Die Architektur des Realen: Plädoyer gegen die Bilderflut in der Baukultur 9783839465899

In der zeitgenössischen Kultur hat die inflationäre Ausbreitung des Bildhaften zu einer Implosion der Inhalte geführt. D

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Die Architektur des Realen: Plädoyer gegen die Bilderflut in der Baukultur
 9783839465899

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einführung
Zehn Ansätze einer Architektur des Realen
Realitätskonzepte
Die neue Wirklichkeit der Technik
Pragmatismus und Normalität
Paradoxe Realismen
Gegen die Bilderflut
Der Körper des Realen
Das Reale zwischen den Bildern
Literaturverzeichnis
Anmerkungen

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Bernhard Denkinger Die Architektur des Realen

Architekturen | Band 69

Bernhard Denkinger ist Architekt und Ausstellungsgestalter. Er studierte Architektur an der Technischen Universität München sowie der Universität für angewandte Kunst Wien und absolvierte Studienaufenthalte an der ETH Lausanne und dem Massachusetts Institute of Technology (Cambridge, USA). Zu seinen Schwerpunkten zählen Museums- und Ausstellungsgestaltung mit kulturhistorischen und zeitgeschichtlichen Themensetzungen, Gedenkkultur sowie Architekturtheorie und -geschichte.

Bernhard Denkinger

Die Architektur des Realen Plädoyer gegen die Bilderflut in der Baukultur

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: St. Stephan, Köln; Architektur: Joachim Schürmann, 1958. Fotografie: Bernhard Denkinger Lektorat: Jan Wenke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6589-5 PDF-ISBN 978-3-8394-6589-9 https://doi.org/10.14361/9783839465899 Buchreihen-ISSN: 2702-8070 Buchreihen-eISSN: 2702-8089 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Dank ......................................................................................7 Einführung Anliegen – Methoden – Inhalte ............................................................. 9 Konventionelle und erweiterte Realität ..................................................... 12 Realismus als Freiheitsnarrativ oder Ent-Subjektivierung ...................................13 Realismus und Moderne – ein kurzer Überblick .............................................13 Abgrenzung des modernen Realismus von realistischen Darstellungstechniken ............. 15 Unterschiedliche Realitätskonzepte in Architektur, Literatur und Kunst ..................... 16 Zehn Ansätze einer Architektur des Realen ............................................. 19 Realitätskonzepte....................................................................... 23 Konstruktive Elemente im Realen Georg Lukács, Henry Mitterand, Roman Jacobson ......................................... 24 Die neue Wirklichkeit der Technik ....................................................... 31 Die doppelte Realität der Moderne: Le Corbusier und die Revolution........................ 32 Die Ästhetik der frühen funktionalistischen Architektur ................................... 39 Pragmatismus und Normalität .......................................................... 69 Das Stoffliche in der Sakralarchitektur der 1950er Jahre................................... 72 Das Normale, das Alltägliche, einfache Dinge.............................................. 83 Anmerkungen zur neorealistischen Bildsprache ........................................... 95 Gegen das Rationale – drei Narrative eines alternativen Wissens........................... 96 Paradoxe Realismen .................................................................... 101 Der ikonische »Realismus« der autonomen Architektur ...................................102 Das Triviale als Leitbild der postmodernen Architektur .....................................111 Gegen die Bilderflut .....................................................................125

Realismus als eine Form des Widerstands.................................................127 Critical regionalism: Lokale Strategien in einer globalen Welt ............................. 133 Neue Einfachheit: Die Selbständigkeit der Teile gegenüber dem Ganzen ................... 168 Der Körper des Realen .................................................................. 191 Dirty realism: Drama der Subkulturen .....................................................192 Sensualismus: Kult der Oberfläche........................................................197 Das Reale zwischen den Bildern ....................................................... 203 Der Realismus der Neuen Bescheidenheit ................................................ 203 Die Grenze zum Zufälligen und Sporadischen.............................................. 217 Literaturverzeichnis ....................................................................221 Anmerkungen .......................................................................... 227

Dank

Während der dreijährigen Entstehungszeit des Buchs habe ich von vielen Personen wichtige Hinweise erhalten. Institutionen und Privatpersonen gewährten mir Zutritt zu ihren Räumlichkeiten. Im Rahmen der Besichtigungen konnten Fragen zur Nutzungsfreundlichkeit und bautechnischen Nachhaltigkeit der Gebäude erörtert werden. Dabei erhielt ich interessante, wenig bekannte Informationen zur Entstehungsgeschichte einzelner Gebäude und zu technischen Details. Im Juli 2022 fand eine Präsentation des Buchprojekts in der Österreichischen Gesellschaft für Architektur in Wien statt. Der Kuratorin der Veranstaltung, Gabriele Kaiser, verdanke ich wertvolle inhaltliche Anregungen, ebenso Otto Kapfinger und Ulrike Felber. Ich danke Jan Wenke für sein Lektorat und Annika Linnemann vom transcript Verlag für die Betreuung des Projekts sowie den Architekten, Architektinnen und Familien, die mir Pläne und Fotografien zur Verfügung gestellt haben: Dimitris Antonakakis (Athen), Bourbouze & Graindorge (Nantes), Gianni Cosenza (Neapel), l’AUC (Paris), Muoto (Paris), Hanspeter Müller (Atelier-Gemeinschaft Müller & Naegelin, Basel), Peter Schürmann (Stuttgart), Denise Scott Brown (Philadelphia) und Doris Thut (München). Mein Dank gilt auch den Fotografen Alessandro Lanzetta (Rom), Andrea Pirisi (Modena), Peter Koehl (Othmarsingen), Maxime Delvaux (Brüssel), Wolfgang Gröschel (München), Rollin R. de La France (Philadelphia), Yiorgis Yerolymbos (Athen) und der Fotografin Andrea Helbling (Zürich) sowie den Institutionen, die mir Archivmaterialien zur Verfügung gestellt haben: gta Archiv der ETH Zürich, Accademia di architettura, Università della Svizzera italiana, Archivio del Moderno (Balerna); Fondazione AAT (Bellinzona), Ministero della Cultura – Direzione Generale Creatività Contemporanea (Rom); Academia Nazionale di San Luca, Archivio contemporaneo, Fondo Ridolfi-Frankl-Malagricci (Rom); Archivio Luigi Cosenza – Archivio di Stato di Napoli Pizzofalcone (Neapel), Fondazione Aldo Rossi (Mailand); University of Pennsylvania Stuart Weitzman School of Design, Architectural Archives (Philadelphia); DAM – Deutsches Architekturmuseum (Frankfurt), Architekturzentrum Wien, Staatsgalerie Stuttgart, Erzbistum Köln, Pfarrei St. Stephan (KölnLindenthal), Pfarrei St. Lambertus (Essen).

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Die Architektur des Realen

Ermöglicht wurde die gegenständliche Publikation durch Förderungen der Stadt Wien (Stadt Wien Kultur), des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten und des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport der Republik Österreich.

Einführung Anliegen – Methoden – Inhalte

Dieses Buch plädiert für eine Architektur, die sich über ihren Bezug zum Realen definiert. Es wendet sich gegen die dominante Stellung des Bildhaften in der aktuellen Baukultur. Die Tendenz zum Bildhaften hat zu zwei negativen Auswirkungen geführt: Einerseits wurde das Reale zunehmend aus der Architektur verdrängt, andererseits wurde die Funktion des Bildhaften geschwächt – die Fähigkeit eines Bilds, etwas zu kommunizieren und zu bedeuten. Dieses Buch stellt somit nicht das Bildhafte an sich in Frage. Es untersucht Architekturen, deren bildlicher Ausdruck sich auf Inhalte bezieht. Ich meine, dass es in der aktuellen Baukultur kaum mehr einen solchen Bezug gibt. Inhalte lassen sich nicht ausschließlich über Bilder kommunizieren. Sie benötigen eine Erklärung. Mit ihr wird eine architektonische Haltung sichtbar wie auch kritisierbar. Architekturen, die ausschließlich auf Bildern basieren, umgehen beides. An die Stelle eines Arguments setzen sie eine Simulation. Manchmal gibt diese vor einen Inhalt zu verhandeln – in der Regel will sie bloß gefallen. Findet sie keine Zustimmung, dann wird rasch eine neue Variante erzeugt, die sich gewöhnlich nur formal von der vorherigen unterscheidet. Bei dieser Art der Bildgenerierung erweisen sich Argumente als hinderlich. Sie sind der sprichwörtliche Sand im Getriebe, der die Funktion einer Maschine außer Kraft setzt. Wird in der Architektur ein Inhalt artikuliert, dann formiert sich das zugehörige Bild, das ihn ausdrücken soll, nur langsam. Derartige »Bilder« teilen etwas mit – sie verweisen nicht bloß auf sich selbst. Auch sind sie nur selten spektakulär. Meist sieht man ihnen an, dass um ihre Form gerungen wurde. Gründet eine Architektur auf Argumenten, dann reduziert sich auch die Zahl der Ausdrucksformen, die sie anbieten kann. Es gibt dann richtige und falsche Ausdrucksweisen. Oft bleibt nur eine einzige Lösung übrig. Architekturen, die Inhalte – und über diese eine Realität – reflektieren, können nur eine kleine Zahl von Bildern hervorbringen. Ikonische Architekturen hingegen können sehr viele Bilder generieren. Allerdings handelt es sich hierbei meist um Vorlagen, die in abgewandelter Form neu verwendet werden. Die Architektur kann so ein ständig wachsendes Verlangen nach »neuen« Bildern befriedigen, die in immer kürzeren Zyklen durch andere ersetzt

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Die Architektur des Realen

werden. Zur Anwendung kam diese Methodik in der modernen Architektur erstmals in der Postmoderne der späten 1970er Jahre. Sie verselbständigte sich und wurde zu einem Automatismus, der etwa seit Ende der 1990er Jahre das Baugeschehen dominiert. Die große Zahl an vermeintlich neuen Bildern hat jedoch nicht zu einer räumlichen Vielfalt geführt, im Gegenteil: Unsere Städte wurden zunehmend zu Ansammlungen vermeintlicher Besonderheiten, die ohne Bezug nebeneinander stehen. Die »Architektur« dieser Bildmontagen basiert nicht mehr auf einem räumlichen oder inhaltlichen Konzept, sie definiert sich ausschließlich über die plastische Form eines Objekts und die Oberfläche seiner Hülle. Letztere wird nach Kriterien gestaltet, die der Logik der Werbeindustrie folgen. Dass architektonische und räumliche Qualitäten zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit geopfert werden, ist kein neues Phänomen. Neu ist jedoch die Geschwindigkeit, in der diese Entwicklung stattfindet, und ihr Ausmaß. Neu ist auch, dass die architektonische Praxis es scheinbar aufgegeben hat, diesem Prozess Widerstand entgegenzusetzen. Sie hat den bequemeren Weg gewählt, ihn als historisch irreversiblen und notwendigen Vorgang zu erklären, und hierfür sogar theoretische Modelle geschaffen. Bei diesen spiegelt sich die Idee, dass eine negative Logik durch affirmative Überhöhung in etwas Positives umschlagen könnte. Will man sich dieser Entwicklung entgegenstellen, dann genügt es nicht, Details zu kritisieren. Es ergibt keinen Sinn, zwischen »gelungenen« und beliebigen Bildproduktionen zu unterscheiden. Man muss sich aus dem Teufelskreis dieser Art von Bildgenerierung heraus begeben, deren Sinnhaftigkeit in Frage stellen. Man muss verlangen, dass Architektur von anderen Grundlagen ausgehen soll. Ich kann mit diesem Buch keine Theorie einer solchen »anderen« Architektur anbieten. Ich versuche einige Kriterien zu definieren und prinzipielle Herangehensweisen zu erläutern. Dies geschieht anhand einer größeren Zahl von Beispielen aus der jüngeren Architekturgeschichte, bei denen ein realistischer Ansatz und eine inhaltliche Agenda vorlagen. In ihrer Gesamtheit sollen sie eine Vorstellung über das Potential einer Architektur des Realen vermitteln. Eine Architektur, die sich auf das Reale bezieht, ist notwendigerweise kritisch. Sie kann ästhetische Fragen nicht unabhängig von sozialen betrachten. Der Idee nach soll sie eine Verbindung zwischen dem Individuum und seiner Umgebung schaffen, diesem ermöglichen, sich seiner selbst zu versichern. Sie betont den Charakter der Gegenstände, verlangt nach Außen- und Innenräumen, die reale, physische und räumliche Qualitäten aufweisen. Sie definiert Orte in einem nicht bloß funktionalen Sinn und versucht den Aufbau tatsächlicher Beziehungen zwischen Personen zu begünstigen. Aus meinen Ausführungen lässt sich erkennen, dass ich das Reale als eine sowohl ästhetische wie auch soziale Kategorie betrachte. Ich untersuchte die verschiedenen

Einführung

Ausprägungen eines architektonischen Phänomens, in verschiedenen Zeiträumen, wobei vieles ausgelassen wurde.1 Den Kapiteln dieses Buchs habe ich jeweils eine bestimmte Form des Realen zugeordnet und diese an einen Zeitraum gebunden. Es ergab sich so eine Chronologie. Die Zeitspanne, die ich in diesem Buch betrachte, erstreckt sich von etwa 1920 bis 2020. Sie wurde so gewählt, weil ich den Realismus in der Kunst als ein Phänomen der Moderne ansehe, das sich in der Architektur erst spät in einer eigenständigen Ausdrucksweise äußerte. Da jede Architektur, die gebaut wird, immer irgendeinen Anteil an Realität aufweist und der Begriff des Realen ungemein weit und allgemein gefasst ist, muss die Benennung und Eingrenzung der einzelnen Phasen notwendigerweise unscharf bleiben. Ich befasse mich mit Phänomenen und Haltungen, die einem architektonischen Handeln zu Grunde liegen. Dabei setze ich keine teleologische Entwicklung voraus. Ich verstehe Realismus als ein konstantes Bemühen, Aspekte des Wirklichen aufzunehmen und in Architektur zu übersetzen. Architektur kann die Wirklichkeit nicht direkt wiedergeben, letztendlich bemisst sich ihr Realitätsgehalt auch daran, ob dieser von einem Publikum wahrgenommen werden kann. Daran schließt sich die Frage an, wie umfangreich oder gering die Expertise eines Publikums sein soll. Ich nähere mich dem Realen über eine »Familie von Begriffen«2 an. Diese stammen aus der Philosophie (Pragmatismus, Normalität, Konvention, Common Sense), der Architekturgeschichte der 1920er Jahre (Sachlichkeit, Zweckmäßigkeit, Angemessenheit, Funktionalität, Rationalismus), der jüngeren Architekturpublizistik (dirty realism, Neue Einfachheit, Neue Bescheidenheit) und den Kulturwissenschaften (Alltagswelt, Banalität, Trivialität). Da sich das Buch an Architekturschaffende richtet, werden diese Begriffe in philosophisch-wissenschaftlicher Hinsicht nur rudimentär besprochen. Ich vertraue hier auf die Erfahrungen der Leserschaft und gehe davon aus, dass diese eine Vorstellung mit dem jeweiligen Begriff verbinden kann, die seiner tatsächlichen Bedeutung nahekommt. Unter den philosophischen und wissenschaftlichen Konzepten, die meine Überlegungen beeinflussten, sind der angelsächsische Pragmatismus zu nennen (David Hume, William James, Hilary Putman), vor allem aber Ansätze der Architektur- und Kunstkritik (Adolf Behne, Alan Colqhoun, Adrian Forty, Kenneth Frampton, Stellos Giamarelos, Alexander Tzonis und Liane Lefaivre, die russischen Formalisten). Wesentliche Anregungen habe ich aus Architekturfachjournalen entnommen, die sich mit dem Realismus in der Architektur beschäftigten, insbesondere aus zwei Nummern der Schweizer Zeitschrift archithese (Heft 19: Realismus/Heft 90: Neue Ansichten) sowie einer Nummer von arch+ (Heft 53: Neuer Realismus in der französischen Architektur). In kurzen editorischen Vorworten und theoretischen Artikeln wurde in diesen Heften die Thematik anschaulich dargelegt, mit Schlussfolgerungen, die für die aktuelle Diskussion von hoher Relevanz sind. Da ich die Architektur

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Die Architektur des Realen

als künstlerische Ausdrucksweise sehe, spielt Ästhetik als philosophische Disziplin eine Rolle (Henry Home/Lord Kames, Edmund Burke, Georg Lukácz). Bei philosophischen und wissenschaftlichen Konzepten stellt sich stets das Problem, dass von einem bestimmten historischen Zeitpunkt ausgegangen werden muss, in dem eine Position erstmalig formuliert wurde. Deren Gültigkeit wird durch die Sekundärliteratur bestätigt oder relativiert. Neue Erkenntnisse führen dann zu Korrekturen. Das heißt aber nicht, dass in jedem Fall das Neue über ein Früheres hinausgehen würde. Es gibt hier sowohl verschiedene Geschwindigkeiten wie auch qualitative Unterschiede: So kann in einem sehr kurzen Zeitraum sehr vieles entstehen, das später als wesentlich erkannt wird, in einem anderen Zeitraum hingegen sehr wenig. Es ist auch möglich, dass ein aktuelles Wissen hinter ein früheres zurückfällt. Schließlich ist es eines der herausragendsten Merkmale des Aktuellen, dass es uns die Gegenstände unserer Reflexion in unverhältnismäßiger Weise wiedergibt. Erst retrospektiv ist deren wahre Größe abschätzbar.

Konventionelle und erweiterte Realität Mit dem Begriff Realismus wird nach allgemeiner Auffassung verbunden, dass die Wirklichkeit wiedergegeben wird. Es drängen sich sogleich Begriffe wie »unverfälscht«, »direkt«, »unvermittelt« auf, Adjektive, die sehr häufig verwendet werden, wenn über die Realität gesprochen wird. Diese Begrifflichkeiten weisen darauf hin, dass Realität als etwas verstanden wird, das nicht selbstverständlich vorhanden ist. Sie muss durch eine geistige Aktivität freigelegt werden. Die Realität scheint von einer Lebenspraxis überlagert zu sein, die von ihr abweicht, einer Praxis, die sehr weitgehend durch Vorstellungen und Handlungen bestimmt wird, die von uns als irreal oder willkürlich eingeschätzt werden. Das Individuum lebt mit dem Bewusstsein, dass das soziale Leben die Wirklichkeit verformt und dass mit dieser Verformung die Verschleierung eines tatsächlichen Sachverhalts einhergeht. Der Realismus, so wie ich ihn verstehe, versucht eine Entfernung aufzuheben, die zwischen einer gelebten, von uns so hingenommenen Realität und einer erweiterten Wirklichkeit liegt. Diese enthält Formen des Wirklichen, denen wir manchmal zufällig begegnen, die wir aber im Allgemeinen nicht wahrnehmen. Nach dieser Vorstellung muss die sozial vermittelte Realität (jene, die sich bloß ergeben hat) hinterfragt und teilweise dekonstruiert werden, damit eine größere Bandbreite und damit ein Charakter des Realen zum Vorschein kommen kann.

Einführung

Realismus als Freiheitsnarrativ oder Ent-Subjektivierung Der historische Realismus richtete sich gegen existierende ästhetische Normen, in der Literatur auch gegen soziale und politische Verhältnisse. Die realistische Kritik zielte darauf ab, bestehende Verhältnisse zu überwinden. Aus ihrer Sicht reichte es nicht aus, ästhetische Systeme zu reformieren. Das System der Kunst sollte neu definiert werden. Dabei entwickelte sich das nicht sehr logische Narrativ, dass subjektive Freiheit aus der Akzeptanz des Faktischen hervorgehen könne. Diese Vorstellung ignorierte, dass das Faktische von latent vorhandenen Normen durchzogen ist, zu denen auch ästhetische gehören. Sieht man von didaktisch inspirierten Realismen ab, dann bezog der Realismus seine Faszination aus einem Verlangen nach Ursprünglichkeit und Direktheit, nach emotionaler Bindung und unvermittelter (unmittelbarer) Erfahrung. Er versprach eine Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und eigenem Erleben herbeiführen zu können. Dieses intuitive, individuelle Verlangen stand im Widerspruch zur Forderung, dass die realistische Kunst die Wirklichkeit objektiv und neutral beschreiben müsse, ohne Beschönigung oder Wertung. Die Autorin, der Autor sollte sich gleichsam ent-subjektivieren, über das Werk sollte sich eine Wirklichkeit manifestieren, die außerhalb der Person lag. Idealerweise sollte der Anteil des Realen im Werk möglichst groß sein, jener der Autorin bzw. des Autors hingegen klein. Dem Realen wurde dadurch die Stellung einer externen Autorität zuerkannt, die das Werk legitimiert. Ob ein Kunstwerk oder eine Architektur nun als realistisch bezeichnet werden konnte, hing davon ab, wie konsequent realistisch die als Autorität gesetzte Realität gegenüber sich selbst sein konnte. Auch musste zum Ausdruck kommen, dass sich Teile des Realen dem Zugriff des Subjekts entzogen, dass das Reale in gewisser Weise selbständig blieb.

Realismus und Moderne – ein kurzer Überblick Der Realismus in Kunst und Literatur ist eine Erscheinung der Moderne. Erste realistische Tendenzen zeigten sich in Europa schon in den 1830er Jahren. Sie richteten sich gegen die romantische wie auch die klassizistische Kunstauffassung. Von der zeitgenössischen Kritik wurden sie negativ kommentiert. Bemängelt wurde beispielsweise die schonungslos-direkte und expressive Zeichnung der Charaktere, die Verwendung von Themen und Schauplätzen, die als nicht abbildungswürdig erachtet wurden. Bereits in dieser frühen Phase verbanden sich im Realismus ästhetische Forderungen mit politischen Zielen. Seinen Aufstieg zur vorherrschenden künstlerischen Strömung des 19. Jahrhunderts verdankte er schließlich den gescheiterten Revolutionen des Jahres 1848. Die Ideen und Ideale der Aufklärung, welche diese implementieren sollte, hatten sich nicht durchgesetzt. Eine Generation war ihrer Hoffnungen beraubt worden, muss-

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Die Architektur des Realen

te sich neu orientieren und wandte sich dem Realen zu. In den 1850er Jahren bildete sich in Frankreich eine breite realistische Strömung, die von der Malerei, der Literatur und der Literaturkritik ausging.3 In dieser frühen Phase des Realismus spielten ästhetische Gesichtspunkte noch eine wichtige Rolle. Dies änderte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nun bestimmten zunehmend soziale Anliegen und politische Ziele die realistische Agenda. In der Literatur mutierte der Realismus zum Naturalismus, der für sich in Anspruch nahm, auf wissenschaftlicher Basis zu operieren. Am eindeutigsten kam dieses Bemühen (des Realismus) um Wissenschaftlichkeit in Werken wie Emile Zolas Le roman experimental4 zum Ausdruck, einem Buch, das sich die Forschungsmethodik des Arztes Claude Bernard zum Vorbild nahm. Ein Bemühen um Objektivität kennzeichnete dann mehrere realistische Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts. Als Beispiele können hier die Architektur der Neuen Sachlichkeit, die Fotoreportage als eigenständige künstlerische Ausdrucksform, das dramatische Werk von Bertolt Brecht oder Filme von Dziga Vertov angeführt werden. Analoge Absichten lassen sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch beim italienischen Neorealismus oder bei der französischen Nouvelle Vague finden, beide verlangten, dass die Realität dokumentarisch erfasst und wiedergegeben werden sollte. Alle diese Realismen durchzog ein latenter Moralismus, der den Autor:innen nicht immer bewusst war. Dass die Moral sich auch in ihr Gegenteil verkehren konnte, zeigt beispielsweise der Begriff dirty realism.5 Dieser beschrieb ursprünglich eine Tendenz in der Literatur der 1980er Jahren und wurde um 1992 in die Architektur übernommen. Im historischen Kontext der architektonischen Moderne legte das Adjektiv »dirty« nahe, dass dieser Realismus sich in einem Gegensatz zum »sauberen«, puristischen Realismus der 1920er Jahre sah. Die Realität der 1920er oder auch der 1950er Jahre war jedoch nicht weniger »schmutzig« als jene der 1980er Jahre. Unterschiedlich war ihr Verhältnis zum Subjektiven. Der dirty realism versuchte jenem individuellen Begehren Ausdruck zu verschaffen, das am Anfang der realistischen Bewegung gestanden hatte: der Hoffnung, dass aus der gegenseitigen Durchdringung des Individuellen und des Realen individuelle Freiheit hervorgehen könnte. Allerdings deutete er diesen Prozess ausschließlich als individuelle Erfahrung. Bei ihm nahm die Realität den Charakter einer Ware an, die in intensiver Weise konsumiert werden konnte. In Theater, Film und Literatur konnte der Realismus seine Stellung im 20. Jahrhundert behaupten – nicht jedoch in der bildenden Kunst. Hier musste er mit nicht gegenständlichen, konstruktivistischen und surrealistischen Richtungen konkurrieren. Erst die Verbreitung der Massenkultur in den 1950er Jahren verhalf ihm zu neuer Bedeutung – zuerst in der Pop-Art, später in performativen Kunstformaten. Eine grundsätzlich neue Situation entstand in den 1970er Jahren, als die Postmoderne zum dominierenden Modell der Kulturwissenschaften wurde. Aus postmoderner Sicht war die Wirklichkeit eine Frage der Interpretation, sie war relativ.6

Einführung

Damit veränderte sich die Funktion des Bildhaften innerhalb der Kunst. Eine tendenziell endlose Zahl an alternativen Wirklichkeiten benötigte Ausdrucksmittel, die Individualität suggerieren konnten. Dies führte zu einem großen Bedarf an »neuen« Bildern, gleichzeitig reduzierte sich die Aussagekraft des einzelnen Bilds. Dieser Prozess wurde durch die digitalen Medien beschleunigt. Mit dem Niedergang der Postmoderne änderten sich die Bildinhalte, der Automatismus, der die Generierung und Verbreitung der Bilder regelte, blieb. Jede neue realistische Strömung musste sich mit dieser Eigengesetzlichkeit des Bildwerdungsprozesses auseinandersetzen. Konnte sie aufzeigen, dass die Bilder, die dieser hervorbrachte, sich rasch erschöpften, dass sie bereits bekannt und verbraucht waren, dann konnte sie Aufmerksamkeit finden. Der Realismus entstand gleichsam zwischen den Bildern – zwischen alten, die allmählich verlöschten, und neuen, deren Aufspaltung und Vervielfältigung unmittelbar bevorstand. Die fragile Position eines solchen latenten Realismus unterscheidet sich erheblich von der dominanten Rolle, die der Realismus in der Kunst des 19. Jahrhunderts oder in der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts einnahm. Sie führt mich zu der Frage, ob der Realismus überhaupt noch als zeitgemäßes Konzept angesehen werden kann. Da er historisch eng mit der Moderne verbunden war, spiegelt sich in dieser Frage auch die Diskussion um die Moderne selbst. Wird die Moderne als abgeschlossenes, historisches Projekt betrachtet, dann muss auch der Realismus als Kunstform überholt erscheinen. Tatsächlich überholt sich der Realismus ständig selbst, er ist immer zeitgebunden, weil die Wirklichkeit, die er abbildet, sich verändert. Das, was gesichert schien, durch Erfahrung verifiziert werden konnte, verschwindet. Allerdings verschwindet nicht die Realität als solche, sondern vielmehr ein Konzept, das festlegte, wie mit dieser umgegangen werden sollte. Ist dieses Konzept nicht mehr anwendbar, dann werden wir gleichsam blind für das Reale, wir verlieren unsere Begrifflichkeiten, gleiten in eine Sphäre des Nichtwissens.

Abgrenzung des modernen Realismus von realistischen Darstellungstechniken Ich bin bei meiner Skizze des modernen Realismus auf vormoderne oder frühmoderne Entwicklungsstufen nicht eingegangen, weil diese zu meinem Thema nur wenig beitragen können. Es scheint mir jedoch notwendig, den Realismus im Sinne eines technischen Könnens von einem Realismus abzugrenzen, der ein kulturelles Konzept meint. Detailgetreue Abbildung gab es bereits in der Kunst der Antike. In der Renaissance wurde diese Darstellungsform wiederentdeckt und in deren künstlerisches Vokabular aufgenommen. Der menschliche Körper wurde mit anatomi-

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scher Genauigkeit dargestellt, jedoch überhöhte und idealisierte die Kunst der Renaissance ihn, eine Tendenz, die idealistische Strömungen später übernahmen. Im 18. Jahrhundert erweiterten sich die Vorstellungen über den Realismus. Ein neues Interesse an der Natur bewirkte, dass diese nun als eine eigenständige Einheit wahrgenommen wurde. Dieses Interesse ging von zwei gegensätzlichen Seiten aus: einer, welche die sinnliche Erfahrung, den lustvollen Genuss zelebrierte, und einer, welche die Natur als Verbündete auffasste. Letztere meinte, dass sich mit deren Hilfe die Logik einer fehlgeleiteten Rationalität durchbrechen lassen würde. Beide Haltungen verlangten nach einem Realismus, der auch die innere Verfasstheit des betrachteten Gegenstands zum Ausdruck bringen konnte. Der Realismus »ideologisierte« sich. Diese Ideologisierung führte auch zu neuen Darstellungstechniken. Es ging nun nicht mehr darum die Welt möglichst detailgetreu abzubilden, sie sollte möglichst wahr dargestellt werden.7 Grobe, skizzenhafte und »primitive« Darstellungen galten nun als realistisch, weil sie auf den autochthonen Charakter des Dargestellten verwiesen, auf seine innere, nicht rationale »Logik« und Selbständigkeit. Beides wurde als Wahrheit gedeutet. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse vom Subjektiven zum Kollektiven. An die Stelle der individuellen Natur des Menschen (des Subjekts) trat die Natur der Gesellschaft. Nun hatte der Realismus zum Ziel, Brüche und Verwerfungen der Gesellschaft aufzuzeigen.

Unterschiedliche Realitätskonzepte in Architektur, Literatur und Kunst In der modernen Literatur und Kunst hatte der Realismus von Anfang an eine fortschrittliche Ausrichtung. Hier generierte er Neues: Er zeigte die Gesellschaft und die Dinge so, wie sie waren, nicht so, wie sie erscheinen sollten. Er wendete sich gegen Konventionen und kritisierte. Über lange Zeit wurde der Begriff der Moderne sogar mit dem Begriff Realismus gleichgesetzt: Modern hieß realistisch. Anders in der Architektur: Hier gingen Realitätskonzepte oft mit strukturkonservativen Einstellungen einher. So propagierten beispielsweise die Gartenstädte im 19. Jahrhundert ein ländlich-kleinstädtisches Weltbild, mehrere wurden von patriarchalischen, wohltätigen Großindustriellen initiiert, die konservative Auffassungen vertraten. Aber auch die Architektur der Siedlungsbewegungen oder die sogenannte Reformarchitektur in Deutschland referierten auf einen kleinbürgerlichen Erfahrungshorizont. Diese Architekturen verwendeten Stereotypen, die ihrem Zielpublikum vertraut waren. Sie vermieden formale Experimente, ihr revolutionärer Elan endete, wenn es um ästhetische Fragen ging. Die funktionalistische Architektur der 1920er Jahre übernahm Ideen der Siedlungs- und Gartenstadtbewegung. Sie verwendete jedoch eine neue visuelle Sprache. Ihre Architektur war realistisch, wurde vom Publikum jedoch nicht mit dem

Einführung

Begriff Realismus assoziiert. Manchmal bauten die gleichen Architekt:innen in zeitlichem Abstand in unterschiedlichen Stilen: zuerst in einer traditionellen Formensprache, etwa im Stil der Reformarchitektur, dann modern-funktionalistisch. Als realistisch galt dem zeitgenössischen Publikum meist das ästhetisch anspruchslosere, frühere Werk.8 Nach Ansicht Le Corbusiers bildete die moderne Wirklichkeit die Logik der industriellen Produktionsweise ab. Die Gesellschaft sollte dies anerkennen und sich an diese neue Realität anpassen. Für die Gesellschaft seiner Zeit jedoch hatte die moderne Industriewelt einen zwiespältigen Charakter. Sie verwehrte sich dagegen, dass die Logik der Technik alle Lebensbereiche durchdringen sollte. In den 1950er Jahren bildeten sich zwei sehr unterschiedliche realistische Tendenzen heraus: eine pragmatische, die eine gesteigerte Sensibilität für Materialien einbrachte und auf schlichte, einfache Formen setzte, und eine soziale, die die Identifikation des modernen Menschen mit seinem Lebensumfeld zu ihrem zentralen Thema machte. Letztere wurde von der Gruppe Team Ten vertreten. Deren Architektur war komplex, versuchte vielfältige und »offene« Raumsituationen anzubieten, die sich die Benutzer:innen in kreativer Weise aneignen können sollten. In dieser Architektur spielte das Unvorhersehbare und Nichtplanbare eine wichtige Rolle, insofern war sie realistischer als andere realistische Architekturen. Ihre Ästhetik wirkte manchmal irritierend, in einigen Fällen auch wenig überzeugend, allerdings war sie nie offensichtlich traditionell.9 Mit Team Ten setzte eine Entwicklung ein, die zu einer Aufwertung der Position der Nutzer:innen führte. In den 1960er Jahre spaltete sich der architektonische Diskurs in zwei Lager: ein politisches, das Architektur ausschließlich als Ausdrucksform des Sozialen ansah, und ein subjektivistisches, das eine Architektur des individuellen Begehrens propagierte. Begleitet wurde diese Diskussion von einer Agenda, die auf Emanzipation und Selbstermächtigung abzielte und Eliten wie auch Expertentum ablehnte. In der Architektur des Begehrens trafen eine populistische Agenda und ein triebhafter Subjektivismus aufeinander, der sich aus dem Unbewussten speiste. Sie wurde zum Modell der Postmoderne und dominierte die Architektur bis in die späten 1980er Jahre. Die Emanzipation, die sie versprach, war relativ, einerseits schienen wesentliche Bedürfnisse des Individuums berücksichtigt zu werden, andererseits wurden neue Wünsche und Begehrlichkeiten künstlich geschaffen. Die Realismen, die sich dann in den 1990er Jahren formierten, übernahmen zunächst den individualistischen Standpunkt der Postmoderne.10 Sie interpretierten das Reale als ein Medium, mit dessen Hilfe sich die Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums erweitern und vertiefen ließ. Die Architektur verwandelte sich in Szenografie, Subkulturen wie Punk oder Heavy Metal wurden zu neuen Leitbildern. Architektur sollte dem Individuum ermöglichen, sich seiner selbst zu versichern, ihm die Erfahrung verschaffen, dass es (noch) existierte.

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Die Architektur des Realen

Das architektonische Ergebnis dieses neuen Sensualismus war widersprüchlich. Für die allgemeine Architekturproduktion erwies er sich als nahezu bedeutungslos, jedoch begründete er einen Kult, ein sogenanntes Ausnahmekünstlertum, das bis dahin unvorstellbare Ausmaße annahm. Die Forderung nach Emanzipation verkehrte sich nun in ihr Gegenteil, in eine beinahe religiöse Verehrung weniger, als außergewöhnlich angesehener Personen, die spektakuläre Inszenierungen produzierten. Gegen diese individualisierte, inszenierte und zunehmend fiktive Form des Realen wandte sich in den 1990er Jahren ein Realismus, der Einfachheit propagierte. Seine Formensprache knüpfte an die Moderne der 1920er Jahre an, jedoch basierte er nicht auf einem sozialreformerischen Konzept. Er bezog sich auf das Normale und Alltägliche, betonte das Konstruktive und forderte eine Ökonomie, die sich wieder an Werten orientieren sollte. Im Vergleich zur frühen funktionalistischen Architektur war er weniger systematisch, zeigte einen sperrigen, manchmal auch heterogenen Charakter. Durch seine pragmatisch-fundamentalistische Ausrichtung unterschied er sich vom Minimalismus, der homogene formale Systeme ausbildete und die ästhetische Tradition des Purismus fortsetzte. Das 21. Jahrhundert brachte eine Rationalisierung der Architektur des Realen. Sie reflektiere nun die Rahmenbedingungen der Bauwirtschaft, ihr Fundamentalismus wich einem pragmatischen Skeptizismus. Zwischen 2010 und 2020 bildeten sich in Europa, vor allem in Frankreich, mehrere realistische Tendenzen, aus denen eine größere Zahl an exemplarischen Bauten hervorging. Die hohe Qualität dieser Architekturen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihre Existenz besonderen Umständen verdankten. Innerhalb des architektonischen Geschehens – das nach wie vor von einem Verlangen nach dem Ikonischen bestimmt wird – nimmt die Architektur des Realen noch immer nur eine periphere Position ein. Mein Buch ist ein hybrides Produkt. Es unternimmt den Versuch, Publikationsformate zu verbinden, die üblicherweise getrennt behandelt werden. Es zeichnet die Geschichte eines Phänomens nach, ist also – mit Einschränkungen – eine historische Darstellung; es wirbt für ein Anliegen und es präsentiert eine Auswahl von konkreten Gebäudebeispielen. Insbesondere Letztere gibt persönliche Vorlieben wieder. Ein Interesse an Architektur wird meist durch eine physische Begegnung mit einer konkreten Architektur hervorgerufen. Das Buch enthält Beschreibungen exemplarischer Gebäude. Diese können die physische Begegnung zwar nicht ersetzen, aber eine erste Vorstellung vermitteln. Sie sind in einer einfachen Sprache verfasst, die sich auch die Freiheit nimmt zu assoziieren. Sie sollen einen persönlichen Eindruck wiedergeben und der Leserschaft ermöglichen, an diesem teilzuhaben.

Zehn Ansätze einer Architektur des Realen

Im Folgenden werden zehn prinzipielle Ansätze einer realistischen Architektur aufgeführt. Nicht alle bilden jeweils eine aktuelle oder historische Strömung ab. Es können auch mehrere Ansätze gleichzeitig in einer realistischen Tendenz vorliegen, allerdings schließen sich egozentrische und sozialreformerische bzw. reflexiv-kritische gegenseitig aus. Ich habe diese Punkte an den Anfang des Buches gestellt, um ihren offenen und thesenhaften Charakter zu betonen.

1. Sozialreformerisch Dieser Ansatz richtet sich gegen die negativen Auswirkungen der Industrialisierung und zielt auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums ab. Es werden Gartenstädte und Siedlungen geschaffen. Das architektonische Erscheinungsbild ist traditionell.

2. Technisch-sachlich Das soziale Leben soll sich an eine neue Wirklichkeit anpassen, die von der Technik geschaffen wurde. Industrielle Produktionsweisen sollen soziale Reformen ermöglichen. Die Architektur experimentiert mit neuen Ausdrucksformen. Diese Haltung wurde von funktionalistischen Architekt:innen des Neuen Bauens und von Le Corbusier in den 1920er Jahren vertreten. In der Architektur Le Corbusiers wurde ihre sachlich-realistische Ausrichtung durch eine formale, individuell-lyrische Herangehensweise überlagert.

3. Pragmatisch-stofflich Damit ist eine Architektur knapper Ressourcen gemeint, meist nüchtern-sachlich. Abbruchmaterialien und historische Gebäudereste werden wiederverwendet, ein

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stadträumlicher Kontext – so er noch existiert – berücksichtigt. Das Material wird wertgeschätzt, das Konstruktive hervorgehoben, die Architektur ist reich an Details. Die Ästhetik ist ambivalent, oft konventionell. Architektonisch anspruchsvolle Lösungen bleiben auf einzelne Bauwerke beschränkt. Der Ansatz ist typisch für die Architektur des Wiederaufbaus in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Es gibt außergewöhnliche Beispiele im Sakralbau.

4. Kritisch, sozial, modern Fehlentwicklungen der Technik sollen korrigiert, lokale soziale Strukturen und Bedürfnisse der Benutzer:innen stärker berücksichtigt werden. Basierend auf anthropologischen und soziologischen Untersuchungen wird eine Durchmischung des städtischen Raums vorgeschlagen. Der urbane Raum wird als Aktionsraum interpretiert, die Architektur soll die Identifikation der Benutzer:innen mit ihrer Umgebung fördern. In den 1950er und 1960er Jahren stand vor allem Team Ten für diese Position. Die Architektur bleibt der Moderne verpflichtet, ihr formales Erscheinungsbild ist vielfältig, manchmal auch widersprüchlich.

5. Populistisch-antiästhetisch Mit diesem Ansatz verbindet sich eine fundamentale Kritik an der Moderne, für die symbolhaft die großen Wohnanlagen des Wohlfahrtstaats, die Satellitenstädte und die Verkehrsinfrastruktur der 1960er Jahre stehen. Eliten und Expertentum werden abgelehnt, die individuelle Befindlichkeit und das persönliche Lustempfinden betont. Es handelt sich um eine Architektur des Begehrens, die sich das Banale und Triviale zum Vorbild nimmt. Ursprünglich revolutionär, nach Selbstermächtigung und Partizipation strebend, wird sie von der Konsumkultur aufgesogen und instrumentalisiert. Ihr kritisches Potential und ihr oft übertriebener Moralismus werden von der postmodernen Architektur in Ironie und wertfreien Relativismus gewendet.

6. Kritisch-regional Regionalismus wird hier als Gegenmodell zu einer universellen Postmoderne verstanden. Es ist ein kritischer Ansatz, der Rationalität einfordert. Er ist realistisch in seiner Fokussierung auf physische Gegebenheiten (Topografie, Klima) und wegen seiner Berücksichtigung lokaler Bauweisen. Letztere förderten einen latenten Traditionalismus wie auch eine ikonische Tendenz. Zeitgemäß-modern interpretierte Beispiele hoher ästhetischer Qualität entstanden in den 1970er und 1980er Jahren.

Zehn Ansätze einer Architektur des Realen

Danach spaltete sich dieser Regionalismus in eine kritisch-realistische und eine weniger kritische, ikonische Richtung.

7. Vitalistisch-expressiv Hierbei wird der städtische Raum als Bühne interpretiert. Architektur soll dramatische Akte setzen und intensive, »existenzielle« Raumerfahrungen ermöglichen. Negativ besetzte Aspekte des urbanen und suburbanen Umfelds (Hässlichkeit, Anonymität, Ort- und Beziehungslosigkeit) werden positiv gedeutet. Der Ansatz beschreibt Architektur als einen volatilen, dynamischen Prozess und ist von starkem Egozentrismus geprägt.

8. Opportunistisch-strategisch Die affirmative Akzeptanz des Trivialen steht im Vordergrund. Typisch ist eine Vorliebe für sehr große und überregionale Projekte. Die Architektur zeigt sich zynischironisch gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber nicht marktkonformen Positionen. Der Ansatz nutzt Mechanismen der Werbewirtschaft und gesellschaftliche Auflösungsprozesse gleichermaßen für seine Ziele. Er ist dabei egozentrisch.

9. Desillusioniert-pragmatisch Diesen Ansatz bestimmt ein weitgehend unkritischer Pragmatismus, der ein aktuelles Wirtschaftsmodell, wie das neoliberale, als unveränderlich und gegeben hinnimmt. Er versucht durch Optimierung bauwirtschaftlicher Vorgaben architektonische Qualität zu generieren, interessiert sich für das Normale und bezieht sich kritisch-reflexiv auf historische und anonyme Architektur. Er zeigt eine populistische Tendenz und deutet soziale Unzufriedenheit als ein Verlangen nach Normalität.

10. Ökologisch-ideologisch In diesem Ansatz dominiert ein ökologischer Funktionalismus. Die Architektur interessiert sich für neue Bauverfahren und neue, ökologische Baumaterialien. Sie visualisiert ökologische Zielsetzungen. Ästhetisch ist der Ansatz oft widersprüchlich, da Nachhaltigkeit und energetische Effizienz von einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Faktoren abhängen.

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Realitätskonzepte

Die theoretische Literatur zum Realismus bezog sich in der Vergangenheit vor allem auf die Literatur und die Malerei. Dabei standen subjektive Aneignungsprozesse und individuelle kognitive Fähigkeiten im Vordergrund. Dass jene Wirklichkeit, die das Individuum unmittelbar wahrnimmt, nicht mit der tatsächlichen Realität gleichgesetzt werden kann, darauf verwies vor allem die marxistisch geprägte Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Das unmittelbar erfahrene Reale ist stets nur ein Ausschnitt. Es ist subjektiv eingefärbt, Teil einer umfassenderen Realität, die sich nur erschließt, wenn die Zufälligkeit des Ausschnitthaften erkannt und überwunden werden kann. Hierfür müssen prinzipiell mögliche Abläufe erdacht und ihre charakteristischen, typischen Merkmale aufgezeigt werden. Das realistische Kunstwerk besteht aus möglichen Anordnungen oder Abfolgen und deutet nicht darstellbare Zusammenhänge an. Exemplarisch soll hierzu in skizzenhafter Weise auf Thesen des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Georg Lukács sowie des Literaturwissenschaftlers Henry Mitterand eingegangen werden. Beide legten dar, dass im Realismus ein konstruktives Moment vorliege. Dabei konnten sie auch auf den Arbeiten der russischen Formalisten aufbauen. Formalistische Ansätze werden in diesem Kapitel anhand eines Artikels des Sprachwissenschaftlers Roman Jacobson dargestellt. Jacobson stellte verschiedene, teils gegensätzliche Realitätskonzepte einander gegenüber. Er kritisierte, dass der Begriff Realismus nicht ausreichend definiert werde und unberechtigterweise für unterschiedliche kulturelle Programme in Anspruch genommen wird. Jacobson und die meisten anderen russischen Formalisten untersuchten fast ausschließlich sprachliche und literarische Phänomene, ihre Thesen wurden jedoch auch in der Kunst, im Film oder in der Architekturtheorie rezipiert, in Letzterer mit mehr als vierzigjähriger Verspätung – ein Umstand, der auf eine Sonderstellung der Architektur hinsichtlich des Realismus verweist. In der Literatur und in der gegenständlichen Malerei war das Material des Realismus eindeutig definiert, es bestand aus einer durch das Soziale geformten Umwelt, aus sozialen Strukturen, in manchen Fällen auch aus unvermittelter, »roher« Natur. In der Architektur hingegen, waren diesen Faktoren nur indirekt, in vermittelter Form präsent. Zudem

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mussten die Gebilde, welche die Architektur schuf, Zwecke erfüllen – anders als bei der Literatur und in der Kunst.

Konstruktive Elemente im Realen Georg Lukács, Henry Mitterand, Roman Jacobson In seinem Aufsatz Es geht um den Realismus1 betonte Georg Lukács den konstruktiven Charakter des Realen. Dieses erschließe sich nicht unmittelbar durch die Wahrnehmung. Das Individuum brauche zusätzliche Informationen, um das Gesehene oder Dargebotene einordnen zu können. Ein erster Eindruck müsse bestätigt und ergänzt werden: »Wenn die Literatur tatsächlich eine besondere Form der Spieglung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist, und sich nicht darauf zu beschränken, das wiederzugeben, was unmittelbar erscheint«.2 Lukács brachte hier zum Ausdruck, dass wir im Allgemeinen das, was sich uns auf den ersten Blick zeigt, mit der Realität gleichsetzten. Dieser ausschließlich subjektiven Perspektive setzte er eine objektive gegenüber. Nach dieser hat das Reale einen selbständigen Charakter, der außerhalb unserer Person liegt. Die Kunst soll diese Selbständigkeit, die mit unseren kognitiven und wahrnehmungstechnischen Fähigkeiten zusammenhängt, aufzeigen. Lukács sprach von einer Oberfläche, die mit Hilfe einer gedanklichen Konstruktion sinnlich erfahren werden könne: »Es geht also um die Erkenntnis der richtigen didaktischen Einheit von Erscheinung und Wesen, das heißt um eine künstlerisch gestaltete, nacherlebbare ›Oberfläche‹, die gestaltend, ohne von außen hinzugetragenen Kommentar, den Zusammenhang von Wesen und Erscheinung in dem dargestellten Lebensausschnitt aufzeigt«.3 Der Realismus – so Lukácz – komme nicht ohne Abstraktion aus. Durch sie entstehe das Typische, eine Form der Verdichtung, die es dem Subjekt ermögliche, den Charakter des Realen zu erfassen. »Jeder bedeutende Realist bearbeitet – auch mit den Mitteln der Abstraktion – seinen Erlebnisstoff, um zu den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit, um zu den tiefer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittelbar nicht wahrnehmenden Zusammenhängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gelangen«.4 Lukács sprach von der »doppelten Arbeit« der realistischen Künstler:innen: Einerseits brauche es »das gedankliche Aufdecken und künstlerische Gestalten«, wofür Abstraktion notwendig sei, andererseits das »künstlerische Zudecken der abstra-

Realitätskonzepte

hiert erarbeiteten Zusammenhänge«.5 Insbesondere diese letzte Formulierung ist hier interessant, geht es doch nicht nur darum, ein Selbständiges aufzudecken und dessen Potential weiterzuentwickeln, sondern auch um die nachträgliche Verschleierung der Abstraktionsvorgänge. Lukács nannte dies »Aufhebung«.6 Durch sie entstehe eine »vermittelte Unmittelbarkeit«, welche die »ganze Oberfläche des Lebens, in allen ihren wesentlichen Bestimmungen« wiedergebe.7 Lukács’ Vorstellung, dass die Wirklichkeit mehr sei, als das, was unmittelbar erscheine, ist in der Literatur und der Kunst sehr weit verbreitet. Dabei hängt es vom jeweiligen Medium ab, wie umfangreich die künstlerische Abstraktion sein muss. Ziel der Abstraktion ist stets, die »Oberfläche« des zu Grunde liegenden Realen zu vergrößern, zusätzliche Stellen zu schaffen, an denen die Wahrnehmung andocken kann. Gelingt es ihr, viele solche Stellen freizulegen, dann kann der Eindruck des Unmittelbaren aufrechterhalten oder perpetuiert werden. Medien, die Abfolgen und Entwicklungen darstellen können – wie der Roman, die Reportage oder der Film –, können sehr viele Standpunkte akkumulieren und damit den der Wahrnehmung zur Verfügung stehenden Raum vergrößern. Allerdings wird in diesen Fällen die Unmittelbarkeit der Erfahrung relativiert. Nur eine beschränkte Zahl an Standpunkten kann gleichzeitig eingesehen werden, frühere Eindrücke werden mit späteren verglichen, die Realität wird in eine Abfolge unterteilt. Erst im Nachhinein kann sie »begriffen« werden. Dabei versucht die rekonstruierende Erinnerung die Zeit, die zwischen den einzelnen Wahrnehmungsereignissen lag, aufzuheben. Die Ereignisse überlagern sich, sie verschmelzen miteinander, hinterlassen einen Gesamteindruck, der als Ganzheit erfahren werden soll. Dafür ist es unerheblich, wann ein bestimmtes Ereignis auftrat und wo es stattfand. Beides – Zeitpunkt und Ort – sind nur mehr als Atmosphäre oder Abdruck einer physischen Anordnung vorhanden. Über ihre Erfahrung als Ganzheit wird die Realität gleichsam eingefroren. Hier kommt die Zeit ins Spiel. Sie hat die Funktion, den Akt der individuellen Begegnung mit einem spezifischen Ausschnitt des Realen zu bewahren. Sie widersteht der Erinnerung, führt an einen Ausgangspunkt zurück, versichert, dass an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, eine Situation vorlag oder ein Ereignis stattfand. Das Räumliche und das Zeitliche bestimmen in einer komplexen Wechselwirkung unsere Realitätserfahrung. Das gilt zumindest für die Literatur. Der französische Literaturwissenschaftler Henry Mitterand meinte, dass im Roman die Erzählung die Zeit privilegiere. In seinem Buch L’illusion réaliste bezeichnete er sie als »das kausale Band der Folgerichtigkeit und Zielgerichtetheit, das die Situationen miteinander in kohärenter Weise verbindet«.8 Dennoch sei die Zeit nicht vom Räumlichen abtrennbar: »Die Orte, […] die Größenverhältnisse, die Distanzen, die Perspektiven, spielen eine wesentliche Rolle sowohl in der Ökonomie der Handlung, […] wie auch bei der

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Zeichnung der Personen, der inneren Didaktik […] und des Schreibstils, kurz, bei allem was den ›Effekt des Realen‹ erzeugt«.9 Mitterand nahm hier Michail Bachtins Konzept des Chronotopos auf, das Zeit und Raum aneinanderbindet. Die »räumlichen Attribute« des Chronotopos, die »Treffpunkte, Beobachtungspunkte [und] Räume, in denen sich Handlungen vorbereiten«, seien »Punkte einer Topologie, die ihre eigenen Gesetze einer realen Kartografie aufzwing[e]«.10 Nach Henry Mitterand wurden im »klassischen« literarischen Realismus zwei starke Methoden und eine schwache verwendet. Als starke Methoden nennt er einerseits ein »prinzipielle[s] Interesse am Psychischen (Realismus der Gefühle, der Leidenschaften, der Charaktere, der psychischen Normalität und Anormalität«, andererseits ein ebenso starkes Interesse »an den Strukturen und den Funktionsmechanismen der Gesellschaft (wirtschaftliche, soziale und institutionelle Realität)«.11 Die schwache hingegen kennzeichne sich durch »ein [anfänglich; Anm. B.D.] schüchternes Interesse am Körper und seinen Regungen (›pulsions‹), [das] von Jahrhundert zu Jahrhundert stärker wurde«.12 Dem literarischen Realismus im Allgemeinen schreibt Mitterand generell eine stark ausgeprägte formale und »illusionistische« Komponente zu. Er interpretiert den Begriff Realismus auch in einem transzendentalen Sinne, wie Lukács als Durchscheinen eines Wesentlichen. Darauf verweist ein Zitat von Guy de Montpassant, das Mitterand im Vorwort seines Buchs anführt: »Wahrheit herzustellen heißt, eine vollständige Illusion des Wahren zu vermitteln, nach einer üblichen Logik der Ereignisse, und sie nicht sklavisch, im Durcheinander ihres Aufeinanderfolgens, abzubilden«.13 Der Realismus war stets auch mit ästhetischen und formalen Einstellungen verknüpft, ein Umstand, der wegen seiner ursprünglich antiästhetischen Ausrichtung leicht übersehen wird. In diesem Zusammenhang sind die russischen Formalisten von Interesse. Ihre Konzepte entstanden in einer Zeit, in der die russische Literatur auf eine lange Tradition naturalistischer und realistischer Strömungen zurückblicken konnte. Die Formalisten grenzten sich von diesen ab, gleichzeitig kritisierten sie die illusionistischen und symbolistischen Tendenzen ihrer Zeit. Sie versuchten den individuellen, kreativen Prozess des literarischen oder bildnerischen Gestaltens zu objektivieren, Verfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Kunst nach wissenschaftlichen Kriterien produzieren lassen würde. Im Jahr 1921 veröffentlicht Roman Jakobson einen Artikel zum Realismus in der Kunst,14 in dem er kritisiert, dass sehr unterschiedliche Kunst- und Literaturströmungen sich als realistisch ausgeben würden. Jakobson schreibt aus der Sicht eines Sprachwissenschaftlers, sein Artikel beschäftigt sich insbesondere mit sprachlichen Phänomenen, nur nebenbei streift er den Realismus in der bildenden Kunst. Er erläutert, dass wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs, wie auch der Sprache insgesamt, die Definition des Realismus besonders schwierig sei. Der Unschärfe des Gegen-

Realitätskonzepte

stands (der Sprache) entspreche ein gänzlich unkritischer Umgang mit dem Begriff von Seiten der Kritik wie auch insbesondere der Kunstschaffenden selbst.15 Er skizziert fünf verschiedene Realitätskonzepte (mit A bis E bezeichnet), die sich teilweise in Unterkonzepte unterteilen. Ihre Komponenten verschieben sich im Verlauf seiner Beschreibung, so dass Teile von B sich auch in C finden lassen und E teilweise auch den Kategorien C oder B zugeordnet werden kann. Der Artikel endet mit einem positiven Ausblick, indem er festhält, dass – trotz aller Missverständlichkeit des Begriffs und der Fehlerhaftigkeit der getroffenen Annahmen – es eine Realität gebe, die unbestritten und für jede Person einsichtig bleibe. Diese ermögliche mehrere »subjektive« Interpretationen des Realen: »[N]iemand wird ein Fenster unter Zuhilfenahme des Wortes Türe beschreiben, was allerdings nicht heißt, dass das Wort Türe nur eine Bedeutung hat«.16 Jacobson sieht die Grundproblematik bereits durch die unterschiedlichen Standpunkte gegeben, von denen die Kunstschaffenden und die Kritik jeweils ausgehen. »Was ist der Realismus für den Kunsttheoretiker? Es ist eine Kunstströmung, die sich zum Ziel genommen hat, die Realität so getreu wie möglich wiederzugeben, und die nach maximaler Wahrscheinlichkeit strebt. […] Hier beginnt bereits die Ambiguität: 1) Es handelt sich um ein Bestreben, um eine Tendenz; man nennt ein Werk realistisch, das ein Autor als wahrscheinlich vorschlägt (Bedeutung A). 2) Man nennt ein Werk realistisch, [dessen Inhalt; Anm. B.D.] derjenige, der es beurteilt, für wahrscheinlich hält (Bedeutung B). [I]n der Kunstgeschichte werden diese beiden Bedeutungen des Ausdrucks ›Realismus‹ […] verwechselt. Man schreibt einem individuellen Standpunkt einen objektiven und absolut authentischen Wert zu. Man unterschlägt das Problem des Standpunkts [das jeweilige Verhältnis zum Werk; Anm. B.D.]. Man ersetzt unmerklich die Bedeutung B durch die Bedeutung A.«17 Da die Bedeutung A eng an die persönlichen Ambitionen der oder des Schreibenden gebunden ist, gehen aus dieser Sicht viele Werke hervor, die sich als realistisch deklarieren. Wesentlich weniger Werke hingegen wird die Kritik (Bedeutung B) als realistisch erachten, da sie versucht einen objektiveren Standpunkt einzunehmen. Das Publikum jedoch unterscheidet nicht zwischen einer internen, subjektiven und einer externen, kritischen Sicht, es nimmt alle »Realismen«, die ihm vorgeschlagen werden, als gegeben an. Der Begriff des Realismus wurde zu Jakobsons Zeit zudem noch mit einer historischen Kunstrichtung des 19. Jahrhunderts in Russland assoziiert (Bedeutung C), so dass die Literaturkritik auch diese Richtung und die künstlerischen Schulen, die sie hervorgebracht hatte, als realistisch bezeichnete.

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Die Architektur des Realen

»Man präsentiert uns einen Sonderfall [den historischen Realismus des 19. Jahrhunderts; Anm. B.D.] als vollkommene Realisierung der in Frage stehenden Tendenz; um den Grad an Realismus [einer] frühere[n] oder spätere[n] künstlerischen Schul[e] zu bestimmen, vergleicht man diese mit dem Realismus des 19. Jahrhunderts.«18 Im Realismus des 19. Jahrhunderts spielte die detailgetreue Abbildung (von Jacobson »vraisemblance« genannt) eine wichtige Rolle. Jacobson meint, dass das Verfahren objektiv-genauer Abbildung zwar in der gegenständlichen Malerei und Kunst eine Berechtigung habe, in der Literatur jedoch keinen Sinn ergeben würden. Er erläutert auch, dass sogar in der gegenständlichen Malerei die Darstellungsform von Annahmen und Sehweisen abhänge, die erlernt und als Konventionen weitergegeben wurden, so dass es sich auch hier nicht um eine vollständig objektive Wiedergabe der Realität handeln würde. »Mit der schrittweisen Anhäufung von Traditionen wird das Bild zu einem Ideogramm, einer Formel, die wir unvermittelt mit dem Objekt verbinden«.19 Eine innovative Kunst müsse diese Ideogramme deformieren, sie in einer »ungewöhnlichen Verkürzung« zeigen. Jakobson stellt hier Analogien zur Alltagssprache her: Wenn wir einfach, direkt und expressiv sprechen wollen, dann suchen wir nach anderen Worten als jenen, die üblicherweise in einem bestimmten Kontext verwendet werden. Wir suchen das »richtige« Wort. Wir wählen ein Wort, das wir bisher nicht oder nur selten gebraucht haben, übernehmen es aus einem anderen Kontext. Es kann entweder tatsächlich und eindeutig bezeichnen, was wir ausdrücken wollen, oder es umschreibt den Sachverhalt. In diesem Fall wird dem Wort ein zweiter Sinn hinterlegt. Das »richtige« Wort soll die Wirklichkeit aufschließen, es meint einen größeren Zusammenhang, das tatsächliche Ausmaß eines Sachverhalts wird sichtbar. Eine seiner Eigenschaften ist, dass es übertreibt. Jakobson meint, dass in der Übertreibung die Essenz einer Sache (einer Geschichte) sichtbar werde: »Dostojewski schrieb, dass man in der Kunst, um ein Objekt zu zeigen, übertreiben muss; man muss es kolorieren, so wie man die Präparate koloriert, bevor man sie unter das Mikroskop legt«.20 Die verschiedenen theoretischen Positionen, die ich in diesem Kapitel dargestellt habe, sollten skizzenhaft die Bandbreite eines realistischen Ansatzes aufzeigen. Sie stammen aus der Literaturwissenschaft und sind nicht in vollem Umfang auf die Architektur übertragbar. Die beiden Aufsätze von Šklovskij und Jakobson wurden in der Architektur rezipiert, vor allem jener von Šklovskij. Dessen Inhalte werden in anderen Kapiteln dieses Buchs ausführlicher erörtert. Neben der wenig aussagekräftigen Feststellung, dass es mehrere Formen von Realismus gibt, lassen sich aus den besprochenen theoretischen Haltungen einige rhetorische Figuren isolieren, die im Rahmen dieses Buchs immer wieder aufscheinen.

Realitätskonzepte

Da ist einmal der Aspekt, dass in der Kunst stets ein Modell der Realität konstruiert oder simuliert wird. Dieses Modell (die Handlung, Anordnung oder Abfolge) muss glaubwürdig erscheinen. Seine Annahmen müssen wahrscheinlich und in einem moralischen Sinne aufrichtig sein, das heißt, sie müssen auf einer grundsätzlichen Haltung basieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Moral negativ oder positiv besetzt ist. Auch eine Moral, die den Sinn oder die Idee der Wahrheit in Frage stellt, kann aufrichtig sein. Ein zweiter Punkt ist, dass die Realität in der Kunst nicht unmittelbar erfahren werden kann, sie kann nur sehr weitgehend simuliert werden. Bestenfalls blitzt in der Rezeption etwas auf, das über die vorgeschlagene Anordnung hinausweist. In einem solchen Fall wird das Kunstwerk als exemplarische Konkretisierung – als Charakter – erlebt, es verweist auf einen großen Fundus vergleichbarer Anordnungen. Dennoch gibt es immer ein Bewusstsein, dass das Gezeigte eine Vorstellung ist, dass es nicht mit dem tatsächlichen Leben gleichgesetzt werden kann. Ein dritter Aspekt ist, dass das Material, auf das die Konstruktion zurückgreift, konventionalisiert ist. Es besteht aus vertrauten Erfahrungen, bekannten Abläufe, sozialen und institutionellen Strukturen. Neues entsteht durch Verschiebungen, zum Beispiel durch Verwendung eines gebräuchlichen Elements in einem neuen Kontext. Über eine solche Verwendung oder Handlung können bisher unbekannte Aspekte einer Sache freigelegt und Möglichkeiten, die jenseits der Konventionen liegen, aufgezeigt werden. Während in der Literatur die »historische Zeit privilegiert wird«,21 ist in der Architektur der Raum der dominante Faktor. Darin sind die Zeit, aber auch die handelnden Personen enthalten. Die Spuren von Ereignissen, die Handlungen von Personen bilden sich in ihm ab. Architektur kann eine konkrete Situation, sogar mehrere gleichzeitig vorhandene Situationen, wiedergeben. Sie kann im Rückblick auch auf Ereignisse schließen. Dabei handelt es sich jedoch immer um einen zufälligwillkürlichen Ausschnitt, auf den sie mit einer bestimmten Strategie reagiert. Die Diskussion um den Realismus in der Architektur bewegt sich zwischen zwei Polen: der Kapitulation vor einer als nicht planbar begriffenen Realität einerseits und der gegensätzlichen Auffassung, dass Eingriffe, die auf einen Kontext Bezug nehmen, in die Realität eingehen und diese verändern. Die eine Seite plädiert für ein kontinuierliches Herabstufen, orientiert sich an einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die andere meint, dass Realität in einem dialogischen Verfahren hergestellt werden muss und dass hierfür eine Vorstellung über eine zukünftige Realität vorhanden sein muss.

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Die neue Wirklichkeit der Technik

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Realismen, die von einer Zielvorstellung dominiert wurden. Eine dieser Vorstellungen war, dass die moderne Technik zu einer gänzlich neuen Form von Architektur führen musste, eine andere, dass eine zukünftige, egalitäre Gesellschaft sich durch neue Bauformen ausdrücken würde. Die Personen und Gruppierungen, die diese Vorstellungen vertraten, glaubten, dass eine unumkehrbare Entwicklung im Gange sei, die zur Verwirklichung des jeweils angestrebten Ziels führen würde. Indem sie dieser Entwicklung Rechnung trugen, brachten sie eine realistische Haltung zum Ausdruck. Dieser Realismus war somit sowohl realistisch wie auch utopisch. Überwiegend bestätigt wurden seine Annahmen, insofern sie die technische Seite betrafen, seine gesellschaftspolitische Utopie hingegen wurde nicht eingelöst. Der Zeitraum, den ich in diesem Kapitel betrachte, umfasst im Wesentlichen die 1920er Jahre. Ich bespreche zwei Haltungen: jene Le Corbusiers, den ich der technischen Seite zurechne, und jene des Neuen Bauens. Bei Letzterem fand ich zwei Personen interessant, in deren Werk sich sowohl ästhetische wie gesellschaftspolitische Einstellungen überkreuzten: Hannes Meyer und Hans Schmidt. Eine Architektur, die sich über das Soziale definiert, thematisiert die Grenze zwischen Architektur und Nichtarchitektur. Meyer und Schmidt gehörten zur »harten«, funktionalistischen Fraktion des Neuen Bauens, die behauptete, keine ästhetischen Kriterien in ihrer Architektur anzuwenden. Dass dies nicht der Fall war, versuche ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels aufzuzeigen. Bei Hans Schmidt liegt zudem eine komplexe Wechselwirkung zwischen ästhetischem Anspruch und gesellschaftspolitischem Engagement vor. Seine architektonische Haltung veränderte sich im Laufe seines Lebens. Ende der 1920er Jahre realisierte er funktionalistisch-moderne Gebäude, in den 1940er Jahren – nach seiner Rückkehr in die Schweiz – traditionell anmutende Einfamilienhäuser.

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Die Architektur des Realen

Die doppelte Realität der Moderne: Le Corbusier und die Revolution Dem letzten Kapitel von Vers une architecture1 hatte Le Corbusier den Titel Baukunst oder Revolution gegeben. Er eröffnete es mit der Feststellung, dass eine Störung der Gesellschaft seiner Zeit vorliege. Die Ursache hierfür sei, dass die technologische Entwicklung den Menschen verändert habe, jedoch »die verschiedenen arbeitenden Klassen der Gesellschaft keine angemessene Ruhestätte«2 mehr hätten. Der Mensch habe durch die Berührung mit der Moderne neue Ansprüche entwickelt, er brauche »Sonne, Wärme, reine Luft und saubere Fußböden [,] weiße und feine Wäsche« sowie »geistige Anregung, körperliche Erholung und eine gewisse Körperkultur«.3 Besonders spürbar sei die Diskrepanz zwischen moderner Arbeitswelt und tradierten Wohnverhältnissen für eine »besondere Klasse geistig Wirkender« die als »treibende soziale Schicht« das moderne Leben entwerfe und organisiere. Während ihrer Arbeit hätten diese ständig die »Auslagen der großen Warenhäuser der Menschheit vor Augen«.4 Wenn sie dann am Abend, nach vollbrachter Arbeit, nach Hause zurückkehrten, fänden sie dort ein »altes, schmutziges Schneckenhaus«5 vor. Diese Umgebung erscheine ihnen unattraktiv und bedrückend. Sie würden die Forderung aufstellen, dass ihr Wohnen so gut organisiert und gestaltet sein sollte wie ihre Arbeitsstätten. Die negativen Auswirkungen der tradierten Wohnverhältnisse beschränkten sich nach Le Corbusiers Meinung nicht auf jene Schichten, die den Fortschritt herbeisehnten. Er beschrieb an anderer Stelle die zersetzende Wirkung eines Zuhauses, das nicht zur modernen Zeit passe, am Beispiel eines Industriearbeiters.6 Diesen demoralisiere sein »scheußliches Zuhause«.7 Da er nicht genug Vorbildung habe, um die freie Zeit, zu der ihn der Schichtbetrieb zwinge, sinnvoll zu nutzen, sei es besonders wichtig, dass sein Zuhause ansprechend gestaltet sei, damit es ihm Wohlbefinden verschaffe. Le Corbusier erwähnte in diesem Kontext auch, dass die Tätigkeit des Arbeiters in der modernen technologischen Gesellschaft streng arbeitsteilig organisiert sei. Ein Arbeiter fertige vielleicht »sein ganzes Leben lang nur ein kleines Teilstück an«.8 Er schrieb dieser Feststellung aber keine demoralisierende Wirkung zu. Das kleine Werkstück sei Teil eines Produkts, das ein gemeinschaftlicher Geist schaffen würde. Durch die Wertschätzung des Produkts erhalte die Arbeit des Arbeiters ihren Sinn, was dieser – wenn er intelligent sei – auch verstehen könne. Als Beispiel für ein solches Produkt führte Le Corbusier einen Rennwagen an. Er hätte an Stelle dieses technologischen Spitzenprodukts auch einen industriell gefertigten Alltagsgegenstand (zum Beispiel einen Staubsauger) illustrieren können. Das hätte jedoch seine These geschwächt. Der Arbeiter sollte sich ja über die gesellschaftliche Anerkennung des Produkts, an dessen Herstellung er mitwirkte, mit seiner Arbeit identifizieren können.

Die neue Wirklichkeit der Technik

Le Corbusier akzeptierte den Konkurrenzkampf als generierendes Prinzip der modernen Gesellschaft. Er beklagte, dass die individuelle Leistung jener, die der »rauen Moral«9 des Wettbewerbs ausgesetzt seien, nicht belohnt würde. In diesem Zusammenhang kam ansatzweise auch eine politisch-revolutionäre Einstellung zum Vorschein: Er kritisierte den »alte[n] Besitz«,10 der auf Erbschaften basiere und Veränderungen blockiere. Es handelte sich bei dieser Kritik jedoch nicht um eine Ablehnung des Privateigentums, sondern um die Forderung, dass auch die unteren Schichten der Gesellschaft in den Genuss privaten Eigentums kommen sollten. Sehr positiv sah Le Corbusier die großen Unternehmen seiner Zeit. Diese hätten neue sittliche Werte entwickelt und seien gesunde und moralische Organisationen.11 Ihre Größe, ihre Unternehmensform und ihre Verwaltung seien revolutionär – verglichen mit der Vergangenheit. Nach Überwindung der zu seiner Zeit herrschenden »veralteten Form von Eigentum« würden große Investitionen der öffentlichen Hand, aber auch private Initiativen, die großen städtebaulichen Projekte der modernen Architektur realisieren.

1: Maison Loucheur, Le Corbusier, 1929. Industrielle Bauweise, maximale Raumökonomie, eine Schiebewand schließt tagsüber das Schafzimmer ab.

Courtesy : Fondation Le Corbusier, bildrecht.at

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Die Architektur des Realen

Am Ende des Kapitels vermerkte Le Corbusier nochmals, dass die Revolution in der Architektur bereits stattgefunden habe. Der tradierte »Gesetzeskodex der Architektur, […] [der] im Verlauf von vierzig Jahrhunderten mit […] Ausführungsbestimmungen überlastet wurde«,12 habe keine Relevanz mehr. Nach Auffassung Le Corbusiers war die Architektur Ausdruck eines neuen Geistes (esprit nouveau), der zu einer neuen Realität geführt hatte. Dieser neuen, auf die Zukunft ausgerichteten Wirklichkeit stand jedoch eine alte Realität gegenüber. Der feindselige Rahmen seines baulichen Umfelds, »sein Zuhause; seine Stadt, seine Straße, sein Haus, seine Wohnung«, würden sich gegen den modernen Menschen erheben und ihn daran hindern, »den gleichen geistigen Weg einzuschlagen, den er bei der Arbeit eingeschlagen hat(te)«.13 Sie würden ihn auch daran hindern, eine Familie zu gründen und innerhalb eines Familienorganismus zu leben, was laut Le Corbusier das wichtigste Anliegen eines jedes Menschen sei. Le Corbusiers Absicht war, eine soziale Revolution zu verhindern. Dies sollte die Baukunst leisten, die nach seiner Ansicht ja bereits eine technische und ästhetische Revolution durchlaufen hatte. Ein nach modernen Prinzipien gestaltetes Umfeld sollte dem Individuum vermitteln, dass es Teil eines großen zivilisatorischen Projekts sei. Architektur sollte ein Umfeld schaffen, von dem das Individuum nicht nur materiell, sondern auch geistig profitieren konnte. Sie sollte mehr sein als die logistische Deckung eines Bedarfs und dieses Mehr sollte allen zu Gute kommen. Dabei war es aus seiner Sicht von untergeordneter Bedeutung, ob die unteren Gesellschaftsschichten sich eine solche neue Architektur wünschten. Nach Le Corbusiers Vorstellung gab es für den einfachen Arbeiter (von Arbeiterinnen sprach er nicht) keine Möglichkeit, einen individuellen Beitrag in das kulturelle Projekt der Moderne einzubringen. Die Lebenswelt des Arbeiters wurde durch die industrielle Arbeitsteilung bestimmt, seine Persönlichkeit auf typische Verhaltensweisen und Reservate – wie etwa »Freizeit« – reduziert. Dies galt jedoch nicht für alle Personen, die damals den nicht gebildeten, unteren Gesellschaftsschichten zugerechnet wurden. An anderer Stelle, in seiner Schrift Une maison, un palais, hatte Le Corbusier den Erfindungsgeist und das konstruktive Geschick anonymer Produzent:innen gelobt. Während der Realisierung seiner Siedlung in Pessac hatte er in den Landes, einem Dünengebiet nahe Bordeaux, Hütten gesehen, die dort von Fischer:innen errichtet worden waren. Er schätzte an diesen provisorisch wirkenden Bauwerken die von Sparsamkeit geleitete Baumethode, die Konzentration auf das Notwendige und Wesentliche. Die Personen, die diese Hütten erbaut hatten, gingen einem traditionellen Gewerbe nach, sie waren nicht in eine moderne arbeitsteilige Produktion eingebunden. Sie hatten sich ihr Wissen selbst angeeignet. Le Corbusier bewunderte ihre Fähigkeit zur Improvisation. So wie die frühzeitlichen Menschen schienen sie noch über ein intuitives Wissen zu verfügen. Aus seiner Sicht besaßen diese Gabe vor allem ungebildete Personen oder Menschen aus Gesellschaften, die noch nicht von der Zivilisation überformt worden

Die neue Wirklichkeit der Technik

waren. Wie Rousseau glaubte er, dass ursprünglich positive Anlagen des Menschen durch die Zivilisation pervertiert worden seien, eine Auffassung, die in krassem Gegensatz zu seiner Technikverehrung stand. Im dritten Kapitel von Vers une architecture beschrieb er ein solches intuitives Wissen. Nach seiner Meinung kam in ihm ein Verlangen nach Ordnung zum Ausdruck. Dieses verkörperte in Le Corbusiers Text ein vorzeitliches Wesen, das er »den Primitiven« nannte. Von seinem Instinkt geleitet hielt dieses Wesen seinen »Karren« an einer topografisch günstigen Stelle an, um seine Behausung zu errichten. Aus den Verfahren, welche dieser »Primitive« anwendet – den Wald roden, eine Einzäunung herstellen, innerhalb dieser einen Unterstand errichten –, destillierte Le Corbusier die Bestandteile seiner Architektur: Stützen, dünne, nicht tragende Wände, Plattformen, die vom Boden abgehoben sind.

2: »Schneckenhaus« – Zeichnung von Hermann Finsterlin (Titel: Landhaus oder Intimes Sanatorium), 1919. Sein Manifest Casa Nova (1924) addressierte die Emotionen seines Publikums: »[K]larstes Jähbewußtsein des Seelenechos im Urwald der Umwelt; ein zweckfreies […] Spielgewirk feinster Kräfte […], deren Fluss in einem Augenblicke höchster Auswägung lustvergessen […] zu einem Stillstand kam«.14

Courtesy: Erben Hermann Finsterlin, bildrecht.at

Le Corbusier zeigte auch Verständnis für die Situation des Industriearbeiters, aber er vertrat gleichzeitig eine elitäre Kunstauffassung, in der Perfektion und

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Leistungsdenken eine dominierende Rolle spielten. Evident wurde diese durch die Bildsprache, die das Kapitel Baukunst oder Revolution illustrierten. Die Abbildungen stammten hier fast ausschließlich aus der Sphäre der Technik, sie zeigten sehr große Anlagen oder technisch herausragende Objekte: ein Stahltragwerk, Kohleverladekräne am Rhein, das mehrere Meter Durchmesser umfassende Schwungrad einer Turbine, Hochleistungsventilatoren, den schon erwähnten Rennwagen, einen Motor der Marke Bugatti, ein Flugzeug, einen Flugzeughangar und eine Testrennstrecke der Fiat-Werke auf dem Dach ihrer Fabrik in Lingotto. Nur drei Abbildungen verwiesen in einem engeren Sinn auf Gebrauchsarchitektur oder alltägliche, moderne Gegenstände: ein Hochhaus in New York, ein Standardmetallfenster US-amerikanischer Produktion und eine Pfeife. Wie Le Corbusier richtigerweise feststellte, hatte die Architektur bereits um 1922 ihre Revolution abgeschlossen. Dabei war es einer kleinen Minderheit gelungen, neue ästhetische Normen zu etablieren. Das zweite Ziel dieser Minderheit, ihr Anliegen, den Menschen durch Architektur ästhetisch und moralisch auf eine neue Stufe zu heben, scheiterte jedoch. Für die meisten Menschen blieben Rationalität und Technik mit der Sphäre der Arbeit verbunden. Sie schätzten ihre Straße, ihre Plätze, ihr Haus und ihre Wohnung. Kehrten sie nach ihrer Arbeit in ihr »schmutziges Schneckenhaus« zurück, das manchmal unaufgeräumt und nicht immer sauber war, dann betraten sie einen Raum, über den sie in jeder Hinsicht – auch in ästhetischer – allein verfügen konnten. Da die moderne Architektur sich als Revolution verstand, konnte sie keine Übergangslösungen für derartige Probleme anbieten. Sie verlangte von den Menschen aufzugeben, was ihnen bisher vertraut gewesen war, und sie versprach ihnen im Gegenzug Gehäuse und Objekte, die diese aus ihrer Arbeitswelt kannten. Problematisch war auch die Auffassung Le Corbusiers (beziehungsweise der Moderne insgesamt), dass arbeitsfreie Zeit effizient genutzt werden müsse. Für die arbeitsfreie Zeit waren zwei Arten von Beschäftigung vorgesehen: Sportausübung oder geistige Fortbildung. Geistige Tätigkeit in der Freizeit sollte effizient sein und auf ein positives Ziel ausgerichtet werden. Dieses Ziel war die Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit. Keinesfalls sollten die Arbeiter:innen – nun, da sie wesentlich mehr freie Zeit zur Verfügung hatten als je zuvor – ihre Gedanken in eine falsche Richtung lenken. Sie sollten nicht unproduktive, »überflüssige« oder gar schädliche Gedanken entwickeln. Doch dieses Konzept einer funktionalisierten, effizienzbasierten Privatheit berücksichtigte nicht, dass gerade im privaten Bereich ein starkes Bedürfnis nach unkontrollierter, nicht zielgerichteter geistiger Aktivität existiert, ein Verlangen nach einem Denken, das – von äußeren Zwängen und einem unmittelbaren Realisierungsdruck befreit – in verschiedenen, sich überlappenden Ebenen ablaufen kann. Innerhalb einer solchen auf Rekreation ausgerichteten Form des Denkens koexistieren konkrete Überlegungen, gedankliche Projektionen und unartikulierte Wünsche in einem fragilen Schwebezustand.

Die neue Wirklichkeit der Technik

3: Grundrisse (Serie I, Blatt 4), Hermann Finsterlin um 1924/25. Unterschiedliche, organisch geformte Räume, mit Nischen und Rückzugsräumen. Ein Gegenmodell zu Le Corbusiers Maison Loucheur.

Courtesy: Foto: © Staatsgalerie Stuttgart, bildrecht.at

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Die Architektur des Realen

Die Menschen, deren geistige Erziehung die Moderne anstrebte, also jene, die nicht bereits der »besondere[n] Klasse geistig Wirkender«15 angehörten, reflektierten vorzüglich das, was sich ihnen aufdrängte: ihre alltäglichen Erlebnisse, unerwartete neue Gegebenheiten, vergangene und geplante Begegnungen, Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten, oder – ganz allgemein – die mehr oder weniger prekäre Situation ihrer Lebensumstände. Sie dachten in ihrem Zuhause nach, aber sie dachten nicht zielgerichtet. Sie beschäftigten sich mit Problemen, die sich nicht lösen lassen würden, oder sie träumten von Zukünftigem: von Dingen, die sie besitzen würden, von neuen Bekanntschaften und Erlebnissen, von fremden Orten. Es musste ihnen widerstreben, dieses meist plan- und ziellose, von Zufällen und nur halb bewusstem Begehren beeinflusste Denken aufzugeben. An die moderne Arbeitswelt mussten sie sich zwangsläufig anpassen, das hieß aber nicht, dass sie deren Formen und deren Ästhetik guthießen, dass sie diese freiwillig in ihr privates Umfeld übernehmen würden. In einem Haus zu leben, das wie eine Fabrik aussah, hieß im Fall eines Fabrikarbeiters oder einer Textilarbeiterin, dass die Arbeit sich visuell und symbolisch im Privaten fortsetzte. Da die meisten in der industriellen Produktion arbeitenden Menschen aber keinen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit hatten, bedeutete dies auch, dass mit den baulichen Kennzeichen der modernen Produktion eine gewisse Form der Fremdbestimmung auf ihren letzten Rückzugsbereich, ihr privates Umfeld, durchschlug. Le Corbusiers »schmutziges Schneckenhaus« verweist auf das ambivalente Verhältnis der Moderne zur Realität oder – genauer – zu jener faktischen Realität, innerhalb derer sich das ästhetische und soziale Projekt der Moderne entwickeln sollte. Aus Le Corbusiers Sicht war die Baukunst vorangegangen, sie hatte auf die Anforderungen des industriellen Zeitalters reagiert. Die Gesellschaft wiederum hatte diesen Schritt noch nicht vollzogen. Die moderne Technik und ihre Ökonomie hatten eine neue Situation geschaffen, Ingenieurbau und Architektur hatten die Städte, die ländlichen Gebiete, auch die Landschaft verändert. Diese neue Realität war jedoch eine partielle. Sie war parallel zu einer bestehenden Wirklichkeit entstanden, die auf tradierten Vorstellungen, anthropologischen Konstanten und kognitiven Fähigkeiten basierte. Gegen Mitte der 1950er Jahre wurde erkennbar, dass sich die soziale Realität nicht im Nachhinein an eine technisch-ästhetische anpassen würde. Das Verhältnis der Architektur zum Realen wurde nun zu einem zentralen Thema. Zunächst konzentrierte sich die Diskussion auf die Forderung nach Einbeziehung der Betroffenen in den Planungsprozess. Team Ten, eine Strömung, die der Moderne verpflichtet blieb, plädierte für eine anpassungsfähige, multifunktionale Architektur. Die Gruppe Team Ten vertrat die Auffassung, dass Nutzer:innen sich Architektur über deren Gebrauch aneignen würden. Vermittelte dieser Vorgang neue und positive Erfahrungen, dann ermöglichte er dem Individuum, sich mit seiner Umwelt zu identifizieren. Optionale Nutzungsmöglichkeiten und neutrale Bauformen sollten diesen Aneignungsprozess begünstigen.

Die neue Wirklichkeit der Technik

Radikalere Forderungen stellte die populistische, sozialkritische Urbanistik der 1960er Jahre. Sie verlangte eine Demokratisierung und Kollektivierung der städtebaulichen Planungsprozesse. Beide Strömungen, Team Ten und die populistische, wurden von der aufkommenden Postmoderne abgelöst. Diese reduzierte das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Umwelt auf das Symbolische. Die postmoderne Interpretation sozialer Beziehungen war aber auch Ausdruck einer neuen Verwertungslogik. Diese Logik bestimmte auch die Konzepte nachfolgender Strömungen. Sowohl der dirty realism der späten 1980er Jahre wie auch die Neue Bescheidenheit der 2010er Jahre beriefen sich gleichermaßen auf das Reale. Dabei interpretierten sie dieses entweder vitalistisch oder negativ. Aus Sicht beider Strömungen war Realität der physische Abdruck willkürlich-zufälliger Prozesse. Sie versuchten nicht, in diese Prozesse einzugreifen. Das Neue Bauen in den 1920er Jahren hingegen meinte, dass sich soziale Strukturen durch Architektur definieren und verändern lassen würden. Demnach brachte Architektur nicht bloß eine bestimmte soziale Konfiguration zum Ausdruck. Die Realität schien formbar, sie wurde von Menschen gemacht.

Die Ästhetik der frühen funktionalistischen Architektur In der Kunst- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts galt die Auffassung, dass Architektur bestehende gesellschaftliche Strukturen abbilden würde. Gebäude, die für Privatpersonen errichtet wurden, verwiesen auf eine soziale Schicht, öffentliche Bauten auf eine spezifische Form institutioneller Organisation. Im 20. Jahrhundert veränderten sich die Gesellschaften in Europa und Nordamerika in sehr kurzer Zeit. Neue Formen sozialer Organisation bildeten sich heraus. Die moderne Architektur reagierte auf diese Veränderungen. Neue Darstellungsformen wurden geschaffen, welche diese neuen, sozialen Verhältnisse zum Ausdruck bringen sollten. Darüber hinaus entstand eine neue architektonische Kategorie, gemäß der die Nutzungsweise selbst eine architektonische Intervention sein könne. Architektur würde somit nicht nur soziale Milieus widerspiegeln, sondern durch das Agieren dieser Milieus bestimmt. Nach Adrian Forty16 warf diese Annahme zwei theoretische Probleme auf: Einerseits musste definiert werden, welche Teile des gesellschaftlichen Spektrums die moderne Architektur abbilden sollte (»to conceptualize the society architecture was alleged to represent«), andererseits war zu klären, wie der Gebrauch von Architektur, ihre Benutzung, als ästhetische Kategorie in den Kanon der Architektur aufgenommen werden könnte (»to find a means of incorporating ›use‹ within the aesthetics of architecture«).17 In den 1920er Jahren wurde vor allem im Namen des »Neuen Bauens« in Deutschland gefordert, dass Architektur gesellschaftliche Entwicklungen artiku-

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Die Architektur des Realen

lieren müsse. Nach Forty fiel es den Vertreter:innen des Neuen Bauens jedoch schwer, hierfür ästhetische Kriterien zu formulieren. Im deutschen Kulturraum galten Ästhetik und Gebrauch als unvereinbare Kategorien. Nach der deutschen philosophischen Tradition, die auf Immanuel Kant zurückging, musste das Schöne zweckfrei sein.18 Die Protagonist:innen des Neuen Bauens ignorierten dieses theoretische Problem. Sie setzten eine zweistufige Entwicklung voraus, an deren Ende die allgemeine Akzeptanz der Prinzipien des Neuen Bauens stehen sollte. Demnach müsse mit der modernen Architektur zuerst ein bestimmtes »fortschrittliches« Segment der Gesellschaft angesprochen werden, das exemplarisch die neue Denkund Lebensweise verkörpern konnte. Später würden dann zwangsläufig andere gesellschaftliche Gruppen die offensichtlichen Vorzüge dieses Modells erkennen und übernehmen. Die Frage nach den ästhetischen Kriterien der neuen Architektur »löste« die funktionalistische Fraktion des Neuen Bauens, indem sie ausschloss, dass Ästhetik überhaupt eine Kategorie der Architektur sein könne.19 Die Idee, dass die Benutzung einer physischen Struktur als ein ästhetischer Eingriff bewertet werden müsse, enthielt ein enormes Potential. Eine Architektur, die sich über ihren Gebrauch definierte, konnte flexibel auf Veränderungen reagieren, sie konnte sogar (theoretisch) den Zustand einer Gesellschaft in »Echtzeit« wiedergeben. Vor allem aber stellte sie bis dahin gültige architektonische Kriterien in Frage. Überlegungen und Intentionen, die einer Planung zu Grunde lagen, konnten nun, durch einen Gebrauch, überschrieben werden. Jene, die eine Architektur gebrauchten, spielten plötzlich eine aktive Rolle. Eine Konsequenz dieser Entwicklung war, dass die Architekturschaffenden ihre Haltung gegenüber den Nutzer:innen überdenken mussten. Sie mussten evaluieren, welche Nutzungsweisen von Relevanz sein konnten, und dafür architektonische Angebote formulieren. Dabei mussten Gebrauchsformen, die negative Folgen haben konnten, ausgeschlossen werden. Darüber hinaus mussten sie auch neue architektonische (ästhetische) Formen erfinden, welche die Veränderungen, die eine Nutzung bewirkte, darstellen konnten. In den 1960er Jahren plädierten Aldo van Eyck und Herman Hertzberger für eine Architektur des Gebrauchs. Sie planten in ihren Gebäuden Elemente ein, die von den Nutzer:innen in kreativer Wiese gedeutet und verwendet werden sollten. Allerdings führte die Nutzung solcher architektonischer Angebote nicht zu einer Veränderung der baulichen Substanz. Dies war nur der Fall, wenn Gebäude in einem unfertigen Zustand an ihre zukünftigen Nutzer:innen übergeben und von diesen dann nach eigenen Vorstellungen fertiggestellt werden konnten. Die strukturalistische Architektur in Holland versuchte fallweise solche Schnittstellen zu definieren. Sie entwickelte eine Ästhetik, die suggerierte, dass Gebäude provisorisch in Betrieb genommen worden wären. Es zeigte sich jedoch, dass das neue Anforderungsprofil einer Architektur des Gebrauchs von der Architektur und insbesondere der Stadtplanung nur schwer er-

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füllt werden konnte. Wesentliche Planungsgrundlagen waren von zukünftigen Entwicklungen abhängig. Auch setzte eine Evaluierung von Gebrauchsweisen voraus, dass im Einvernehmen mit betroffenen Gruppen gehandelt und divergierende Interessen ausgeglichen werden konnten. Aus Sicht der Sozialwissenschaften und der Psychologie konnte diese sozialpolitische Aufgabe nicht den Architekturschaffenden überlassen bleiben. Auch von außerhalb der Wissenschaft, von Seiten engagierter Nutzer:innen, gab es Widerspruch. In den populistischen Strömungen der späten 1960er und der frühen 1970er Jahre vermischten sich beide Ebenen.20 Architekturschaffende gingen in die Slums lateinamerikanischer oder afrikanischer Städte, um die informellen Organisationsund Bauweisen der örtlichen Communitys zu studieren. Die anonyme, historische Architektur Europas und Afrikas wurde neu entdeckt. An den Universitäten dominierten basisdemokratische Positionen den Diskurs. So plädierte etwa der Soziologe und Urbanist Herbert Gans für eine Pluralität von Stilen und meinte, dass Architekturschaffende nicht das Recht hätten, den Nutzer:innen vorzuschreiben, wie sie leben und wohnen sollten.21 Aus einer derartigen Sicht mussten keine neuen architektonischen Formen gefunden werden. Gemäß dem basisdemokratischen Populismus wurde argumentiert, dass über externe Expert:innen überholte gesellschaftliche und ästhetische Vorstellungen in den Produktionsprozess einfließen würden. Demnach sollten die baulichen Gebilde einer Architektur des Gebrauchs sich ausschließlich aus den Aktivitäten der Nutzer:innen ergeben. Aber auch wenn der Planung eine beratende oder moderierende Funktion zugestanden wurde, stand sie vor einer kaum lösbaren Aufgabe: Sie sollte architektonische Ausdrucksformen entwickeln, die instabile Situationen oder Prozesse visualisieren konnten. Die Vorstellung, dass eine Nutzungsweise in Architektur umschlagen könnte, inspirierte vor allem die architektonische Praxis.22 Aus theoretischer Sicht ergaben sich, neben den bereits angeführten sozialpolitischen und organisatorischen Herausforderungen, grundsätzliche Probleme. Ein Gebrauch basierte notwendigerweise auf Motivationen. Diese konnten direkt, in modifizierter Form, aber auch verfälscht in eine Handlung einfließen. In der Regel musste sich eine Motivation bereits gegen andere Faktoren durchgesetzt haben, um – über die Nutzung, die sie auslöste – eine neue Qualität bewirken zu können. Somit handelte es sich bei einem Gebrauch nur in seltenen Fällen um ein spontanes Agieren. Zudem ließ sich nur sehr ungefähr definieren, welche Art von physischen Ergebnissen aus einer Architektur des Gebrauchs hervorgehen konnten – schließlich verstand diese sich als Prozess. Die Idee, dass Architektur über ihre Verwendung das Leben abbilden könne, tauchte in mehr oder weniger ausgeprägter Form in jeder neuen Phase der modernen Architektur auf. Sie wurde zu einer Konstante des Architekturdiskurses, die sich auf die Formel Architektur = Leben = Realität reduzieren lässt. Dabei wurden die Begriffe Leben und Realität synonym verwendet, obwohl meist ein individuelles Erleben gemeint war. Adrian Forty meinte, dass die moderne Architektur über lange

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Zeit kein Vokabular für die Beschreibung des Sozialen gefunden hätte. Begriffe wie real oder realistisch hätten sich vorzugsweise auf eine strukturell-bauliche Situation bezogen. Mit Ausnahme von Italien sei der Begriff Realismus von Architekt:innen nicht in einem Sinne verwendet worden, der den Ausdruck einer Gemeinschaft von Personen gemeint habe.23 Eine solche Ausnahme sei das INA-Quartier in Rom (1949–1954) gewesen, das für Bewohner:innen errichtet wurde, die aus süditalienischen Dörfern und Kleinstädten stammten. Das Planungsteam habe sich hier explizit auf den italienischen Neo-Realismus berufen, der zu dieser Zeit in Film und Literatur sehr populär war. Es hätte vernakuläre Bauweisen zitiert, die für ländliche Regionen typisch waren, und diese an großstädtische Verhältnisse angepasst. Den zukünftigen Bewohner:innen des Quartiers sollten damit räumliche Situationen angeboten werden, die ihnen vertraut waren. Aus Fortys Sicht relativierte jedoch die populistische Ästhetik der Architektur die sozialen und städtebaulichen Ambitionen des Projekts. Er meinte, sie hätte dem Quartier einen traditionalistischen Charakter verliehen, der die räumlichen Qualitäten der Planung überdeckt hätte. In den 1920er Jahren waren die Konsequenzen, die aus einer Architektur des Gebrauchs hervorgehen konnten, noch nicht absehbar. Das Vertrauen in den technischen Fortschritt war ungebrochen, die Vorstellung, dass soziale und ökonomische Probleme sich mit Hilfe der Technik lösen lassen könnten, allgemein verbreitet. Dabei wurde meist angenommen, dass Einsparungen und Produktionssteigerungen, die durch die Vorfabrikation und die moderne Montagetechnik geschaffen würden, der Gemeinschaft zu Gute kommen würden. Dies war aber nur möglich, wenn sämtliche Investitionen von der öffentlichen Hand oder wohltätigen Organisationen getätigt wurden.24 Retrospektiv wurde das Neue Bauen als einheitliche und dezidiert politische Bewegung wahrgenommen. Jedoch vertraten nicht alle Personen, die ihm zugeordnet werden können, die gleichen Positionen. So gab es etwa im Bauhaus eine Richtung, die formale und gestalterische Aspekte in den Vordergrund stellte. Auch folgten die Lehrmethoden des Bauhauses dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütte. Fortys Ausführungen zum Neuen Bauen trafen vor allem auf die funktionalistische Fraktion des Neuen Bauens zu. Ihr können beispielsweise Ernst May, Otto Haesler, Adolf Meyer oder Hans Schmidt zugeschrieben werden. Aus der Sicht Fortys musste die funktionalistische Suche nach einer Form für das Soziale zu spezifischen ästhetischen Ausdrucksweisen führen. Im Gegensatz dazu meinten Henry-Russel Hitchcock und Philip Johnson, dass die Ästhetik der funktionalistischen Architektur sich nicht grundsätzlich von anderen zeitgenössischen Haltungen unterschieden habe. In ihrem Buch Der internationale Stil 193225 kritisierten sie die funktionalische Auffassung, dass in der modernen Architektur keine ästhetischen Kategorien angewendet würden:

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»Die europäischen Funktionalisten sind primär Baumeister und nur unbewußt Architekten […]. Kritische Autoren sollten sich über Probleme der Formgebung deutlich ausdrücken können, aber Architekten, deren Ausbildung mehr technischer als intellektueller Art ist, können es sich leisten, sich der ästhetischen Wirkungen, die sie produzieren, selbst nicht bewußt zu sein. Da die Arbeiten der europäischen Funktionalisten sich gewöhnlich innerhalb der Prinzipien des Internationalen Stils bewegen, kann man sie auch als dafür typisch in Anspruch nehmen. […] Natürlich schaffen diese Doktrinäre seltener Werke herausragender ästhetischer Qualität«.26 Besonders kritisch bewerteten Hitchcock und Johnson den Funktionalismus des zeitweiligen Bauhausdirektors Hannes Meyer: »Architekten wie Hannes Meyer […] behaupten, daß das Interesse für Proportionen oder für Gestaltungprobleme […] nur ein unglückseliges Relikt der Ideologie des 19. Jahrhunderts sei. […] Modernes Bauen bedeutet für sie Geradlinigkeit; sie verwenden, wo immer möglich, standardisierte Teile und vermeiden schmückende […] Detaillierung. Jede formale Ausgestaltung, jede nicht notwendige Verwendung besonders herzustellender Teile, jede applizierte Ausschmückung würde die Kosten des Gebäudes erhöhen. Es ist jedoch nahezu unmöglich, ein komplexes Bauwerk zu planen und auszuführen, ohne einige Annahmen zu treffen, die nicht vollständig von Technik und Ökonomie determiniert sind. Man kann deshalb durchaus bezweifeln, daß das von den Intentionen her funktionalistische Bauen überhaupt kein potentiell ästhetisches Element enthält.«27 Hitchcock und Johnson argumentierten kunsthistorisch. Ihre Ausstellung und ihr Buch sollten belegen, dass die zeitgenössische Architektur zu einem universellen Phänomen geworden war, das kunsthistorische Kriterien eines Stils erfüllte. Was Hannes Meyer anbelangt, waren ihre Argumente schwach, sie vermochten nicht zu benennen, wie die ästhetischen Elemente beschaffen sein sollten, die sie meinten. Begriffe wie »nicht notwendige Verwendung« oder »applizierte Ausschmückung« konnten wesentliche Qualitäten eines Entwurfs nicht beschreiben. Für Hitchcock und Johnson waren die »führenden Köpfe«28 der modernen Architektur Jacobus Oud, Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius. Die drei Letztgenannten vertraten keine sozialdemokratische oder marxistische Agenda. Le Corbusier meinte, private Großunternehmen könnten den architektonischen und kulturellen Fortschritt fördern, Gropius lehnte eine politische Ausrichtung des Bauhauses – wie sie Hannes Meyer anstrebte – ab, Mies van der Rohe erwies sich als erstaunlich anpassungsfähig in seinen Bemühungen, eine Weiterführung des Bauhauses unter den Nationalsozialisten zu erwirken. Die Architekturavantgarde der 1920er Jahre definierte Modernität nach technischen Kriterien, während in fast allen anderen Bereichen der zeitgenössischen Kultur gesellschaftspolitische Fragen im Vordergrund standen. Die funktionalistische

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Fraktion des Neuen Bauens entsprach dieser allgemeinen Tendenz, in dieser Hinsicht unterschied sie sich von jenen Teilen der Avantgarde, die sich auf ästhetische und formale Theorien beriefen. Dass auch die funktionalistische Architektur ästhetische Kriterien anwendete, erläuterte Adolf Behne in mehreren Passagen seines Buchs Der moderne Zweckbau.29 Behne unterschied zwischen einem rationalistischen und einem funktionalistischen Ansatz, wobei er dem Letzteren die organische Architektur Hugo Härings oder Hans Scharouns zurechnete. Was Behne als rationalistisch beschrieb, wurde später als funktionalistisch klassifiziert. Nach Behne sollte Architektur sich am Kollektiven orientieren: »[D]er Rationalist [betont] die Form[.] Wäre die Menschheit eine reine UndSumme von Individuen, so wäre es wohl möglich, das Haus als reines Werkzeug, rein funktional aufzufassen. Für den, der in der Menschheit […] ein in Raum und Zeit gegliedertes Gebilde [sieht,] treten an das Haus formale Forderungen hera[n] […]. Spitzt nämlich der Funktionalist den Zweck am liebsten zum EinmaligAugenblicklichen zu – für jede Funktion ein Haus! –, so nimmt ihn der Rationalist […] als Bereitschaft für viele Fälle, eben weil er an die Dauer des Hauses denk[t]. […] Jener will für den besonderen Fall das absolut Passende, Einmalige – dieser für den allgemeinen Bedarf das möglichst gut Passende, die Norm.«30 Die funktionalistische Ablehnung des Ästhetischen bezog sich vor allem auf die Fassadengestaltung, aus funktionalistischer Sicht ergab sich eine Fassade aus technischen, organisatorischen und räumlichen Anforderungen. Gerade Letztere wurden jedoch nach ästhetischen Vorstellungen definiert. Als ein Beispiel hierfür sollen zwei Passagen aus Hans Schmidts Aufsatz Prinzipien meiner Arbeit 31 angeführt werden. Schmidt verwendete in seinem 1934 publizierten Text die Begriffe Raumeindruck, architektonische Erscheinung und Kunstmittel: »Da […] der Mensch seine Raumeindrücke hauptsächlich in der Bewegung empfängt, muß auch der Architekt den Raum aus der Bewegung organisieren, das heißt, die Rolle des Transportes – also die Frage: Wo, wohin und wie bewegt sich der Mensch? – wird aus einer rein technischen Frage zu einer der elementarsten architektonischen Aufgaben.«32 »Architektonische Erscheinungen – Flächen, Körper, Farben, Materialien, Pflanzen […] – [werden] nicht als einzelne in sich abgeschlossene Bilder, sondern durch die Bewegung im Raum, nacheinander aufgenomme[n]. […] Das heißt, die Architektur hat andere Gesetze zu erfüllen als die Plastik oder die Malerei. Die Zeit – das Nacheinander – tritt wie beim Film oder wie bei der Musik als wesentliches Kunstmittel hinzu.«33 Auch mit Fragen der plastischen Gestaltung oder der Proportion beschäftigte sich Schmidt, im gleichen Beitrag schrieb er hierzu:

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»Räumliche Harmonie ist nur möglich, wenn die einzelnen Elemente der Architektur als allgemeingebrauchte, typische gestaltet sind, also eine gewisse Universalität in ihren gegenseitigen Beziehungen haben. […] [M]aßstab und Proportion [sollen] nicht absolute Verhältnisse aufstellen, sondern […] die räumliche Beziehung zwischen den Menschen und den architektonischen Elementen […] verdeutlichen.«34 Nach Schmidt ging es nicht um eine Abschaffung des Ästhetischen. Vielmehr sollten neue Methoden erarbeitet werden, um ästhetische Ziele zu verwirklichen. Schmidt und Meyer gehörten zu jener Gruppierung des Neuen Bauens, die am kompromisslosesten nach solchen neuen Wegen suchten. Andere, wesentlich erfolgreichere Protagonist:innen der modernen Architektur verwendeten – neben dezidiert modernen Verfahren – auch tradierte ästhetische Kompositionsweisen. Eine formale Ästhetik gelangte auch über die holländische De-Stjil-Bewegung in das funktionalistische Vokabular. In einigen Bauten von Hans Schmidt ist der Einfluss von Jacobus Oud manifest.

4: Haus Schaeffer in Riehen, Nordansicht, Hans Schmidt (Artaria & Schmidt) 1927–1929.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

Kriterien einer funktionalistischen Ästhetik lassen sich anhand von zwei Bauten aufzeigen, die Hans Schmidt in Bürogemeinschaft mit Paul Artaria zwischen 1927

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und 1929 realisierte. Eines der Gebäude ist das Haus Schaeffer in Riehen, ein Einfamilienhaus, für das ein verhältnismäßig großes oder zumindest damals übliches Budget zur Verfügung stand; beim zweiten handelt es sich um ein Wohnheim für berufstätige Frauen in Basel, das unter sehr ungünstigen politischen und ökonomischen Bedingungen realisiert werden musste. Beide Gebäude wurden als Stahlkonstruktionen geplant und ausgeführt, die mit Leichtbaumaterialien ausgefacht oder mit Ziegel verkleidet wurden. Beide Gebäude existieren noch. Beim Haus Schaeffer wurde der Originalzustand wiederhergestellt, das Wohnheim hingegen wurde durch Umbauten verunstaltet. Unsere Beschreibung bezieht sich auf den ursprünglichen Zustand, wie er nach der Fertigstellung vorlag. Auch die Bildbeispiele und Pläne zeigen diesen. Während sich beim Wohnheim in Basel die Ästhetik aus dem Notwendigen ergab, wurde beim Haus Schaffer überraschend großzügig mit den räumlichen Ressourcen verfahren.

Haus Schaeffer – Hans Schmidt Beim Haus Schaffer schwebt ein großer Teil des Gebäudes über einem offenen, erdgeschossigen Bereich. Die sehr große Terrasse im Obergeschoss ist nur vom Schlafzimmer aus zugänglich, was ihre Nutzungsmöglichkeiten einschränkte. Diese räumlichen Gesten wurden durch relativ kleine Größen der Wohn- und Schlafräume ermöglicht.

5: Haus Schaeffer, Gartenseite 1927–1929.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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Das schwebende Volumen des Obergeschosses stößt asymmetrisch gegen einen querliegenden Baukörper, der Küche, Wohnraum und Treppenaufgang enthält. Aufgrund des Versatzes wirkt das Gebäude weniger elegant, als dies bei einer L-förmigen oder T-förmigen Anordnung der beiden Baukörper der Fall gewesen wäre. Ein ähnliches Konzept schlugen Schmidt und Artaria in einem Vorprojekt zur Siedlung Schorenmatten vor, wobei hier der schwebende Flügel der Reihenhäuser über einem öffentlichen Erschließungsweg liegen sollte, wodurch die überbaute Fläche relativ ökonomisch genutzt worden wäre. Ursula Suter verglich das Haus Schaffer mit einem Doppelhaus, das Le Corbusier 1927 im Rahmen der Stuttgarter Weissenhofsiedlung realisieren konnte. So seien Ähnlichkeiten bezüglich der Farbgebung, der runden Ausbildung des WC-Raums im Erdgeschoss und der Aufständerung eines Gebäudebereichs feststellbar.35 Das Haus Schaeffer wirkt jedoch stabiler, schwerer und homogener als Corbusiers Gebäude aus den 1920er Jahren. Es vermittelt eine starke Materialität und physische Präsenz. Zu diesem Eindruck tragen die massiven Eckstützen des aufgeständerten Geschosses bei, auch die großen länglichrechteckigen Lochfenster des Obergeschosses auf der Gartenseite. An Stelle einer promenade architecturale im Sinne Le Corbusiers gibt es beim Haus Schaeffer einen einhüftigen Erschließungsgang, an den seitlich eine Treppe anschließt. Dennoch ist die Eingangssituation räumlich interessant: Auf einer Seite führen zwei Stufen in den tieferliegenden Wohnraum, auf der anderen leiten zwei Stufen auf ein Zwischenpodest, von dem – im rechten Winkel anschließend – eine Treppe geradlinig in das Obergeschoss führt. Der Gang im Obergeschoss wird über ein schlitzartiges Fensterband belichtet, das durch die verdeckt liegenden Stahlstützen der Tragkonstruktion in drei Abschnitte unterteilt ist.

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6: Haus Schaeffer, Grundrisse.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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7: Haus Schaeffer, Querschnitt (Plan-Ausschnitt).

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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9: Siedlung Schorenmatten, erster Bebauungsvorschlag, Artaria & Schmid 1927/1928.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Claude Schnaidt

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Haus »Zum neuen Singer« – Hans Schmidt Auch beim Haus für berufstätige Frauen in Basel stößt ein Baukörper rechtwinkelig und leicht asymmetrisch gegen ein längliches Volumen. Auch hier ist der Versatz der Bauteile der Lage der Treppe geschuldet. Der Treppenbereich wurde als Vertikalraum konzipiert, die Korridore, die in diesen münden, treffen im rechten Winkel aufeinander. Wie beim Haus Schaeffer tangieren die Gänge das Treppenhaus. Die Fenster des Treppenbereichs und der Gänge liegen auf gleicher Höhe. Diese Entwurfsvorgabe hatte zur Folge, dass die Unterkante der Fenster nur eine Stufenhöhe über dem Niveau der Treppenpodeste liegt. Es gab hier von Seiten der beiden Architekten eine formale Entwurfsentscheidung zugunsten der Fassaden. Die Gangfenster auf der Gartenseite wurden als längliche Schlitze ausgebildet. Sie reichen bis an die Geschossdecke, ihre Unterkante liegt oberhalb des Sichtbereichs, so dass kein Ausblick möglich ist. Hitchcock und Johnson bildeten in ihrem Buch diese gartenseitige Fassade des Straßentrakts ab. Sie wirkt wie ein minimalistisches Manifest. Den langgestreckten Fensterbändern »antworten« große, leicht querformatige Lochfenster, die die Gebäudeecke betonen. Im Erdgeschoss wird das Fensterband durch zwei Türen unterbrochen, deren Oberkante verläuft bündig mit den Fenstern. Es sind diese beiden Türen, die der Fassade ihren ästhetischen Ausdruck verleihen. Sie unterbrechen den Rhythmus der Fensterbänder, allerdings ist diese Unterbrechung so weit wie möglich zurückgenommen: Fenster und Türe erscheinen wie idente Teile, deren Richtung um neunzig Grad gedreht wurde, sie werden als L-förmige Ausschnitte wahrgenommen.

10: Haus für alleinstehende Frauen »Zum neuen Singer« in Basel, Gartenseite, Artaria & Schmidt 1927–1929.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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11: Haus »Zum neuen Singer«, Straßenseite.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

Konventioneller als die Rückseite des Straßentrakts wurde der querliegende Bauteil im Garten gestaltet. In den beiden oberen Geschossen wurden Loggien ausgeführt, die Verglasungen des zweiten und dritten Geschosses springen gegenüber dem Erdgeschoss zurück. Das Bauteil schließt ohne ein vermittelndes gestalterisches Element an den Straßentrakt an, hier trafen Schmidt und Artaria eine pragmatische Entwurfsentscheidung, die der Architektur nicht schadete. Die Straßenseite des Gebäudes verdankt ihre ästhetische Wirkung vor allem den zierlichen Profilierungen ihrer Verglasungen. Die Fenster wurden in vier oder sechs quadratische Felder unterteilt, was zur Folge hat, dass sie sowohl als hautartige Membran wie auch als transparente Fläche wahrgenommen werden können. Einen wesentlichen Beitrag zur Ästhetik leisten hier die Balkone, die vor den Schlafbereichen der Zweizimmerwohnungen liegen. Sie wurden als dünne auskragende Platten ausgeführt, ebenso die Vordächer, die über den Balkonen des zweiten Obergeschosses angeordnet wurden. Von außen werden jeweils zwei Balkone und ein Vordach als zusammenhängende vertikale Einheit gelesen. Eine Seite der Balkone ist mit einem vertikalen Gitter versehen – auch dies war eine ästhetische Entwurfsentscheidung, auch wenn sie wahrscheinlich funktional begründet wurde. Die Geländer der Balkone wurden aus dünnen Stahlrohren und Drahtgittern gefertigt. Sie treten optisch zurück, so dass als Gesamteindruck ein großes Volumen bleibt, das durch vorspringende Platten rhythmisch gegliedert wird. Zumindest war dies so zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Gebäudes. Später wurden vor den Fenstern außenliegende Rollläden angebracht, und die Balkone wurden mit Sichtschutzplanen verkleidet.

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12: Haus »Zum neuen Singer«, Balkone, ursprünglicher Zustand.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Siegfried Giedion

13: Haus »Zum neuen Singer«, Regelgeschoss.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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14: Haus »Zum neuen Singer«, Schnitt. Natürliche Belüftung/Höfe.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

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15: Entwurf Gangbereich (li), ausgeführte Lösung (re.)

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich

16: Haus »Zum neuen Singer«, Treppenaufgang im EG.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

Wirtschaftliche Probleme und Regressforderungen, die mit Kostenüberschreitungen beim Haus für alleinstehende Frauen zusammenhingen, führten zum

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Konkurs der Bürogemeinschaft von Paul Artaria und Hans Schmidt. Im Herbst 1930 übersiedelte Schmidt in die Sowjetunion, um dort als Teil der »Brigade May«36 an großen städtebaulichen Projekten mitzuwirken. Die Euphorie der »ausländischen Spezialisten«,37 ihre Hoffnung, große städtebauliche Interventionen nach Prinzipien des Neuen Bauens realisieren zu können, währte nur kurz. Bereits 1932 begannen sich historisierende Strömungen in der sowjetischen Architektur durchzusetzen, die schließlich in der Architektur des sogenannten sozialistischen Realismus mündeten. Schmidt nahm hier eine ambivalente Haltung ein. Seine marxistische Überzeugung veranlasste ihn, ideologischen Fragen Priorität einzuräumen. Bei den wenigen Entwürfen und Wettbewerbsbeiträgen, die aus seiner Zeit in der Sowjetunion überliefert sind, verwendete er eine klassizistische Formensprache. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz im Jahr 1937 plante er Einfamilienhäuser, die ein traditionelles Erscheinungsbild vermittelten. Als die historisierende Architektur des sozialistischen Realismus in den 1970er Jahren von der Architekturkritik neu bewertet wurde, hatte dies auch Auswirkungen auf die Rezeption des Werks von Hans Schmidt. Die klassizistisch-volkstümliche Ästhetik der Einfamilienhäuser und mancher Siedlungsprojekte der Jahre 1937 bis 1955, der Zeit, in der er in Basel tätig war, wurde nun positiv bewertet. Dass bei Hans Schmidt politische Ideologie und Architektur eine enge Verbindung eingingen, erörterte Kathrin Siebert in einem Beitrag, der den Realismus in der Architektur Hans Schmidts zum Gegenstand hatte. Zu Schmidts eigener Interpretation des Begriffs Realismus meinte sie: »[D]ass Schmidt […] nicht den Begriff Sozialistischer Realismus verwendet, sondern allein vom Realismus spricht. Dies kann als Indiz gesehen werden, dass er sich immer noch an Marx orientierte und versuchte, für sich einen Begriff vom Realismus in der Architektur zu definieren, welcher zugleich dem Marxschen Begriff des Materialismus gleichgesetzt werden kann.«38 An gleicher Stelle beschrieb Siebert Schmidts Bezug zu historischer Architektur, der es ihm ermöglichte, unterschiedliche ästhetische Ausdrucksweisen zu verwenden: »[N]ach 1934 findet man immer wieder den […] Kerngedanken von Schmidt, wonach es in der Architektur der Vergangenheit stets wesentlich gewesen sei, für den technischen, funktionellen und politischen Inhalt der architektonischen Aufgabe einen einheitlichen […] Ausdruck zu finden. Die Berücksichtigung dieser realen Bedingungen führe dann automatisch zu einer realistischen Architektur.«39 Siebert thematisierte in ihrem Beitrag, dass Hans Schmidt wesentliche Anregungen seinem Bruder Georg Schmidt verdankte. Als Kunsthistoriker und Kunstkritiker brachte Georg Schmidt eine übergeordnete, außerarchitektonische Perspektive ein. Nach Siebert hatten die beiden Brüder differierende Auffassungen, was als Realismus in Bezug auf Architektur und Kunst anzusehen sei:

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»[F]ür Georg Schmidt [waren] nicht ästhetische oder wirtschaftliche Fragen entscheidend, sondern gesellschaftliche. […] Für Hans Schmidt, den Architekten, war Wirtschaftlichkeit stets der entscheidende Faktor. Georg seinerseits befürwortete zudem eine Abkehr vom Zwang zum Repräsentativen.«40 Eine ähnliche Ablehnung des Repräsentativen kennzeichnet auch jene Architektur der 1950er und 1960er Jahre, die sich am Alltäglichen und Normalen orientierte. Die Krise des Repräsentativen in dieser Zeit wurde von einem Niedergang des Kollektiven begleitet: Es erwies sich zunehmend als schwierig zu definieren, welche gesellschaftliche Gruppierung durch eine bestimmte Architektur repräsentiert werden sollte. Trotz seines Bemühens um Objektivität, Empirie und Wissenschaftlichkeit vermochte der Realismus marxistischer Prägung sich nie vollständig von idealisierenden und realitätsfremden Annahmen zu befreien. Das Realismuskonzept Georg Schmidts, das Siebert in ihrem Beitrag wiedergab, kann stellvertretend für eine Auffassung stehen, die bis in die 1980er Jahre vorherrschte: »Dem Realismus käme es Georg zufolge, […], auf die innere Wahrheit und die Erkenntnis der Wirklichkeit an. Dem Idealismus hingegen gehe es um eine Erhöhung der Wirklichkeit. Der Naturalismus schließlich […] strebe nach dem […] perfekten Abbild«.41 Zumindest die ersten beiden Definitionen sind problematisch. Der Begriff »innere Wahrheit« kann für beliebige, sehr unterschiedliche Anliegen in Anspruch genommen werden. »Erhöhung der Wirklichkeit« wiederum setzt voraus, dass eine Wirklichkeit als solche erkannt wird. Ein idealistischer Zugang verknüpft die Wirklichkeit mit Vorstellungen, Wünschen und Erwartungen, so dass ein verzerrtes, deformiertes Bild des Realen entsteht. Sieht man von seiner Zeit in der DDR ab, dann gab es im Schaffen von Hans Schmidt zwei ambivalent-pluralistische Phasen und eine »doktrinäre«. Die sehr kurze doktrinäre Phase zwischen 1928 und 1931 begründete seinen Ruf. In dieser Zeit realisierte er in Zusammenarbeit mit Paul Artaria außergewöhnliche Bauwerke, die sich in den theoretischen und ideologischen Kontext des Neuen Bauens einfügten. Die beiden Phasen, in denen ein pluralistischer Ansatz dominierte – vor 192742 und nach 1931 – wurden von einer individuellen Suche und einem starken Pragmatismus bestimmt, wobei mehrfach die Grenze zwischen Architektur und Nichtarchitektur überschritten wurde. Im Rahmen dieser Suche entstanden einige der besten Texte Schmidts. In knapper Form thematisierten diese grundsätzliche architektonische Fragen: Was ist richtig? 43 Wer für wen? 44

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17: Wettbewerbsbeitrag für ein Kulturhaus, Perspektive, Hans Schmidt 1934/1935.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Schmidt

Bundesschule des ADGB – Hannes Meyer Durch seine Verbindung mit dem Bauhaus war Hannes Meyer bekannter als Hans Schmidt. Zwischen 1928 und 1930 plante Meyer in Zusammenarbeit mit Hans Wittwer ein Schulungszentrum für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Bernau. Die Anlage entstand somit etwa zur gleichen Zeit wie das Ledigenheim von Schmidt und Artaria in Basel. In Hitchcocks und Johnsons Ausstellung The international style since 192245 wurde sie jedoch nicht aufgenommen. Dort kam Meyer nur als Randnotiz und Negativbeispiel einer radikal anti-ästhetischen Haltung vor. Von Otto Haesler hingegen wurden zwei Projekte in der Ausstellung präsentiert: das Marie-von-Boschan-Aschrott-Altenheim46 und die Zeilenbausiedlung Rothenburg. Das Altenheim war von einer privaten wohltätigen Stiftung, die Siedlung von einer kommunalen Einrichtung der Stadt Kassel in Auftrag gegeben worden, beide Projekte wurden 1931 fertiggestellt. Die Realisierung beider Bauten wurde vom Hochbauamt der Stadt Kassel betreut. Dass Meyer von Hitchcock und Johnson nicht wahrgenommen wurde, mag auch daran gelegen haben, dass Meyers gestalterische Kriterien sich aus kunsthistorischer Sicht schwerer definieren ließen als jene Otto Haeslers oder Hans Schmidts. Gemäß der kunsthistorischen Betrachtungsweise war man es gewohnt, Gebäuden anhand kompositorischer Merkmale

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zu klassifizieren. Otto Haeslers Bauten stellten die kompositionellen Überlegungen, die ihren Entwürfen zu Grunde lagen, gleichsam aus. Johnson lobte die aus seiner Sicht formal konsequente Architektur des Altenheims in Kassel: »Di[e] verschiedenen Teile, die jeweils ihren eigenen kennzeichnenden Charakter haben, sind zu einer ausgewogenen Komposition zusammengefasst. Die punktuellen Vertikalen der Treppenhäuser kontrastieren mit der allgemein vorherrschenden Horizontalität«.47 Auch bei der Siedlung Rothenburg sah Johnson künstlerische Qualitäten. In der Ausstellung wurde ein Modell der Siedlung gezeigt, das Johnson in einem Text erläuterte: »Obwohl die Teile der Siedlung nach funktionellen Gesichtspunkten angeordnet sind, ist die finale Synthese [der Teile; Anm. B.D.] architektonisch. […]. Die Straßen sind so geplant, dass sie den Geländeverlauf nutzen. Die Schule und der Kindergarten sind vorteilhaft in der Nähe des Zentrums platziert. Aus der Planung, Ordnung und Proportionierung dieser funktionalen Elemente ergeben sich Wahlmöglichkeiten. Die Leistung des modernen Wohnbauarchitekten, der hier eher als Künstler und nicht bloßer Baupraktiker bezeichnet werden muss, sollte an der Qualität der individuellen Wahl gemessen werden, die er aus einer begrenzten Zahl von Möglichkeiten treffen musste.«48 Vergleicht man Haeslers Altenheim mit Meyers und Wittwers Gewerkschaftszentrum, so lassen sich große Unterschiede in der Gestaltung feststellen. Meyer und Wittwer betonten Elemente, die Bewegungsabläufe aufnehmen, Haesler integrierte sie in die Baukörper. Meyer und Wittwer kombinierten verschiedene Systeme – eine Wohnzeile, ein fabrikartiges Unterrichtsgebäude, ein Auditorium, außenliegende Erschließungsgänge, Reihenhäuser für das Lehrpersonal –, Haesler vereinheitliche unterschiedliche Baukörper durch Material und Formgebung. Bei Meyer und Wittwer folgt jede Fassade einer eigenen Logik. So sind beispielsweise die Front- und die Rückseite der Wohnzeile völlig verschieden gestaltet. Die Vorderseite wirkt wie eine Abfolge von Einzelhäusern, die Rückseite wie eine Produktionsanlage. Auf der Vorderseite – zum See hin – wurden die Wohnblöcke mit sehr großen Lochfenstern versehen. Horizontale und senkrechte Wandflächen sind etwa gleich breit, so dass die Fassaden wie große Raster oder Rahmenwerke wirken. Die Wohnblöcke sind in der Höhe gestaffelt, dem Geländeverlauf folgend. An der Vorderseite ist dies ablesbar, an der Rückseite nicht. Dort bestimmen drei Geschosse hohe Pfeiler den optischen Eindruck, zwischen die Gangfenster geringer Höhe eingefügt wurden. An den Gebäudeecken wechselt die Gestaltung: Die Wände bilden mehrere Geschosse hohe, glatte Flächen. Schmale vertikale Fensterschlitze verweisen auf die Lage der Treppenpodeste. Im Gesamteindruck wirkt die Rückseite der Wohnzeile unvorteilhaft, so als hätten ästhetische Überlegungen bei ihrer Planung keine Rolle gespielt. Der außenlie-

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gende Erschließungsgang hingegen, der in Höhe des Erdgeschosses an der Wohnzeile entlangführt, ist aus sowohl konzeptioneller wie auch ästhetischer Sicht interessant. Meyer und Wittwer bildeten dessen Außenseite als Glasfassade aus, sehr ungewöhnlich ist, dass der gesamte Gang – sowohl die Decke wie der Boden – die Neigung des abfallenden Geländes aufnehmen. Das hat zur Folge, dass die Glaselemente an der Ober- und Unterseite schräg verlaufen und die Metallrahmen, in die sie eingefügt sind, Parallelogramme bilden. Allerdings scheint die Wahrnehmung diese Unregelmäßigkeiten zugunsten des visuellen Gesamteindrucks auszublenden. Durch seine Schräglage wurde der Außengang zu einem eigenständigen formalen Element. An seinem Ende, am tiefsten Punkt der Anlage, liegen Unterrichtsräume und die Turnhalle. Über Letzterer wurden drei Klassenräume angeordnet, die durch eine überdeckte Außentreppe und eine auskragende Gangkonstruktion erschlossen werden. Die auskragende Konstruktion des Gangs im Obergeschoss ermöglichte, dass die im Erdgeschoss liegende Turnhalle in gesamter Höhe verglast werden konnte. Bei günstigem Wetter konnten die Glaselemente zu Paketen zusammengeschoben werden, so dass zwischen den Stützen etwa fünf Meter breite Öffnung entstanden. Die Form dieser Stützen ergab sich aus der statischen Beanspruchung, sie schließen schräg an Decken- und Kragträger an. Auf der gegenüberliegenden Seite der Turnhalle, wo eine solche statische Belastung nicht vorlag, treffen Stütze und Träger rechtwinkelig aufeinander. Wahrscheinlich wurden die Glasfaltwände der Turnhalle nur sehr selten geöffnet. Es hätte ausgereicht, nur wenige Elemente mit dieser Funktion auszustatten. Den beiden Architekten war hier jedoch die Ästhetik (oder die Ideologie) wichtiger als die Funktion. In seiner Beschreibung des Gebäudes erklärte Meyer, dass es ihnen ein Anliegen gewesen sei, das Gebäude zur umgebenden Natur zu öffnen: »Während der mehrtägigen Regenperioden lag die Möglichkeit vielseitiger Betätigung und verschiedenartiger Ausblicke in die Natur im Interesse der guten Stimmung. Daher die abwechslungsvolle Abwicklung des Haupt-Glasganges, […] mit Glaswänden, die einen Blick in die Gesamtheit der Schulanlage vermitteln, und mit Fensterfluchten, die nur Wald, nur Natur zum Beschauer sprechen liessen. Die schöne Waldlichtung wurde gärtnerisch möglichst unangetastet belassen. Keinerlei Weganlagen, keinerlei künstliche Anschüttungen oder Erdbewegungen. Soweit Blumen und Sträucher angepflanzt wurden, geschah es im Blickfang des Betrachters aus dem Hausinneren. […] Die einzigartige Waldlandschaft durchdrang […] das Bauwerk des Menschen, dessen Lebenselemente, Stadion, Schwimmbad usw. sich ihr […] einfügten.«49 Ästhetische Überlegungen kennzeichneten auch die Gestaltung der Häuser für das Lehrpersonal. Meyer und Wittwer entwarfen längliche Bungalows, die sie zu einer zickzackförmigen Struktur verbanden. Die zur Straße hin eingeschossigen

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Gebäude liegen auf ihrer Rückseite – zum Grünraum hin – auf Stützen auf. Hier verweist die Architektur auf Le Corbusiers aufgeständerte Bauten, sie ist jedoch weniger konsequent. Es gibt freistehende Pfeiler, aber auch Stützen, die unmittelbar neben Wänden liegen. Die dunklen Hohlräume unter den Wohnebenen wirken ambivalent, sie könnten sowohl als regengeschützte Außenbereiche wie auch als nicht fertiggestellte, noch auszubauende Bereiche gedeutet werden. Von einem Vorrang des Funktionellen wiederum zeugen die sehr flach geneigten Dächer. Die Betonstürze unter den Dächern wurden an ihrer Oberseite schräg abfallend ausgebildet. Hier wurde nicht versucht ein kubisches Erscheinungsbild zu erzeugen, also die Dachneigung hinter einer Attika zu verbergen. Im Gesamten wirkt die Architektur der Anlage undogmatisch, freizügig und dennoch konsequent. Durch die versetzte Anordnung der Bauteile und die Aufständerung von Gebäudebereichen verzahnt sich der Baukomplex mit dem umgebenden Naturraum. An manchen Stellen führt das Nebeneinander verschiedener Teile jedoch zu überbestimmten Raumsituationen, so etwa beim Zugang zur Anlage, wo vier verschiedene architektonische Elemente aufeinandertreffen: ein Flugdach, das einen Zugang andeutet, drei Schornsteine sowie Garagen und eine Laderampe an den Außenseiten des Gebäudes.

18: Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) in Bernau, Luftbild mit See und Wohnzeile, Meyer und Wittwer, 1928–1930.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Alfred Roth

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19: Vorderseite/Wohntrakt.

Foto: Clemensfranz — Travail personnel, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/in dex.php?curid=72586397

20: Turnhalle, Innenansicht.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Haefeli Moser Steiger

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21: Bundesschule des ADGB, Grundriss Erdgeschoss.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Claude Schnaidt

22: Ansichten Rückseite (o.), Empfang (u. li.), »Lehrerhäuser« (u. re.).

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Claude Schnaidt

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23: Bundesschule des ADGB, Axonometrie.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Hans Wittwer

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Meyer versuchte Architektur auf Basis wissenschaftlicher Grundlagen zu definieren, dabei meinte er, dass für die Architektur vor allem die Biologie und die Wahrnehmungspsychologie von Relevanz seien. In einem Beitrag in der Zeitschrift bauhaus formulierte er seine »funktionell-biologische auffassung des bauens als eine gestaltung des lebensprozesses«.50 Laut Meyers Text lagen dem Lebensprozess wenige grundsätzliche Motive zu Grunde, die er in einer zwölf Punkte umfassenden Liste aufführte. An erster Stelle stand das Geschlechtsleben, Punkt drei hieß Kleintierhaltung, Punkt acht Autowartung. Ein größerer Teil des Texts befasste sich mit neuartigen Baumaterialien, die neue Konstruktionsweisen ermöglichten. Meyer forderte, dass Materialien ausschließlich nach ökonomischen Grundsätzen eingesetzt werden müssten. Allerdings zählte er zu diesen auch psychologische Faktoren. So sollten beispielsweise lebhaft strukturierte Holzfurniere als Innenverkleidung verwendet werden, um den »atavistischen Neigungen der zukünftigen Bewohner« entgegenzukommen.51 Die Farbe sei ein »mittel der bewußten seelischen einwirkung oder ein orientierungssystem«.52 Das moderne Haus sei elementar gestaltet, es sei ein »biologischer apparat für seelische und körperliche bedürfnisse«.53 In seinem Manifest postulierte Meyer, dass moderne Gebäude in einer Kompositbauweise ausgeführt werden müssten. Die Gebäudehülle sollte aus mehreren Schichten konstruiert sein, wobei jeder Schicht eine spezifische technische Aufgabe zukomme. Er verlangte – gedanklich stringent –, dass moderne Gebäude als sogenannte Trockenbauten realisiert werden müssten. Bauteile sollten nicht mehr auf der Baustelle gemauert oder gegossen, sondern in Werkstätten und Fabriken vorgefertigt und dann auf der Baustelle montiert werden. Meyers und Wittwers Wettbewerbsprojekt für das Schulungszentrum des ADGB hatte eine solche Bauweise vorgeschlagen. Der ADGB entschied jedoch, dass die Anlage in traditioneller Bauweise, in Beton und Ziegel, errichtet werden sollte. Meyers Manifest prognostizierte Entwicklungen, die später eintrafen und das moderne Bauen maßgeblich veränderten. Allerdings hatten diese andere Auswirkungen zur Folge, als Meyer und die Bewegung des Neuen Bauens annahmen. Die Kompositbauweise verlangte nach einer anderen Ästhetik. Wegen technischer Anforderungen musste hier die Tragstruktur verdeckt werden, der ästhetische Ausdruck eines Materials bezog sich nurmehr auf die äußerste Schicht eines Bauteils. Diese Bauweise widersprach der modernen Überzeugung, dass Architektur die einem Material eigentümlichen, »inneren« Werte zum Ausdruck bringen müsse. Der Begriff der Material- oder Werkgerechtigkeit musste neu definiert werden, da nun eine größere Zahl von Materialien zusammenwirkte und lediglich selten eines dominierte. Zudem besaßen nur wenige der neuen Baustoffe charakteristische Eigenschaften, die visuell oder haptisch wahrgenommen werden konnten. So wurden beispielsweise bereits in den 1920er Jahren Bodenbeläge aus Granulaten oder chemischen Substraten hergestellt oder verschiedene Materialschichten zu Verbundelementen verklebt. In solchen Fällen garantierte ein nicht sichtbarer Kern die wesent-

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liche Eigenschaft (Statik, Wärmedämmung oder Feuchteschutz). Mit der Entwicklung neuer Produktionsverfahren verringerte sich die Dicke der äußeren Schicht: aufgeklebte Deckbleche oder Kunststofflagen wurden durch Folien ersetzt, diese später durch Siebdrucke oder Beschichtungen. Eine Konsequenz hieraus war, dass die Architektur abstrakter wurde und formale Aspekte wieder an Bedeutung gewannen. Historisch gesehen war die Kompositbauweise nicht so neu, wie Meyer meinte. Gottfried Semper hatte bereits eine Theorie formuliert, die zwischen tragender Struktur und äußerer Hülle unterschied. Nach Edward Ford war eine Unterscheidung zwischen monolithischen und mehrschichtigen Bauweisen auch in der Theorie der Beaux-Arts gebräuchlich. Ford meinte, die Moderne habe später aus ideologischen Gründen monolithische Systeme präferiert: »Julien Guadet, der Haupttheoretiker der Beaux-Arts am Ende des 19. Jahrhunderts, erkannte beide Systeme als annehmbare Bauweisen an, und viele Architekten setzten beide Systeme gleichzeitig ein. Die Moderne der zwanziger und dreißiger Jahre ändert dies. Diese Ära des revolutionären Dogmas akzeptierte nicht zwei sich widersprechende Methoden für die Lösung des gleichen Problems. Die Wahl der Moderne fiel auf das monolithische System […]. Solange die Moderne ihren moralischen Ernst und ihre revolutionäre Rhetorik wahrte, behielt sie auch ihre Vorliebe für monolithische Sichtbausysteme«.54 Ford beschrieb Schlüsselbauten der Moderne, bei denen das Streben nach einer monolithischen Bauweise zu technischen Problemen und Kostenerhöhungen geführt hatte. Was genau die Moderne unter monolithischem Bauen verstand, ist allerdings nicht ganz eindeutig. Für Le Corbusier, der in seiner frühen Architektur einfache geometrische Körper, plastische Elemente und Proportionssysteme verwendete, war die glatte, homogene Fläche entscheidend. Hier war es von untergeordneter Bedeutung, was unter oder hinter einer Oberfläche lag. Für Hans Schmidt hingegen ermöglichte die verdeckt liegende Stahlkonstruktion ein ökonomisches Bauen. Da dies ein zentrales Anliegen Schmidts war, hatte die Konstruktion in diesem Fall auch eine symbolische Funktion, sie repräsentierte ideologische Werte. Bei den Bauten, die Schmidt zwischen 1927 und 1931 gemeinsam mit Paul Artaria realisierte, zeichnete sich die Tragstruktur in der Außenerscheinung ab. Schmidt versuchte Konstruktion und Raumgestalt zu verbinden, was ihm auch immer wieder gelang. Die Moderne der 1920er Jahre war realistisch in ihrer Analyse der technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit, die sozialen und ökonomischen Auswirkungen, die sich aus diesen ergeben würden, schätzte sie falsch ein. Sie nahm an, dass neue gesellschaftliche Formen sich nach ähnlichen Grundsätzen herausbilden und verändern würden wie technische. Le Corbusier meinte, dass durch Aufklärung alle gesellschaftlichen Gruppierungen von den Vorzügen der neuen Architektur überzeugt werden könnten. Traditio-

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nelle Strukturen, die mit der modernen Architektur nicht kompatibel schienen, sollten aufgegeben werden. Auch im Privaten sollte es keine Residuen für nicht moderne Lebensformen geben. Das »schmutzige Schneckenhaus« Le Corbusiers, ein fensterloses Gehäuse, in das sich der Mann oder die Frau von der Straße nach getaner Arbeit zurückziehen konnten, stand symbolisch für eine Welt, die es zu überwinden galt: eine Welt, in der das Irrationale die Logik außer Kraft setzten konnte, in der sich widersprechende Auffassungen gleichzeitig existierten, in der das Mittelmäßige und Normale das Denken bestimmten, in der es unentdeckte, unkontrollierte, hässliche und schmutzige Bereiche gab. Hannes Meyer teilte Le Corbusiers Auffassung, dass die Gesellschaft nach einer gewissen Zeit die Vorzüge der Moderne erkennen und deren Prinzipien übernehmen würde. Anders als Le Corbusier glaubte er jedoch nicht, dass die Nutzer:innen seiner zukünftigen Architektur ausschließlich nach rationalen Kriterien handeln würden. Meyer versuchte nicht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Bewohner:innen ermöglicht hätten, das Erscheinungsbild ihrer Häuser mitzubestimmen, aber er hielt ihre »atavistischen Neigungen« immerhin für so wichtig, dass er sie berücksichtigte. Meyer wurde 1928 zum Direktor des Bauhauses berufen. Diese Funktion hatte er nur bis 1930 inne. Er nahm eine durchaus kritische Haltung gegenüber der Bauhauslehre der 1920er Jahre ein. Insbesondere kritisierte er deren primär ästhetische Herangehensweise, die »aus jedem Teeglas ein problematischkonstruktives Gebilde«55 machen würde. Nach Le Corbusier, Hans Schmidt und Hannes Meyer musste der technische Fortschritt zwangsläufig zu einer neuen, veränderten Umwelt führen. Realismus bedeutete für alle drei, dass die Architektur Ausdrucksformen entwickeln sollte, die dem Geist der modernen technologischen Entwicklung entsprachen. Schmidt und Meyer glaubten zudem, dass auch die Gesellschaft ihrer Zeit neue Formen des kollektiven Lebens hervorbringen müsse. Die neue Gesellschaft, die sie herbeisehnten, sollte nach rational-technischen Gesichtspunkten organisiert sein – nach Meyer ergab sie sich auch aus biologischen Vorgaben. Beiden Architekten war bewusst, dass sich tradierte Vorstellungen nur schwer verändern lassen, beide versuchten, auf Vorstellungen und Anliegen ihres Zielpublikums einzugehen. Meyer verfolgte dabei eine strategische Absicht, indem er Elemente einplante, die sinnliche Erfahrungen vermitteln sollten. Schmidt verwendete nach 1931 neben modernen auch volkstümliche und klassizistisch-historische Architekturformen. Auch in dieser Phase war Schmidts Architektur realistisch. Er kombinierte beides in sparsamer und angemessener Weise. Die politische Praxis hatte Schmidt gelehrt, dass Architekturschaffende nur dann einen Beitrag zur gesellschaftlichen Modernisierung leisten konnten, wenn andere gesellschaftliche Kräfte dies zuließen oder wünschten. Auch hatte er erfahren, dass Emanzipation und Bildung zu unerwarteten Ergebnissen führen konnten.

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Wenn Le Corbusier die Bewohner:innen seiner zukünftigen Architektur beschrieb, dann meinte er einzelne Personen, er ignorierte, dass diese in soziale Gruppen eingebunden waren. Sein Realismus beschränkte sich auf technischrationale Aspekte, wie sie die industrielle Produktion bestimmten. Le Corbusier unternahm keinen Versuch, jene Seite des Realen zu erkunden, in der sich kollektive Muster und verdeckte, unbewusste Motivationen manifestieren, in der Übernommenes transformiert und Neues an bestehende Verhältnisse angepasst wird.

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In diesem Kapitel geht es um Architekturen, die in den 1950er und frühen 1960er versuchten, die Moderne neu zu interpretieren. Die Moderne befand sich in dieser Zeit in einer paradoxen Situation: Einerseits wurden neue Gebäude in großem Umfang errichtet und Städte nach modernen Prinzipen geplant, anderseits verlor die moderne Architektur ihren Sonderstatus. Sie wurde nicht mehr mit einer Avantgarde assoziiert. Nun gab es gute und schlechte moderne Architektur – sehr viel an schlechter oder mittelmäßiger, nur wenig an guter. Besonders problematisch war die Fixierung des Nachkriegsstädtebaus auf die Verkehrsinfrastruktur. Auch die Unterteilung der Neubaugebiete in monofunktionale Zonen und der ökonomische Druck des Wiederaufbaus wirkten sich negativ aus. Die Siedlungen, die am Rande oder außerhalb der Städte realisiert wurden, verwendeten sowohl moderne wie auch traditionelle Bauformen. Ihre städtebauliche Gestaltung basierte meist auf Ideen, welche die Gartenstadtbewegung im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Manchmal wurden große, organisatorisch identische Einheiten in kleinere Wohnblöcke unterteilt und zu pittoresken Agglomeraten verbunden. Verkleinerung und scheinbare Vielfältigkeit sollten dann suggerieren, dass es sich um humane Architekturen handeln würde, welche die individuellen Bedürfnisse der Bewohner:innen mit bedenken würden. Innerhalb der Städte musste ein baulicher Kontext berücksichtigt werden. In vielen Städten existierte dieser jedoch nur noch in fragmentarischer Weise, weil große Teile des baulichen Bestands beschädigt oder zerstört worden waren. Im Allgemeinen war die Haltung gegenüber dem Bestehenden ambivalent, sie schwankte zwischen Rekonstruktion und Abriss. Meist führte die Verkehrsplanung zu großflächigem Abbruch. Entfernt wurden auch Objekte, die den Krieg ohne Schaden überstanden hatten, oder Bauten, die nur leicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die erste Phase der Nachkriegsarchitektur kann als »Notarchitektur« bezeichnet werden, wobei der Begriff »Not« hier sowohl materiell wie auch geistig zu verstehen ist. Not meint einerseits einen Mangel an Stoffen und Produktionsmitteln, andererseits eine schwache Position der modernen Architektur, die in Deutschland und Österreich durch die Emigration, Vertreibung, Ermordung oder

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Marginalisierung vieler Architekturschaffender verursacht worden war. Die Not führte aber auch zu einem Umdenken und einer Neuorientierung. Die wenigen vorhandenen Ressourcen mussten sparsam eingesetzt, ihr bautechnisches Potential geschickt genutzt werden. Ingeborg Flagge meint, dass die Architektur der frühen Nachkriegszeit sogar aus dem Mangel eine »Tugend« gemacht habe: »[D]as Aufwendige, das Beeindruckende wurde als unangemessen angesehen. […] Die Architektur sollte der geistigen und materiellen Not der Zeit entsprechend asketisch sein, zunächst frei improvisierend in der Wahl und Verwendung einfachster Materialien, bescheiden im formalen […] und stadträumlichen Anspruch, gleichwohl von hoher handwerklicher, vor allem aber ästhetischer Qualität«.1 Flagges Einschätzung bezog sich auf das frühe Werk von Joachim und Margot Schürmann. In der Zeit, in der sie ihren Text verfasste, hatte der Minimalismus Hochkonjunktur. Auch meinte sie wahrscheinlich mit geistiger Not nicht den »Braindrain«, den die Emigration der vornehmlich jüdischen Intelligenzia verursacht hatte. Flagge beschreibt eine mentale Disposition und eine moralische Haltung, die Praxis war weniger exquisit. Ästhetische Qualität musste oft widrigen Bedingungen abgerungen werden. In vielen Fällen basierte sie auf einfachen Techniken und durchschnittlichen handwerklichen Fähigkeiten. Die allgemeine Notlage sowie der Material- und Gerätemangel hatten zur Folge, dass hybride Bauverfahren angewendet werden mussten. Bei Neubauten kam auch gebrauchtes Material zum Einsatz. Von außen war dies nicht immer erkennbar. Eine Folge der Mangellage und der Krise der Avantgarde war, dass die Architektur der 1950er Jahre realistischer sein musste, als die Architekturen, die vor oder nach ihr das Bauen bestimmten. Die Akteur:innen verwendeten Materialien und technische Lösungen anlassbezogen. Je nach Art des Kontexts oder der Bauaufgabe konnten sowohl traditionelle Techniken und Materialien wie auch moderne zum Einsatz kommen. Auch innerhalb eines Projekts wurden technisch anspruchsvolle und simple Bauverfahren gleichzeitig angewendet. Anders als die Architektur der Zwischenkriegszeit referierte jene der 1950er Jahre auch nicht auf eine abstrakte zukünftige Gesellschaft. Sie wandte sich an klar definierte Bevölkerungsgruppen, für deren Bedarf sie plante. Mit Ausnahme einiger weniger Gebäude, die unter Schutz gestellt wurden, wurde die Architektur dieser Zeit nur lückenhaft dokumentiert. Sie galt als uninspiriert und langweilig, lange stand sie im Schatten der spektakulären 1960er Jahre. In der Fachpresse wurden vor allem Siedlungsprojekte diskutiert, eine gemäßigt-moderne Form der Architektur, die ich in diesem Kapitel nicht erörtern möchte. Mir scheint es interessanter, auf Projekte einzugehen, die sowohl eine pragmatische Anpassungsfähigkeit wie auch einen neuen und eigenständigen Ansatz aufweisen. Meine These ist, dass in den 1950er Jahren eine frühe sensualistische Architektur entstand, die das Stoffliche betonte, ähnlich zu jener, die dann gegen Ende des

Pragmatismus und Normalität

20. Jahrhunderts aufgetreten ist. Dieser Sensualismus war einerseits klar modern, musste jedoch einen materiellen Bestand integrieren. Er hatte wenig theoretischen Hintergrund, war eher pragmatisch. Interessant ist aus meiner Sicht auch, dass sogar die sakrale Architektur dieser Zeit Symbolik nur sparsam verwendete und eine säkulare Bauweise bevorzugte. Als Beispiele einer stofflichen und pragmatischen Architektur werden drei Kirchengebäude vorgestellt. Eines – St. Andreas von Rudolf Schwarz (Mitwirkung Karl Wimmenauer) – wurde Mitte der 1950er Jahre geplant, die beiden anderen – St. Stephan von Joachim und Margot Schürmann und bzw. St. Laurentius von Emil Steffann (unter Mitwirkung von Gisbert Hülsmann) – wurden 1961 bzw. 1963 fertiggestellt. Bei allen drei Sakralbauten kamen für die Fassaden Sichtziegel zum Einsatz. Alle drei weisen moderne Tragkonstruktionen auf, bei St. Andreas ist diese sichtbar, bei St. Stephan nur teilweise. Anhand von zwei »neorealistischen« Quartieren, die Anfang der 1950er Jahre in Rom entstanden, werden im zweiten Teil des Kapitels Architekturen untersucht, die sich über »anonyme«,2 regionale Baukulturen definieren. Der Sensualismus basiert hier auf der Verwendung traditioneller Baumaterialien. Bei den beiden italienischen Beispielen hatte das Regionale eine identitätsstiftende Funktion. Diese Thematik wird im nachfolgenden Kapitel, Gegen die Bilderflut, wieder aufgenommen und vertieft.

24: St. Stephan, Köln, Joachim und Margot Schürmann 1958–1961, Innenansicht des hohen Bereichs.

Foto: Bernhard Denkinger, courtesy: Peter Schürmann, Stuttgart

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Ein weiterer Aspekt, der in den 1950er Jahren eine große Rolle spielte, war die Wiederentdeckung des Normalen und Alltäglichen. Sowohl regionale, anonyme Bauweisen wie auch Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs wurden zu wichtigen Inspirationsquellen der Architektur und des Produktdesigns. Hierbei wurden Anti-Art-Narrative wieder aufgegriffen, die bereits der Realismus des späten 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Drei dieser Narrative – Ur-Wissen, wissende Praxis, anders Sehen – werden gegen Ende des Kapitels in skizzenhafter Form erörtert.

Das Stoffliche in der Sakralarchitektur der 1950er Jahre Die Kirche St. Stephan in Köln war das Ergebnis eines geladenen Wettbewerbs, den Joachim und Margot Schürmann im Jahr 1958 gewannen. Sie sollte eine Kirche ersetzten, die 1941 zerstört worden war.3 Die Diözese hatte vorgegeben, dass der nur teilweise beschädigte, ehemalige Glockenturm der Vorgängerkirche erhalten werden sollte. Im Wettbewerbsentwurf integrierte das Architektenpaar ihn in seinen Vorschlag. Auf Wunsch der Bauherrschaft wurde das Projekt dann überarbeitet und das Bauvolumen der Kirche vom Glockenturm abgerückt. Da eine Seite des Glockenturms zum Innenraum der früheren Kirche hin offen gewesen war, musste diese baulich geschlossen werden.4 Joachim und Margot Schürmann rekonstruierten sie im Stil der anderen drei Außenseiten des Turms. Die neue Kirche platzierten sie in der Achse des Glockenturms, dessen Material – Sichtziegel – übernahmen sie für den Neubau. Die Architektur der Kirche zelebriert eine Dialektik von Licht und Dunkelheit. Ein niedriger, geschlossener Gebäudesockel umgibt einen hohen gläsernen Quader, dessen Dach von zwölf freistehenden, vergoldeten Säulen getragen wird. Die halbtransparenten, durchscheinenden Glaswände des Quaders sind vom Dach abgehängt, so dass sie zu schweben scheinen. Im Gegensatz zum zentralen, lichterfüllten Raum wirkt der niedrige Bauteil dunkel, schwer und massiv. Seine Sichtziegelwände haben den Charakter einer Einfriedung. Darüber schwebt ein Flachdach, das von der Umfassungsmauer durch einen schmalen Fensterschlitz abgehoben ist. Durch dieses Lichtband fällt gerade ausreichend Licht ein, um erkennbar werden zu lassen, dass es sich bei Dach und Wand um zwei unterschiedliche architektonische Kategorien handelt. Der Zugang zur Kirche liegt auf der Seite des Turms. In diesem Bereich ist die Außenwand durchbrochen. Der Belag des Vorplatzes – ein Kleinsteinpflaster aus Granit – setzt sich in der Kirche fort, der Außenraum wurde gleichsam in das Innere der Kirche hineingeführt. Da die Umfassungswände des niedrigen Baukörpers aus Sichtziegeln erbaut wurden, bilden sie mit dem Turm eine optische Einheit. Die Materialsprache ist reich: Sichtziegel, dunkel beschichtetes Fichtenholz, Granitpflaster, das im Zentralraum mit anderen Steinarten durchmischt ist. Bei

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den Glas-Hängewänden wechseln durchscheinende, milchglasartige Paneele mit weißen, undurchsichtigen Gläsern. Letztere waren ursprünglich nicht vorgesehen und wurden notwendig, weil der Kirchenraum zu viel natürliches Licht erhielt.5 Die sichtbare Stahlhängekonstruktion ist feingliedrig ausgeführt, Die Hängeglieder bestehen jeweils aus zwei senkrechten Profilstäben, die durch Querstege verbunden sind, der statisch notwendige Querschnitt wurde somit auf mehrere Elemente aufgeteilt. Verdeckt liegt hingegen die Konstruktion des Dachrahmens, von dem die Glas-Fassaden abgehängt sind. Technisch anspruchsvolle Details und Sonderlösungen wurden entwickelt, etwa eine Mechanik mit Seilzügen, die das Öffnen hoch liegender Fensterflügel ermöglicht. Einige dieser Bauteile noch heute in Verwendung.6 Obwohl die Architektursprache der Kirche entschieden modern ist, hat sie auch eine gewisse Metaphorik. So stehen die zwölf vergoldeten Säulen für die zwölf Apostel, die symbolisch das Haus der Kirche tragen.7 Die Schürmanns nannten als ihre architektonischen Vorbilder Mies van der Rohe, Le Corbusier und Alvar Aalto.8 Dieser Querschnitt der modernen Architektur war so breit gefasst, dass sich unterschiedlichste Positionen über ihn begründen ließen. Bei St. Stephan ist der Einfluss der Architektur Mies van der Rohes offensichtlich, Konstruktion und Detaillierung wurden jedoch pragmatischer gehandhabt, insbesondere was die Außenerscheinung anbelangt. So wurde die Dachentwässerung sichtbar vor den Sichtziegelwänden des Sockelbauteils geführt, an den Ecken der Glas-Hängewände treffen mehrere Metallkonstruktionen aufeinander, so dass die Ecken massiver wirken als die anschließenden Fassadenflächen. Sowohl beim Gebäudesockel wie auch beim hohen Zentralraum stehen die Flachdächer über, was im ersten Fall auch ästhetisch motiviert war (schwebende Fläche), im zweiten wohl ausschließlich bautechnisch. Die Verblechungen der Dachränder und der senkrechten Abwasserrohre sind naturgemäß weniger präzise als die Stahlkonstruktion der Glasfassaden. Dadurch entsteht ein leichter Widerspruch zwischen perfekt detaillierten Bauteilen und ungenauen, der – anders als der Gegensatz zwischen Sichtziegel und Glasfassade – nicht als kategorialer Unterschied gelesen werden kann. Dennoch verderben diese Ungenauigkeiten nicht das gestalterische Konzept. Was bei Mies zu einer aseptischen Vollkommenheit führen konnte, wirkt hier großzügig-unorthodox.

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25: St. Stephan, Innenansicht mit Lichtband.

Foto: Bernhard Denkinger, courtesy: Peter Schürmann, Stuttgart

26: St. Stephan, Außenansicht.

Foto: Bernhard Denkinger

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27: St. Laurentius, Köln, Ansicht mit Glocke, Emil Steffann mit Gisberth Hülsmann 1960–1962.

Foto: Bernhard Denkinger

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Eine Materialität, die von St. Stephan inspiriert zu sein scheint, findet sich auch bei der Kirche St. Laurentius von Emil Steffann (Mitwirkung Gisberth Hülsmann), die nicht weit von St. Stephan entfernt liegt. Diese Kirche wurde im Jahr 1960 geplant – zwei Jahre nach dem Wettbewerbsentwurf der Schürmanns zu St. Stephan.9 Sie ist die modernste Kirche, die das Büro von Emil Steffann realisieren konnte, und hebt sich von früheren, traditionelleren Arbeiten Emil Steffanns ab. Ihre Fassade wurde aus sogenannten Trümmerziegeln ausgeführt.10 Auch hier gibt es einen Fensterschlitz, der das Dach von den Wandflächen trennt, jedoch nicht an allen vier Seiten, sondern nur an dreien. Das räumliche Konzept von St. Laurentius ist jenem von St. Stephan entgegengesetzt. Nur wenig natürliches Licht gelangt in den Kirchenraum, dessen Zentrum durch einen riesigen kreisrunden Leuchter aufgehellt wurde. Der Raum wird in der Diagonale erschlossen, der Boden fällt zum Altar hin ab. In eine der Außenwände ist eine große Empore eingeschnitten, die sich nach außen als eigener Baukörper abbildet. Von außen wirkt das Gebäude wie ein monolithischer Block, nur eine Glocke, die in der Nähe des Dachrands angeordnet wurde, verweist darauf, dass es sich um eine Kirche handelt.

28: St. Laurentius, Baukörper der Empore (links) 29 St. Laurentius, Außenansicht, Detail (rechts)

Foto: Bernhard Denkinger

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30: St. Laurentius, Grundriss Erdgeschoss.

Courtesy: © Emil Steffann-Archiv, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main; Foto: Politecnico di Bari, Dipartimento di Scienze dell’Ingegneria Civile e dell‘Architettura

31: St. Laurentius, Horizontalschnitt unterhalb des Dachs.

Courtesy: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main; Foto: Politecnico di Bari

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32 St: Laurentius, Schnitt mit Blick auf die Empore.

Courtesy: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main; Foto: Politecnico di Bari

Gemeinsam ist beiden Kirchen eine starke Stofflichkeit. Wände und Decken bilden große, ununterbrochene Flächen, auch das Licht wird nach Art einer Substanz eingesetzt, bildet große Flächen oder fällt durch schmale Schlitze ein. Es entsteht ein Eindruck von Homogenität, dem eine latente Selbständigkeit der Baukomponenten gegenübersteht: Bei St. Stephan sind alle Dachflächen als schwebende Ebenen ausgebildet. Säulen, Wände, Glasfassaden scheinen jeweils einer eigenen baulichen Kategorie anzugehören. Die Architektur zeigt einen gewissen Elementarismus oder Fundamentalismus, der jedoch den Kontext und die ökonomischen Rahmenbedingungen akzeptiert. Elementar wirkt auch das Gebäude von Steffann und Hülsmann. Die großen, in sich leicht unterschiedlichen Ziegelwände erinnern an den englischen new brutalism. Sehr hohe, verdeckt liegende Träger ermöglichen einen großen stützenfreien Raum. Nichts stört die kubische Geometrie des Raums, die Empore ist aus ihm herausgerückt, die Wendeltreppe, die zu ihr hochführt, wie eine Skulptur frei im Raum aufgestellt. Im Vergleich mit St. Stephan wirkt die von Rudolf Schwarz geplante Kirche St. Andreas in Essen konventioneller. Es gibt hier keine schwebenden Dächer oder abgehängte Fassaden, im Gegenteil: Der Kirchenbau scheint fest in der Erde verankert zu sein, ohne vermittelnden Sockel ragen vier halbrunde, turmartige Sichtziegelwände in die Höhe.

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33: St. Andreas, Essen, Außenansicht, Rudolf Schwarz mit Karl Wimmenauer 1957.

Foto: Bernhard Denkinger

Umkreist man die Anlage, dann wird erkennbar, dass eine der Halbschalen von der Mitte der Kirche abgerückt ist und in kurze Wandstücke übergeht. Der Grundriss der Kirche gleicht einem Kreuz, dessen Enden abgerundet sind, wobei

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der längere Schenkel des Kreuzes sich vom Ende zur Mitte hin konisch verjüngt. Die vollständig geschlossenen halbrunden Ziegelwände der Kirche werden durch eine Sichtbetonkonstruktion verbunden, deren Felder ursprünglich mit Glasbausteinen versehen waren. 1997 wurden diese durch eine vom Künstler Jochem Poensgen gestaltete Verglasung ersetzt.11 Dieser Eingriff veränderte den Raumeindruck und verlieh der Kirche einen eleganten, beinahe wohnlichen Charakter. Schwarz hatte die raumhohen, dreifach unterteilten Stahlbetonrahmen, in welche die Verglasungen eingefügt sind, durch zwei sich überkreuzende Betonträger verbunden. Diese heben sich von der Holzverkleidung der Decke ab und visualisieren den statischen Kräfteverlauf. Allerdings wird diese Botschaft relativiert: Aus statischer Sicht wären Querverbindungen zwischen den Enden der Diagonalen logisch gewesen, was jedoch die Deckenfläche stärker unterteilt und einen weniger einheitlichen Eindruck erzeugt hätte. Da das Baugelände stark abfiel und an drei Seiten von Straßen umgeben war, ergab es Sinn, mehrere Zugänge anzubieten. Schwarz sah einen Zugang auf der Westseite vor, der auf Niveau des Kirchenraums liegt. Ein zweiter Zugang erschließt – ein Geschoss tiefer – die Kirche von der Südseite. Von diesem Zugang aus steigt man zwischen zwei Wandschalen eine Treppe empor. In die innere der beiden Wandschalen ist eine Empore eingebaut, zu der – symmetrisch zur Eingangstreppe – eine Treppe hochführt. Neben der Kirche platzierte Schwarz einen Glockenturm, dessen quadratische Form in einen visuellen Dialog mit dem Halbrund der gerundeten Kirchenwand tritt. Zur Straße hin entstand an dieser Stelle ein interessanter Vorplatz. Die Möblierung der Kirche ist schlicht und gleichzeitig elegant. Die Sitzbänke wurden als Rahmenkonstruktionen ausgeführt. Sie wirken transparent, gleichzeitig betont die Möbelgestaltung die Konstruktion. Da man durch die Möblierung hindurchsehen kann, wirkt der Raum weitläufiger und kontinuierlicher, als dies bei einer geschlossenen Möblierung der Fall gewesen wäre. Eine Ausnahme hiervon ist der rückwärtige Altarbereich. Hier entwarf Schwarz eine hufeisenförmige Sitzbank, deren Rückseite durch eine flache Profilierung aus Holz eingefasst wird. Die Möblierung wurde hier zu Architektur, definierte einen eigenen Raum innerhalb des Kirchenraums. Die Architektur von St. Andreas ist normal in einem positiven Sinn. Konstruktion und Details lassen sich leicht nachvollziehen. Individuelle, erklärungsbedürftige Lösungen sind selten. Als eine solche kann vielleicht die gekreuzte Diagonale unter der Decke gesehen werden. Der ungewöhnliche, konische Grundriss des südlichen Teils des Kreuzes hingegen könnte auf eine pragmatische Entscheidung zurückzuführen sein: Die innere Halbschale konnte nicht wesentlich schmäler ausgeführt werden, da sie sonst ihre Funktion nicht erfüllt und auch ihre räumliche Wirkung verloren hätte. So wurde der Grundriss im Bereich der Aufgänge breiter ausgeführt und durch Schrägen an die schmälere Breite des Zentralbereichs angepasst.

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Ich gehe hier nicht auf Ideen ein, die Schwarz in seinen Schriften dargelegt hat. Schwarz gilt als Vertreter einer anderen Moderne, die versuchte, Tradition und Moderne zu verbinden. Seine Polemik gegen die Bauhaus-Moderne, die er mit Walter Gropius identifizierte, wurde ausführlich erörtert.12 Trotz seines herausragenden Werks ist Schwarz jedoch nicht so ohne weiteres als Leitfigur einer alternativen Moderne zu bezeichnen. Dazu war sein Werk zu sehr auf den Sakralbau beschränkt, zudem bediente er sich einer blumigen, oft mystisch anmutenden Ausdrucksweise, welche die Rezeption seiner Ideen behinderte.

34: St. Andreas, Innenansicht.

Foto: Bernhard Denkinger, courtesy: Jochem Poensgen (Glasfenster 1993–2000) und bildrecht.at (Rudolf Schwarz)

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35: St. Andreas, Außenansicht.

Foto: Bernhard Denkinger

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36: St. Andreas, Grundriss.

Courtesy: Erzbistum Köln, bildrecht.at (Rudolf Schwarz)

Das Normale, das Alltägliche, einfache Dinge Nach dem Zweiten Weltkrieg, einer Zeit ständiger existenzieller Bedrohung und allgemeiner Verunsicherung, gab es in den vom Krieg betroffenen Ländern ein starkes Bedürfnis nach Normalität. Die Normalität der Nachkriegszeit war jedoch anders als jene, die in den 1920er Jahren die moderne Architektur eingefordert hatte. Damals hatte sich die Moderne gegen »unlogische« Konventionen gewendet, die durch eine Rückbesinnung auf das Wesentliche überwunden werden sollten. Das Normale oder Alltägliche hatte einen essentialistischen Charakter, es stand für das Notwendige und moralisch Richtige. In der Architektur der 1950er Jahren hingegen nahm das Normale den Charakter einer Ersatzware an. Es sollte suggerieren, dass das Verlorengegangene nicht endgültig untergegangen war. Als normal wurden Satteldächer und Fassaden mit Lochfenstern angesehen. Betongerüste wurden mit traditionellen Materialien, wie Sichtziegel oder Holz, verkleidet. Als normal galten aber auch Glasbausteine, Verkleidungen aus Asbestzement oder Dachdeckungen aus Welleternit. Hier verwies die Verwendung eines neueren, kostengünstigen Materials auf eine ökonomische Realität. In einem innenstädtischen Kontext führte diese Bauweise, die traditionelle Methoden und moderne Materialien gleichzeitig verwendete, manchmal zu interessanten architektonischen Lösungen. Wurden beispielsweise im Erdgeschoss eines Wohnhauses Geschäfte oder Läden vorgesehen, dann wurde die Erdgeschosszone oft dezidiert modern gestaltet.

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Insgesamt wurde die Architektur der 1950er Jahre jedoch durch einen diffusen Pluralismus geprägt, der meist nicht von theoretischen Konzepten ausging. Die Architektur schien sich an einem statistischen Durchschnitt zu orientieren, sie bevorzugte das Vertraute und Gewöhnliche und mied das Extreme oder Besondere. Zulässig war Letzteres nur dort, wo es um höhere oder abstrakte Werte ging, beispielsweise im Sakralbau. Von dieser unauffälligen und unentschiedenen Normalität hoben sich Haltungen ab, die das Alltägliche als Ausdruck einer populären Kultur auffassten. Solche Ansätze vertraten die britische Independent Group,13 aber auch mehrere Gruppierungen innerhalb der italienischen Nachkriegsarchitektur. Aus der Sicht der Independent Group manifestierte sich das Alltägliche und Populäre in der modernen Konsum- und Massenkultur. Die italienischen Gruppierungen hingegen bezogen sich auf verschiedene »autochthone« Kulturen Italiens. Die Entwicklung, die von der Independent Group ausging, habe ich in meinem Buch Die vergessenen Alternativen14 beschrieben, an dieser Stelle gehe ich auf einige Aspekte der italienischen Entwicklung ein. Im europäischen Kontext handelte es sich bei der italienischen Nachkriegsarchitektur um ein Sonderphänomen. In ihr kam die Rückbesinnung auf das Regionale und ein Interesse an anonymen Baukulturen deutlicher zum Ausdruck als in anderen Ländern Europas. Regionalistische Tendenzen gab es zwar auch in Skandinavien, Großbritannien, Deutschland und in mehreren slawischen Ländern. Dort wurden sie jedoch von der Dynamik des Wiederaufbaus oder von politischen Verwerfungen überdeckt. In Großbritannien oder in Deutschland griff die modern-gemäßigte Architektur der 1950er Jahre nicht auf regionale Traditionen zurück. Man übernahm skandinavische Vorbilder, die ihrerseits meist nur sehr allgemein auf lokale Materialien (Holz, Sichtziegel) referierten. In Großbritannien vermischte sich diese Haltung mit einer Vorliebe für pittoreske Anordnungen, was von Reyner Banham15 und den Vertreter:innen des new brutalism heftig kritisiert wurde. In der deutschen Bundesrepublik wurde der Begriff Volkskultur mit der NS-Vergangenheit assoziiert, in slawischen Ländern oft mit politisch konservativen Strömungen. In Italien war verhältnismäßig wenig durch Kriegseinwirkungen zerstört worden. Während der Zeit des Faschismus hatten nur wenige italienische Architekturschaffende das Land verlassen.16 Es gab eine Kontinuität in der architektonischen Entwicklung,17 die sich sowohl positiv wie auch negativ auswirkte. In Reaktion auf ihre rationalistische Vergangenheit und deren Verbindungen zum Faschismus versuchte die Architektur der frühen italienischen Nachkriegszeit sich über das Volkstümliche und das anonyme Bauen zu legitimeren. Beides stand für eine nicht rationale Welt. Die Architektur sollte nicht mehr symbolisch die Werte und Einstellungen der Moderne repräsentieren. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz in Rom, während in Mailand Gruppierungen, die der Moderne verpflichtet blieben, das Geschehen dominierten.18

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Anfang der 1950er Jahre wurden in Rom zwei große Wohnanlagen errichtet, bei denen eine Neudefinition der Architektur über das Volkstümliche und Vernakuläre angestrebt wurde – die Quartiere Tiburtino (1950–1956) und Tuscolano II (1952–1956). Das Team, das Tuscolano II entwarf, konnte Erfahrungen anwenden, die es bei der Planung des Quartiers Valco San Paolo (1949–1953) gemacht hatte. Peter G. Rowe untersuchte, in welcher Weise diese beiden städtebaulichen Interventionen auf vernakuläre Vorbilder referierten.19 Rowe zufolge kam in ihrer Architektur eine Haltung zum Ausdruck, die auf Morris, Pugin und Ruskin zurückging. Nach dieser sollten in der Architektur Elemente verwendet werden, die »allgemein bekannt, [den betroffenen Personen; Anm. B.D.] vertraut und unmittelbar einsichtig« sind.20 Rowe meinte, dass die Architektur des Tiburtino-Quartiers, das von einem Planungsteam unter der Leitung von Ludovico Quaroni und Mario Ridolfi entworfen wurde, dies in expliziter Weise getan habe: »[W]illkürlich variierte Baumassen, geneigte, mit Ziegeln gedeckte Dächer, verputzte Wandflächen und Fensterläden verliehen dem Tiburtino-Projekt eine entschieden pittoreske Anmutung, die an wesentlich ältere ländliche Kleinstädte erinnerte. Auch die Gestaltung der Wohneinheiten innerhalb der großen Parzellen variierte, unregelmäßig angeordnete Reihenhäuser verschiedener Höhe korrespondierten mit Wohntürmen oder kleinen Gruppen von Häusern, die jeweils einen [gestalterischen; Anm. B.D.] Kontrapunkt bildeten. […]. Auch wenn die Geometrie eines Blocks relativ regelmäßig war, erhielt er durch die Anordnung der [einzelnen; Anm. B.D.] Gebäude eine organische, irreguläre Qualität. Diese sollte den Eindruck erwecken, dass das Quartier schrittweise und diskontinuierlich entstanden [sei].«21 Auch bei Tuscolano II (Leitung: Saverio Muratino und Mario de Renzi) habe sich die Architektur auf regionale historische Vorbilder bezogen, diese jedoch modern interpretiert: »Die Architektur der [Fronten der; Anm. B.D.] Wohnkomplexe wird […] von einem rationalen Beton-Rahmenwerk aus senkrechten Säulen und horizontalen Scheiben definiert, das [schmale; Anm. B.D.] Seitenprofil hingegen ist mit Tuffstein verkleidet und weist einen Giebel auf […]. [Auch] die Paneele innerhalb der Betonrahmenfassade sind mit Tuffstein versehen, ähnlich wie bei Dörfern [einiger Regionen Mittelitaliens; Anm. B.D.]«.22 Die städtebaulichen Konzepte der beiden Anlagen unterscheiden sich wesentlich. Beim Tiburtino-Quartier wurden zwischen den Bauzeilen hofartige Zwischenräume geschaffen, von denen manche eine hohe räumliche Qualität aufweisen. Die Anordnung der Gebäude in Baulos B beispielsweise – ein Bereich, in dem Mario Ridolfi mehrere Gebäude plante – kann als architektonische Komposition bezeichnet werden. Drei niedrige Zeilen definieren zwei Hofbereiche, die ineinander übergehen,

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den Abschluss des dreieckförmigen Grundstücks bildet ein höheres, freistehendes Gebäude, das nach drei Seiten orientiert ist. Eine der drei Reihenhauszeilen – Haus VIII von Mario Ridolfi – schließt mit einem vom Boden abgehobenen, allgemein zugänglichen Steg an die Straße an. Diese bauliche Lösung (in den Plänen als ballatoio bezeichnet) verwendete Ridolfi auch bei Baulos E, dort ist der Steg jedoch von der Straße abgewandt, er wird aber an seinen Endseiten von der Straße aus erschlossen. Bei den Gebäuden der Baulose B und E entsteht der Eindruck des Pittoresken, weil Satteldächer und traditionelle bauliche Elemente – wie Fensterläden oder mit Ziegel gedeckte Vordächer – verwendet wurden. Die Anordnung der Gebäude, ihre plastische Gestaltung und ihre Grundrisse sind jedoch nicht willkürlich, auch nicht die sich abtreppenden Höhen der Häuser. Bei Haus VIII beispielsweise folgt der Höhensprung zwischen den Häusern der Neigung der Straße. Rücksprünge innerhalb eines Blocks wirken fallweise willkürlich, allerdings erfüllen auch sie eine architektonische Funktion, sie gliedern die Baumasse, so dass jeweils drei einer Treppe zugeordnete Wohnungen als eigene Einheit wahrgenommen werden.

37: Quartiere INA Casa, Tiburtino in Rom, 1950–1956. Planimetria generale n. 6, 24 settembre 1951/27 novembre 1951, scala 1 :500, china su lucido, cm 85,5 x 82,5. Architettura : M. Ridolfi (con L. Quaroni, C. Aymonino, C. Chiarini, M. Fiorentino, F. Gorio, M. Lanza, S. Lenci, P.M. Lugli, C. Melograni, G.C. Menichetti, G. Rinaldi, M. Valori).

Courtesy: Academia Nazionale di San Luca, Archivio contemporaneo, Fondo Ridolfi-FranklMalagricci, https://www.fondoridolfi.org. – 99–15-I-(c)

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Ein stadträumliches Konzept wie bei Baulos B organisiert den Raum in informeller, organischer Weise, es deutet Zonen an und formuliert Übergänge zu benachbarten Bereichen. Ist das bauliche Umfeld eines solchen Entwurfs architektonisch schwach oder gar nicht definiert, dann kann sich die Architektur gegen ihre Umgebung nur schwer behaupten. Sie verbindet sich in diesem Fall mit dem trivialen und chaotischen Umfeld, wird Teil eines gesichtslosen urban sprawl. Problematisch ist im Fall von Tiburtino, dass die hohen Gebäude nur vereinzelt in ein Raumkonzept eingebunden sind. Aber auch räumliche Korrespondenzen, die geplant wurden, vermitteln sich nicht unbedingt. Die hohen Gebäude dominieren das Erscheinungsbild, zwischen ihnen und der Umgebung entstehen visuelle Beziehungen, die nicht auf die niedrigere Bebauung referieren.

38: Quartiere INA Casa, Tiburtino in Rom, Lotto B: planimetria, 15 gennaio 1952, scala 1:200, china su lucido, cm 75 x 50. Architettura: M. Ridolfi (con L. Quaroni, C. Aymonino, C. Chiarini, M. Fiorentino, F. Gorio, M. Lanza, S. Lenci, P.M. Lugli, C. Melograni, G.C. Menichetti, G. Rinaldi, M. Valori).

Courtesy: Academia Nazionale di San Luca, Archivio contemporaneo, Fondo Ridolfi-FranklMalagricci, https://www.fondoridolfi.org. – 99–17-I-1C

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39: Quartiere INA Casa, Tiburtino in Rom, Lotto B, edificio 8: prospetti, sezioni, dettagli zoccolo e tetto, 14 maggio 1951/12 gennaio 1952, scala 1:100, 1:20, china su lucido, cm 75 x 50. Architettura: M. Ridolfi (con L. Quaroni, C. Aymonino, C. Chiarini, M. Fiorentino, F. Gorio, M. Lanza, S. Lenci, P.M. Lugli, C. Melograni, G.C. Menichetti, G. Rinaldi, M. Valori).

Courtesy: Academia Nazionale di San Luca, Archivio contemporaneo, Fondo Ridolfi-FranklMalagricci, https://www.fondoridolfi.org. – 99–33-I-VIII,5

40: Lotto B, edificio 8, case con ballatoio, M. Ridolfi.

Courtesy: Academia Nazionale di San Luca, Archivio contemporaneo, Fondo Ridolfi-Frankl-Malagricci – 99–15f.

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Im Gegensatz zum Tiburtino-Quartier weist das Quartier Tuscolano II eine deutlich erkennbare städtebauliche Form auf, obwohl auch diese Anlage Anlage keine formale Anordnung der Bebauung im Grundriss zeigt. Die Grenzen des Baufelds (siehe Schema) werden durch hohe Gebäude markiert. An den beiden Längsseiten sind dies punktförmige (im Schema links) oder sternförmige Hochhäuser (Letztere im Schema rechts). Die Querseiten des Grundstücks werden durch hohe, längliche Gebäudezeilen begrenzt. An der kurzen Querseite (im Schema oben) nimmt eine Gebäudezeile die gesamte Breite des Baufelds ein, sie ist in der Mitte geknickt. An der langen Querseite erstrecken sich zwei verschieden lange Zeilen über die Hälfte der Grundstücksbreite (im Schema unten). Etwa in der Mittelachse des Baufelds führt eine breitere Straße an einer Zeile aus Reihenhäusern entlang, die in der Mitte leicht geknickt ist und an ihrem unteren Ende in einen querliegenden Gebäudeblock übergeht. Anfangs- und Endpunkt der Achse werden durch bauliche Sondersituationen markiert. Auf der Südseite (unten) ist die begrenzende Gebäudezeile unterbrochen, die Achse führt hier auf ein Torgebäude zu, das den Eingang zum Quartier Tuscolano III bildet, das wiederum aus niedrigen Patio-Häusern besteht. Die im Grundriss leicht V-förmig geknickte Gebäudezeile auf der Nordseite (oben) ist nur auf Ebene des Erdgeschosses durchbrochen. Die Achse führt hier unter dem Gebäude hindurch zu einem schmalen, aber sehr breiten Vorplatz. Anders als beim Tiburtino-Quartier sind die Bereiche zwischen den einzelnen Gebäudezeilen nicht räumlich gestaltet. Im Wesentlichen handelt es sich um begrünte Wege- und Straßenflächen. Fußwege durchziehen die Anlage, der Autoverkehr ist auf wenige Straßen beschränkt. Obwohl auch bei Tuscolano II traditionelle Architekturelemente, wie Fensterläden, Giebeldächer und Schornsteine verwendet wurden, wirkt die Architektur modern: gemäßigt modern jene der Reihenhäuser und der Hochhäuser, entschieden modern jene der hohen Gebäudezeilen an den Querseiten des Grundstücks. Hier liegt die tragende Betonkonstruktion vor der Fassade, die senkrechten Teile sind als vorstehende Pfeiler ausgebildet, die mit seitlich anschließenden Balkonen vertikale, plastische Einheiten bilden. Die Architektur der beiden Gebäudezeilen erweckt einen rationalen und klaren Eindruck. Im Gegensatz dazu wirkt die Anordnung der Baukörper im Lageplan informell. Die Blöcke der querliegenden Reihenhäuser sind in sich gekrümmt oder leicht gegeneinander versetzt, sie sind auf die Hochhäuser ausgerichtet, die auf den beiden Seiten des Baufelds liegen.

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41: Quartier Tuscolano II, Rom, Gebäudezeile am Ende der Achse, Projektleitung: Saverio Muratino und Mario de Renzi, Architektur: Muratino.

Foto: Alessandro Lanzetta, Rom; courtesy: Ministero della cultura, Foto erstellt für Atlas of Contemporary Architecture. Italy through architectures, im Auftrag der Direzione Generale Creatività Contemporanea des italienischen Kulturministeriums.

42: Quartier Tuscolano II, Durchgang zur Achse.

Foto: Alessandro Lanzetta; courtesy : Ministero della cultura ,Direzione Generale Creatività Contemporanea

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43: Quartier Tuscolano II, Reihenhäuser, Architektur: Luigi Vagnetti.

Foto: Alessandro Lanzetta; courtesy: Ministero della cultura ,Direzione Generale Creatività Contemporanea

44: Quartier Tuscolano II, Lageplan/Schema.

Schema: Bernhard Denkinger

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Das Tiburtino-Quartier und Tuscolano II wurden für Personen geplant, die aus dem Süden Italiens in die Hauptstadt zugewandert sind. Regionaltypische Formen und Materialien sollten von ihnen wiedererkannt werden. Diese Formen stammten aus einem agrarischen Milieu. Bei Projekten wie dem Tiburtino-Quartier wurden sie in ein urbanes Umfeld transloziert. Dabei trafen zwei verschiedene Strukturen aufeinander: eine kleinteilige, dörflich-kleinstädtische und eine großstädtische, die üblicherweise aus großen Baublöcken oder hohen Zeilenbauten bestand. Im dörflichen Kontext waren Gebäude meist zwei oder drei Stockwerke hoch, im städtischen sechs bis zehn Stockwerke. Die Architektur der beiden Quartiere bildete somit in ungefährer Weise eine Migrationsgeschichte ab. Vieles blieb unklar: Auf welche Region referierte die architektonische Sprache? Wieso repräsentierten gerade diese und nicht andere Elemente eine bestimmte Region. War die Bevölkerung eines Quartiers tatsächlich so homogen, wie die Architektur dies suggerierte? Würde sie sich verändern und später aus anderen Bevölkerungsgruppen zusammensetzen? Im Grunde lag es im persönlichen Ermessen der Architekturschaffenden, welche Motive und Elemente sie wählten. Es gab keine allgemein verbindlichen Regeln, welcher Regionalismus und welche Formen als Modell dienen sollten. Nach 1910 und besonders während der Zeit des Faschismus hatten italienische Architekturschaffende versucht, solche Kriterien zu definieren, was sich als schwierig erwies, da beinahe jede Region in Italien eine eigene lokale Baukultur hatte, die auf klimatischen und topografischen Gegebenheiten gründete. In abstrahierter und typischer Form sollte das Vernakuläre die Basis einer spezifisch italienischen Architektur bilden. Dieses Modell stand in Konkurrenz zum offiziellen Selbstbild der italienischen Architektur der 1930er Jahre, das sich auf die antike und klassizistische Tradition berief. Allerdings waren die Grenzen zwischen beiden Sphären nicht eindeutig. Das faschistische Regime vereinnahmte auch die vernakuläre Kultur, die italienische Architekturszene wiederum referierte auf beide Modelle, so dass klassisch-rationale und vernakuläre Elemente in einem Projekt gemeinsam vorkommen konnten. Nach Michelangelo Sabatino wurde die anonyme Architektur der Region Neapel mit Pompei und Amalfi zu einem Leitbild der italienischen Vorkriegsmoderne.23 Die modernen Villen, die in den 1930er Jahren in Capri, Ischia und Neapel errichtet wurden, hätten den Vorstellungen entsprochen, die ein breites Publikum mit dem Phänomen einer regional-modernen italienischen Architektur verbinden konnte. Als zwei Beispiele hierfür nannte Sabatino die Casa Malaparte von Adalberto Libera und die Villa Oro in Neapel, die Luigi Cosenza gemeinsam mit Bernhard Rudofsky Mitte der 1930er Jahre geplant hatte. Bei diesem Gebäude ist das Untergeschoss als Sockel aus dunklem Tuffstein ausgebildet, von dem sich ein stark gegliederter, weißer Baukörper abhebt. Ein Teil des Baus liegt auf sehr dünnen Stahlsäulen auf; er scheint – wie eine Kanzel oder eine Schiffsbrücke – über dem Sockel zu schweben.

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45: Villa Oro, Neapel 1934–1937; Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky.

Courtesy: Archivio Luigi Cosenza-Archivio di Stato di Napoli Pizzofalcone

46: Villa Oro, Grundriss, Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky.

Courtesy: Archivio Luigi Cosenza-Archivio di Stato di Napoli Pizzofalcone

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47: Villa Oro, Axonometrie, Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky.

Courtesy: Archivio Luigi Cosenza-Archivio di Stato di Napoli Pizzofalcone

Das Interesse der italienischen Architektur am Regionalen beschränkte sich nicht auf Gebäude. Ursprünglich anmutende Materialien wurden im Möbeldesign verwendet, die einfachen Formen alltäglicher Gebrauchsgegenstände inspirierten das italienische Design. Die Verwendung einer Form oder eines regionaltypischen Materials verwies aber auch auf eine ethische Komponente. Die Wertschätzung des Alltäglichen und Volkstümlichen verlieh Dingen, die täglich verwendet wurden, eine besondere Bedeutung. Anders als bei der Kunst der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts war hier nicht Verfremdung, sondern Bestätigung das Ziel. In den Dingen zeigte sich symbolisch ein zeitloser Zyklus ewig gleicher, alltäglicher Verrichtungen. Die visuelle Wahrnehmung erkannte in den Dingen die Spur einer Arbeit, die von unbekannten, anonymen Personen erbracht worden war. Mit der Würdigung des Gegenstands wurde ein mit diesem verbundenes, intuitives »Wissen« geschätzt und institutionellen Formen des Wissens gleichgesetzt. Die Bauwerke und Artefakte des Alltäglichen repräsentierten auch eine Gegenwelt, die politisch sowohl von linken wie von rechten Gruppierungen vereinnahmt werden konnte. Der italienische Film und die italienische Literatur der Nachkriegszeit thematisierten die sozialen Verwerfungen, die durch die inneritalienische Arbeitsmigra-

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tion entstanden. In der Architektur dominierten Strömungen, die versuchten der sozialen Entfremdung entgegenzuwirken. Der Architektur fehlte jedoch das kritische Moment, das in Film und Literatur präsent war.

Anmerkungen zur neorealistischen Bildsprache Die kleine Auswahl an Beispielen, die ich in diesem Kapitel vorstellen konnte, war einerseits der persönlichen Begegnung mit Gebäuden geschuldet (St. Andreas, St. Laurentius, St. Stephan), andererseits individuellen Vorlieben (Tuscolano II oder Villa Oro). Die drei Sakralbauten fand ich interessant, weil hier über eine besondere Stofflichkeit ein neuer Ausdruck erzielt werden konnte, wobei die Prinzipien der Moderne beibehalten wurden. Mit Ausnahme des kreuzförmigen Grundrisses und des Glockenturms bei St. Andreas nahm die Architektur nicht Bezug auf historische Formen. Die italienischen Beispiele hingegen referierten auf regionale, historische Architekturen. Ich habe sie in diesem Kapitel besprochen, weil sie in eine Thematik einführen, die im nachfolgenden Kapitel im Zusammenhang mit dem critical regionalism erörtert wird. Die Architektur des Tiburtino-Quartiers war für mich von Interesse, weil es hier sowohl eine soziale wie auch eine gestalterische Agenda gab. Vergleicht man die Quartiere Tuscolano II und Tiburtino, dann zeigt sich, dass bei Tuscolano II architektonische und bei Tiburtino stadträumliche Überlegungen im Vordergrund standen. Aus städtebaulicher Sicht reicht es aus, Räume und Beziehungen zwischen Bauwerken festzulegen. Die Qualitäten dieser Räume werden über ihre Benutzung – also indirekt – erfahren. Architektonische Überlegungen hingegen vermittelten sich hauptsächlich über ein Erscheinungsbild, das ein Programm und einen Kontext visuell interpretiert. Sie verweisen auf formale Vorbilder und einen Referenzmaßstab, bei ihnen scheint eine gedankliche Quelle durch. Im Fall von Tuscolano II war dies die rationalistische Tradition der italienischen Moderne, die sich allerdings auf die Architektur der Gebäude und deren Konstruktion beschränkte. Das städtebauliche Konzept hingegen entsprach der zeitgenössischen Vorliebe für das Informelle und Nichtrationale: Symmetrien wurden vermieden, die Linearität und Geometrie der Baukörper durch Knicke und Rücksprünge relativiert. Dieser Widerspruch führte zu einer interessanten Dualität. Verantwortlich für die gestalterische Qualität war aber letztendlich die Architektur. Das städtebauliche Konzept für das Tiburtino-Quartier war etwas experimentierfreudiger als jenes, das Muratino und de Renzi für Tuscolano II vorsahen. Sein Potential wurde jedoch nur teilweise eingelöst. Mit dem ballatoio, einem erhöhten Erschließungsweg, der mit tieferliegenden Höfen verbunden war, schuf Ridolfi (Tiburtino-Quartier) eine architektonische Lösung, die in ähnlicher Form später häufig zur Anwendung kam. Zwar war die Idee eines vom Boden abgehobenen Fußwegesystems älteren Ursprungs,24 Ridolfi schuf jedoch eine neue, eigenständige Inter-

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pretation. Er verräumlichte den Weg, verband ihn mit der unteren Ebene. Anders als die streets in the air der Smithsons, die als richtungsloses Netzwerk konzipiert wurden, war Ridolfis ballatoio auch ein architektonisches Objekt, das einen Anfang, ein Ende und eine (etwas unruhige und seltsame) plastische Form hatte. Sowohl die Architektur von Tiburtino wie auch jene von Tuscolano II verwendeten bildhafte Elemente. Insofern ist zu fragen, welche Rolle das Bildhafte hier jeweils spielte. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich nicht um willkürliche expressive Gesten handelte. Die Architektur verwendete historische Zitate, allerdings waren die Vorlagen zu diesen sehr allgemein. Ein Vorbild war die anonyme Architektur Roms des 17. Jahrhunderts, eine andere jene der traditionellen Dörfer Mittelitaliens.25 Bei beiden Quartieren wurden Pult- und Satteldächer, Lochfenster mit Brüstungen und dreh- oder ausklappbare Fensterläden verwendet, bei Tiburtino zusätzlich nischenartige Loggien und Außenstiegen.26 Fenster üblicher Größe wurden hier mit sehr kleinen, lukenartigen Öffnungen kombiniert, die Gebäude mit Verputz in verschiedenen Färbungen versehen. Raffaele Pontrandolfi meinte, dass die architektonischen Defizite Tiburtinos sich im Wesentlichen auf eine zu große Zahl an unterschiedlichen Bautypologien zurückführen lassen würden. Mir erscheint die Platzierung der Hochhäuser und ihre mangelnde Einbindung in einen gestalterischen Kontext ausschlaggebender. Im Tiburtino-Quartier gab es – mit Ausnahme der Hochhäuser – nur drei Bautypen, wovon einer als gewerbliche Struktur ausgebildet war. Die Vorlagen zu Tuscolano II waren unspezifischer als jene von Tiburtino. Es gab sogar »französische« Fenstertüren mit Balkonen geringer Tiefe. Die Giebel der Reihenhäuser verwiesen auf klassizistische Architektur, ebenso die weißen Bänder auf den Fassaden, die Gesimse andeuteten. Die langgestreckten und hohen Baukörper an der südlichen und nördlichen Grenze des Baufelds entsprachen dem Maßstab einer Großstadt. Referenzen auf regionale, vernakuläre Architekturen gab es vor allem auf der Ebene der Materialien. Diese verliehen der Architektur eine Körperlichkeit, welche der rationalistischen italienischen Architektur gefehlt hatte.

Gegen das Rationale – drei Narrative eines alternativen Wissens In der modernen Architektur war ein Interesse am Alltäglichen und Normalen meist mit einer Kritik am Rationalen verbunden. Die Wertschätzung des anonymen Bauens, die der italienische Neorealismus zum Ausdruck brachte, gründete auf antirationalen Narrativen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Es gab in der Architekturgeschichte mehrere antirationale Argumentationslinien, die auf dem Alltäglichen oder Konventionellen basierten. Auf drei dieser Narrative gehe ich hier ein. Narrativ 1 – Ur-Wissen: Nach dieser Erzählung gibt es in ursprünglichen Gesellschaften ein kollektives Wissen, das in Gegenständen und Bauwerken zum

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Ausdruck kommt. Jedes Mitglied der Gesellschaft hat eine Gestaltungskompetenz, es weiß, wie ein Gerät gefertigt, eine Umzäunung hergestellt oder eine Behausung errichtet werden muss. Die Produkte, die eine solche archaische Gesellschaft hervorbringt, sind logisch-sinnvoll und fast immer einfach konstruiert. Ihre Form ist vollkommen und zeitlos, sie befriedigt Bedürfnisse, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte nur wenig geändert haben. Die Form einer Trinkschale, eines Geschirrs, eines Stuhls, aber auch eines Gebäudes oder eines Innenraums lässt sich nach diesem Narrativ aus einem archaischen Ur-Wissen ableiten. Voraussetzung ist, dass sich die Form auf Vorgänge bezieht, die keinem technologischen Wandel unterliegen. Ändert sich eine Produktionsweise, dann verändert sich auch die Form. Eine Egge, ein Rechen oder ein Butterfass verweisen nicht mehr auf eine Alltagswelt. Sie können bestenfalls als Symbole für eine essenziellere Form des Lebens stehen, wobei materielle Beschränktheit im Rückblick positiv gedeutet wird. Die Vorstellung, dass ein Ur-Wissen ewige Formen hervorgebracht habe, hat zu zahlreichen Idealisierungen geführt. Die Gesellschaften, die solche ursprünglichen Artefakte produzierten und verwendeten, waren bereits im 19. Jahrhundert im Verschwinden begriffen. Kunst, Design und Architektur mussten ihre Ur-Bilder in immer entlegeneren, oft exotischen Regionen suchen. Die einfachen Dinge und Gestaltungsweisen, die sie entdeckten, bezogen ihren Reiz aus ihrer Fremdheit. So entstand die paradoxe Situation, dass das Fremde und Exotische eine »unverfälschte« und wahre Welt des Alltäglichen repräsentieren sollte.27 Narrativ 2 – wissende Praxis: Bei dieser Argumentationslinie wird das Konzept eines ursprünglichen Wissens auf Personen eingeschränkt, die über handwerkliche Erfahrung verfügen. Angenommen wird, dass die Praxis stets der Logik des Materials folgt. Fehlentwicklungen entstehen dadurch, dass nicht materialgerechte Entwurfsverfahren aus einer sachfremden Sphäre übernommen werden. Ein solches Argumentationsmuster verwendete Adolf Loos mehrfach in seinen Schriften. Loos idealisierte das Handwerk. Er meinte, dass es uneigennützig ethische Anliegen vertrete. Der natürliche Sachverstand, der dem Handwerk eigen sei, würde durch eine falsche Intellektualität bedroht. In seinem sehr bekannten Aufsatz Architektur schrieb Loos: »Der handwerker konnte sich nicht viel um bücher kümmern. Der architekt bezog alles aus büchern. […] Man ahnt nicht, wie vergiftend diese unzahl von […] verlegerpublikationen auf unsere stadtkultur gewirkt, wie sie jede selbstbesinnung verhindert hat«.28 Loos negierte, dass das Handwerk Wünsche einer Auftraggeberschaft erfüllen musste, er schrieb diesem eine Autorität und Resistenz zu, die es nicht hatte. Das Handwerk orientiert sich am Geschmack seiner Klientel. Technologische Neuerungen nutzt es, um dessen Formvorstellungen zu realisieren. Es hinterfragt diese nicht. Der Tischler Josef Veillich, auf den Adolf Loos 1929 einen Nachruf verfasste,29 war bereits zur damaligen Zeit eine Ausnahmeerscheinung.

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Wissende Praxis ermöglicht nur dann eine Kultur des Alltäglichen, wenn sie auf allgemein anerkannten Konventionen basiert. Sie muss technologische und soziale Veränderungen in das Repertoire allgemeingültiger Vorstellungen aufnehmen. Mit jeder Neuerung ist jedoch eine Phase formalen Experimentierens verbunden. Folgt man Loos, dann sollte diese gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Die wissende Praxis sollte sich erst wieder an ihr Publikum wenden, wenn sie das Neue verarbeitet, das heißt konventionalisiert haben würde. Das Konzept eines alternativen Wissens hat sowohl eine rationale wie auch eine irrationale Seite. Die Arbeitsweise ist rational, jedoch werden mentale Faktoren idealisiert und ökonomische ignoriert. Narrativ 3 – anders sehen: Nach diesem Denkmuster gibt es ein verborgenes, substanzielles Wissen, das durch eine besondere Form der Wahrnehmung freigelegt werden kann. Das Individuum muss einem Gegenstand, den es »erfahren« will, ohne intellektuelle Vorbedingungen begegnen. Dieser muss nicht unbedingt in physischer Form existieren, in der Regel handelt es sich jedoch um ein Artefakt, das stellvertretend für etwas Größeres steht. Über die sowohl visuelle wie auch intuitive Wahrnehmung des Objekts werden dessen reale wie auch immaterieller Qualitäten erkannt und ein erweitertes Bewusstsein geschaffen. Die Argumentationslinie von anders sehen enthält Elemente der Narrative 1 und 2. Sie setzt ein verborgenes Wissen voraus, das dem Grunde nach jeder Person zugänglich ist, jedoch nicht mehr mit einer lebendigen Praxis verbunden wird. Es bedarf eines Lernprozesses, um es aufzuschließen. Die Wahrnehmung hat zum Ziel, diese Praxis wiederzubeleben. Eine derartiges Narrativ entwickelte Soetsu Yanagi in seinem Buch The Beauty of Everyday Things,30 einer Sammlung von Essays, die zwischen 1933 und 1947 entstanden. Yanagis Buch wurde im Westen breit rezipiert. In seinem Essay Sehen und Wissen schrieb Yanagi: »Sehen ist mit der Welt konkreter Dinge verbunden, Wissen mit dem Abstrakten. […] Die Fähigkeit zu sehen und die Fähigkeit, gedanklich zu erkennen, sind teilweise angeboren. Erstere insbesondere ist etwas, mit dem man geboren wird, |…] Letztere ist |…] nur teilweise angeboren und kann durch Studium verbessert werden«.31 Yanagi meinte, ein Wissen um die Umstände, unter denen ein Werk zustande kam, behindere das Sehen. Das Sehen müsse dem Wissen vorangehen, damit die »essenzielle Natur« eines Objekts erfasst werden könne: »Urteile nicht, wenn du das erste Mal auf etwas blickst, lass keine kritischen Gedanken aufkommen. […] mach das Objekt nicht zum Gegenstand einer intellektuellen Erörterung. […] höre was das Objekt dir zu sagen hat. Diese passive Haltung […] kann mit einem Spiegel verglichen werden, der alles reflektiert, was vor ihm

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liegt. So wie ein polierter Spiegel ein klareres Bild reflektiert, so muss auch dein Geist von überflüssigen Gedanken gereinigt werden. Dies bereitet dich auf den passiven Akt des Sehens vor. […] Bevor wir beginnen unsere Gedanken auszudrücken, müssen wir zuhören, was das Objekt uns zu sagen hat. […] Später, wenn wir zurückblicken, können wir ausdrücken, was wir denken, […]«.32

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Zwischen 1965 und 1970 bildeten sich zwei Architekturströmungen heraus, die nach Einschätzung der zeitgenössischen Kritik realistische Tendenzen aufwiesen. Beide richteten sich gegen die »klassisch-moderne«, funktionalistische Architektur. Die eine stand für einen rationalistischen Realismus und war klar antimodern eingestellt, ihre Leitfigur war Aldo Rossi. Die andere referierte auf den Populismus der 1960er Jahre und die Alltagswelt, ihre theoretischen Grundlagen wurden im Wesentlichen von Robert Venturi und Denise Scott Brown formuliert. In diesem Kapitel betrachte ich beide Strömungen als paradoxe Realismen, wobei hinsichtlich des Grades an Paradoxie Unterschiede bestehen. Besonderes paradox war Rossis »Realismus«. Rossi bezog sich auf den Rationalismus Jean-Nicolas Durands, er schätzte das Neue Bauen und Hans Schmidt, gleichzeitig bewunderte er die stalinistische Architektur des sogenannten sozialistischen Realismus. Weniger paradox war die Argumentation, die Robert Venturi in seinem Buch Complexity and Contradiction in Architecture darlegte. Venturi plädierte für eine Architektur des Sowohl-als-auch, in der verschiedene Ansätze nebeneinander koexistieren konnten. Das Paradoxe hatte hier eine konstituierende Funktion, es war Teil des Programms. Die Architektur der Gebäude, die Venturi & Rauch Mitte der 1960er Jahre planten, war nicht besonders widersprüchlich. Theoretische Überlegungen und gestalterische Prinzipien ließen sich klar an ihrer äußeren Form ablesen, Innenbereiche waren pragmatisch-funktional gestaltet und wiesen oft eine hohe räumliche Qualität auf. Beide Strömungen – sowohl die »autonome« Architektur Rossis wie auch die komplexe und polymorphe von Venturi, Rauch und Scott Brown – verwendeten Bilder. Beide definierten sich jedoch – anders als dies auf den ersten Blick erscheinen mochte – nicht nur über das Bildhafte. Bei Venturi, Rauch und Scott Brown referierten Bilder auf einen Inhalt. Ihre frühen Entwürfe waren realistisch, in ihnen spiegelte sich das Widersprüchliche und Zufällige der Realität. Das änderte sich später, als Venturi und Scott Brown begannen, Stereotypen der US-amerikanischen Alltagswelt in ihrer Architektur zu überhöhen. In Aldo Rossis Architektur gab es zwei einander entgegengesetzte Tendenzen: einerseits eine Überbetonung des Bildhaften, andererseits eine semiotische Entlee-

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rung oder Neutralisierung. Letztere äußerte sich in schematisch wirkenden, auf wenige typische Elemente reduzierten Gebäudeformen. Rossi kombinierte beide Ausdrucksweisen. In diesem Kapitel werden zwei Wohnanlagen Rossis besprochen, die ich der neutralisierenden Tendenz zurechne.

Der ikonische »Realismus« der autonomen Architektur Im Jahr 1976 veröffentlichte die Schweizer Architekturzeitschrift archithese ein Heft mit dem Titel Realismus in der Architektur.1 Das Heft widmete sich zwei damals aktuellen Architekturtendenzen: dem italienischen Neo-Rationalismus, für den Aldo Rossi und Giorgio Grassi standen, und einem auf das Symbolische konzentrierten Populismus, dessen Intentionen Denise Scott Brown in einem Beitrag erläuterte. Die beiden Architekturströmungen wurden später unter dem Begriff Postmoderne subsumiert, sie gingen jedoch von gegensätzlichen Konzepten aus. Aldo Rossis Architektur setzte auf Reduktion und versuchte eine Typologie aus historischen Vorbildern zu begründen, Denise Scott Brown und Robert Venturi »übersetzten« klischeehafte Vorstellungen der US-amerikanischen Mittelschichten in Architektur. Venturis Bauten waren komplex, reich an symbolischen Verweisen, referierten auf den antiästhetischen Populismus der 1960er Jahre. Gleichzeitig berief sich Venturi auf den akademischen Manierismus des 16. Jahrhunderts und T.S. Eliot, dessen religiös geprägter Elitismus ein Gegenmodell zur Moderne zu bieten schien. Venturis Haltung entsprach somit dem Relativismus, den die postmoderne Theorie predigte, während Rossis erratisches Werk sich zum damaligen Zeitpunkt nicht eindeutig in eine solche Perspektive einfügen ließ. Zusätzlich enthielt das archithese-Heft Artikel, die sich mit der Theorie und Geschichte des Realismus im Allgemeinen befassten sowie eine Abhandlung zur Theorie der Architektur des sozialistischen Realismus. Rückblickend scheint es vielleicht befremdlich, dass 1976 ein Heft mit dem Titel Realismus erscheinen konnte, das Arbeiten von Aldo Rossi und Giorgio Grassi zum Gegenstand hatte. Mitte der 1970er Jahre gab es jedoch – zumindest in Fachkreisen – einen allgemeinen Konsens, dass die Architektur Rossis realistisch oder zumindest rationalistisch sei. Dafür schienen Rossis Bekenntnis zum Marxismus und seine Wertschätzung der Architektur des sozialistischen Realismus (der stalinistischen, sowjetischen Architektur) zu sprechen. Erst die postmoderne Sicht auf die Bauten Rossis, die Charles Jencks 1977 in seinem Buch The Language of Post-Modern Architecture2 darlegte, stellte diese Zuschreibung in Frage. Im theoretischen Beitrag von Alan Colquhoun, auf den ich hier näher eingehe, wurde die spezifische Situation um 1976 reflektiert, die aus Colquhouns Sicht stark von der Erfahrung der populistischen Architekturströmungen der 1960er Jahre beeinflusst war. Eine Kritik der populistischen Bewegung in der Architektur hatten

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Alexander Tzonis und Liane Lefaivre ein Jahr zuvor in der Zeitschrift Bauwelt publiziert.3 Colquhoun verwies auf Fehlentwicklungen: »[A]uf der einen Seite wurde die architektonische Schöpfung zurückgestellt, bis ein scheinbar endloser Prozess von Induktion und Untersuchung zu Ende geführt [war], auf der anderen wurde ästhetischer Eifer ermutigt, vorausgesetzt, dass seine Wurzeln expressionistisch oder populistisch waren und […] ein System von Regeln, die der […] ›hohen‹ Architektur angehörten, zurückgewiesen wurde«.4 Die Naivität dieser Auffassung charakterisierte Colquhoun als »eine Sprache, die der Intuition entspringt, unbehindert von […] einem ihr vorausgehenden Wissen – eine Sprache also, die natürlicher wäre als die natürliche Sprache selber, da sie nicht gelernt zu werden brauch[t]«. Colquhoun sah einen Mechanismus, der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen würde, ein Bemühen mit Hilfe des Realismus, »›hinter‹ die ›stilistische‹ Darstellung von Ideen zu gelangen, [um] die mit einem Stil verbundenen Regeln zu zerstören, [mit dem Ziel,] Stil auszuschließen, um Essenz zu entdecken«. Dem stellte Colquhoun ein Zitat aus einem Artikel Boris Tomachevskis gegenüber, das auf eine immanente Präsenz des Konventionellen im Kunstwerk verwies: »[D]as Material der Wirklichkeit selbst [weist] keine künstlerische Struktur [auf], die Schaffung einer künstlerischen Struktur verlangt, [dass] die Wirklichkeit nach ästhetischen Gesetzen […] rekonstruiert [wird]«.5 Die Suche nach verborgenen Essenzen konnte nach Colquhoun dazu führen, dass die reale Welt durch analoge, parallele Welten ersetzt werden konnte, der Realismus also in seinem Gegenteil angekommen wäre: An Stelle einer sich verändernden Wirklichkeit würde er dann ein hermetisches, in sich geschlossenen System, mit unveränderbaren Regeln bilden. Im Unterschied dazu wäre ein Realismus, der Konventionen im klassischen Sinne beachtet, in der Lage, auf äußere Veränderungen zu reagieren und die eigenen Regeln an diese anzupassen. Colquhoun bezeichnete die Konstruktion pseudorealer Welten als Formalismus, berief sich aber gleichzeitig auf Thesen eines wichtigen Vertreters des russischen Formalismus, der im bereits angeführten Zitat auch von einem zyklischen Ersatz alter und »offensichtlicher« Konventionen durch neue, »weniger offensichtliche«,6 sprach. Die sehr weitgehende Konstruktion des Realen, die Tomachevski vorschlug, war nicht so leicht zu trennen von einer totalen. Colquhoun schien Tomachevskis Ansatz abzumildern, aus seiner Sicht blieben die alten Normen bestehen, wurden adaptiert und durch neue ergänzt, wobei fallweise alte Normen auch gänzlich entfallen konnten. Stilelemente würden als Vermittler zwischen Produzent:innnen und Nutzer:innen dienen und die Architektur »vermenschlichen«. Colquhoun formulierte somit Kriterien, anhand derer sich realistische ästhetische Regelwerke von nicht realistischen unterscheiden würden: Bei einem realistischen Ansatz würden Veränderungen nicht vom ästhetischen System selbst ausgehen, sondern stets von außen eingeschleust werden, auch seien Regeln nicht als absolut und unveränderlich an-

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zusehen. Bestehende Regeln würden »weiterwendet und an neue Bedingungen angepass[t]«.7 Colquhouns Beitrag endete mit einem Plädoyer für einen neuen Realismus, »der sowohl aus sich selbst entwickelte ästhetische Strukturen gelten lässt, wie auch eine Wirklichkeit, die auf sie einwirkt und sie verändert«. Damit unterschied sich seine Konzeption von jener Tomachevskis, nach der die Tradition – und mit dieser ihre Regeln – zur Gänze untergehen musste, wenn eine neue künstlerische Entwicklung einsetzte. Gemäß Tomachevski würde nur die Motivation erhalten bleiben, deren Quelle wiederum ein naives Vertrauen in die Wahrheit eines dargestellten Sachverhalts oder ein Verlangen nach einer Illusion, nach einer fiktiven Darstellung, sei.8 In Colquhouns Definition einer auf das Reale bezogenen Ästhetik spiegelte sich der angelsächsische philosophische Pragmatismus, wie er unter anderem im Konzept des »Common Sense« von William James zum Ausdruck kam. In seinem Buch Der Pragmatismus9 erläuterte James, dass jede Wahrnehmung von vorhergehenden Erfahrungen mitbestimmt wird: »Bei der Apperzeption wirkt das Vergangene mit und wenn wir beim Weiterschreiten in der Erkenntnis es zu einem neuen Gleichgewichtszustand bringen, so zeigt sich, dass das Neue nur selten in rohem Zustand einverleibt wurde. Meistens wird es vielmehr sozusagen in der Brühe des Alten gekocht und gesotten«. Thomas Rolf schrieb in seiner Untersuchung des Normalen über James Konzept des Common Sense, dass nach diesem »[n]eue Erfahrungen […] nur dann in den Horizont des Bekannten aufgenommen werden, wenn sich das bislang noch Unbekannte […] vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands aus als eine Modifikation des bereits Vertrauten bestimmen lässt. […] Common Sense [ist] in der Lage, anormale Situationen, also Fälle, die gegen [die] aktuelle Vorurteilsstruktur [des Individuums] verstoßen, durch eine kreative Umorganisation bereits bestehender Vorurteile zu normalisieren«.10 Im Kontext des archithese-Hefts sollte Colquhouns Beitrag aufzeigen, dass die moderne Architektur ästhetische Regeln verwendete, die sich nicht ausschließlich funktional begründen ließen. Architektur bestand nicht nur aus Objekten und Räumen, die benutzt werden konnten und dadurch Teil der Realität wurden, sie war gleichzeitig auch eine Darstellung der Wirklichkeit, ein Umstand, den neben Colquhoun auch Giorgio Grassi und Hans Heinz Holz in ihren Beiträgen hervorhoben. Nach Colquhoun fielen im »Neuen Bauen« der 1920er Jahre Anforderungen, die sich aus dem Gebrauch ergaben, mit ästhetischen zusammen. Einerseits bestand die Forderung, dass die Form eines Bauwerks sich aus funktionalen Bedingungen ergeben sollte, andererseits sollte das Bauwerk diese Forderung ästhetisch zum Ausdruck bringen. Die Form war somit nicht nur der dreidimensionale Abdruck eines Gebrauchs, sie symbolisierte diesen in allgemeiner Weise, über den konkreten

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Anlass hinaus. Colquhoun nannte dies eine Transparenz der Form, an der symbolisch die Wirklichkeit ablesbar wäre. Über diese gedankliche Brücke schuf er eine Verbindung zum metaphysischen Charakter der rationalen Architektur im Sinne Rossis und Grassis, dem eigentlichen Schwerpunkt des Hefts. Aus seiner Begründung der Transparenz der Form schloss er, dass auch die Architektur des Neuen Bauens in den 1920er Jahren metaphysisch gewesen sei, »wie es die Architektur immer war«.11 Colquhoun verwendete in seinem Beitrag fast ausschließlich Abbildungen von Le Corbusiers Werk. Ausführlich ging er auf dessen Fassadengestaltungen ein, die vor allem ästhetischen Kriterien zu folgen schienen. Er subsumierte die Architektur Le Corbusiers unter dem Begriff des »Neuen Bauens«. Die funktionalistische Architektur des Neuen Bauens behandelte jedoch die Frage des Ästhetischen wesentlich restriktiver als Le Corbusier. Nach ihrer Theorie schloss sie sogar (unrichtigerweise) aus, dass sie überhaupt nach ästhetischen Kriterien vorgehen würde. Colquhouns These von der Transparenz der Form zeigte auf, dass das Neue Bauen unausgesprochene, ästhetische Kriterien anwendete. Le Corbusier hingegen berief sich ausdrücklich auf formale und ästhetische Kriterien. Das Metaphysische in der Architektur Le Corbusiers basierte auf der Übernahme eines klassizistischen Erbes, das sich in Proportionssystemen, Frontalität (siehe Colquhoun) und formaler Anordnung von Baukörpern äußerte. Im archithese-Heft stand Le Corbusier für den Rationalismus der Moderne, wie er in den frühen Bauten und Entwürfen Le Corbusiers noch zum Ausdruck kam. Durch Betonung des Normativen und seine formalistische Begründung ästhetischer Regeln (siehe Tomachevski) löste Colquhoun die Realismus-Diskussion aus ihrem traditionell naturalistischen Kontext. Im archithese-Heft wurden mehrere Projekte von Giorgio Grassi und Aldo Rossi publiziert. Beide konnten in eigenen Beiträgen ihr Verständnis des Realismus darlegen. Bei Rossi reduzierte sich dieses auf eine Aufzählung von Erinnerungen, die ihn in seiner Jugend geprägt hatten. So beschrieb er Szenen aus neorealistischen Filmen, erinnerte sich an den Eindruck, den Bauwerke der stalinistischen Architektur und die »unabsehbaren«12 Straßen Moskaus bei ihm hinterlassen hatten. Er erklärte, dass aus seiner Sicht die Empfindungen, die Architektur auslöst, das Wesentliche seien, nicht die Architektur selbst, und unterschied zwischen einem politisch-sozialen und einem beliebig-faktischen Realismus. Er wandte sich gegen letzteren, weil dieser aus seiner Sicht nur ein Agglomerat des physisch Existierenden darstellte – und nur zufällige Wahrnehmungen ermögliche.13 Es ist erstaunlich, wie unkritisch die Fachwelt in den 1970er und 1980er Jahren Rossis widersprüchliches theoretisches Werk aufnahm. Rossi kumulierte divergierende Ansätze, die sich in unterschiedlicher Weise interpretieren ließen. Der verbalen Betonung des Sinnlichen stand eine oft schematisch wirkende Architektur gegenüber, deren sinnliche Qualität sich auf die Farbgebung und importierte Zitate beschränkte. Rezipiert wurden Rossis Arbeiten als Beispiele einer metaphysischen

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und ästhetisch-formalen Architektur. Er selbst behauptete, dass sie auf rationalen Erkenntnissen basieren würden. Nach Adrian Forty unternahm Rossi den Versuch, die moderne Architektur neu zu gründen. An die Stelle der funktionalistischen Logik sollte eine andere Form der Rationalität treten, die sich auf die kollektive Erinnerung berief. »[Rossis] Botschaft war, dass [jemand, der] in einer Stadt baut, nicht nur ihr physisches Gewebe, sondern auch […] die kollektive Erinnerung ihrer Bewohner verändert«.14 Rossis Theorie basierte hauptsächlich auf zwei Quellen: den Arbeiten des französischen Historikers Marcel Poëte und der Theorie des kollektiven Gedächtnisses des französischen Soziologen Maurice Halbwachs. Forty sprach in Bezug auf Halbwachs von konzeptionellen Schwächen, die dieser aus Durkheims Soziologie übernommen hätte. So habe Durkheim angenommen, dass die moderne Entfremdung soziale und nicht ökonomische Ursachen habe, und vorausgesetzt, dass sich kollektive Verhaltensweisen individualpsychologisch erklären lassen würden. Forty sah auch Schwächen in Halbwachs’ These, dass sich soziale Gruppen über eine gemeinsame Erinnerung an bestimmte Orte definieren würden. Er meinte, dass sich diese Erinnerung bei Halbwachs nicht auf einen konkreten, aktuell erfahrbaren, physischen Raum bezogen habe, sondern auf ein mentales Bild, das durch eine soziale Gruppe geschaffen wurde.15 Angelika Schnell meinte, dass Rossi das Konzept des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs im Wesentlichen falsch rezipiert hätte. Rossi habe eine »eine ontologische Struktur, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet«,16 konstruiert. Er hätte Typen (wie beispielsweise das lombardische Laubenganghaus) als unveränderliche Vorlagen interpretiert. Im kollektiven Gedächtnis (siehe Maurice Halbwachs) würden solche statischen Vorlagen jedoch nicht existieren, müsse die Vergangenheit in jeder Epoche neu (re-)konstruiert werden. Dabei sei die Frage nach dem, was ursprünglich war, nebensächlich. Schnell erörterte in diesem Zusammenhang Giulio Argans Konzeption des architektonischen Typus, die – anders als Rossis Theorie – Typen nicht als statische Konstanten, sondern als allmähliche kulturelle Übereinkunft beschreibe.17 Rossi selbst ging von einer schwer erklärbaren Gleichzeitigkeit von Permanenz (siehe Marcel Poëte) und Veränderung aus. In seinem Beitrag in archithese erläuterte er, dass, nachdem sich eine Form konstituiert habe, sie in einer späteren Kulturphase (der römischen Antike) verallgemeinert wurde. Rossi beschrieb dies in seinem Beitrag folgendermaßen: »[I]ch suche einen alltäglichen Realismus, einen sehr alten. Den typologischen Schemen des Neuen Bauens stellte ich die langen Laubengänge des lombardischen Hauses gegenüber; […] Die großen Höfe wiederholten die Insula, die alte lateinische Besiedlung und örtlichen Elemente. Die römischen Bauwerke übernahmen diese Kultur und gaben ihr eine allgemeine Form«.18

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Aus Rossis Sicht wiederholten Bauformen frühere Vorlagen, sie konnten diese aber auch verallgemeinern. Es war also prinzipiell eine Entwicklung möglich, obgleich das Zitat nahelegt, dass diese nach der Antike nicht mehr erfolgt wäre. Eine Verallgemeinerung muss wohl als Vereinfachung und nicht als Diversifizierung gesehen werden. Die aktualisierte Vorlage verliert durch sie an Prägnanz. Ein methodisches Problem in dieser Konzeption war, dass eine Vorlage allmählich – nach mehreren Verallgemeinerungen – so diffus werden musste, dass sie nur mehr sehr ungefähr mit einem konkreten Vorbild in Verbindung gebracht werden konnte. Sie musste gleichsam zu einem Schatten ihrer selbst werden. Rossis These einer sukzessiven Verallgemeinerung setzte auch voraus, dass die Gebäudetypen, die er beschrieb, allgemein bekannt waren. Bei regionalen oder anonymen historischen Bauten war dies jedoch nicht immer der Fall. So darf beispielsweise bezweifelt werden, dass die langen Laubengänge des lombardischen Hauses einem größeren Teil der Bevölkerung der Lombardei bekannt waren und als typisch für diese Region wahrgenommen wurden. Hier könnte es sich auch um eine sehr persönliche Assoziation gehandelt haben. Gleichwohl hat es solche Gebäude in der Lombardei gegeben und ihre Bauweise und Struktur entsprachen den Anforderungen, die ein agrarproletarisches Milieu an solche Gebäude stellte. In diesem Fall versuchte Rossi ein wenig bekanntes und sehr spezifisches Schema zu aktualisieren. Eine Insula, eine Straße oder ein Hoftypus hingegen waren wenig spezifisch, hier war es wahrscheinlicher, dass eine breitere Öffentlichkeit diese mit einem Vorbild verbinden konnten. Rossi schrieb den typischen Grundformen Realität zu, weil sie sich über eine lange Zeit hinweg erhalten hatten. Sie waren in einer früheren Zeit realisiert worden, konnten jederzeit in abgewandelter Form neu angewendet werden. Statisch waren sie in dem Sinne, dass ihre sukzessiven Konkretisierungen nicht zu einer Vervollkommnung führen sollten. Es gab keine teleologische Entwicklung, mit deren Hilfe ein »höheres Ziel«, ein Ideal, das in der Grundform angelegt wäre, verwirklicht werden sollte. Aus heutiger Sicht war die Subsumierung der neorationalistischen Architektur unter den Begriff des Realismus problematisch. Es ist deswegen von Interesse, wie diese im Jahre 1976 begründet wurde. In ihrer Einführung zum archithese-Heft definierten Bruno Reichlin und Martin Steinmann Architektur als »Gegenstand einer besonderen, auf ihre eigene Wirklichkeit bezogenen Erkenntnis«.19 Mit dieser Definition, die den autonomen Charakter eines Wirklichkeitssegments hervorhob, hätte sich auch eine beliebige, andere Parallelwelt beschreiben lassen. Sie unterschied sich wenig von der postmodernen Annahme, dass es keine allgemein verbindliche Wirklichkeit geben könne. (Die Postmoderne ging von verschiedenen, gleichzeitig existierenden Realitäten aus.) Reichlin und Steinmann vertraten marxistische Positionen. Sie betonten jedoch die ästhetische Dimension. Sie argumentierten richtigerweise, dass eine Architek-

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tur, die selbst keine formalen Regeln entwickeln würde, unbewusst ästhetische Vorstellungen von außen übernehmen und unreflektiert anwenden würde. Eine außerarchitektonische und eine innerarchitektonische Wirklichkeit seien als zwei seperate Ebenen anzunehmen. Eine Ebene vermittle die jeweils andere, wobei jede für sich selbständig bleibe. Somit sei eine realistische Architektur kein Abdruck (kein »Bild«) einer gesellschaftlichen Realität, diese sei nur über die Arbeit identifizierbar, die ein Können im (Architektur-)Werk hinterlassen habe Diese »eigene Wirklichkeit der Form« benötige eine Theorie, die »Kategorien ausarbeite[t], [die] die Gleichartigkeit und Verschiedenartigkeit aller Werke und die in ihnen auffindbaren poetischen Verfahren (die rhetorischen Figuren, deren Aktualisierung […]) erfassen«20 konnte. Reichlin und Steinmann verbanden also mehrere Ansätze: einen formalistischen (Tomachevski), einen strukturalistisch-marxistischen (Althusser) und einen klassisch-marxistischen (Brecht und Lukács). Leider verwässerten sie dieses konsequente Konzept am Ende ihrer Einführung, indem sie die Produktion von Architektur mit jener von Texten gleichsetzten. Sie beriefen sich hierbei auf die damals populäre poststrukturalistische Philosophie Jacques Derridas. Diese operierte mit einer Verkettung aufeinander bezogener Verweise, dekonstruierte Sinnstrukturen. Sie unterschied sich substantiell von den Haltungen, die Brecht, Lukács oder Althusser vertraten. Am Ende dieses Abschnitts will ich darlegen, warum ich die rationalistische Architektur im Sinne Aldo Rossis als einen paradoxen Realismus bezeichne. Der Rationalismus Aldo Rossis war eine ideologisch-politische Konstruktion, er verwendete keine populäre Formensprache. Rossi reduzierte Gebäude auf archetypische Grundformen, beispielsweise auf die Ur-Form eines traditionellen Hauses. Normal oder banal waren diese Bauten in dem Sinne, dass sie jedes Kind lesen und verstehen konnte (tatsächlich wirken manche Zeichnungen Rossis wie Kinderzeichnungen). Rossi relativierte diese Normalität, indem er seine Archetypen mit großen, oft disproportional wirkenden Bauteilen kombinierte. Diese hatten eindeutige, geometrische Formen, so verwendete er beispielsweise immer wieder Zylinder oder spitz zulaufende Kegel. Wurde ein solches Objekt im Zentrum eines Schemas oder am Ende einer Achse platziert, dann suggerierte es, dass es von besonderer symbolischer oder funktioneller Bedeutung sei. Die sogenannten Ur-Formen verloren dabei ihren neutralen Charakter, sie wurden Teil eines Systems. Rossi verschmolz aber auch Archetypen mit objektartigen Bauteilen. Solitäre, fremdartige Objekte brachen dann – gleichsam mit Gewalt – in die Sphäre des Normalen ein. Es wurde viel gerätselt, wie die solitären, objekthaften Bauteile in Rossis Architektur zu deuten wären. Welche Botschaft konnte beispielsweise ein mit Ziegeln verkleideter Kegel vermitteln, der wie ein Industrieschornstein aus dem 19. Jahrhundert aussah? Ich meine, dass Rossis Projekte eine so große Aufmerksamkeit fanden, weil hier eine latente Anarchie das Normale durchzog. Rossi kumulierte Bauteile, die symbolisch wirkten, verwendete aber gleichzeitig neutrale Bauformen. Streng symme-

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trische Anlagen suggerierten totale Unterwerfung unter ein gestalterisches System, bei anderen Projekten hingegen schienen die Teile gegen das Ganze aufzubegehren. Diese Architektur erfüllte und enttäuschte die Erwartungen ihres Publikums gleichermaßen. Sie übertrieb das Systemhafte, stellte aber gleichzeitig das Funktionale in Frage. Ihre demonstrative Symbolik schien eindeutige Botschaften zu vermitteln, diese waren aber so offensichtlich, dass sie wie Karikaturen wirkten. An realistische Traditionen knüpften jene Projekte Rossis an, die das Neutrale und Typische betonten. Ende der 1970er Jahre plante sein Büro drei Reihenhausanlagen, die 1983 in der Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen als Beispiele einer sparsamen und volksnahen Architektur präsentiert wurden. Zwei dieser Anlagen wurden von Arbeitergenossenschaften errichtet (jene in Goito und in Pegognaga). Autor Paolo Fumagalli bezeichnete sie in seinem Artikel als »eine Architektur, die die Wünsche und die Lebensweise der Leute reflektiert [und] in programmatischer Weise an ihre einfache, aber echte Kultur anknüpft«.21 Nach seiner Ansicht lagen diesen Wünschen allgemein verbreitete, typische Vorstellungen zu Grunde. »[H]ier ist ein Haus ein Haus, wenn es durch ein Satteldach abgeschlossen wird, wenn das Fenster ein Loch in der Mauer ist und die Eingangstür eine Schwelle hat«.22 Alle drei Wohnbauten wiesen übliche Grundrisse auf: Küche und Wohnraum im Erdgeschoss, Schlafräume im Obergeschoss. Jedoch waren die Grundrisse der Bauten in Goito und Pegognaga großzügiger und praktischer, da hier – anders als beim Gebäude in Mozzo – die Treppen an den Wohnungstrennwänden platziert waren. In Mozzo und in Goito hob Rossi die Zugänge zu den Wohneinheiten hervor, in Pegognaga wurden zwei Gebäude auf einen mittigen Hofbereich hin orientiert. Ihre hofseitigen Fronten sind mit hohen Arkaden versehen. Hier kommt die Idee zum Ausdruck, dass Architektur soziale Organisationsformen darstellen könne. Allerdings ist das Kollektiv, das Rossis Architektur hier evoziert, ein historisches. Fumagalli umschreibt es als ein »kollektives Leben auf dem Hof«.23 Auf moderne Verhältnisse lassen sich vormoderne, agrarische Lebensweisen nur schwer übertragen, auch wenn man – wie Rossi oder Fumagalli – annimmt, dass vormoderne Muster in archetypischer Weise in der zeitgenössischen Arbeiterschaft präsent sind. Das Leben auf dem Hof kreiste um die Arbeit, ihr waren zentrale Zonen vorbehalten, wie der Bereich zwischen den Hauszeilen in Pegognaga. Dieser »Hof« hat sich inzwischen in eine Wiese verwandelt. Bäume verweisen darauf, dass hier keine landwirtschaftlichen Geräte mehr abgestellt werden, keine kollektive Arbeit mehr verrichtet wird. Als Reste eines kollektiven Raums lassen sich die Arkadengänge deuten. Sie visualisieren, dass es sich bei dieser Anlage nicht nur um eine Serie individueller Wohneinheiten handelt.

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48: Aldo Rossi in Zusammenarbeit mit G. Braghieri und C.O.P.R.A.T.: Cooperativa d’abitazione, Pegognaga, 1979, ehemaliger Hof.

Foto: © Andrea Pirisi, © Eredi Aldo Rossi, courtesy Fondazione Aldo Rossi

49: Cooperativa d’abitazione, Pegognaga, Arkaden.

Foto: © Andrea Pirisi, © Eredi Aldo Rossi, courtesy Fondazione Aldo Rossi

Paradoxe Realismen

50: Lageplan der Reihenhäuser von Pegognaga.

© Eredi Aldo Rossi, courtesy Fondazione Aldo Rossi

51: Aldo Rossi in Zusammenarbeit mit G. Braghieri und C.O.P.R.A.T.: Cooperativa d’abitazione, Goito, 1979.

Foto: © Peter Koehl, © Eredi Aldo Rossi, courtesy Fondazione Aldo Rossi

Das Triviale als Leitbild der postmodernen Architektur Im Rahmen ihrer Einführung zum Realismus-Heft mussten Steinmann und Reichlin auch auf den postmodernen »Realismus« von Robert Venturi und Denise Scott

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Brown eingehen, da dieser den zweiten Schwerpunkt des Hefts bildete. Sie meinten, dass die Architektur von Venturi & Rauch sich »auf das reine Zeichen beschränk[e]« und auf sinnliche Erfahrung verzichte.24 Dennoch sei sie realistisch, weil »die Antagonismen der Wirklichkeit als Gegenstand der Poetik in ihnen wiederkehren [würden]«.25 Die Architektur von Venturi & Rauch bezeichneten sie als heteronom, jene von James Stirling hatte nach ihrer Ansicht sowohl autonome wie heteronome Züge. Dass Denise Scott Brown in archithese, Heft 19, prominent vorkam, dürfte auch am Redakteur des Hefts, Stanislaus von Moos, gelegen haben. Unter dem Titel »Zweierlei Realismus« untersuchte Stanislaus von Moos 1977 in einem Beitrag in werk – archithese26 die theoretische Herangehensweise von Robert Venturi und Denise Scott Brown. Dabei kritisierte er den europäischen »Realismus«, wie er von Aldo Rossi, Giorgio Grassi oder dem französischen Architekturtheoretiker Bernard Huet vertreten wurde. Von Moos fragte, welcher Realismus im Zusammenhang mit Venturi und Scott Brown gemeint sein könne. Er stellte fest, dass sich die US-amerikanische Kritik angewohnt hätte eine Architektur wie jene der »Venturis«27 als realistisch zu bezeichnen, weil sie (so von Moos) »versucht, Architektur auf den Geschmack […] der kleinen Leute einzupendeln, statt von oben herab abstrakte, ›ideale‹ Standards zu verordnen«.28 Von Moos verglich diese Auffassung von Realismus mit jener in Europa, die bereits die Frage, was als Realität zu definieren sei, grundsätzlich anders beantworte. Für diese sei Realismus die »Fiktion eines ›kollektiven Willens‹, der grosse Zeiträume ›besetzt‹«, und würde »in den Begriffen einer humanistischen Idealität definiert«.29 Von Moos bezeichnete diese Haltung als »Spuk«, weil sie die Vorstellung perpetuiere, dass die Umwelt mit Hilfe einer architektonischen Planung kontrolliert werden könne. Gerade gegenüber einer solchen Haltung sei »die Handgreiflichkeit der Argumentation« von Venturi und Scott Brown befreiend. Auch hätten diese erkannt, dass Architektur im Baugeschehen nur mehr einen geringen Stellenwert habe, und würden die marginale Position der Architekturschaffenden akzeptieren. Nach von Moos war der »Populismus«,30 den Venturi, Scott Brown und Rauch vertraten, nicht populär. »Es ist, als möchten die kleinen Leute […] nicht in der Schäbigkeit ihres kleinbürgerlichen Daseins ertappt werden. Als möchten sie eben, dass der Architekt nicht ihre soziale Realität, sondern ihre Ansprüche auf ein gehobenes Dasein artikuliert«.31 In diesem Zusammenhang thematisierte von Moos auch, dass eine »Volkstümlichkeit«, die von einer Elite aufgegriffen und dargestellt wird, sich durch die künstlerische Bearbeitung verändert, durch diese »nobilitiert« wird. Dennoch plädierte er am Ende seines Beitrags dafür, das Triviale als architektonische Ressource zu begreifen. Er forderte dazu auf, »die anspruchslosen, ja die trivialen Aspekte der Umwelt anzuerkennen, als das tägliche Brot der Sinnlichkeit«.32 Von Moos referierte in seinem Beitrag vor allem auf die Publikation Learning from Las Vegas33 sowie auf die Ausstellung Signs of Life. Symbols in the American City, die

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1976 in der Renwick Gallery in Washington, D.C., gezeigt worden war. Venturis früheres Buch, Complexity and Contradiction in Architecture,34 betrachtete er als Vorstudie, die »Probleme der Form«35 thematisiert hätte. Wir interessieren uns hier für diese frühe Arbeit Venturis, da es in dieser um konkrete architektonische Fragen ging. Venturi verfasste Complexity and Contradiction in Architecture bereits in den frühen 1960er Jahren und publizierte es 1966. Zu dieser Zeit begannen sich populistische Strömungen in der Architektur zu etablieren, vor allem in den USA. Venturi übernahm populistische Anliegen, betrachtete diese jedoch aus einer dezidiert architektonischen Perspektive. Er erörterte – anders als bei den Publikationen, bei denen er später mitwirken sollte – strukturelle und räumliche Aspekte historischer Bauten. So konnte beispielsweise eine als inkonsequent erscheinende, besondere Fassadenausbildung durch ein räumliches Problem motiviert sein und dessen Lösung darstellen. Häufig argumentierte Venturi kunsthistorisch, übernahm Analysen von Nikolaus Pevsner oder Rudolf Wittkower. In vielen Fällen wirkte seine Darstellung fundiert und überzeugend, beispielsweise seine Überlegungen zu Berninis Sant’Andrea al Quirinale, zu Borrominis San Carlo alle Quattro Fontane oder zu den Kirchen St. George und Christ Church von Hawksmoor. Andere Interpretationen schienen willkürlicher oder zu allgemein, etwa wenn die Verwendung von Doppelpfeilern an den Außenseiten eines Vestibüls (Vanbrughs Blenheim Palace) eine architektonische Betonung der Einheitlichkeit eines Gebäudes belegen sollten.36 Sein Buch gliederte sich um Begriffe, die nach der Theorie der klassischen Moderne schwache Architekturen gekennzeichnet hatten. Die Moderne hatte in Frage gestellt, ob derartigen Architekturen überhaupt ein Werkcharakter zuerkannt werden konnte, und ließ einen solchen nur für Gebäude aus historischen Architekturepochen gelten. In seinem Buch führte Venturi Gebäude aus dem Manierismus, dem Barock, dem Spätbarock, dem Rokoko und dem 19. Jahrhundert auf. Zwischen diese streute er moderne Beispiele ein, die von Le Corbusier, Alvar Aalto, Hans Scharoun und Frank Lloyd Wright stammten, also von vier Architekten, die eine lyrisch-komplexe oder organische Architektur vertraten. »Both-and«, einer der Begriffe, um die Venturis Text kreiste, war bereits von Aldo van Eyck in die architektonische Diskussion eingeführt worden. Venturi verwendete ihn in einem sehr allgemeinen Sinn, um darzulegen, dass Architektur verschiedene, sogar gegensätzliche Botschaften gleichzeitig ausdrücken könne. Venturis Leitbegriffe überlagerten sich, gingen manchmal ineinander über. So konnte der Begriff »Widerspruch« (»Contradiction«)37 als eine gesteigerte Form von Ambivalenz (»Ambiguity«) oder die Bezeichnung »Doppelfunktion eines Elements« (The Double Functioning Element«) als eine Facette des Phänomens bothand verstanden werden. Aus moderner Sicht musste besonders verstörend wirken, dass Beschränkungen eines stadträumlichen Kontexts als positive Faktoren gesehen wurden, die im Erscheinungsbild eines Neubaus zum Ausdruck kommen sollten. In Venturis Theorie hatte Ambivalenz stets eine zweckdienliche Funktion. »Vereinfa-

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chung« (»Simplification«) lehnte er ab, ebenso das Pittoreske (»Pittoresqueness«).38 Nach seiner Ansicht gab Letzteres bloß einen »subjektiven Expressionismus«39 wieder, suggerierte eine falsche Komplexität, die sich nicht aus der Erfahrung, den Anforderungen eines komplexen Programms, begründete. Venturi perpetuierte auch die idealistische Idee, dass sich Widersprüche in einer höheren Ebene zusammenführen und aufheben lassen würden. Sein letztes Kapitel nannte er Die Verpflichtung zu einem schwierigen Ganzen. Ob dieses Ganze nun im Sinne einer Synthese verstanden werden konnte oder ob es sich bloß um ein Einfrieren bestehender Widersprüche handelte, soll hier nicht weiter untersucht werden. Venturis Zugang unterschied sich in mehreren Punkten von jenen populistischen Positionen, die eine Subsumierung des Architektonischen unter das Politisch-Soziale forderten. Der Populismus der späten 1960er Jahre meinte, dass die Interessen jener, die von den Auswirkungen der Architektur betroffen waren, das architektonische Handeln bestimmen sollten. Die Planung sollte auf bestehende Wertvorstellungen und Lebensweisen Rücksicht nehmen. Sie sollte nicht mehr davon ausgehen, dass ihre Adressat:innen, zu einer anderen Lebensweise erzogen werden müssten. Auch sollte sie darauf verzichten, ästhetische oder ethische Standards vorzugeben. Allerdings gaben die Protagonist:innen dieses Populismus selbst Standards vor, vor allem moralische, aber auch politische. Die Schwäche dieses Populismus war, dass er kein vorausschauendes Konzept hatte, das zukünftige Veränderungen berücksichtigen konnte. Auch versuchte er nicht, allgemeine gesellschaftliche Anliegen zu verwirklichen, sondern vielmehr gruppenspezifische Identitäten zu konstruieren. Aus einer populistischen Sicht waren Wertvorstellungen und Lebensweisen gegebene, kaum veränderbare Konstanten, welche die Einstellungen unterschiedlicher sozialer »Klassen« zum Ausdruck brachten. Sie negierten, dass diesen gruppenspezifischen Vorstellungen historisch ausgehandelte Kompromisse zu Grunde lagen. Alexander Tzonis und Liane Lefaivre strichen in ihrer Analyse des Populismus in der Architektur der 1960er Jahre hervor, dass sich dieser als Gegensatz zum zeitgenössischen Wohlfahrtsstaat definierte. »[W]ährend der Wohlfahrtsstaat das Ziel hatte, für alle Individuen ein gemeinsames […] Maß zu definieren, und eine ideale, homogene Gesellschaft schaffen wollte, sahen die Populisten ihre Aufgabe darin, neue Modelle zu entwickeln, die individuelle Unterschiede repräsentieren, subjektive Werte ausdrücken und die Diversität einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft wiedergeben konnten«.40 Aus seiner Opposition gegenüber den verordneten Normen des Wohlfahrtsstaats heraus hätte der Populismus eine Strategie der »Befreiung« propagiert. Die Nutzer:innen sollten durch »Selbsthilfe-Design« die Kontrolle über ihre Umwelt wiedergewinnen. Tzonis und Lefaivre kritisierten die Vorstellung, dass Nutzer:innen

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durch Partizipation am Designprozess eigene Wertvorstellungen implementieren könnten. Sie meinten, dass auch in Produkten, die in Design-Selbsthilfe gefertigt würden, allgemeine gesellschaftliche Einstellungen zum Ausdruck kämen. Nach ihrer Meinung führten die populistischen Strömungen der späten 1960er Jahre zu einer Identitätskrise und schließlich zu einer Entqualifizierung; an Stelle einer Architektur, die sich zumindest fallweise an einem allgemeinen, öffentlichen Interesse orientieren konnte, hätten sie »die Freiheit eines Design-Supermarkts«41 gesetzt. Sie hätten zur Implosion der Sphäre des Öffentlichen beigetragen, ihre Ideologie hätte die Fragmentierung der Gesellschaft begünstigt. Aus diesen Gründen seien sie für die zunehmende Privatisierung der Umwelt mitverantwortlich. Venturi versuchte die abstrakt formulierten Anliegen des Populismus mit einer architektonischen Praxis zu verbinden. Über ihren Bezug auf das Populäre und auf die Alltagswelt definierte sich die Architektur von Venturi & Rauch als realistisch. Tzonis und Lefaivre meinten, Venturi und Scott Brown hätten ein Potential, das ihrer Kritik der internationalen Moderne und ihren Studien zu Las Vegas innewohnte, nicht adäquat umgesetzt. Sie hätten Architektur ausschließlich nach visuellen oder stilistischen Gesichtspunkten bewertet. Sie hätten nach einer neuen Norm gesucht, welche die »Anomalien« der neuen populistischen Architektur einfassen und egalisieren sollte.42 Diese Einschätzung scheint mir nicht zutreffend. Insbesondere zielte die Arbeit von Venturi und Scott Brown nicht darauf ab, Anomalien zu egalisieren. Sie glaubten ja, dass die von den populistischen Bewegungen eingeforderte Orientierung an der Alltagskultur unvermeidlich sei, betrachteten diese als einen irreversiblen, historischen Prozess. Sie akzeptierten, dass aus diesem Prozess unerwartete, auch problematische Objekte hervorgehen konnten. Tzonis und Lefaivre meinten, dass falsche theoretische Annahmen das populistische Potential pervertiert hätten. Nach ihrer Ansicht hatte Reyner Banhams Forderung nach einem »emotional engineering«43 schließlich zu den »architektonischen Abartigkeiten von Las Vegas«44 geführt. Dass ein populistischer Ansatz nicht zwangsläufig zu monströsen oder »abartigen« Gebäuden führen musste, zeigen zwei frühe Gebäude des Büros Venturi & Rauch, das Haus für Venturis Mutter Vanna (1959–1964) und die Firestation #4 (1965–1968), an deren Entwurf Denise Scott Brown mitwirkte. Das sogenannte Chestnut-Haus wurde vor allem wegen seiner rhetorischen und symbolischen Architektur bekannt. Die Qualität seiner Innenräume wurde selten thematisiert. Das mag an ihren sehr unterschiedlichen und unregelmäßigen Formen liegen. Nach klassischen, architektonischen Kriterien musste eine derartige Architektur willkürlich und überladen wirken. Die Rhetorik des Gebäudes hingegen war auch aus einer klassisch-modernen Perspektive rezipierbar. Sie vermittelte, dass das Gebäude architektonisch relevant sei, dass es innere Qualitäten geben musste, die gleichsam verschlüsselt waren. Besser beurteilen lässt sich die räumliche Qualität des Gebäudes, wenn ein anderer Standpunkt eingenommen wird, beispielsweise jener,

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den wir bei der Rezeption anonymer, vernakulärer45 Gebäude einnehmen. Dann stellen wir fest, dass die vielen Details, die zahlreichen räumlichen Verschnitte, die meist kleinen Raumsituationen uns nicht stören. Wir nehmen sie als vielfältig und abwechslungsreich wahr. Venturi & Rauch haben beim Chestnut-Haus Raumsituationen geschaffen, wie sie typisch für das anonyme Bauen waren. Wie bei vernakulären Gebäuden überschneiden sich unregelmäßige, höchst unterschiedliche Räume. Bliebt zu fragen, in welcher Hinsicht sie bei ihrer Raumgestaltung über das Vernakuläre hinausgingen. Auf eine kompositorische Logik verweist die Wegführung durch das Gebäude, die aus dem offenen, beinahe weitläufigen Erdgeschoss zu den kleinräumigen, geschlossenen Bereichen des Obergeschosses leitet. Der vertikale, zweigeschossige Bereich der Treppe scheint aus dem Erdgeschoss gleichsam hervorzugehen, er wirkt wie eine skulptural gestaltete Hohlform. Er verleiht dem kleinen Gebäude räumliche Großzügigkeit, betont die Aufwärtsbewegung. Im Gegensatz dazu vermittelt der Raum im Obergeschoss mit seinen Dachschrägen und unregelmäßigen Nischenbereichen ein Gefühl von Geborgenheit. Er wirkt, als wäre er auf die Körper seiner Bewohner:innen gleichsam zugeschnitten. Dennoch ist das Haus ausgesprochen hell. Bereiche, die Schutz suggerieren, sind mit überraschend großen Fensteröffnungen versehen. Die rhetorischen Elemente des Gebäudes, die für Venturi so wichtig waren, tragen nur wenig zur Qualität der Räume bei. Zwar verstärkt das bogenförmige Fenster im Obergeschoss den Charakter des Schützenden, dieser Eindruck hätte aber auch mit einer weniger formalen Konstruktion erzielt werden können. Zur Zugangsseite hin signalisiert das Gebäude eine Dualität, die sich im Inneren nicht wiederfindet, die bauliche Verbindung der scheinbaren Haushälften wirkt artifiziell. Anders als bei vernakulären Gebäuden sind die Räume des Chestnut-Hauses nicht in verschiedenen Etappen entstanden. Zufällig wirkende Gebäudeteile sind das Ergebnis einer Priorisierung: Wesentliche Entwurfsabsichten wurden realisiert, die Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die sie bewirkten, akzeptiert. Die Architektur versuchte nicht zu egalisieren. So wirken, beispielsweise, die Seiten- und Rückfassaden, als wären sie gleichsam sich selbst überlassen worden. Gerade deswegen vermitteln sie aber auch einen authentischen Eindruck. Im Innenraum hingegen werden gestalterische Absichten erkennbar, diese beziehen sich aber nicht auf ein übergeordnetes, formales Konzept. Vielmehr verweisen sie auf eine Gleichzeitigkeit divergierender Überlegungen und pragmatischer Kompromisse.

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52: Robert Venturi: Vanna Venturi Haus, Seitenansicht.

Foto: Smallbones – Own work, Public Domain, http s://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1 2250221

53: Vanna Venturi Haus, Modell 17, Schema 6.

Courtesy: The Architectural Archives, University of Pennsylvania by the gift of Robert Venturi and Denise Scott Brown.

54: Vanna Venturi Haus, Grundriss 1964.

Courtesy: Venturi, Scott Brown, and Associates

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55: Vanna Venturi Haus, Schnitt 1964.

Courtesy: Venturi, Scott Brown, and Associates

56: Vanna Venturi Haus, Innenansicht 1964.

Foto: Rollin R. de La France, courtesy: Venturi, Scott Brown, and Associates

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57: Robert Venturi/Denise Scott Brown: Fire Station No. 4, 1968, Ansicht.

Courtesy: Venturi, Scott Brown, and Associates

Bei der Fire Station # 4 definiert sich die Architektur über ein rhetorisches Element, den (funktional notwendigen) Schlauchturm, der in die Mitte der Fassade platziert wurde. Durch ihn erhielt das Gebäude einen zeichenhaften oder »öffentlichen« Charakter. Auf seiner Rückseite ist dieser Turm rund, was aus funktionalistischer Sicht ein Vorteil war, so ließ sich der Innenraum des Turms besser nutzen. Auch die Aufteilung der Räume ist funktionell-praktisch: Rechts des Turms befindet sich der Garagenbereich, auf der linken Seite der Aufenthaltsraum mit Waschräumen und Garderoben. Das Entwurfsteam relativierte diese klare und in einem positiven Sinn monumentale Architektur durch dekorative Applikationen. Auf dem Turm verwies eine riesige Ziffer auf die Adresse, die Frontfassade wurde mit einer grafischen Form überlagert. Die applizierte Fläche überlappte asymmetrisch die Fenster- und Garagenöffnungen, sie unterteilte die Schauseite des Gebäudes in drei Zonen. Die Mittelzone wurde mit weiß glasierten Ziegeln verkleidet, die beiden Randbereiche mit roten. Da die Applikation in klassischen Baumaterialien realisiert wurde, konnte sie auch für ein architektonisches Element gehalten werden. Sie »widersprach« der schlichten, prägnanten Architektur des Gebäudes. Aus Sicht des Entwurfsteams sollte sie wohl Komplexität und Nonkonformismus symbolisieren. Al-

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lerdings ließe sie sich auch anders interpretierten. Die roten Eckbereiche könnten auch als Reparaturen verstanden werden, die nach einer schweren Beschädigung des Gebäudes notwendig wurden. Sie würden dann auf eine finanzielle oder zeitliche Notsituation verweisen: Es musste ein anderes Material verwendet werden, das kurzfristig zur Verfügung stand. Die beiden Fenstertypen der Frontfassade hatte Venturi bereits beim VannaVenturi-Haus verwendet. Ein kurzes horizontales Fenster (es zitierte ein modernes Dogma) wurde axial auf ein großes, quadratisches Fenster ausgerichtet. Die beiden Fenster beziehen sich formal aufeinander, sind aber funktional platziert, so dass die formale Geste hier angemessen scheint. Personen, die über kunsthistorische Vorkenntnisse verfügen, können in der Architektur des Gebäudes historische Vorbilder erkennen. Besitzt man solche Vorkenntnisse nicht, dann wird man es als eine sowohl funktionelle wie auch plastisch gestaltete Architektur wahrnehmen.

58: Fire Station No. 4, 1968, Grundriss.

Courtesy: Venturi, Scott Brown, and Associates

Venturis frühe Architektur markiert eine Schnittstelle. Sie entstand in einer Phase des Übergangs, in welcher sich der Populismus in der Architektur veränderte: Der inoffensive, eher unverbindliche Populismus der frühen Pop-Art oder der britischen Independent Group verwandelte sich in einen politischen, der Partizipation einforderte. Seine theoretischen Anliegen wurden nun nicht mehr von Architekturschaffenden formuliert. An deren Stelle traten Urbanist:innen und So-

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ziolg:innen. Das advocacy planning der 1960er Jahre berief sich auf soziologische und wissenschaftliche Studien. Diese Professionalisierung relativierte die Stellung der Architekturschaffenden. Sie bewegten sich von nun an gleichsam in Reservaten, die ihnen die wissenschaftliche Fachwelt zugestand. In den 1970er Jahren entwickelten Venturi und Scott Brown eine Architektur, die direkt auf die trivial-ästhetischen Vorstellungen der kleinbürgerlichen Schichten referierte. Ihre Analyse suggerierte, dass diese ausschließlich über Bilder kommuniziert würden. Venturi und Scott Brown meinten, dass ihre Architektur die Vorstellungen der kleinen Leute wiedergeben würde, da sie sich aus populären Mustern generierte. Aus Sicht des neuen wissenschaftlichen Populismus reichte dies aber nicht aus. Demnach müssten die Betroffenen ihre Vorstellungen selbst artikulieren und sollten über deren Umsetzung entscheiden. Letztendlich ließen sich Forderungen nach einer sehr weitgehenden Partizipation nicht mit einer eigenständigen architektonischen Agenda verbinden. Der Populismus der 1960er Jahre reichte ungelöste Fragen an nachfolgende Generationen weiter. Nach 1975 musste sich jede neue Architekturströmung über ihr Verhältnis zum Trivialen definieren. Diese neue Trivialität, war eine andere als jene der Nachkriegszeit. Damals meinte sie das Normale und Gewöhnliche, bezog sich auf Normen, die allgemein akzeptiert wurden. Sie entsprach dem, was wir mit dem Begriff des Banalen verbinden. Das Triviale hingegen enthält ein individualistisches Moment, die Normen, auf die es referiert, sind partielle. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Begriffen ist, dass das Banale sowohl positiv wie auch negativ gedeutet werden, dem Trivialen hingegen eine Negativität gleichsam eingeschrieben ist. Wird Triviales positiv gedeutet, dann bringt dies eine kulturkritische Haltung zum Ausdruck. Ein positiv besetztes Banales hingegen integriert sich in einem bestehenden kulturellen Kontext. In der Architektur der 1950er und frühen 1960er Jahre, bei den Smithsons und bei Team Ten, war der Begriff des Banalen ausschließlich positiv besetzt. Er beschrieb eine Sicherheit und Vertrautheit, die von den Dingen des Alltags, von gewohnheitsmäßigen Verrichtungen und Ritualen ausging. Die angelsächsische Postmoderne übernahm diese positive Deutung des Banalen, fügte ihr jedoch ein relativierendes Moment hinzu. Sie nahm eine ironische Distanz ein, betonte den ambivalenten Charakter des Banalen. Damit rückte sie dieses in die Nähe des Trivialen, das sie jedoch positiv definierte. Ein unausgesprochener Dualismus durchzog die gesamte Epoche der postmodernen Architektur: Das Banale vertrat ein Erbe, es sollte versichern und den Anschluss an die Gesellschaft garantieren, das Triviale wiederum konnte die Planung von Beschränkungen ethischer oder normativer Art befreien. Es konnte jede Handlung im Vorhinein entwerten. Insofern war es ein ideales Werkzeug, um eine Tabula rasa zu schaffen, einen von jeglichem Sinn entleerten »Raum«, in dem Material beliebig kombiniert und montiert werden konnte. Weil es ermöglichte, jegliche Ansprüche abzuweisen, eignete sich das Triviale als Leitbild für die postmoderne Architektur. Seine volle Wirkung

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konnte es jedoch erst entfalten, als seine Negativität betont wurde, eine Strategie, die später der dirty realism, verfolgte. Die populistischen und postmodernen Konzepte in der Architektur bezogen sich dezidiert auf Ansprüche und Wünsche der Nutzer:innen. Aus populistischer Sicht sollten diese die Möglichkeit erhalten, direkt am Planungsprozess mitzuwirken. Als Problem erwies sich hierbei, dass sich die Kompetenz, die Letztere einbringen sollten, nicht hinreichend definieren ließ. Es gab einen fundamentalistischen Populismus, welcher der professionellen Planung jegliche Lösungskompetenz absprach. Andere Formen des Populismus betrachteten Planung als einen pädagogischen Prozess, der den Nutzer:innen helfen sollte, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Solche Versuche konnten erfolgreich sein, wenn einer »beratenden« Planung Expertise zugestanden wurde. Viele partizipative Ansätze scheiterten jedoch, weil sie sich scheuten, eine Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen zu definieren. Sie bevorzugten es, den Nutzer:innen die Illusion zu belassen, dass über eine komplexe Planung ohne sachkundiges Vorwissen demokratisch entschieden werden könnte. Wenn einer externen Planung Kompetenz zugestanden wurde, dann vor allem eine technische oder organisatorische. Ästhetische Entscheidungen hingegen schienen sich besonders für Partizipationsprozesse zu eignen. Der Populismus förderte eine »Architektur«, die sich auf formale und ästhetische Fragen konzentrierte. Er verriet dabei seine ursprünglichen Intentionen, die auf eine Abschaffung des Formalen abgezielt hatten. Erforderten ästhetische Entscheidungen keine besondere Kompetenz, wurden sie als ein gleichsam angeborenes Wissen betrachtet, dann reduzierte sich der Aufgabenbereich der Architektur auf organisatorische und technische Aspekte. Wie weit sollte die Mitwirkung der Nutzer:innen gehen? Sollten sie das Erscheinungsbild eines Gebäudes in demokratischer Abstimmung festlegen, inklusive seiner räumlichen Konfiguration, seiner gestalterischen Details, der Materialien und der Farbgebung? Es gab hier einen enormen Spielraum. Die Postmoderne schränkte diesen Spielraum wieder ein, sie sah vor, dass eine professionelle Planung die Bedürfnisse der Nutzer:innen interpretieren sollte. Dabei konzentrierte sie sich auf die semiotische Ebene der Architektur. Sie definierte bisher nicht berücksichtigte Anliegen ihres Publikums als ein Verlangen nach bildhaften Darstellungen. Damit verlagerte sich das Interesse vom Räumlichen und Stadträumlichen zum Ikonischen. Die Alltagskultur, auf die sich die postmoderne Theorie46 bezog, war jene der Eltern und Großeltern. Sie war eine private und individuelle. Die disproportionalen Firmenzeichen der main street 47 symbolisierten eine Fragmentierung der Gesellschaft, deuteten auf eine schwache Stellung des Kollektiven. Sie berichteten von Ängsten: der Angst, übersehen zu werden, der Angst, keine oder zu wenig Beachtung zu finden. Niemand würde auf der main street sein Fahrzeug anhalten, um zu fragen, wo die nächste Drogerie, das beste Restaurant des Orts oder die Bank liegt.

Paradoxe Realismen

Dafür gab es Schilder. Begrenzt wurde main street von indifferenten baulichen Agglomerationen. Deren Zweck und Sinn erschloss sich über zusätzliche Informationen, über Lese- oder Betriebsanleitungen, die sowohl schriftlicher wie auch bildlicher Natur sein konnten. Hier zeigte sich das Paradoxe des postmodernen Realismus. Er forderte dazu auf, anzuerkennen, dass der weitaus größte Teil des Baugeschehens nicht von architektonischen Kriterien bestimmt wurde. Er versuchte die Einstellungen, die dieses trivial-anonyme Bauen generierten, als architektonische Ressource zu begreifen. Gleichzeitig nahm er an, dass dies nur in Form eines Kommentars geschehen könnte. Diese Kommentarbedürftigkeit führte schließlich zu einer sowohl intellektuellen wie auch artifiziellen Architektursprache, die von denen, an die sie sich wendete, nicht verstanden wurde. Der postmoderne Realismus vermochte nicht schlüssig zu klären, auf welche Formen des Trivialen eine neue Architektur zurückgreifen sollte. Er vernachlässigte das Soziale und Kollektive, verzichtete voreilig auf eine soziale Agenda. Die Postmoderne definierte die untere Mittelschicht als eine demografische Grenze. Sie ging davon aus, dass bereits in der »normalen« Mittelschicht »abgehobene« kulturelle Vorstellungen existieren würden. Sie betrachtete das Triviale als einen Wert, der den nicht privilegierten, unteren Schichten vorbehalten bleiben sollte. Dabei übersah sie, dass das Triviale in den sogenannten Oberschichten genauso präsent, oft sogar viel ausgeprägter war. Zudem verfügten diese Schichten über Ressourcen, die es ihnen ermöglichten, ihre Vorstellungen zu realisieren. Bei Venturi und Scott Brown schien noch ein emanzipatorisches Moment durch, die Vorstellung, dass mit der Anerkennung einer ästhetisch geächteten Alltagskultur eine soziale Aufwertung verbunden sei. Später, in den neoliberalen Gesellschaften der 1990er Jahre, wurde das Triviale von oben nach unten weitergegeben. Hier hatte sich diese Vorstellung in ihr Gegenteil verkehrt. Das Triviale wurde zu einem Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe sich verbliebene Freiräume kolonisieren ließen.

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In diesem Kapitel werden realistische Tendenzen in den 1980er und frühen 1990er Jahren thematisiert, die sich vom sozial motivierten, »utopischen« Realismus der 1920er Jahre unterschieden. Gemeinsam war ihnen, dass sie Architektur nicht mehr als ein Medium betrachteten, mit dessen Hilfe sich gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen lassen sollten. Dieser neue, kritische Realismus beabsichtigte nicht mehr eine bessere, sozial gerechtere Welt zu implementieren, er versuchte aus dem Vorhandenen Brauchbares zu destillieren. Innerhalb des zeitgenössischen Spektrums lassen sich drei wesentliche Richtungen identifizieren: eine theoretische, die die Schwächen der postmodernen Grundlagen offenlegte, aber keine baulichen Spuren hinterlassen hat (Michael Benedict),1 der critical regionalism,2 wie ihn Kenneth Frampton definierte, und eine dritte Haltung, die auf Vereinfachung und Reduktion setzte (vor allem die Schweizer Architektur der späten 1980er und der 1990er Jahre). Alle drei Richtungen sahen sich in Opposition zur postmodernen Architektur, übernahmen aber auch postmoderne Themen und entwickelten diese weiter. Der größte Teil dieses Kapitels ist dem critical regionalism gewidmet, da dieser eine Diskussion anstieß, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart hineinwirkt. Dabei geht es um die Frage, ob es eine Welt mit Unterschieden geben kann oder ob jede kulturelle Äußerung zwangsläufig in eine globale Perspektive eingehen und durch diese relativiert und egalisiert werden muss. Da die Frage nach der Rolle des Bildhaften in der Architektur ein zentrales Thema unseres Buches ist und alle drei Richtungen sich für eine Architektur jenseits des Bildhaften aussprachen, ergibt es Sinn, an dieser Stelle nochmals auf seine Funktion in der Architektur einzugehen. Jede Architektur definiert sich zumindest teilweise über Bilder, mit deren Hilfe sie kommuniziert. Dabei hat das Bild die Funktion, einen größeren und komplexen Zusammenhang in eine rezipierbare Form zu bringen. In der Regel muss hierbei reduzierend vorgegangen werden. Inhalte, die wesentliche Qualitäten einer Architektur definieren, müssen ausgeschlossen werden. Neben der Reduktion findet auch eine Verallgemeinerung statt. Das Neue soll in typischer Weise für eine Vielzahl ähnlicher Fälle stehen. Stets verweist dieser gemeinsame Nenner – das neue Bild – auf ein Material, das den rezipierenden Personen bereits bekannt ist. In der Architektur erfüllt ein Bild im Wesentlichen zwei Funk-

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tionen: Es soll Interesse wecken, suggerieren, dass es sich bei dem Dargestellten um etwas Neues handelt, und es soll dieses Neue kommensurabel machen, es in die Vorstellungswelt (die von Bekanntem ausgeht) einbetten. Neu geschaffene Bilder werden vereinnahmt, gebraucht, sie verändern sich. Im Rahmen dieses Vorgangs entwickeln Bilder ein Eigenleben, visuelle und formale Aspekte, die sich auf die Oberfläche und den inneren Aufbau eines Bilds beziehen, spielen eine Rolle. Das Bild illustriert nicht bloß einen Inhalt, es kommuniziert zusätzlich Informationen, die von den rezipierenden Personen nicht oder nur in diffuser Weise wahrgenommen werden. Diese Unschärfe ist dafür mitverantwortlich, dass wir Bilder als fremdartig und neu wahrnehmen können. Sie ermöglicht uns, dass wir Gewohntes gleichsam mit neuen Augen sehen können, andererseits relativiert sie unsere Erfahrungen. Ein Bild, das bisher einen bestimmten Inhalt vorstellte, löst sich von diesem, es wird mit neuen, anderen Inhalten verbunden. Weil sie nicht eindeutig mit einem Inhalt zur Deckung gebracht werden können, können Bilder mit verschiedenen oder sogar beliebigen Inhalten korrelieren. Es hängt dann von der Form der Präsentation und dem Kontext ab, welchen Inhalt das Bild vorstellen soll. Um seine Funktion hinsichtlich der Architektur vollständig zu erfüllen, müsste ein Bild die Qualitäten dieser Architektur in einer Kurzfassung wiedergeben. Im Unterschied zu einem Trailer, der Ausschnitte aus einem Film kumulieren kann, kann ein einzelnes Bild dies jedoch nicht leisten. Es kann nur eine äußerst knappe, sehr allgemeine Formulierung anbieten, einen einzelnen – vielleicht sehr wichtigen – Aspekt präsentieren, der symbolisch für einen größeren nicht sichtbaren Zusammenhang steht. Das Nichtsichtbare – das, was im Bild unausgesprochen präsent ist – bestimmt in hohem Maße die architektonische Qualität, von der das Bild »erzählt«. Aufgrund dieser Überlegungen können wir davon ausgehen, dass Bilder nur in rudimentärer und unsicherer Weise architektonische Inhalte transportieren können. Sie können skizzenhaft eine erste Vorstellung vermitteln. Das, was sie versprechen oder ankündigen, lässt sich jedoch nur schwer verifizieren. Hinter einem Bild kann sich sehr viel – oder sehr wenig – an Inhalt verbergen. Die postmoderne und die sogenannte autonome Architektur der 1970er Jahre plädierten aus unterschiedlichen Gründen für eine bildhafte Architektur. Zur Zeit der frühen, populistischen Postmoderne (Robert Venturi, Charles Moore) herrschte die Auffassung vor, durch sie einen Anschluss an die gesellschaftliche Realität ihrer Zeit finden zu können. Die autonome Architektur hingegen konstruierte sich ihre eigene Realität. Sie verwendete Bilder nicht mehr als ein Mittel der Kommunikation, das einen architektonischen Sachverhalt ankündigen oder erklären soll. In ihren Händen wurde das Bild zu einer Ikone, die einen abstrakten architektonischen Gehalt symbolisieren sollte. Architekturen, die sich über das Bildhafte definieren, verkürzen Architektur auf einige wenige Aspekte. Die Erklärung zu den Bildern – die Bildlegende – wird

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gleichsam abgeschnitten. Da das einzelne Bild nur wenige Informationen transportieren kann, operieren ikonische Architekturen mit großen Bildmengen. Aus einer großen Zahl an Bildern ergibt sich aber nicht notwendigerweise eine große architektonische Bandbreite. Zusätzlich müssen sich die neu generierten Bilder voneinander unterscheiden. Da ikonische Architekturen sich über das Besondere und Neue definieren, sollten die Differenzen zwischen den einzelnen Bildern ausgeprägt sein. Jedes Bild soll seine individuelle Besonderheit gleichsam ausstellen. In ihrer Gesamtheit repräsentiert eine Vielzahl an Bildern dann eine Welt, die nur mehr aus Außergewöhnlichem und Einmaligem zu bestehen scheint, was unserer Alltagserfahrung widerspricht. Interessanterweise führt diese Erkenntnis aber nicht zu einer Ablehnung des Ikonischen. Obwohl wir wissen, dass das Dargebotene nicht einmalig ist, halten wir fest an der Illusion, dass es außergewöhnlich und besonders sein könnte. Wir glauben hinter der Redundanz des einzelnen Bilds eine kleine Besonderheit erkennen zu können, es genügt uns eine verkleinerte Form des Außerordentlichen, sein Diminutiv. Jede der drei Richtungen, die ab Mitte der 1980er Jahre gegen die Postmoderne auftraten, versuchte ihre theoretische Position in Regeln zu fassen. Dabei bezogen sich Benedikt und Frampton auf Bauwerke, die zwischen 1975 und 1985 geplant und realisiert worden waren, also zu einer Zeit, in der die autonome Architektur und die Postmoderne das Architekturgeschehen dominierten. Regeln zur Neuen Einfachheit wurden im Nachhinein (1994) von Vittorio Lampugnani3 formuliert, deren Verbindlichkeit er allerdings relativierte, da er sie als »Mutmaßungen« bezeichnete. Lampugnani konnte bereits auf eine große Zahl von Bauwerken zurückblicken, die eine reduzierte und einfache Architektur aufwiesen. Ihre Einfachheit basierte jedoch auf zwei verschiedenen Konzepten: einem formalen, für das der Minimalismus stand, und einem pragmatisch-ethischen, das vor allem von der neueren Schweizer Architektur vertreten wurde. Die Grenzen zwischen diesen beiden Formen des Einfachen waren fließend, Lampugnanis »Mutmaßungen« referierten eher auf die pragmatisch-ethische.

Realismus als eine Form des Widerstands Benedikts Buch For an Architecture of Reality wiederholte teilweise Argumente, die schon Frampton oder Tzonis und Lefaivre4 gegen die Postmoderne vorgebracht hatten. Er forderte, dass Architektur sich wieder auf die Realität und die kognitiven Fähigkeiten der Personen, für die sie geschaffen wird, beziehen müsse. Dabei definierte er Realismus metaphysisch, im Sinne einer Essenz. Da die Postmoderne anfangs selbst einen neuen Bezug zur Realität eingefordert hatte (Robert Venturi),5 war Benedikts Ansatz weniger radikal, als er scheinen mochte. Im Wesentlichen kritisierte

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er die Vorliebe der späten Postmoderne für das Unverbindliche, Spielerische und Formale, deren Rückgriff auf historische Formen. Benedikt verwendete in seinem Traktat häufig Metaphern und poetische Bilder. Er verwies auf realistische Tendenzen in der Literatur und Kunst seiner Zeit. Damit nahm er manches vorweg, was später Liane Lefaivre als dirty realism beschrieb. Auch die Sprache Benedikts war jener von Lefaivre ähnlich. Beide appellierten an die Emotionen ihres Lesepublikums, versuchten dieses in einen Zustand der Erregung zu versetzen; die »Einsicht« sollte sich dann ganz selbstverständlich – im Sinne einer Katharsis – einstellen. In seinem Vorwort schrieb Benedikt im Jahr 1985: »Dieses Buch […] wurde zwischen 1979 und 1985 geschrieben, einer Periode, während der Historismus, Eklektizismus, onirische Fiktion, Ironie und eine ›szenografische Haltung‹ gegenüber Gebäuden sich in der Ausbildung und Praxis der Architektur ausbreiteten. Während der gleichen Zeit […] gab es in der bildenden Kunst, der Musik, dem Theater, dem Tanz und sogar in der Literatur (mit der die Postmoderne wohl begann) Anzeichen, dass die amoralischen Freuden der Ironie, der Pseudo-Geschichte, der Anspielung, der pyrotechnischen Selbstreferenz und des architektonischen Fabulierens, sich abnutzten.«6 An ihrer Stelle begannen sich laut Benedikt »die Komponenten eines ›Neuen Realismus‹ herauszubilden: eine Wertschätzung des Richtigen und LeidenschaftlichEmotionalen, ein Interesse an strukturierten Skripten und eindeutigen Aussagen, an Texturen und Geradlinigkeit«.7 Benedikt formulierte vier Kriterien, anhand derer sich der Realitätsbezug eines Bauwerks definieren lassen würde: Präsenz, Signifikanz, Materialität und Leere,8 wobei Letztere zwei verschiedene Aspekte einschloss. •



Präsenz sei die Fähigkeit eines Gebäudes, für sich selbst stehen zu können, ohne auf anderes zu verweisen. Solche Gebäude hätten eine sinnliche Ausstrahlung, die über das Visuelle hinausgehe, sie würden den Tast-, Bewegungs-, Hör- und Geruchssinn anregen, hätten klare Kanten und eindeutige Konturen. Benedikt meinte, dass Präsenz sich über die individuelle Begegnung mit einem Gebäude erschließe, sie sei »großteils eine Angelegenheit der Wahrnehmung«.9 Signifikanz hingegen beziehe sich auf die kognitiven Fähigkeiten des Individuums. Benedikt stellte sie über das Symbolische: »Symbole können nicht-signifikant sein«.10 Ein neues Gebäude erhalte eine bestimmte (historische) Signifikanz nur über die Zeitlosigkeit seiner formalen Sprache, welche die genuine Geschichte eines Orts und die Umstände seiner Konstruktion zum Ausdruck bringen müsse. Signifikante Gebäude hätten eine Ernsthaftigkeit und Größe oder »Magnifizenz«,11 welche unabhängig von ihrer tatsächlichen Größe sei. In ihnen manifestiere sich die Anstrengung, die Sorgfältigkeit, der Erfindungsreichtum, das Wissen und der Ehrgeiz der Personen, die sie geschaffen hätten. Dabei sei

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gute Handwerksarbeit das gemeinsame Band, das die planenden und ausführenden Personen mit Auftraggeber:innen und Nutzer:innen verbinde. Bezüglich der Materialität konzedierte Benedikt, dass heute nicht mehr verlangt werden könne, dass alle Stoffe, die für ein Gebäude verwendet würden, natürliche Materialien sein müssten. Er nannte vier Unterkriterien:12 Die Architektur müsse vermeiden, Materialien zu verwenden, die nicht so sind, wie sie aussehen, oder sich (in technischer Hinsicht) anders verhalten, als ihre Verwendung suggeriere; sie müsse Materialien verwenden, die offensichtliche taktile, visuelle oder kinetische Eigenschaften aufweisen (»scheinend, geädert, gesägt«);13 sie müsse Materialien einer statischen Belastung aussetzen, so dass wir »ihren ›Schmerz‹ fühlen«14 und dadurch unsere Aufmerksamkeit auf ihre Substanz gelenkt werde; sie dürfe keine Materialien verwenden, die nach nichts aussehen oder haptisch schwer wahrnehmbar seien, da die Unbestimmtheit eines Materials von seiner realen Verfasstheit ablenke. Benedikts viertes Kriterium, Leere, hatte einen abstrakten und metaphysischen Charakter. Benedikt unterteilte es in zwei Kategorien, die er »Leere 1« und »Leere 2« nannte.15 Erstere entsprach sowohl einem klassizistischen Verständnis von Architektur wie auch einem klassisch-modernen. Benedikt beschrieb sie als ein Verlangen nach »Stille, Klarheit und Transparenz«.16 Mit dieser Form von Leere sei gemeint, dass ein Gebäude nicht »sklavisch« einem Programm folgen solle, sich nicht »drehen und wenden soll[e], um jeder (aktuellen) Strömung, oder jedem [beliebigen; Anm. B.D.] Wunsch zu entsprechen«. Ordnung, Struktur, Schutz, die »Evolution der Architektur selbst« und auch Akzidentielles sollten seine Form bestimmen.17 »Leere 2« hingegen sei eher mit der Idee des Räumlichen oder Rhythmischen verwandt (Benedikt verwendete die Bezeichnung Intervall). Sie ließe sich am besten mit dem Wort »ma« beschreiben, das in der japanischen Sprache verwendet würde: »Ma ist die Stelle zwischen zwei Trittsteinen, die Stille zwischen zwei Noten, […] das, was entsteht, wenn eine Schiebetüre geöffnet wird«.18 Benedikt meinte, dass diese »Leere 2« die Ursache dafür sei, dass wir bestimmte Räume als einladend oder wohnlich empfinden würden.

Auf den ersten Blick kann Benedikts »Leere 2« wohl kaum mit dem Begriff Realität in Verbindung gebracht werden. Benedikt referierte hier auf Vorstellungen, die seit längerer Zeit in der modernen Architektur vorhanden waren. Ihnen gemäß war das Reale so etwas wie eine geistige Substanz, die latent in der Natur und den menschlichen Artefakten präsent war. Diese ließ sich nicht beschreiben, in besonderen Momenten konnte sie sich plötzlich zeigen, vermittelte eine Erfahrung, die als Ausdruck des Realen gedeutet wurde. Es war hier von besonderer Bedeutung, dass diese Form des Realen sich nicht über das Rationale erschließen ließ. In Ihr hob sich dieses gleichsam auf.

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Nicht wenige europäische und amerikanische Architekt:innen meinten, dass diese nicht rationale Realität in der traditionellen, japanischen Architektur zum Ausdruck gekommen sei. Die historische japanische Baukunst wurde im Westen seit Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Wellen rezipiert.19 Besonders intensiv beschäftigte sich Bruno Taut mit ihr. Taut emigrierte 1933 nach Japan. Die Baukultur, die er dort antraf, hatte sich bereits von den Prinzipien der traditionellen japanischen Architektur abgewendet, die auf naturreligiösen Vorstellungen des Shintoismus basierten. Taut plante für sich selbst und seine Lebensgefährtin ein traditionell japanisches Haus. In seinem Buch Das japanische Haus und sein Leben20 beschrieb er den Shintoismus als ein sowohl kulturelles wie auch ästhetisch-philosophisches Phänomen, das nur wenige Merkmale einer Religion im klassischen (westlichen) Sinne aufweise: »Was der Shintoismus ausdrückt, ist eigentlich [keine] Religion […]. Im Prinzip bedeutet er die Kultur der Phantasie […]. Er erzeugt eine produktive Ästhetik, […] die sich an die Natur, d.h. die Realität bindet«.21 Taut beschrieb die traditionelle japanische Kunst als eine von der Philosophie inspirierte Ästhetik: »Der Maler […] [ist] ein Philosoph; der Künstler des Gartens oder des Baus, […] nicht weniger. Sein Material, Holz, Mineral […] [,] lebt für ihn. [E]r sieht in ihm Anfang und Ende, Jugend und Alter. Das im Alter schön gewordene Holz ist schön, weil es sozusagen Lebenserfahrung hinter sich hat. Es steht dem Tode […], dem Aufgehen in der Natur, am nächsten und ist darum besonders schön. Ebenso hat aber auch seine Jugend ihre Schönheit: der noch grüne Bambus, die frische, noch duftende Matte und der frische Duft des Bauholzes, besonders des herrlich riechenden Zypressenholzes«.22 Benedikt verband in seiner Definition des Realen klassizistische und moderne Positionen mit der Naturphilosophie der traditionellen japanischen Kultur. Die große Bandbreite seiner Referenzen ermöglichte es ihm, so unterschiedliche Bauwerke wie das Kimbell Art Museum von Luis Khan oder die Gordon Wu Hall von Venturi, Rauch und Scott Brown für den architektonischen Realismus zu reklamieren.23 Das Centre Pompidou von Piano und Rogers hingegen schloss er aus, er bezeichnete es als Vorspiel (»Pre-enactment«), das den Besucher:innen eine Form der Aneignung und Erfahrung vorgebe.24 Benedikts Kriterien Signifikanz und Materialität gaben zu einem großen Teil Positionen wieder, die bereits Adolf Loos25 artikuliert hatte. »Magnifizenz«, laut Benedikt ein Merkmal signifikanter Gebäude, war ein Begriff, der aus der klassischen französischen Architektur stammte. Im 17. und 18. Jahrhundert konnte er sowohl ein Bauwerk (einen Innenraum) beschreiben wie auch eine Person, die sich über dieses darstellte. Als Beispiel hierfür kann die Beschreibung eines Salons aus Le Camus de Mezières’ Le génie de l’architecture, ou l’analogie de cet art avec nos sensations angeführt werden:

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»Der Salon ist der Gesellschaftsraum, in dem die Feste gegeben werden; hier wird das größtmögliche Zeremonial veranstaltet: daraus folgt, dass an diesem Ort Magnifizenz sich entwickeln muss, dass hier Reichtum im Überfluss herrschen soll, [dass hier] auch der Künstler seinen Geschmack, sein Genie entfalten kann: Marmor, Bronze, Vergoldungen, Skulpturen, Malerei und Kristallglas werden ihm zu Hilfe kommen; Tapisserien […], Bergkristall für die Luster, Kandelaber, wertvolle Stauen, reichst verzierte Vasen, seltenste Porzellangegenstände – sie alle können zur Verschönerung dieses Orts beitragen«.26 Nach Le Camus de Mezières war der Salon der wichtigste Bereich eines repräsentativen Wohngebäudes, zu ihm führte einer Serie von Räumen, die jeweils eine klar bestimmte Funktion innerhalb einer Hierarchie hatten. Die Gestaltung eines Raums, seine Ausschmückung, wurde abgestimmt auf die Personen, die ihn betreten durften oder sich üblicherweise in ihm aufhielten. Das Kapitel, in dem Le Camus de Mezières diese Hierarchie beschrieb, trug den Titel »Über die Distribution und das Dekor«.27 In der Zeit der Klassik – sogar noch im Rokoko – war Magnifizenz mit der Zurschaustellung eines Reichtums verbunden. Benedikt hingegen rückte sie in die Nähe des Erhabenen im Sinne von Longinus oder Edmund Burke. Den Begriff Magnifizenz hatte Edmund Burke in seiner Schrift A Philosphical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful28 verwendet. Bei Burke stand er in einem Zusammenhang mit den Begriffen Größe, Unendlichkeit und Schwierigkeit (Diversität). Wie diese – so Burke – sei Magnifizenz »eine Quelle des Erhabenen«. Burke meinte, dass sie durch eine »große Fülle an Dingen, von denen jedes […] prächtig und wertvoll ist«,29 gekennzeichnet sei. Eines ihrer Merkmale sei eine »offensichtliche Unordnung«,30 da der Eindruck, dass etwas gepflegt werde, unserer Vorstellung von Magnifizenz entgegengesetzt sei. Burke meinte aber auch, dass Kunstmittel, die auf Vermittlung eines Eindrucks von Größe abzielen, sich nur für bestimmte Darstellungen eignen würden und umsichtig verwendet werden müssten: »Bei Kunstwerken sollte diese Form der Größe, die auf Vielzahl basiert, nur sehr vorsichtig [verwendet] werden, da eine Fülle von besonderen Dingen nicht erreicht werden kann […] [;] und weil in vielen Fällen diese glanzvolle Konfusion jegliche [praktische; Anm. B.D.] Verwendungsfähigkeit zerstören würde […] [;] zudem muss bedacht werden, dass – falls es nicht gelingen sollte, den Anschein des Unendlichen durch Unordnung zu erzielen – man schließlich Unordnung ohne Magnifizenz haben wird. Es gibt allerdings Feuerwerke oder ähnliche Dinge, bei denen diese Vorgehensweise zum Erfolg führt und die wirklich großartig sind. Es gibt auch viele Beschreibungen von Dichtern und Rednern, die ihre Erhabenheit einem Reichtum und einer Vielzahl von Bildern verdanken, welche den Geist blenden, so dass es diesem unmöglich gemacht wird, den genauen Zusammen-

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hang und die Stimmigkeit der Anspielungen nachzuvollziehen, was wir bei jeder anderen Sache voraussetzen.«31 In Benedikts Pamphlet spiegelte sich auch der US-amerikanische Populismus seiner Zeit. Tonalität und Argumentation seines Textes glichen an einigen Stellen einer Anklageschrift, die an die Emotionen einer Jury appelliert. Sequenzen, die jeweils das Gleiche meinten oder einen ähnlichen, zusätzlichen Aspekt anführten, reihten sich aneinander. Die anonyme, historische Architektur, die Benedikt immer wieder als positives Gegenbeispiel anführte, blieb diffus. Benedikts Manifest war aber zudem witzig, bissig-sarkastisch und unterhaltsam. Auch konnte es mit einigen überzeugenden Argumenten aufwarten. Ich weiß nicht, ob Benedikt sich bewusst den Schreibstil und die Rhetorik von Adolf Loos zum Vorbild nahm – jedenfalls reichen manche Passagen seines Textes an die brillanten Formulierungen von Adolf Loos heran. Benedikt meinte, dass sich das Reale als eine substanzielle Verfasstheit manifestiere, die kognitiv und emotional erfahren werden könne. Dieser ginge eine Wahrnehmung voraus, welche sie gleichsam aufschließe. Das Empirische, frühere Erfahrungen, spielten in diesem Prozess nur mittelbar eine Rolle (als Teil des Kognitiven). Damit unterschied sich Benedikts Definition des Realen von der vorherrschenden Sicht, nach der sich das Reale aus Erfahrungen, Motivationen, Intentionen und einer Bewertung dieser Faktoren durch eine reflektierende Ratio konstituiert. Benedikts Ansatz sperrte sich vor allem gegen das Rationale. Folgte man ihm, dann konnte das Reale (seine Substanz) in unterschiedlichen Formen, zu nicht vorhersehbaren Zeiten, erscheinen. Man musste seiner Intuition vertrauen, die dann letztendlich dafür verantwortlich war, ob man ein Gebäude als real oder nicht real erfahren würde. Aus einem Kontakt mit der vermeintlichen Substanz des Realen konnten sich auch keine Erkenntnisse gewinnen lassen. Jede Begegnung mit ihr war neu- und einzigartig. Besonders problematisch waren Benedikts Subkategorien Leere 1 und 2. Die Begriffe Stille und Transparenz konnten nur schwer dem Realen zugeordnet werden, das ja auch Materie oder soziale Felder umfasst. Der Begriff der Transparenz war sogar eine metaphysische Konstruktion der Moderne, die darauf abzielte, die Welt durchsichtig zu machen, sie in Ebenen und Motivierungen aufzuspalten. Hier sollte ein Immateriell-Geistiges an die Stelle des Realen treten. Benedikts Leere 1 wurde zudem von anderen Architekturströmungen beansprucht, insbesondere vom italienischen Neo-Realismus und der Tendenza, was Benedikt abwertend kommentierte: »Beim Salk[-Institut; Anm. B.D] zieht die perlmuttern schimmernde Plaza mit ihrem zentralen, mittigen Wasserlauf […] das Meer über die Hügel und den Himmel über uns. Wir erheben unsere Augen und unser Geist verneigt sich. […] Wie unter-

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schiedlich ist diese Leere […] von jener, die so viele Werke der Neo-Rationalisten durchzieht. Deren Leere ist die Stille eines Friedhofs«.32 Nach 1985 beschäftigte sich Benedikt (äußerst erfolgreich) mit dem Virtuellen (Cyberspace: First Steps).33 Nachdem sich diese Thematik aus seiner Sicht abgenutzt hatte, wandte er sich wieder philosophischen Fragestellungen zu. 1992 begann er mit einer Arbeit zu einer Theorie der Werte, die auszugsweise in Artikeln, Vorträgen und Interviews veröffentlicht wurde. Das Werk als Ganzes wurde nie publiziert. »Im Jahr 1999 hatte das Manuskript bereits elf Kapitel und etwa eintausend Seiten. Im Jahr 2000 […] nahm die Verlegerin davon Abstand, das Buch zu publizieren. ›Die Welt‹ war nicht bereit für ein so anspruchsvolles Traktat über Werte, umso weniger, wenn dieses von ›einem Architekten‹ stammte. […] Ich habe danach nicht mehr versucht AGTV [A General Theory of Values; Anm. B.D.] zu publizieren, ich akzeptierte, dass kein Interesse mehr an langen Abhandlungen über das Thema Werte bestand«.34

Critical regionalism: Lokale Strategien in einer globalen Welt Benedikt gelangte in seinem ersten Buch zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Kenneth Frampton in seinem Artikel Towards a Critical Regionalism. Six Points for an Architecture of Resistance,35 der 1983 publiziert wurde. Frampton hatte sich zuvor – etwa seit 1977 – verstärkt mit lokalen Architekturen und phänomenologischen Aspekten des Bauens beschäftigt. Sein Konzept des critical regionalism (den Begriff hatte er von Tzonis und Lefaivre übernommen),36 wandte sich gegen die Dominanz des Visuellen und Formalen in der postmodernen Architektur. Er forderte, dass Architektur sich in einen realen, physischen Kontext einfügen müsse. Dieser würde auf das architektonische Produkt rückwirken und zu vielschichtigen und komplexen Formen führen. Solche Architekturen würden sich nicht über ein einzelnes Bildmotiv kommunizieren lassen. Im Gegensatz dazu würden Gebäude, die als freistehende und isolierte Objekte konzipiert seien, überwiegend als Bilder rezipiert. Frampton entwickelte und präzisierte sein Modell in Magazinbeiträgen, Vorworten und Neuauflagen seiner Bücher. Seine Thesen illustrierte er mit Architekturbeispielen. Einige dieser Beispiele – etwa Gebäude von Mario Botta – hatten durchaus ikonischen Charakter. Framptons Ablehnung des Bildhaften, Szenischen und Episodischen richtete sich vor allem gegen die historistische Tendenz der zeitgenössischen Postmoderne, er meinte, dass die Bilder, die diese verwendete, vom inneren Aufbau des jeweiligen Gebäudes losgelöst seien, sich gleichsam verselbständigten. Frampton beschrieb ein Phänomen, das sich später – in wesentlich stärker ausgeprägter Form – in der Architektur sogenannter signature buildings manifestieren sollte. Diese Gebäude referierten jedoch nicht mehr auf einen Kontext oder eine historische Vorlage, sie

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wurden als skulpturale Objekte konzipiert, die manchmal eine gewisse Affinität zu zoomorphen Formen zeigten. Beinahe zwanzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen seines Artikels Towards a Critical Regionalism kritisierte Frampton in Labour, Work and Architecture »den sogenannten Bilbao-Effekt, bei dem spektakuläre Bildhaftigkeit dazu dient, globale Wirtschaftskräfte zu stimulieren«.37 In diesem Zusammenhang erörterte er auch die Funktion des Plastisch-Skulpturalen in der Architektur. Er konzedierte nun (im Jahr 2002), dass dieses ein legitimes architektonisches Mittel sei, jedoch müsse es den inneren Aufbau eines Gebäudes artikulieren. Die äußere skulpturale Form stehe in einem Wechselverhältnis zur inneren, die sich aus architektonisch-räumlichen und funktionellen Anforderungen ergebe. Beide architektonische Ausdrucksweisen seien von gleicher Bedeutung. Frampton sah sie im Werk von Alvaro Siza in idealtypischer Weise verbunden: »[Bei] Siza ist die quasi-ergonomische Deklination des Mikroraums in einer […] architektonischen Sequenz genauso wichtig wie die plastische Ausbildung des Raums und der Form.«38 Damit relativierte Frampton seine frühere kategoriale Ablehnung des Bildhaften. Das Beispiel Alvaro Sizas zeigt, dass er nun auch »freie«, plastische Formen akzeptierte. Zuvor hatte Frampton das Skulpturale dem Tektonischen untergeordnet. Frampton erkannte, dass die ikonischen Architekturen seiner Zeit einen Prozess in Gang setzten, der zu einer Entwertung und Marginalisierung der Architektur führen konnte. Für diese Fehlentwicklungen machte er hauptsächlich die angelsächsische Postmoderne verantwortlich. Allerdings bildeten sich auch nach dem Niedergang der Postmoderne immer wieder neue ikonische Architekturen heraus. Einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatten audio-visuelle Medienformate, welche das Visuelle präferierten und Informationen nur mehr in stark verkürzter Form kommunizierten. Heute definiert sich Architektur fast ausschließlich über das Bildhafte. Jede inhaltliche Äußerung scheint unvermittelt in ein Bild umschlagen zu müssen, auch grundsätzliche Anliegen (Ökologie, Gesellschaftspolitik) werden nur mehr über Symbole oder Bilder kommuniziert. Dies hat zu einer Entwertung des Bildhaften geführt. Die Proliferation der Bilder, die wir in der aktuellen Baukultur feststellen, ist sowohl gegen das Bildhafte selbst wie auch gegen das Reale gerichtet. Sie ruiniert die ohnehin eingeschränkte Fähigkeit eines Bildes, einen Sachverhalt zum Ausdruck bringen zu können (etwas bedeuten zu können), und sie reduziert die Realität auf wenige – bloß visuelle – Aspekte. Eine Architektur, die vom Realen und Physischen und nicht von meist vorkonfektionierten oder sogar simulierten Bildern ausginge, könnte dazu beitragen, dass auch das Bildhafte seine Funktionalität wiedergewinnt. Framptons Konzept des critical regionalism entstand in einem Umfeld, das die Grundsätze der modernen Architektur einer Revision unterzog. Dabei verfolgten die frühe Postmoderne und reformistische Strömungen, wie Team Ten, ähnliche Ziele.39 In der Moderne war die Forderung nach Freiheit mit der Forderung nach

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Gleichheit – also Egalisierung – verbunden gewesen. Diese Gleichheit war nicht beliebig, sie wurde als soziale Errungenschaft verstanden und war an eine allgemeine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse geknüpft. In den 1960er Jahren wurde diese universelle Gleichheit (die in vielen Bereichen nur der Idee nach existierte) zunehmend von gruppenspezifischen Identitäten abgelöst. Framptons Modell des critical regionalism reagierte auf diese Entwicklung. Sein Regionalismus setzte eine kritische Haltung voraus, die zwischen bloß traditionellen Differenzen und gruppenspezifischen unterschied. Damit betrat er ein schwieriges Terrain. Nach seiner Theorie mussten sich gesellschaftliche Differenzen an verschiedenen Orten verschieden ausdrücken. Auch wurden diese Differenzen als statische Faktoren angenommen, eine potentielle Durchlässigkeit zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen negiert. Der critical regionalism war aber auch gegen die Instrumentalisierung der Architektur durch eine global agierende Bauindustrie gerichtet: »Das moderne Bauen ist so sehr auf Technik und Effizienz ausgerichtet, dass unsere Möglichkeiten, signifikante urbane Formen zu schaffen, sehr eingeschränkt sind. Diese Einschränkungen wurden durch zwei Faktoren bewirkt: die Verteilung der Verkehrsströme und das volatile Spiel der Grundstücksspekulation. Sie beschränken die Planung im urbanen Raum so stark, dass sich tendenziell jede Intervention entweder auf ein Arrangieren von Elementen reduziert, die eine Produktionsweise vorgibt, oder auf eine oberflächliche Maskierung, welche die Projektentwicklung für ihr Marketing braucht.«40 Frampton verwies auf einen Gegensatz von technischer, universeller Zivilisation und lokaler Kultur – er nannte Kultur (im Heidegger’schen Sinn) die Realisierung des Seins und verstand sie als Herausbildung einer kollektiven, psychosozialen Realität. Seine ursprüngliche Version des critical regionalism aus dem Jahr 1983 ergänzte und modifizierte er in späteren Veröffentlichungen.41 In der vierten Auflage von Modern Architecture (2007)42 formulierte er sieben Kriterien (im Artikel des Jahres 1983 waren es noch sechs gewesen), die ich hier in gekürzter Form wiedergebe. a) Der critical regionalism sei eine »marginal practice«,43 also eine Praxis, die von der Peripherie ausgehe. Seine fragmentarische und marginale Position verhindere, dass er von einer »normativen Optimierung« instrumentalisiert werden könne. Er äußere sich in relativ kleinen Interventionen, nicht in einem großen städtebaulichen Plan. b) Er betone die Bindung des Gebauten an einen physischen Ort. Dieser würde durch die Architektur erst zu einem Ort in einem phänomenologisch-existenziellen Sinn. Gebäude würden dabei nicht als freistehende, autonome Objekte angesehen. c) Er setze den Fokus auf das Tektonische, nicht auf das Szenografische und Episodische.

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Die Architektur des Realen d) Er hebe ortsspezifische Faktoren hervor, insbesondere das natürliche Licht, das örtliche Klima. Öffnungen eines Gebäudes würden als transitorische Zonen artikuliert. e) Er behandle das Taktile gleichrangig mit dem Visuellen, würde sensorische Momente und Umgebungsfaktoren berücksichtigen, wie Hitze, Kälte, Luftfeuchtigkeit, Gerüche, Geräusche, unterschiedliche Lichtstimmungen. Er verwehre sich gegen den Ersatz des Realen (des Erfahrbaren) durch Informationsmedien. f) Er sei gegen eine sentimentale Simulierung des Volkstümlichen – Vernakulären –, aber für eine Neuinterpretation vernakulärer Elemente. Diese könnten sogar aus dem Fundus einer weltweiten (globalen) vernakulären Kultur entnommen werden, sowohl als formale Referenz wie auch als Technologie. g) Er entstehe in Lücken oder in Zwischenräumen, entziehe sich dem optimierenden Glauben einer universellen Zivilisation, widerspreche dem Modell eines dominierenden Zentrums, das von abhängigen Satelliten umgeben wird.

Aus meiner Sicht sind hier drei Aspekte hervorzuheben: Einerseits plädierte Frampton für eine sensualistische Architektur, er schlug vor, dass die gebaute Umwelt als sinnlich erfahrbare Oberfläche interpretiert werden sollte. Gleichzeitig lehnte er das Szenografische ab, das ein wesentliches Merkmal der postmodernen Architektur war. Der dritte Aspekt betrifft seine Definition der Architektur als marginale Position, die sich nur außerhalb und im Widerspruch zu einem dominanten, technischökonomischen Zentrum entwickeln könne. In mehrfacher Hinsicht war dieses Konzept realistisch: Es betonte das Physische, die körperliche Erfahrung, es berücksichtigte die Topografie eines Orts, es versuchte ökonomische Nischen zu nutzen, und es stimmte seine Entwurfsstrategien auf die Möglichkeiten ab, die sich boten. Einige Annahmen waren jedoch problematisch: Eine marktwirtschaftliche Verwertungslogik bestimmte auch die Ökonomien peripherer Gebiete, auch dort reduzierten sich Nischen und Freiräume. Vernakuläre Bauweisen waren in vielen Ländern politisch instrumentalisiert worden, so dass mit der Verwendung einer volkstümlichen Form auch ein ideologisches Statement verbunden war. In Framptons Modell blieb auch die Problematik der Vereinnahmung des Regionalen durch die Tourismusindustrie ausgeklammert, welche das Lokale auf Sehenswürdigkeiten reduziert – die Tatsache, dass Lokal-Typisches oft nur durch Musealisierung oder touristische Erschließung vor dem Verschwinden bewahrt werden kann. Mich interessiert hier, dass sich der critical regionalism als eine Architektur des Realen verstand, im Unterschied zur Postmoderne, die sich über das Bildhafte definierte. Die Postmoderne imaginierte, konstruierte und simulierte Welten, in einer Hinsicht blieb sie aber realistisch: Sie stimmte ihre Entwurfsmethoden auf die neue, neoliberale Ökonomie ab, akzeptierte, dass innerhalb dieser nur begrenzte Möglichkeiten existierten. Sie entwickelte Ausdrucksformen, die Aussicht auf Er-

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folg haben konnten, versuchte den Anschein des Intellektuellen zu vermeiden (obwohl sie durchaus einen akademisch-intellektuellen Diskurs führte), an Stelle des Politischen setzte sie das Individuelle. Frampton hingegen hielt fest an einem Realismusbegriff, nach dem das Reale durch eine gedankliche und wahrnehmende Arbeit freigelegt werden musste. Die Erfahrung des Realen war hier mit Erkenntnissen und Einsichten verbunden, die über ein bloßes Wiedererkennen hinausgingen. Er erneuerte den moralischen Anspruch der Moderne, gesellschaftliche Fragen spielten hier – nach wie vor – eine Rolle. In welcher Form sich der critical regionalism in der Architektur der 1970er und 1980er Jahre äußerte, möchte ich anhand von fünf Bauwerken skizzieren. Zwei dieser Gebäude stammen von Suzana und Dimitris Antonakakis, eines von Tita Carloni, eines von Aurelio Galfetti, Flora Ruchat Roncati und Ivo Trümpy, eines von Rudolf Wäger. Die Architektur der beiden Antonakakis hatte Frampton in mehreren Publikationen gewürdigt. Gemeinsam mit Büros aus Katalonien und Italien standen sie für die mediterrane Variante des critical regionalism. Die Arbeiten von Tita Carloni, Aurelio Galfetti, Flora Ruchat Roncati und Ivo Trümpy wurden über die Ausstellung Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin bekannt. Rudolf Wäger gehörte zur ersten Generation der Neuen Vorarlberger Bauschule, die außerhalb des universitären Bereichs entstand und eine größere Zahl gemeinschaftlicher Wohnprojekte hervorbrachte. Auf die Architektur von Dimitris und Suzana Antonakakis trafen die meisten der von Frampton formulierten Kriterien zu, zumindest auf jene Projekte, die in den 1960er und 1970er Jahren entstanden.44 Die beiden Antonakakis wurden einem internationalen Publikum durch einen Artikel bekannt, der ursprünglich in einer griechischen Architekturzeitschrift erschienen war. Geschrieben hatten diesen Beitrag 1981 Alexander Tzonis und Liane Lefaivre. Tzonis hatte bis 1981 in Harvard unterrichtet, in den 1970er und 1980er Jahren publizierten er und Lefaivre mehrere Artikel, die den Populismus in der Architektur und das Phänomen des Regionalismus zum Gegenstand hatten. In The Grid and the Pathway – ihrem Beitrag aus dem Jahr 1981 – verwendeten die beiden bereits den Begriff critical regionalism. Frampton übernahm ihn und versah ihn mit einer neuen Definition. The Grid and the Pathway beschrieb den griechischen Regionalismus als einen Sonderfall, der sich grundsätzlich von den angelsächsischen oder den mittel- und nordeuropäischen Regionalismen unterscheiden würde. Anders als diese habe er anfänglich nicht auf die gotische oder mittelalterliche Architektur, sondern auf den Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts referiert. Dies habe historische Gründe gehabt, da der griechische Nationalstaat etwa zur gleichen Zeit entstanden sei wie neue klassizistische Architekturströmungen in Europa, die sich auf die Architektur der griechischen Antike bezogen hätten. Später – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – habe eine zweite Welle des Regionalismus eingesetzt, die sich die ländliche, bäuerliche Bautradition zum Vorbild genommen habe. In diesem zweiten, populistischen Regionalismus habe sich bereits die Enttäuschung über das Scheitern der

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Ideale der Revolution manifestiert. Er sei gegen den klassizistischen, griechischen Regionalismus und die städtischen Eliten, gegen »die Dominanz der Stadt über das Land«,45 gerichtet gewesen. Diese Form des Regionalismus unterschied sich nicht wesentlich von anderen regionalistischen Strömungen in Südeuropa (Italien, Spanien). Tzonis und Lefaivre meinten, dass eine solche Form des Regionalismus – wenn sie nicht kritisch-reflektierend angewendet werde – der Architektur erlaube, »in ein ländliches Arkadien« zu entfliehen, das sich als »arm, aber ehrlich«46 deklariere. Somit gab es zwei Regionalismen und (so meine Interpretation) eine Tendenz, dass der jüngere, populistische und unspezifische Regionalismus sich gegenüber dem älteren, griechischen Sonderphänomen durchsetzen würde. Es blieb unklar, warum sich die Architektur auf den »schwierigen, kritischen Zugang«47 eines Regionalismus einlassen sollte, in dem zwei gegensätzliche Tendenzen so unterschiedlicher Stärke aufeinandertrafen. Zudem führten Tzonis und Lefaivre in ihrem Text eine dritte Kategorie ein, die sie als »Weg« (oder Pfad) definierten. Dieser »dritte architektonische Typus«48 war im Wesentlichen eine Unterkategorie des populistischen Regionalismus, verweis jedoch auch auf anthropologische Konstanten. Tzonis und Lefaivre meinten, dass er besonders deutlich im Werk von Dimitris Pikionis zum Ausdruck gekommen sei, vor allem im Wegesystem, das Pikionis für den Philopappus-Hügel, gegenüber der Akropolis, in den 1950er Jahren entworfen hatte. Sie beschrieben dieses als »ein starkes, dematerialisiertes Objekt, das eine Anordnung von ›Orten, die für Gelegenheiten gemacht sind‹, vorgesehen«49 habe. Pikionis habe auf Vorbilder (räumliche Situationen aus der traditionellen griechischen Architektur) zurückgegriffen, aber diese nicht eingesetzt, um Stimmungen oder Emotionen zu erzeugen. Die Verwendung regionaler Architekturelemente sei hier »eine Voraussetzung gewesen, um das Konkrete und Reale zu erreichen, […] die Architektur zu enthumanisieren«.50 So wie das Raster in der Architektur von Aris Konstantinidis, sei Pikionis’ »Weg« ein »kulturelles Objekt, das in sich einen kritischen Kommentar über die zeitgenössische Architektur, das Leben und die Gesellschaft«51 enthalte. Die Begriffe Emotion, Objekt, human oder humanistisch wurden von Tzonis und Lefaivre in ambivalenter, auch widersprüchlicher Weise verwendet. Mit dem Begriff Objekt war sowohl ein visueller Ausdruck wie auch eine Erfahrung gemeint, die sich über das Gehen und die Berührung erschließen konnte. Enthumanisieren sollte heißen, dass etwas Vorgefundenes, das mit Emotionen besetzt war, auf eine neue Verwendungsmöglichkeit hin geprüft und von seinem emotionalen Inhalt gereinigt wurde. Das Wort humanistisch wiederum beschrieb auch »kritische Bemühungen«, die einen »humanistischen Geist der modernen Architektur«52 weitergeben sollten. Den Rückgriff auf die traditionelle bäuerliche Baukultur, den der populistische Regionalismus praktizierte, beschrieben sie als eine rationale Strategie – eine Darstellung, die vernachlässigte, dass hierbei Emotionen eine wesentliche Rol-

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le spielten. Dieser Rückgriff fand ja statt, um den Benutzer:innen einen emotionalen Zugang zur Architektur ihrer Umgebung zu ermöglichen. Tzonis und Lefaivre schufen mit The Grid and the Pathway eine Konstruktion, die eine rationale, urbane Kultur mit einer traditionell-agrarischen, autochthonen Kultur verbinden sollte. Dabei stellten sie beide Kulturen als gleichwertige Hälften dar. Diese Konstruktion übertrugen sie auf die Architektur der beiden Antonakakis, die wiederum die Annahmen ihres Modells illustrieren sollte. Dieses Modell wurde international rezipiert. Jede Besprechung der Architektur von Dimitris und Suzana Antonakakis muss sich demnach mit dem Bild auseinandersetzen, das Tzonis und Lefaivre schufen. Dabei muss jedoch zwischen zwei Ebenen unterschieden werden: Die eine betrifft die Konstruktion von Tzonis und Lefaivre, die andere die Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang die Architektur der beiden Antonakakis tatsächlich dem Bild entspricht, das Tzonis und Lefaivre gezeichnet haben. Aus meiner Sicht wurde eine der beiden Hälften der Konstruktion – das Raster – überbewertet. Tzonis und Lefaivre definierten das Raster als eine Form der Erinnerung (im Sinne eines Verweises auf die historische Ebene des griechischen Klassizismus), die in einem individuellen architektonischen Werk fortlebe. Sie meinten, dass in ihm eine »Wertschätzung der orthogonalen Matrix, […] der Säule und des Prismas«53 zum Ausdruck gekommen sei, welche die moderne griechische Architektur in ihrer Gesamtheit kennzeichne und die »utopische Botschaft« der klassizistischen Frühzeit der griechischen Architektur transportiere. Dieser sehr weitgehenden, kulturhistorisch-philosophischen Definition standen eher bescheidene Anwendungsmöglichkeiten gegenüber. Tzonis und Lefaivre meinten, das Gitternetz des Rasters eigne sich, um ein Gebäude in Zonen »unterschiedlicher Nutzung, Privatheit und verschiedener mikroklimatischer Bedingungen«54 zu unterteilen. Es könne auch aufzeigen, dass statisch notwendige Spannweiten rational organisiert wurden, und damit Rationalität zum Ausdruck bringen. Das Raster, das Tzonis und Lefaivre beschrieben, war ein hybrides, beinahe metaphysisches Konstrukt: Es war sowohl eine Idee, die sich in einem Gebäude materialisieren konnte, wie auch ein operationales Mittel, das geometrische Zuordnungen regulieren konnte und Kategorisierungen ermöglichte. Die zweite Hälfte der gedanklichen Konstruktion von Tzonis und Lefaivre, welche die agrarische Bautradition und das Konzept des Wegs betraf, referierte auf den stärkeren der beiden Regionalismen. Sie konnte historisch begründet werden und berücksichtigte auch allgemeine, anthropologische Faktoren. Dimitris Antonakakis war zeitweise Assistent von Pikionis gewesen und mit dessen Entwurfsweise bestens vertraut.55 Zudem war im Konzept des Wegs eine anthropologische und rituelle Komponente enthalten, die bereits Joseph Rykwert in Learning from the Street 56 (1976) ausführlich erörtert hatte. Nach Tzonis und Lefaivre bildete sich Pikionis Wegekonzept in der Architektur der beiden Antonakakis ab. Der Weg sei hier eine »Kurzversion des riesigen Stroms des Philopappus-Hügels, eine Verkleinerung des Musters,

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so dass dieses in ein einzelnes Gebäude, ein Haus, ein Appartement oder sogar in ein Zimmer passt«.57 In all diesen Fällen war der Weg kurz. Bei einem Zimmer beschränkte er sich vielleicht nur auf wenige Schritte, im Verbund einer Wohnung auf eine Aufeinanderfolge von drei oder vier verschiedenen Situationen. Am stärksten konnte man ihn erfahren, wenn man eine Treppe hochstieg, insbesondere, wenn das Hochsteigen in einem kontinuierlichen Vorgang erfolgen konnte – wie beispielsweise bei einer Wendeltreppe. Ein Weg war jedoch auch eine Abfolge von Orten, er ging von etwas aus und er führte irgendwo hin. Nach Joseph Rykwert mussten Beginn und Ende eines Wegs (bei Rykwert: Straße) nicht physisch-baulich vorhanden sein. Vielmehr sei es eine individuelle Festlegung, wo eine Wegstrecke beginne und an welcher Stelle sie enden sollte. Jedoch müsse ein Weg, so Rykwert, den Personen, die ihn benutzen, »mit seinen Ecken und Grenzen ähnliche, aber unterschiedliche Ausgänge anbieten«.58 Rykwert unterschied auch zwischen einem befestigten Weg, wie ihn Pikionis konzipiert hatte, und einer Spur. Während ein Weg sich durch eine befestigte Fläche oder »Zeichen, die eine Absicht bekunden«,59 von seiner Umgebung abhebe, wäre die Spur (ein Pfad) oft nur für Eingeweihte erkennbar. Im Kontext eines Wohngebäudes konnte sich Pikionis Wegekonzept nur andeutungsweise materialisieren. Um einen Weg länger erscheinen zu lassen, als er tatsächlich war, mussten architektonische Mittel eingesetzt werden. So konnte etwa die Anzahl der Stationen oder der Schauplätze vermehrt werden, so dass auch kurze Strecken durch verschiedenartige Raumerlebnisse führen konnten. Aus der Vielzahl an Eindrücken konnte dann auf ein generierendes oder verbindendes Element rückgeschlossen werden – den Weg. Allerdings musste man Fantasie aufwenden, um diesen erkennen zu können. Man musste ihn gedanklich rekonstruieren, was im Allgemeinen nur Architekt:innen taten. Die beiden Antonakakis verwendeten derartige architektonische Mittel. Ich möchte hier auf zwei ihrer Gebäude eingehen. Das eine ist ein Wohnhaus, das für eine Familie entworfen wurde, das andere ein Appartementhaus.

Haus nahe Akropolis – Atelier 66, Dimitris und Suzana Antonakakis Das Wohnhaus ist wesentlich kleiner und homogener als das Appartementhaus, ein Wegekonzept konnte hier deutlich artikuliert werden. Im Wesentlichen folgt der Weg hier der Treppe, die an einem zweigeschossigen Raum entlangführt, und geht in den oberen Geschossen in Galerien über. Eine eigene Treppe führt von der obersten Etage zur Dachterrasse, um diese zu erreichen, muss man ins Freie treten. Jede Wegstrecke endet in einem Aussichtspunkt. Der zweigeschossige Wohnraum ist von drei verschiedenen Höhen aus einsehbar. Die Lage des Hauses (auf seine Fassade führt eine Straße zu) erlaubte, dass auch die Umgebung in die Architektur einbezogen werden konnte. Die straßenseitige Wand des Gebäudes wurde durchlässig

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ausgebildet, mit einem Fensterband in der Mitte und Glasbausteinen in den oberen und unteren Zonen. Vom Fenster aus kann eine beinahe zweihundert Meter tiefe Distanz eingesehen werden, es wurde so platziert, dass der Blick auf die Straße sowohl vom unteren Niveau des Raums wie auch von der Galerie aus möglich ist. Die Treppe wurde zum Wohnraum hin offen ausgeführt, ihre Zwischenpodeste wurden vergrößert, so dass sie als Wohn- oder Arbeitsbereiche verwendet werden konnten. Dadurch erhielten große Teile des Treppenhauses den Charakter eines Wohnraums. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Wände und Brüstungen des Treppenbereichs mit raumhohen Regalen versehen wurden. Man wandert gleichsam zwischen Büchern durch das Gebäude hindurch.

59: Haus nahe Akropolis, Außenansicht, Atelier 66 – Suzana und Dimitris Antonakakis 1978.

Foto: Bernhard Denkinger

Neben der Wegeführung ist die Transparenz der Fassaden ein wesentliches Merkmal der Architektur des Gebäudes. Sie erlaubt, dass natürliches Licht zu wechselnden Tageszeiten in den Wohnraum gelangen kann. Da die straßenseitige Fassade in Felder verschiedener Lichtdurchlässigkeit unterteilt ist, können Lichteinfall und Erhitzung kontrolliert werden. Die offene Bauweise im Inneren

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ermöglicht zudem, dass ein natürlicher Luftstrom durch das Gebäude geleitet werden kann. Beinahe jeder Raum des Hauses kann quergelüftet werden.

60: Haus nahe Akropolis, Innenansicht.

Foto: Bernhard Denkinger

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61: Haus nahe Akropolis, Axonometrie.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

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62: Haus nahe Akropolis, Treppe im Erdgeschoss.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

63: Haus nahe Akropolis, Schnitt.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

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Appartementhaus Doxapatri-Straße – Atelier 66, Suzana Antonakakis Beim Appartementhaus Doxapatri-Straße reduzierten sich die Strecken, die für ein Wegekonzept zur Verfügung standen, auf wenige, sehr kurze Abschnitte. Insgesamt summierten sie sich vielleicht auf zwanzig oder fünfundzwanzig Meter – wenn man die Vertikalverbindungen hinzurechnet. Somit ließ sich die Idee eines Wegs bei diesem Gebäude nur in rudimentärer, sehr bruchstückhafter Weise verwirklichen. Im Unterschied zum relativ kleinen Wohnhaus nahe der Akropolis spielte hier das Raster eine größere Rolle. Allerdings musste es angesichts der vorgesehenen, dichten Verbauung engmaschig ausgelegt werden. Beim Projekt Doxapatri-Straße wurden Feldgrößen von 50 × 100 cm verwendet. Bei den Antonakakis war das Raster vor allem eine Methode, ein Organisationssystem. Es war ein Hilfsmittel, kein Selbstzweck, vor allem erleichterte es die Detaillierung. Auch Carlo Scarpa, dem kaum eine Verbindung zum griechischen Klassizismus des 19. Jahrhunderts nachgesagt werden konnte, verwendete Konstruktionsraster (mit sehr unüblichen Modulgrößen).60 Der überaus reichhaltigen Architektur Scarpas sah man das jedoch nicht an. Aus konzeptioneller Sicht ermöglichte ein Raster, dass die Größen der Baukomponenten aufeinander abgestimmt werden konnten. Es war aber auch ein Mittel, mit dessen Hilfe sich die relativ freizügige, lockere Entwurfsweise der beiden Antonakakis disziplinieren ließ.61 Eine freie oder unregelmäßige Linie, eine Wand, die mehrfach die Richtung wechselte, sahen nicht mehr wie eine Ansammlung disparater Bauteile aus, wenn man ein Raster über sie legte. Das Raster lieferte eine Begründung, es erklärte, warum ein Bauteil an einer bestimmten Stelle (und nicht an einer anderen) lag, warum es gerade diese Größe aufwies. Im Allgemeinen konnte man bei den Antonakakis das Raster im realisierten Bauwerk nicht mehr erkennen (manchmal noch in der Teilung des Bodenbelags). Sie verwendeten Raster anders als Architekturbüros, die sich für Vorfertigung und modulare Bauweisen interessierten. Letztere hoben das Konstruktionsraster visuell hervor. Sie betonten Fugen. Die Fenster, Trennwände und Unterzüge eines Gebäudes sollten zeigen, dass sie aus der Vervielfachung eines Maßes hervorgegangen waren. Ein wichtiges gestalterisches Thema beim Wohnhaus Doxapatri-Straße war die Ausbildung der Übergänge zwischen außen und innen. Beide Fassaden des Gebäudes wurden fast vollständig als Übergangszonen ausgebildet, in den oberen Geschossen in Form von Balkonen, die teils sehr geringe Tiefe aufweisen, zum Hof hin als komplexe Durchdringungen von überdeckten und offenen Bereichen. Der Hofbereich war sehr schmal. Suzana Antonakakis senkte ihn zusätzlich ab, um einen zweigeschossigen Innenraum mit eigenem Außenbereich zu schaffen. Dadurch wurde eine große, im Erdgeschoss und im ersten Stock liegende Wohnung aufgewertet. Das Konzept, einen großen zweigeschossigen Raum in der Sockelzo-

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ne eines Gebäudes vorzusehen, hatten die beiden Antonakakis bereits bei ihrem ersten Appartementhaus in der Benaki-Straße verwendet. Dort verdankte es seine Existenz der Tatsache, dass befreundete Familien gemeinschaftlich zusammenwohnen wollten.62 In der Doxapatri-Straße war diese nicht der Fall. Auch ist hier der zweigeschossige Bereich viel kleiner als in der Benaki-Straße. Jedoch wurde auch hier jede Wohnung unterschiedlich gestaltet, was sich insbesondere an der straßenseitigen Fassade ablesen lässt. Besonders interessant sind jene Bereiche, bei denen Balkone geringer Tiefe in Loggien oder offene Erschließungsgänge übergehen – wie etwa im zweiten und dritten Stock. Suzana Antonakakis verwendete verschieden große Fensterformate, die auf die jeweiligen Innenräume abgestimmt wurden. Vor Balkonen und begehbaren Hofbereichen sah sie große Schiebefenster vor, bei kleineren Zimmern kleine Drehflügel, die mit Klappläden geschlossen werden konnten. Wegen der variierenden Fenstergrößen und der verschieden langen, versetzt angeordneten Balkone im zweiten und dritten Stock wirkt die Straßenfassade lebhaft. Ihre Kleinteiligkeit und ihre sehr verschiedenen Außenräume signalisieren, dass hier für verschiedene Familiengrößen individuelle Wohnsituationen geschaffen wurden, die entfernt an traditionelle dörfliche Baustrukturen erinnern. Die bewegte, plastische Architektur des zweiten und dritten Stocks, in der sich gleichsam das Leben der Bewohner:innen artikuliert, wird durch die ruhigere Architektur der Sockel- und Dachzonen zusammengehalten. Vereinheitlichend wirken insbesondere die über die gesamte Gebäudelänge durchlaufenden Brüstungen der Dachterrasse und des obersten Geschosses. Im Sockelbereich wurden zwei Geschosse durch einen blau-grauen Anstrich zu einer Einheit verbunden. Die Farbgebung betont die statische Struktur. Außenwände und Decken wurden in Stahlbeton ausgeführt, mit damals üblichen Schalungen aus Brettern. Eine einfache Technik, die sich wesentlich von den in nördlichen Ländern gebräuchlichen Sichtbetonbauweisen unterschied. Die rohen Betonflächen wurden mit verschiedenen Farben übermalt, jedoch blieb die Schalungsstruktur erkennbar. Manche Decken wurden roh belassen, andere mit einer Färbung versehen. So wurde die Decke einer Wohnküche beispielsweise mit einem dunkelgelben Farbton beschichtet. Ein Markenzeichen der beiden Antonakakis waren ihre Balkonbrüstungen, bei denen der obere Teil als Wabenraster ausgebildet wurde. Es gab zwei Ausführungen, entweder zwei oder drei Wabenreihen hoch, die von einem Betonbalken überdeckt wurden. Bei den Balkonecken wurde das Raster durch kleine Betonstützen unterbrochen. Durch den großen Anteil an Betonflächen wirkten die Balkone massiv und schwer. Die Wabenkonstruktion hatte aber den Vorteil, dass sie von den Nutzer:innen in der Regel unverändert belassen wurden, während bei Metallgeländern aus Stäben diese nachträglich meist durch Planen verdeckt werden. Die Waben boten Schutz gegen Einsicht, gleichzeitig konnte man durch sie hindurchsehen und Luft konnte durch sie hindurchströmen.

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Ein Wegekonzept artikuliert sich bei der Doxapatri-Straße in den beiden Eingangszonen, am entschiedensten in der Raumsequenz, die zur Treppe führt. Beide Zonen wurden als transitorische Raumfolgen ausgebildet.63 Auf einen zweigeschossigen Bereich folgt jeweils ein niedrigerer, eingeschossiger. Beim Hauptzugang wurde der Aufzug um 90 Grad gegen die Gehrichtung verschwenkt, man umgeht ihn, kann ihn gleichsam übersehen. Ziel der Gehbewegung ist die gewendelte Treppe, die aus dem Gebäudevolumen herausgerückt wurde. Beim Hochsteigen tritt man gewissermaßen ins Freie, im ersten Stock führt die Treppe in eine überdeckte Zone, die zum Hof hin in eine Terrasse übergeht. Der Erschließungsbereich wurde hier dadurch aufgewertet, er kann als halbprivate Loggia (mit Blickkontakt zur Küche) genutzt werden. Meine Beschreibung der beiden Projekte soll aufzeigen, dass die Antonakakis mehrere Entwurfsverfahren verwendeten. Die beiden Konzepte Raster und Weg kamen zum Einsatz, für das Erscheinungsbild beider Gebäude waren sie jedoch nicht ausschlaggebend. Insbesondere bei der Doxapatri-Straße wurden klassischmoderne Entwurfsverfahren genutzt. Es ging hier vor allem um Raumbildung, um die Artikulation von Korrespondenzen, um die Gestaltung der Übergangsund Zwischenbereiche, um vereinheitlichende Strukturen und eine Material- und Farbästhetik, die den strukturellen Aufbau des Gebäudes visualisierte.

64: Appartementhaus Doxapatri-Straße, Athen, Zeichnung Fassade, Atelier 66 – Suzana Antonakakis 1978.

Courtesy : Dimitris Antonakakis, Athen

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65: Haus Doxapatri-Straße, Fassade.

Foto: Bernhard Denkinger

66: Haus Doxapatri-Straße, 2. Obergeschoss, Entwurfsplan mit Raster.

Courtesy : Dimitris Antonakakis, Athen

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67: Haus Doxapatri-Straße, 3. Obergeschoss.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

68: Haus Doxapatri-Straße, Schnitt.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

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69: Haus Doxapatri-Straße, Skizze Zugang.

Courtesy: Dimitris Antonakakis, Athen

70: Erdgeschoss, Wendeltreppe (li) und Zugang (re).

Fotos: Yiorgis Yerolymbos (li), courtesy by Dimitris Antonakakis; B. Denkinger (re).

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Schule in Stabio – Tita Caloni Tita Carlonis Schulanlage in Stabio (1968–1974) wirkt auf den ersten Blick wie ein Gebäude der klassischen Moderne. Carloni verwendete Bandfenster und Sheddächer, wie sie auch bei industriellen Bauten gebräuchlich waren. Die Architektur der Anlage berücksichtigt jedoch den dörflichen Kontext und stärkt diesen. Das Bauprogramm wurde in vier Gebäude aufgeteilt, von denen eines – die Turnhalle – die vorhandene Bebauungsstruktur aufnimmt und die Straßenfront schließt. Rechtwinkelig zur Straße führen zwei Klassentrakte in die Tiefe des Grundstücks, gemeinsam mit einem dritten Gebäude – dem sogenannten Spezialtrakt – bilden sie einen Hof. Die beiden Klassentrakte »schweben« über offenen Erdgeschosszonen, in denen inselartig die Treppenhäuser liegen. Auf Eingangsniveau enthalten diese die Garderoben und Sanitärräume, im Obergeschoss zwei Klassenräume und einen offenen Lernbereich. Die Klassentrakte sind somit in acht voneinander unabhängige Unterrichtseinheiten unterteilt, von denen jede mit allen notwendigen Serviceeinrichtungen versehen ist. Damit unterscheidet sich das Schulgebäude von den zu dieser Zeit üblichen Schultypen, die meist Zentralgarderoben, Sanitärblöcke und durch Mittelgänge erschlossene Klassenzimmer aufwiesen. Der eingeschossige »Spezialtrakt«, den Carloni an der schmalen, rückwärtigen Seite des Hofs anordnete, enthält drei größere Klassenräume und den Verwaltungsbereich. Die drei Schuleinheiten sind – so wie die freistehende Turnhalle – von großen Scheddächern überdeckt. Diese Art des Daches ermöglichte eine gleichmäßige natürliche Belichtung. Carloni nutzte sie, um eine pittoreske Wirkung zu erzielen. Bei der Turnhalle zeichnen sie sich sägezahnartig an der Fassadenlängsseite ab, bei den beiden Klassentrakten sind sie als längliche Volumina ausgebildet, deren geneigte Glasfläche in steilem Winkel an die Fassade anstößt. Carlonis Architektur reagierte in mehrfacher Hinsicht auf geografische und soziale Gegebenheiten: Ihre kleinteilige Struktur referierte auf die Bebauung der Umgebung, die aus Einzel- und Wohnhäusern bestand. Das Konzept kleiner, autonomer Unterrichtseinheiten begünstigte Gruppenbildung und Interaktion. Mit dem von der Straße aus einsehbaren, aber geschützten Hof wurde ein attraktiver halböffentlicher Raum geschaffen, der eine hohe Aufenthaltsqualität bot. Auch die auf den ersten Blick fremdartig wirkenden Sheddächer waren nicht ungewöhnlich für eine Region, in der ausgedehnte Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete sehr kleine historische Ortskerne umgaben. Aufgrund des gemäßigten Klimas waren die großen, offenen Bereiche unter den Klassentrakten nutzbar. Carlonis Schule in Stabio zeigt nicht die für Bauten der Tendenza typische Sichtbetonästhetik. So wie die Bauten der Umgebung ist sie mit einem Verputz versehen, durch dessen gelbliche Färbung sie sich in verhaltener Weise von dieser abhebt.

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71: Schulgebäude in Stabio, Skizze Schnitt, Tita Carloni 1967–1974.

Courtesy: Fondazione AAT, Fondo Tita Carloni, Scuole consortili Stabio 1967

72: Schulgebäude in Stabio, Klassentrakt.

Courtesy: Fondazione AAT, Fondo Tita Carloni, Scuole consortili Stabio 1967

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73: Schulgebäude in Stabio, Lageplan.

Courtesy: Fondazione AAT, Fondo Tita Carloni, Scuole consortili Stabio 1967

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74: Schulgebäude in Stabio, Grundrisse.

Courtesy: Fondazione AAT, Fondo Tita Carloni, Scuole consortili Stabio 1967

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75: Schulgebäude in Stabio, Schnitte.

Courtesy: Fondazione AAT, Fondo Tita Carloni, Scuole consortili Stabio 1967

Schule in Riva San Vitale – Aurelio Galfetti, Flora Ruchat Roncati, Ivo Trümpy Auch das Schulgebäude in Riva San Vitale (erste Bauphase 1962–1964, zweite Bauphase 1969–1972) von Aurelio Galfetti, Flora Ruchat Roncati und Ivo Trümpy besteht aus kleinen, autonomen Unterrichtseinheiten. Hier wurden fünf freistehende »Häuser« – längliche, dreigeschossige Zeilen – an ihrer Rückseite durch ein schmales Bauteil verbunden. Die Anlage liegt in ebenem Gelände. Die Geschosse der

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Zeilen sind gegeneinander versetzt, wodurch der Eindruck einer künstlichen Topografie entsteht. Der Versatz der Geschosse ist funktional bedingt: Jede Klasse sollte mit einem eigenen Freibereich ausgestattet werden. Im Erdgeschoss umschließen halbhohe Mauern eine Terrasse, im ersten und zweiten Obergeschoss wurden den Klassen Loggien vorgelagert. Die räumliche Staffelung hatte auch zur Folge, dass die Klasse im obersten Geschoss mit einer eigenen Treppe erschlossen werden musste. Galfetti, Ruchat Roncati und Trümpy platzierten die Treppen so, dass ihre Längsseiten sich zur Hauptblickrichtung orientierten. Sie zogen die Decke des obersten Geschosses über die offenen Bereiche, die zwischen den Zeilen liegen. Es entstanden so zweigeschossige, regengeschützte Außenräume. Die Bewegung der zu den Klassen hochsteigenden Schüler:innen wird gleichsam ausgestellt. Diese architektonisch interessante Lösung – so wie die Betonwabendächer der Loggien und die Rahmen der Tragkonstruktion – verleihen dem Gebäude einen spezifischen, besonderen Charakter. Nicola Navone meinte, dass Le Corbusiers Terrassenhaus für Dr. Durand in Oued Ouchala bei Algier (1933) ein Vorbild für das Projekt gewesen sei.64 Laut Matteo Ionello waren auch die hellblauen Wände im Inneren eine Referenz an Le Corbusier, der ockerfarbige Gelbton der Außenwandfüllungen hingegen verweise auf die lokale Tradition, öffentliche Gebäude mit dieser Farbe zu versehen.65 Nach Navone erhielt die Architektur ihren dezidiert modernen Charakter erst nach einer umfassenden Umplanung, die relativ spät erfolgte. Die ursprüngliche Planung hätte Zeltdächer und Natursteinmauern vorgesehen, wahrscheinlich um die Zustimmung der Heimatschutzkommission zu erhalten. Mit Hilfe persönlicher Netzwerke sei es dann gelungen, die traditionelle Formensprache durch eine moderne zu ersetzen. Auch diese Schulanlage fügt sich in die Struktur der vorhandenen Bebauung ein. Die hausartigen Klassenzeilen beziehen sich auf den Maßstab der freistehenden Einfamilienhäuser der Umgebung. Drei Zeilen des Schultrakts bilden gemeinsam mit der Turnhalle einen halböffentlichen Hof. Die Rückseite des Schultrakts korrespondiert mit einem quadratischen, zweigeschossigen Bau – dem Kindergarten –, dessen Vorbereich durch Mauern vom Nachbargrundstück und der Straße abgegrenzt wurde. Ursprünglich sollte die Turnhalle die Ortsgrenze baulich markieren, jedoch wurde der Grünraum hinter der Turnhalle bereits nach wenigen Jahren mit Einfamilienhäusern überbaut.

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76: Schule in Riva San Vitale, Außentreppen, Aurelio Galfetti, Flora Ruchat Roncati, Ivo Trümpy 1972.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, Walter Binder

77: Schule in Riva San Vitale, Südfassade.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, gta Ausstellungen

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78: Schule in Riva San Vitale, Freibereich zwischen Klassenzeilen, im Hintergrund der Turm der Dorfkirche.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, gta Ausstellungen

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79: Schule in Riva San Vitale, Südfassade.

Courtesy: gta Archiv/ETH Zürich, gta Ausstellungen

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80: Schule in Riva San Vitale, Erdgeschoss.

Courtesy: Balerna, Archivio del Moderno, Fondo Flora Ruchat-Roncati

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81: Schule in Riva San Vitale, 1. Obergeschoss.

Courtesy: Balerna, Archivio del Moderno, Fondo Flora Ruchat-Roncati

82: Schule in Riva San Vitale, Fassade Rückseite.

Courtesy: Balerna, Archivio del Moderno, Fondo Flora Ruchat-Roncati

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Keine der beide Schulanlagen, weder jene von Carloni noch jene des Teams Galfetti, Ruchat Roncati und Trümpy, weist handwerklich-dekorative Elemente auf. Ihre Architektur referiert nicht auf eine historische Tessiner Bautradition, im Gegensatz zur Architektur Mario Bottas. Beide Schulen zeigen auch keine historistische Tendenz, wie sie beispielsweise vieldiskutierte Bauten von Fabio Reinhard und Bruno Reichlin kennzeichnet. Irina Davidovici meinte, dass die Bauten der Tessiner Tendenza wegen ihres kulturellen Anspruchs als »urbane Fragmente«66 angesehen werden müssen. Sie wies zudem darauf hin, dass wechselnde Arbeitsbeziehungen und unterschiedliche architektonische Ansätze vorlagen. Auch hätte die Tessiner Produktion nicht in allen Punkten dem Konzept des critical regionalism entsprochen, sie hätte das Visuelle betont und wäre dadurch »in die Domäne der ›Szenografie‹ hineingeschlittert«. Andere konzeptionelle Voraussetzungen des critical regionalism, »wie die Haptik oder die tektonische Kohärenz«, hätte sie ignoriert.67 Diese Analyse von Davidovici mag für einige Bauten von Mario Botta gelten, für die beiden Bauwerke, die ich hier vorgestellt habe, scheint sie mir nicht zuzutreffen. Bei den Schulen in Stabio und Riva San Vitale verwendeten die planenden Architekt:innen die Sprache der klassischen Moderne und entwickelten sie weiter, insofern können diese Bauten als Beispiele einer kritisch-regionalen Moderne angesehen werden. Beide Anlagen verdanken ihren regionalen Bezug vor allem dem örtlichen Klima. Große, offene Bereiche unter einem Gebäude, Außentreppen und offene Erschließungsgänge waren nur möglich in Regionen, die ein gemäßigtes Klima aufweisen. Bei der Schule in Riva San Vitale ist zudem eine starke Materialität festzustellen, die von der Materialästhetik des new brutalism beeinflusst scheint. Hier wurde auch eine besondere räumliche Gestik entwickelt, eine Szenografie, die jedoch ausschließlich auf raumgestalterischen Überlegungen basierte. Bei diesem Gebäude wurde nicht der Umweg über eine Bildvorlage oder eine »Erzählung« genommen. Die »Szene« – die offenen Treppenaufgänge – verändert sich, je nachdem, ob die Treppen begangen werden oder nicht. Ermöglicht wurden derartige Projekte durch ökonomische und politische Faktoren, die in den 1970er Jahren in einigen peripheren Regionen Europas vorlagen: verhältnismäßig große Budgets und relativ große Baugrundstücke, Schulklassen geringer Größen, staatliche oder kommunale Finanzierung. Ein weiterer, spezifisch schweizerischer, »regionaler« Faktor war, dass es in der Schweiz eine ununterbrochene Tradition moderner Architektur gab – im Unterschied zu Deutschland oder Österreich, wo die Exponent:innen der modernen Architektur während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt oder in die Emigration gedrängt wurden. Diese moderne Tradition wurde in der Schweiz an den Hochschulen weitergegeben, Carloni und Galfatti hatten – wie die meisten der Architekt:innen, die in der TendenzaAusstellung vertreten waren – an der ETH Zürich studiert.68 Beide unterrichteten später selbst an Architekturschulen.

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Reihenhausanlage in Reichenau – Rudolf Wäger Rudolf Wägers Reihenhausanlage in Reichenau (1977–1979) könnte sowohl dem critical regionalism wie auch der Neuen Einfachheit zugerechnet werden. Viele Gebäude der Neuen Einfachheit einstanden in einem ländlichen Kontext, was dazu führte, dass sie als regionale Architekturen wahrgenommen wurden. Konzeptionell sind jedoch beide Architekturströmungen verschieden. Bauten des critical regionalism waren nie einfach. Ihre Architektur reagierte auf besondere Gegebenheiten, die sich in einem mehr oder weniger komplexen Erscheinungsbild manifestierten. Wägers Reihenhausanlage habe ich aus sowohl chronologischen wie auch inhaltlichen Gründen dem critical regionalism zugeordnet. In den späten 1970er Jahren gab es noch keine architektonische Strömung, die mit dem Begriff Neue Einfachheit assoziiert worden wäre, auch ist die Architektur der Anlage nicht einfach. Ich finde sie interessant, weil sie noch nicht unter dem Eindruck einer »semiotischen Rekonzeptionalisierung der Architektur« (siehe Jörg H. Gleiter)69 entstand, was wahrscheinlich daran lag, dass Wäger Autodidakt war.70 Wäger schien eine bereits zehn Jahre dauernde innerarchitektonische Diskussion zu ignorieren. Bei der Reihenhausanlage in Reichenau entwickelte er sein Formenvokabular aus konstruktiven Elementen, wie Haustrennwänden, Vordächern, Balkonen, Trägern, Stützen oder Fensterrahmen. Immer wieder verweisen kleine, plastisch hervortretende Elemente (ein Kragbalken, ein Brüstungselement) auf eine formal-ästhetische Ebene. Funktionelle Anforderungen und ästhetische Entscheidungen bedingten sich gegenseitig, wobei stets die räumliche Idee der ästhetischen vorausging. Räumlich motiviert sind beispielsweise die Ausbildung der Innenraumzonen, die Lage der Treppenzugänge, die Beziehung der Innenräume zum Garten, die Orientierung der Küche nach zwei Seiten. Ästhetisch motiviert sind die Rücksprünge in den Übergangszonen der Fassaden, die Hervorhebung des mittleren Teils des Obergeschosses und die Anordnung einer tiefen Terrasse im Obergeschoss, die das Gebäudevolumen durchschneidet. Dadurch wird die Eigenständigkeit der Reihenhäuser betont, sie wirken beinahe wie Einfamilienhäuser. Die Fassaden unterscheiden sich in formaler wie auch räumlicher Hinsicht: Bei der Nordfassade bilden sich die Treppen als plastische Elemente nach außen ab.71 Treppen und Sanitärräume bilden hier eine Servicezone, die als zweigeschossiges Bauteil artikuliert wurde. Dadurch erhielt die Rückseite des Gebäudes einen bewegten, lebhaften, aber auch verschlossenen Ausdruck. Im Gegensatz dazu vermittelt die gartenseitige Fassade ein ruhiges, von der Konstruktion bestimmtes Erscheinungsbild. Auch die Grundrisse der fünf Reihenhäuser sind verschieden. Im Erdgeschoss erweitert sich der Wohnraum jeweils L-förmig in den Garten. Bei drei Reihenhäusern ist diese Erweiterung gering, bei den beiden anderen ist sie mehrere Meter tief.

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Im Obergeschoss wechselt die Anzahl der Räume, was zu unterschiedlichen Terrassenbreiten führt. Im Erdgeschoss bilden Wohn- und Küchenbereich eine räumliche Einheit. Der Antritt der L-förmigen Treppen wurde zum Wohnraum hin orientiert, er verbindet Wohn- und Servicebereich. Beim Heruntersteigen wird der Blick zum Garten gelenkt. Das Innere der zweigeschossigen Reihenhäuser wird durch hohe, sehr schmale Holzträger strukturiert, die – so wie Wandverkleidungen, Decken und Treppenbelag – aus hellem Holz ausgeführt wurden. Fenster und die Tragkonstruktion der Treppen wurden schwarz-braun lasiert, die Böden mit roten Keramikfliesen versehen. Diese Materialästhetik erinnert an skandinavische oder holländische Vorbilder, auch der helle Sandstein der in der Höhe abgestuften Haustrennwände kann nicht als lokales Produkt bezeichnet werden. Die Architektur der Wohnanlage bezog sich nicht auf besondere topografische Bedingungen. Das Gebäude wurde auf einem flachen Grundstück errichtet, dessen Umgebung aus Einfamilienhäusern bestand. Die Architektur führte hier ein neues städtebauliches Element ein, eine neue Ordnung, die sich von der Beliebigkeit des Kontexts abhob. Dabei respektierte sie jedoch den Maßstab der bestehenden – architektonisch belanglosen – Bebauung.

83: Reihenhausanlage in Reichenau, Gartenseite, Rudolf Wäger 1979.

Courtesy: Architekturzentrum Wien, Sammlung, Inv. Nr. N 18_Errichtergemeinschaft Reichenau Lustenau

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84: RH-Anlage Reichenau, Grundrisse/Fassaden, Rudolf Wäger 1979.

Courtesy: Architekturzentrum Wien, Sammlung, Inv. Nr. N 18_Errichtergemeinschaft Reichenau Lustenau

Im Rahmen dieser Publikation konnte ich nur andeutungsweise das Potential einer kritisch-regionalen Architektur aufzeigen.72 Bei den Beispielen, die ich beschrieben habe, handelt es sich um komplexe und vielschichtige Gebäude. Ihre Architektur basiert auf einem pluralistischen Ansatz. Weisen Bauwerke viele verschiedene räumliche Situationen auf und sind sie zusätzlich auch aus unterschiedlichen Materialien konstruiert, dann wird meist voreilig auf eine konzeptionelle Schwäche geschlossen. Die kunsthistorische Betrachtung bezieht sich häufig auf einige wenige Merkmale eines Bauwerks, die dazu geeignet scheinen, eine übergeordnete Vorstellung, eine Idee, zu transportieren. Bei pluralistischen Architekturen lässt sich jedoch oft keine dominante Idee nachweisen. Sie leben von verschiedenen Ideen, die in einem fragilen Gleichgewicht zueinander stehen. Die theoretische Untersuchung, muss sich hier ihrem Gegenstand von verschiedenen Seiten nähern. Auch bewirkt die interne Konkurrenz verschiedener Ideen, dass diese sich gegenseitig relativieren: Das Gebäude enthält bereits eine Kritik seiner selbst, die in der unterschiedlichen Gewichtung der verschiedenen Ansätze zum Ausdruck kommt. Die theoretische Analyse bezieht sich auf diese Autokritik. Sie korrigiert sie oder sie überlagert sie mit einem neuen – scheinbar neutralen – Diskurs. »Einfache« Bauwerke, deren Erscheinungsbild durch eine dominante –meist formale – Idee bestimmt wird, enthalten meist keine Autokritik. Hier hat sich eine

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Tendenz eindeutig durchgesetzt, über die sich mit wenigen Worten urteilen lässt. Die Architekturkritik schreibt ihnen jedoch gerne zusätzliche Eigenschaften zu, die vom Hauptargument gleichsam verdeckt werden. Sie tut dies gerne in Form einer Andeutung, bliebt absichtlich vage, um die Botschaft der zentralen Idee nicht zu beschädigen. Beim Konzept des critical regionalism garantierte die Diversität der Zugänge und die Komplexität der Gebäude, dass die theoretische Diskussion nie abriss. In seiner vierzigjährigen Geschichte spiegelten sich jeweils aktuelle, geistesgeschichtliche Paradigmen. Nach Stylianos Giamarelos73 ist der critical regionalism inzwischen in eine historiografische Phase eingetreten: »Nun, da er nicht mehr durch die Anliegen der 1980er Jahre begrenzt wird oder als Manifest für eine humanistische zukünftige Architektur gesehen wird, kann der critical regionalism zu einer interkulturellen historiografischen Agenda werden«.74 Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die zahllosen Zusätze und Variationen, die dem Konzept des critical regionalism angehängt wurden, seine Substanz so verdünnt haben, dass er nur mehr als historisches Phänomen wahrgenommen werden kann. Nach Giamarelos hat er eine Zukunft – in Form von Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können. Ich bleibe ein wenig skeptisch, ob das Konzept tatsächlich ausschließlich als historisch angesehen werden muss. Seine Relevanz wurde vor allem von zwei Seiten in Frage gestellt: von der postkolonialistischen Geschichtsschreibung und der Theorie, die den Prozess der Globalisierung untersuchte. Giamarelos wies darauf hin, dass die Kritik am critical regionalism von Seiten der Theorie gekommen sei, nicht jedoch von praktizierenden Architekt:innen, die nach wir vor seine Ansätze schätzen und bei ihrer praktischen Arbeit anwenden würden. Auch liege hier der seltene Fall vor, dass aus einer Theorie ein Mainstream-Phänomen geworden sei, das sowohl in der Theorie wie auch in der architektonischen Praxis verankert sei. Giamarelos plädierte dafür, ihn als Arbeitsmethode für die Praxis beizubehalten: »Dass der critical regionalism […] einen anhaltenden Einfluss auf die architektonische Praxis hat, ist ein Erfolg […]. Heute scheint sich die Architekturtheorie eher an Kritiker:innen und Historiker:innen und nicht an praktizierende Architekt:innen zu wenden. Im Gegensatz dazu ist der critical regionalism ein Mainstream-Konzept, mit dem sowohl die architektonische Praxis wie auch die Theorie vertraut sind. Das Erbe des critical regionalism als Arbeitsthese für praktizierende Architekt:innen sollte aufrechterhalten werden […] [,] die Popularität dieses Diskurses sollte genutzt werden, um ihn für die Gegenwart neu zu justieren«.75 Am Ende seines Buchs Resisting Postmodern Architecture. Critical Regionalism before Globalization formulierte Giamarelos – in Anlehnung an Framptons sieben Punkte – eine erste Fassung dieser historiografischen Betrachtung des critical regionalism. Giamarelos’ Hauptargument war, dass die Konzepte von Identität, Region und Reprä-

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sentativität, die der critical regionalism vorausgesetzt hatte, korrigiert oder neu formuliert werden müssten. Nach Giamarelos erforderten die »hybriden« und »vielgestaltigen postkolonialen Identitäten«76 des späten 20. Jahrhunderts eine differenziertere Definition des Begriffs der Region, die sowohl innerregionale Unterschiede wie auch transnationale, regionale Beziehungen berücksichtigen müsse. Revidiert werden müsse auch die Auffassung, dass die Architektur einer Region über einzelne, besonders begabte Persönlichkeiten repräsentiert werden könne. In Giamarelos’ sieben Punkten spielte die politische Agenda des critical regionalism kaum mehr eine Rolle. Es schien, als habe sich dieses Thema erledigt, nachdem Frederic Jameson 1990 diese als inkonsistent kritisiert hatte. In der Einführung seines Buchs erläuterte Giamarelos zentrale Punkte der Kritik Jamesons: »Jameson verwies sowohl auf die geopolitische Unmöglichkeit einer regionalen widerständigen Kultur als auch auf die Gefahr der Vereinnahmung regionaler Authentizitäten […] durch die Tourismusindustrie. […] Cluster einer widerständigen Architektur könnten die Expansion der Megalopolis nicht aufhalten: Ihre erfrischende Eigenart mache sie sogar besonders attraktiv für die kapitalistische Ausbeutung«.77 Folgt man Jameson, dann kann es zwar eine regionale Architektur geben, ihre Eigenart kann sie jedoch nur kurzzeitig aufrechterhalten. Unabhängig davon, ob sie nun eine politische Agenda verfolgt oder nicht, ist in einer globalisierten Welt jede lokale Architektur auch international. Regionale und sozial homogene Milieus werden immer mehr zu überregionalen und multikulturellen. Derartige Entwicklungen gab es jedoch schon im 19. Jahrhundert. Aus kunsthistorischer Sicht erfolgte der Wissenstransfer bereits damals nicht nur in einer Richtung. In Courbet, Oller, and a Sense of Place78 beschrieb Linda Nochlin die wechselseitigen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie anhand des puerto-ricanischen Malers Francisco Oller. Nochlin legte dar, dass ein Diskurs, der im Zentrum geführt wird, in der Kunst der Peripherie reflektiert wird und später, in veränderter Form, ins Zentrum zurückkehrt. Die Reaktion der Peripherie – deren Kommentar – beeinflusst und verändert die Denkmodelle des Zentrums, auch wenn sie von diesem oft nur als »exotische Stimulanz« wahrgenommen wird. Nochlin wies auch darauf hin, dass sich die Peripherie an den qualitativen Standards des Zentrums orientiert (Francisco Oller hatte an der Akademie in Paris studiert). Lokale Themen und Strukturen werden unter Anwendung dieser Standards künstlerisch »verarbeitet«. In der regionalen künstlerischen Besonderheit ist immer ein Wissen enthalten, das im Zentrum entstand. Auf lokaler Ebene kann somit nur entschieden werden, wie mit diesem Wissen umgegangen und in welchen Zyklen es aktualisiert werden soll. Dabei kann eine lokale Rezeption auch bestimmte Themen ignorieren, die aus der Sicht eines Zentrums für relevant gehalten werden. Der Wert einer regionalen Besonderheit hängt dann davon ab, ob bestimmte künstlerische Fragestellungen

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zurecht ignoriert wurden. Beurteilen lässt sich das aus der jeweiligen zeitgenössischen Perspektive nur schwer. Dass die Stellung des Regionalen in der Kunst ambivalent ist und bei der Bewertung regionaler Kunst nicht nur ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, hat Nochlin ebenfalls thematisiert. Dabei übernahm sie auch Argumente, die die postkoloniale Geschichtsschreibung eingeführt hatte: »[M]eine Besprechung der Arbeiten von Courbet und Oller […] hat Fragen […] aufgeworfen, die immer noch von zentraler Bedeutung für die sogenannten provinziellen oder marginalen Künstler:innen von heute sind. Vor allem, was meinen wir mit dem Begriff provinziell und wer entscheidet, wer provinziell ist? Warum waren die Bilder Cezannes, die in Aix entstanden, oder jene, die Manet in Etretat produzierte, ›Mainstream‹ oder zentral, während die Arbeiten, die Oller in Puerto Rico schuf, es nicht waren? […] Welcher Unterschied besteht zwischen dem, was in herabwürdigender Weise als Provinzialismus bezeichnet wird, und einem ›Regionalismus‹, der eine positive Bezeichnung für eine lokale Differenz sein kann?«79

Neue Einfachheit: Die Selbständigkeit der Teile gegenüber dem Ganzen Bis in die 1990er Jahre hinein war der critical regionalism das einzige Gegenmodell zur Postmoderne, das auch über konsistente, theoretische Ansätze verfügte. Zwar behauptete auch die dekonstruktivistische Architektur, dass sie neue Inhalte erschlossen habe. Das philosophische Reservoir, das sie meinte, überschnitt sich jedoch in vielen Bereichen mit Thesen, die die Postmoderne eingeführt und formuliert hatte. Der Dekonstruktivismus in der Architektur war ein Phänomen, das der Postmoderne sehr ähnlich war: Er plädierte für eine Textualisierung der Architektur und stellte gleichzeitig das Ikonische in den Vordergrund. Im Unterschied zur Postmoderne gab es jedoch beim Dekonstruktivismus keinen Realitätsbezug mehr. An Stelle der Geschichte oder der Alltagswelt setzte er formale Kategorien. Hier entstand eine Architektur, die sich nur aus sich selbst heraus begründete. Eine andere Strömung, die sich von der zeitgenössischen Postmoderne absetzte, war die Neue Einfachheit. Der Begriff wird von mir für Architekturen verwendet, die ab Mitte der 1980er Jahre entstanden und gegen das Rhetorische und Bildhafte in der damaligen Architektur auftraten. Meist standen sie in der formalen Tradition der funktionalistischen (nicht lyrischen) Moderne. Anders als der frühe Funktionalismus betonten sie jedoch das Typologische. Grundrisse sollten nutzungsneutral gestaltet sein, um später andere Raumnutzungen zu ermöglichen. Die Übergänge zwischen Neuer Einfachheit und Minimalismus sind fließend. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass bei der Neuen Einfachheit eine gewisse Selbständigkeit der Teile vorliegt, die sich in einem unvermittelten Aufeinanderstoßen verschiedener Bauteile und dem gleichzeitigen Vorkommen verschiedener Materialien

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äußert. Beim Minimalismus hingegen muss sich jedes Detail folgerichtig aus einem formalen System ableiten lassen. Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied ist, dass die Neue Einfachheit ästhetische Kriterien nur akzeptierte, wenn diese dazu beitragen konnten, bauliche und funktionelle Aspekte eines Gebäudes zu verdeutlichen. Der Minimalismus allerdings ging ausschließlich nach ästhetischen Kriterien vor. Die Neue Einfachheit konstatierte eine Übersättigung, die sie nicht nur am Symbolischen und Bildhaften festmachte, sie stellte auch den polyzentrischen Ansatz der Architektur der 1970er Jahre in Frage. Ihre Kritik bezog sich somit nicht nur auf die Postmoderne, sondern auch auf Architekturen, die dem critical regionalism zugerechnet wurden. Sie plädierte für eine Rückführung der architektonischen Sprache auf wenige, einfache Formen, wollte die »Geschwätzigkeit« der kontextuellen (rhetorischen) Architekturen unterbinden. Anders als bei den frühen Funktionalisten, dem Strukturalismus, der Postmoderne oder dem critical regionalism stand hinter dieser formalen Neuorientierung aber keine eigenständige Theorie. Die neue schlichte Architektur wurde auch ungemein rasch von der Bauwirtschaft vereinnahmt, wobei mit großem gedanklichem Aufwand entworfene Lösungen von dieser banalisiert und für den Alltagsgebrauch der Verwertungspraxis adaptiert wurden. Von Beginn an stand die Neue Einfachheit in einem zwiespältigen Verhältnis zur Kunst. Aus konzeptioneller Sicht hätte sie sich gegenüber dieser abgrenzen müssen, ihre Formensprache war jedoch der minimalistischen Kunst sehr nahe. In der Architektur waren Minimalismus und Neue Einfachheit zwei Seiten eines Phänomens, wobei der Minimalismus von einer bereits dreißigjährigen Entwicklung in der Kunst profitierte. Jede eigenständige Äußerung einer einfachen Architektur musste sich mit dem vergleichen lassen, was in der Kunst erreicht worden war. In der Kunst dominierten internationale Entwicklungen den Diskurs. Insofern konnten die minimalistische Architektur – und mit ihr die Architektur der Neuen Einfachheit – kaum mehr regionale Besonderheiten zum Ausdruck bringen. Auf eine dominante Position des Ästhetischen in der minimalistischen Architektur und einen eher diffusen theoretischen Hintergrund verweisen auch Publikationen, die versuchten das Phänomen des Minimalismus in der Architektur zu definieren. Eine in der Architektur weitverbreitete Auffassung formulierte etwa Franco Bertoni in seinem Buch Minimal Architecture: »Indem sie alles in unserer Umgebung unterdrückt, das nicht authentisch ist, versucht die Architektur der Einfachheit, die minimalistische Architektur, uns zu einer anderen Form des Lebens und Erlebens zurückzuführen, eine, die ruhiger, strenger und wertvoller ist. […] Minimalistische Architektur ist durch ein formales Vakuum, eine expressive Stille, gekennzeichnet. Einige wenige, ewige und fundamentale Fragen dominieren das neue formale Vokabular«.80 Nach dieser Definition konnten Architekturen aus verschiedenen Zeithorizonten als minimalistisch eingestuft werden: Bauten von Adolf Loos und André Lurcat (1920er

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und 1930er Jahre), die Architektur von Luis Barragan (1950er und 1960er Jahre), ebenso frühe Arbeiten von AG Fronzoni und Tadao Ando (1960er und 1970er Jahre) wie auch frühe Gebäude von Luis Kahn (1960er Jahre). Der größte Teil der Projekte, die Bertoni in seinem Buch vorstellte, war in den späten 1980er und in den 1990er Jahren realisiert worden. Nicht alle konnten zweifelsfrei dem Minimalismus zugerechnet werden. So hatte etwa bereits Kenneth Frampton Projekte von Edouardo Souto de Moura, Alberta Campo Baeza und Tadao Ando als Beispiele eines critical regionalism präsentiert. Insgesamt war aber Bertonis Publikation in sich homogen: Sie deckte einen Zeitraum ab, in dem die Architektur durch den Minimalismus geprägt wurde, und die einzelnen Beispiele illustrierten ähnliche formale Haltungen. Bertoni hob hervor, dass Innenraumgestaltungen und Möbel ein wichtiges Betätigungsfeld der minimalistischen Architektur gewesen seien – ein nachvollziehbares Argument, da sich in diesen Fällen die Form kontrollieren ließ und »störende« Faktoren des Umfelds ausgeschlossen werden konnten. Gegen Ende der minimalistischen Welle, im Jahr 2003, unternahmen Ilka und Andreas Ruby, Angeli Sachs und Philip Ursprung den Versuch, den Begriff des Minimalismus in der Architektur zu erweitern.81 Sie schlugen ihm zeitgenössische Strömungen hinzu, die sie als Meta- und Transminimalismus bezeichneten. Letzterem schrieben sie Projekte von Shigeru Ban, Zaha Hadid oder Jürgen Mayer H. zu. Hadid konnte kaum mit dem Minimalismus in Verbindung gebracht werden, sie stand für eine autonome und formal komplexe Architektur, wie sie bereits der russische Konstruktivismus praktiziert hatte. Mayer H. interessierte sich vor allem für szenografische Effekte und semiotische Verschiebungen. Ursprung präsentierte ein Bauwerk Mayer H.s als Beispiel einer Architektur, die auf eine Umkehrung begrifflicher Zuordnungen abziele: »Begriffe wie Natur, Öffentlichkeit, Transparenz und bürgerfreundlich werden zu Slogans, deren Bedeutung nach Belieben gewendet werden kann«.82 Die architektonische Umsetzung dieses »Skeptizismus« erinnerte dann an bekannte, postmoderne Muster: »Treppen sind Bühnen, ausgeleuchtet wie in einem Filmstudio. Der Raum für die Hochzeitszeremonie ist mit einem goldenen Hochzeitskleid ausgekleidet. Mit Hilfe eines Computerprogramms kann die Administration es aus dem Vordach auf den Vorplatz regnen lassen, wobei verschiedene Regenfallmuster verwendet werden können«.83 Anhand eines Beispiels von Diller+Scofidio beschrieb Ursprung »eine architektonische Position, […] die mit Wortwörtlichkeit, Evaporation und Expansion an Stelle von Abstraktion, Kompression und Reduktion arbeitet, die Entropie artikuliert, anstatt diese zu unterdrücken«.84 Ursprung blickte vom Ende der minimalistischen Epoche auf deren geschichtliche Spuren zurück. Er meinte (richtigerweise), dass die Architektur nur formale Analogien zur minimalistischen Kunst geschaffen habe, ohne die minimalistische (eigentlich postmoderne) Kritik an den Werten der

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Moderne zu teilen. »Für einige ist [der Minimalismus; Anm. B.D.] eine Bühne für eine degenerierte Kunst, die sich dem Design, der Mode und der Konsumkultur unterworfen hat, für andere ist er so ziemlich das Gegenteil: eine Garantie, dass die Autonomie und die Geschichtlichkeit der Kunst nicht korrumpierbar sind.«85 Die Erweiterung des Minimalismus um eine Mega- und eine Transvariante, die Ursprung und die beiden Rubis intendierten, führte zu keinen praktischen, architektonischen Konsequenzen. Das Blur-Projekt von Diller+Scofidio das am Ende des Bands zukünftige Entwicklungen ankündigen sollte, ließ sich eher als Prototyp einer neuen sensualistischen Architektur deuten – so wie einige andere Projekte, die unter der Rubrik Transminimalismus erfasst waren. Die Auswahl des Teams zum Metaminimalismus ließ sich zu großen Teilen auch einem essenzialistischen Minimalismus zuordnen, wobei auch hier fraglich war, ob beispielsweise das Guggenheim Hermitage Museum von OMA oder das Kursaal-Projekt von Rafael Moneo überhaupt als minimalistische Architekturen bewertet werden konnten. Nach meiner Auffassung war der Minimalismus keine Architektur, die auf eine Realität referierte. Er bildete einen Diskurs ab, der innerhalb der bildenden Kunst stattfand. Dabei gelangte er zu einer Sprache des Verzichts, die neutrale, ausdrucksarme Formen präferierte. Diese Sprache konnte sehr leicht mit jener der Neuen Einfachheit verwechselt werden, die – von ganz anderen Intentionen ausgehend – zu formal ähnlichen Ergebnissen gelangte. Die Neue Einfachheit bezog sich auf das Reale, klammerte jedoch das Soziale in gewisser Weise aus. Sie hatte keine emanzipatorische Agenda, verstand sich auch nicht als eine Architektur des Widerstands. Wie eine rechtschaffene Anwältin oder Notarin vertrat sie die Anliegen ihrer Klientel, die sich auch in Planungen für gemeinschaftliche Wohnprojekte äußern konnten. Während sich der Minimalismus klar einer historischen Epoche zuordnen lässt, ist dies bei der Neuen Einfachheit nicht so eindeutig. Wir wissen zwar, dass sie um 1985 zu einem relevanten Phänomen der Architektur wurde, ob und wann sie zu Ende ging, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Das mag daran liegen, dass sie stets ein Sekundärphänomen war, das von anderen Entwicklungen überlagert wurde, die mehr Aufmerksamkeit erhielten. Die Neue Einfachheit hatte keine große Geschichte zu erzählen, sie appellierte auch nicht an die Emotionen ihres Publikums. Ihre sachlichen Argumente ließen sich nicht auf einige wenige Schlagworte herunterbrechen. Gefühle und innere Einstellungen brachte sie eher verhalten zum Ausdruck. Da sie keiner ideologischen oder philosophischen Fraktion angehörte, war sie auch nicht vom Niedergang der großen architektonischen Erzählungen betroffen. Sie existierte bereits zur Zeit der Postmoderne, überstand die Implosion des Dekonstruktivismus, das Absinken des dirty realism in die Bedeutungslosigkeit, das Verschwinden der Blobs (Blasen) des digitalen Entwerfens. Nachdem der Minimalismus zu einem historischen Phänomen geworden war, blieb sie gleichsam übrig:

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Sie war nun die einzige Architektur, die sich auf das Naheliegende und Einfache bezog. Im Jahr 1994 prognostizierte Vittorio Lampugnani,86 dass Einfachheit auch noch in der Architektur des 21. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen würde. Nach seiner Ansicht sollte sie sogar die Grundlage einer neuen Architektur sein, die sich, so Lampugnani, bereits ansatzweise zeige. Zu dieser neuen Architektur formulierte er sieben Punkte,87 die wir hier stichwortartig wiedergeben. Demnach definiere sich diese neue Architektur wie folgt: • •











Erster Punkt: Die Architektur müsse zur Einfachheit zurückkehren. Zweiter Punkt. Das Einfache (und Gleichförmige) dürfe nicht Ergebnis bloßer Sparsamkeit sein. Komplexe Anforderungen müssten übersetzt oder »verarbeitet« werden. Hierfür bedürfe es künstlerisch begabter, innovativer Personen. Der Prozess des Verarbeitens, die Mühe der Anstrengung, dürfe sich jedoch nicht im Produkt abzeichnen. Dritter Punkt: Die Architektur müsse sich der allgegenwärtigen Reizüberflutung widersetzen. Sie müsse Orte schaffen »wo wir unsere Augen ausruhen können«. Das bedeute auch, dass sie auf »vielschichtige Fassadenaufbauten, […] spiegelnde Glasflächen [und] flimmernde Medienwände« verzichten müsse, an deren Stelle solle sie Putz- und Steinmauern verwenden, die »Solidität versinnbildlichen«88 würden. Vierter Punkt: Unsere Welt sei chaotisch, dieses Chaos dürfe aber nicht durch Architektur dargestellt werden, es müsste eingedämmt werden. »Der Mensch« brauche Ordnung – »die gleiche geometrische Ordnung, die ihm sein Körper vorgibt und die sein Geist abstrahiert«.89 So wie die Literatur solle die Architektur nicht zeigen, wie das Leben sei, sondern eine Vorstellung vermitteln, wie es sein könnte. Ein Gebäude solle sich nicht an die Welt anpassen, es müsse eine »Instanz schaffen« und Werte vermitteln. Fünfter Punkt: Architektur müsse davon ablassen, sich ständig neu zu erfinden. Sie müsse »den Mythos der Innovation als eigenständigen Wert aufgeben«,90 Innovation dürfe nur dort verlangt werden, wo diese sinnvoll sei. Sechster Punkt: Die neue Architektur müsse eine »Architektur der Dauer«91 sein, sie müsse sich dem Modischen entziehen – insbesondere dem Zyklus von Abriss- und Neubau, der von einem Verlangen nach Veränderung und nach Neuem angetrieben würde. Diese Forderung ergebe sich aus ökonomischen und ökologischen Gründen. Siebter Punkt: Die neue Architektur brauche Präzision und das Detail. Sie müsse »wieder die kleinen Dinge in den Vordergrund«92 stellen, zeigen, wie Materialien beschaffen sind, wie sie (gedanklich) konzipiert und bearbeitet wurden.

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Lampugnanis Grundsätze verwiesen auf problematische gesellschaftliche Entwicklungen (Punkt 3), sie wandten sich gegen die Entwertung des Bestehenden durch den Novitätsmechanismus der Moderne (Punkt 5) und kritisierten eine falsche Ökonomie (Punkt 6). Einige dieser Defizite waren durch die Globalisierung verursacht oder verstärkt worden, sie hatten somit eine wirtschaftlich-politische Komponente. Als Lösungsansatz empfahl Lampugnani, dass die Architektur sich gleichsam aus ihrer Zeit heraushalten sollte (Punkte 3 und 4). Architektur sollte auch wieder auf der individuellen Leistung einer Persönlichkeit (Punkt 2) und handwerklichem Können (Punkt 7) basieren. Insofern sie die gesellschaftspolitische Ebene betrafen, waren Lampugnanis Argumente nachvollziehbar: Verweigerung – das Heraushalten – war eine mögliche Strategie angesichts eines übermächtigen Prozesses, der jede kulturelle Äußerung umgehend relativierte. Dort, wo sie sich für eine andere Technik und eine alternative Bauweise aussprachen, waren sie weniger schlüssig. Lampugnani plädierte für ein zeitloses, »primitives« Bauen, das auf traditionelle Bauverfahren zurückgreifen sollte. Derartige Produktionsweisen existierten nur mehr in wenigen Bereichen des Bauwesens. Ein Gebäude konnte zwar den Eindruck erwecken, als würde es nur aus Mörtel, Verputz und Stein bestehen, in der Regel setze es sich jedoch aus vielen verschiedenen Baustoffen zusammen. Das, was man sah, entsprach nicht dem inneren Aufbau und dem wirklichen Sachverhalt. Auch wurden Bauweisen fortlaufend ökonomisch optimiert, so dass sie von ungelernten oder kaum vorgebildeten Personen ausgeführt werden konnten. Geschulte Handwerkskräfte (siehe Punkt 7) kamen vor allem dort zum Einsatz, wo technische Anlagen oder Geräte in ein Bauwerk eingebaut werden sollten. Lampugnanis Grundsätze berücksichtigten auch nicht, dass Architektur immer mehr von Teams entworfen wurde, die häufig mit externen, aus anderen Disziplinen stammenden Expert:innen zusammenarbeiteten. Die künstlerische Verarbeitung komplexer Vorgaben (Punkt 2) ließ sich in solchen Fällen nicht mehr eindeutig einzelnen Personen zuordnen. Da sie sich auf das Naheliegende konzentrierte und häufig auf einen urbanen Kontext einging, konnte die Architektur der Neuen Einfachheit auch unter dem Begriff des critical regionalism subsumiert werden. Die Grenzen waren hier unscharf, sie lassen sich noch am ehesten chronologisch definieren. Vor 1985 war das Phänomen des einfachen Bauens mit der Herausbildung einer neuen regionalen Identität verbunden – beispielsweise bei der Neuen Vorarlberger Bauschule. Ende der 1980er Jahre war es bereits eine globale Erscheinung, die sich im Wesentlichen auf die internationale Rezeption der neueren Schweizer Architektur zurückführen lässt.93 Die Architektur der Neuen Einfachheit wies eine große Bandbreite auf, sie umfasste normal und gewöhnlich wirkende Wohnanlagen, Ökobauten mit rustikalem Charme, erratische Gebilde, die ein konstruktives oder ökonomisches Prinzip übertrieben, aber auch Gebäude, die eine klassisch-moderne oder klassizistische Haltung zum Ausdruck brachten. Kaum begann eine Tendenz sich durchzusetzen, wur-

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de sie schon wieder von einer anderen abgelöst. Vieles war gar keine Tendenz, sondern eine Einzelerscheinung, die sich meist als prototypische Vorstufe einer zukünftigen Architektur deklarierte. Es gab Büros, die auf die formale Sprache der Moderne referierten, und andere, die sich auf handwerkliche und gewerblich-industrielle Bauverfahren konzentrierten. Ihr gemeinsamer Nenner war eine Neigung, die Eigenständigkeit des einzelnen Bauteils zu betonen und Architektur als ein Zusammenwirken autonomer Elemente zu begreifen. Konstruktive Verbindungen, Anschlüsse und Übergänge wurden nicht oder nur fallweise artikuliert. Gerade die guten und interessanten Bauten wirkten oft spröde und abweisend, so als wären sie einem eigensinnigen, störrisch-widerspenstigen Denken entsprungen. Man sah ihnen meist an, dass um ihre Form gerungen worden war. Ich kann hier keine Vorstellung von der Bandbreite der Architektur der Neuen Einfachheit vermitteln. Mich interessierten Projekte, die andeutungsweise jenen Eigensinn zeigen, den ich als ein Merkmal der Neuen Einfachheit angeführt habe. Diese Projekte scheinen auch Lampugnanis Meinung zu widerlegen, dass die Mühe, die bei der Konzeption eines Bauwerks aufgewendet wurde, sich in diesem nicht ablesen lassen dürfe. Gerade Bauwerke der Neuen Einfachheit bezeugen, dass diese Mühe – im Bauwerk visualisiert – zu einem wesentlichen Moment der Rezeption werden kann. Hier wurde nicht eine unnötige Kompliziertheit oder ein unausgegorenes Chaos in Architektur gefasst: Die Teile eines zukünftigen Ganzen »sträuben sich« gleichsam gegen den Zugriff des Denkens. Dieses rückt sie in eine Position, die sie nur widerstrebend einnehmen. Jedes Teil ist bemüht, seine Eigenart zu behalten. Im Verbund des Ganzen bilden die Teile ein fragiles Gleichgewicht. Stets bleibt eine leichte Unsicherheit, ob ein bestimmtes bauliches Element seine Position zu Recht einnimmt. Es ließe sich eine große Zahl an Beispielen zur Architektur der Neuen Einfachheit anführen, sehr viele entstanden in der Schweiz. Ich will hier Projekte erörtern, die von Michael Alder (Schweiz) und von Doris und Ralph Thut (München) stammen. Beide Architekturbüros vertraten zentrale Anliegen des einfachen Bauens, die sich jedoch in zwei verschiedenen architektonischen Ausdrucksweisen artikulierten: einer klassisch-formalen und einer aformal-technischen, die populistische Forderungen der 1960er Jahre aufnahm. Sie markieren entgegengesetzte Positionen, die sich – weniger deutlich ausgeprägt – in vielen Bauten der Neuen Einfachheit finden lassen.

Wohnanlage Max-Planck-Gasse – Doris und Ralph Thut Doris und Ralph Thut experimentierten in den 1970er Jahren mit Selbstbauprojekten. Große Bekanntheit erlangte die Wohnanlage Gentergasse in München-Schwabing, die sie gemeinsam mit Otto Steidle, Patrick Deby, Gerhard Niese, Hans Rehm

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und Roland Sommerer planten. Hervorstechendes Merkmal dieser Anlage war ein Rahmenskelett aus Sichtbeton. Die Idee war, dass eine nutzungsneutrale Struktur mit Leichtbauelementen hergestellt werden sollte, die mit geringem Aufwand an zukünftige, neue Anforderungen angepasst werden konnte. Dies war ein strukturalistischer Ansatz, das Gebäude sollte sich nach Maßgabe der Lebensumstände seiner Bewohner:innen verändern können. Diese sollten die baulichen Veränderungen selbst durchführen können. Durch ihre Eingriffe (Selbstbau) würde sich das Erscheinungsbild des Gebäudes verändern und den sich wandelnden Lebensverhältnissen der Bewohner:innen Ausdruck verleihen. Somit war hier auch die Idee präsent, dass das Leben sich über Architektur ausdrücken könne, eine Vorstellung, die bereits das Neue Bauen der 1920er Jahre entwickelt hatte (siehe mein Kapitel Die neue Wirklichkeit der Technik. Die Ästhetik der frühen funktionalistischen Architektur). Bei der Wohnanlage Gentergasse blieb es im Wesentlichen bei der Idee. Die Bewohner:innen der Anlage realisierten ihre individuellen Vorstellungen bei weitem nicht in dem Ausmaße, wie sich das die Initiator:innen des Projekts gewünscht hätten. Bereits bei der Planung musste das Planungsteam mögliche Wünsche der Nutzer:innen exemplarisch aufzeigen: »In Ermangelung partizipierender Bewohner simulierten wir selbst das Nebeneinander verschiedenster Grundrisslösungen«.94 Zudem wurde aus ökonomischen Gründen an Stelle selbsttragender, eingespannter Stützen eine Tragstruktur mit aussteifenden Kernen umgesetzt, was die Möglichkeit zukünftiger Veränderungen wesentlich einschränkte.95 Die angestrebte Flexibilität und Offenheit einer Baustruktur widersprach der ökonomischen Realität der Bauwirtschaft. Derartige Projekte konnten nur unter besonderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen umgesetzt werden. Schwer vorhersehbar war auch, wie sich die zukünftigen Nutzer:innen verhalten würden. Würde es ihnen genügen, aus einer kleinen Zahl von Varianten die für sie passende auszuwählen? Die beiden Thuts meinten, dass die Planung die Nutzer:innen gleichsam an der Hand nehmen und diesen helfen müsse, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen: Der »Architek[t] ist […] gefordert die Artikulation des Bewohners durch seine Erfahrung und die […] Vermittlung seines eigenen Standpunkts zu unterstützen, dessen meist konsum-manipulierte Wunschbilder von Klischees zu befreien«.96 Die ökonomischen Mechanismen des Bauwesens sollten durch Schaffung eines alternativen Markts unterlaufen werden. An Stelle einer Vielzahl spezialisierter Komponenten, die aufeinander abgestimmt werden mussten, sollten nur wenige Produkte verwendet werden. Diese sollten leicht verfügbar sein und mit anderen, marktüblichen Produkten kombiniert werden können. Die Thuts beriefen sich hierbei auf Walter Segal,97 der Mitte der 1960er Jahre eine Holzbauweise konzipiert hatte, die er später für den Selbstbau optimierte. Segals Baumethode ermöglichte, dass Baumaßnahmen durch nicht fachkundige Personen durchgeführt werden konnten. Diese mussten aber angeleitet werden. Auch die Baukomponenten mussten nach einer genauen und umfassenden Planung zusammengestellt werden. John

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McKean meinte, Segals Methode sei eine »hochentwickelt[e] Präzisions-Technologie« gewesen: »Dabei geht es nicht um ›High-Tech‹ im heutigen Sinn, sondern um eine angemessene ›sanfte‹ Technologie. Er verwende[t] tragende Bauteile bester Qualität […] auch zu hohen Preisen, jedoch mit minimalen Querschnitten, wobei jedes Nachschneiden […] überflüssig wird […] [,weil] er leicht erhältliche Platten und unbeschnittene Tafeln verwendet. Seine Stücklisten sind vollständige Aufstellungen aller Materialien, wie sie auf der Baustelle gebraucht werden«.98 Neben der ökonomischen Komponente hatte Segals Selbstbaumethode auch eine ideologische, die auf John Ruskin und William Morris zurückging. An Stelle arbeitsteiliger Methoden sollten wieder individuelle, handwerkliche angewendet werden. Diese sollten dem Individuum ermöglichen, sich mit seiner Arbeit zu identifizieren, dieser einen Sinn geben: Beim Selbstbau schuf man sich mit der eigenen, persönlichen Arbeit ein Produkt, das man später selbst nutzen und bewohnen würde. Dabei war es von untergeordneter Bedeutung, dass man die erforderlichen handwerklichen Fähigkeiten erst erlenen musste und diese wahrscheinlich nur über einen kurzen Zeitraum hinweg benötigen würde. Die Ideologie des Selbstbaus fand ihren Weg in staatliche Bauprogramme. Dort traf sie auf eine frühere Weggefährtin aus den 1960er Jahren, die populistische Forderung nach Partizipation, nach der ein Gebäude die Vorstellungen und Wünsche zukünftiger Nutzer:innen zum Ausdruck bringen sollte. In den 1980er Jahren wurde in der damaligen Bundesrepublik eine größere Zahl experimenteller Wohnbauten realisiert, bei denen Partizipation und Selbstbau eine wichtige Rolle spielten. Eine dieser Bauten war die Wohnanlage Max-Planck-Gasse in Erding, von Doris und Ralph Thut, die 1985 fertiggestellt wurde. Das Projekt erreichte die von der obersten Baubehörde des Bayerischen Innenministeriums vorgegebenen Forschungsziele,99 die vor allem ökonomischer Natur waren. Darüber hinaus wies es auch besondere architektonische Qualitäten auf, was bei anderen Projekten, die partizipative Verfahren anwendeten, nicht immer der Fall war. Bei der Wohnanlage Max-Planck-Gasse konnten zwischen fünf und sieben Prozent der Baukosten durch Eigenleistungen der Mieter:innen eingespart werden.100 Der Selbstbau leistete hier einen relativ geringen, eher symbolischen Beitrag. Wichtiger war, dass den Mieter:innen rechtliche und finanziellen Vorteile eingeräumt wurden. Ob auch eine »Stärkung des Gemeinschaftssinns durch gemeinsames Handeln«101 erreicht werden konnte (ein Kriterium des Forschungsprogramms), lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nach heutigen Vorschriften würde ein stark gegliederter Baukörper mit großen Einschnitten, offenen Galerien und auskragenden Vorbauten wahrscheinlich nicht mehr realisiert werden können. Die Gebäudehülle würde gestrafft, bandagiert, ihre Lücken und Hohlräume mit Dämmstoffen ausgestopft werden. Die Qualität der

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Architektur der Wohnanlage Max-Planck-Gasse basiert auf der Fragilität der Bauteile, der ungewöhnlichen Kombination verschiedener Konstruktionen und Materialien, den vielen Vor- und Rücksprüngen, die dem provisorisch anmutenden Bau eine gewisse Plastizität verschafften. Erschließungselemente, wie die beiden offenen Durchgänge, wurden zu kleinen architektonischen Ereignissen. Die Wohnanlage zeigt eine Autonomie der Teile, wie ich sie als ein Kennzeichen der interessanteren Bauten der Neuen Einfachheit beschrieben habe. Die autonomen Teile des Gebäudes (Loggien, Vordächer, überstehende Balken, Außentreppen, Unterzüge im Durchgangsbereich) werden durch zwei längliche Bauelemente organisiert. Auf der Nordseite ist dies ein Laubengang, der sich durch sein Material (Beton) vom Gebäudevolumen abhebt. Seine massiven Stützen wurden in großen Abständen platziert, so dass breite, zwei Geschosse hohe Außenräume entstanden. In diese ragen die Treppenzugänge und Balkone der leicht vom Boden abgehobenen Wohnungen. Boden und Stützen des Laubengangs umrahmen die Fassadenflächen der Maisonettewohnungen, wodurch die Türen und Fenster der beiden Geschosse andeutungsweise zu einer informellen grand ordre verbunden werden. Auf der Südseite ist das organisierende Element zweigeteilt. Hier wurden die Loggien der Wohnungen des dritten Geschosses zu durchlaufenden, länglichen Baukörpern verbunden. Die Loggienbänder werden von relativ dünnen, stelzenartigen Stützen getragen, die bis unter die Dachkonstruktion der Loggien reichen. Jede zweite Stütze wird durch eine Verschalung verdeckt, so dass eine rhythmische Abfolge aus scheinbar verschieden hohen Stützen entsteht. Die Fassaden der Loggien bilden eine eigene Ordnung und betonen die formale Eigenständigkeit der Loggienbaukörper. Diese Ordnung ist leicht versetzt gegenüber dem darunter liegenden Fassadenbereich. Auch hier – auf der Südseite – entstanden durch die aufgeständerten Loggienbaukörper zweigeschossige, überdeckte Außenräume vor den Maisonetten. Die Fenster der oberen Wohnungen wurden aus funktionalen Gründen (Südlage) hier als Bandfenster ausgebildet, wodurch der schwebende Charakter der Loggien und deren Eigenständigkeit betont wurde. Wegen der Loggienbänder, aber auch wegen der überstehenden Dächer des Hauptbaus und der Holzverschalung des obersten Geschosses wirkt die Wohnanlage zugleich experimentell wie auch provisorisch. Ihre Material- und Formensprache ist hybrid: Sie verweist sowohl auf konventionelle wie auch moderne Siedlungsbauten aus den 1920er Jahren, verwendet aber auch Konstruktionen, die eindeutig ihrer Entstehungszeit – den frühen 1980er Jahren – zugeordnet werden können. Die Anlage deklarierte sich als eine offene, »unfertige« Architektur. Es war vorgesehen, dass die Bewohner:innen ihre Wohnungen verändern und auch erweitern können sollten. Bei einem architektonisch wenig interessanten Gebäude hatten derartige Veränderungen keine negativen Auswirkungen, bei Gebäuden wie der Wohnanlage Max-Planck-Gasse hingegen schon. Es mussten hier Bereiche ausgewiesen

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werden, die von Veränderungen ausgenommen bleiben sollten, und andere, die – nach vorgezeichneten Vorlagen – ausgebaut werden konnten. Die teilweise fragile, auch formale Architektur der Anlage konnte Aus- und Zubauten nicht ohne weiteres absorbieren. Wenn beispielsweise die offenen Loggienbereiche neben den freistehenden Stützen verbaut werden sollten, dann musste dies das Erscheinungsbild beeinträchtigen. Auch eine Unterbauung der Loggien oder des Laubengangs musste zwangsläufig zu einem Verlust an architektonischer Qualität führen. Im Grunde war die Möglichkeit der Veränderung ein psychologischer Faktor, welcher der Architektur einen zusätzlichen Reiz verlieh. Das Gebäude gab vor, sich in einem Übergangszustand zu befinden, die Architektur formulierte eine vorläufige, erste Version. Sie suggerierte, dass diese Version nach einer Erprobungsphase wesentlich verändert werden könnte. Dass diese Veränderungen in anderer Weise als von der Planung vorgesehen erfolgen konnten, mussten engagierte Architekt:innen immer wieder zur Kenntnis nehmen. Bei der Wohnanlage Max-Planck-Gasse beispielsweise wurden Holzfenster, die unter großem Planungsaufwand und durch Verzicht auf anderes ausgeführt werden konnten, nach relativ kurzer Zeit durch Kunststofffenster ersetzt.102

85: Wohnanlage Max-Planck-Gasse, Erding, Gartenseite, Doris und Ralph Thut, Mitarbeit Josef Meier-Scupin, 1985.

Foto: Wolfgang Gröschel, courtesy by Doris Thut, München

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86: Wohnanlage Max-Planck-Gasse, Eingangsseite.

Foto: Wolfgang Gröschel, courtesy by Doris Thut

87: Wohnanlage Max-Planck-Gasse, Fassadenausschnitt.

Foto: Wolfgang Gröschel, courtesy by Doris Thut

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88: Wohnanlage Max-Planck-Gasse, Grundrisse.

Courtesy: Doris Thut

Häuser nahe Basel und Wohnanlage in Basel – Michael Alder und Ateliergemeinschaft Alder, Müller, Nägelin Bei seinem ersten Haus, das er für Mitglieder seiner Familie plante,103 interpretierte Michael Alder ungünstige baurechtliche Vorgaben in innovativer Weise. Er verband zwei Wohneinheiten zu einer zusammenhängenden, offenen Struktur, die an zwei Stellen von einem sehr flachen Satteldach überdeckt wurde. Raumhohe Pfeilerwände und ausgedehnte Loggien betonten die Tektonik des Gebäudes, deren Strenge wiederum durch Unregelmäßigkeiten (raumhohe Öffnungen wechselten mit Brüstungen oder Wandflächen) gemildert wurde. Mehr Struktur als Haus wirkte das Gebäude in einem positiven Sinne unfertig, so als wären hier Möglichkeiten angedeutet worden. Bei den späteren Wohnhäusern Alders stand das Typologische im Vordergrund. Meist wurden sie als kompakte, rechteckig-längliche Baukörper mit Satteldächern ausgeführt. Walter Zschokke verglich neun Projekte Alders, die zwischen 1979 und 1992 ausgeführt oder geplant wurden.104 Die Gebäude, die vor 1986 entstanden, wiesen je-

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weils einen zentralen, mittigen Erschließungskern auf. Bei den späteren Projekten platzierte Alder die Treppen und Sanitärräume an den schmalen Endseiten der Häuser und bildete die Mittelzonen als längliche Loggien aus. Alders Suche nach einem Typus war offensichtlich von Aldo Rossis Theorien beeinflusst. Beim Haus Hofer im Liestal (1981) referierte die Architektur eindeutig auf die Formensprache Rossis. Der Grundriss wurde von Alder streng symmetrisch angelegt, die Stützen versah er sogar mit Kapitellen. Die Häuser, die nach 1986 entstanden, sind – was ihre innenräumlichen Qualitäten anbelangt – interessanter. Alder artikulierte bei diesen die Loggien und Terrassen als Zwischenzonen, die den Außenbereich mit dem Innenraum verbanden.105 Er erweiterte die Gangbereiche in den Obergeschossen und sah dort große Verglasungen vor, so dass auch diese als Aufenthaltsbereiche verwendet werden konnten. Die Grundrisse dieser Häuser wirken klassizistisch (insbesondere jene der Häuser in Bottmingen und Reinach), ähnliche Grundrisse hätten auch Gebäude aus dem frühen 18. Jahrhundert aufweisen können. Bei den größeren Gebäuden, die Alder im Rahmen einer Atelier-Gemeinschaft mit Hanspeter Müller und Roland Naegelin verwirklichen konnte, ist die typologische Komponente weniger ausgeprägt. Walter Zschokke meinte, Alder habe bei Reihen- und Geschosswohnungsbauten das »Prinzip einer Ganghalle in Mittellage verfolgt«.106 Bei der Wohnsiedlung Luzernerring in Basel wurde der Treppenbereich durch Glaswände mit den angrenzenden Räumen optisch verbunden und die Treppe als freistehendes Element ausgebildet. Der Aufzug wurde hinter der Treppe angeordnet, so dass er keine räumliche Wirkung entfalten konnte. Durch diese gestalterischen Maßnahmen wurde räumliche Großzügigkeit ermöglicht, obwohl die einzelnen Raumabschnitte von bescheidener Größe waren. Zur Straßenseite hin wurden Balkone und Loggien zu turmartigen Vorbauten verbunden, woraus sich zwei unterschiedliche Ansichten ergaben: Von der südwestlichen Seite aus gesehen werden die Loggien als eine klare Abfolge gleichartiger, vertikaler Elemente wahrgenommen, von der nordöstlichen Seite aus betrachtet sind sie stärker in den Baukörper integriert. Das Bauwerk referiert auch auf architektonische Vorbilder. Der langgestreckte, kompakte, sehr hohe Baukörper erinnert an den funktionalistischen Städtebau der 1920er Jahre, insbesondere an die Zeilen der Siedlung Dammerstock.

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89: Haus in Ziefen, Michael Alder 1970.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft, Basel

90: Haus Hofer in Liestal, Michael Alder 1981.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

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91: Haus Hofer in Liestal, Grundrisse EG und OG.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

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92: Grundrisse der Häuser Müntschemir (1986) und Bottmingen (1988), Michael Alder.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

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93: Haus in Bottmingen, Michael Alder und Partner (Hanspeter Müller, Roland Naegelin) 1988.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

94: Haus in Reinach, Michael Alder und Partner (Hanspeter Müller, Roland Naegelin) 1990

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

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95: Wohnsiedlung Luzernerring, Basel, Straßenseite, Michael Alder und Partner (Hanspeter Müller, Roland Naegelin) 1993.

Foto: Andrea Helbling, Arazebra, Zürich

96: Wohnsiedlung Luzernerring, Lageplan.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

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97: Wohnsiedlung Luzernerring, Grundrissausschnitte EG/OG.

Courtesy: Müller & Naegelin Architekten BSA, Atelier-Gemeinschaft

Alders Architektur galt als exemplarisch für die Neue Einfachheit. Sie hob sich ab von Architekturen, die zwar einfach waren, aber keine eigenständige Ästhetik zu entwickeln vermochten. Aus zeitlicher Distanz betrachtet, bildete sie jedoch nur einen Teil des möglichen Spektrums einer einfachen Architektur ab. Ein Problem, das bei der Neuen Einfachheit immer wieder auftrat, war, dass sie pluralistische Ansätze nicht integrieren konnte. Ihre Architektur, deklarierte sich als aformal und offen, generierte sich jedoch beinahe ausschließlich aus den Annahmen eines gedanklichen Systems. Da sie nicht beeindrucken oder verführen wollte, musste die Architektur der Neuen Einfachheit immer wieder darauf hinweisen, dass ihr schlichtes, oft gewöhnungsbedürftiges Erscheinungsbild aus logischen Vorgaben hervorging. Dieser Legitimationszwang führte zu einer Aufwertung des Systemischen und zu einer Formalisierung, die sich in einer konzeptionell-formalen Entwurfsweise niederschlug. Viele Bauten der Neuen Einfachheit enthielten aber auch Elemente, die zwar durch systemische Entscheidungen bedingt waren, aber nicht so wirkten – ebenso Komponenten, die nicht auf das System referierten und auf emotionale oder kognitive Motive zurückgeführt werden konnten. Weil die einfache Architektur das Systemische in den Vordergrund stellte, wurde sie vom Publikum jedoch ausschließlich als formale Architektur rezipiert.

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Am Ende dieses Kapitels möchte ich skizzenhaft untersuchen, inwiefern die Ansätze der drei Strömungen erfolgreich waren und welche Konsequenzen sich aus ihnen noch in der Zukunft ergeben könnten. Die Auswirkungen, die sich aus dem Traktat Michael Benedikts ergaben, sind schwer einzuschätzen. Mir ist auch bewusst, dass ihm im Allgemeinen nicht die Bedeutung zugestanden wird, die ich ihm einräume. Jedenfalls wurde Benedikts Schrift breit rezipiert. Seine vier Punkte und seine metaphysische Tendenz fanden Anklang bei Architekt:innen, die nach einer essenzialistischen Architektur suchten. Benedikts Text gab eine Stimmung wieder, die zu dieser Zeit gleichsam in der Luft lag. Insofern kann man seine Arbeit einer latent vorhandenen Tendenz zuordnen. Manche Forderungen Benedikts wurden von der minimalistischen Architektur übernommen. So verwendeten beispielsweise Franco Bertoni oder John Pawson gleiche oder ähnliche Begriffe, teilweise sogar identische Formulierungen. Die Betonung des Emotionalen und Phänomenologischen und der populistische Ansatz Benedikts finden sich später auch bei Liane Lefaivre wieder. Ihr Konzept eines dirty realism wiederholte einige Argumente, die bereits Benedikt formuliert hatte. Lefaivre deutete diese jedoch in einem vitalistischen Sinne und relativierte deren metaphysische Komponente. Benedikts Schrift, der critical regionalism und die Neue Einfachheit entstanden aus der Opposition zur Postmoderne. Von den drei Tendenzen war jene, die Benedikt vertrat, am wenigsten realistisch. Alle drei definierten die Position der Architekturschaffenden als marginal und meinten, dass anspruchsvolle Architektur nur außerhalb eines Mainstreams entstehen könne. Bei der Postmoderne waren die Verhältnisse umgekehrt, Architektur verhalf hier einer populären Kultur zu ihrem Recht. Die Architekturschaffenden waren dabei Teil eines Mainstreams, allerdings mussten sie sich in einen arbeitsteiligen Prozess einfügen – ihr Einfluss wurde durch wirtschaftliche Interessen eingeengt. Critical regionalism und Neue Einfachheit gewannen an Bedeutung, als die Postmoderne ihre ursprüngliche Forderung nach einer realistischen Architektur aufgab und sich der Simulation und dem Historismus zuwandte. Die Neue Einfachheit war erfolgreicher als der critical regionalism weil sie kein soziales oder politisches Engagement einforderte.107 Wegen ihrer undeutlichen theoretischen Grundlagen konnte sie auch von verschiedenen Seiten vereinnahmt werden. Ein wenig Einfachheit steckt in beinahe allen Architekturströmungen, die nach der Jahrtausendwende entstanden. Der critical regionalism hatte eine Theorie, er hatte sogar eine Agenda. Ihm kamen aber allmählich die Grundlagen abhanden, auf denen seine Theorie aufbaute. Regionale Unterschiede verschwanden, reduzierten sich auf touristisch verwertbare Enklaven. Die »regionalen« Architekturen der 1990er Jahre übernahmen sein Interesse am Sinnlichen und ließen das Kritische weg. Was zuvor durch eine politische Agenda bestimmt worden war, ging in einem allgemeinen Sensualismus auf. Oft war das

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Regionale nur mehr ein beliebiges Etikett, das einer bestimmten Region angehängt wurde. Eine Erkenntnis, die sich vielleicht aus der skizzenhaften Darstellung dieser drei realistischen Tendenzen gewinnen lässt, ist, dass sich Architektur und Theorie nicht auf die Verwaltung des Möglichen zurückziehen können. Eine unkritische Theorie, die versucht, sich aus dem Sozialen und Politischen herauszuhalten, führt zu selbstreferenziellen Architekturen. Kritik sollte jedoch nicht nur Fehlentwicklungen benennen, sie muss auf eine Veränderung des Status quo abzielen. Der critical regionalism bot hier einen Ansatz, der auch für die Zukunft von Relevanz sein konnte. Die Architektur des beginnenden neuen Millenniums instrumentalisierte Kritik, um einzelnen »besonders begabten« Personen – oder einer Gruppe – eine personalisierte »Theorie« zu hinterlegen. Kritik definierte sie als Ablehnung eines Status quo, den sie als unveränderbar ansah. Sie schuf ein Modell, dass aus zwei Welten bestand: jener der architekturfreien Zonen – der Vorstadtsiedlungen und Gewerbegebiete – und jener einer neuen autonomen Architektur, die große Bauvolumen und überregionale Verkehrsströme organisierte. Frampton hatte gemeint, dass die Baukultur zugunsten des Profits die Architektur aus dem Bauwesen verdrängt habe. Dennoch bildeten in seinem Konzept beide Ebenen noch eine Einheit: Aus einer marginalisierten Position heraus wurden architektonisch relevante Produkte geschaffen, die auf die ökonomische Sphäre zurückwirkten. Dadurch veränderte sich etwas.

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Mit seinem Konzept des critical regionalism hatte Kenneth Frampton für eine Architektur plädiert, die an bestehende Strukturen und kulturelle Eigenarten anknüpfen sollte. Mitte der 1980er Jahre setzte eine neue Globalisierungswelle ein.1 Regionale Besonderheiten verschwanden oder wurden zu Reservaten, die der Tourismusindustrie überlassen wurden. Auch große Teile des noch existierenden Baubestands fielen einer nun allgegenwärtigen Verwertungslogik zum Opfer. Dieser Prozess spiegelte sich in der Architektur. Diese referierte nun kaum mehr auf topografische oder regionaltypische Faktoren. An deren Stelle trat die sinnliche Erfahrung. In der Architektur der späten 1980er Jahre stand das Objekthafte und Szenografische im Vordergrund. Diese expressive und vitalistische Architektur wurde nach nur kurzer Zeit von Architekturströmungen abgelöst, die einen diffusen, eher allgemeinen Sensualismus vertraten. In den 1990er Jahren koexistierten mehrere derartige Architekturen, deren jeweilige Anhängerschaft einen Kult des Sinnlichen zelebrierte. Das Verlangen nach edlen oder »echten« Materialien und besonderen Erfahrungen manifestierte sich dabei in einer Sprache, die jener der Romantik in nichts nachstand. Das theoretische Problem, vor dem die Architekturschaffenden dieser Zeit standen, war, dass sie einen architektonischen Ausdruck für etwas finden sollten, das keine Eigenschaften besaß. Durch die Globalisierung wurden Unterschiede aufgehoben und physische Strukturen vereinheitlicht. Von ent-spezifizierten Strukturen, immateriellen Beziehungsgeflechten und Netzwerken konnte keine identitätsstiftende Wirkung ausgehen. Insofern referierte dieser Sensualismus auf Ersatzwelten. Die Materialien, die er hervorhob, waren nicht allgemein gebräuchlich, ebenso wenig die handwerklichen Verfahren, die sehr häufig angewendet werden mussten, um diese zu bearbeiten. Da der Realitätsbezug der sensualistischen Architekturen der 1990er und 2000er Jahre wenig ausgeprägt war, werden diese im Rahmen dieses Buchs nicht ausführlich erörtert. Am Ende dieses Kapitels gehe ich auf einige ihrer Merkmale ein.

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Dirty realism: Drama der Subkulturen In diesem Kapitel geht es um ein Architekturphänomen, das Ende der 1980er Jahre auftrat. Mit ihm wurden unter anderem Arbeiten von Rem Koolhaas, Bernard Tschumi, Jean Nouvel oder Zaha Hadid verbunden. Liane Lefaivre charakterisierte es als ein Verlangen nach einer sinnlichen, ungeschönten und »schmutzigen« Realität, das sich in einer lyrischen, szenografischen Architektur äußern würde. Ein solches Bedürfnis hatte sich gegen Ende der Postmoderne herausgebildet – zunächst in der Literatur, dann in der Kunst. In dieser wurde es zur bestimmenden Tendenz der 1990er Jahre. Den geistigen Hintergrund und die Formen dieser Renaissance des Realen in der Kunst hat Hal Foster in The Return of the Real2 beschrieben. Die Entwicklung in der Architektur war jedoch mit jener in der Kunst nicht vergleichbar. Die Begeisterung für eine desillusionierte und hässliche Form der Realität hielt nur wenige Jahre an. Das Werk der wenigen repräsentativen Leitfiguren wurde sehr rasch sehr individuell, so dass bereits Mitte der 1990er Jahre eine verbindende Agenda nicht mehr nachweisbar war. Das Potential dieses Realismus, seine Anliegen, verflüchtigten sich in einer allgemeinen Betonung des Sinnlichen und Körperlichen. Ende der 1980er Jahre war diese Entwicklung noch nicht absehbar. Es schien sogar, als könnte die Architektur – ähnlich wie die Kunst – über diese Form des Realen zu einer grundlegenden Erneuerung gelangen. Im Januar 1990 publizierte archithese ein Heft mit dem Titel Neue Ansichten. Dirty Realism.3 Die Ausgabe wurde von Liane Lefaivre konzipiert. Etwa ein Jahr zuvor hatte Lefaivre den Begriff dirty realism in einem Beitrag in der Zeitschrift Design Book Review verwendet. Ihr Artikel Dirty Realism in European Architecture Today: Making the Stone Stony4 wurde im Archithese-Heft wiedergegeben, etwas zeitversetzt dann später in französischen und spanischen Magazinen. Die Bezeichnung dirty realism hatte Lefaivre aus der Literaturkritik übernommen. Sieben Jahre zuvor (1983) war eine Nummer des Literaturmagazins Granta mit dem Titel Dirty Realism: New Writing from America 5 erschienen. Lefaivre definiert in ihrem Vorwort zum Archithese-Heft den dirty realism als ein Phänomen der späten 1980er Jahre, das grenzüberschreitend in verschiedenen Bereichen des kulturellen Spektrums vorkomme. Seine wesentlichen Merkmale seien eine programmatische Tendenz, die sie »kritisch-aufsässig und aggressiv«6 nannte. Er verwende formale Mittel und »gebrochen[e] Geometrie[n]«, zeige eine Poetik, die raue Oberflächen und unbearbeitete, industrielle Materialien bevorzuge.7 Schauplatz dieses neuen Realismus seien die moderne Metropole und ihre suburbane Peripherie in ihrer »schmutzigen Aktualität«.8 In ihrem Beitrag zeichnete Lefaivre ein faszinierendes Bild des dirty realism. Sie verwendete dabei eine Sprache, die an die expressionistische Literatur und Kunst des frühen 20. Jahrhunderts erinnerte. Expressionistische Tendenzen wiesen auch einige Projekte auf, die im Archithese-Heft vorgestellt wurden, insbesondere jene von

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Miroslav Sik und Branson Coates. Der historische Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts und Lefaivres dirty realism unterschieden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Lefaivre versuchte ein rationales Programm zu definieren. Sie bezog sich dabei auf Victor Šklovskijs Konzept der Verfremdung. Für Lefaivre war Šklovskijs Methode interessant, weil sie einen gesellschaftskritischen Zugang zu ermöglichen schien. Nach Lefaivre sollte sie verdeckt liegende Konflikte und eine latente Gewalt sichtbar machen, die in der modernen Metropole untergründig präsent seien. Die Kritik des dirty realism zielte jedoch nicht auf eine Veränderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse ab, im Gegensatz zum Naturalismus des 19. Jahrhunderts, bei dem die schonungslose Darstellung einer brutalen Realität eine sozialkritische Funktion gehabt hatte. Der dirty realism nutzte Protest, um negativ besetzte, unattraktive Räume zu valorisieren. Eine wesentliche Rolle spielten hierbei Subkulturen, wie beispielsweise Punk oder Heavy Metal. Sie entdeckten und nutzten Bereiche, die sich für eine Verwertung nicht zu eignen schienen, und sie kultivierten und vermittelten ein Lebensgefühl, das nach Selbsterfahrung, individuellem Ausdruck, aber auch Ent-Äußerung strebte. Der dirty realism deutete Realität als Faktizität, als eine sinnfreie Abfolge von Ereignissen, die zwar intensiv erfahren, aber nur in geringem Umfang beeinflusst werden konnten. Die Beziehung zwischen dem Individuum und seinem Umfeld reduzierte sich auf eine affirmative Akzeptanz des Bestehenden. Das Individuum sollte fühlen und in Erregung versetzt werden. In die architektonische Planung ging es vor allem als negative Referenz ein: Sein Konsumverhalten, das als unveränderliches Faktum angenommen wurde, produzierte die gesichtslosen Vorstädte und Gewerbegebiete, die wachsenden Verkehrsströme, die nun als eine neue Realität anerkannt werden mussten. Stellvertretend für eine solche Haltung werden hier Ausführungen von Rem Koolhaas zitiert, die er in einem eigenen Beitrag im Archithese-Heft veröffentlichte. In seinem Artikel, der den Titel Tempo 160 trug, beschreibt Koolhaas die holländische Landschaft als ein »gesichtsloses Plankton«.9 Natur bzw. Landschaft seien auf einen übriggebliebenen schmalen Streifen »erkennbarer Realität« reduziert, der eine weitere Schicht von Realität, »ein kontinuierliche[r] Gürtel seltsamer NichtArchitektur«,10 gegenüberstehe. Letztere würde sich allmählich in alle nicht bebauten Gebiete ausbreiten. Als Gegenkonzept schlug Koolhaas »Korridore von NaturStadt-Natur-Stadt«11 vor, die sich auf das kreisförmige regionale Autobahnnetz beziehen sollten – unter anderem sollte eine Autobahnachse errichtet werden, begleitet von »Plattformen mit Versorgungseinrichtungen und Türmen, die als Wohnungen oder für kommerziell Zwecke«12 dienen sollten. Als ein gestalterisches Merkmal führte er an, dass eines der geplanten Gebäude einen besonderen Eindruck hinterlassen würde, »wenn man es mit hoher Geschwindigkeit durchquer[en würde]«.13 An anderer Stelle beschrieb er einen Entwurf als »Autobahngebäude, das

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heisst ein Gebäude mit auffälliger Form«.14 Dieses könne nur bei einer bestimmten Fahrgeschwindigkeit vollständig wahrgenommen werden. Modern sei es, weil »in die äussere Form […] Interieurs eingelassen« seien, die »von der äusseren Verschalung nahezu unabhängig«15 seien. Letzteres hätte allerdings auch für eine historistische Architektur gelten können, bei der das Innere sich nicht nach außen abzeichnet. Neben einer vitalistischen Argumentationslinie, für die Koolhaas steht, hatte Lefaivres Konzept des dirty realism aber auch eine rationale. Lefaivre berief sich hierbei auf Viktor Šklovskijs Theorie der Verfremdung. Diese sieht vor, dass das Objekt – in einem erweiterten Sinne: die Umwelt – aus dem Automatismus einer gewohnten Wahrnehmung befreit werden müsse, damit es so erscheinen könne, als würde es (sie) zum ersten Mal gesehen.16 Nach Šklovskij ermöglicht dieser Vorgang es dem Subjekt für einen kurzen Moment, den tatsächlichen, wahren Charakter einer Sache wahrzunehmen. Die Kunst verwendet dabei formale Mittel, um das Erlebnis dieser spontanen Erkenntnis zu verlängern. Es handelt sich somit um eine Ausnahmesituation, die nicht beliebig oft wiederholt werden kann. Nach Šklovskij werden üblicherweise die Objekte der gegenständlichen Welt von der Wahrnehmung auf algebraische Kürzel reduziert. Sie werden nicht als individuelle Ganzheit erfahren, sondern bloß anhand symbolhafter Abkürzungen wiedererkannt. »[D]as Objekt erscheint uns wie eingepackt, wir wissen, dass es existieren muss, auf Grund der Position, die es [in unserer Umgebung; Anm. B.D.] einnimmt, aber wir sehen nur seine Oberfläche«.17 Dies ist ein notwendiger Prozess: Das Objekt wird »automatisch« zu Kürzeln verschlüsselt, um die Kommunikation zu vereinfachen und zu beschleunigen.18 (Šklovskij bezog sich in diesem Punkt auf Lev Jakubinskij). In der Ausnahmesituation der künstlerischen Wahrnehmung wird dieser Automatismus unterbrochen, die tatsächliche Größe des Gegenstands wird freigelegt, er zeigt sich – kartografisch genau – mit all seinen Besonderheiten. Das Subjekt nimmt diese Entschlüsselung als ein »Werden des Objekts« wahr.19 Das Ziel der Kunst ist es, diese Erfahrung herbeizuführen. Die formalen Verfahren, die hierfür eingesetzt werden können, sind: Vereinzelung des Objekts, Verdunkelung (Verunklären) der Form, Aufbau von Hindernissen, die den Wahrnehmungsprozess verlangsamen und dadurch verlängern.20 Wird die ästhetisch-philosophische Komponente des Konzepts der Entfremdung berücksichtigt, dann zeigt sich, dass dieses Modell als Methode nur eingeschränkt auf den dirty realism angewendet werden konnte. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der historischen Entwicklung. Die »Asphaltwüsten, […] verödeten Strassenfluchten, menschenfressenden Alphavilles […] [und] begriffslose[n] Friedhöfe der Urbanität«,21 die Lefaivre beschrieb, waren bereits das Ergebnis einer historischen Entfremdung, eines bis in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Prozesses. Sollte nun eine künstlerische Verfrem-

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dung einer bestehenden Entfremdung zu einer neuen Architektur führen? Zudem war Šklovskjis Konzept von einer weitgehend homogenen Klassengesellschaft ausgegangen. Diese wurde durch Konventionen reguliert, es gab einen allgemeinen Konsens darüber, was unter Gewöhnlichkeit, Vertrautheit oder Alltäglichkeit zu verstehen sei. Das Fremde konnte sich von der Alltagswelt abheben, weil diese homogen und durch Normen strukturiert war. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hatte sich jedoch die Alltagswelt verändert. Gesellschaftliche Normen hatten an Verbindlichkeit verloren. Die fragmentierte Gesellschaft der späten 1980er Jahre äußerte sich in einer diskontinuierlichen, inhomogenen Alltagswelt. Die Gesellschaft hatte sich aufgespalten in hybride Gruppierungen, die jeweils eigene, teilweise einander entgegengesetzte Wertvorstellungen vertraten. Auch widersprach Šklovskijs Konzept den Anforderungen der Architektur, die dauerhafte, stabile Zustände anstreben muss. Nach Šklovskij führte ja die formalistische Perspektive zu einer nur kurzfristigen Einsicht. Der rationale Ansatz des dirty realism krankte somit an mehreren Stellen: Die normbestimmte Gesellschaft, die er voraussetzte, existierte nicht mehr; die Un-Orte, auf die er sich beziehen sollte, waren nur schwach definiert, sie enthielten wenig Normatives oder Vertrautes, das sich hätte verfremden lassen; das Konzept einer schlagartig aufscheinenden, sich verflüchtigenden Erkenntnis lieferte wenig Brauchbares für die Gestaltung von Räumen, die einer dauerhaften Nutzung zugeführt werden sollten. Bei den literarischen Vorbildern des dirty realism überlagerten sich verschiedene Wahrnehmungsperspektiven. In ihrem Hauptbeitrag zitierte Lefaivre Passagen aus Machine Dreams von Jayne Anne Phillips.22 Im Archithese-Heft wurden neben dem Editorial Stadtautobahnen, Eisenbahntrassen, Parkplätze und Parkhäuser abgebildet. Der Begriff dirty bezog sich hier auf Lärm, Abgase, Lichtverschmutzung, auf Flächen und Räume, die durch Infrastruktur und Produktionsanlagen entwertet oder auf eine gewerbliche Nutzung reduziert worden waren. Angesichts der expressionistischen Terminologie wäre zu fragen, worin der Realismus des dirty realism bestand. In ihrem Hauptbeitrag leitete Lefaivre ihn von einer langen Reihe von Personen und historischen Strömungen ab: von der Bewegung des Pittoresken im 18. Jahrhundert, von Ruskin, Rimbaud und Le Corbusier über Venturi und Scott-Brown, Archigram, die Pop-Art, Bruce Goff und Christos bis zu den »Populisten«, die sie und Alexander Tzonis in einem ihrer wichtigsten Artikel 1975 beschrieben hatten.23 Prominente Architekturschaffende der 1980er Jahre – sechs Architekten und eine Architektin – charakterisierte sie als »Poeten des Abfalls«, welche »die Rohheiten der städtischen Zerstörung in die architektonische Lyrik eingeführt«24 hätten. Interessant war in Lefaivres Auflistung das Beispiel Le Corbusiers, den sie ebenfalls als »Abfall-Poet[en]« bezeichnete und als Beleg hierfür Abbildungen aus Vers une architecture anführte. Diese Zuschreibung war schlichtweg absurd,

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da in Le Corbusiers Schrift die von Lefaivre zitierten Getreideförderanlagen, Kräne und Turbinen für Fortschritt und Technik standen. Lefaivres Hauptinteresse galt der Konfliktkultur. Architektur sollte Konflikte nicht vermeiden, sie sollte die hässlichen, negativen Seiten des Wirklichen nicht verdecken, sondern durch Anerkennung des Faktischen Veränderung ermöglichen. Das Potential der Un- und Nichträume, die eine zerstörerische Verwertung städtischer und landschaftlicher Ressourcen hinterlassen hatte, sollte aktiviert werden. Leisten sollten dies Projekte wie die Entwürfe Zaha Hadids für die Internationale Bauausstellung (IBA) Berlin oder den Berliner Kurfürstendamm. Diese würden »entstellend[e] Kräfte« fassen und »Ort[e], die von Schnellimbiss, Schnellporno und Schnellkultur dominiert werden, […] in straff verpackte […] Kompositionen […] transformieren«.25 Lefaivres architektonische Medizin klang ein wenig wie moderne Alchemie, Projekte wie jenes von Zaha Hadid für die IBA hatten die Funktion, Wertloses in Werthaltiges zu verwandeln. Der dirty realism entdeckte und valorisierte Bereiche, die bis dahin außerhalb des Verwertungskreislaufs gewesen waren. Er machte mit Hilfe der Kultur aus Abfall wirtschaftlich Verwertbares. Diese Thematik wurde am Ende des Archithese-Hefts in einem kurzen Beitrag von Michael Sorkin angesprochen.26 Allerdings zeigten sich hier wiederum Unterschiede zwischen der Architektur und der Kunst. Der alchemistische Prozess ist im Bereich der Architektur auch umkehrbar. Es ist möglich, dass aus Gold wieder Abfall wird – wenn neue Nutzungen das Bisherige obsolet machen. Der dirty realism interessierte sich für Transitzonen, suburbanes Niemandsland, Parkplatzwüsten oder Resträume, die der Verkehr übriggelassen hatte. Er interpretierte das urbane und suburbane Umfeld als Räume, die durch Bewegung erfahren und in Besitz genommen werden sollten. Gebäuden wurde Bewegung eingeschrieben, Innen- und Außenräume wurden zu Bühnen. Seinem Selbstverständnis nach war der dirty realism ein heroischer Realismus. In vielem glich er dem Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. Wie beim Futurismus gab es auch hier eine Begeisterung für Geschwindigkeit und eine vitalistische Akzeptanz des Gewalthaften. So wie der critical regionalism verstand sich der dirty realism als marginale und widerständige Praxis, jedoch war hier nicht die Peripherie eines Kulturkreises gemeint, sondern der Einzugsbereich der Metropolen, die überall gleich aussehen. Neben der Verherrlichung von Geschwindigkeit und Bewegung, der affirmativen Betonung von Mobilität, war auch eine latente Konflikt- und Gewaltbereitschaft vorhanden. Der Idee nach war der dirty realism der ästhetische Ausdruck einer Subkultur und definierte sich über nonkonforme Lebensweisen. Es ist von besonderer Ironie, dass ausgerechnet eine Bewegung, die ein Mehr an Realität einforderte, in einen abgehobenen Kult mündete, der die Genialität und Singularität eines sogenannten Ausnahmekünstlertums feierte. Ein subkulturelles Erbe schlug so in Dekoration um.

Der Körper des Realen

Sensualismus: Kult der Oberfläche Definiert sich eine Architektur über das Bildhafte, dann ist es von untergeordneter Bedeutung, woher ihre Vorlagen stammen. Eine Vorlage oder eine Referenz haben hier ausschließlich die Funktion, einen visuellen Effekt zu bewirken. Alle wesentlichen Elemente einer bildhaften Architektur lassen sich durch Simulationen vermitteln. Geht aus einer solchen Simulation ein reales Bauwerk hervor, dann werden oft Erwartungen enttäuscht – die bauliche Realisierung kann nicht einlösen, was die Simulation versprach. Bei sensualistischen Architekturen ist dies nicht so. Hier soll eine Vorstellung über Materialien vermittelt werden. Ziel jeder sensualistischen Architektur ist die Realisierung. Sie erst ermöglicht, dass die Materialien, die sie verwendet – und deren Ausdruck sie überhöht – wahrgenommen werden können. Anders als bei »autonomen« Architekturen, ist bei sensualistischen die Simulation stets nur ein Zwischenstand. Weil sie auf einen Materialcharakter referieren, sind sensualistische Architekturen in einem gewissen Ausmaß realistisch. Allerdings heben sie oft bestimmte Eigenschaften in unverhältnismäßiger Weise hervor, wodurch sich ihr Bezug zum Realen relativiert. Der architektonische Sensualismus hatte stets eine große Nähe zur Bauindustrie. Man musste keine Haltung einnehmen, um ihn zu praktizieren. Mit seiner Hilfe ließen sich auch architektonisch-räumliche Anforderungen umgehen. Viele Architekt:innen kennen dieses Phänomen: Ihre Auftraggeberschaft investiert bereitwillig in (überdimensionierte) Bäder und Küchen, teure Fliesen oder Möblierungen. Wesentlich restriktiver verhält sie sich dann, wenn Mittel für räumliche Maßnahmen bereitgestellt werden sollen. Ein sehr großes Biotop des bauwirtschaftlichen Sensualismus ist der Wellnessbereich (Schwimmbäder, Sanitärgegenstände, Designheizkörper, Armaturen), ein anderes die sogenannte Retail-Architektur. Die Allgegenwart vermeintlich edler Produkte und die Gedankenlosigkeit, mit der sie eingeplant werden, haben den Anliegen der sensualistischen Architekturen geschadet. Ab etwa 1995 wurde der Sensualismus zur maßgeblichen Tendenz in der europäischen Architektur. Er dominierte das Architekturgeschehen bis Ende der 2000er Jahre. Seine Bandbreite reichte von der fundamentalistisch-substanziellen Architektur der Therme Vals von Peter Zumthor bis zur urban-szenografischen des sogenannten Dirty House von David Adjaye. Dazwischen lagen unbestimmtere Sensualismen, wie etwa jener des Büros Sergison Bates.

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98: Dirty House, Straßenseite mit verspiegelten Fenstern, Adjaye Associates, 2002.

Foto: Bernhard Denkinger

David Adjayes Dirty House grenzt sich gegen seine Umgebung ab. Der Neubau wurde über einem Altbausockel errichtet, dessen Fassade schwarz gefärbt ist. Die ehemaligen Fenster des Altbaus wurden mit Spiegeln versehen. Hinter der Fassade liegt ein ungewöhnlich schmaler, mehrgeschossiger Raum, in dem großformatige Bilder aufgehängt werden können. Durch diesen werden die Wohnbereiche des Hauses von der Straße abgerückt und die Trennung zwischen außen und innen betont. Das auskragende Dach des loftartigen Obergeschosses wirkt bei nächtlicher Beleuchtung wie ein riesiger Reflektor. Adjaye verwendete kostengünstige Materialien und eine Lowtech-Bauweise. Die sensualistische Anmutung des Gebäudes ist in der Rohheit der Materialien und dem Verzicht auf sonst übliche Verkleidungen begründet. Im Gegensatz dazu wirkt die Architektur der Therme Vals handwerklich gediegen und exklusiv. Zumthor musste bei seinem Projekt (Fertigstellung 1996) auf einen schwierigen Kontext eingehen. Er entschied sich dafür, das relativ große Bauvolumen unterirdisch anzuordnen. Dadurch entstanden hohe Anforderungen an Bauund Klimatechnik, die Zumthor fallweise mit überraschend einfachen Details löste. Hightech gab es nur dort, wo dies unvermeidlich war. Die Thematik der Bauaufgabe brachte es mit sich, dass die Planung das Atmosphärische und die körperliche Erfahrung hervorhob. Zumthor schuf für Letzteres besondere Raumerlebnisse. Er betrachtete den Thermenbesuch als ein Ritual. Diesem fehlte jedoch ein religiöser oder

Der Körper des Realen

geistiger Hintergrund – schließlich ging es für die Besucher:innen ja nur darum, einen kurzen Aufenthalt in einer Therme möglichst angenehm verbringen zu können. Zumthors essentialistische Architektur wurde durch ihren Gebrauch zwangsläufig »profanisiert«. Die Besucher:innen »vollzogen« Rituale, die (theoretisch) ernst gemeint waren, tatsächlich aber einen unverbindlichen, spielerischen Charakter hatten. Es handelte sich hier um Assoziationen und Anspielungen – Verfahren, die auch in der postmodernen Architektur gebräuchlich waren.

99: Therme Vals, Peter Zumthor, 1996.

Foto: Micha L. Rieser, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7519517

Zwischen dem eleganten Sensualismus Zumthors und dem introspektiven Adjayes (hier ist nur das Dirty House gemeint) lag ein dritter, der im Wesentlichen die Bedürfnisse privater Projektentwicklungsgesellschaften befriedigte. Sensualistisch in einem sehr allgemeinen Sinn waren auch einige Projekte von Sergison Bates. Bei der Wohnanlage Finsbury Park villas (2008) wurden Sichtziegelwände, Gesimse, Treppen und Bodenbeläge aus Beton sowie verzinkte Tore und Geländer verwendet. Die Architektur der Anlage referierte zudem auf Konventionen (etwa den Typus des Bay-Windows) und die kleinmaßstäbliche, villenartige Bebauung der Umgebung. Positiv bei den drei hier genannten Beispielen war, dass das Sinnliche auf eine materielle Realität Bezug nahm. Dieser Sensualismus konstruierte keine Ersatzwelten, die bauliche Form korrelierte mit einem Inhalt. Auch wurde das Räumliche als Kategorie der Architektur nicht in Frage gestellt.

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Im Gegensatz dazu spielte beim überwiegenden Teil der sonstigen sensualistischen Architektur der 1990er und der 2000er Jahre das Räumliche und das Materielle keine Rolle mehr. Hauptmerkmal dieses vermeintlichen Sensualismus war, dass eine äußere Hülle gleichsam mit Texten überschrieben wurde. Den Oberflächen von Gebäuden und städtischen Räumen wurden Erzählungen angehängt, die im Wesentlichen Werbebotschaften der Mode- und Tourismusindustrie, der Technologiekonzerne und der Immobilienwirtschaft waren.

100: Wohnanlage Finsbury Park villas, Eckansicht, Sergison Bates, 2008.

Foto: Bernhard Denkinger

Der Körper des Realen

101: Wohnanlage Finsbury Park villas, Hauseinheit mit Zugang.

Foto: Bernhard Denkinger

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Das Reale zwischen den Bildern

In diesem Kapitel geht es um Entwicklungen, die in den letzten zehn Jahren stattfanden. Aufgrund des geringen zeitlichen Abstands kann ihre Bedeutung aus der heutigen Perspektive nur schwer eingeschätzt werden. Es gab interessante, jedoch sehr spezifische Tendenzen, wie beispielsweise die neuere flämische Architektur. Insgesamt wurde das Architekturgeschehen jedoch – wie im vorausgehenden Jahrzehnt – von Architekturen dominiert, denen ein Hang zum Spektakulären und Persönlichen gemeinsam war. Es gab aber auch Gruppierungen, die eine andere Philosophie vertraten. Zu Beginn der 2010er Jahre bildete sich in Frankreich eine rationalistische Tendenz heraus. Die Zeitschrift arch+ widmete ihr Ende 2020 ein sehr umfangreiches Heft. Von den in dieser Ausgabe präsentierten architektonischen Ansätzen werden drei in diesem Kapitel erörtert. Für mich war von Interesse, dass hier eine neue Form von Rationalismus vorzuliegen schien. Dieser realistische Rationalismus war nicht heroisch – insofern unterschied er sich von den historischen Rationalismen der 1930er oder der 1970er Jahre. Er hatte einen instrumentellen Charakter, beschränkte sich manchmal sogar nur auf Teile eines Projekts. Am Ende des Kapitels gehe ich der Frage nach, welche Funktion der Zufall in einer realistischen Architektur haben kann. Eine Architektur, die sich auf das Reale bezieht, kann den Zufall nicht ausschließen. Es muss aber mit besonderer Sorgfalt zwischen individuell-willkürlichen und objektiv-tatsächlichen Äußerungen unterschieden werden. Bei Ersteren handelt es sich um die momentane Befindlichkeit einer Person, bei Letzteren um einen Ausdruck des Realen. Der Zufall kann demnach nur in einer objektivierten Form in ein architektonisches Projekt eingehen. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die entwerfende Person entäußert – sie muss ihre Individualität gleichsam aufgeben, um den Zufall zu ermöglichen.

Der Realismus der Neuen Bescheidenheit 2020 brachte Arch+ ein Heft mit dem Titel Neuer Realismus in der französischen Architektur heraus.1 Vorgestellt wurden Projekte, die im Wesentlichen zwischen 2009 und

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Die Architektur des Realen

2019 ausgeführt worden waren.2 Der größte Teil des Hefts – beinahe zweihundert Seiten – widmete sich einzelnen Projekten. Die Ausgabe enthielt auch Interviews und Textbeiträge einzelner Architekturbüros. In einem kleineren theoretischen Teil (etwa vierzig Seiten) wurden die historischen und theoretischen Rahmenbedingungen des Neuen französischen Realismus diskutiert. Die meisten Gebäude im Heft wiesen einfach wirkende Volumina oder Rahmenwerke auf, es gab aber auch organischunregelmäßige Projekte. Die Projektauswahl sollte eine gemeinsame Haltung dokumentieren und diese als ein national und geografisch eingegrenztes Phänomen ausweisen. Beide Vorhaben waren problematisch. Angesichts formal differierender Gebäude musste der Begriff des Realen sehr weit gefasst werden, die national-geografische Einordnung wiederum ergab sich ausschließlich aus den Biografien der Architekt:innen. Besonders schwer argumentierbar war die geografische Eingrenzung. Ähnlich »realistische« Gebäude, wie sie im Heft vorgestellt wurden, waren zwischen 1990 und 2020 auch in anderen europäischen Ländern errichtet worden.3 Es existierte bereits seit Ende der 1980er Jahre eine realistische Tendenz in der europäischen Architektur, deren Formensprache sich allmählich aus dem minimalistischen Vokabular abgespalten hatte. Über lange Zeit war diese unspektakuläre, oft einfache Architektur nicht als eigenständiges und nachhaltiges Phänomen wahrgenommen worden. Mitte der 2000er Jahre änderte sich dies, nachdem expressive Architekturnarrative, wie der dirty realism oder Superdutch, an Strahlkraft verloren hatten.4 Arch+ verband das Phänomen eines neuen Realismus mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der 2000er und 2010er Jahre in Frankreich, ganz im Sinne der sozialpolitischen Agenda der Zeitschrift, die aus dem Umfeld der 1968er Bewegung hervorgegangen war. So befassten sich mehrere Beiträge mit der französischen Hochschulpolitik. Anliegen und Scheitern der Studentenbewegung wurden erörtert, ebenso die aktuelle Situation der Architekturschaffenden in Frankreich. Eine dezidiert gesellschaftspolitische Ausrichtung der neueren französischen Architektur konnte anhand der ausgewählten Projektbeispiele jedoch nicht nachgewiesen werden. Solche Ansätze erschlossen sich indirekt – aus Äußerungen, die im Rahmen der Interviews erfolgten. Präsent waren soziale Themen jedoch in der Aufgabenstellung einiger Projekte.5 Woraus bestand nun der Neue französische Realismus? Laut Editorial knüpfte er an eine rationalistische französische Tradition an.6 Die Autor:innen bezogen sich dabei auf ein klassisches Narrativ, nach dem die französische Kultur auf der Aufklärung und dem Szientismus des 19. Jahrhundert basiere. Bereits hier, in der Einführung zum Heft, zeigte sich auch eine Tendenz, Realismus mit Rationalismus gleichzusetzen. Da der Begriff Rationalismus jedoch in der Vergangenheit bereits mit mehreren Architekturströmungen verbunden worden war,7 musste die neue französische Richtung sich von diesen abgrenzen. Dies geschah in kurzen Passagen, die über Editorial, Beiträge und Interviews verstreut waren. Das Bild eines Neuen französischen

Das Reale zwischen den Bildern

Realismus ergab sich gleichsam statistisch, aus einem gehäuften Auftreten ähnlicher Statements. Im Editorial wurde ausgeführt, dass der Neue französische Rationalismus des Jahres 2020 sich mit der Alltagswelt und mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen würde. Seine Architektur sei daher weniger formal als beispielsweise die »Berlinische Architektur«, die »unter Missachtung des Sozialen das Tektonische und Überzeitliche«8 betont hätte. Er würde sich wieder stärker »auf die Struktur und die Konstruktion« beziehen, die Haustechnik als sichtbares Element in den Entwurf einbeziehen und wieder Bautechnik »zelebrieren«.9 Die neue französische Richtung sei der Akzeptanz des Bestehenden verpflichtet, das »in seiner urbanen Eigenlogik gestärkt werden soll[e]«.10 Ihre theoretische Basis sei eine »Ökonomie der Mittel«.11 Emmanuel Caille führte in seinem Beitrag aus, dass die im Heft vertretenen Büros ihre Gebäude nicht als skulpturale Objekte auffassen würden, sondern als »Gefäße mit undefinierten Grenzen, als Struktur, die verschiedenen Nutzungen Raum gibt«.12 Die Funktion eines Gebäudes sei, »das Leben, das in ihm stattfindet […] [,] zu strukturieren und zu verstärken«.13 Beide Äußerungen unterschieden sich nur in Nuancen von Positionen, die in den frühen 1970er Jahren Aldo van Eyck oder Herman Hertzberger vertreten hatten. Immerhin sprach Caille von einem »Gefäß«,14 so dass mit der neuen Richtung auch eine latente Körperhaftigkeit verbunden werden konnte. Er beschrieb die neue französische Architektur als pragmatisch, »symbolisch neutral«,15 sie hätte ein Bestreben gezeigt, unauffällig oder anonym zu erscheinen, habe eine Vorliebe für standardisierte industrielle Bauformen,16 sie bemühe sich »aus der Banalität des Realen das Material des Entwurfs [zu] gewinnen«.17 Mehrere Seiten in Cailles Beitrag waren mit der Bezeichnung Neue Einfachheit übertitelt, seine Beschreibungen hätten auch auf einige Beispiele der späten 1980er und der 1990er Jahre angewendet werden können, Beispiele, die allerdings vor allem in der Schweiz oder in Deutschland ausgeführt worden waren. Caille formulierte auch eine interessante Definition des Einfachen in der Architektur: »Bei der Suche nach Einfachheit geht es nicht in erster Linie um eine Ökonomie der Form, sondern um die Sparsamkeit der Mittel – die auch eine Ökonomie der Form implizieren kann«.18 Diese Auffassung unterschied sich nach Meinung Cailles von jener des Minimalismus, zu dem er ausführte: »Der Minimalismus weicht einer konstruktiven Erzählung und der Realität […] aus. Er ist anti-pragmatisch und bemüht sich mit viel Komplexität darum, die Komplexität und Trivialität des Gebauten zu verschleiern«.19 Wie weit der Pragmatismus des Neuen französischen Realismus gehen konnte, lässt sich anhand eines Gebäudes des Architekturbüros l’AUC veranschaulichen. Der soziale Wohnbau Les Docks de Ris (Ris Orangis, 2016) besteht aus zwei verschieden großen Baukörpern – einem U-förmigen und einem quaderförmigen Teil –, die einen Hofbereich umschließen. Beide Baukörper wurden zur südöstlichen Seite des Grundstücks hin abgetreppt, so dass Sonnenlicht in die unteren Stockwerke ein-

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fallen konnte. Auf der Nordseite wurde die Fassade mit spitz zulaufenden, unregelmäßigen Erkern versehen, so dass auch hier zu bestimmten Tageszeiten Sonne in die Wohnungen gelangen konnte. Die unterschiedlichen Gebäudefronten wurden durch gestalterische Maßnahmen vereinheitlicht, nach außen durch eine umlaufende Verkleidung aus grüner Keramik, zum Hof hin durch ein vertikales Betonraster. Aus der unterschiedlichen Behandlung der Gebäudefronten ergaben sich verschiedene Architektursprachen: zum Hof hin eine rationale, nach Südwesten eine funktionale, nach Norden eine expressionistische und in bestimmten Teilen des Grundrisses eine organische. Eine derart lockere und polymorphe Architektur wäre zur Zeit des historischen Funktionalismus, der Tessiner Tendenza oder des »postmodernen« Neo-Rationalismus italienischer oder deutscher Prägung als inkonsequent und unsystematisch angesehen worden.

102: Docs de Ris, 99 Wohnungen für Essone Habitat, Ris-Orangis, l’AUC, 2011, Axonometrie.

Courtesy: l A ’ UC, Architectes et Urbanistes, Paris

Das Reale zwischen den Bildern

Beim Wohnbau Les Docks de Ris leiten sich die Entwurfsentscheidungen nicht von einem dominanten System ab, sie gehen von verschiedenen Ansätzen aus. Jeder Ansatz spiegelt sich in einem Teil des Gebäudes. Diese Unterschiede werden jedoch nur eingeschränkt wahrgenommen, weil das Projekt zusätzlich Bilder anbietet, mit deren Hilfe das Gebäude als planmäßige Konstruktion interpretiert werden kann. Im Fall von Les Docks de Ris sind dies ein vertikales Betonraster, das den Eindruck einer rationalen Tradition vermitteln soll, und eine expressionistische Nordfassade, die auf historische Vorbilder verweist. Eine solche Architektur kann realistisch sein, weil sie existierende Bedingungen akzeptiert und auf sie reagiert. Sie ist aber nicht rationalistisch. Als realistisch, aber nicht rationalistisch kann auch die Architektur des Hochhauses Tour Bois le Prêtre (Paris, 2011) bezeichnet werden, ebenso jene der École Nationale Supérieure d’Architecture (Nantes, 2009). Beide Projekte planten Lacaton & Vassal. Anne Lacaton beschrieb die Entwurfsmethodik des Büros als einen Kumulationsprozess: »Uns interessiert es, […] Räume zu organisieren, die sich wie Fragmente nach und nach zusammenfügen und [im Ergebnis; Anm. B.D.] eine Struktur bilden«.20 An andere Stelle führte sie aus, dass die Konstruktion sichtbar, aber nicht dominant sein sollte – »Die Konstruktion […] soll offen und möglichst unauffällig sein, und ohne Mauern auskommen« –, die statisch notwendigen Elemente würden als selbständiges Gerüst geplant, das unabhängig von Raumabschlüssen und Unterteilungen sei.21 Eine Entwurfsstrategie, die wesentlich zum Erfolg des Büros beitrug, war die maximale Ausnutzung von Bebauungsvorschriften. Jean-Phillipe Vassal erläuterte im Interview, dass hierdurch zuvor nicht eingeplante Raumreserven erschlossen würden, die den Bewohner:innen zu Gute kämen.22 Dies setzte jedoch voraus, dass die möglichen Reserven nicht schon im Vorhinein wahrscheinlich waren, vor allem aber, dass die Investor:innen darauf verzichteten, den unerwarteten Mehrwert zu valorisieren. In Arch+ wurden auch Bauten besprochen, die einen rationalistischen Ansatz zeigten, etwa ein Sportzentrum auf dem Campus der Universität Paris-Saclay von Muoto (2016), das Wohnheim Le Polygone von Bourbouze & Graindorge (Rennes, 2017) oder das Studierendenheim Maison Jolie-Victoire Dombrie von Bruther (Paris, 2017). Die rationale Komponente der Entwürfe wurde jedoch in den Interviewbeiträgen relativiert. Die Büroteams bemühten sich geradezu, den individuellen und pragmatischen Charakter ihrer Arbeiten zu betonen. Theoretische Positionen wurden gleichsam zwischen den Zeilen sichtbar. Eine solche formulierte in widersprüchlicher Weise Gilles Delalex von Muoto: »Bei unseren Wohnhausprojekten wurden wir oft kritisiert, dass sie wie Lagerhallen oder Bürogebäude aussehen. Doch gerade diese Verschiebung des Symbolgehalts interessiert uns«.23 Im gleichen Zusammenhang erklärte er, dass »die Beziehung zwischen dem Ding an sich und seiner Bedeutung […] nicht mehr [bestehe]«.24

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Im Verlauf des Interviews relativierte dann Delalex seine Aussage. Er erläuterte, dass durch die Veränderung eines Kontexts ein zuvor »bedeutungsloses« Element, wie die Konstruktionsweise, plötzlich Bedeutung erhalten könnte. Dieser prospektive Sinn ließe sich jedoch nicht beschreiben. Es würde sich hier um das Potential handeln, dass die Konstruktion sich zu etwas entwickeln könnte, das Bedeutung(en) vermitteln würde.25 Damit vertrat Muoto eine Haltung, die sich durch viele Beiträge des Hefts zog: die Idee, dass es eine ambivalent-neutrale Architektur geben könnte, die sich einer eindeutigen Interpretation entziehen würde. Definieren würde sich diese nur ansatzweise rationale Architektur über externe Instanzen. Nach populistischer Tradition hätte sich hier der Erfahrungshorizont der Benutzer:innen als externe Referenz angeboten. So weit ging zumindest Delalex nicht, nach seiner Meinung sollte ein Gebäude »einen Wunsch weck[en]« und die Nutzer:innen involvieren: »Wichtig ist […], dass Architektur dazu anregt, etwas zu tun, und das kommt mit einer gewissen Unsicherheit der Konstruktion«.26 Im Interview bezog sich Delalex hierbei auf das Campusgebäude der Universität Paris-Saclay, ein rational wirkendes Gerüst aus Trägerrosten und Stützen, in das an unterschiedlichen Stellen große Fassadenfragmente eingefügt waren. Eine »Ungewissheit« über die Konstruktion ließ sich hier (möglicherweise) aus der relativen Selbständigkeit und scheinbar zufälligen Anordnung der Verglasungseinheiten ableiten.

103: Campusgebäude, Université Paris-Saclay, Muoto, 2017.

Foto: © Maxime Delvaux, courtesy by Muoto, Paris.

Das Reale zwischen den Bildern

104: Campusgebäude, Université Paris-Saclay, Erdgeschoss.

Courtesy: Muoto ,Paris .

105: Campusgebäude, Université Paris-Saclay, 2. Obergeschoss – Zwischenebene.

Courtesy: Muoto, Paris.

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106: Campusgebäude, Université Paris-Saclay, Längsschnitt.

Courtesy: Muoto, Paris.

Wenn in den Statements und Beiträgen des Hefts die Ebene der Nutzer:innen ins Blickfeld rückte, dann handelte es sich meist um eine phänomenologische Perspektive: Der architektonische Raum erschloss sich ihnen über individuelle Aneignung, durch ihre Handlungen verliehen sie ihm Bedeutung. Nach den Vorstellungen der befragten Architekt:innen sollte ihre Planung diesen Aneignungsprozess unterstützen. Mehrdeutigkeit und Zurücknahme im architektonischen Ausdruck sollten einen »neutralen«, nur schwach definierten Raum ermöglichen, den dann die Nutzer:innen deuten, das heißt ent-neutralisieren würden. Um dies zu erreichen, wurden auch künstlerische Mittel in Kauf genommen, mit deren Hilfe sich die Rationalität eines Konzepts oder die Logik des konstruktiven Aufbaus verschleiern ließen. Hier offenbarte sich ein anti-intellektueller und tendenziell populistischer Charakterzug dieses neuen Realismus: Einerseits maskierte er sich, ließ die Nutzer:innen (fälschlicherweise) glauben, dass er keine rationalen Ambitionen verfolge; andererseits übertrug er ihnen Kompetenzen, die er sich selbst nicht zuzutrauen schien. Den Nutzer:innen wurde in der Theorie eine zentrale, gleichsam konstitutive Funktion zuerkannt, die sie in Wirklichkeit nicht wahrnehmen konnten. Im Gegensatz zu der Auffassung von Muoto beziehungsweise Delalex zielte die Entwurfsstrategie von Bourbouze & Graindorge nicht darauf ab, Bedeutungen zu verschieben. In ihrem Textbeitrag thematisierten sie die identitätsstiftende Funktion des Gewöhnlichen. Sie erläuterten, dass »das Déjà-vu oder […] [die] Wiederholung eines Themas«27 ein Mittel sei, um Neues in bestehende städtische Struktu-

Das Reale zwischen den Bildern

ren zu integrieren. »Das Erkennen des Vertrauten« im Neuen erzeuge eine Ambiguität, die eine veränderte und intensivere Wahrnehmung des baulichen Umfelds auslöse. Ein Gebäude, »das Zweifel über seine Neuheit zu säen verm[öge]«,28 trage zur Definition der baulichen Umgebung bei. Illustriert wurde diese Ambiguität durch ihr Wohnheim Le Polygone (Zac de la Courrouze, Rennes 2017). Auf den ersten Blick konnte dieses Gebäude – eine Betonrahmenstruktur mit eingesetzten Wandelementen – auch für ein Gebäude aus den 1960er Jahren gehalten werden. Allerdings wären die Öffnungen zu dieser Zeit strenger behandelt worden. Beim Wohnheim Le Polygone fügten sich unterschiedliche Fenstergrößen in zwei aufeinander abgestimmte Rastersysteme ein. Die U-förmigen Rahmen traten plastisch gegenüber den Feldern hervor, was ihnen eine gewisse Selbständigkeit verlieh. Auf verschiedene Zeithorizonte verwies die Farbgebung: Rottöne unterschiedlicher Intensität suggerierten einen Alterungsprozess – in Wirklichkeit handelte es sich hier jedoch um Farbtöne, die in der lokalen Umgebung vorkamen und auf die Fassaden in kompositorischer Absicht appliziert worden waren. Auf eine realistische Haltung verwies die Aussage, dass »speziell die Wohnarchitektur, […] [,] eine unreine Kunst, eine Kunst des Unfertigen [sei]«.29 Gemeinsam war Muoto und Bourbouze & Graindorge, dass sie in unterschiedlicher Weise die semiotische Ebene der Architektur relativierten. Muoto versuchte diese auszublenden, Bourbouze & Graindorge betonten das Konventionelle. Eine andere Haltung vertrat Éric Lapierre. In seinem Beitrag30 entwarf er das Bild einer zeichenhaften und individuellen Architektur, die sich vom urbanen Kontext abheben sollte. Dabei übernahm er Ansichten der autonomen Architektur aus den 1970er Jahren und verband diese mit dem Novitätsprinzip der Avantgarde.31 Das Neue sollte durch Verfremdung des Alltäglichen generiert werden, wobei eine effizienzorientierte und ressourcenschonende Entwurfsweise angewendet werden sollte. Bei Lapierre war diese »Ökonomie der Mittel« nicht auf soziale oder ethische Ziele ausgerichtet, er interpretierte sie als formale Technik.

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107: Wohnheim Le Polygone, nahe Rennes; Bourbouze & Graindorge, 2017.

Foto: © Maxime Delvaux, courtesy by Bourbouze & Graindorge, Nantes.

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108: Wohnheim Le Polygone, Hofbereich.

Foto: © Maxime Delvaux, courtesy by Bourbouze & Graindorge, Nantes.

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109: Wohnheim Le Polygone, Grundriss/Lageplan.

Courtesy: Bourbouze & Graindorge, Nantes.

Auf den ersten Blick schien es sich bei Lapierres Modell um eine rationalistische Konstruktion zu handeln, die auf zwei Methoden basierte – einer Ökonomie der Mittel und dem Verfahren der Verfremdung. Lapierre ignorierte jedoch den methodischen Ansatz des Kunstmittels der Verfremdung. An Stelle der Methode setzte er ein surrealistisches Narrativ: das Wunderbare. Dieses deutete er als ein Fremdes, das unvermittelt in einen vertrauten Kontext einbrechen würde. Es entstand so eine merkwürdige Dialektik, in der eine rationale Methode (die Ökonomie der Mittel) und ein irrationales Vorgehen (die Magie des Surrealen) aufeinandertrafen. Eine solche Theorie, die den »Widerspruch und [das] Wunderbare«32 als wichtigste Merkmale des Architektonischen definierte, verwischte die Grenze zwischen Realität und Imagination. Sie hätte sich anders definieren und ihren autonomen, ikonischen und surrealen Charakter darstellen müssen. Bei Lapierre reduzierte sich Rea-

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lität auf phänomenologische Aspekte. Mit seinen Thesen stand er möglicherweise der deutschen Romantik nahe, nicht jedoch der rationalistischen Tradition. Aus einer historisch-wissenschaftlichen Perspektive untersuchte Francoise Fromonot33 die rationalistischen Ansätze des Neuen französischen Realismus. Aus ihrer Sicht reagierten diese auf ökonomische und produktionstechnische Entwicklungen im Bauwesen. Auch meinte sie, dass die französische Strömung ausländische Vorbilder übernommen habe. Zudem sei die aktuelle Entwicklung das Ergebnis einer langen Vorgeschichte: »Seit dreißig Jahren verbreiten eine Handvoll Architekten derselben Generation und ihre Nachfolger an ein paar Schulen die Themen und Ideen einer Bewegung, die heute wieder in den Vordergrund gerückt ist. Kurz gefasst ist diese Richtung die nachträgliche Revanche der einst von Huet verkörperten, von der Hochschule in Marne vollzogenen und von der EPFL katalysierten Entwicklung.«34 Damit verwies Fromonot auf die Zeitspanne zwischen 1990 und 2020. Einen beträchtlichen Einfluss schrieb sie der schweizerischen Architektur zu, deren Rezeption durch die Lehrtätigkeit französischer Architekt:innen35 an der École Polytechnique Féderale de Lausanne (EPFL) begünstigt worden sei. Ihre Analyse der französischen Bauindustrie relativierte auch die These, dass die neuere französische Architektur wieder Bautechnik zelebriere (siehe Editorial). Nach dem Jahr 2000 – so Fromonot – wäre die Ausführungsplanung zunehmend an die Bauausführung gekoppelt und an ausführende Großfirmen übertragen worden. Konzentrationsprozesse und Monopolbildungen hätten zu einer Ent-Qualifizierung des Baugewerbes beigetragen. Der neue architektonische Realismus passe seine Entwurfskonzepte an diese restriktiven, wirtschaftlichen Gegebenheiten an, woraus sich die Gefahr ergebe, dass er eine Entwertung des Architektonischen legitimiere.36 Fromonot sprach von einer »Alchemie«, die versuche »das Blei der Praxis in das Gold einer Theorie zu verwandeln«,37 diese Alchimie würde auf drei Grundlagen basieren: »erstens auf der Akzeptanz des ›Gewöhnlichen‹, verstanden als gemeinsame Kultur, zweitens auf der ›Ökonomie der Mittel‹, die als Ethik betrachtet wird, und drittens auf der Konstruktion, die als Methode angesehen wird.«38 Nach Fromonot ginge diese auf die Praxis referierende Theorie von unlogischen Annahmen aus. Eine Kultur des Alltäglichen, die sich an einer Ästhetik des Kargen und Konstruktiven orientieren würde, gab es laut Fromonot in Frankreich gar nicht,39 die Ökonomie der Mittel würde häufig bloß formal oder wirtschaftlich interpretiert, die Konstruktion wiederum ikonisch gedeutet. Sollte diese Kritik zutreffen, dann hätte der französische Realismus mehr seine rationalen Grundlagen (Ökonomie und Konstruktion) betonen müssen. Dem stand aber entgegen, dass die Büros, die im Heft vertreten waren, gerade dem Nichtrationalen einen besonders hohen Stellenwert einräumten. Es schien sogar, als wäre aus deren Sicht Rationalität prinzipiell verdächtig; als müsse diese relativiert und in ei-

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nem Kontext des Mehrdeutigen aufgehoben werden. Verweise auf Ambivalenz waren im Heft allgegenwärtig. Darüber hinaus beriefen sich die Architekt:innen häufig auf einen abstrakt-poetischen Gehalt. Hier verkehrte sich der Sinn der Poesie, ihre Fähigkeit, einen realen Kontext zu verstärken und zu veredeln, in sein Gegenteil: Das Poetische wurde zu einem Instrument der Verschleierung, es ermöglichte, inhaltliche Fragen im Unklaren zu belassen. Es legitimierte Projekte, die eine kalkulierte Mehrdeutigkeit zur Schau stellten. Der Begriff des Realen wurde allerdings auch von Fromonot selbst unscharf verwendet. In ihrem Artikel gebrauchte sie durchgängig die Begriffe rational, rationalistisch oder Rationalismus, das Wort Realismus kam erst am Ende ihres Artikels vor. Die Rationalität, die Fromonot meinte, war konsistent und eindeutig. Jene der Architekturbüros hingegen diffuser, nur wenige vertraten tatsächlich einen rationalistischen Ansatz. Unter rationalistisch verstehe ich hier, dass das Rationale ein bestimmendes und dominierendes Element sein muss, dass theoretische Annahmen in nachvollziehbarer Weise vollzogen werden, dass das Zufällige – wie auch das vor Ort vorhandene – sich dem Rationalen unterordnet. Zudem soll im architektonischen Ergebnis das Rationale erkennbar und nachvollziehbar sein und die Ambivalenz – so es sie gibt – gering. Bei einer realistischen Architektur hingegen müssen diese Voraussetzungen nicht vorliegen. An dieser Stelle soll kurz auf die Rolle des Ökonomischen im Kontext des Realen eingegangen werden. In den meisten Beiträgen des Arch+-Hefts wurde Realismus mit einer Ökonomie des Mangels gleichgesetzt, eine Auffassung, deren Ursprünge im Naturalismus des 19. Jahrhunderts liegen. Die naturalistische Literatur und Kunst bevorzugte Sujets aus der agrarischen oder industriellen Lebenswelt. Ihre Kritik bezog sich auf ungerechte und prekäre Lebensverhältnisse. In den agrarischen oder proletarischen Milieus des 19. Jahrhunderts waren Ressourcen knapp. In den westeuropäischen Ökonomien der 2010er Jahre lag ein solcher Mangel an Ressourcen jedoch nicht vor. Hier wurde Mangel künstlich erzeugt, durch Vorgabe einer hohen Rendite beispielsweise. In der naturalistischen Tradition war die Ökonomie des Mangels mit einer ethischen Haltung verbunden. Selbstbeschränkung und effizienter Einsatz der Mittel sollten zu einer gerechteren Aufteilung knapper Ressourcen führen. Sie sollten aber auch individuelle Freiheit ermöglichen. Diese ethische Komponente ging später verloren, an Stelle des ethischen Mehrwerts trat ein ökonomischer. Eine Ethik der »Ökonomie der Mittel« müsste sich heute anders definieren. Sie käme nicht umhin, die aktuelle Ökonomie des künstlichen Mangels in Frage zu stellen.

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Die Grenze zum Zufälligen und Sporadischen Im vorhergehenden Kapitel ging es um den Versuch, neue, verbindliche Formen zu finden, die sich am Kollektiven orientieren sollten. Dieses Kapitel thematisiert architektonische Haltungen, die unerwartete, zufällig auftretende Ereignisse aufnehmen und zum Ausgangspunkt einer architektonischen Intervention machen. Es wiederholen sich hier Argumentationen, die für die Aufnahme des Vernakulären in die Sprache der modernen Architektur eintraten, auch Positionen, die eine stärkere Berücksichtigung der Rolle der Nutzer:innen einforderten. Letzteres ließ sich nicht schlüssig begründen. Der Zufall wurde hier als ein Instrument betrachtet, das eine pluralistische Meinungsbildung ermöglichen sollte. Er war ein Synonym für Freiheit, die wiederum für eine persönliche Sicht stand. Vermutet wurde, dass diese sich in einem Projekt als individueller Anteil niederschlagen würde. Eine Architektur, die so aussieht, als sei sie zufällig zustande gekommen, würde somit auf individuellen Entscheidungen einer größeren Zahl von Personen beruhen. Diese Annahme war falsch. Architekturen, bei denen das Zufällige im Planungsprozess eine wesentliche Rolle spielt, verfügen nur selten über eine ideologische Agenda. Das Zufällige lässt sich nicht herbeiführen oder steuern, man kann nur Situationen schaffen, die es begünstigen oder belassen. Ähnlich verhält es sich beim Sporadischen: Hier taucht unvermittelt etwas auf. Man weiß nicht, ob es eine Wirkung entfalten wird. Im Nachhinein – aus zeitlicher Distanz betrachtet – hinterlässt es keine Spur. Das Sporadische ist eine historische Kategorie, weil es – anders als das Zufällige – einem Werturteil unterliegt. Beides – das Zufällige und das Sporadische – sind in der Architektur zumeist negativ besetzte Begriffe. Sie bezeichnen einen Mangel oder ein Unvermögen. Eine Architektur, die sich auf sie beruft, stellt aber auch geltende Maßstäbe in Frage. Im Allgemeinen kann sie dabei keinen alternativen Maßstab anbieten. Das Sporadische kann Intentionen transportieren, in der Architektur hat es eine Berechtigung: Neu auftretende Phänomene werden als prinzipiell architekturwürdig anerkannt, ihre Bewertung wird auf später verschoben. Bewahrheitet sich die Architekturwürdigkeit, dann wird retrospektiv aus einem sporadischen Phänomen ein bedeutsames und später ein historisches. Akzeptiert man das Sporadische, dann lässt man etwas zu, das später möglicherweise eine Bedeutung erlangen wird. Gleichzeitig bewegt man sich in einem Graubereich, in dem architektonisch relevante und nicht relevante Produkte koexistieren. Beim Zufall hingegen spielen Intentionen nur in einem phänomenologischen Sinn eine Rolle. Mit Zufall kann die Begegnung mit einer in ihrer Vielfalt nicht erfassbaren Realität gemeint sein oder auch eine Abfolge willkürlicher (»spielerischer«) Äußerungen, denen eine individuelle Konstruktion zu Grunde liegt. Es ist schwer, eine aufnahmebereite Architektur, die den Zufall als Entwurfsmittel

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zulässt, von einer willkürlich agierenden zu unterscheiden, die an Stelle des Zufalls eine individuelle Gestik setzt. Ein Unterscheidungsmerkmal ist der jeweilige Bezug zur Außenwelt. Eine Architektur, die den Zufall akzeptiert, bezieht ihre Anregungen aus der Sphäre des Realen. Sie bearbeitet etwas, das sie nicht vollständig kontrollieren kann, nimmt »Vorschläge« auf und entwickelt diese weiter. Dabei muss sie ständig Grenzen ziehen zwischen Bereichen, in denen der Zufall eine Projektidee generiert, und anderen, in denen ein rationaler Ansatz dominiert. Im Projekt treffen diese beiden Sphären aufeinander und beeinflussen sich gegenseitig. Eine willkürlich handelnde Architektur hingegen referiert ausschließlich auf eine Innenperspektive. Entscheidungen basieren auf einer individualisierten Logik, das Zufällige bezieht sich hier auf eine momentane, psychische Verfasstheit, die Schwankungen unterliegt. Es ist aber nicht nur schwer zu unterscheiden, ob und in welcher Form das Zufällige in einem Projekt von der Realität beeinflusst wird, es lässt sich auch nur schwer erkennen, ob es sich beim Produkt auch um Architektur handelt. Die Bandbreite ist hier enorm und die visuellen Unterschiede zwischen Architekturen, die sich auf den Zufall berufen, sind erheblich. Ich meine, dass es sich beim überwiegenden Teil dieser Architekturen um beliebige, individuelle Setzungen handelt. Eine ernst zu nehmende Quelle, wenn es um die Funktion des Zufälligen in der Architektur geht, ist Josef Frank. Ausführlich wurden Kriterien einer Architektur des Zufalls auch in einer Nummer der Zeitschrift archithese erörtert. Auf beide Quellen gehe ich in diesem Kapitel ein. Josef Frank schrieb 1958 einen Essay mit dem Titel Akzidentismus.40 Nach deutscher philosophischer Tradition unterschied Frank zwischen zweckfreiem Kunstwerk und zweckdienlichem Bauen. Wie Adolf Loos gelangte er zu dem Schluss, dass Architektur »nur mehr in sehr wenigen Fällen«41 der Kunst zuzurechnen sei. Gute Architektur – so Frank – müsse wie ein Wohnzimmer gestaltet sein: »Das Wohnzimmer […] ist weder schön noch harmonisch noch fotogen. Es ist auf Grund von Zufälligkeiten entstanden, ist nie fertig und kann alles in sich aufnehmen«.42 Frank meinte, dass Gestaltungsweisen, die einem Innenraum einen wohnlichen Charakter verleihen, auch auf Häuser und Stadträume angewendet werden sollten. Wesentliches Merkmal guter Architektur sei Abwechslung, ein anderes sei Anpassungsfähigkeit (bei Frank: »Elastizität«).43 Räume müssten der »Phantasie […] Spielraum lassen«.44 Die Architektur solle nicht ästhetische und moralische Forderungen an die Menschen stellen. Orte, an denen wir uns gerne aufhalten, seien meist über einen längeren Zeitraum hinweg und ohne Planung entstanden, woraus sich ergebe, dass wir »unsere Umgebung so gestalten sollten, als wäre sie durch Zufall entstanden«.45 Nach Franks Auffassung sollte die Architektur dem Individuum größtmögliche Freiheit einräumen. Diese werde durch Formgesetze eingeschränkt, welche die

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puritanische Ideologie der Moderne vorgebe. Merkmale dieser Ideologie seien das Streben nach einem Universalstil, Monumentalität, eine »Gleichschaltung von Industrie und Kunst«,46 aber auch die nicht mehr zeitgemäße Forderung, dass ein Bauwerk seinen statischen Aufbau symbolisieren müsse. An Stelle der früheren Einheit der drei bildenden Künste – Malerei, Bildhauerei und Architektur – sei die Autonomie eigengesetzlicher Disziplinen getreten. Die Bildhauerei habe ihre künstlerische Funktion im Baugeschehen verloren, die Architektur hingegen sei zur Kunst des plastischen Gestaltens geworden. Ihr wichtigstes gestalterisches Verfahren sei die Gruppierung der Bauteile.47 Frank definierte Stil als eine »Zusammenfassung der sichtbaren Symbole eines Zeitalters«.48 In diesem Sinn war die moderne Architektur ein Stil. Neue Materialien, neue Techniken und das moderne, wissenschaftliche Denken brachten neue ästhetische Wirkungen hervor. Zweckmäßigkeit und Funktionalität hingegen konnten gemäß Frank nicht als Symbole des modernen Stils angesehen werden. Ein zweckmäßiges Gebäude könne auch in einer historischen Formensprache errichtet werden. Frank zufolge repräsentierte der moderne Stil auch nicht eine bestimmte Gesellschaftsform.49 Möglich wurde diese Argumentation, weil Frank das Zweckmäßige vom Ökonomischen löste. Für das Neue Bauen der 1920er Jahre hatte Funktionalität für Effizienz und Sparsamkeit gestanden. Bei Frank wurde die Architektur zu einer Disziplin, die ästhetische Effekte mit Mitteln des plastischen Gestaltens erzeugte. Das Neue Bauen hatte zu viele Forderungen an die Menschen gestellt, Frank stellte keine. Die außerordentlich schönen Aquarelle und die organischen, vielgliedrigen Baukörper, die er in den 1950er Jahren anfertigte, appellierten an die Sentimentalität und die Gefühlswelt seiner Klientel. Dabei schlug er gestalterische Lösungen vor, die so aussahen, als würden sie ihren Bewohner:innen keinen Zwang auferlegen. Für Frank symbolisierten sie Freiheit. Systematischer als Josef Frank untersuchte archithese im November 2010 die Einbeziehung des Zufalls in Entwurfsprozesse. Unter anderem wurden dekonstruktivistische Ansätze von Frank Gehry und Peter Eisenman50 beschrieben. Diese wurden in einen Zusammenhang mit Projekten von Sou Fujimoto und Herzog & de Meuron gebracht, die – nach meiner Meinung – auf einem anderen Konzept basierten.51 Ich will hier auf Überlegungen eingehen, die Christian Gänshirt und Christoph Allenspach in ihren Beiträgen äußern. Gänshirt52 unterschied zwischen einem klassischen und einem romantischen Entwurfsansatz in der Architektur. Er bevorzugte eindeutig den letzteren, der, so Gänshirt, über den Zufall eine Verbindung zum Realen herstelle: »Der [romantische; Anm. B.D.] Ansatz macht sich den Zufall als ein in definierten Grenzen zugelassenes Gestaltungsprinzip zu eigen. […] [B]estimmte Aspekte einer Form [werden] von zufällig gegebenen […] Daten generiert […]. Der Zufall wird

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hier zum Synonym für das Gegebene, das Konkrete des jeweiligen Einzelfalls, für die Bereitschaft, sich einzulassen auf die Welt«.53 Beide Ansätze – sowohl der klassische wie auch der romantische – hätten zum Ziel, »willkürliche Entwurfsentscheidungen eines individuellen Autors zu vermeiden«, wobei der romantische »offene Ordnungen, Varianz, Anpassung und Überraschung« als Mittel des Entwurfs verwende und auf »das Besondere, […] Spezifische, Differenzierte«54 setze. Nach Gänshirt brachten auch die Nationalgalerie von Mies van der Rohe und Häuser von Charles und Ray Eames eine romantische Einstellung zum Ausdruck.55 Allenspach hingegen bewertete Entwurfsweisen, die sich des Zufalls bedienen, als individuelle Äußerungen: »Subjektive Erfahrungen […] [stützen] sich für die Findung von Formen, Räumen und Oberflächen auf Situationen […]. Die subjektive Wahrnehmung und Entdeckung von sinnlichen Qualitäten ist in den Vordergrund gerückt«.56 Der Zufall bietet demnach dem Individuum die Möglichkeit, sich der Welt zu versichern, insofern schafft er eine Brücke zum Realen. Allerdings erschließt sich dieses dem Individuum aus einer phänomenologischen Innenperspektive. Die Realität ist nur von Belang, wenn sie auf Grund einer Intentionalität erkannt werden kann.57 Unter Berufung auf Kurt W. Forster meinte Allenspach, dass Ergebnisse aus Entwurfsverfahren, die den Zufall nutzen, nicht wirklich zufällig seien, weil im Rahmen des »subjektiven Erfahrens und Erkennens […] anwesende Dinge wahrgenommen oder auch übersehen werden, falls sie im Moment nicht interessieren«.58 Vergleicht man beide Konzepte, dann erlaubt jenes von Gänshirt eine weniger personalisierte Sicht. Der Zufall hat hier einen spielerischen, aber auch artifiziellen Charakter. Es bleibt nicht allein der Intentionalität der Wahrnehmung überlassen, welches Segment der Realität ausgewählt wird, um eine »zufällige« Anordnung zu generieren. Beinahe möchte man glauben, dass bei Gänshirts Konzept eine Rationalität im Willkürlichen durchscheint. Aus meiner Sicht sollte der Zufall ein Mittel sein, um das Subjektive zu relativieren. Den Zufall zu akzeptieren hieße, eine Realität zu akzeptieren, die sich in unvorhersehbaren Entwicklungen äußert. Im Entwurfsvorgang trifft diese dann auf ein Konzept und führt zu dessen Modifizierung. Der Entwurf »ent-konzeptionalisiert« sich, das Persönliche verblasst. Eine Entwurfsweise, die mit dem Zufall arbeitet, müsste Optionen andeuten, die nicht gewählt wurden. Die gewählte Variante ist hier nicht die beste oder die logischste Lösung eines Entwurfsproblems, sie ist eine von mehreren Möglichkeiten und prinzipiell revidierbar. Die große Freiheit, die der Zufall zu bieten scheint, ist keine individuelle. Im Gegenteil: Damit das Reale im Zufall erkannt werden kann, muss sich sowohl die entwerfende Person wie auch das rezipierende Publikum entäußern. Entwerfen mit dem Zufall erfordert Selbstbeschränkung – zu oft ist es bloße Selbstbeschau.

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Wichtige Tendenzen oder singuläre Erscheinungen, wie beispielsweise die Architektur des sozialistischen Realismus, werden nicht berücksichtigt. Der Terminus »Familie von Begriffen« wurde von Gabi Kaiser anlässlich einer Präsentation des Buchprojekts in der Österreichischen Gesellschaft für Architektur verwendet. Vgl. Nochlin, Linda: The Politics of Vision. Essays on Nineteenth-Century Art and Society, New York 1989, darin insbesondere das Kapitel The Invention of the Avant-Garde, S. 1–18. Vgl. Zola, Emile : Le roman experimental, Paris 1880. Herkunft und Übertragung des Begriffs auf die Architektur werden in einem Kapitel des Buchs erörtert. Vgl. Ferraris, Maurizio: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014 [Rom 2012], darin insbesondere das Kapitel Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit, S. 15–32. Das war eine frühe Abkehr von der Gleichsetzung von Wahrheit und Schönheit. Bei Hans Schmidt war es umgekehrt, nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion baute er traditionelle Häuser, in den 1920er Jahren hatte er in Partnerschaft mit Paul Artaria moderne gebaut. Ein interessanter Fall ist hier das Sugden-Haus von Allison und Peter Smithson,. Das Haus musste auf Verlangen des Bauherrn traditioneller als geplant gestaltet werden. Siehe u.a.: Benedikt, Michael: For an Architecture of Reality, New York 1987; Rowe, Peter G.: Civic Realism, Cambridge/Mass., London 1997.

Realitätskonzepte 1

Lukács, Georg: Es geht um den Realismus, in: Ders.: Ästhetik, Marxismus, Ontologie, hg. u. mit einer Einleitung v. Rüdiger Dannemann u. Axel Honneth,

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Die Architektur des Realen

Berlin 2021, S. 349–382, hier S. 354; Erstpublikation in: Das Wort 6 (1938), S. 112–138. Der Artikel kritisiert ausführlich das expressionistische Realismuskonzept von Ernst Bloch. 2 Ebd., S. 354. 3 Ebd., S. 355. 4 Ebd., S. 361. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Mitterand, Henry: L’illusion réaliste. De Balzac á Aragon, Paris 1994, S. 4. Alle Übesetzungen aus dem Französischen von B.D. 9 Ebd., S. 5. 10 Ebd., S. 8. 11 Ebd., S. 3. 12 Ebd. 13 Guy de Montpassant, zit. nach ebd., S. 6 : »Fair vrai consiste à donner l’illusion complète du vrai suivant la logique ordinaire des faits, et non à les transcrire servilement dans le pele-mèle de leur succession«. 14 Vgl. Jakobson, Roman : Du réalisme artistique, in : Todorov, Tzvetan (Hg.) : Théorie de la littérature. Textes des formalistes russes réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov. Mit einem Vorwort v. Roman Jacobson, Paris 1965, S. 98–108. 15 Vgl. ebd., S. 108. 16 Ebd.Alle Übersetzungen B.D. 17 Ebd., S. 99. 18 Ebd., S. 99f. 19 Ebd., S. 100. 20 Ebd., S. 106. 21 Mitterand: L’illusion réaliste, S. 5.

Die neue Wirklichkeit der Technik 1 2

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Vgl. Le Corbusier: 1922 – Ausblick auf eine Architektur, Berlin/Boston 2017, S. 201–215; Originalausgabe: Le Corbusier: Vers une architecture, Paris 1923. Ebd., S. 202, und weiter: »Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört. [..] Die verschiedenen arbeitenden Klassen haben heute keine angemessene Ruhestätte mehr.« Ebd., S.206f. Ebd., S. 207f. Ebd., S. 208.

Anmerkungen

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Vgl. ebd., S. 205f. Ebd., und weiter: »[D]er Arbeiter ist angeblich kultiviert genug, um aus so vielen Stunden Freizeit einen gesunden Gewinn zu ziehen. Aber nein, […] sein Zuhause ist scheußlich, und der Geist hat nicht die Vorbildung, um mit so vielen Stunden fertig zu werden.« 8 Ebd., S. 205. 9 Ebd., S. 209. 10 Ebd., S. 209. 11 Vgl. ebd., S. 212, genauer heißt es: »Das große Unternehmen ist heute ein gesunder und moralischer Organismus«. 12 Ebd., S. 215, und weiter: »[D]ie Umwertung aller Werte hat stattgefunden; der Begriff ›Architektur‹ hat seine Revolution hinter sich«. 13 Ebd. 14 Finsterlin, Hermann: Casa Nova, in: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 1981 [Berlin 1964], S. 78–81, hier S. 80. 15 Le Corbusier: 1922 – Ausblick auf eine Architektur, S. 207. 16 Vgl. Forty, Adrian: Words and Buildings, London 2019 [2000], S. 105. 17 Ebd., S. 105. 18 Vgl. ebd., S. 106. 19 Vgl. Meyer, Hannes: bauhaus 2, H. 4 (1928), S. 12f.: »alle kunst ist komposition und mithin zweckwidrig. alles leben ist funktion und daher ›unkünstlerisch‹. […]. bauen ist ein biologischer vorgang. bauen ist kein ästhetischer prozess.« 20 Zum Phänomen des Populismus in der modernen Architektur siehe Tzonis, Alexander/Lefaivre, Liane: The Populist Movement in Architecture, in: dies. (Hg.): Times of Creative Destruction. Shaping Buildings and Cities in the late C20TH, London/New York 2017, S. 76–92. 21 Vgl. ebd., S. 82f., insbesondere die beiden Passagen zu John Turner und Herbert Gans. 22 Sie ermöglichte dieser, gebotene theoretische Klarstellungen zu vermeiden und – in oft diffuser Weise – mit simplen, populären Begriffen zu argumentieren. 23 Vgl. Forty: Words and Buildings, S. 109f. 24 Die Siedlungen, Krankenhäuser und Schulen des Neuen Bauens wurden überwiegend von meist sozialdemokratisch regierten kommunalen Institutionen errichtet, Siedlungen in wenigen Fällen auch von Kooperativen. 25 Hitchcock, Henry-Russel/Johnson, Philip: Der internationale Stil 1932, Braunschweig 1985; Originalausgabe: The International Style: Architecture Since 1922, New York 1932. 26 Hitchcock/Johnson: Der internationale Stil, S. 39. 27 Ebd., S. 38.

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Ebd., S. 36. Behne, Adolf: Der moderne Zweckbau, Frankfurt a.M./Berlin 1964 [München 1926]. Ebd., S. 59. Schmidt, Hans: Prinzipien meiner Arbeit, in: ders.: Beiträge zur Architektur 1924–1964, zusammengest. u. eingel. v. Bruno Flierl, Zürich 1993 [Basel 1965], S. 101f. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd. Vgl. Suter, Ursula: Hans Schmidt 1893–1972. Architekt in Basel, Moskau, BerlinOst, Zürich 1993, S. 170–174, vor allem S. 172. Ebd., S. 208. Schmidt, Hans: Die Aufgaben der sowjetischen Architektur und die Mitarbeit der ausländischen Spezialisten, in: ders.: Beiträge zur Architektur, S. 88f. Siebert, Kathrin: Auf der Suche nach Klarheit. Zum Realismus im Werk des Schweizer Architekten Hans Schmidt, in: bfo-Journal 2 (2016), S. 28–45, hier S. 37. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 44. Siehe hierzu: Schmidt, Hans: Das Bauen ist nicht Architektur, in: Das Werk: Architektur und Kunst/L’oeuvre: architecture et art 14, H. 5 (1927), S. 139–153, hier S. 143f. u. 148–153. Schmidt, Hans: Was ist richtig?, in: ders.: Beiträge zur Architektur, S. 90f. Schmidt, Hans: Wer für wen?, in: ders.: Beiträge zur Architektur, S. 82f. Vgl. Barr, Alfred H., et al. (Hg.): Modern Architecture. International Exhibition [Katolog zur Ausstellung im Museum of Modern Art, New York, 10.02.23.03.1932], New York 1932. Vgl. Hitchcock/Johnson: Der internationale Stil, S. 127. Ebd. Barr et al.: Modern Architecture, S. 193: »Although the parts of the Siedlung are arranged according to the provision for function, the final synthesis is architectural. […] The school and nursery are placed conveniently near the center. It is in the planning, ordering and proportioning of these functional elements that the possibility of choice exists. The achievement of the modern housing architect as an artist rather than as a mere builder may be measured by the quality of such individual choices within a comparatively limited range of possibilities.« Meyer, Hannes: Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Bernau bei Berlin, 1928–30, in: Schnaidt, Claude (Hg.): Hannes Meyer Bauten, Projekte und Schriften, Teufen 1965, S. 48. Es handelt sich um eine Pro-

Anmerkungen

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jektbeschreibung von Hannes Meyer. Ein einleitender Teil des Textes stammt mutmaßlich vom Herausgeber. Meyer, Hannes: bauen, in: bauhaus 2, H. 4 (1928), S. 12f., hier S. 12. Ebd., S. 13: »[die flammige kiefer, die straffe pappel, das fremde ökumée, de[r| seidige ahorn«. Ebd. Ebd., S. 12. Ford, Edward R.: Das Detail in der Architektur der Moderne: zur Logik der Konstruktion bei Edwin Lutyens, Frank Lloyd Wright, Otto Wagner, Adolf Loos, LeCorbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Rudolf Schindler, Walter Gropius, Marcel Breuer, Basel 1994 [Cambridge 1990]. Meyer, Hannes: Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus, 1930, in: Schnaidt, Claude (Hg.): Hannes Meyer. Bauten, Projekte und Schriften, S. 100.

Pragmatismus und Normalität 1 2

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Flagge, Ingeborg: Über die Einfachheit, in: dies. (Hg.): Schürmann. Entwürfe und Bauten, Tübingen/Berlin 1997, S. 102–105, hier S. 102. Der Begriff anonymes Bauen bezeichnet hier eine Bautätigkeit, die einfache Techniken und ortsübliche, kostengünstige Materialien verwendet. Sie wird von namentlich nicht bekannten Personen durchgeführt, die über ein traditionelles, weitverbreitetes Wissen verfügen. Es werden wenige Materialien und traditionelle Arbeitsverfahren verwendet. Neue Materialien, teilvorgefertigte Bauelemente und eine Spezifizierung der technischen Verfahren führten zum Verschwinden dieser Bauweise. In den 1950er Jahren bezog sich der Begriff vor allem auf Gebäude, die vor der Zeit der Industrialisierung errichtet worden waren. Vgl. Frigge, Silke E.: Kath. Pfarrkirche St. Stephan Köln-Lindenthal, Regensburg 2000, S. 5–7. Vgl. j.s.a – Joachim Schürmann Architekten: Werkblick, St. Stephan Köln 1958. [Website, Text zu Projekt St. Stephan], abgerufen am 01.10.2022, http://www. j-schuermannarchitekten.de. Das erfuhr ich aus einem Gespräch mit Daniel Lion (Küster der Pfarrkirche) am 14.12.2021. Die robuste und einfache Mechanik der Fensterantriebe wurde von Daniel Lion instandgesetzt. Diesen Hinweis verdanke ich ebenfalls Daniel Lion aus oben genanntem Gespräch. Vgl. Sack, Manfred: Schürmann Architekten, in: Flagge (Hg.): Schürmann, S. 202–213, hier S. 204.

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Vgl. Hülsmann, Gisberth: Emil Steffann 1899–1968, in: Werk, Bauen + Wohnen 68, H. 10 (1981), S. 16. 10 Fußbroich, Helmut: Architekturführer Köln. Sakralbauten nach 1900, Köln 2005, S. 182. 11 Vgl. Poensgen, Jochem: Essen-Rüttenscheid, St. Andreas [Website von Jochem Poensgen, Abbildungen zu St. Andreas], o.D., https://www.jochempoensgen .de/essen-ruettenscheid-st-andreas/, abgerufen am 01.10.2022. Die Planung begann 1993, die bauliche Umsetzung wurde 2000 abgeschlossen. 12 Vgl. Widder, Lynette: »Ist damit räumliches Bauen zu Ende«: Hans Schwippert, Sep Ruf and the Culture of Building in German Modern Architecture 1949–59, Doktorarbeit, ETH Zürich 2016, online unter https://www.research-collection .ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/129528/eth-50678-02.pdf, abgerufen am 01.10.2022, S. 138–147. 13 Siehe hierzu Massey, Anne: The Independent Group. Modernism and Mass Culture in Britain 1945–59, Manchester/New York 2008 [1995], Kapitel 6, 7 und 9. 14 Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen. Strukturalismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, Berlin 2019. 15 Vgl. Banham, Reyner: The New Brutalism, in: The Architectural Review 118 (Dezember 1955), S. 354–361. 16 Vgl. Sabatino, Michelangelo: Pride in Modesty. Modern Architecture and the Vernacular Tradition in Italy, Toronto u.a. 2010, S. 11. 17 Vgl. Tafuri, Manfredo: Storia dell’architettura italiana 1944–1985, Turin 2002 [1986], Kapitel 1: Gli anni della ricostruzione, S. 6–46. Tafuri beschreibt die unterschiedlichen Zugänge verschiedener Gruppierungen und Einzelpersonen anhand von Mailand, Turin, Genua, Florenz und Venedig. Nach Tafuri referierten die norditalienischen Gruppen und Personen – insbesondere jene aus Mailand – mehrheitlich auf die technisch-industrielle Tradition der Moderne. Tafuri verweis aber auch auf »lyrische« Interpretationen, beispielsweise auf ein Gebäude von Luigi Moretti, ebd., S. 37). 18 Vgl. Pontrandolfi, Raffaele: Urban-Rural: »Tiburtino« district in Rome and rural village »La Martella« in Materia as emblematic Cases of settlements during the Italian reconstruction, in: The International Archives of the Photogrammetry, Remote Sensing and Spatial Information Sciences, Bd. XLIV-M-1-2020, S. 789–796; online unter https://doi.org/10.5194/isprs-archives-XLIV-M-1-2020789-2020, abgerufen am 01.10.2022. »Milanese architects such as Franco Albini, Pietro Bottoni, Ignazio Gardella, E. N. Rogers, Giò Ponti […] aimed at solving the housing problem through a technological […] approach, in particular through […] prefabrication and standardization«. Ebd., S. 789. 19 Vgl. Rowe, Peter G.: Civic Realism, Cambridge Mass./London 1997. 20 Ebd., S. 161. 21 Ebd., S. 108.

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Ebd., S. 111. Vgl. Sabatino: Pride in Modesty, S. 109f. u. 119f. Vgl. unter anderem den Justus-van-Effen-Komplex in Spangen von Michiel Brinkman (1919–1921) oder den Plan Voisin von Le Corbusier (1925). Zum Komplex in Spangen: Grinberg, Donald. I.: Housing in the Netherlands 1900–1940, Delft 1982, S. 74–79. Vgl. Pontrandolfi: Urban-Rural, S. 791. Vgl. ebd., S. 792. Pontrandolfi führte (unter Berufung auf Portoghehsi und Reichlin) den aufgeständerten Weg Ridolfis auf Treppenanlagen zurück, wie es sie beispielsweise in Todi gab. Rudolfis Steg habe eine traditionelle Haustypologie mit außenliegender Treppe als Terrassengebäude mit Balkonen »reinterpretiert«. Als Beispiel hierfür kann das große Interesse von Kunst- und Architekturschaffenden am »Primitiven« im frühen 20. Jahrhundert angeführt werden, ebenso die zentrale Rolle der Anthropologie in der Architekturtheorie der späten 1960er Jahre. Loos, Adolf: Architektur, in: ders.: Trotzdem, 1900–1930, hg. v. Adolf Opel, unveränd. Neudr. d. Erstausg., Wien 1982 [Innsbruck 1931], S. 90–104, hier S. 93. Vgl. ebd., S. 213. Yanagi, Soetsu: The Beauty of Everyday Things, London 2019. Ebd., S. 279, Übersetzung B.D. Ebd., S. 281f.

Paradoxe Realismen 1 2 3

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Vgl. archithese 6, H. 19: Realismus in der Architektur (1976). Jencks, Charles: The Language of Post-Modern Architecture, London 1977. Tzonis, Alexander/Lefaivre, Liliane: Im Namen des Volkes. Die Entwicklung der heutigen populistischen Bewegung in der Architektur. Bauwelt 1/2 1975, S. 10–17. Englischsprachige Version in: The Populist Movement in Architecture, in: dies. (Hg.): Times of Creative Destruction. Shaping Buildings and Cities in the late C20TH, London/New York 2017, S. 76–92. Colquhoun, Alan: Regeln, Realismus und Geschichte, in: archithese 6, H. 19 (1976), S. 12–17, hier S. 12. Ebd. S. 13. Im Original : Tomachevski, Boris : Thématique, in : Todorov, Tzvetan (Hg.) : Théorie de la littérature. Textes des formalistes russes réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov. Préface de Roman Jacobson, Paris 1965, S. 263–307, hier S. 287. Colquhoun: Regeln, Realismus und Geschichte, S. 13. Im Original : Tomachevski : Thématique, S. 287. »Ce phénomène s’explique toujours par l’op-

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Die Architektur des Realen

position de la nouvelle école á l’ancienne, c’est á dire par la substitution des conventions anciennes, perceptibles comme telles par d’autres qui ne pas encore perceptible comme canons littéraires.« 7 Colquhoun: Regeln, Realismus und Geschichte, S. 14. 8 Vgl. Tomachevski : Thématique, S. 286f. »Quand une école poétique fait place à une autre, la nouvelle détruit la tradition et conserve […] la motivation réaliste d’introduction de motifs.« Ebd., S. 286. »Donc, la motivation réaliste a comme source soit la confiance naïve, soit l’exigence d’illusion.« Ebd., S. 287. Sofern nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. 9 James, William: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, Hamburg 1994, S. 104, zit. nach: Rolf, Thomas: Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München 1999, S. 79. 10 Rolf: Normalität, S. 80f. 11 Colquhoun: Regeln, Realismus und Geschichte, S. 13. 12 Rossi, Aldo: Realismus als Erziehung, in: archihese 6, H. 19, S. 27f., hier S. 28. 13 Ebd., S. 27f. 14 Forty, Adrian: Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture, London 2000, S. 217. 15 Vgl. ebd., S. 217f. 16 Schnell, Angelika: Typologische Probleme (Nachwort zur dt. Übersetzung von L’architettura della città), in: Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Basel 2015, S. 175–182, hier S. 181. 17 Vgl. ebd., S. 179f. 18 Rossi: Realismus als Erziehung, S. 28. 19 Reichlin, Bruno/Steinmann, Martin: Zum Problem der innerarchitektonischen Wirklichkeit, in: archithese 6, H. 19, S. 3–10, hier S. 8. 20 Ebd., S. 5f. 21 Fumagalli, Paolo: Sparsamkeit im Typologischen. Reihenhäuser in Mozzo, Pegognaga und Goito, Italien, in: Werk, Bauen + Wohnen 70, H. 10 (1983), S. 34–41, hier S. 34; online unter https://dx.doi.org/10.5169/seals-53459, abgerufen am 01.10.2022. 22 Ebd., S. 34f. 23 Ebd., S. 36. 24 Reichlin/Steinmann: Zum Problem der innerarchitektonischen Wirklichkeit, S. 9. 25 Ebd., S. 10. 26 Vgl. Moos, Stanislaus von: Zweierlei Realismus, in: Werk – archithese 64, H. 7–8 (1977), S. 58–62; online unter https://dx.doi.org/10.5169/seals-49448, abgerufen am 01.10.2022. 27 Stanislaus von Moos wählte die Bezeichnung »die Venturis« (ebd., S. 61). Er verwendete den Singular (Venturi), wenn es um Projekte oder Publikationen ging,

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die vor 1967 entstanden. Denise Scott Brown wurde 1969 Partnerin des Büros Venturi und Rauch. John Rauch zog sich 1987 aus der Bürogemeinschaft zurück. Ebd., S. 60. Ebd. Im Original in Anführungszeichen. John Rauch wurde nicht mitgenannt, wenn es um die theoretische Ausrichtung des Büros ging. Venturi bezeichnete ihn 1986 als »einen der besten Design-Kritiker, die ich kenne«, zit. nach: Miles, Gary: John K. Rauch, celebrated architect and cofounder of Venturi&Rauch, has died at 91, in: The Philadelphia Inquirer, 23.8.2022; online unter https://w ww.inquirer.com/obituaries/john-rauch-obituary-architect-philadelphia-20 220823.html abgerufen am 01.10.2022. Moos: Zweierlei Realismus, S. 61. Ebd., S. 62. Venturi, Robert/Scott Brown, Denise/Izenour, Steven: Learning from Las Vegas, Cambridge/London, 2. überarb. Ausgabe 1977 [1972]. Venturi, Robert: Complexity and Contradiction in Architecture, New York 1966. Moos: Zweierlei Realismus, S. 58. Venturi, Robert: Complexity and Contradiction, S. 26–28. Ebd., S. 7, an dieser Stelle und bei den folgenden Zitierungen wird auf die Kapitelüberschriften im Buch Bezug genommen. Ebd., S. 16–19, hier S. 16. Sofern nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. Ebd., S. 18. Tzonis/Lefaivre: The Populist Movement in architecture, S. 87: »[W]hile for the Welfare state the aim was to identify a common […] measure for all individuals in an ideally homogeneous society, for the populists the task became to create new models which represented individual differences, expressed subjective values and reflected the diversity of a truly democratic society«. Ebd., S. 92. Ebd., S. 79: »Unfortunately, their search was limited by their desire to find a new ›scale‹ […], a new norm able to contain the emerging anomalies«. Der englische Ausdruck contain meint hier mehr als »einfassen und egalisieren«, er enthält ein Moment des Aufhaltens oder Eindämmens. Banham, Reyner: The Missing Motel, in: The Listener, 15.08.1956, zit. nach: Tzonis/Liliane: The Populist Movement, S. 78. Ebd., S. 80. Es ist hier der im Englischen und Französischen vorhandene Wortsinn gemeint, der historische »anonyme« Architektur bezeichnet, die nicht von Künstler:innen oder Architekt:innen geplant wurde. Als anonyme Autor:innen gelten hierbei sowohl handwerklich geschulte wie auch ungeschulte Personen.

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Wir übernehmen hier ein gebräuchliches Narrativ, das Venturi selbst als nicht zutreffend bezeichnete, siehe Ciampaglia, Dante A.: It’s Robert Venturi’s World – We’re Just Living in It, in: Metropolis, 20.09.2018, https://metropolismag.co m/profiles/robert-venturi-obituary/, abgerufen am 01.10.2022. Main street ist ein zentraler Begriff aus dem Buch: Venturi et al.: Learning from Las Vegas.

Gegen die Bilderflut 1 2

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Vgl. Benedikt, Michael: For an Architecture of Reality, New York 1987. Vgl. Frampton, Kenneth: Towards a Critical Regionalism: Six Points for an Architecture of Resistance, in: Foster, Hal (Hg.): The Anti-Aesthetic: Essays on Postmodern Culture, Washington 1983, S. 16–30. Vgl. Lampugnani, Vittorio: Die Neue Einfachheit. Mutmaßungen über die Architektur der Jahrtausendwende, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Band 112, Heft 38, 1994, S. 742–744. Erstpublikation in: Architektur-Jahrbuch 12 (1994). Vgl. Tzonis, Alexander/Lefaivre, Liane: The Populist Movement in Architecture, in: dies. (Hg.): Times of Creative Destruction, New York 2018, S. 76–92. Der Artikel erschien zuerst auf Deutsch (in: Bauwelt 1/2 [1976]) und auf Holländisch/ Englisch (in: Forum 3 [1976]), später dann in einer englischen Version in: Papers by the Faculty of the Department of Architecture, Harvard University 1978. Vgl. Venturi, Robert: Complexity and Contradiction, New York 1966. Siehe u.a. Kapitel 6: Accomodation and the Limitations of Order. The Conventional Element. Benedikt, Michael: For an Architecture of Reality, New York 1987, S. ix: »This short book […] was written between 1979 and 1984, a period during which historicism and eclecticism, oneiric fictions, nostalgia, irony, and a ›scenographic attitude‹ towards buildings […] spread through architectural education and practice. Over the same period […] in the visual arts, music, drama, dance and even literature (where […] postmodernism began), there were signs that the amoral delights if irony, pseudo-history, allusion, pyrotechnic self-reference, and fabulism were wearing thin.« Ebd., S. ix. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 38. Ebd., S. 38, Definition des Begriffs bis S. 42. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 44–48, insbesondere S. 46 u. 48. Ebd., S. 48.

Anmerkungen

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Ebd. Ebd., S. 50–56. Ebd., S. 50. Ebd., alle Zitate S. 52. Ebd., S. 56. Zu nennen sind hierfür u.a. Frank Lloyd Wright, Bruno Taut, Alison und Peter Smithson. 20 Taut, Bruno: Das japanische Haus und sein Leben, Berlin 2017 [1999]; Originalausgabe: Houses and People of Japan, Tokio 1937. 21 Bruno: Das japanische Haus, S. 70. 22 Ebd., S. 70f. 23 Vgl. Benedikt: For an Architecture of Reality, S. 54 u. 56. 24 Ebd., S. 28f. 25 Vgl. u. a. Loos, Adolf: Die Baumaterialien, in: ders.: Ins Leere gesprochen, 1897–1900, hg. v. Adolf Opel, unveränd. Neudr. d. Erstausg., Wien 1981 [Paris u.a.1921], S. 133–138, und ders.: Das Prinzip der Bekleidung, in: ebd., S. 139–145. Beide Beiträge waren zuvor in der Zeitung Neue Freie Presse erschienen: »Die Baumaterialien« am 28.08.1998; »Das Prinzip der Bekleidung« am 04.09.1898. 26 De Mezières, Le Camus : Le génie de l’architecture, ou l’analogie de cet art avec nos sensations, Paris 1780, S. 104. 27 Ebd., S. 80. 28 Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, Oxford 2015 [London 21759]. 29 Ebd., S. 63. 30 Ebd., S. 64. 31 Ebd.: »In works of art, this kind of grandeur, which consists in multitude, is to be very cautiously admitted; because, a profusion of excellent things is not to be attained […] [;] and, because in many cases this splendid confusion would destroy all use […] [;] besides it is to be considered, that unless you can produce an appearance of infinity by your disorder, you will have disorder only without magnificence. There are, however, a sort of fireworks, and some other things, that in this way succeed well, and are truly grand. There are also many descriptions in the poets and orators who owe their sublimity to a richness and profusion of images, in which the mind is so dazzled as to make it impossible to attend to that exact coherence and agreement of the allusions, which we should require on every other occasion«. 32 Benedikt, Michael: For an Architecture of Reality, New York 1987, S. 56: »At the Salk, the pearlescent plaza with its central water course […] draws together the sea just beyond the hills and the sky overhead. We lift our eyes, and our spirit is made to lie down. […] How different is this emptiness […] from the silence that

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pervades so much of the work of the Neo-Rationalists. Theirs is the silence of a graveyard«. Benedikt, Michael: Cyberspace. First Steps, Cambridge/Mass, London 1991. Benedikt, Michael: books [Website von Michael Benedikt], o.D., http://www.m benedikt.com/b-o-o-k-s.html abgerufen am 01.10.2022. Frampton: Towards a Critical Regionalism. Vgl. Tzonis, Alexander/Lefaivre, Liane: The Grid and the Pathway, in: dies. (Hg.): Times of Creative Destruction, S. 123–128; Originalfassung in: Architecture in Greece 15 (1981). Frampton, Kenneth: Labour, Work and Architecture. Collected Essays on Architecture and Design, London 2002, S. 8. Ebd., S. 9: »[F]or Siza, the quasi-ergonomic inflection of the micro-space in a […] architectonic sequence is just as important as the overall plastic arrangement of the space and form.« Siehe u.a.: Giamarelos, Stylianos: Resisting Postmodern Architecture. Critical Regionalism before Globalization, London 2022. Frampton: Towards a Critical Regionalism, S. 17: »Modern building is now so universally conditioned by […] technology that the possibility of creating significant urban has become extremely limited. The restrictions jointly imposed by automotive distribution and the volatile play of land speculation serve to limit the scope of urban design […] [,] any intervention tends to be reduced either to the manipulation of elements predetermined by the imperatives of production, or a kind of superficial masking which modern development requires for […] marketing and the maintenance of social control«. Vgl. Leach, Andrew/Sully, Nicol: Frampton’s Forewords, etc. An Introduction, in: oase 103: Critical Regionalism Revisited (2019), S. 105–111. Frampton, Kenneth: Modern Architecture. A Critical History, London 42007 [1980], S. 327. Ebd. Siehe hierzu: Giamarelos, Stylianos: Athenian Resistance, in: ders.: Resisting Postmodern Architecture, S. 278–301. Tzonis/Lefaivre: The Grid and the Pathway, S. 126: »Historical regionalism […] had emerged out of interests to develop an urban elite set apart from the peasant world […] and to create a dominance of city over country«. Ebd., S. 127: »[A]n easy escape to the rural arcadia, poor but honest«. Ebd., S. 126: »There was always the danger of abandoning the difficult critical approach«. Ebd., S. 125: »Historicist regionalism is succeeded by a third architectural type out of which comes the other basic pattern […] the pathway«. Ebd., S. 127: »[A] stark dematerialized object, an ordering of ›places made for occasion‹«.

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Ebd.: »The use of the regional is the condition for reaching the concrete and the real, and for dehumanizing architecture«. Ebd.,: »The aim of the path, like the grid, is not only to facilitate. […,] it is a cultural object; it carried with it a critical commentary about contemporary architecture«. Ebd.: »[T]hese were all critical efforts […] to sustain the humanistic spirit of modern architecture«. Ebd., S. 125: »The reverence for the orthogonal matrix, […] the honoring of the column and the prism […] reveal the appeal of this utopian message«. Ebd.: »[A] series of zones which divide the building […] into areas of use, privacy and micro-climate«. Das sagte mir Dimitris Antonakakis in einem persönlichen Gespräch im September 2022. Rykwert, Joseph: Learning from the Street, in: ders.: The Necessity of Artifice. Ideas in Architecture, London 1982, S. 103–113. Zuvor publiziert in: Lotus 11 (1976). Tzonis/Lefaivre: The Grid and the Pathway, S. 127: »[A] shorthand version of the vast stream of the Philopappus Hill, a reduction of the pattern to fit in an individual building, a house, an appartement, […] a room«. Rykwert: Learning from the Street, S. 106: »Starting-point and goal are […] not physical attributes of the street or road, but its notional attributes […] – its edges and boundaries may offer the user similar yet varied exit-points to identify his particulary aim«. Ebd., S. 105. »The word street is derived from the latin sternere, to pave, […]. It suggests that a surface is distinguished from its surroundings in some physical or at least notional way«. Scarpa verwendete für die Detaillierung ein Modul von 5,5 cm. Vgl. Giamarelos: Resisting Postmodern Architecture, S. 295: »This tool enabled the Antonakakis to keep their complicated, holistic approach under control«. Vgl. ebd., S. 290f. Vgl. ebd., S. 287. Giamarelos beschrieb die Verknüpfung zwischen öffentlichem und privatem Raum anhand des Eingangs zum Appartementhaus BenakiStraße: »[P]reliminary sketches [show] how the public street penetrated through the site to form a transitional space«. Vgl. Navone, Nicola : Formare il cittadino, costruire il territorio. Il Centro scolastico di Riva San Vitale, in : archi 25, H. 4 : Flora Ruchat-Roncati a Riva San Vitale (2022), S. 35–41, hier S. 36. Vgl. Ionello, Matteo : Aurelio Galfetti, Flora Ruchat-Roncati, Ivo Trümpy. Scuola elementare di Riva San Vitale, in : Navone, Nicola (Hg.) : Guida storico-critica all’architettura del XX secolo nel Cantone Ticino, Bd. I, Archivio del Moderno, Balerna 2020, S. I.SC.3.01-08.

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Davidovici, Irina: Constructing the Site. The Ticino and Critical Regionalism (1978–1987), in: oase 103: Critical Regionalism Revisited (2019), S. 92–104, hier S. 95. »[T]he buildings‘ ambition of cultural recovery generated a sense of fragmented urbanity.« Ebd., S. 100: »[T]he Ticinese production emphasized the visuality of architecture and thus slid into the domain of ›scenography‹, denying other prerequisites of Critical regionalism, such as tactility and tectonic coherence«. Vgl. ebd., S. 95. Gleiter, Jörg H.: Architekturtheorie heute, Bielefeld 2008, S. 17: »Seit den sechziger Jahren verstand sich die Architekturtheorie wesentlich als ein Projekt der semiotischen Rekonzeptionalisierung der Architektur«. Vgl. Kapfinger, Otto: homo amans faber. Rudolf Wäger – Versuch über Werk und Person, in: Pfeifer Steiner, Martina/Hämmerle, Marina (Hg.): Rudolf Wäger Baukünstler. 1941–2019. Ein Pionier in Vorarlberg, Basel 2021, S. 17 u. 20f. Wäger war ein gelernter Zimmermann. Kurzzeitig studierte er an der Akademie der Bildenden Künste in Wien bei Roland Rainer. Sein architektonisches Wissen eignete er sich selbst an, u.a. in Studienreisen. Vgl. Hämmerle, Marina: Die progressiven 1970er, in: Pfeifer Steiner/dies. (Hg.): Rudolf Wäger Baukünstler, S. 140f.: »[Die] Hofhäuser […] werden auf der Zugangsseite zur grafisch-geometrischen Flächenkomposition.« Zu Geschichte und konzeptionellen Ansätzen des critical regionalism siehe: Avermete, Tom, et al.: Revisiting Critical Regionalism, in: oase 103: Critical Regionalism Revisited (2019), S. 1–10. Vgl. Giamarelos: Resisting Postmodern Architecture. Ebd., S. 362. »No longer limited by the concerns of the 1980s or viewed as a manifesto for a humanistic architecture of the future, critical regionalism can now become a cross-cultural historiographical agenda.« Ebd., S. 356: »That the critical regionalism […] excerted a lasting influence on architects’ practice is an achievement […]. Such architectural scholarship today seems to be addressed more to critics and historians than to practicing architects. By contrast critical regionalism is a mainstream concept with which both practicing architects and scholars are readily familiar. The legacy of critical regionalism is therefore worth maintaining […] the existing popularity of this discourse [should be used; Anm. B.D.] to recalibrate it for the presen[t]«. Ebd., S. 364: »The fact that multiple postcolonial identities are never pure, but hybrid, is partly owing to their earlier history of imperialism«. Ebd., S. 14: »Jameson noted both the geopolitical impossibility of the project of resistance of regional cultures and the danger of a late-capitalist recuperation of regional authenticity – e.g. as a commodified product of the tourism industry. […] There is no way that the architectural clusters of resistance to mega-

Anmerkungen

lopolitan expansion could withstand this recuperation: their refreshing difference […] renders them [even] more attractive to capitalist exploitation«. 78 Nochlin, Linda: Courbet, Oller, and a Sense of Place: The Regional, the Provincial, and the Picturesque in 19-th Century Art, in: dies.: The Politics of Vision. Essays on Nineteenth-Century Art and Society, New York 1989, S. 19–32. 79 Ebd., S. 30f. »The Discussion of Courbet [and] Oller […] has raised […] questions that are still central to the so-called provincial or marginal artist. First of all, what do we mean by provincial and who decides who is provincial? Why was Cezanne’s painting at Aix or Monet’s at Etretat ›mainstream‹, or central, whereas Oller’s painting in Puerto Rico was not? […] And what is the difference between what is thought of, generally in belittling terms, as provincialism, and what has come to be known as ›regionalism‹, a positive expression of local difference«. 80 Bertoni, Franco: Minimalist Architecture, Basel 2004 [2002], S. 11: »By repressing everything around us that is not authentic, the architecture of simplicity, minimalist architecture, attempts to draw us back to a different way of living and feeling, one that is calmer, more serene, more worthy«. 81 Vgl. Ruby, Ilka, et al.: Minimal Architecture, München u.a. 2003. 82 Ebd., S. 150, vgl. auch S. 148–151. 83 Ebd., S. 150. 84 Ebd., S. 168: »an architectural position […] which works with literalness, evaporation and expansion rather than abstraction, compression and reduction and which articulates entropy rather than suppressing it«. 85 Ebd., S. 13: »For some it is a theatre stage of a degenerate art that has prostrated itself in front of design, fashion and consumerism, for others it is quite the opposite: a guarantee that the autonomy and historicity of art are incorruptible«. 86 Vgl. Lampugnani, Vittorio: Die Neue Einfachheit, in: Schweizer Ingenieur und Architekt 112, H. 38 (1994), S. 742–744, hier S. 744: »Ansätze einer solchen Entwicklung gibt es bereits. Auch Namen vermag man zu nennnen«. 87 Vgl. ebd., S. 743f. 88 Ebd,. S. 743, alle drei Zitierungen. 89 Ebd., S. 743f. 90 Ebd., S. 744. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Die Bauten, die Michael Alder oder Rudolf Wäger in den späten 1970er Jahren planten, unterschieden sich deutlich von jenen, die sie später realisierten. 94 Doris und Ralph Thut: Architektur des Gebrauchs, in: ARCH+ 21, H. 100/101: Servicewohnung: Grundriß nach Gebrauch (1989), S. 60–64, hier S. 61 (Bildunterschrift). 95 Vgl. ebd., S. 61.

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Ebd., S. 62. Vgl. ebd. McKean, John: Das Segal-System, Diskurs zu einer Methode, in: archithese 16, H. 1: Einfach, aber nicht banal/Simple, mais non pas banal (1987), S. 22–33, hier S. 23. Vgl. Schilling, Rudolf: Der Hang und Zwang zum Einfachen. Ausblick auf eine andere Wohnarchitektur, Basel 1985, S. 52. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 52. Diesen Hinweis verdanke ich Doris Thut aus einem Gespräch im Oktober 2022. Vgl. Lenherr Wenger, Barbara/Ackermann, Matthias: Wohnhäuser und Siedlungen, in: Zophoniasson-Baierl, Ulrike (Hg.): Michael Alder: Das Haus als Typ, Basel 2006, S. 65–142, hier S. 66. Vgl. Zschokke, Walter: Typen, in: Zophoniasson-Baierl: Michael Alder, S. 55–61. Vgl. ebd., S. 60–62. Ebd., S. 63. Vertreter:innen des Selbstbaus werden diese Einschätzung zurückweisen. Ich meine, dass sich bei der Neuen Einfachheit das Soziale auf kleine Gruppen verlagerte, sich gleichsam individualisierte. Die ökologischen Ansätze wiederum blieben oft sehr allgemein.

Der Körper des Realen 1

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Vgl. Hobsbawn, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2003 [1994], S. 516: »Es war die historische Tragödie der Krisenjahrzehnte, dass die Produktion den Menschen nun deutlich schneller ausgrenzte, als die Marktwirtschaft neue Arbeitsplätze für ihn schaffen konnte. […] Hinzu kam nach 1980 die zu dieser Zeit vorherrschende Theologie der freien Marktwirtschaft, die nach einem Beschäftigungstransfer zu profitmaximierenden Unternehmensformen drängte«. Foster, Hal: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge, Mass./London 1996. archithese 20, H. 1: Neue Ansichten. Dirty Realism (1990). Lefaivre, Liane: Dirty Realism in European Architecture Today: Making the Stone Stony, in: Design Book Review 17 (Winter 1989), S. 17–20. Es ist wenig bekannt, dass Lefaivres Artikel in einer Zeitschriftennummer erschien, die den Titel Postmodern Urbanism trug. Granta 8: Dirty Realism (Sommer 1983). Lefaivre, Liane: Dirty Realism [Editorial], in: archithese 20, H. 1: Neue Ansichten. Dirty Realism (1990), S. 12.

Anmerkungen

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Ebd. Ebd. Koolhaas, Rem: Tempo 160, in: archithese 20, H. 1: Neue Ansichten. Dirty Realism (1990), S. 39–43, hier S. 39. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 41. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 43. 15 Ebd. 16 Vgl. Chkloski, Victor : L’art comme procédé, in : Todorov, Tzvetan (Hg.) : Théorie de la Littérature. Textes des formalistes russes réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov. Mit einem Vorwort v. Roman Jakobson, Paris 1965, S, 76–97, hier S. 84. 17 Ebd, S. 82. Alle Übersetzungen aus dem Französischen von B.D. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 83. 20 Vgl. ebd. 21 Lefaivre, Liane: »Dirty Realism« in der Architektur, in: archithese 20, H. 1: Neue Ansichten. Dirty Realism (1990), S. 14–21, hier S. 14. 22 Vgl. ebd., S. 16. 23 Vgl. Tzonis, Aexander/Lefaivre, Liane: The Populist Movement in Architecture, in: dies. (Hg.): Times of Creative Destruction. Shaping Buildings and Cities in the late C20TH, London/New York 2017; Erstpublikation in Deutsch: Im Namen des Volkes. Die Entwicklung der heutigen populistischen Bewegung in der Architektur, in: Bauwelt 66, H. 1/2 (1975), S. 76–92. 24 Lefaivre: »Dirty Realism«, S. 17f. 25 Ebd., S. 20. Das IBA-Projekt ist ein positives Beispiel. 26 Vgl. Sorkin, Michael: DeGentrification. Das Zeichen dreht, ein Sog entsteht, in: archithese 20, H. 1: Neue Ansichten. Dirty Realism (1990), S. 77f., hier S. 77.

Das Reale zwischen den Bildern 1 2 3

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Vgl. Arch+ 53, H. 240: Neuer Realismus in der französischen Architektur (2020). Zwei Projekte stammten aus den 1980er bzw. 1990er Jahren (1985 und 1994). Analogien zur schweizerischen Architektur ließen sich dadurch erklären, dass in den 2010er Jahren mehrere französische Architekt:innen an der ETH Zürich und an der EPF Lausanne unterrichteten. Gemeint sind u.a. der Dekonstruktivismus, der dirty realism oder das neofuturistische Superdutch-Phänomen.

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Unter den Projekten waren auch soziale Wohnbauten, Wohn- und Studentenheime. 6 Vgl. Ngo, Anh-Linh/Kempe, André/Koch, Melissa: Editorial, in: Arch+ 53, H. 240 (2020), S. 1–3, hier S. 1. 7 Gemeint sind der italienische Rationalismus der 1930er Jahre, die Tessiner Tendenza, italienischer und deutscher Neo-Rationalismus (Aldo Rossi, Giorgio Grassi, Oswald Mathias Ungers). 8 Ebd., S. 1. 9 Ebd., S. 2. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 3. 12 Caille, Emanuel: Einfach ist mehr. Reflexion über einen architektonischen Trend in Frankreich, in: ebd., S. 6–13, hier S. 9. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 11. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd., S. 13. 18 Ebd., S. 11. 19 Ebd. 20 Lacaton & Vassal/Kempe, André: »Weniger Material, mehr Platz«. Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, Gründer des Pariser Büros Lacaton & Vassal, im Gespräch mit André Kempe, in: ebd., S. 58–65, hier S. 58. 21 Ebd. Weiter: Es seien »also Fassaden, Zwischenwände« gemeint, die »nicht Bestandteil der Konstruktion sind«, ebd., S. 58f. 22 Vgl. ebd. »Letztlich legt der Bebauungsplan unser Limit fest«, ebd., S. 61. 23 Muoto/Kempe, André: »Die Dynamik der zwanghaften Erneuerung durchbrechen«. Gilles Delalex und Yves Moreau, Gründer des Pariser Büros Muoto, im Gespräch mit André Kempe, in: ebd., S. 164–175, hier S. 168. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. »Plötzlich hatte die Konstruktion eine Bedeutung, sagte ›Ich kann auch etwas anderes werden‹, ohne […] zu benennen, was«. Ebd., S. 169. 26 Ebd. 27 Bourbouze & Graindorge: Statement, in: ebd., S. 104–106, hier S. 104. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 105. 30 Vgl. Lapierre, Éric: Das Wunderbare in der Architektur, in: ebd., S. 38–43. 31 Vgl. ebd. »Daraus zog Bernard Huet […] den Schluss, es gebe einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Stadt, die das Ergebnis einer kollektiven Kultur darstelle, und der Architektur, die […] privat und individuell sei«, ebd., S. 39.

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Ebd., S. 40. Fromonot, Francoise: Vom Glanz und Elend des französischen Neo-Rationalismus, in: ebd., S. 28–37. Ebd., S. 32. Gemeint sind die Personen Bernard Huet, Jaques Lucan, Patrick Berger und Éric Lapierre sowie die Hochschulen Belleville, EAVT Marne-La Vallée und École Polytechnique Féderale de Lausanne (EPFL), vgl. ebd., S. 31. Gemeint sind Jaques Lucan, Patrick Berger und Éric Lapierre, vgl. ebd. Ebd., S. 36: »Die vorbehaltlose Akzeptanz der wirtschaftlichen Interessen […] birgt das Risiko, dass die schlechten Bedingungen der Alltagsarchitektur in den Augen der Bauträger:innen weiter gerechtfertigt werden und ihr generischer Charakter weiter forciert wird«. Ebd., S. 33 unten. Ebd,. S. 33 oben, rechts. Ebd., S. 36. Frank, Josef: Akzidentismus, in: ders.: Josef Frank 1885–1967, zusammengest. u. gest. v. Johannes Spalt u. Hermann Czech, Wien 1981, S. 236–242. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239f. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241. Ebd., S. 242. Ebd. Vgl. ebd., S. 241. Ebd., S. 242. Vgl. ebd., S. 241. Vgl. Allenspach, Christoph: Zufall als Entwurfsprinzip in der Architektur, in: archithese 40, H. 6: Zufall/Randomness (2010), S. 52–57, hier S. 53f. Ein Gebäude von Eisenman wurde im Beitrag abgebildet, die Entwurfsweisen von Zaha Hadid und Frank Gehry wurden allgemein besprochen. Vgl. ebd., S. 51–53. Beim Kinderzentrum in Hokkaido und dem Tokyo-Appartement von Fujimoto oder dem VitraHouse in Weil am Rhein von Herzog & de Meuron wurden elementare Grundformen verwendet. Diese wurden gruppiert oder gestapelt und rotiert. Eisenman hingegen dekonstruierte eine Form. Bei seinem Guardiola House löste er eine Form auf, schuf bauteilartige Komponenten, die er betonte. Gänshirt, Christian: Mit dem Zufall entwerfen, in: archithese 40, H. 6: Zufall/ Randomness (2010), S. 66–71. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Vgl. ebd. Allenspach: Zufall als Entwurfsprinzip, S. 57.

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Vgl. ebd., S. 55f. Allenspach verweist auf die Funktion der Intentionalität in der Phänomenologie von Edmund Husserl. Ebd., S. 55.

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