-Rede nennt Eich Georg Büchner einen Schutz¬ patron der literarischen Sprache und macht einige aktualisierende Anmerkun¬ gen zur "Woyzeckschen Erbsensuppe" und dem hinter dieser stehenden Wissenschafts-Begriff (vgl. IV,615 u. 627). Anspielungen auf Büchner und speziell dessen "Woyzeck" finden sich in mehreren "Maulwürfen".284 Die im Schwarz der Katze sich offenbarende Wahrheit mit kurzen Beinen und langen 282 vgl. S.252, Fn. 191 283 vgl. Hart Nibbrig 1981, a.a.O. 284 vgl. in der Konkordanz die Stichwörter >Erbse< und >ErbsensuppeWissenschaft< heutzutage, um die Kosten zu steigern, im Weltraum durchgeführt. 286 Büchner 19834, a.a.O., S.175; Hervorhebungen (Fettdruck) durch mich, S.M. 287 Büchner 19834, a.a.O., S.161 = Zitat (1. Mose 19,28); an den Reden von Woy¬ zeck, in denen dieser mehrfach fast wörtlich aus der Pfingstpredigt des Petrus bzw. aus der »Apokalypse« zitiert, ließe sich sehr genau die Pro¬ jektion der eigenen Ängste auf einen SUndenbock zeigen. Bei Woyzeck heißt dieser noch »die Freimaurer«: »WOYZECK faßt ihn an: Hörst du' s Andres? Hörst du’ s es geht neben uns. Fort, die Erde schwankt unter unsem Sohlen. Die Freimaurer! Wie sie wühlen! Er reißt ihn mit sich. ANDRES. Laßt mich! Seid ihr toll! Teufel. (Fortsetzung auf der nächsten Seite) 277

Diese Sätze fassen Adornos "Pseudomenos" über hundert Jahre vor dessen Niederschrift zusammen. Viel steht nicht geschrieben, denn "bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzen¬ trationslager unerwünscht",288 und was geschrieben steht, führte sogleich ein Fragezeichen mit sich, "denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspringt."289 Bleibt noch zu ergänzen, daß Franz Fühmann einen biographischen Text verfaßt hat mit dem Titel: "Den Katzenartigen wollten wir verbrennen".290 Fühmann schildert darin, wie er und einige seiner Schulkameraden eines Tages beschlossen, einen Mitschüler - den Katzenartigen - in einem unterir¬ dischen Gang zu verbrennen. "Von seinem Schicksal weiß ich nichts mehr."29* Fühmann erinnert allerdings, wie die christliche Feuersymbolik292 nahtlos übergeht in den Feuerzauber der Nazis293 und schließlich in die sogenannte Reichskristallnacht und die Errichtung der Kazets mündet: "Meine Schulzeit insgesamt ist eine gute Erziehung zu Auschwitz gewesen."29^ Fühmanns Beschreibung der Ereignisse in der 'Reichskristallnacht' gemahnt in fataler Weise an Ereignisse der jüngsten Zeit in Hoyerswerda, Rostock, Mölln ... Und obwohl sich inzwischen Hunderttausende zu Lichterketten (uni-)formierten und zu kostenlosen Rockkonzerten trafen, ist man nicht weiter gekommen, als daß über die nach wie vor beinahe täglichen Brände in

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WOYZECK. Bist du ein Maulwurf, sind dei Ohre voll Sand? Hörst du das fürchterliche Getös am Himmel? Uber der Stadt. Alles Glut! Sieh nicht hinter dich. Wie es hervorschießt, und Alles donnert.« Büchner 19834, a.a.O, S.135; Hervorhebungen (Fettdruck) durch mich, S.M. vgl. auch die Zeile »(...) - dieser Rauch, das ist die Katze, die vorbei¬ schleicht.« aus: Jacob, Max, Der Würfelbecher. Gedichte in Prosa, Frank¬ furt a.M. 1986 (1917); Jacobs Geschwister wurden in Auschwitz ermordet, er selbst im Konzentrationslager Drancy; vgl. schließlich noch Beckett, Samuel, Endspiel (ein Subtext von »Frühge¬ burt«, M,122), in: ders.. Dramatische Dichtungen in drei Sprachen, Frank¬ furt a.M., S.263: »Hamm: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuch¬ te ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. Wie schön das alles ist. Pause. Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. Pause. Er allein war verschont geblieben. Pause. Vergessen. Pause. Der Fall ist anscheinend ... der Fall war gar keine ... keine Seltenheit.« Adorno 199120, a.a.O., S.138 Adorno 199120, a.a.O., S.138 Fühmann, Franz, Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Meine Schul¬ zeit im Dritten Reich, in: ders.. Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch, hrsg.v. Jürgen Schmitt, Hamburg 1983, S.171 ff. Fühmann 1983, a.a.O., S.176 »Das Feuer, wurde uns gelehrt, sei eine göttliche Reinigungsmacht, eine Gabe des Heiligen Geistes; und auch die Scheiterhaufen, drin die Ketzer verbrannten, seien gnädig noch für die Ketzer gewesen.« Fühmann 1983, a.a.O., S.177; beachte den Gleichklang von Ketzer und Katze. Feuertaufen, Fackelzüge, das Lied »Flamme empor« etc. Fühmann 1983, a.a.O., S.181

Asylanten-Unterkünften und Gastarbeiter-Wohnungen "nicht viel" und immer weniger "geschrieben steht” und das sanfte Ruhekissen für den Schlaf der Gerechten jedesmal gleich mitgeliefert wird: "Über die Brandursache liegen bisher keine Berichte vor." "Sarglager. Was ist mit dem Wort? Gerade jetzt, da ein neues Denken anhob, schlug ihm das Wort Sarglager dazwischen. Gestern war es das Wort Hirsebrei. Sarglager also heute. Und der Einschlag dieses Wortes gab den kaum zugedachten Zugang einer Schuld im Innern frei. Nein, weit unterm Innern, im Bodenlosen. (...) Mochte es morgen das Wort Windstille sein, das ihn peinigte, vorallem der wörtliche Zustand, die Windstille der Wörter, die Wortstil¬ le. Grauenhaft. Frech wuchsen die Pappeln der Leopoldstraße, die seit dem Gedicht von Günter Eich so gewachsen waren. Der mit seiner ro¬ ten Maulwurfnase so gerne schnupperte, weil er lieber etwas roch als verstand. Wo bist du, wenn du neben mir gehst? Frech stehen die Pappeln und sorgen für Dreck, denn sie sind mächtig im Laub und kein 'geringes Laub an Pappelbäumen' zwar jede Größe 'einberechnet von der Stadtverwaltung', jedoch gibt es nicht mehr 'im¬ mer Gespinste nebliger Sonne'. Schon in Shanghai kann man erfahren, wie es bei uns zugeht: Menschen werden getötet. Die Luft ist vergif¬ tet. Es sterben Pflanzen und Tiere. Die Autos haben sich zu Herren über Menschen gemacht. Sie verletzen Fußgänger, Radfahrer und Kinder und töten sie . . . Du sagst noch Nebel, lieber Günter Eich, gut geschnüffelt, aber wir ersticken. Und ersticken doch nicht, weil wir leben müssen. Wir fürchten wie du die beantworteten Fragen und fragen deshalb nicht, revoltieren. Michael A. Bakunin in den "Maulwürfen"

"Nur nicht auf der Höhe der Revolte hocken bleiben. Und jeder ge¬ lungene Augenblick ist eine Revolte, wenn man nicht vergißt, daß ein Schriftsteller die im Augenblick gelungenen Sätze meint."296 Der gelungene Augenblick als Revolte, die sich im gelungenen Satz ma¬ nifestiert, leitet über zu einer Grundtendenz, die sämtlichen späten Texten Eichs innewohnt: die der Anarchie. Im vorangestellten Zitat kondensiert Achternbusch die am Ende der Büchner-Preis-Rede von Eich benannte Auf¬ gabe des Schriftstellers: durch Sprache gegen die Macht zu revoltieren, sie in Frage zu stellen. Übt der Schriftsteller nicht Kritik durch die Sprache, dann produziert er "wohlriechende Strophen" (M,69) und treiben "seine Sätze 295 Achternbusch, Herbert, Sarglager, in: ders., Revolten, Frankfurt a.M. 1982, S.26; die eingerückte Zeile und alle Zitate sind Eichs Gedicht »Gegenwart« (1,82 f.) entnommen. 296 Achternbusch 1982, a.a.O., S.28 279

ins Sarglager",297 das heißt die Sätze bestätigen den von der Macht verordneten Tod, anstatt sich gegen diesen aufzulehnen.293 Die "Maulwurf"-Spra¬ che präsentiert ungeordnete "Späne", die an "lebendiges Haar" erinnern und sich bei der Lektüre je nach Blickwinkel momenthaft zu Konstellationen höchster Ordnung formieren. Sie torpediert die durch die Zensurvorrichtun¬ gen des Vorbewußten und des Wachbewußtseins erzielten Harmonisierungen. Unordnung und eine den Worten der "Maulwürfe" eingeschriebene Spann¬ kraft, die sie ähnlich wie die von Locken oder Hobelspänen gegen eine Glättung und Einebnung der Bedeutung widerständig macht, bewirken, daß die Sätze "sich nicht zu schnell hinlegen"299 Im Gegenteil sträuben sich die Sätze, sind widerborstig, können deswegen nicht allzu leicht geschluckt werden und bleiben mitunter im Halse stecken, wodurch sie das "erlösende Wort Atemnot" verursachen.3®® Die zum Umschlag in augenblickliche Ordnung gespannte Unordnung wird in den "Maulwürfen" gleichgesetzt mit Lebendigkeit, die staatsverordnete Ord¬ nung dagegen mit Leblosigkeit. Als Allegorie stärkster Ordnung, in welcher sich die Sprache einer energie- und leblosen (Toten-) Starre annähert, tau¬ chen in den späten Texten Eichs immer wieder "Fahrpläne", "Dienstvor¬ schriften" und ähnliches auf.3®^ Die (staatlich) organisierte Ordnung er¬ zwingt das Einverständnis mit der Macht. "Aber es lebe die Anarchie! (...) es lebe die Unordnung!" (M,34) Das Be¬ kenntnis zu einer 'unordentlichen' Sprache geht einher mit einem Bekennt¬ nis zur Anarchie, welche in "Späne" wie in den anderen "Maulwürfen" stets in einem ähnlichen Sinn aufgefaßt wird, in welchem Bakunin das Wort verwendete.3®2 Vieles spricht dafür, Bakunin spätestens ab der BüchnerPreis-Rede als den Gewährsmann Eichs anzusehen. Am Ende der Büchner-Preis-Rede ruft Eich alle seine Verbündeten auf: "Sie gehören alle der Ritterschaft von der traurigen Gestalt an, sind ohnmächtig und Gegner der Macht aus Instinkt. Und doch meine ich, ist der Menschheit Würde in ihre Hand gegeben. Indem sie rebellieren und leiden, verwirklichen sie unsere Möglichkeiten." (IV,627)3®3 Unter den Deklassierten der Gesellschaft, die aus der Ordnung gefallen 297 298 299 300

Achternbusch 1982, a.a.O., S.29 vgl. »Späne« (M,34) und S.71 ff. vgl. Achternbusch 1982, a.a.O., S.29 vgl. Achternbusch 1982, a.a.O., S.106 = wahrscheinlich Bezugnahme auf Il¬ se Aichinger 301 vgl. die Stichworte in der Konkordanz 302 vgl. Guörin, Daniel, Anarchismus. Begriff und Praxis, Frankfurt a. M. 19682 (196S), S.ll ff. 303 Womöglich dachte Eich an Menschen wie Betty Voß, deren Schicksal, zu¬ nächst als sogenannte Asoziale ins KZ Ravensbrück verbracht und später von den bürokratischen Mühlen der Bundesrepublik zermahlen, in den letzten Wochen mehrere Zeitungsartikel nachzeichneten; vgl. z.B. Danker, Uwe, »Ich bin ich, nix sonst«. Das sogenannte asoziale Leben der Betty V in vier deutschen Staaten, in: Zelt und Bild, Frankfurter Rundschau am Wochenende, 20.2.1993 280

sind, befinden sich "die Kämpfer auf verlorenem Posten, die Narren". In "Huldigung für Bakunin" (M,35) werden diese noch einmal ausdrücklich ge¬ feiert, und zwar nicht nur, weil Eich womöglich Bakunin zu den "Kämpfern auf verlorenem Posten" zählte, sondern weil sowohl Eich als auch Bakunin in den Außenseitern der Gesellschaft die von der Macht am wenigsten korrum¬ pierbaren Kampfgenossen erkennen.30^ Kampf- und Leidensgenossen sind die Obdachlosen, die Entblößten, die Nomaden, Feinde dagegen die "Haus¬ genossen". Einer der "Hausgenossen" (M,24) hindert das "Maulwurf-Subjekt daran, sei¬ ne "Bakunin-Biographie" weiterzuschreiben. Als "Hausgenossen" werden die Eltern identifiziert, genauer, als "Vater Staat und Mutter Natur". In "Espenlaub"-Manier bezieht sich Eich zu Beginn des "Maulwurfs" auf eine der schwierigsten Stellen des Matthäus-Evangeliums: "Ein Jünger steht nicht über seinem Meister und ein Sklave nicht über seinem Herrn. Der Jünger muß sich damit begnügen, daß es ihm geht wie seinem Meister, und der Sklave, daß es ihm geht wie seinem Herrn. Wenn man schon den Herrn des Hauses Beelzebub nennt, dann erst recht seine Hausgenossen. (...) Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein." (Mt. 10,24 ff.; Einheitsübersetzung)

Der Anfang des Zitats kann als Propagierung des Gleichheitsgrundsatzes gelesen werden: Der Knecht ist nicht mehr wert als sein Herr, aber auch nicht weniger. Völlig zusammenhanglos spricht Jesus darauf von Beelzebub, dem Herrn des Hauses. Beelzebub, das ist der Anführer der Dämonen (der Hausgenossen), ist Satan.305 Nun sagt aber Eich nicht nur in der BüchnerPreis-Rede, daß die "abscheulichste Sprachlenkung, die religiöse"305, längst an die Stelle Satans den Namen Gottes eingetragen hat. Deutlicher wird Eich in einer Notiz aus dem Jahre 1957: "Wie ertragen es die Seligen, / daß es Verdammte gibt.30'7 // Es wäre verwunderlich, wenn der Teufel nie / darauf verfiele, sich den Namen Gottes anzueignen. / Daß von dieser Möglichkeit nirgends die Rede ist, / ist ein Beweis, daß es ihm schon lange und mit / Erfolg gelungen ist. 304 vgl. Guärin 19682, a.a.O., S.13: »Es ist diese Einstellung - der Widerspruch gegen die Repression -, die den Anarchisten in seiner Revolte zur Parteinahme für den Partisanen, den Gesetzlosen, den Außenseiter veranlaßt. In den Opfern des herrschenden Zustands erkennt er die potentiellen Verbündeten in seinem Kampf gegen das Unrecht.« 305 vgl. Mt. 12,24 306 vgl. hierzu Bakunin 1919, a.a.O., S.54: »Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder religiös Inspirierten der ärgste.« 307 vgl. hierzu Bakunin 1919, a.a.O., S.15 f. 281

// Die Entschuldigung für Gott ist, / daß es ihn nicht gibt." (IV,372)308 Gott gibt es nicht, vorsichtiger, Gott ist nicht da: deus absconditus. Der HERR der Bibel wird von Eich in einer Vielzahl von Fällen als Satan ent¬ larvt. Satan und HERR sind für Eich solange eins, wie beide an einer Hier¬ archie aus Seligen und Verdammten festhalten, wie sie Autorität und Ge¬ walt begründen und jeden Widerstand gewaltsam niederzuschlagen bereit sind. Eich pickt aus der Bibel gerade jene Szenen heraus, in denen Gott Menschen bricht, bis sie sich gänzlich unterwerfen und ihn akzeptieren, wie er ist.309 Gott/Satan erzwingt das Einverständnis. Beelzebub (= HERR) ist der Herr der "Hausgenossen", die die "Feinde ei¬ nes Menschen sein werden", im "Maulwurf" aber sind dies die Dämonen "Vater Staat" und "Mutter Natur", welche die gewalttätige Autorität multi¬ plizieren. Als Symbol der Gewalt der Natur (= Schöpfung) wählt Eich in "Hausge¬ nossen" die "Gottesanbeterin",3^ welche ihre 'zum Gebet' erhobenen Klauen als Fangarme gebraucht, um ihre Opfer in die Zange zu nehmen und aufzu¬ fressen. "Das Gegenteil von human ist nicht inhuman, sondern divin, wo hab ich das gelesen? Unformuliert in der Natur natürlich, da gibt es kein Erbar¬ men, da schwärts, da schäumt das Blut, und wir sind ja in diese Schöp¬ fung hineingestellt, höchste Zeit, daß wir sie annehmen." (111,705) Der Sprecher von "Hausgenossen" schreibt an einer Bakunin-Biographie, und wir wollen die Gelegenheit nutzen, einen Blick in sein Manuskript zu wer¬ fen, bevor "Papa" ihn dazu veranlaßt, den Staatsanzeiger darüberzuziehen. Die eben zitierte Antonymbildung der Worte human und divin wird von Bakunin in "Gott und der Staat" hergeleitet und gipfelt in den Sätzen: "Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der menschli¬ chen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Men¬ schen, in Theorie und Praxis. Wenn Gott existiert, ist der Mensch Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht."3^ Bakunin hält das Studium der Genesis der Gottesidee für unbedingt er¬ forderlich, weil er in dieser die Voraussetzung für das Fortbestehen des "kollektiven Wahnsinns" (= Religion) im "modernen Idealismus" und im "dok308 vgl. die Anmerkung des Herausgebers hierzu, in der er auf Parallelstellen in »Unter Wasser« und »Festianus Märtyrer« hinweist. 309 vgl. in der Konkordanz die Namen Jonas, Noah und Hiob; Hiob wird zum Spielball eines Wettstreits zwischen Gott und dem Teufel, in welchem Gott und Satan immer ähnlicher erscheinen; vgl. auch Mirjam = der Titel mehrerer Gedichte und Name von Eichs Tochter; vgl. die Notiz 9 (IV,372). 310 Neumann zählt eine Reihe von Verwendungen der »Mantis religiosa« in der Literatur auf (Klabund, Celan, Weizsäcker); vgl. Neumann 1981, a.a.O., S.170 ff. 311 Bakunin 1919, a.a.O., S.28; der letzte Satz ist quasi eine Umkehrung des Gottes-Beweises von Anselm von Canterbury. 282

trinären Materialismus" Marxscher Prägung erkennt. Nicht Gott schaffe den Menschen nach seinem Ebenbilde, sondern der Mensch projiziere sich selbst in den "Himmel der Religion", wo "sein eigenes Bild wiederersteht, aber vergrößert, und verkehrt, das heißt vergöttlicht.”312 Die Projektion und Vergöttlichung reißt den Menschen in einen Strudel der Gewalt. Zur ideali¬ stischen Spielart der Selbst-Vergöttlichung schreibt Bakunin: "Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge kommen die Idealisten stets zum Triumphe eines brutalen Materialismus: Und das aus einem einfa¬ chen Grunde: das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich zu seinem Vaterland, dem Himmel, und das Brutale bleibt auf der Erde."313 Die Kritik am doktrinären Materialismus führte dazu, daß Bakunin von "Marx ganz schön fertiggemacht" wurde (M,24). Bakunin sah voraus, daß die soge¬ nannte Diktatur des Proletariats, erst einmal durchgesetzt, kein anderes Ziel verfolgen werde als jede andere Diktatur, nämlich '"so lange wie möglich zu dauern"'314 '"Nehmt den radikalsten Revolutionär und setzt ihn auf den Thron aller Reußen oder verleiht ihm eine diktatorische Macht ..., und ehe ein Jahr vergeht, wird er schlimmer als der Zar selbst geworden sein.'"315 Wie bekannt hat Marx kein Mittel ausgelassen, um seinen autoritären Kurs gegen Bakunin und dessen Anhänger durchzusetzen, und durch eine üble Verleumdung unmittelbar dazu beigetragen, daß Bakunin aus der Internatio¬ nalen ausgeschlossen wurde.316 Der "Maulwurf" "Mein Schuster" spiegelt die Spaltung der Internationalen (M,23)317 und die Spaltung wiederholt sich im kleinen Kreis am Grabe Bakunins (vgl. M,35), wobei auch dort die MarxFreunde eine leichte Übermacht haben. Das Ergebnis bleibt in jedem Fall gleich: "Zementregierungen und Betonstaaten sind im Vormarsch." (M,35) Als Anarchist lehnt Bakunin jede Form des Dämons "Vater Staat” ab, sei es die Monarchie, die Republik oder der von den Kommunisten angestrebte sogenannte "Arbeiter- und Bauernstaat”. Jede Staatsform bevormunde, sei in letzter Konsequenz von Gottes Gnaden und setze autoritär den eigenen Erhalt gegen den Willen der Individuen und der Massen durch. Für Bakunin ist der Staat '"eine Abstraktion, die das Leben des Volkes verschlingt’, ein 'unermeßlicher Friedhof, auf dem ... alle wahren Hoffnungen, alle Lebens312 Bakunin 1919, a.a.O., S.27; vgl. hierzu die Anmerkungen zu Lacans Spiegel¬ stadium, S.107 ff. 313 Bakunin 1919, a.a.O., S.44; vgl. hierzu den mit »viel Idealismus« durchsetz¬ ten »Maulwurf« »Episode« (M,28) 314 Bakunin zitiert nach Guörin 19682, a.a.O., S.25 315 Bakunin zitiert nach Gu^rin 19682, a.a.O., S.26 316 vgl. hierzu Mehring, Franz, Karl Marx. Geschichte seines Lebens, Berlin 1960, S.499 ff. u. Wittkop, Justus Franz, Bakunin, Reinbek 1987 (1974), S.98 ff. 317 Beachte, daß auch hier dem anarchistischen Schuster (- »mein Schuster«) eindeutig die Sympathien gehören, während der linke Schuster »die Sprachregelungen (- gelenkte Sprache) kennt und auf alles schon die richtige Antwort weiß«; mit den »Gräbern der Genossen vor hundert Jahren« wird bereits ein Hinweis auf »Huldigung für Bakunin« gegeben. 283

kräfte eines Landes großzügig und andächtig sich haben hinschlachten las¬ sen'. (...) Das allgemeine Wahlrecht sei die Maske, hinter der sich 'die wirklich despotische Macht des Staates verbirgt, die sich auf die Banken, die Polizei und die Armee gründet'."318 Die Zeit der Niederschrift der "Maulwürfe" gab Eich genug Anlaß, über die von Bakunin bezeichneten Konsequenzen des Staates zu meditieren. Obwohl am Grab Bakunins ausdrücklich gesagt wird: "Uns liegt es, hundert Jahre zurück oder hundert Jahre voraus zu sein", rücken die aktuellen Ereignisse doch immer wieder zu Leibe und tragen dazu bei, daß die "Sammlung histo¬ rischer Gummiknüppel aus Ost und West" (M,26) schnell wächst. Der Gum¬ miknüppel "Modell 67 Berlin" zum Beispiel könnte sein "stenographisches Kürzel", bestehend aus Mädchenhaar und Mädchenhaut, bei jener AntiSchah-Demonstration in Berlin erhalten haben, bei der Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde.31^ Auch der Vietnam-Krieg findet, ob¬ wohl "Saigon zu aktuell (ist)", Eingang in zahlreiche "Maulwürfe".320 "Die Deformierung der Welt in zwei Machtblöcke ist auf die Baumwolle (= Grundbestandteil von Text; S.M.) nicht ohne Einfluß geblieben." (M,100) Die Dämonen Staat und Natur erzwingen Friedhofsruhe, die nur noch durch das Klingeln der Friedhofsglocke gestört wird; "Man bittet zu läuten". Spätestens seit dem "sechsten Traum" wissen wir, daß sich hinter diesem "man" die (staatliche) Macht verbirgt, die dazu auffordert, anderen die Totenglocke zu läuten. Der Eintritt in die Sphären der Macht wird erkauft mit dem Einverständnis oder der Bereitschaft, zum Henker zu werden. Der "Maulwurf" "Huldigung für Bakunin" (M,35)321 ist im Sinne einer Re¬ verenz vor den großen anarchistischen Wegbereitern aufzufassen. Eichs in der Büchner-Preis-Rede entfalteter Macht-Begriff, die Revision seiner posi¬ tiven Auffassung der Schöpfung und der Natur, sein in zahlreichen "Maul¬ würfen" dargelegtes Verhältnis zum Staat und nicht zuletzt seine Einstellung 318 Bakunin zitiert nach Gu^rln 19682, a.a.O., S.15 ff. 319 am 2. Juni 1967; womöglich meint Eich mit dem Polizisten aus »Episode« (»Ein Polizist aus Berlin, auf Urlaub, übernimmt das Standrecht und die Löscheimer. Viel Idealismus.») den Todesschützen Kurras. 320 vgl. in der Konkordanz unter >Ebene der Tonkrüge< (liegt in Laos), >MekongdeltaSalgon< und >VietnamWinterliebeFarbsymbolik< 55 Vermittels des Alphabetismus kann >Rot< als Bestandteil zweier weiterer Rubriken gelesen werden: Das französische Wort >rot< bedeutet im Deut¬ schen >RülpsenErde/ gelb/zeitlose Mitte/ Herz/Heiligkeitrot< dagegen >Fäulnis/ ( Blödsinn)faulig< ist das Geruchsattribut der von Eich bevorzugten Rubrik >Wasser/Norden/Winter/schwarz/salzigzeitlose MitteSchwarzFäulnis< vgl. auch Apollons Name Pythios, der auf Pythein (Verfaulung) zurückgeht, vgl. Fn. 40

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Farbfilmen schwach und ganz minder." Als 'gelbe Rasse" bezeichnet man nach Meyers Konversationslexikon die Mongolen, in der Alltagssprache aber auch die Chinesen ("gelbe Gefahr") und die anderen Völker des Fernen Ostens. Diese sind am Mittelmeer nicht heimisch und selbst Japaner dürften zur Zeit der Niederschrift des "Maul¬ wurfs“ in Europa noch relativ selten anzutreffen gewesen sein. Die "gelbe Rasse" ist aber auch "hier garnicht vertreten”, weil Schwarz-weiß-Filme gelbes Licht nicht abbilden, nur Farbfilme, aber selbst die wegen des roten Lichts des Sonnenunterganges nur "schwach und ganz minder". Die chinesi¬ sche Emblematik ordnet 'Gelb' der zeitlosen Mitte, der Erde, dem Herz bzw. der Milz zu. "Und das Wasser in der Piscine färbt sich nicht, kann sich nicht färben, es ist keins drin. Für die weniger Begüterten sollte man wenigstens Halluzinationen haben." Das im Text befremdend wirkende französische Wort "Piscine” (Hallenbad) fordert dazu heraus, es alphabetistisch zu bearbeiten. Als lateinisches 'piscina' hat es noch die Bedeutung von ('Fisch-)Teich'. Im Französisch-Wörterbuch steht es zwischen den Worten ’pis' (1. Euter; 2. adv. (Komparativ von mal) schlimmer, 'piscicole' (Fischzucht)^ 'piscivore' (fischfressend) und 'pissat' (vulg. Pisse, Schiffe, Urin). Uber das letztgenannte Wort könnte man eine Brücke bauen zu dem sich auf 'Urin' reimenden Hölderlin (vgl. "Latrine") und dessen von Eich am häufigsten zitierten Gedicht "Andenken" oder zu Eichs Motiv der Kanalisation, in welche die Verse der literarischen Sprache gespült werden. Doch heißt es im Text ausdrücklich, daß in der "Piscine" kein Wasser ist, welches sich (gelb = Zeitlosigkeit) verfärben könnte. Die "Piscine" reiht sich motivisch ein in die Abfolge der vorange¬ gangenen Absatzenden, wenn man das Wort französich nicht ganz korrekt mit "pis eine" (schlimmeres Kino) übersetzt, was dann auch gut paßt zum nachfolgenden Satz: "Für die weniger Begüterten soll man wenigstens (mög¬ lichst bunte, S.M.) Halluzinationen haben." Sieht man von dem "weiß" im zweiten Absatz des "Maulwurfs“ ab, dann ist neben 'Rot' und 'Gelb' 'Schwarz' das dritte und am häufigsten genannte Farb-Attribut. Damit sind dann nicht nur alle Farben der deutschen Flagge versammelt, sondern auch all jene, in welche die Landschaft "(Und alles)" vor Sonnenuntergang, während des Sonnenuntergangs und im Anschluß an diesen getaucht wird. Als "schwarz" werden zunächst der "Vater mit seinen sieben Jünglingssöhnen” charakterisiert. Man könnte dies als einen Hinweis auf den im Gedicht "Sklaveninsel" erinnerten Sklaventransport auffassen, doch würden dann die "schwarzen Söhne lachen"? Nicht als Hautfarbe, son¬ dern im Sinne des Gedichts "Betrachtet die Fingerspitzen" (1,73 und 1,100 f.) soll vermutlich die Farbe 'Schwarz' gelesen werden: 56 womöglich zusammengesetzt aus >pisci< und >öcole< und dann vorauswei¬ send auf die klassenlosen Schulen der Delphine.

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"Betrachtet die Fingerspitzen Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben! Eines Tages kommt sie wieder, die ausgerottete Pest. Der Postbote wirft sie als Brief in den rasselnden Kasten, als eine Zuteilung von Heringen liegt sie dir im Teller, die Mutter reicht sie dem Kinde als Brust. Was tun wir, da niemand mehr lebt von denen, die mit ihr umzugehen wußten? Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist, kann seinen Besuch in Ruhe erwarten. Wir richten uns immer auf das Glück ein, aber es sitzt nicht gern auf unseren Sesseln. Betrachtet die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz färben, ist es zu spät." (1,100 f.) Spricht man heutzutage über den Hautkrebs als den durch die Aggressivität der Sonne verursachten ‘schwarzen Tod', so hat diese Vorstellung eine lange Tradition insofern, als der Lichtgott Apollon wie viele andere Sonnengötter für die Verbreitung der Pest verantwortlich gemacht wurde. Zum Beispiel sendet Apollon gleich im ersten Gesang der "Illias" den Achaiern mit seinen Pfeilen die Pest?7 und ebenfalls mit seinem Bogen tötet er ohne Erbarmen die sieben Söhne Niobes, worauf sich deren Mann Amphion das Leben nimmt.58 Womöglich spielt "Zu Schiff" auf Amphion und seine sieben Söhne an, mit deren Tod ein Königsgeschlecht verlischt. Bis hin zu den letzten Gedichten (vgl. "Optik" 1,182 f.) hat Eich die Farbe Schwarz und die Pest, den 'schwarzen Tod', in seine Texte eingearbeitet, um die Gefahr der 'Ansteckung' durch die Macht (das Heilige) zu versinn¬ bildlichen^ und die Trauer über die "Zumutung des Sterbens" (M,117), die um so provokanter wirkt, als die Macht einem privilegierten Teil der Mensch¬ heit Unsterblichkeit zusichert. Der "Vater mit seinen sieben Jünglingssöh¬ nen" gehört nicht zu diesen Privilegierten, "sie habens nicht weiter ge¬ bracht" als bis zur "Standardklasse" und sind alle "schwarz”, das heißt be¬ reits mit dem Kennzeichen der Sterblichkeit versehen. Am Ende des Textes "ist alles schwarz wie die Haut", das heißt, die Ordnung schaffende Gewalt, mit der man zu Beginn einverstanden war, hat um sich gegriffen und alles erfaßt. Der Mächtige, der "mit dem Entsetzlichen gut Freund (und also einverstanden, S.M.) ist, kann seinen (z.B. Apollons, S.M.) Besuch gelassen 57 vgl. Homer, Illias, übertragen von Johann Heinrich Voss, Erster Gesang Vs.43 ff. und Ker^nyi, Karl, die Mytholgie der Griechen Band II: Die Hero¬ engeschichten München 198912, S.272 58 vgl. Ovid 198811, a.a.O., Buch VI, Vs. 214 ff.; nach Homer waren es nicht sieben, sondern nur sechs Söhne; vgl. Homer, Illias, Vierundzwanzigster Gesang, Vs.603 59 vgl. hierzu auch die beiden Texte Camus' »Die Pest« und »Der Belage¬ rungszustand«, welche die Pest ebenfalls der Macht zuordnen.

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erwarten", denn er wird durch diesen Besuch unsterblich. Die ohnmächtigen Einverstandenen (in der Standardklasse) und die ohnmächtigen Nicht-Einver¬ standenen aber kommen um. Den durch das Schwarz symbolisierten Tod der Ohnmächtigen "wiegen diese Tage, diese Sprünge" (der Delphine, S.M.) und "dies Gelächter" der schwar¬ zen Söhne ebensowenig auf wie die Harmonien des apollinischen Gesangs "das Mißlungene in der Welt".60 Apollons Gesang und die "Dichter und Dichterinnen mit ihren wohlriechenden Strophen" tragen dazu bei, "daß die Welt so bleiben muß wie sie ist" (M,68 f.), also zweigeteilt in Sieger und Opfer. Der Wohlgeruch und die Harmonie können aber nicht darüber hin¬ wegtäuschen, daß Apollon Fäulnis ausdünstet wie die "Rots" der Sonnenun¬ tergänge und daß auch er vom "Schwarz" erfaßt wird.61 Die Leugnung des Leidens und des Todes äußert sich als Perpetuierung der Gewalt, für welche sich in den Geschichten über Apollon etliche Belegstellen anführen ließen. Eich verwendet die Gestalt des Apollon als Paradigma der von ihm kritisier¬ ten Macht, welche über Leichen geht und ihre Gewalttätigkeit nachträglich in Wohittätigkeit umlügt. 5.3. Die emblematische Verwendung des Wortes als dessen vierte Aura Die Lektüre von "Zu Schiff hat gezeigt, daß die in den "Maulwürfen" als Embleme/Attribute verwendeten Worte sich nicht mehr eindeutig bestimm¬ ten emblematischen Systemen zuordnen lassen, sondern im Gegenteil diese Zuordnung verflüssigen. Der Leser wird dadurch gezwungen, jedes einzelne Wort in seine verschiedenen emblematischen Wertigkeiten aufzufächern. Diese Auffächerung offenbart, wie die einzelnen Embleme in den unter¬ schiedlichen Zeit-Räumen durch einzelne religiöse Gestaltungen okkupiert, assimiliert und umgewertet wurden. Die Autorität einer Gottheit scheint darauf gegründet, wie viele Embleme und Attribute sie auf sich zu vereinigen und zu richten vermag, das heißt diese mit einem neuen Sinn zu besetzen. Die Abhängigkeit der (göttlichen) Macht und ihrer Autorität von der Zahl der Embleme, erklärt sich aus deren ursprünglicher Funktion, die Zukunft vorherzubestimmen und die Gesellschaft zu organisieren. Seinem Diktum konsequent folgend, daß das Schreiben in erster Linie Kritik an der Macht zu üben habe, polt Eich die Embleme um: Statt die Zukunft der Macht zu sichern, stülpen die Embleme ihre Vergan¬ genheit nach außen und mit ihr alles durch die Macht und ihre Vorgänger Verdrängte. Entlang der aufscheinenden Wertigkeiten gelangt man im Ein¬ zelfall zurück bis zur 'ursprünglichen' Prägung der Bildspur, in welcher Prie60 vgl. M,69; der thematische Zusammenhalt der »Maulwürfe« »Zu Schiff« und »Ein Nachwort von König Midas« wird auch dadurch nahegelegt, daß Eich beide auf dem gleichen Konzeptpapier niederschrieb [- die Rückseite der Bordzeitung der Ancerville) und daß das Wort >aufwiegen< in einem ähnli¬ chen Zusammenhang verwendet wird. 61 vgl. die Fn.en 40 u. 55

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ster/Orakelmeister, bei Verdrängung anderer Auslegungen, eine Ähnlichkeit zu kosmischen Phänomenen wahrnahmen. Die Umkehrung der Embleme erweist sich damit als eine weitere Form, wie Eich in den Maulwürfen die psychische Bewegung der Regression einträgt und dadurch eine meditative Rezeption ermöglicht.^2 Die Umkehrung der Embleme schließt im "Maulwurf" "Zu Schiff" auch eine Umkehrung des "figuralen Zentrums" des als Allegorie im Sinne Benjamins aufgefaßten Textes mit ein: Als dieses Zentrum, um welches die "Fülle der Embleme sich gruppiert", kann die Schiffsreise angesehen werden. "Jede Meerfahrt ist das Sinnbild dafür, daß der Mensch eine gewisse Herrschaft über die Seele erreichte, denn Seele und Wasser stehen, noch bei Heraklit, in engster Beziehung zueinander. (...) jede Meer¬ fahrt ist ein Sich -Erfahren."63 Meerfahrten führen deswegen immer aus der Dunkelheit der Seele/des Unbewußten heraus ins Licht des Wach-Bewußtseins. Die Problematik dieser als Progression gestalteten Meerfahrten ergibt sich aus dem Umstand, daß sie als Sieg des Bewußtseins über die Seele/das Unbewußte gefeiert wer¬ den. Sogleich mit dem erstmaligen Aussprechen eines "ich bin" beginnt die Helligkeit/das Wach-Bewußtsein sich zu überheben und legt den Grundstein des sich als autonom dünkenden Subjekts. "Wir sind diesem Ich, das aus der Integrierung der Seele, aus der Meerfahrt hervorgeht, (..) bereits begegnet: im 'Bin Odysseus'. War nun der mythologische Bewußtseinsträger der Sonnengott Helios, der als 'Sol invictus' Attribut der römischen Cäsaren wurde, so ging dieses Attribut später an Christus über. (...) er (Christus, S.M.) vermag auf dem Wasser zu gehen; er überwindet das Grundchaos und darf nicht nur sagen: 'Ich bin Christus', sondern: 'Ich bin das Licht der Welt'. Die er¬ ste große, gänzlich in sich gesicherte Helligkeit ist damit in der Menschheit zum Durchbruch gekommen, jene Helligkeit, die es zum ersten Male auszusprechen wagen darf, daß sie das Dunkele, das Leid der Welt, auf sich zu nehmen wage."64 Eichs Meerfahrt "Zu Schiff" führt vom Licht in die Dunkelheit, dorthin, wo "alles schwarz wie die Haut" ist. Wohin die Reise dann geht, läßt der "Maulwurf" offen. Mit Hinblick auf andere Texte Eichs wie das Hörspiel 62 Freud vergleicht das Traumgeschehen zur Veranschaulichung häufig mit Bil— der-Rätseln; diese nicht unproblematische Analogie-Setzung ist hilfreich auch für die Darstellung der »Maulwürfe« solange man berücksichtigt, daß die Embleme bei Eich, anders als die Elemente im Rebus, nicht von einer Eindeutigkeit in eine andere überführt werden. 63 Gebser 1986, a.a.O., S.118 f. 64 Gebser 1986, a.a.O., S.151 f.; anzumerken wäre hierzu, daß Jesus nur im Jo¬ hannes-Evangelium in der von Gebser nahegelegten Eindeutigkeit den Lichtgott Apollon beerbt; im übrigen erleidet Jesus im Gegensatz zur Son¬ ne den Tod: Er stirbt und bleibt bis zur Wiederauferstehung drei Tage im Reich der Toten, was nach Eliade ein Hinweis darauf wäre, daß der Aufent¬ halt Jesu in der Unterwelt eher von Mond-Hierophanien entlehnt ist; die¬ se Annahme wird auch dadurch gestützt, daß Jesus mit den Wundmalen, also nicht unverletzt, wieder aufersteht.

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"Festianus Märtyrer", das Marionettenspiel "Unter Wasser" und die Gedichte "Gemischte Route 2" (1,141 f.), "Hart Crane" (1,175), "Aufschub" (1,215), "Sklaveninsel" (1,216) und "Schiffahrt" (1,283) läßt sich aber vermuten, daß die Schiffsreise ins Dunkel nicht der Aufnahme in die Unsterblichkeit der Privilegierten dienen soll, noch, wie der Tod Jesu, der Vergebung der Sün¬ den, welche eh alle so "dürftig" sind (M,47), daß sie eine Verstoßung in die ewige Verdammnis nicht rechtfertigen können. Eher soll die "Schiffahrt" den mit dem Wasser identischen Seufzer bergen (1,141) und aus dem Salz (der vergossenen Tränen) die vergessene Zeit heraufholen (1,283). "Geschichte gilt nicht, / wir wollen schuldig bleiben", heißt es in "Sklaveninsel". Das aber, so kann man vermuten, ist das verborgene Motto von "Zu Schiff": dafür zu sorgen, daß "Geschichte nicht gilt", zu verhindern, daß "man nachher immer recht hat" (M,40), denn dieses nachträgliche 'Recht' fällt den Siegern zu wie im Augenblick Bosnien den Serben. Den Schlußdialog von "Festianus Märtyrer" aufgreifend, könnte man vielleicht sagen: erst wenn al¬ le Hoffnung (auf Privilegien) fahren gelassen wird, kann die Hoffnung zum fahrenden "Boot (werden, S.M.), das uns alle aufnimmt" (111,491), und dies ohne die "Zu Schiff” noch herrschende Klassenaufteilung. Pessimistisch gewendet aber bedeutet dies, daß eine Hoffnung auf das Überleben der Menschheit und die Rettung der Opfer der Vergangenheit erst dann be¬ steht, wenn jede Hoffnung auf eine Arche weggefallen sein wird. Durch Eichs spezifische Verwendung der Embleme werden die "Maulwürfe" zu "Würfeltieren", und die Rezeption gleicht einem Schütteln eines Würfel¬ bechers. Mit jedem Wurf bilden die Embleme neue Konstellationen und kehren dem Leser eine andere Seite zu, will sagen, sie zeigen jeweils eine ihrer Wertigkeiten, die den Emblemen aber nicht als starres Signifikat an¬ haften, sondern nur durch die Zuordnung zu einem bestimmten emblematischen System sichtbar werden. Jedes Emblem führt dadurch potentiell sämt¬ liche Verweisstrukturen mit sich, durch die es in den einzelnen emblematischen Systemen seine Wirkungskraft entfaltete. Die Meditation der "Maulwürfe" aktualisiert nach und nach all diese Beziehungen und sorgt so dafür, daß jedes als Emblem verwendete Wort eine immer reichere Aura mit sich führt, in der die historischen und auf Gewaltakten beruhenden Verdrän¬ gungen integriert sind.

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SCHLUSS: SEHNSUCHT NACH DEM AUGENBLICK DES SÜNDENFALLS "Das Signum ist eine Entwicklung des Bildes zum Abstraktum Kann sein! Zu den Bildern Klees: Übergang von der Metapher, dem Bild, zum Signum in der Spätzeit." (IV,370) "Es gibt ein Bild von Klee, das”1 2 "Vorhaben" (Abb.ll) heißt. Klee hat es im Jahre 1938 gemalt, und der Titel ist insofern paradox, als "Klee seine Titel erst nachträglich hinzuzufiigen pflegte und sich dabei durch das Bild oder Blatt inspirieren ließ. 'Die Unterschriften', ermahnt er einmal, 'weisen nur in eine von mir empfundene Richtung. Setzen Sie die Unterschrift nie mit ei¬ nem Vorhaben gleich'.Das "Vorhaben" ist nicht mit einem Vorhaben gleichzusetzen, und doch will ich das Bild zunächst als Ausdruck eines Vor¬ habens betrachten. Das Bild ist zweigeteilt: In das linke Drittel mit einem dunklen, ocker¬ farbenen Grundton hat Klee in einer für sein Spätwerk typischen Manier mit schwarzen Linien Figuren eingetragen, die von einer hellen, sandfarbenen Aura umgeben werden: eine Pflanze, ein Tier, einen Menschen mit schwar¬ zen Augenhöhlen und einem durch einen waagrechten Strich angedeuteten Mund, mehrere fahnenähnliche Figuren und ein paar abstrakte, schwer ent¬ zifferbare Zeichen. Die rechte Seite des Bildes ist hellrot, und auch in diesen Farbgrund hat Klee schwarze Linien mit einer hellgelben Aura eingeschrieben, die aller¬ dings unfigürlich sind. Auf der Trennungslinie zwischen dunkler und heller Fläche erkennen wir ei¬ ne menschliche Gestalt, die sich in die helle Fläche bewegt und dieser zugehört. Erkennbar sind nur eine Hälfte des Gesichts, aus der übergroß ein blaues Auge blickt, die Arme und Beine und eine Brust. Die Bewegung des Bildes verläuft, angedeutet durch die Stellung der Beine, wie die der alphabetischen Schrift von links nach rechts. Es liegt also nahe, auf das Bild den Zeitstrahl der Diachronie zu projizieren, und man könnte dann die linke, dunkle Seite des Bildes als Vergangenheit, die rechte, helle Hälfte als Zukunft deuten. Auf der Mittelachse, der Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, bewegt sich ein Mensch in Richtung Zukunft. Sein allein sichtbares Auge ist nicht gerichtet. Man kann nicht entscheiden, ob es in die Vergangenheit, die Zukunft oder gar aus der Zeit blickt. Wo¬ möglich symbolisiert es die letzte Variante: "Augenblick, nicht Zeit". (M,84) Bezieht man das Bild und dessen Titel auf die Werkentwicklung Klees, 1

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Benjamin 1980, GS 1.2, a.a.O., S.697; dort ist im Anschluß von Klees Angelus novus die Rede; ohne dies hier auszuführen, beziehen sich meine anschlie¬ ßenden Erörterungen auch auf Benjamins Thesen zur Geschichte. Schmalenbach, Werner, Paul Klee. Die Düsseldorfer Sammlung, München 1986, S.39

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entsprechen sie der prägnanten, oben zitierten Notiz Eichs. Spätestens ab Mitte der 30er Jahre reduziert Klee die bildlichen, figürlichen Anteile in seinen Arbeiten auf ein Minimum und fügt statt dessen graphische Ele¬ mente ein, bei denen man versucht ist, "sie als Teile einer uralten hiera¬ tischen Schrift zu sehen, die niemand mehr zu entziffern vermag."3 Die menschliche Gestalt schreitet mit erhobenen Armen, gleichsam ein¬ greifend, in eine Welt, die sich als chaotisch, fragmentiert und sinnfrei, aber taghell präsentiert. Dabei scheint es so, daß sich das Körperschema des Menschen erst im Moment der Auseinandersetzung mit der Welt ausbildet. Die Auseinandersetzung geschieht vorrangig über das Auge, welches aus dem sich ihm Darbietenden Formen herausliest, die hinterrücks vom Be¬ wußtsein mit Bedeutung beladen und gespeichert werden. Diese behalten zwar im Gedächtnis eine Aura, doch haben sie gegenüber der vieldeutigen und den menschlichen Sinnen nur unzulänglich wahrnehmbaren Wirklichkeit (vgl. IV,609 u. 613) an Helligheit eingebüßt. Der von mir aus dem Bild herausgelesene Vorgang entspricht der Progression. Das "Vorhaben" könnte darin bestehen, der Progression umgekehrte Be¬ wegung entgegenzustellen und die verfestigten Erinnerungen und Gedächt¬ nisbilder zurücklaufen zu lassen zum Moment der sinnlichen Wahrnehmung. Diese entgegengesetzte Bewegung wurde in der Arbeit mehrfach als Re¬ gression bezeichnet und wird in Träumen vollzogen. Wie beschrieben, be¬ wirkt die Regression eine Verschiebung, Verdichtung und Dezentrierung der erstarrten Bedeutungen. Die Ungerichtetheit des Auges, das wie der Allsehende von Nikolaus von Cues in alle Richtungen zugleich zu blicken scheint, könnte als Allegorie dafür verstanden werden, daß das Sehen so umgestaltet werden soll, daß Vergangenheit und Zukunft, und Progression und Regression in einem Au¬ genblick zusammenfallen. Um sich entsinnen (= erinnern) zu können, ist Ent-Sinnung nötig, durch welche die Sinnsetzungen aufgelockert und frag¬ mentiert werden. Erst im Moment der Besinnungslosigkeit kann eine Neube¬ sinnung einsetzen, in welcher verdrängte Sinnmöglichkeiten aufscheinen. In der Besinnungslosigkeit verliert sich das Subjekt, der im Spiegelstadium angelegte "orthopädische Panzer" (Lacan) löst sich auf, das Körperschema zerfällt. Klees Bild "Angstausbruch III" (Abb. 12) vermittelt eine Vorstellung von diesem Zerfall. Wie im Kapitel über Eichs Alphabetismus gezeigt wurde, ist die Angst am stärksten konzentriert im Augenblick des qualitativen Sprungs des Menschen vom nur seelisch bestimmten Wesen zum geistig bestimmten Wesen, d.h. im Augenblick des sogenannten Sündenfalls. Klees "Vorhaben" interpretiere ich ähnlich wie Eichs Alphabetismus, nämlich als den Versuch, sich vom Bewußtsein aus an den Augenblick des Sündenfalls heranzutasten, an den Augenblick, in welchem das Auge aufgetan ist und 3

Schmalenbach 1986, a.a.O., S.100

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bereits Zeichen erblickt, die aber noch frei sind von Sinnsetzungen. "Die Wassersäule auf jedem Augenblick. Das Gelebte und das Ungelebte, dessen Summe es ist. Den Augenblick aufrechterhalten. Anhand des in Hofmannsthals Brief des Lord Chandos geschilderten Zer¬ falls der Sinnsetzungen will ich versuchen, den Augenblick genauer zu be¬ stimmen. Die Ent-Sinnung wird von Chandos beschrieben wie der Verlauf einer Krankheit. Es sei ihm "völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.Der Verlust des Zusammenhangs habe begonnen bei Worten wie "Geist", "Seele" oder "Körper”, Worte, die für die Bildung jedweden Urteils erforderlich seien und die plötzlich in seinem Munde "eine schillernde Färbung angenommen" hät¬ ten, "ineinander über (ge) flössen" seien, um schließlich im "Munde (zu zer¬ fallen) wie modrige Pilze”.^ Auf der nächsten Stufe der 'Krankheit' habe sein Geist ihn gezwungen, "alle Dinge, die in einem (..) Gespräch vorkamen, in einer unheimli¬ chen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwin¬ delt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt

Wie schon auf der ersten Stufe wird auch hier der Zerfall mit Metaphern charakterisiert, die auf eine totale Umstrukturierung des Sehens schließen lassen. Alles rückt unheimlich nah heran, löst sich in immer kleinere Teile auf, die Worte schwimmen um ihn herum wie die Monaden in dem von mir angeführten Leibniz-Zitat,® so als befände sich Chandos "unter Wasser"^ und verwandelten sich in Augen, die in der Aug-in-Aug-Situation mit Chandos gerade nicht mehr als das Selbst reflektierende Spiegel funktionieren, son¬ dern das Aussehen von Schneekugeln annehmen, in welchen die Flocken wirbeln.4 5 6 7 8 9 10 Der Wirbel in den Worten deutet an, daß die 'Krankheit' Chando 4 5

Aichinger, Ilse, Kleist, Moos, Fasane, Frankfurt a.M. 1987, S.59 u. 63 Hofmannsthal, Hugo von. Ein Brief, in: ders., Das erzählerische Werk, Frankfurt a.M. 1969 (1902), S.106 6 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.106 7 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.107; Hervorhebung durch mich, S.M. 8 vgl. S.213 9 vgl. Eichs Marionettenspiel »Unter Wasser« und die Unter-Wasser-Bilder Klees wie z.B. »Fischzauber« 10 vgl. S.93

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bereits ganz dicht an einen besinnungslosen Zustand herangeführt hat, den er selbst die "Leere" nennt.11 Chandos sucht nach einem Antidot gegen die schillernden und wirbelnden Worte und wendet sich den Werken Senecas und Ciceros zu: "An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen, wie sie miteinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun, und das Tiefste, das Per¬ sönliche meines Denkens, blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumut wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie. Die augenlosen Begriffe vermögen keine Besinnung herbeizuführen und bewirken eine Resignation, die Chandos ins Freie, das ist: aus der Sprache flüchten läßt. Im Moment der Sinn- und Sprachlosigkeit werden Chandos' Augen anfällig für Augenblicke, das heißt, im An-Blick irgendwelcher alltäg¬ lichen Dinge wird er plötzlich "mit einer solchen Gegenwart des Unendli¬ chen duchschauert, (...), daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände, (sic!) ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen (...)."1^ Der Austritt aus der Sprache und das Erfaßtwerden durch den Augenblick münden bei Chandos in die Empfindung einer absolut harmonischen Welt, des Paradieses auf Erden, mit welchem er sich einverstanden zeigt. Außer¬ dem glaubt er, in jede ihn umgebende Materie "hinüberfließen" zu können. Nur seine “gute und strenge Erziehung, (...), und die frühzeitige Gewöh¬ nung, keine Stunde des Tages unausgefüllt zu lassen", verhindern, daß er in totale Lethargie verfällt und einen langsamen Verfall seines Körpers erleidet wie Richards aus Eichs Hörspiel "Das Jahr Lazertis", der ebenfalls einen sprachlosen Augenblick durchlebt hatte. Als Symbol der sprachlosen Augenblicke fällt Chandos eine Geschichte über Crassus und dessen Liebe zu einer Muräne ein, und Chandos erkennt darin ein "Spiegelbild seines Selbst". Wenn er nachts über dieses Spiegelbild me¬ ditiert, ist es ihm, "als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkel¬ te. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. 11 Mit dem Schwindel, den Chandos beim Hinabblicken in die Wortwirbel be¬ fällt, assoziiere ich Kierkegaards Beschreibung des Augenblicks, der dem Sündenfall vorausgeht; vgl. S.180 f.; die Leere könnte gerade das sein, was im Zen-Buddhismus angestrebt und im Satori erreicht wird; vgl. hierzu z.B. Barthes' Darstellung der Wirkungsweise von Haikus in: Barthes, Roland, Im Reich der Zeichen, Frankfurt a.M. 19875 (1970), S.94 ff., insbes. S.108 f. 12 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.107 f.; Hervorhebung durch mich, S.M. 13 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.110 348

Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens. Am Ende des Briefes bekennt Chandos, daß er wohl nie mehr schreiben werde, weil die einzige Sprache, in der er vielleicht schreiben und denken könne, jene sei, "von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde."*® Aus dieser Sprache zu übersetzen, hatte Eich in der Rede von 1956 als Ziel seines Schreibens bestimmt und als Chiffre für diese Sprache den Flug der Vögel gewählt.*® Eich erkannte allerdings sehr bald, daß die von Chandos in den sprachlosen Augenblicken erlebte Harmonie und die in den "tiefsten Schoß des Friedens" mündenden Wirbel vor allem einen Verlust des im qualitativen Sprung des Sündenfalls erstmals gewonnenen Bewußtseins von der Macht bedeuten und daß die Übersetzung aus der Sprache der Dinge ein Einverständnis mit den Dingen der Schöpfung erzeugt. Eichs Aufkündigung des Einverständnisses mit der Schöpfung schließt den Verzicht auf die Rückkehr in das vermeintliche Paradies und die vermeintli¬ che Unschuld mit ein. Abgelehnt wird somit nicht nur die im Chandos-Brief angedeutete Sehnsucht nach der Sprache der Dinge (Ursprache/Namensspra¬ che), sondern auch der Grundgedanke von Kleists "Marionettentheater". Mit diesem Text setzt sich Eich vermutlich im "Maulwurf" "Notizblatt eines Tänzers" (M,59) auseinander. Einige Andeutungen sollen in dieser Schlußbe¬ trachtung genügen. In Kleists Schrift "Über das Marionettentheater"*^ erläutert ein Tänzer die Möglichkeiten, wie der Mensch die Grazie wiedererlangen könne, der er mit Erhalt des Bewußtseins (Sündenfall) verlustig gegangen sei. Weiter führt der Tänzer aus, daß sich der Umfang der Grazie umgekehrt proportional zum Ausmaß der Reflexion verhalte, für die im Text auch die Spiegelmetapher steht:*® je mehr Reflexion, desto weniger Grazie. Grazie könne also eigent¬ lich nur ein bewußtloses Wesen besitzen - weswegen der Tänzer sich für den "mechanischen Gliedermann" (= Marionette) interessiert - oder ein Gott (= absolutes Bewußtsein); "und hier sei der Punkt, wo die beiden Punkte der ringförmigen Welt in einander griffen (sic!)."*^ Um das Zustandekommen 14 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.112 15 Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.113 16 zum Vogelflug vgl. auch Hofmannsthals Erzählung »Die Wege und die Be¬ gegnungen«, in: Hofmannsthal 1969, a.a.O., S.114 ff., insbes. den Anfang 17 vgl. Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke und Briefe Zweiter Band, hrsg. v. Helmut Sembner, Frankfurt a.M., Wien, Zürich 1965, S.338-346 18 vgl. die Geschichte vom jungen Mann, der seine Anmut verliert, weil er eine zufällig im Spiegel erhaschte Geste (Blick) vor dem Spiegel zu wiederholen trachtet und sich dabei zunehmend >verkrampft*

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Y> . :< «r-?W'? Sehen) Kratzen: (111) Kreideschrift: 96 Kreis: 13, 60, 111 kreisen: 59 Kreuz: 18 kreuzen: 98 Kreuzfahrt: 73 Kreuzotterzischen: 103 Kreuzung: 86 Krieg: 30 kriegen: 48 Kriegerverein: 30 Kriminaleinschlag: 88 KriminalfaJl: 78 Kritzelei: 111 Krug: 3S, 126 Krüllschnitt: 46 krumm: 111 krümmen: 111 Küche: 24 S4 Küchenbank: 74 Küchentisch: 42 KUchentopf: 89 94

Bgf1:

kühl: kühn: Kulisse: Kümmelbrot: KUmmelkom: KUmmelqualität: Kummer: Kümmernis: kummervoll: Kunde: Kundfahrt: Kundig-: kündigen: Kunst: Kunstprinzip: Kunststoff: Kupfermünze: Kupferpreis: Kurgast: Kurmittel: Kurs: kurz/kürzer:

102 36, 46, 74 78 76 70 70 30

83 11 50 (38) 59 (vgl. Rundfahrt) 68 87, 117 68, 114 95 100 (vgl. 'synthetisch' 89) 17 17 36 36 117, (130; Titel) 16, 36, 38, 60, 63, 70, 85, 98 f., 101, 112, 116, 118 26 100 106 12

Kürzel: kürzen: Kurzschluß: kurzum: Kuß: Kutsche: Kybernetik: Kymrisch:

102 116 (vgl. BüPrRe: N. Wiener) 125

labial: lächeln: lachen: Lack: Laden: Ladenschild: Lage: Lanm-:

106 34 29, 40, 65, 129 104, 127 58, 70, 102, 104, 126 S8 28, 38 69 (Aufzählung der Benachtei¬

58

ligten: vgl. BüPrRe), 123 Laken: 37 Lama: 112 Lampe: 20 Land: 38, 43, 103, 125, 126 Landausflug: 41 (Titel) landen: 59 Länderei: 69 Landeskunde: 38 Landgast: 88 ländlich: 102 (Titel) Landstrich: 91 Landwirt: 88 Landwirtschaft: 138 landwirtschaftlich: 45 -lang-: 20. 29, 48, 60, 61, 70, 74 (Ti¬ tel), 80, 82, 87, 89, 98 f„ 101 (Redewdg.), 103, 114, 117, 120, 122, 123 länger: 74 langjährig: 116 langsam: 51 längst: 37, 66 f. langweilen: 43 langweilig: 43 lassen: 19, 21, 28. 29, 32, 35, 40, (42), 43, 44, 48, (56), 58, 63, 64, 68 f., 76, (88), 90, 92, 95 , 98, 103, 104, 106, 114, 118, (120), 123, 124, 126, 129, 130 Laster: 74 (Titel) lästig: 106 Latein: 78 lateinisch: 78, 106 Lateinschule: 132 Latschennadelspitzen: 82 laufen: (87), (132), 137 läufig: 51, 83 (Titel), (89), (127) launisch: 127 laut: 24, 95 läuten: 41, 92, 93 lauter: 17, 29, 48 Lawine: 93 Laxativum: 124 leben: 10, 23, 29, 32, 34, (37), 40, (41), 65, 76, 8Ö, 84, 94, 95, 96, 118 Leben: 10, 12, 19, 28, 37, 43, 46, 50, 56, 60, 73, 83 (ewiges -), 89, 95, 96, 100, 114 116 ('Zumu¬ tung des -', vgl. E.M. Cioran, "Vom Nachteil, geboren zu sein"), 130, 132 lebend (—ig): 34, 82 lebendgebärend: 82 Lebensaufgabe: 111 lebensfroh: 78 lebensgroß: 19 Lebensrezept: 100 lebenswichtig: 106 Leber: 31 Leberschaden: 118 (vgl. 'gelb' 60) ledig: (135) leer: 35, 42, 73, 116, 118 Leerung: 80 legal: 26 legen: 34, 35, 37, 43, 57, (63), 74, (76), (90), (100), 105, 108, 131 Lehnsessel: 44 lehrbar: 59 385

Lehrbuch: Lehre: Lehrerin: Leib: leicht:

Leid: leiden: Leidenschaft: leider: leidtun: Leidwesen: Leihgabe: Leinencouvert: leise: Leistung: leiten: Leiter: Leitfossil: Leitgeruch: Leitmotiv: Leitung: Lektüre: lenken: Lenz: lernen: lesen: letzt-: leuchten: Leuchter: Leuchtfeuer: Leuchtspur: leugnen: Leute: Lexikon: libanesisch: Licht: Lichtmeß: Lichtung: lieb-: Lieb-: lieben: lieber: Liebesbeweis: Liebesverhältnis: Liebhaber-: liebste: Lied-: liefern: liegen:

8 62

Linienführung: liniert: link-:

114 (8), (13). 14, (16). (17), (18) (20 f.). $6, 31, (37). (46), (50), 52, (5Ö), (59), (63), (64), 66, (77), 80, 82. (85), (87), (88) (92)| (9Ö), flOl), (114 /.), 117, 118, 125, (138) 95 61, 95

Lippe: Lippisch-: Liste: litauisch: Literatur: lobpreisen: Loch:

136

86

Lochkarte: Locke: locken: locker: lockern: Löffel: Loge: logisch: Lohn: lohnen: Lokomotive: Lorbeere: -los-:

52, 82, 108, 118 7, 24 130

50 30 11, 30

120 130 133 132 127 93 (88), 89 17. 79

8Ö 86 8, 23, 7S, 114, 116, 127 14 (eine Sinfonie -), 15, 17, 22, 28, 34, 60, 6S, 78, 80, 83, 10^, 110, 116 16, 20, 41, 104, 108, 124, 126,127 80 60 130 (vgl. Notizen 1V.369 f.) 46 118 96

45 96 29, 45, 62, 83, 96, 111

55 39 (dunkel: Paradox), 66, 90 16, 34, 98, 103, 130 10, 12, 19, 36 (vgl. 117), 41, 65, 90, 117, 132 10, 65 42, 52, 86, 88, 91, 93

8 f.

113 (vgl. 16) 17 (vgl. Syntax 102: Melker¬ lieder- und liederinnen) 66 (Winteranfang = liebste Zelt) 34g) 69, 83, 87, 102, 114 14 18 20 28 , 32 f„ 35, 43, 45, 89’

liegenbleiben: Liegewagen: Liftgirl: lila: Limonade: Lindenblütentee: Lineal: Linie: 386

93 39 SO

13 20 88 56 36, 80, 111

»*:

lösbar: Löschblatt: Löscheimer: löschen: Löschpapier: lösen: Lostag: Lösung: loswerden: Löwe: LSD. Lücke: Luft: luftballongleich: Luftröhre: Luftstraße: Lüge:

80 30 16, 23 (der 'linke' Schuster ist Anhänger der gelenkten Spra¬ che), 66,120, 131 ("links außen") 98, 120 89 69, 119 31 18, 24, 84, 95 44 91, 112 (-» Perspektive), 135 (^Zeit) 112 (-» perspekt. "Schrift”) 95 (43) 28 48 136 42 (136; perspekt. Sehen) 87 54, 85, 89, 90, 96, 118

21 116 (Redewendung) 8, 13, 20, 29, 31, 35, 37, 40, 48, &1. 65, 82, 103, 111, 112, dl/’), li8, li9, 123, 128, 134 127

65 28 62, 63

65 8S 77 124 31, 48, 68 41 65

80 16, 41, 42, 46

22 37 67

70 (Sprichwort; vgl. Adorno, Minima Moralia: Pseudomenos) Lumpenhändler: 123 Lust: 76 (Titel), 80, 100 lustig: 83 M machen:

7, 8, 16, 17, 18 (in Verbindung rnlt Arzt vgl. auch 29 und 100), 22, 23, 24 f„ 29, 31, 32, 37, 38, 43, 48, 51, 54, 59, 60, 61 62 63, 65, 68, 70, 74, 76, 7A 83, 94, 96, 1Ö0, 104, 107, 118 f., 124, 138 68 f., 108

Macht: Machtblöcke: 100 mächtig-: 69 u, (neg.), 95 Machtverhältnisse: 68 madam: 76 Mädchenhaar: 26 Mädchenhaut: 26 Magd: 88 mager: 26 Mahlzeit: 10

96 f. (Titel) 104 11, 20 f„ 90, 118, 126, 130 18 24 7, 11, 12, 14, 15, 18, 19, 20 , 26, 28, 31, 34, 3S, 36, 37, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 48, SO, 51, 52, 54, 56, S7, 60x 6L 62, 63, 64, 68 f., >3, 74 /., 76, 7'Stones'), 112 Steiß: 84 (statt Schweiß; Redewdg.) Stelle: 59, 73, 120 stellen: 7, 28, 44, (66), (78), (86), (87), (101), 104, (106), (114), (119) Stellung: (88) Stelzvogel: 50 Stempel: 20 stenographisch: 26 S/sterben: 7, 14, 60, 9S, 97, 104, 117, 127 Stern: 43, 111 (Titel), (115) sternbestickt: 54 Stembewohner: 12 Stemzeichner: 111 (Titel; vgl. Notiz IV.370) stets: 96 Steuer: 88, 114 Steuereinnahme: 108 Stewardess: 8, 73 Stichwörter: 98 (Alphabetismus; vgl. 1,136) Stiefel: 17, 138 Stift: Ul, 130 still: 35 Stille: 46 Stilprinzip: 24 Stimme: 26, 32, 54, 74, 88 Stimmung: (120), (135) Stirn: 60 ^toc^: ^8, 60 (vgl. 56er Rede: Stock . , = Definition) stocken: 92 Stockfleck: 86 stockfleckig: 86 Sto^: 83 (-» Textur), 110

Stoffwechsel: 100 (Stoff^Baumwolle) stolpern: 137 (Titel) stolz: 38, 48 stopfen: 2S Stoppel: 104 stören-: 10, 45, 69, 104, 112 Störung: (64) Stoß: 89 stoßen: 104, 129 Stottemeigung: 12 Strafanstalt: 13 strafbar: 34 Strafgesetz: 28 Strahl: 66 Strahlofen: 120 Strähne: 8 Strand: 108 Straße: 11. IS, 17, 32, 36, 66 {., 78 Straßenbahn 80 Strauch: 17 (und "Bäume") streben: 64 Strecke: 108 strecken: 8, 70 Streich: (45) streichen: IS, 111 streifen: 120 96. 109 Streifen: streng: (6Ö), (8S), (90), 112, (130) streuen: 23 Strich: (91), 111 Strick: 69 stricken: 19 striegeln: 8 strikmg: 76 Strohhut: 31 Strom: 46 Strömung: 46, 52 Stromversorgung: 45 Strophe: 69 strugisch: 84 (Intertext.) 101 Strukturalist: Strumpf: 19 Strumpffabrik: 103 26, 119, (127; Titel) Stück: Studentin: 8 (Titel) Stufe: 38 Stuhl: 24, 129 11 (vgl. Mbzl). 12 , 36, 42 , 74, stumm: 127 (vgl. Mbzl) Stumpfsinn: 69, 103 Stunde: 8, 24, 36, 37, 80, 103, 132 stündlich: SO Sturz: 132 stürzen: 12, 82 sublimieren: 98 subskribieren: 66 Subtropen: 17 Subvention: 100 suchen: (8), 19. (22), (23), (24), (30), 32, (3S), (41), 46l 49, 53, (64), 6S, (66), (73b, 89, 96 f„ (98), 101, 106 {., (108), (111h (114), 123, 128 Sünde: 22 (titel; vgl. 111,460: "Unsere Sünden sind Maulwürfe."), 47,

(U), m),

120 SUndenkatalog: Summe: S/summen:

120 83 87, 127

Suppe: Suppenschüssel: süß: SUßwaren: Sütterlin: Symmetrie: Synagoge: synoptisch: synthetisch:

Tabelle: Tablette: tabula rasa: ta dip: Tag:

92 14 S3, 87, 123

S8 83 51 (Titel; neg.) 132 123 87

80, 99 42, 51 116 (vgl.'fabula rasa'u. fehler) 85 (Titel) 12, 17, 19, 35 , 40. 44, (Titel), 57, 6S, 66, 70, 86, 104, 108, 110, 111,

'Druck¬ 48 , 50 73, 76, 112, 116,

tagelang: 120 Tageszeiten: 82 täglich: 8, 22, 50, 100 Taille: 93 Tai: 36, 103 Talent: 85 Talsohle: 103 Talsperre: 104 (Titel) Tanz: 59 Tänzer: 59 (Titel) Tanzmusik: 28 Tapete: 103 Tarif: 104 Tarock: 63 Tasche: 60 Taschenlöschgerät: 63 Taschentuch: (70) Tasse: 16, 96 tasten: 37, 39 Tat: 123 (vgl. Ende des Absatzes: Untätigkeit) tätig: 35 Tatsache: 16, 125 tatsächlich: 16 T/taub-: 60, 69 Taube: 20 taubstumm: 12,74 (vgl. Mbzl), 127 (vgl. Mbzl) Taufe: (52) tauchen: 60, 88 tauschen: 30 tausend: 103 Tausendundeine Nacht: 48 (vgl. 51) tausendundzweite: S1 (- Nacht) Taxi: 124 tea: 76 Teamwork: 100 Technik: 8, 124 technisch: 83 Tee: 88 Teil: 14, 32, 34, 35, 68, (89), 96 teilen: 103, (136) teilnehmen: 41 teilweise: 86 Telefon: 46 (vgl. 89), 96 telefonieren: 78 telefonisch: 89 (Titel) Telegramm: 110 Telexanschluß: 46 397

14, 92, 124 116 91 63 8 117 24 89 53, 87, 104 76 10, 48 12 82, 96 f., 98 123 81 (90) 112 f. (Titel des "Maulwurfs’ und der Sammlung) 8, 112 T/tibetlsch: 14, 66, 131 tief: 108 tiefbefriedigt: 112 (Intertext.) Tiefe: 10, 16, 22, 36, 88, 102 Tier: 22 Tierbiologie: Tiertheologie: 22 Tirolisch: 63 (Titel) 42, 80, 116 Tisch: Tischler: 34 theologisch: 22 Tochter: 8, 47, 79 Tochtersohn: 8 (Titel) Tod: 43. 46, 95, 132 Toilette: 134 Tombola: 117 (-> tombeau la) Ton: 69 tönend: 66 (beachte 'Hit' am Zeilenende) tönern 98 Tonkrug: 35, 126 Tonlage: 30 Topf: (89) Topographie, topographisch: 74 f. Tor: löO tot: 69, 127 töten: 41 (neg.) Töter: 93 Tourist: 37 Touristik: 46 trächtig: (120) tragbar: 31 tragen7, 16, 63, 68, 73, 77 (Tod), 86, 100, 102, 110, 11i, (118) Träger (122) Träne: 19, 126 transfereieren: 108 trappeln: 7S trauen (44), 74 Trauer 34 Traum 29, 39, 44, 51, 88 träumen: 56 träumend: 27 traurig 43, 50 treffen 16, 46, 118 treiben 24, 31, 79, (8S), 110, 112 Treppe 12, 28, 65, 66 treten: 65, (76), (86), 92, 95, 120 Triasformation: 66 i. Trick: 48, 59 Trilogie: 89 T/trinken: 38, 41, 48, S4, S8, 73, 78, 112 Teller: Tellereisen: Teppich: Terrasse: Testament: teuer: Teufel teutoburgisch: Text: that’s: Theater: Theke: Thema Theorie: therapeutisch: These: Tibeter:

398

29, 111 Trinker: 103 (Berg) Tristkopf: 32 Triumph: 120 trocken: 15 trödeln: 37 Trommel: 17 Tropen: Tropeninstitut: 95 tropfen: 60_ Tropfen: 19, 30, 118, 120 Trost: 50 tröstbar: 50 trösten: 62 Trotz: 19 trotzdem: 66 Trouvaille: 83 trüb: 54. 96 Trübung: 136 trügen: 20 Trumpf: 29 Truppenübungsplatz: 60 (vgl. das Gedicht 1,22; beachte dort "Wacholder") Truthahn: 88 Tuch: 39 ("grünes vgl. 61) Tulpe: 78, 9$ tun: 12, 24, 28, 37, 48, 52, 57, 61, 70, 76, 90, 94, 104, 106, 111 (Sprichwort), 120, 130, 134 Tunnel: 60 Tür: 17, 24, 32 f., 34, 37, 38, 48, 54, 56, 61 (vgl. 54: Erinnerung Inner), 65, 90, 92 Turban: 126 Turm: 130 tuscheln: 24 Typ: 52 U

U-Bahn: üben: über:

120 59, 111 10, 21, 22. 23, 24, 30, 35, 40, 42, 43, 44, 48, 59, 62, 64 (Titel), 65, 68, 73, 75, 83, 86, 87, 95 , 98 ('nichts wissen über' vs. 'Unterbewußtes'), 106, „ Ul, 122, 127, 130 (Titel), 136 überall: 30. 39, 42, 56, 59, 61, 89, 104 überanstrengen: 130 Überblick; 48 überdauernd: 46 übereinander: 9 Ubereinanderkopiert: 132 (vgl.'Mischung', ’zitieren') Übergang: 84 Übergangsmantel: 86 (Titel) ubergehen: 59 übergeordnet: 120 übergroß: -126 überhaupt: 37^ 86, 90, 118, 127 überlassen: überleben: 95 überlegen: 63, 76, 105 Überliefern: fST''“""'-*“. 31, 68 Ubermorgenland: 51 übernehmen: 28, 34, 102, 128, 130 Überrascht: 17, 100 Überraschung: 26, 43, 74, 95 uberqueren: 108

überschätzen: 104, 132 Überschrift: SO Uberschuß: 90 überschwemmt: 17 übersehen: 90 übersetzen: 12 (sich -), 117 (vgl. Reden) überstehen: 90 Übertretung: 120 überwältigen: 70 überweisen: 109 Überweisung: 29 überzeugen: 57, 68 Überzeugungskraft: 15 üble: 138 üblich: 92 übrigbehalten: 102 übrigbleiben: 106, 111 Übrigens: 16, 64, 68, 78, 114 Übung: 116, 118 Uhr: 40, 50, 80, 85, 108, 138 Uhrmacher: 32 umbinden: 41 umbrella: 76 umgearbeitet: 28 Umgebung: 18 umgehen: 10, 124 umgekehrt: 11Ö umkehren: 107 umrühren: 12 (vgl. quirlen) umsäumt: 90 umschreiben: 10 umschwärmt: 95 umsonst: 24, 32, 120 umspannen: 42 umsteigen: 23, 59, 80 umstellen: 28 Umstellung: 87 umziehen: 106 Umzug: 24 unabwendbar: 115 unappetitlich: 24 unauffällig: 35 unauffindbar: 85 unbeachtet: 46 unbedingt: 66 unbefangen: 48 U/unbekannt; 19, 86 36 unbesorgt: unbetreten: 59 und: 8 f., 10, 11, 12, 14, 15 (Titel), 16, 17, 19, 20 f., 22 , 23, 24,

undefinierbar: undsofort: undurchsichtig: unempfindlich: unendlich: unerheblich:

2^ {., 28, 29, 30, 31, 32 , 34, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46 f., 48 f., SO, 51, 52, 54, 56 (Titel), 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68 f„ 70, 73, 74 f., 76, 78, 80 f.. 82, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 90 f„ 92, 93, 94 , 95, 98 f., 100 {., 102, 103, 104 f., 106 f., 108 f., 110, 111, 112 f., 114, 116, 117, 118 f„ 120 f., 122, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 132, 134, 138 10 41 17 67 56 117

unerreichbar: Unfug: ungarisch: ungedacht: ungenau: ungenügend: Ungerechtigkeit: ungereimt: ungern: ungeschoren: ungeschrieben: ungewiß: ungewöhnlich: ungünstig: Uniform: Universität: Unke: unkenntlich: unklar: unmoralisch: Unnütz-: unordentlich: Unordnung: unrentabel: Unruhe: unruhig: unsinnlgerwelse: unten: unter:

12 103 70 44 18 89, 124 78 61, 84, 87

88 120 (vgl. 112: 'geschoren') 54 (Briefe) 95 92 67 (50) 95, 106

93 54 119 ('- Etymologien') 87 74 (vgl. 11,384) 103 34

102 16 138 106 73, 89, 110 8, 10, 17, 26, 28, 29, 31, 36, 46, S7, 58, 64, 66, 74, 104, 111,

120, 12*>

Unterbewußtes: 98 unterbringen: 112 Unterführung: 34 Untergang: 24, 40, 90 untergegangen: 46 10, 128 Unterhaltung: Unterricht: 74 unterrichtsfrei: 45 unterscheiden: Unterschied: 18, 19, 38 unterschlagen: 74 Unterschrift: 52, 65 46 unterseeisch: unterstellen: 104 untertauchen: 60 40 unterteilt: unterwandern: 35 Unterwasserjagd 44 unterwegs: 36, 52, 106, 108, 128 50 untröstbar: ununterbrochen: 108 unverbindlich: 104 unvergleichlich: 40 unverkauft: 41 unvermeidlich: 114 unvollendet: 14 unwiderleglich: 89 Unwille: 61 unwissend: 68 unwürdig: 41, 53 unzufrieden: 62 114 unzuständig: 51 uralt: 28, 104 Urlaub: 104 Urlaubstag: 35 44 Utopie: 78 (- als Patenstadt) Uz:

399

Vampir:

58

vXStC: “°20. 2., 30. 40. .13, .29 väterlicherseits: 100 Verabredung: 92 Verachtung: 41 veraltet* 23 verändern: 18, 29, 85 (Welt -), 118 Veränderung: 73 verängstigt: 24 verarbeiten: 61, 86, 90 verbeißen: 10 verbergen: S7, 58, (63), 66, 103 (->Berg) verbilligt: 104 verbinden: 20 verbindlich: 104 (neg.) Verbindung: IS, 32 (Neg.), 51, 112, 123 verborgen: 63, 98, 103 (vgl. Versteck) Verborgenheit: 57 verbrauchen: 42 (reflexiv) verbreiten: 125 Verbrennung: 63 verbringen: 27, 96, 112 Verdacht: 20, 88 verdächtig: 70, 76, 86, 90, 98, 106 verdampfen: 82 verdanken: 45 verdeckt: 95 verdienen: 83, 90 verdorren: 14 verdrießen/verdrossen: 20, 58, 116 verdüstern: 44 verehrt: 35 Verein: 30 vereinen: 100 vereinigen: 90, 96 Vererbungslehre: 8 Verfahren: 48 verfallen: 56, 66 verfassen: 57 Verfasser: 120 ('Gott') verfolgen: 24 verfluchen: S7, 58 Vergangenheit: 10, 127 Vergänglichkeit: 26 vergebens: 8, 41, S3 vergeblich: 64 (Titel), 6S vergehen: 87, 89 vergessen: 20, 68, 76, 79, 85, 94, 120, 127 Vergiftung: 89 vergleichen: 35 verhaften: 28 Verhaftung: 28 Verhältnis: 68, 113 verhältnismäßig: 20, 89, 116 verhaßt: 107 verholzen: 87 Verholzung: 64 Verhör: 42 verirren: 132 verjährt: 78 verkappt: 58 Verkauf: 58 verkaufen: 39, 61, 83, 123 Verkäufer: 41, 126 Verkehr: 35, 112 verkehren: 32

400

Verkehrsamt: 133 Verkehrsbedenken: 31 Verkehrsknoten: 80 (Titel) Verkehrsreich: 86 Verkehrsverhältnisse: 46 verkrümmen: 111 verlangen: 18, 45 verlängere 70, 80, 93 V 1 n* verlassen: verlegen: Verlegenheit: Verleihung: verleiten: verlieben: Verliebt-: verlieren: verloren: verlosen: vermehren: vermeidlich: vermiesen: vermieten: vermindert: vermissen: Vermittlung: vermuten: vermutlich: Vermutung: vernichten: Vernunft: vernünftig-: verordnen: verpackt: Verpfichtung: verräterisch: verregnen/-net: verrostet: Vers: versammeln: Versammlung: verschieben: V/verschieden: Verschlag: , , verschließen: verschlingen: verschlungen: Verschluß: Verschlußlaut: verschollen: verschonen: verschreiben: verschweigen: verschwenden: verschwinden: Verschwörung: Versehen: versehentlich: versinken: versorgen: Versorgung: verspätet: Verspätung: versprechen: Versprechung: verständlich: verstärken: Versteck:

28 10, 35, 42, 88, 90, 120 19, 74 48 68 130 10 11 „ 43, 46, 57, 64, 68, 84, 111 12, 35 11/ 96, 112 114 (neg.) 104 102 34 110 107 66 16, 115 56, 83, 120 69 1Ö0 58, 100 136 34 38 63 42, 96 35 97 (vgl. 1,115) 28, 35 37, 42 88, 117 10, 4S, 70, 83, 115 62 (vgl. "Formel 4" 1,137 "Formeln" 1,286) 80 52 /., 93 8 73 106 54, 94 42 89 29, 124 (vgl. 'Silber') S6 74 23 15 45 12 (in Wörtern) 52 (4S) 26, 74, 127 (Titel) 39, 10Ö 65 65 127 43 103 (vgl. "Formeln" 1,137)

vpr^fpclcpn*

17

verstehen: '

8 f., 10 24 50, 61, 74, 80, 116, 125, 12 i, 12§

verstört: verstreichen: verstümmelt: Versuch: versuchen:

32 111 42 32 (Titel), 64 (Titel), 111 8 , 24 , 35, 41, 66, 88 , 98, 108, 114, 128 Versuchung: 22, 64, 96 (neg.) Verszeile: 105 (vgl. 1,123) verteilen: 68, 136 Verteiler: 57 vertrackt: 64 vertragen: 100 vertrauen: 44 vertreiben: 85 vertreten: 40 Verwalter: 44 verwandt: 24, 108 f. Verwandtschaft: 81, 108 (Titel) verwechseln: 18, 118 f., 123 Verwechslung: 78 verweisen: 83 verwenden: 22, 130 verwirren: 82 verwunden: 46 verzehren: 60, 73, 95, 116 ('sich verzehren' in buchstäblicher Bedeutung) verzinsen: 56 Vetter: 108, 134 Vieh: (42) Viehzüchter: 88 viel-: 7, 17, 18, 19, 23, 24, 28, 44, 4S, 46, 52, 54, 56, 63, 64, 66, 68, 74 , 76, 78, 83, 84, 89, 98, 102, 1Ö4, 106 f„ 100, 111, 112 f., 116, 117, 118, 123, 124 vielleicht: 8, 13, 16, 17. 18, 20 f., 37, 46, SO, 58, 59, 63, 64, 66, 82, 8S, 87, 88, 92, 98, 114 f., 118, 138 vier: 12, 40, (73), (127), 130, 138 Viereckig-: 91 vierfach: 96 viermal: 50 viert-: 89 vierundsechzig: 122 viertausendsiebenhundertdreizehn: 17 Viertelstunde: 8, 103 vierundsechzig: 122 vierzehn: 73, 108 vierzehnjährig: 8 vierzehnzeilig: 98 vierzig: 29 vietnamesisch: 96 vin compris: 40 V/violett: 115, 117 Visite: 94 Vitamin: 65 Viviparen: 82 Vogel: 41, SO, 114 Vogelflug: 43, 74, 84 Vogelpaar: 41 Vogelstraße: 66 Vokabel: 76, 99, 111, 126 Vokal: 70 Volapük: 82 Volk: 12, (127) Völkerkunde: 38

26, 28, 44, 74, 87, 90, 92, 96 124 vollkommen: 68 Vollmond: 111 vollständig: 26, 79 vorantreiben: 18 voraus: 123 voraussehen: 84 voraussein: 35, 110 ('eine Wirklichkeit -') voraussetzen: 116 vorbei: 27, 80 vorbeifahren: 44 Vorbeigehen: 22 vorbeischauen: 68 vorbeisehen: 50 Vorbesitzerin: 83 Vorbeugen: 118 Vordergrund: 132 VorderFeib: 24 Vordermann: 28 voreilig: 22, 123 Voreinsendung: 26 Vorgänger: 3S Vorgehen: 76 vorgestern: 16, 132 Vorhaben: 93 Vorhalten: 78, 80 Vorhandensein: 37 vorher: 32, 126 vorhergehend: 108 vorjährig: 82 Vorkommen: 51, 88, 100, 118 Vorläufer: 82 vorläufig: 89, 127 vorliegen: 45 Vormarsch: 35 vormittags: 108 Vormittagsrausch: 93 vom: 17 Vorname: 22 Vorort: 106 vorrätig: 81 vorsehen: 53, 73 vorsorglich: 28 Vorsatzpapier: 83 Vorsteher: 39, 134 vorstellen: 16, 86, 87, 112, 114 Vorstellung: 88 Vorteil: 46 Vortrag: 13 vorübergehen: 50 vorwärts: 99 vorweisen: 19 vorwerfen: 112 Vorwurf: 23 vorzeigen: 19 vorziehen: 84, 96 Vorzimmer: 112 Vorzug: 98 Voyageur: 17 (im Entwurf Voyeur) Vulkanausbruch: 18 (vgl. "Die Stunde des Huf¬ lattichs") voll:

W wach-: Wacholder:

29, 36. (74), 114, 126 60 (vgl. "Truppenübungsplatz

Wachs:

60

1,22)

401

Wachsblume: wachsen: Wachspapier: Wage: wagen: Wagen: Wahl: wählenwahr?n

35 20, 44, 50, (85), 100

'Wflrf

4.0

50 34

95, 112, 120 39, 104 73, 90 19, 86 (1Ö), (29), (37), 57, (62), (80), 87 (ln Verbindung mit ' drucken = Redewdg.), (95), 100 während: 16, 23, 24, 42, 50, 74, 89, 111 wahrhaben: 100 Wahrheit: 70 (vgl. 'Lüge') wahrscheinlich: 10, 37, 95 Währungsproblem: 117 W/walachisch: 110 Wald: 15, 74, 89 (Sprichwort) Wäldler: 39 Waldlichtung: 90 Waldweg: 120 Walfisch: 66 (vgl. 52) Walfischatlas: 66 wälzen: 100 Wand: 28, 29, 32, 42, 92 wandern: 35, 85, 125 wann: 92 Wanzenritze: 111 Ware: S8, 59 warm: 52, 74, 88, 100 wärmen: 35 wärmer: 87 Wartebank: 80 warten: 12, 22, 51, 66, 85, (88), 89, 112, 114, 117, 118, 132 •

warum: 68, 70, 82, 83, 92, 102, 110, 120 Wäsche: 66 waschen: 8 Waschmaschine: 87 Wasser: 11, 36, 38, 40, 44, 46, 65, 87, 132 wasserdicht: 17 Wasserkuppe: 59 Wasserspülung: 97 Wasserstand: 56 Wasserstrahl: 66 Wassertrinker: 111 Wasserwerfer: 26 Watte: 16 weben: 76, 87 Weberkarde: 87 Weberknecht: 87 (Titel) Wechelwinkel (sic!): 116 (in den anderen Ausgaben: "WechselWinkel") Wechsel: 37 (Titel), 84, 100 wechseln-: SO, 55, 66, 76, 108, 118 f., (123) wecken: (126; vgl 'erwachen') Wecker: 82, 127 wedeln: 123 weder: 19, SZ 70 Weg: 36, 50, 59. 77, 82, 86, 98 (Ubw -Bw.), 106, 113, 120, i32 wegbringen: 24, 112 wegen: 88, 103, 128 Weggehen: 38, S2 weglassen: 69, 92, 98, 103 wegwerfen: 61 wegwischen: 132 wen: 42

402

38, 61, 132 wehen-: 82 Wehen: 26 Wehmut: 102 wehmütig: 43, 48 wehtun: 24 Weibchen: 10, 29, 65 weiblich: 125 weichen: 137 Weidenkorb: Weihnachten: 23, 61 Weihnachtsaugen: 90 Weihnachtsglocke: 65 weil: ... 92, .. weiland: 108 Welle: 37 Wein: 86, 126 W/weinen: 25, 39 Weinkneipe: 31 Weinmond: 78 Weinstock: 47 (vgl. l.Mos. 9,20) W/-weise: 85, 86, 104, 106, 123, 136 weisen: 130 Weisheit: 58, 123 weiß/Weiß: 7. (9), (13), (15), 16, (20), 23, (i&), (31), (32), (34), (37), (39), (40), (41), (45), (SO) (52), (S4), 56 (aus der Werbung), 60, (61), (68), 76, 78 f., (82), 86, 90, (93), (94), (95), (98), 102, 103. 104. (108), (111), (116), (117), (12Ö), (122), (123), (124), 126, (129), (130) Weißbuche: 86 Weißwein: 86, 126 weit-: 27, 28, 32, 39, 40, 43, 45, 53, 56, 64, 73, 80, 85, 92, 93, 96, 110, 119, 120 (Redewdg.), 123 (Ti¬ tel), 127, 133 weitergehen: 88 weitersprechen: 57 weitertreiben: 24 weither: 11 Weizen: 44 welch-: 34, 41, 61, 78, 86, 115 well: 76 Wellblechtür: 38 Welt: 13, IS, 18, 24, 32, 34, 38, 40 (vgl. 90, 116, 124), 41, 48, 54, 59, 65, 68 f., 82, 8& (verän¬ dern), 90 (vgl. 40, 116, 124), 100 116 (vgl. 40, 90, 124, "die Welt ist ein Druckfehler*': vgl. Zitate aus Espenlaub'TO), U7 (Farbe der Welt), 124 (vgl. 40. 90, 116), 130 (milzähnlich: Zeit-Raum), 132 (Zeit), 136 (85; Weltanschauung Weltgemälde: Weltgeschichte: Weltkino: weitläufig: Weltmeer: wädeP:raChe: wenden: wendig: Wendung: wenig-:

S99 tÖrUng’ VgL U6)’ 138 132 68 111

51 54 8322(vgl'VolaPuk'. 'Esperanto') 132

SÄ?3’ m•l130'

59, 124 (Titel) io, IQ, 20, 29, 34, 40, 43, 51, 73,

76 (Titel), 78, 87, 90, 114, 117, 122, 136 wenigstens: 35, 40, 82 wenn: 13, 14, 17, 18, 19, 20, 23, 28, 29, 32, 37, 39, 41, 46, 48, 52, 54, 57, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 69 f., 74, 80, 82, 86, 87, 88, 89, 92 , 93, 94 , 95, 97, 98, 104, 106, 108, 114, 116, 118, 120, 122, 125, 130, 132 f„ 138 Werbung: 35 werfen: 17, 24, 29, 41, 46, 48, 57, 61, 64, 108, 112, 114, 117, 12(J Werk: 14 werkimmanent: 96 W/wert-: 43, 80, 89, 10S, 117 Wesen: 45, 46, 58, (87), 130 weshalb: 76 Wespe: 44 Wespentaille: 95 W/west-: 26, 76 westlich: 19, 100 west-östlich: 108 (evtl. Intertext. Goethe; vgl. 11,364: "..und ein Gedicht im 'Westöstlichen' Diwan, das mich tröstete.") Westseite: 42 Wetter: 92, 104 Wettkampf: 69, 102 Wettkämpfer: 68 Whisky: 116 W/wicntig-: 19, 34, 36, 46, 75, 76, 103, 106, 116, 129 widerlich: 41 widerrufen: 108 widersprechen: 33 Widerspruch: 32 Widerwille: 118 wie: 10, 13, 15, 16, 17, 20, 37, 46, 48, 51, Sf, 7$, 76, 81, 84, 86, 87, 88, 89, 90, 93, 94, 104, 106, 111, 113, 116, 117, 120, 124, 125, 130, 138 wieder: 16, 31, 37, 41, 52, 54, 62, 63, 65, 75, 78, 80, 83, 99, 107, 127, 130 Wiedereinführung: 84 Wiedererwerb: 35 wiederholen: 59, 64 Wiederholung: 64 Wiederkäuer-Folklore: 102 wiederkehren: 60 wiederkommen: 121, 127 wiederum: 21, 30, 52, 123 Wiege: 123 wiegen: 40, 68 Wiese: (124) wieso: 49, 112 wieviel: 18, 64 Wildfütterung: 66 wilhelminisch: 89 Wille: (118) willkommen: 54 Willkür: 80 Wind: 66, 70 (Intertext.: Apg.2), 103, 106, 117 windgerecht: 98 windig: 98 (’- Antworten’) windschief: 45 (Titel), 59 (vgl. 111,721; 1,157) Windstärke: 98

Winkel: 56, 66, 116, (134) winken: 39, 133 Winter: 8, 11, 66, 76, 86, 87, 93 Winteranfang: 66 Winterschlaf: 56 Winterstudentin: 8 (Titel) winzig: 46, S1 W/wippen: 87 wirken: 88, 98 wirklich: 16, 88, 92, 98 (vgl. 'Mischung') Wirklichkeit: 88, 11Ö, 117 wirksam: 80 26, 117 Wirkung: Wirt: 88 Wirtschaft: 100, 138 wirtschaften: 108 wirtschaftlich: (45) Wirtschaftsgeographie: 12 Wirtschaftsleben: 100 Wirtshaus: 82 wischen: 39, 132 wissen: 9, 11, 15, 13, 20, 23, 28, 31, 32, 34, 37, 39, 40, 41, 45, 50, 52, 54, 61, 63, 65, 68, 70, 76, 80, 82, 83, 86, (88), 93, 94, 95, 98, 106. 108, 111, 112, 116, 117, 120, 12i, 123, 124, 126, 127, 129, 129, 130 29, (88), (124) Wissen: 18, 35, 130 Wissenschaft. Wissenschaftler-: 3l wissenschaftlich: 29 (’ Träume’) 10 wittern: 95 Witwe: Witwenpension: 95 woanders: 62 wobei: 35, 64 Woche: 43, 79, 108 f. Wochenende: 104 wöchentlich: 39 wogegen: 116 woher: 73, 112 wohin: 58, 84, 112, 120 wohl: 98 wohlriechend: 69 wohlwollend: 43 wohnen: 32, 65, 103, 106 Wohnhaus: 63 Wohnung: 20, 32, 75, 92 Wohnungstür: 6S Wolf: 129 (vgl. 1,9) Wolke: 117, 118 Wolle: 100 f. (Titel) wollen: 10, 11, 14, 15, 19, 23, 24, 29, 35, 3i, 43, 48 f., 54, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 66, 68, 70, 80 f„ 83, 84. 86, 87. 92, 94, 95, 96, 98, 10Ö, 1Ö6, ill, 112, 117, 118, 120, 122, 130 101, 103, 113 womöglich: 101 Work: Worpswedisch-: 90 12, 16, 32, 52, 60, 64. 68 (Titel), Wort (76), (82), (88), (89), 93 (96), 98, 104 (Hinweis auf die "Formeln"), 120, 125,126 (Titel) 78, 83 (Titel) Wörterbuch: 20 (vgl. 'Maulwurf' u. 'SiebenWühlmaus: Schläfer)

403

Wunde: Wunder: wunderbar:

46

Yoga: Yogatechnik: Yogaübung: Yoghurt: you:

116

Zahl: zählen:

29, 37, 39, 86, 93, (104), 118, 129 16, 17, 22, (51), 62, 66 , 74, 84, 86 SO 106 43, 45 64 95 65, 127 39 92 (Titel) 58, 90 63 15 (vgl. auch 'Beispiel') 65

42, (44), 125, 132 111 (beachte Schreibweise; vgl. Notiz IV,370) wundern: 38, (68), 87, 127, 138 Wunderschäfer: 89 38, 82, 106 Wunsch: 10, (28), 39, 54, 61 wünschen: 82, 125 würdig: 123 würdigen: (94) Wurf: 30 Würfelzucker: 48 würgen: 22 Wurst: Wursthaut: 22 64, 129 Wurzel: 64 wurzeln: 44 würzend: Wüstenexpedition: 59

Zahlenmystik: Zählkarte: Zahn: Zapfen: Zar: zart: Zauberpilz: Zaubersprüche: Zaun: Zaunpfahl: Z.B.: Zehe: Zehenballen: Zehenspitze: zehn: Zehnmarkschein zehnt-: zehren: Zeichen: Z/zeichnen: Zeichner: Zeichnung: zeigen: Zeile:

-zeilig-: Zeit:

8 118 118 76

8 80 2^ 37, 51’ 96’ 108’ 114 98 (116) 36, 66, 76, 78, 90 66, 74, 80, 83 111 (Titel)

74

24, 57 60 82, 88, 89, 104, 108 24, 36, 58 (Ego ln jeder £elle) 65, 93 (Titel), 94 HI in Kolle¬ ge, lebte zwischen den Zei¬ ten,'), 98, 10S (vgl. 1,123)

22, 2VI5, ^36((beacfitlf: Zeilen 84,

85, 86,

«0:82;

89, 90 94 t08< 112’’ 1141

88,

}?TÄ 103i 132 135 'Par“oxon)< 127. 130,

404

12 Zeiteinheit: 13, 26, 29, 82 -zeitig: 14 Zeitläufte: 103 Zeltlang: 45 Zeitschrift: 15 (Titel), 96 Zeitung: Zeitungsstand: 15 Zeitungsverkäufer: 126 Zeitzeichen: 36 Zelle: (43) Zelt: 135 Zementregierung: 35 54 zensieren: 100, 121 Zentimeter: 116 ('die Brille -' Versehen zerdrücken: u. Verlesen; vgl. 'Druckfehler') 14 zerfallen: 32 zerlegen: 84 zermahlen: 28 zersetzt: 85, 111 Zettel: (5?). (68), (102), 113 (vgl. S1 u. zeugen: 16, letzter Absatz) 96 Zeugin: Zeugung: 18, 51 61, 93 Ziegel: ziehen: 16, 24, 30, 32 , 48, (65), 76, (84), (85), (86), 89, 94, 102, (106\ 118 ziehend: 42 Ziel: 114 ziemlich: 16, 50, 118, 131 Ziffer: 78 Zimmer: 16, 24, 37, 38, 54, 61, 65,112, 120 Zimmerecke: 42 Zimmemummer: 37 Zirkel: 56 Zischen: 103 Zitat: 10 zitieren: 10 Zitrone: 54 Zitronenkem: 54 zittern: 127 (vgl. 'zitieren') Zitterrochen: 41 (vgl. auch 10: 'zitieren' statt zittern') Zoll: S4 Zorn: 68 f. (kurz davor: 'ärger') zornig: 16, 31 zu (verschlossen): 32 Züchter: 88 Zuchthaus: 54 Zuchthaustür: 34 Zucken: 119 Zucker: 30 Zuckerfrage: 73 Zuckergewinnung: 126 zuerst: 102 Zufall: 92 zufällig: 75, 78, 84, 93 zufrieden: 8 88 Zug: Zuganschluß: zugeben: Zügel: zugeneigt: Zugereist-: zugespitzt: zugleich: zuhause:

m

(100)' (103)’ 122’ (123)’

76 ’ 61, 126 28

S8 13 130 (mit "Augenblick") 32- 41. 61, 89, 118 (Ort u. Zeit) 14, 16, 42, 84, 96, 108

Zuhörer: zukommen: Zukunft: zulassen: zumachen: zumal: Zumutung:

14 17 78, 85 (Paradoxon), 93, 102 44, 114 24 118 117 (’- des Lebens und des Sterbens') 99 60 34, 113 48 35, 39, 123 (Titel), 125 87, 92

zunehmen: Zunge: zupfen: Zureden: zurück: Zurückbleiben: 100 zurückgreifen: zurückhalten: 29 zurückhaltend: 19 zurücklassen: 76, 95 zurücklaufen: 87 85 zurückreichen: zurückschrecken: 87 zurücksenden: 54 zurückwollen: 86 zurückziehen: 89 zusammen: 12, 29, 40, 48, 64, 96, 103 zusammenfegen: 56 zusammengenören: 126 Zusammenhalten: 132 Zusammenhang: 20, 41, 82, 92, 106 Zusammenhängen: ?8 zusammenzählen: 22 zusammenziehen: 48, 54, 85, 118 zusätzlich: 64, 102 zuschauen: 89 Zuschauer: 57 Zustand: 10, 112, 123 Zustandekommen: 52 zuständig: 114 (neg.), 120 Zustellung: 80 zustimmen: 31 Zustimmung: 61, 120 zuteilen: 103 zuteilwerden: 41 zutraulich: 16, 81 zuviel: 17, 63, 66, 74, 89, 102, 104, 111, 113, 117 zuweisen: 130 zuwenden: 95 zuwenig: 24 zuwider: 24, 114 zwanzig-: 12, 20, 31 zwar: 62, 99, 120 Zweck: 12, 34 zwei: 12. 16, 28, 30, 34, 39, 42, 43, 4d f., 50, 74, 80, 82, 85, 92, 100, 108 f., 116, 120, 126, 130 zweidimensional: 76 Zweifel: 120 zweifeln: 76 Zweifelsfall: 100 Zweig: 129 zweigeteilt: 24 zweimal: 39, 48 Z/zweit-: 11, 43 (Titel), 88, 103, 118 Zweitleben: 43 zweitausend: 18 Zwiebel: 31 (statt "Tränen ) Zwerg: 42 Zwergstaat: 108

10, 12, 19, 27, 30, 36 ('- den Zeilen'), 38, 44, (51), 54, 56, 63, 70, 80, 8$, 94 (- den Zellen; vgl. 36), 99, 108, 111 Zwischenakt: 10 (Titel) Zwischeneiszeit: 15 Zwischenhoch: S4 Zwischenruf: 46 Zwitterkind: 8 zwölf: 16, 28, 73, 80, 114 Zylinder: 112

zwischen:

ZUR SCHREIBWEISE DER ZIFFERN: Zahlen in normalen Ziffern: Wort kommt auf der entsprechenden Seite einmal vor. Zahlen in Kursiv: Wort kommt auf der ent¬ sprechenden Seite mehrfach vor. Zahlen in Fettdruck: Wort führt einen nach meiner Ansicht besonders wichtigen Kontext mit sich. Zahlen in Klammem: Wort ist graphemisches Binnenwort eines anderen Wortes.

405

Allah (98- vgl

Namen:

"Allah hat hundert Namen"), Appollon (68). Ariadne

SftSÄ •» Ä

^^thoTOn^UfiiTitelJ, Berlitz School (1271, (Agnes ft™»-

.9nau (|6, 107) Dönhoffplätze (12). Düsseldorf (127), fnn?6 J?,er (35), (125). Eschersfieimer Tor/Turm (130) Europa (108), Falun (19), Feuerlana (52) Frankfurt- a M unrl

ffß- i9q?)’rGanZ|ient(20)’noflliVurn (19)’ G°lfström (46), Griechenland j60’ ,123), Großglockner (104), Hallermünde (78), Hawai (108) Hebriden (52) Heisterbach (89), Himalaya (59), Homburg (60) Hongkong (fo7fe,inf geschr:ieben), Honolulu (108), Hydepark (8^ Ilz

äs iS: iss

fiss a LvstS rS r' KtT-

Nürtingen (60), Okavama (50 Titel)Paderborn,(®° f;|’ Paris (106), Passau (106) Platenstraft« 17äi d (106; *??^chte born ), 36). Rezat (79), Rinteln (45) RutPr?Qv^nce , (11), Reichenhali (132i, Saarbrücken (23), Saba (83) Saigonh