Die Architektur der Stadt: Skizzen zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen [unveränd. Nachdr. d. Originalausgabe ed.] 9783035601664, 9783035600445

Aldo Rossi verfolgte in seiner 1966 erschienen Publikation L’Architecttura della Città die städtebauliche Entstehung und

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Die Architektur der Stadt: Skizzen zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen [unveränd. Nachdr. d. Originalausgabe ed.]
 9783035601664, 9783035600445

Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur zweiten (italienischen) Ausgabe
Einleitung
Erstes Kapitel. Städtebauliche Strukturen
1. Individualität städtebaulicher Strukturen
2. Die Stadt als Kunstwerk
3. Tyologische Probleme
4. Kritik am naiven Funktionalismus
5. Fragen der Systematisierung
6. Der komplexe Charakter städtebaulicher Sachverhalte
7. Die Theorie der Permanenz und die Baudenkmäler
Zweites Kapitel. Primäre Elemente und Stadtareal
1. Der Untersuchungsbereich
2. Areal und Stadtviertel
3. Wohnviertel
4. Typologie der Berliner Wohnbauten
5. Garden city und ville radieuse
6. Die primären Elemente
7. Baudenkmal und Stadtentwicklung
8. Fortleben antiker Städte
9. Wandlungsprozesse
10. Geographie und Geschichte
Drittes Kapitel. Individualität städtebaulicher Phänomene
1. Der Standort
2. Architektur als Wissenschaft
3. Stadtökologie und Psychologie
4. Architektur als städtebauliches Phänomen
5. Das Forum Romanum
6. Baudenkmäler und Milieu
7. Stadt als Geschichte
8. Das Kollektivgedächtnis
9. Athen
Viertes Kapitel. Stadtentwicklung
1. Veränderung der Eigentumsstruktur
2. Maurice Halbwachs und seine These
3. Historische Beispiele
4. Das Grundeigentum
5. Das Wohnungsproblem
6. Der neue Maßstab
7. Die politische Entscheidung
Bildteil
Nachwort zur deutschen Ausgabe
Typologische Probleme (Nachwort zur dt. Übersetzung von L’architettura della città)

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Bauwelt Fundamente 41

Herausgegeben von Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Thomas Sieverts Jörn Walter

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Aldo Rossi Die Architektur der Stadt Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen

Bauverlag Birkhäuser Gütersloh · Berlin Basel

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Originaltitel L’Architettura della Città, erschienen als Band 8 der Reihe „Biblioteca di Architettura e Urbanistica“ (Marsilio Editori, Padova) Aus dem Italienischen von Arianna Giachi Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich Conrads 1963 gegründet und bis 2013 herausgegeben (einschließlich Band 149), seit Anfang der 1980er Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke.

Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-0356-0166-4) erschienen.

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag. © 2015 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston; und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0356-0044-5 987654321 www.birkhauser.com

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Inhalt

Vorwort zur zweiten (italienischen) Ausgabe 7 Einleitung 12 Erstes Kapitel Städtebauliche Strukturen 19 1. Individualität städtebaulicher Strukturen 19 2. Die Stadt als Kunstwerk 21 3. Tyologische Probleme 26 4. Kritik am naiven Funktionalismus 29 5. Fragen der Systematisierung 32 6. Der komplexe Charakter städtebaulicher Sachverhalte 39 7. Die Theorie der Permanenz und die Baudenkmäler 42 Zweites Kapitel Primäre Elemente und Stadtareal 47 1. Der Untersuchungsbereich 47 2. Areal und Stadtviertel 50 3. Wohnviertel 56 4. Typologie der Berliner Wohnbauten 60 5. Garden city und ville radieuse 69 6. Die primären Elemente 72 7. Baudenkmal und Stadtentwicklung 74 8. Fortleben antiker Städte 78 9. Wandlungsprozesse 80 10. Geographie und Geschichte 83 Drittes Kapitel Individualität städtebaulicher Phänomene 91 1. Der Standort 91 2. Architektur als Wissenschaft 95 3. Stadtökologie und Psychologie 97 4. Architektur als städtebauliches Phänomen 100 5. Das Forum Romanum 104

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6. Baudenkmäler und Milieu 7. Stadt als Geschichte 8. Das Kollektivgedächtnis 9. Athen

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Viertes Kapitel Stadtentwicklung 123 1. Veränderung der Eigentumsstruktur 123 2. Maurice Halbwachs und seine These 124 3. Historische Beispiele 128 4. Das Grundeigentum 134 5. Das Wohnungsproblem 138 6. Der neue Maßstab 140 7. Die politische Entscheidung 143 Bildteil 147 Nachwort zur deutschen Ausgabe 173 Typologische Probleme (Nachwort zur dt. Übersetzung von L’architettura della città) 175

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Vorwort zur zweiten (italienischen) Auflage

In den Jahren seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat die Art seiner Darstellung durch neuere Forschungsergebnisse ihre Bestätigung gefunden. Insbesondere aber beherrschte seine enge Verbindung von Stadtanalyse und Architektur die Fachdiskussion. Das hat mich veranlaßt, einer Neuauflage des inzwischen vergriffenen Buches zuzustimmen. Dabei habe ich von einer Überarbeitung und Erweiterung, um dem neuesten Stand der Forschung gerecht zu werden, abgesehen, da sie mir - zumindest für meine Hauptthesen - nicht notwendig erschien. Bezeichnend für den Erfolg meines Buches sind dessen häufige Zitierung und die Übernahme seiner Begriffe. Vor allem das Wort Stadtarchitektur wird häufig - und nicht immer richtig - verwendet. Dieser Begriff soll deshalb hier noch einmal so knapp wie möglich erläutert werden: Die Stadt als Architektur betrachten heißt die Tatsache anerkennen, daß Architektur nicht etwa als abstrakter Begriff, sondern als konkreter Bauvorgang etwas Eigenständiges ist, daß sie das wichtigste städtebauliche Phänomen entstehen läßt und daß sie durch alle die hier analysierten Prozesse Vergangenheit mit Zukunft verbindet. Stadtarchitektur verflüchtigt sich deshalb bei mir nicht zu einem vagen städtebaulichen Begriff, bei dem angeblich der neue Maßstab auch zu neuen Bedeutungen führt. Vielmehr kommt es mir darauf an, die Bedeutung des einzelnen Projekts und die Art, wie es zu einem städtebaulichen Phänomen wird, zu analysieren. Einen wichtigen Platz nimmt in meiner Untersuchung uer Architektur, die die gesamte architektonische Vergangenheit in ihre Sicht einbezieht, die Auseinandersetzung mit den Theorien ues Neuen Banens ein, dessen bedeutendstes Erbe hier seine Würdigung erfährt. Wie notwendig diese ist, beweisen die zahlreichen Veröffentlichungen, Übersetzungen und Stellungnahmen, die in den vier Jahren seit dem ersten Erscheinen dieses Buches zu diesem Thema herausgekommen sind. Dabei bedeutet eine Würdigung dieses Erbes auf jeden Fall, daß das verfügbare Material einer Kritik unterzogen wird. Der Standpunkt. das Neue Bauen unterscheide sich in seiner Qualität grundsätzlich von aller vorangegangenen Architektur und stelle eine politisch-moralische Bewegung dar, wird ja ohnehin heute nur noch von verbohrten Nachzüglern vertreten, die außerdem nichts Neues zu dem von ihnen verteidigten Erbe beigetragen haben. Mein Bnch dagegen untersucht zum ersten 1\-Tal, inwieweit dieses Erbe heute noch zu akzl'ptieren ist.

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Beim Wiederlesen meines Buches erweist sich die Frage nach tler Beziehung zwischen Stadtanalyse und Planung als sein Hauptgegenstand. Die Dürftigkeit eines Teiles der heutigen Architekturforschung geht aus kaum etwas deutlicher hervor als aus ihrem Anspruch auf \'Vissenschaftlichkeit, mit dem sich ausdrücklich - oder, schlimmer noch, unausgesprochenermaßen - der auf Neutralität verbindet. Indessen ist der Begriff der Neutralität nur im Rahmen eines bestehenden Begriffs- oder Regelsystems verwendbar. Denn sobald man dieses System selbst in Frage stellt, hat er keinerlei Sinn mehr. Deshalb können Architektur und Architekturtheorie wie alles andere zwar nur durch genau determinierte Begriffe beschrieben werden. Diese Begriffe aber haben weder eine absolute Gültigkeit, noch sind sie neutral. Keine Idee kann das sein. Vielmehr verändert sie, je bedeutender sie ist, desto stärker die menschliche Sichtweise. In der Architektur sind Erkenntnisfragen immer mit Fragen der Tendenz und der Entscheidung gekoppelt. Denn für eine tendenzlose Architektur gibt es keinen Anwendungsbereich und keine Anwendungsmöglichkeit. Ebenso ist für eine Architekturtheorie ihr Bezug zur Geschichte eine Frage der Wahl. Das gilt auch für meine Einführung in das Werk von Etienne-Louis Boullee, das ich nach dem Erscheinen dieses Buches übersetzt habe. In ihr konfrontiere ich einen Rationalismus, der komplexer ist als dessen schematischer Begriff in der Geschichtsschreibung des Neuen Bauens bis vor wenigen Jahren mit einer eigenen Tradition, um zu einer angemessenen Beziehung zur Gegenwart zu kommen. Dagegen erweist die Tendenzlosigkeit vieler heutiger Forschungen deren Überflüssigkeit und improvisatorischen Charakter. Auch die Frage nach der Beziehung zwischen Stadtanalyse und Planung kann nämlich nur aufgrund einer bestimmten Tendenz und innerhalb eines bestimmten Systems und nicht von einer neutralen Position aus gelöst werden. Beispielhaft in dieser Hinsicht sind die Untersuchungen von Ludwig Hilberseimer, in denen Stadtanalyse und Bauen, eng aufeinander bezogen, zwei Aspekte der Gesamttheorie einer rationalen Architektur darstellen. Seine beiden Begriffe Analyse und Projekt, auf die ich in den letzten Jahren mehrfach zurückgekommen bin und die das Thema einer Gemeinschaftsarbeit waren, bilden, so meine ich, nunmehr die Grundlage jeder Forschung, bei der Architektur z.um eigentlichen Gegenstand der Untersuchung städtebaulicher Phänomene und ihrer Gestalt winl. Der rationale Charakter der Architektur beruht nämlich darauf, daß ihre Tatbestände in Beziehung zur Zeit entstehen, wobei früher Entstandenes zum integrierenden Bestandteil ihrer Bauten werden kann. Ebenso werden auch für den Archäologen und den Künstler die Ruinen einer Stadt erst in dem Augenblick zum Gegenstand ihrer Erfindung, in

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dem sie sich in em bestimmtes System einordnen lassen, das auf klaren und allmählich sich erhärtenden Hypothesen beruht. Erst so entsteht Wirklichkeit. Der Bau von Wirklichkeit vollzieht sich deshalb dadurch, daß Architektur sich in Beziehung zu den vorhandenen Dingen und zur Stadt, zu den Ideen und zur Geschichte setzt. Aufgrund dieser Überlegungen habe ich anderweitig die These von der »analogen Stadt« aufgestellt, bei der es mir um die theoretischen Grundlagen des architektonischen Entwurfs ging. Damit meine ich den kompositorischen Vorgang, der sich auf einige Grundphänomene der städtebaulichen Realität stützt und ihnen im Rahmen eines analogen Systems neue Fakten hinzufügt. Exemplifiziert habe ich den Begriff der analogen Stadt an Canalettos Ansicht von Venedig im Museum von Parma. Auf diesem Bild sind der Ponte di Rialto, wie ihn Palladio entworfen hat, die Kirche Il Redentore und der Palazzo Chiericati einander angenähert und so dargestellt, als handele es sich um eine von dem Maler beobachtete Stadtsituation. So bilden die drei Werke Palladios, von denen eines nur ein Entwurf gehlieben ist, ein analoges Venedig, das aus bestimmten für die Geschichte der Architektur und der Stadt wichtigen Bauwerken komponiert wird. Durch die topographische Annäherung der beiden vollendeten Bauten an die nur entworfene Brücke entsteht eine Stadt, die wir kennen, obgleich sie nur ein imaginärer Ort für eine bedeutende Architektur ist. An diesem Beispiel wollte ich zeigen, wie Planung aufgrund einer formallogischen Operation entstehen kann. Daraus ergab sich eine Theorie der architektonischen Planung, deren Elemente im voraus genau bestimmt und formal definiert sind, deren Bedeutung und eigentlicher Sinn sich aber erst nach Ausführung der Planung als etwas Unvorhergesehenes und Originales ergibt. Ich bin der Ansicht, daß einige Teile meines Buches Fragen berühren, die, wenn sie noch genauer untersucht würden, für die gesamet Architekturforschung von großer Bedeutung sein könnten. Dabei denke ich an die Theorie der Permanenz und der Bedeutung der Baudenkmäler, an den Begriff des Standorts, die Entwicklung der Stadt und ihrer Teile und die konkrete Bedeutung, die die Architektur als physische Struktur seiner Institutionen einem Ort verleiht. Zu anderen Themen wie der Typologie der Bauten, der Morphologie der Stadt oder dem Problem der Systematisierung, die für die Architektur in diesem Buch zum ersten Mal versucht worden ist, sind inzwischen wichtige Beiträge geliefert worden, die man bei der Lektüre dieses Buches heranziehen sollte. Meine Forderung in der Einleitung des Buches, daß wir mehr analytisches Material über einzelne Städte brauchen, das aufgrund der authentischen Kenntnis unterschiedlichster städtebaulicher Situationen den Rahmen fiir die Besonderheiten einer bestimmten Stadt-

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architektur darstellen könnte, hat inzwischen nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Das verfügbare Material ist immer noch zu fragmentarisch, um daraus hieb- und stichfeste Folgerungen ziehen zu können. Gerade die Einzelergebnisse einer solchen Analyse aber könnten dadurch, daß sie unsere Hypothesen aufgrund neuer Fakten Stück für Stück korrigieren würden, zu einer Revision unserer Theorie führen. Derartige Monographien wären aber vor allem deshalb notwendig, weil nur sie die vollständige Analyse einer Stadt ermöglichen. Denn die Gestaltung einer Stadt ist ein System, vermittels dessen die Fragen der Topographie und des Grundeigentums, die Bauverordnungen, der Klassenkampf und die Idee der Architektur sich nach und nach in konkrete Bauten umsetzen. Mit dieser konkreten Architektur und ihren einzelnen Phänomenen muß jede allgemeine Theorie immer wieder konfrontiert werden. In den letzten Jahren sind auf diesem Gebiet Forschungen betrieben worden, deren Veröffentlichung nützliche Anhaltspunkte liefern könnte. Auch das Problem des Funktionalismus ist in den letzten Jahren aus einer neuen Sicht behandelt worden, die interessantes Material zur Stützung meiner These geliefert hat. Meine Kritik bezieht sich dabei auf den naiven Funktionalismus, der sowohl als Kompositionsprinzip bei der Architektenausbildung als bei seiner Anwendung als normativem Prinzip für die Zonierung die Wirklichkeit unzulässig vereinfacht und Phantasie und Freiheit der Architekten zu sehr beschneidet. In den letzten Jahren habe ich diese Kritik in meiner Einleitung zu Boullees Werken, in welcher ich dem Rationalismus der Funktionalisten einen anderen Begriff des Rationalismus gegenüberzustellen versuchte, und in anderen Arbeiten weiter vertieft. Diese Kritik am Funktionalismus muß als eine neue Theorie der architektonischen Komposition verstanden werden, die die Grundlage für jede Stadtanalyse bildet. Meine Polemik gegen den naiven Funktionalismus bedeutet aber nicht, daß ich den Begriff der Funktion in seinem eigentlichen algebraischen Sinn ablehne. Denn in dieser algebraischen Bedeutung impliziert der Begriff, daß Werte als Funktionen anderer Werte verstanden werden und daß zwischen Funktion und Form komplexere Beziehungen als die lineare Beziehung von Ursache und Wirkung bestehen, die der Wirklichkeit widerspricht. Schließlich habe ich allen zu danken, die dieses Buch rezensiert, diskutiert und studiert haben und sich dabei auf seine unterschiedlichen Aspekte bezogen. Interessant waren für mich vor allem die Besprechungen von Carlo Aymonino, Giorgio Grassi und Vittorio Gregotti, weil diese Autoren sich von verschiedenen Standpunkten aus mit den Beziehungen dieses Buches zur Architektur und insbesondere zu den theoretischen Grundlagen meiner eigenen Planungsarbeit und meiner Lehrtätigkeit beschäftigen. Diese Aufsätze könnten aufgrund ihrer 10

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Kompetenz und ihrer ganz neuen Überlegungen ein Teil dieser Arbeit sein. Besonderen Dank schulde ich auch Manfredo Tafuri, der bei seiner Darstellung der modernen Architekturtheorien die Thematik dieses Buches in einen architektonischen Gesamtzusammenhang gebracht und meine Schriften und Entwürfe im Rahmen einer weit ausgreifenden Architekturforschung behandelt hat. Die Zustimmung dieser Autoren war für mich auch deshalb von großer Bedeutung, weil ihre Anerkennung mit der schwierigsten Phase meiner gesamten Architekturforschung zusammenfiel. Mein aufrichtiger Dank gilt schließlich Salvador Tarrago Cid für seine Übersetzung des Buches ins Spanische und für seinen großen einleitenden Essay zu dessen spanischer Ausgabe. Dezember 1969 Aldo Rossi

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Einleitung

Stadt wird in diesem Buch, dessen Gegenstand sie ist, als Architektur verstanden. Damit ist nicht nur das sichtbare Stadtbild mit der Gesamtheit seiner Bauten gemeint, sondern mehr noch Architektur als Bauvorgang, das Werden einer Stadt im Lauf der Zeit. Auch abgesehen davon, was ich persönlich zu einer solchen Sicht der Stadt beizutragen habe, scheint sie mir der geeignetste Ausgangspunkt für eine möglichst umfassende Stadtanalyse zu sein, die sich mit dem eigentlichen und endgültigen Inhalt des Gemeinschaftslebens beschäftigt: der Herstellung einer es begünstigenden Umwelt. Denn ich halte Architektur, weil sie ihrer Natur nach ein kollektives Phänomen ist, für etwas vom kulturellen Leben und von der Gesellschaft Untrennbares. Als die frühen Menschen ihre ersten Behausungen bauten, wollten sie sich durch deren künstliches Klima nicht nur ihr Leben erleichtern, sie verfolgten dabei auch ästhetische Ziele. Schon die früheste Architektur enthält deshalb erste Ansätze zum Städtebau. Von Anfang an ist sie ein notwendiger Bestandteil der Kultur und gibt der menschlichen Gesellschaft ihre konkrete Gestalt. Aufgrund dieser Tatsache und dadurch, daß die Stadt in engem Zusammenhang mit der Natur steht, unterscheidet sich die Architektur grundsätzlich von allen anderen Künsten und Wissenschaften. Von diesen Voraussetzungen muß jede Erfolg versprechende Untersuchung der Stadt ausgehen. Sie gelten schon für die frühesten Siedlungen, und während die Stadt mit der Zeit wächst, sich ihrer selbst bewußt und Gegenstand ihrer eigenen Erinnerung wird, behält sie die ursprünglichen Motive für ihr Entstehen bei, präzisiert sie aber zugleich im Lauf ihrer Entwicklung und wandelt sie ab. Florenz ist eine in ihrer konkreten Gestalt unverwechselbare Stadt. In ihr Gedächtnis und ihr Bild fließen aber auch Erfahrungen ein, die sich nicht ausschließlich auf sie selbst beziehen. Diese allgemeingültigen Erfahrungen können uns indessen niemals Auskunft über das spezifische Gebilde geben, das Florenz darstellt. Dem Gegensatz zwischen Eigentümlichem und Allgemeinem, zwischen Individuellem und Kollektivem, der jeder Stadt innewohnt und sich aus ihrem architektonischen Werden ergibt, gilt ein Hauptinteresse dieses Buches. Er zeigt sich unter verschiedenen Aspekten in den Beziehungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen rationaler Planung der Stadtarchitektur und der Bedeutung ihres

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Standortes, zwischen öffentlichen und privaten Bauten. Daneben gilt meine besondere Aufmerksamkeit den Fragen der Quantität und ihren Beziehungen zu denen der Qualität. Bei meinen Untersuchungen einzelner Städte hat es mir stets Schwierigkeiten bereitet, allgemeingültige Schlüsse aus dem von mir analysierten Material zu ziehen und dessen quantitative Auswertung vorzunehmen. Denn jedes Baugelände ist etwas Einmaliges, während jede Bebauungsmaßnahme von allgemeingültigen Kriterien ausgehen muß. Da ich aber der Auffassung bin, daß die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten eine Bebauung lediglich nach rationalen Prinzipien unmöglich machen und daß vielmehr die einzigartige örtliche Situation einer Bebauung ihr eigentümliches Gepräge gibt, kann man meines Erachtens den Wert von Stadtmonographien und die Kenntnis der einzelnen Faktoren einer Stadtarchitektur- auch und gerade unter ihren individuellsten, eigentümlichsten und außergewöhnlichsten Aspekten - gar nicht hoch genug veranschlagen, wenn man nicht ebenso gekünstelte wie nutzlose Theorien aufstellen will. Von diesen Überlegungen ausgehend habe ich eine analytische Methode zu erarbeiten versucht, die zugleich eine quantitative Auswertung des Untersuchungsmaterials und seine Erfassung nach einem einheitlichen Kriterium erlaubt. Diese Methode beruht einerseits auf dem Verständnis der Stadt als eines kontinuierlichen Bauvorganges und damit als eines menschlichen Artefakts und andererseits auf der Unterscheidung zwischen primären Elementen und Wohngebieten. Dabei bin ich der Überzeugung, daß eine vergleichende Untersuchung der einzelnen Faktoren einer Stadtarchitektur und ihre hier versuchte Systematisierung zu neuen Ergebnissen führen kann. Denn wenn die Unterteilung der Stadt in öffentliche und private Sphäre, in primäre Elemente und Wahngebiete auch schon oft zur Diskussion gestellt worden ist, so ist sie doch nie so stark in den Vordergrund gerückt worden, wie sie es eigentlich verdient. In ihrer Gegensätzlichkeit sind diese Elemente nämlich integrierende Bestandteile der Stadtarchitektur als der beständigen Bühne des menschlichen Lebens, auf der sich öffentliche Ereignisse und private Tragödien abspielen und die von den Gefühlen ganzer Generationen durchtränkt ist. Individuum und Gemeinschaft begegnen und durchdringen sich in der Stadt. Sie besteht aus zahllosen Einzelwesen, die sich ihre eigene kleine Welt schaffen wollen, um damit ihren eigenen Wünschen zu entsprechen und sich zugleich der allgemeineren Umwelt anzupassen. Die Wohnbauten und die Grundstücke, auf denen sie stehen, sind in ihrer dauernden Veränderung Zeichen dieses Alltagslebens. Zerstörung und Abriß, Enteignung und plötzlicher Wechsel in der Nutzung von Grund und Boden werden ebenso wie Spekulation und V erslumung vor allem als Ausdruck städtebaulicher Dynamik betrachtet und sollen

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unter diesem Aspekt hier auch gründlich untersucht werden. Aber unabhängig von ihrer Wertung stellen diese Vorgänge auch Eingriffe in das Leben des einzelnen dar und sprechen von seiner oft schwierigen und schmerzlichen Partizipation am KollektivschicksaL Die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit aber findet ihren dauerhafteren Ausdruck in den Baudenkmälern einer Stadt. Als primäre Elemente der Stadtarchitektur sind sie Zeichen des Kollektivwillens und stellen als solche Fixpunkte in der städtebaulichen Dynamik dar. Diese Problematik und ihre Implikationen verweisen die Wissenschaft vom Städtebau in den Umkreis der Humanwissenschaften. Innerhalb dieses Rahmens kommt ihr indessen eine Autonomie zu, nach deren Merkmalen und Grenzen in diesem Buch immer wieder gefragt werden soll. Man kann die Stadt von verschiedenen Gesichtspunkten aus analysieren, doch immer wird sich die Architektur dabei als ihr letztes, nicht weiter reduzierbares Element erweisen. Für dessen Analyse aber sind weder die Architekturgeschichte noch die Soziologie oder eine andere Wissenschaft zuständig. Das bestätigt die Eigenständigkeit der Wissenschaft vom Städtebau, die sogar beanspruchen darf, eines der wichtigsten Kapitel der Kulturgeschichte zu sein. Zu den verschiedenen Methoden zur Untersuchung der Stadt, von denen hier die Rede sein soll, gehört auch die vergleichende Methode, da sie uns auf eine immer stärkere Differenzierung der städtebaulichen Tatbestände im Lauf der Geschichte hinweist. Gleichwohl dürfen wir uns bei der Untersuchung der Stadt nicht nur auf sie beschränken. Denn sie könnte uns dazu verführen, nur das Unveränderliche in der Geschichte einer Stadt wahrzunehmen, das unter Umständen auch ein Krankheitssymptom sein kann. Jedenfalls ist die Rolle, die solche unverändert fortbestehenden Elemente für die Untersuchung einer Stadt spielen, mit der analoger sprachlicher Erscheinungen für die Linguistik zu vergleichen. Deshalb könnte man auch Saussures Programm für die Linguistik auf die Urbanistik übertragen, die sich demzufolge vor allem mit der Beschreibung und Geschichte bestehender Städte einerseits und andererseits mit der Untersuchung der Kräfte beschäftigen müßte, die sich überall und zu allen Zeiten bei der Entstehung von Stadtarchitektur auswirken. Unter Zurückstellung der systematischen Entwicklung eines derartigen Programms gehe ich in diesem Buch insbesondere auf die historischen Probleme und die Beschreibung der einzelnen Faktoren der Stadtarchitektur ein, untersuche die Beziehungen zwischen lokalen Gegebenheiten und städtebaulichem Geschehen und bemühe mich zu klären, welche die wichtigsten Faktoren sind, die sich stets und überall auf die Entwicklung einer Stadt auswirken. Im letzten Teil behandele ich dann den Städtebau als Sache der politischen Entscheidung, mit deren Hilfe die Stadt ihre eigene Stadtidee realisiert.

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Nach meiner Überzeugung sollten sich unsere Untersuchungen viel stärker als hisher mit der Geschichte der Stadtidee beschäftigen, das heißt mit der Geschichte der Idealstadt und der Stadtutopien. Denn die tatsächliche Stadtentwicklung und die Idealentwürfe widersprechen einander zwar, beeinflussen sich aber auch fortwährend gegenseitig. Die Geschichte der Architektur und der städtehauliehen \Virkliehkeit ist stets die Architekturgeschichte der herrschenden Klassen. Man müßte deshalb untersuchen, inwieweit und mit welchem Erfolg Revolutionszeiten dieser Architektur andere konkrete Organisationsformen der Stadt gegenübergestellt haben. Eine Untersuchung der Stadt sieht sich deshalb zwei verschiedenen Positionen gegenüber, die man bis zur griechischen Stadt und dem Gegensatz zwischen Platos >>Staat« und der Analyse der konkreten Stadt durch Aristoteles zurückverfolgen kann. Dabei hat Aristoteles meiner Auffassung nach den entscheidenden Schritt nicht nur zur Untersuchung der konkreten Stadt, sondern auch zur Stadtgeographie und zur Stadtarchitektur getan. Gleichwohl müssen wir heide Positionen im Auge behalten. Denn auch die reinen Ideen haben auf vielerlei direkte und indirekte Arten Einfluß auf die Stadtentwicklung ausgeübt. Die Erarbeitung einer städtebaulichen Theorie kann auf zahlreiche Studien zurückgreifen, die insgesamt aber zwei großen Systemen angehören. Das eine betrachtet die Stadt als das architektonische Produkt von Funktionen, das andere sieht in ihr eine räumliche Struktur. Das funktionalistische System geht von der Analyse politischer, sozialer und ökonomischer Tatbestände aus und behandelt die Stadt aus der Sicht dieser Disziplinen. Das andere System ist eher architektonischen und geographischen Charakters. Obgleich ich bei meinen Darlegungen von letzterem ausgehe, beziehe ich doch die politischen, sozialen und ökonomischen Aspekte in sie ein, weil sich aus ihrer Sicht wichtige Fragen ergeben. Deshalb verweise ich auf Autoren verschiedener Herkunft und untersuche einige Thesen, die ich - unabhängig von ihrer Wertung - für grundlegend halte. Besonders nachdrücklich stelle ich aber diejenigen Autoren heraus, deren Beitrag zu einer autonomen städtebaulichen Theorie mir so entscheidend erscheinen, daß ich mir ihre Thesen zu eigen gemacht habe. Zu ihnen gehört insbesondere Fustel de Coulanges aufgrund der Wichtigkeit, die er den Institutionen als einem wirklich konstanten Element des historischen Lebens und den Beziehungen zwischen Mythos und Institution heimißt. Nach seiner Auffassung kommen und gehen die Mythen von einem Ort zum anderen. Jede Generation erzählt sie auf andere Art und fügt dem überkommenen Erbe Neues hinzu. Aber hinter dieser Realität, die sich von einer Epoche zur ande-

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ren verändert, steht eine dauerhafte Realität, die sich in gewisser Weise dem Einfluß der Zeit zu entziehen vermag. Sie müssen wir als das eigentlich tragende Element der religiösen Tradition betrachten. In der antiken Stadt sind die Beziehungen des Menschen zu den Göttern, der Kult, den er ihnen weiht, und die Namen, mit denen er sie anruft, insgesamt an unverletzliche Normen gebunden, auf die der einzelne keinen Einfluß hat. Diese kollektive Natur des Ritus, durch die er für den Mythos eine bewahrende Funktion erfüllt, stellt auch den Schlüssel für das Verständnis dessen dar, was die Baudenkmäler, die Gründung der Stadt und die Überlieferung davon für die Realität einer Stadt bedeuten. In meinem Entwurf einer städtebaulichen Theorie spielen deshalb die Baudenkmäler eine wichtige Rolle, auch wenn ich ihre Bedeutung für die Entwicklung einer Stadt nicht immer hinreichend erklären kann. In dieser Hinsicht sind noch viele Fragen zu klären. Das gilt insbesondere für die Beziehung zwischen Baudenkmal, Ritus und Mythos im Sinne von Fustel de Coulanges. Denn nicht nur der Ritus ist etwas Dauerhaftes und damit ein mythenerhaltendes Element, sondern auch das Baudenkmal, das zugleich Zeugnis vom Mythos ablegt und dessen Ritual ermöglicht. Eine derartige Forschung müßte bei der griechischen Stadt ansetzen. Sie würde uns neue Einsichten in die Stadtstruktur vermitteln, die in ihren Anfängen unlöslich mit der Lebens- und Verhaltensweise der Menschen gekoppelt ist. Die Erkenntnisse der modernen Anthropologie über die Struktur primitiver Dörfer eröffnen für die Untersuchung von Stadtplänen insofern neue Ausblicke, als sie zu einer Grundlagenforschung und zur Aneignung immer umfangreicherer Kenntnisse von einzelnen Tatbeständen und deren Beziehung zu Ort und Zeit führen und damit zu Einsichten über die in jeder Stadtentwicklung wirksamen Kräfte. Bisher wurde die Beziehung zwischen der wirklichen Stadt in ihren Einzelheiten und den Stadtutopien stets nur innerhalb eines zu engen Rahmens untersucht. Dagegen könnte zum Beispiel das Studium der Streitigkeiten zwischen dem utopischen und dem wissenschaftlichen Sozialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Städtebaus liefern, sofern man sie nicht lediglich unter ihrem politischen Aspekt betrachtet, sondern an der Wirklichkeit der Städte mißt und dadurch mit schlimmen Verzerrungen ein Ende macht. Ähnliches gilt für die gesamte Geschichte des Städtebaus. Da diejenigen, die sich mit der Stadt beschäftigen, ihr Augenmerk bisher fast ausschließlich auf einige soziologische Merkmale der Industriestadt richteten, haben sie eine Reihe außerordentlich wichtiger und nicht zu vernachlässigender anderer Sachver-

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halte übersehen. Ich denke dabei zum Beispiel an die Siedlungen und Kolonialstädte der Europäer in Amerika, die noch kaum erforscht sind. Immerhin hat Gilberto Freyre bei seiner Untersuchung bestimmter von den Portugiesen in Brasilien eingeführter Bau- und Stadttypen festgestellt, daß deren Struktur nachhaltigen Einfluß auf die Gesellschaft ausgeübt hat, die sich in Brasilien herausbildete. Andererseits haben die theokratischen Ideen der Jesuiten und das Verhalten spanischer und französischer Kolonisatoren zusammen mit der Beziehung zwischen Landbevölkerung und Großgrundbesitzern portugiesischen Gepräges sich deutlich auf die Gestalt der südamerikanischen Städte ausgewirkt. Weitere Untersuchungen dieser Art könnten für die Erforschung der Beziehungen zwischen politischen Utopien und Stadtgestalt von grundsätzlicher Bedeutung sein. Denn aus dem Material, das uns bisher zur Verfügung steht, lassen sich noch keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen. Wieviel Vorsicht dabei geboten ist, geht nämlich schon daraus hervor, daß der Übergang von der kapitalistischen zu einer sozialistischen Gesellschaft in den Städten der Länder, in denen sie stattgefunden hat, kaum Spuren hinterließ und daß wir uns deshalb von dem möglichen Ausmaß und den Grenzen solcher eventueller städtebaulicher Umstrukturierungen vorläufig noch keine Vorstellung machen können. Das vorliegende Buch besteht aus vier Kapiteln. Im ersten behandele ich die Probleme der Beschreibung und Systematisierung, das heißt also die Fragen der Typologie. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Struktur der einzelnen Stadtteile. Im dritten Kapitel geht es um die Stadtarchitektur und ihren Standort und damit auch um Stadtgeschichte. Im vierten Kapitel schließlich setze ich mich mit den Grundfragen der Stadtentwicklung und dem Problem der politischen Entscheidung auseinander. Dabei gehe ich immer vom Stadtbild und seiner Architektur aus, da sie für alle vom Menschen bewohnten und bebauten Gebiete der Erde von entscheidender Bedeutung sind. »Wald und Heide, bebautes und unbebautes Land stellen in der Erinnerung des Menschen eine unauflösliche Gesamtheit dar«, heißt es bei Vidal de la Blache. Diese unauflösliche Gesamtheit ist die zugleich natürliche und künstliche Heimat des Menschen. Wie wichtig der Begriff der Natur dabei auch für die Architektur ist, geht aus einer Formulierung von Milizia hervor: »Der Architektur fehlt freilich ein Vorbild, das die Natur ihr liefert; dafür besitzt sie eines, das der Mensch ihr liefert, insofern er schon beim Bau seiner ersten Behausungen seinem natürlichen Tatendrang folgte.« Abschließend möchte ich meiner festen Überzeugung Ausdruck geben, daß die in diesem Buch vorgetragene städtebauliche Theorie eine vielseitige Entwicklung nehmen wird und dabei unvorhergesehene Richtungen einschlagen und überraschende Akzente setzen wird.

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Ebenso überzeugt bin ich allerdings davon, daß diese Entwicklung nur dann Früchte tragen wird, wenn sie die Stadt nicht neuerlich auf einige Aspekte einschränkt und damit ihre eigentliche Bedeutung aus den Augen verliert. In Gang kann diese Fortentwicklung der städtebaulichen Theorie allerdings nur kommen, wenn dieses Gebiet in Forschung und Lehre seinen eigenständigen Platz erhält. Mein Beitrag ist dazu nur ein erster Ansatz, auch wenn er das Ergebnis intensiver Forschungen ist. Wichtiger als die Diskussion seiner Ergebnisse scheint mir dabei die kritische Stellungnahme zu seiner Methode zu se1n.

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Erstes Kapitel

Städtebauliche Strukturen

1. Individualität städtebaulicher Strukturen Wenn wir eine Stadt beschreiben, beschäftigen wir uns vorwiegend mit ihrer Gestalt, das heißt mit etwas konkret Erfahrbarern: Athen, Rom oder Paris. Diese Erfahrung bezieht sich auf die Stadtarchitektur, die man auf zweierlei Art betrachten kann. Entweder man sieht in ihr ein großes Gebilde, ähnlich einem mehr oder weniger großen, mehr oder weniger komplexen Werk der Ingenieur- oder Baukunst, das mit der Zeit an Umfang zunimmt, oder man konzentriert seine Betrachtung auf einzelne städtebauliche Phänomene, die durch ihre Architektur und das heißt durch ihre spezifische Gestalt charakterisiert werden. In beiden Fällen müssen wir uns aber darüber klar sein, daß die Architektur nur einen Teil einer komplexeren Realität von eigentümlicher Struktur darstellt, daß sie jedoch als einzig überprüfbares Faktum dieser Realität den konkretesten Ansatzpunkt für unsere Untersuchung bietet. vVenn wir uns nämlich ein bestimmtes städtebauliches Phänomen vorstellen, sehen wir es deutlich vor uns. Aus seiner Beobachtung ergibt sich sofort eine Reihe von Fragen, hinter denen weitere, weniger klar umrissene wie die nach der Qualität und der Einzigartigkeit jedes städtebaulichen Phänomens auftauchen. In allen europäischen Städten gibt es große Bauwerke oder ganze Baukomplexe, die einen wesentlichen Bestandteil der Stadt ausmachen, aber nur ausnahmsweise ihre ursprüngliche Funktion beibehalten haben. Ich denke zum Beispiel an den Palazzo della Ragione in Padua. Wenn man ein solches Baudenkmal besucht, ist man überrascht von der Vielzahl seiner Funktionen, die anscheinend in keinerlei Zusammenhang mit seiner Gestalt stehen. Gleichwohl ist es gerade diese Gestalt, die uns beeindruckt, die wir erleben und durchwandern. Diese Gestalt stellt zudem ein die Stadt strukturierendes Element dar, insofern sie einem Bauwerk- mehr als das Material, aus dem es bestehtseinen individuellen Charakter verleiht. Kennzeichnend für sie ist außer ihrer komplexen räumlichen Organisation auch die zeitliche Komponente. Sie wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, der Palazzo della Ragione sei erst vor kurzem erbaut worden. Auch dann könnten wir seine Architektur als solche beurteilen, seinen Stil und damit seine Gestalt bestimmen, aber es fehlte ihm eine Reihe von Elementen, die seine städtebauliche Bedeutung ausmachen. Ein Teil seiner ursprünglichen Qualitäten und Funktionen ist erhalten

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geblieben, ein anderer hat sich vollständig gewandelt. Einige seiner Gestaltelemente sind stilistisch bestimmbar, andere scheinen fremder Herkunft zu sein. Unser besonderes Interesse finden die seit der Bauzeit erhaltenen Qualitäten. Dabei stellen wir fest, daß es sich bei ihnen, obgleich sie vermittels der Materie Gestalt gewinnen und dadurch zu empirischen Daten werden, um geistige Werte handelt. Sie hängen mitder Vorstellung zusammen, diewiruns von diesem Bauwerk machen, mitseiner Bedeutungfürdas Kollektivgedächtnis und mitder Beziehung, die es zwischen uns und der Gemeinschaft herstellt. Dabei darf man allerdings nicht außer acht lassen, daß jeder Mensch heim Besuch eines Gebäudes oder bei der Wanderung durch eine Stadt seine spezifischen Erfahrungen macht und seine individuellen Eindrücke mitnimmt, die sich von denen anderer Menschen unterscheiden. Manche Leute hassen einen Ort, weil er sie an unglückliche Augenblicke ihres Lehens erinnert, anderen erscheint derselbe Ort besonders liebenswert. Auch derartige Erfahrungen im einzelnen und in ihrer Gesamtheit machen eine Stadt aus. Deshalb müssen wir, obgleich das unserem modernen Bewußtsein nicht leichtfällt, dem Raum als solchem eine besondere Qualität zuerkennen, die man in der Antike durch die Weihe eines Ortes zum Ausdruck brachte. Die Einbeziehung dieser Qualität in unsere Untersuchung setzt eine Art der Analyse voraus, die sehr viel tiefer geht als einige vereinfachende psychologische Tests, die sich nur auf die Wahrnehmung von Formen beziehen. Die Betrachtung eines einzigen städtebaulichen Phänomens hat genügt, um uns auf die für seine Charakterisierung wichtigen, hisher aber meist vernachlässigten Merkmale der Individualität, des Standortes, des Entwurfs und des Gedächtnisses zu verweisen. Damit zeichnet sich eine Möglichkeit der Erkenntnis städtehaulischer Phänomene ab, die vollständiger als die übliche ist. Wir müssen nun untersuchen, ob diese charakteristischen Begriffe eine konkrete Anwendung auf die Stadtarchitektur finden können und das heißt auf ihre Gestalt, insofern sie die Merkmale der einzelnen städtebaulichen Phänomene einschließlich ihres Ursprungs- in ihrer Gesamtheit in sich vereint. Die Beschreibung dieser Gestalt, die sich auf unsere Beobachtung stützt, enthält alle empirischen Daten unserer Untersuchung. Ihr Instrument ist die Stadtmorphologie, die uns der Erkenntnis der Stadtstruktur zwar näherhringt, aber sie noch nicht wirklich erfaßt. Alle Wissenschaftler, die sich mit der Stadt beschäftigt haben, sind nicht auf diese Struktur eingegangen, haben aber erklärt, daß es außer den von ihnen aufgezählten Merkmalen städtebaulicher Sachverhalte noch eine Seele der Stadt (>>l'äme de la cite«) gehe, in anderen Worten, die eigentliche Qualität dieser städtebaulichen Tatbestände. So haben die französischen Geographen zwar ein brauchbares deskriptives System erarbeitet, haben aber naeh dem Hinweis darauf, daß die Stadt

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in ihrer Gesamtheit sich selbst erbaue und daß darauf ihre eigentliche Existenzberechtigung beruhe, die letzte Hürde ihrer Untersuchungen nicht genommen, sondern haben darauf verzichtet, die Bedeutung der sich bereits abzeichnenden Struktur zu erforschen. Das lag nicht zuletzt an den Voraussetzungen, von denen sie ausgingen. Denn alle diese Untersuchungen analysieren keine konkreten städtebaulichen Fakten.

2. Die Stadt als Kunstwerk Bevor ich gerrauer auf diese Untersuchungen eingehe, soll indessen eine Grundsatzfrage behandelt werden. Schon bei unseren bisherigen Überlegungen zur Individualität und Struktur einzelner städtebaulicher Sachverhalte sind Kriterien aufgetaucht, die auch zur Analyse eines Kunstwerks geeignet scheinen. In der Tat ist das Ziel unserer Untersuchung zwar, die Natur städtebaulicher Sachverhalte zu klären, aber wir müssen dabei sofort feststellen, daß sie eben dieser Natur nach -nicht etwa nur im metaphorischen Sinn- Kunstwerken sehr ähnlich sind. Sie sind aus Materie erbaut und sind doch mehr als diese Materie, zugleich etwas Bedingtes und etwas Bedingendes1 . Dieser künstlerische Charakter städtebaulicher Phänomene hängt eng mit deren Qualität und Einzigartigkeit zusammen und ist deshalb ein wichtiger Lewis Mumford schreibt in >>The Culture of CitiesDerartige Regionen unterscheiden sich von der Wildnis dadurch, daß sie eine riesige Ablagerung menschlichen Mühens darstellen ... Dieser Boden ist deshalb nicht ein Werk der Natur, sondern das Werk unserer Hände, er ist eine künstliche Heimat.« 4 Insofern diese künstliche Heimat gebaute Form ist, wohnen ihr aber auch Werte, insClaude Levi-Strauß, Traurige Tropen, Köln 1955, S. 8Zf. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 150ff. 4 Carlo Cattaneo, Agricoltura e morale, in: Notiziario su la Lombardia e altri scritti su l'agricoltura, Mailand 1925. Cattaneo war einer der ersten Historiker, der Sinn für die natürlichen und baulichen Gegebenheiten der Stadt hatte. Aus dieser Sicht griff er auch in die Diskussion um den Bau der Eisenbahnstrecke Mailand-Venedig ein. Sein Biograph Gabriele Rosa schreibt dazu: »Die Mathematiker betrachteten die geographische Frage unter Ausschluß aller jener Faktoren wie Bevölkerung, Geschichte, örtliche vVirtschaft, die ein Abweichen von einer Geraden bedingt hätten. Es bedurfte

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besondere die Permanenz und das Gedächtnis, inne. Die Stadt lebt in ihrer Geschichte. Diese Beziehung zwischen Ort, .Menschen und Kunstwerk, die der Entstehung einer Stadt und ihrer Entwicklung auf ein ästhetisches Ziel hin zugrunde liegt, erfordert eine komplexe Untersuchungsmethode. Dabei müssen wir unser Augenmerk auch darauf richten, wie die Menschen sich in der Stadt orientieren, das heißt auf die Ausbildung und Entwicklung ihres Raumgefühls. In diesem Bereich sind einige neuere amerikanische Arbeiten bahnbrechend gewesen, insbesondere die Untersuchungen von Kevin Lynch, dessen Raumbegriff sich hauptsächlich auf anthropologische Forschungsergebnisse und städtebauliche Merkmale stützt5 • Almliehe Überlegungen hatte bereits Max Sorre 6 anhand von analogem lVIaterial angestellt, vor allem aufgrund der Beobachtungen von Marcel Mauss über flie Entsprechung von Gruppen- und Ortsnamen bei den Eskimos 7 • Alle diese Untersuchungen verhelfen uns dazu, die Stadt zugleich als Schauplatz und Bestandteil des menschlichen Schicksals zu verstehen. Wenn ich versuche, diesen Schauplatz vermittels seiner Architektur zu deuten, so frage ich mich manchmal, wieso die Stadt erst jetzt als »das lVlenschliche schlechthin« verstanden wird und weshalb man nicht schon früher darauf aufmerksam wurde, daß sie die vVirklichkeit durch die Ausformung der Materie nach ästhetischen Gesetzen gestaltet. Das findet seinen Ausdruck in den Baudenkmälern, den Stadtvierteln, den Wohngebieten und in allen anderen städtebaulichen Phänomenen der bewohnten Erde. Von ihnen ausgehend sind die Theoretiker in die Stadtstruktur eingedrungen, blieben sich dabei aber immer bewußt, daß diese Phänomene die Ansatzpunkte für eine rationale Erfassung dieser Struktur bilden. Die Hypothese, die Stadt sei ein Artefakt, ein Ingenieurhau oder eine Architektur, die sich mit der Zeit weiterentwickelt, erweist sich als Cattaneos scharfen und wendigen Geistes, um Licht in diese neue und schwierige Frage zu bringen ... Er untersuchte, welche Streckenführung den größten privaten Gewinn und öffentlichen Nutzen versprach. Er erklärte, daß man den Baunicht den Schwierigkeiten des Terrains opfern dürfe, denn es handele sich nicht darum, die höchste Geschwindigkeit zu erreichen, sondern aus der Geschwindigkeit den größten Gewinn zu ziehen; daß der meiste Verkehr auf kurzen Strecken stattfinde und daß man eine Verbindung zwischen den alten Zentren herstellen müsse. Denn wer in Italien den Lokalpatriotismus nicht berücksichtige, baue immer auf Sand.>Die Unterteilung einer Stadt in Nachbarschaften (precincts)«, schreibt Peter Hall, »ist bei den Colleges in Oxford nnrl Cambridge, den Londoner Inns oj Court und den ursprünglichen Plänen für Bloomsbury, von dem der gesamte Durchgangsverkehr durch Tore ferngehalten werden sollte, von Architekten und Ingenieuren seit Jahrhunderten instinktiv vorgenommen worden.«25 Städte unterscheiden sich auch in ästhetischer Hinsicht durch die jeweilige Spannung zwischen Standort und Bebauung, in ihren verschiedenen Stadtteilen. Diese Spannungen haben nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension, die sich sowohl auf die Permanenz von Phänomenen mit all ihren Implikationen als auf architektonische Situationen auswirkt, die durch das Ensemble von Bauten aus verschiedenen Zeiten entstehen. In diesem Sinn besitzen die einstigen Randzonen von Großstädten, die in einer Verwandlung begriffen sind, ihre spezifische Schönheit. London, Berlin, Mailand oder Moskau überraschen uns durch unerwartete Durchblicke und Perspektiven. Mehr noch als ihr gewaltiger Flächenumfang vermitteln uns die unterschiedlichen Entstehungszeiten der Bauten am Stadtrand von Moskau durch den ästhetischen Genuß, den sie uns bieten, das konkrete Bild einer im Umbruch befindlichen Kultur, einer Veränderung der Sozialstruktur. Natürlich können wir uns schon deshalb nicht auf die ästhetischen \Virkungen solcher chronologischen Ent\vicklungen verlassen, weil nichts ihr Fortbestehen und ihren Fortgang garantiert. "\Vichtig aber ist, daß wir diesen Mechanisnms verstehen und wissen, was wir angesichts dieses Sachverhalts zu tun haben. 1\Ieiner Auffassung nach sollten vvir dabei nicht versuchen, den Vorgang als solchen bis in die letzte Einzelheit unter unsere Kontrolle zu bringen, sondern nur die wichtigsten städtebaulichen Phänomene, die im Lanf seiner Entwicklung entstehen. Daß sich das Bild einzelner Stadtteile im Lallf der Zeit verändert, 25

Peter Hall, London 2000, London 1963.

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hängt weitgehend mit Verfallserscheinungen zusammen. Dieser V erfall, der allgemein als obsolence bezeichnet wird, tritt vor allern bei modernen Großstädten auf und wurde in Amerika, wo er besonders häufig vorkommt, bereits untersucht. Dabei erwies er sich als die Folge davon, daß in der Cmgebung eines Baukomplexes (innerhalb einer Straße oder eines Stadtviertels) der Boden einerneuen Nutzung zugeführt wird. Derartige Slums halten deshalb nicht Schritt mit der übrigen Stadtentwicklung, sondern stellen im Verhältnis zu ihr rückständige Inseln dar. Während sie also einerseits Zeugnis von der Architektur einer Stadt in einer vergangeneu Zeit ablegen, bilden sie andererseits eine Bodenreserve. Damit liefern sie den Beweis dafür, daß auch die Grundstücke zu den städtebaulichen Tatbeständen gehören und daß ihre Veränderungen von äußeren Cmständen abhängig sind. Diese äußeren Umstände sind die Folge von Entscheidungen. Deshalb ist die Entscheidungsfreiheit von grundlegender Bedeutung für den Städtebau. Denn ob zum Beispiel mehr oder weniger hohe Häuser gebaut werden, ist keine Frage von deren architektonischer oder typologischer Bewertung, sondern eine Sache der Stadtplanerischen und damit politischen Entscheidung.

10. Geographie und Geschichte Geografia o historia segun que nos observen o cuando nos pensamos. Garlos Barral

Bisher habe ich mich vor allem mit den Wohngebieten und den primären Elementen und mit der Bedeutung der Stadtteile für die Stadtstruktur beschäftigt. Im Zusammenhang damit bin ich auf die großen Baudenkmäler, ihre wechselnde Nutzung und das Verständnis der Stadt zu sprechen gekommen. Dabei handelte es sich zum Teil um methodische Fragen, die nach einer Systematisierung drängen. Möglicherweise habe ich nicht den kürzesten Weg eingeschlagen, um zu dieser Systematisierung zu kommen. Es kam mir aber darauf an, mich an konkrete Fakten zu halten und auf die Beziehung zwischen Mensch und Stadt hinzuweisen. Zu diesem Zweck habe ich die Stadt als Artefakt oder Kunstwerk bezeichnet. Wenn wir dieses Artefakt beobachten und beschreiben oder seine Strukturelemente zu verstehen suchen, stellen wir fest, daß sich die geographischen Gegebenheiten einer Stadt nicht von deren historischen Elementen trennen lassen und daß die Stadtarchitektur als konkreter Ausdruck der Stadt als »des Menschlichen schlechthin« ohne deren geographische Voraussetzungen nicht zu verstehen ist. Das ging auch aus allen von uns zitierten Äußerungen von Autoren hervor, die sich mit dem Phänomen

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Stadt beschäftigt haben. »Die Kunst der ArchitekturDie geplanten Städte sind als Städte konzipiert und gegründet worden, während die nicht geplanten Städte nicht nach einem Entwurf, sondern aus Siedlungen entstanden sind, die sich im Lauf ihrer Entwicklung als geeignet erwiesen, Stadtfunktionen zu übernehmen. Ihr Stadtcharakter hat sich erst allmählich ergeben, und ihre Struktur resultiert in der Hauptsache daraus, daß rings um einen Siedlungskern weitere Bauten entstanden.« 29 Bei näherem Zusehen erweist sich diese Klassifizierung indessen als unzulänglich und in vieler Hinsicht angreifbar. Denn schon ein Siedlungskern als solcher besitzt, sofern sich aus ihm eine Stadt entwickeln kann, in nuce Stadtqualität. Andererseits möchte ich aber auch einen »Plan« ebenso wie eine Festung oder einen Tempel als ein primäres Element betrachten. Ob dieser Plan wie in Leningrad zu einer Stadtgründung führt oder wie in Ferrara einer bereits vorhandenen Stadt sein Gepräge gibt, scheint mir dabei verhältnismäßig unwichtig zu sein, denn im einen wie im anderen Fall stellt die Verwirklichung des Planes keine endgültige Lösung für die Stadtgestalt dar, sondern kennzeichnet wie alle anderen primären Elemente nur eine bestimmte Entwicklungsphase dieser Stadt. Infolgedessen spielt es auch kaum eine Rolle, ob eine Stadt sich aus einem geordneten oder ungeordneten Siedlungskern entwickelt oder ob ihr Kristallisationspunkt sogar nur eine natürliche Gegebenheit ist, obgleich das zu jeweils anderen morphologischen Konsequenzen führt. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Meister der Stadtanalyse wie Chabot und Poete nur flüchtig auf die Unterscheidung zwischen geplanter und ungeplanter Stadt eingehen. Für Chabot handelt es sich dabei lediglich um ein architektonisches Problem, das die Grundlage 29

Arthur E. Smailes, The Geography of Towns, London 1953, S. 103.

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für städtebauliche Maßnahmen bildet. Größere Bedeutung räumt verständlicherweise Lavedan dieser Unterscheidung ein, nachdem er sich so ausgiebig mit der Architektur und der Struktur der französischen Städte beschäftigt hat. Wenn er vom >>Plan>Mag es sich um eine spontan entstandene oder eine geplante Stadt handeln, immer sind ihr Plan und ihre Straßenführung keine Zufallsprodukte. In beiden Fällen gehorchen sie bestimmten Regeln, im einen Fall freilich unbewußt, im anderen bewußt und deutlich. Ein Ansatzpunkt für diesen Plan aber muß immer vorhanden sein.Monuments de la France>Halb Künstler, halb Gelehrte widmen sie sich der Beobachtung und der Kritik ... >Dictionnaire raisonm\ de l'Architecture Fran~;aise du XI au XVI Siede«. Ein besonderes überzeugendes Beispiel für dessen Darstellungsmethode ist die Beschreibung der von Richard Löwenherz 6

Alexandre de La Garde, Monuments de la Fr11-nce, Paris 1816, S. 57.

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erbauten normannischen Festung Chateau-Gamard7. Aus der Analyse ihres Baus, ihrer Lage am Ufer der Seine und ihrer militärischen Bedeutung ergibt sich zusammen mit den Hinweisen auf die frühere Bebauung ihres Standortes und die Psychologie der Könige von Frankreich und England, die um sie kämpften, ein Bild ihrer individuellen Struktur. Wie in vielen anderen Beschreibungen vermittelt Viollet-le-Duc dabei nicht nur die unmittelbare Anschauung französischer Architektur und ihrer Umgebung, sondern läßt auch die Geschichte Frankreichs vor dem Leser erstehen. So führen Viollet-leDucs Analysen des einzelnen Bauwerks durch die Einbeziehung geographischer und soziologischer Aspekte über das bloße Verstämlnis der Architektur hinaus zu dem der Stadtstruktur als einer menschlichen Schöpfung. Dabei entdeckt er, daß das Wohnhaus derjenige Bestandteil der Architektur ist, in dem Sitte, Brauchtum und Geschmack einer Bevölkerung ihren deutlichsten Ausdruck finden. Grundriß und Struktur des Hauses ändern sich nämlich nur sehr allmählich. Ausgehend von den Grundrißuntersuchungen von vVolmhäusern rekonstruiert Viollet-le-Duc die ursprüngliche Gestalt der Stadtkerne und bahnt damit eine vergleichende Untersuchung der Typologie des französischen Hauses an. Nach derselben Methode beschreibt er auch rlie von den französischen Königen neugegrünrleten Städte. In Monpazier ist nicht nur die Stadt mit ihren geradlinigen Straßen regelmäßig angelegt, auch alle Häuser sind gleich groß und haben denselben Grundriß. Deshalb waren auch die Lebensbedingungen für alle Bewohner dieser privilegierten Häuser gleich. Die Untersuchung der Parzellen und der durch sie gegebenen Aufteilung der Stadt läßt bereits Viollet-le-Duc ahnen, daß sich aus diesen konkreten Daten eine Geschichte der sozialen Klassen in Frankreich ableiten läßt. Damit nimmt er Tricarts Sozialgeographie und ihre Schlußfolgerungen in gewisser \V eise vorweg. Nur die besten Arbeiten der französischen Geographenschule zu Anfang dieses Jahrhunderts sind von ebenso großer wissenschaftlicher Bedeutung. Zu ihnen gehört Albert Demangeons Versuch einer Klassifizierung des französischen Bauernhauses nach seinen Haupttypen8. Demangeon geht bei dieser Untersuchung von einer Beschreibung des ackerhaulieh genutzten Geländes als einer künstlichen Landschaft aus und betrachtet das Bauernhaus in diesem Zusammenhang als ein statisches Element, dessen Entwicklung langsamer und komplizierter als die der Landwirtschaft vor sich geht und ihr keineswegs immer entspricht. Dadurch ergehen sich die Frage nach den typolo7 Viollet-Le-Duc, a. a. 0., Stichwort »Chateau«; vgl. A. Deville, Histoire du Chateau Gaillard et du Siege qu'il soutint contre Philippe-Auguste en 1203 et 1204, Rouen 1849. 8 Albert Demangeon, Problemes de Geographie humaine, Paris 1942, S. 261.

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gischen Konstanten >Una citta eterna- quattro lezioni da 27 secoliFür uns ist am interessantesten, daß das pomoerium, der Anger innerhalb und außerhalb der Stadtmauer, auch die Grenze für die städtische Bebauung war, deren Fläche vor allem aus militärischen und Verwaltungsgründen möglichst klein gehalten wurde. Das konnte natürlich nicht verhindern, daß der ärmste Teil der Bevölkerung, der auch nur einen Teil der Bürgerrechte genoß, unerlaubtermaßen außerhalb des pomoerium Baracken baute. Diese continentia bildeten weite halb ländliche Vorstädte, die den heutigen bidonvilles am Stadtrand von Rom glichen.« 19 Vergil, Aenes, Achter Gesang, Vers 390/591 in der Übersetzung von Johann Heinrich Voss. 105

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Städte. Die Unregelmäßigkeit seiner Form wurde schon von Livius kritisiert, der sie auf den raschen Wiederaufbau nach der Brandschatzung durch die Gallier zurückführte. Sie entspricht aber der Art, wie alle Städte zu jener Zeit sich ausdehnten. Im 4. Jahrhundert verlor das Forum seine Marktfunktion und wurde zu einem öffentlichen Platz im Sinne von Aristoteles, der schreibt: >>Der öffentliche Platz ... darf nie durch Markttreiben verschandelt werden, auch den Handwerkern soll der Zutritt zu ihm verwehrt werdrn ... Der Marktplatz soll fern von ihm liegen und deutlich von ihm abgetrennt sein ... Der Hauch einer modernen Stadt scheint von dieser fernen Welt zu uns zu dringen. Wir haben den Eindruck, daß wir uns in einer Stadt wie Alexandria oder Antiochia nicht allzu fremd gefühlt hätten, ja daß wir uns in manchen Augenblicken dem alten Rom näher als mancher mittelalterlichen Stadt fühlen.>locus« und dem Begriff des Milieus zu unterscheiden, wie er im Zusammenhang mit Architektur und Stadtplanung zumeist gebraucht wird. Bei meinem Versuch, die Bedeutung des Standorts zu analysieren, habe ich mich bemüht, ein komplexes Phänomen so rational wie möglich zu definieren, und bin dabei so vorgegangen wie ein Naturwissenschaftler, der die komplexe Welt der Materie und ihrer Gesetze klären will. Über den psychologischen Wert dieser Analyse habe ich schon zuvor gesprochen. Jedenfalls hat der Standort in dem von mir definierten Sinn keinerlei Berührungspunkte mit dem Begriff des Milieus, das den Begriffen der Illusion und des Illusorischen merkwürdig nahesteht. Redensarten wie » man hatte das Gefühl, ins Mittelalter versetzt zu sein« sind dafür bezeichnend. Diese Auffassung von Milieu hat nichts mit Architektur zu tun, sie versteht das Milieu vielmehr als eine Bühne und fordert infolgedessen die Erhaltung von dessen Funktionen, weil sie d!lvon ausgeht, daß nur sie die Form erhalten. Statt dessen lähmen diese künstlich erhaltenen Funktionen das Leben und wirken so deprimierend wie alle Vortäuschungen vom Bestehen einer entschwundenen Welt, die nur den Zwecken des Fremdenverkehrs dienen. Nicht von ungefähr wird dieser Begriff des Milieus häufig von denen verwendet oder empfohlen, die glauben, sie könnten eine Altstadt dadurch erhalten, daß sie die alten Fassaden konservieren oder sich bei deren Wiederaufbau an die früheren Umrißlinien, Farben usw. halten. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens ist, wenn es sich überhaupt durchführen

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läßt, eine leere, oft sogar abstoßende Bühne. Eines der widerwärtigsten Beispiele dafür ist der Wiederaufbau eines kleines Teiles der Frankfurter Altstadt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem man sich unter Verwendung von pseudo-modernen oder altertümlichen Bauformen an die Abmessungen der gotischen Baukörper hielt. Von dem Eindruck oder der Illusion, die durch solche Baumaßnahmen entstehen sollten, ist in \'Virklichkeit nichts zu spüren. Unter Baudenkmal kann man in einem weiteren Sinn aber auch eine Straße, ein Stadtviertel, ein Dorf verstehen. Wenn man es auf Konservierung abgesehen hat, muß man deren Gesamtheit erhalten, wie es die Deutschen in Quedlinburg getan haben. Auch wenn es einigermaßen bedrückend sein muß, in einer solchen Stadt zu leben, läßt sich dieses Verfahren dort insofern rechtfertigen, als dadurch ein eindrucksvolles ::Vluseum der Gotik und das heißt eines wichtigen Teiles der deutschen Geschichte entstand. Eine vergleichbare Erscheinung stellt V encdig dar. Indessen möchte ich mich hier nicht auf die detaillierte Untersuchung einlassen, die für Venedig wie für alle ähnlich gelagerten Fälle notwendig wäre, um zu schlüssigen Ergebnissen zu kommen, sondern möchte noch einmal auf das Forum Romanum zurückkommen. Im Juli 1811 unterbreitete de Tournon dem französischen Innenminister, Comte de 1\Iontalivet, seine Vorstellungen für eine Instandsetzung des Forums: >>Restaurierung der antiken Baudenkmäler. Wenn man auf dieses Thema zu sprechen kommt, denkt man zuallererst an das Forum, den berühmten Platz, auf dem sich derartige Baudenkmäler geradezu häufen und hochfliegende Erinnerungen hervorrufen. Die Restaurierung dieser Baudenkmäler besteht vor allem darin, daß man ihren unteren Teil aus der sie bedeckenden Erde ausgräbt, ihren Zusammenhang untereinander wiederherstellt und schließlich bequeme und angenehme Zugangswege zu ihnen anlegt ... Der zweite Teil des Projekts sieht eine V crbindung zwischen den einzelnen Bauwerken durch eine abwechslungsreiche Promenade vor. Ein Plan dafür, auf den ich mich beziehen möchte, ist nach meinen Angaben und unter meiner Aufsicht gezeichnet worden ... Schließlichßarf ich noch darauf hinv.:eisen, daß der Palatin, der mit den herrlichen Ruinen seiner Kaiserpaläste ein riesiges Museum darstellt, unbedingt in den anzulegenden Park einbezogen werden sollte. Denn dieser Park würde durch die Bamlenkmäler, die er enthielte, und durch die Fülle seiner Erinnerungsstätten gewiß etwas in der Welt Einmaliges sein.«23 Tournons Idee, die der Planung des Parks vermutlich einen großen Teil der Baudenkmäler geopfert und uns dadurch eines hervorragen23 Castagnoli usw., a. a. 0., S. 537.

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den architektonischen Anschauungsmaterials beraubt hätte, wurde nicht verwirklicht. Aber seit die Archäologie Tournons Vorstellungen übernommen hat, ist die Einbeziehung der Foren in die moderne Stadt zu einem wichtigen städtebaulichen Problern geworden. Ihre Grundvoraussetz11ng ist nämlich, daß man sich bei der Erforschung des Forums nicht mehr auf die Untersuchung seiner einzelnen Baudenkmäler beschränkt, sondern das Forum als ein städtebauliches Ganzes, als konkreten Ausdruck des kontinuierlichen Fortbesteliens der Stadt Rom behandelt. Bezeichnenderweise wurde diese I(lee von der Republik l'tom 1849 aufgenommen und weiterentwickelt. Denn auch diese Revolution fand eine unmittelbare Beziehung zur Antike und knüpfte damit an die Vorstellungen der Pariser l'tevolutionsarchitekten an. Doch erwies sich der Gedanke, die römischen Foren dem Publikum zu erschließen, als so lebendig und unabhängig von seinem politischen Kontext, daß auch die Restauration unter Pius IX. ihn nicht wieder fallenließ. Wenn wir uns aus heutiger architektonischer Sicht erneut mit diesem Problern beschäftigen, so spricht vieles für die Vorschläge von Archäologen des letzten Jahrhunderts, die