Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung: Gesellschaftliche Wahrnehmung und kriminalpolitische Funktion [1. Aufl.] 9783658296193, 9783658296209

Kaum eine Persönlichkeitsstörung ist in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung so negativ konnotiert und mit Kriminalität

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Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung: Gesellschaftliche Wahrnehmung und kriminalpolitische Funktion [1. Aufl.]
 9783658296193, 9783658296209

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Psychopathie und Antisoziale Persönlichkeitsstörung im Kontext gesellschaftlicher Bewertung (Milena Schreiber)....Pages 1-66
Die Eignung der Diagnose ASP zur kriminalpolitischen Kontrolle (Milena Schreiber)....Pages 67-147
Fazit (Milena Schreiber)....Pages 149-154
Back Matter ....Pages 155-171

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Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs

Milena Schreiber

Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung Gesellschaftliche Wahrnehmung und kriminalpolitische Funktion

Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs Reihe herausgegeben von Christine M. Graebsch, Bremen, Deutschland Sven-Uwe Burkhardt, Bremen, Deutschland Johannes Feest, Bremen, Deutschland

In der Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs werden Texte über die Rechtswirklichkeit von Gefängnissen und strafrechtlichen Sanktionen publiziert. Im Fokus der Reihe stehen dem Strafvollzug dienende Haftanstalten, Einrichtungen des forensischen Maßregelvollzugs und der Sicherungsverwahrung sowie andere Orte der Freiheitsentziehung. Umfasst ist aber auch ambulante Überwachung, wie die Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht. Besonderes Interesse gilt den Auswirkungen auf die Betroffenen. Die Reihe richtet sich an Wissenschaft und Praxis in den Bereichen Recht, Kriminologie und Soziale Arbeit sowie an Studierende in insbesondere diesen Fächern.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/14170

Milena Schreiber

Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung Gesellschaftliche Wahrnehmung und kriminalpolitische Funktion

Milena Schreiber FB Sozialwissenschaften, Institut für Kriminologische Sozialforschung ­Universität Hamburg Hamburg, Deutschland

ISSN 2365-5186  (electronic) ISSN 2365-5178 Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs ISBN 978-3-658-29620-9  (eBook) ISBN 978-3-658-29619-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-29620-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Ich danke Prof. Dr. jur. Christine Graebsch für ihre Unterstützung, mit der diese Veröffentlichung erst ermöglicht wurde.

Geleitwort Die Publikation ist aus einer Masterarbeit der Autorin am Weiterbildungsmasterstudiengang Kriminologie der Universität Hamburg hervorgegangen. Die Masterarbeit wurde dort von mir betreut und gemeinsam mit Lorenz Böllinger begutachtet. Milena Schreiber hat sich mit ihrem Thema viel tiefgehender auseinandergesetzt als es im Rahmen des berufsbegleitenden Kriminologie-Masters erwartet werden kann. Die Publikation befasst sich mit der praktisch höchst bedeutsamen antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung sowie der Psychopathie. Solche diagnostischen Zuschreibungen erfahren im Straf- und Maßregelvollzug großen Zuspruch, aber auch außerhalb des Vollzuges in Verbindung mit Kriminalität. Dies verwundert wenig, wenn man sich die diagnostischen Kriterien im Einzelnen anschaut, die weite Übereinstimmung mit dem aufweisen, was als delinquentes Verhalten der Strafverfolgung unterliegt. Es ist daher geboten, sich der Verschränkung dieser Konstrukte im Einzelnen zuzuwenden – eine Aufgabe, die sich Milena Schreiber für ihre Masterarbeit gestellt hatte. Sie kann zeigen, wie die von ihr betrachteten Diagnosebilder der Kriminalisierung eine weitere Zuschreibung als „gestört“ hinzufügen. Dies legt es nahe, von einer Pathologisierung zu sprechen. Das trifft allerdings jedenfalls hinsichtlich der im Rechtssystem aus dem Bestehen einer psychischen Störung abgeleiteten Konsequenzen nicht ganz den Kern. Denn eine psychische Erkrankung in dem Sinne, dass an die Stelle einer Strafe eine therapeutische Behandlung treten würde, schließt an diese Diagnosen dort in aller Regel gerade nicht an. Es liegt daher die Frage nahe, welcher Stellenwert solchen Diagnosen und ihre Verbindung zur Definition kriminellen Verhaltens in der herrschenden Kriminalpolitik zukommt.

VIII

Geleitwort

Die Funktionalität der antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung für aktuell vorherrschende kriminalpolitische Bestrebungen zeigt sich in besonderem Maße am Beispiel der Gesetzgebung und Rechtsprechung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Denn hier hat die Legislative mit dem zum 1.1.2011 in Kraft getretenen Therapieunterbringungsgesetz in frappierender Offenheit eine Regelung getroffen, die es erlauben sollte, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Sicherungsverwahrung in Deutschland zu umgehen. Dafür wurde das Konstrukt der „psychischen Störung“ in das deutsche Recht ohne Rücksicht auf die dadurch dort entstehenden Friktionen eingefügt. Ziel war es, die Einsperrung in Fällen fortzusetzen, in denen eine „Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist“ (§ 1 Abs. 1ThUG). Das Bundesverfassungsgericht übernahm dieses Konstrukt in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung vom 04.05.2011 für Altfälle. Es findet sich zudem in einem sehr breiten Verständnis von „Altfall“ auch in § 316 f EGStGB. Dadurch wurde die „psychische Störung“ zu einer Legitimationsfigur für zeitlich unbestimmte Freiheitsentziehung mit nur noch gelockerter Verbindung zu der Begehung schwerwiegender Straftaten in der Vergangenheit. Gesetzgebung und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedienten sich dafür äußerst komplexer juristischer Argumentationen, mit deren Widersprüchlichkeit1 sich die Große Kammer des EGMR in ihrer Entscheidung vom 04.12.2018 in der Rechtssache Ilnseher gegen Deutschland (Individualbeschwerden Nr. 10211/12 und 27505/14) nicht auseinandersetzte (vgl. aber das ausführliche Sondervotum des portugiesischen Richter Pinto de Albuquerque zu dem Urteil). Vor diesem gesetzlichen und rechtspolitischen Hintergrund erhält die Konstruktion einer psychischen Störung, deren Diagnose bereits bei Vorliegen von Straftaten in der Vergangenheit naheliegt, natürlich eine besondere Brisanz. Denn sie entfaltet eine legitimatorische Wirkung, die eine Sicherungszwecken dienende Freiheitsentziehung als therapeutische Behandlung rahmt.

Geleitwort

IX

Mit diesem und anderen kriminalpolitischen Anwendungszusammenhängen der Konstruktion antisozialer/dissozialer Persönlichkeitsstörungen befasst sich die vorliegende Publikation ebenfalls. Wir haben sie daher gerne in unsere Schriftenreihe aufgenommen. Dortmund

Christine Graebsch

Inhaltsverzeichnis 1

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Psychopathie und Antisoziale Persönlichkeitsstörung im Kontext gesellschaftlicher Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Psychopathy nach Hare . . . . . . . . . . . 1.1.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung nach DSM-V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Dissoziale Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie . . . . . 1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie . . . . . . . 1.4 Das psychopathy-Konzept und PCL-R nach Hare . 1.5 Kritik an dem Instrument PCL-R nach Hare . . . . 1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen . . . . . 1.7 Die diagnostischen Kriterien der Antisozialen Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Diagnostische Kriterien der ASP und Kriminalität . Die Eignung der Diagnose ASP zur kriminalpolitischen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Verbindung von Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens im Kontext frühzeitiger Intervention . . . . . . . . . . . 2.3 Die ASP im Kontext der Risikoorientierten Bewährungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 4 6 7 8 8 25 32 38 44 56 60 67 69 84 94

XII

Inhaltsverzeichnis 2.4

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Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung im Kontext strafrechtlicher Sanktionen . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Der Begriff der „psychischen Störung“ . . 2.4.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Krankheitswert . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Antisoziale Persönlichkeitsstörung, „Hang“ und Gefährlichkeitsprognose . . .

. 105 . 117 . 129 . 137

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

1 Psychopathie und Antisoziale Persönlichkeitsstörung im Kontext gesellschaftlicher Bewertung Keine Persönlichkeitsstörung ist so untrennbar mit deviantem und kriminellem Verhalten verknüpft wie die Psychopathie, bezeichnet wurde sie sogar als „ […] das wichtigste und nützlichste psychologische Konstrukt, das jemals für kriminalpolitische Belange entdeckt wurde (Harris, Skilling & Rice, 2001)“ (Hare und Neumann 2011, S. 4). Auch in der Kulturindustrie hat die Psychopathie in zahlreichen Filmen, Romanen und Sachbüchern ihren festen Platz, sei es im Genre des „true crime“, „fiction“ bis hin zu psychologischen Lebensratgebern. Hingegen ist der Begriff der Antisozialen Persönlichkeitsstörung, wohl aufgrund seiner geringen Griffigkeit, in seiner Bekanntheit im Wesentlichen auf den klinischen und fachwissenschaftlichen Diskurs beschränkt. Inzwischen findet sich die Psychopathie selbst nicht mehr in den diagnostischen Katalogen wie dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) oder dem ICD (International Classification of Diseases), stattdessen wurde sie aufgrund ihrer negativen Konnotationen durch die antisoziale bzw. dissoziale Persönlichkeitsstörung ersetzt und in der Anzahl der diagnostischen Kriterien heruntergesetzt. Bisher findet sich Unstimmigkeit in der Begriffsverwendung. So erläutert der DSM-V selbst, dass dieses Verhaltensmuster auch als Psychopathie, Soziopathie und Dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird, was sich in Teilen der fachwissenschaftlichen Literatur wiederfindet. Zum anderen findet sich jedoch ebenfalls in der Fachliteratur eine Un© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Schreiber, Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29620-9_1

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1 Psychopathie und ASP

terscheidung der Konzepte „Antisozialer Persönlichkeitsstörung“ und „Psychopathie“. Diese Trennung bildet sich konsequenterweise auch in den Untersuchungen in den unterschiedlich hohen Prävalenzraten ab. Dabei ist die Prävalenzrate der Antisozialen Persönlichkeitsstörung in ein und derselben Population durchgängig höher als die der Psychopathie (Ogloff 2006; Warren und South 2006; Hare, Hart und Harpur 1991; Kosson, Lorenz und Newman 2006; Hare und Neumann 2011), wobei die mit Psychopathie Diagnostizierten eine Teilmenge derjenigen mit der Diagnose einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung bilden. Das ist ein klares Anzeichen dafür, dass im Zuge der Ersetzung des Begriffes der Psychopathie durch den Begriff der Antisozialen Persönlichkeitsstörung die Schwelle für eine derartige Diagnose einer solchen formal wie faktisch herabgesetzt wurde. Die Untersuchungen beschränken sich nahezu vollständig auf forensische Populationen, womit dieses Teilmengenverhältnis in forensischen Institutionen und Haftanstalten zutage tritt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, sich dieser in der Prävalenz zutage tretenden Differenz zwischen den beiden auch in der Fachliteratur häufig synonym verwandten Begriffen „Psychopathie“ und „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“ zu nähern. Da diese Trennschärfe jedoch konzeptionell wie auch in ihrer Verwendung im fachwissenschaftlichen Diskurs bislang nicht stringent erfolgt ist, wird in einigen Passagen dieser Arbeit gerade in der Bezugnahme auf auch frühere Quellen auf verschiedene Bezeichnungen wie Dissoziale und Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Soziopathie und Psychopathie zurückgegriffen. Beide weisen klare Übereinstimmungen in ihren Diagnosekriterien auf, enstammen sie schließlich derselben Entwicklung. Jedoch sind sie nicht gänzlich deckungsgleich und eben diese Differenz ist es, die die „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“ (der besseren Lesbarkeit halber im weiteren Verlauf als ASP abgekürzt) dazu eignet, sie in noch stärkerem Maße als es die Diagnose der Psychopathie schon erlaubte und nach wie vor erlaubt, im Rahmen kriminalpolitischer Kontrolle und Maßnahmen zu instrumentalisieren. Um sich dem zu nähern wird zunächst das Aufkommen des Begriffes der Psychopathie und dessen Besetzung im Kontext sozio-ökonomischer Entwicklung aufgezeigt. Dieser Entwicklung wird

1 Psychopathie und ASP

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anhand des von Foucault beschriebenen Prozesses der Transformation der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Anormalen nachgegangen. Diese Transformation erlaubte es, das Abweichende zunehmend an der Demarkationslinie eines aufkommenden Postulats der Arbeitsethik zu bemessen, die Abweichung dem Einzelnen zurechenbar zu machen und ihn ständiger Kontrolle zu unterwerfen bis hin zu vollständiger Exklusion. Es ist mithin eine zentrale These dieser Arbeit, dass die historische Verbindung von Kriminalität und Unterschicht sich in dem Konstrukt zunächst der Psychopathie schließlich der Antisozialen Persönlichkeitsstörung weiterträgt. Für eine genauere Betrachtung der gesellschaftlichen und spezifisch kriminalpolitischen Funktion dieser Verknüpfung orientiert sich diese Arbeit weniger an ätiologischen Kriminaltätstheorien, die die Ursache kriminellen Verhaltens letztlich im Individuum selbst verorten, sei es aufgrund einer biologischen Disposition (Lombroso 1894; S. Glueck und E. Glueck 1963; Moffitt 1993), mangelnder Selbstkontrolle (Gottfredson und Hirschi 1990), als eine Folge sozialen Lernens in einem bestimmten Milieu (Sutherland 1968; Cohen 1967; Cloward und Ohlin 1963; W. B. Miller 1974) oder als Reaktion auf strukturelle Ungleichheit (Merton 1995; Agnew 1985), als an den Prämissen des Labeling Ansatzes. Dieser versteht Kriminalität als Folge eines gesellschaftlichen Definitions- und Zuschreibungsprozesses (Lemert 1951; H. S. Becker 1963; Quensel 1970). Für eine kritische Auseinandersetzung mit der hier vermuteten Indienstnahme einer psychiatrischen Diagnose für kriminalpolitische Zwecke, erweist sich der konflikt-theoretische und marxistisch-interaktionistische Ansatz des Labeling als fruchtbar, da er sein Augenmerk auf soziale Machtverhältnisse lenkt. Hier liegt der immer wieder auch empirisch reproduzierten Verbindung von Kriminalität und Unterschicht ein gesellschaftlicher Selektionsprozess zugrunde, der als Sicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse verstanden wird (Sack 1972; Sack 1979; Quinney 1973; Smaus 1986). Daraus ergibt sich die These, dass im Zuge dieses Selektionsprozesses die Verhaltensweisen bestimmter sozialer Gruppen aufmerksamer registriert werden, zudem die Schwelle sie als antisozial einzuordnen,

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1 Psychopathie und ASP

geringer ist, da diesen Gruppen historisch bereits Merkmale zugeschrieben sind, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine große Nähe zu Abweichung und Kriminalität aufweisen. Diese selektive Zuschreibung erweitert damit die beständige Verbindung von Unterschicht und Kriminalität um eine Störung der Persönlichkeit. Diese Trias wird im fachwissenschaftlichen Diskurs beständig bestätigt und reproduziert. Schließlich wird die Eignung der Antisozialen Persönlichkeitsstörung für kriminalpolitische Maßnahmen anhand bereits bestehender strafrechtlicher Instrumente der Kontrolle und Sicherung geprüft. Diese Prüfung auch konkreter strafrechtlicher Maßnahmen erfolgt anhand des seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) 2009 zur Sicherungsverwahrung sukzessiven Einzuges des Begriffes der psychischen Störung in die deutsche Gesetzgebung. Dieser begründet damit eine vierte normative Kategorie neben den bereits bestehenden des § 20 StGB. Es wird also zu prüfen sein, warum es eines zusätzlichen Begriffes außerhalb der Bestimmungen des § 20 StGB bedurfte, wie er inhaltlich belegt ist und welche Implikation er für die strafrechtliche Verwertbarkeit der Antisozialen Persönlichkeitsstörung hat. Es ist eine Vermutung, dass ehemals mit der Psychopathie, nun der Antisozialen Persönlichkeitsstörung ein Störungsbild geschaffen worden ist, das aufgrund seiner diagnostischen Nähe zu kriminellem Verhalten dieses nun erneut genetisch wie sozial „vererbt“ erscheinen lässt. Diese Disposition und Bereitschaft zu persistenten kriminellem Verhalten wird tief im Individuum selbst als Ausfluss einer Störung seiner Persönlichkeit verortet, die durch das ihn umgebende Milieu aktiviert wird. Dieses Konstrukt manifestiert sich schließlich in der Legitimation auch schärfster strafrechtlicher Maßnahmen wie eines zeitlich unbegrenzten Wegschlusses.

1.1 Begriffsbestimmung Der Begriff des Psychopathen ist weder eindeutig, noch einheitlich, noch unumstritten und wurde historisch wie auch aktuell wechselweise mit Begriffen wie Soziopath, antisozialer, bzw. dissozialer Persönlich-

1.1 Begriffsbestimmung

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keit und krimineller Persönlichkeit gleichgesetzt. Zudem gab es unterschiedliche Begriffsentwicklungen im deutschen wie amerikanischen Raum, so dass eine über die Grenzen hinweg einheitliche Auffassung von ihr und entsprechende Auseinandersetzung mit Psychopathie lange Zeit nicht möglich war. Die Psychopathie darf als Vorläufer des Clusters der Persönlichkeitsstörungen gelten, wie wir sie heute kennen und in den zwei großen Manualen, DSM und ICD-10 finden (Ogloff 2006; Stompe 2009; Lösel und Schmucker 2014). Aufgrund dessen, dass die Psychopathie quasi einen „Archetyp“ der heutigen Persönlichkeitsstörungen darstellt, war der Begriff in der Vergangenheit sehr uneinheitlich besetzt. Sichtbar wurde das Bemühen ein Phänomen zu beschreiben und diagnostizierbar zu machen, das nicht die Kriterien der bereits bekannten Psychosen und Neurosen, sondern noch weitläufigere Symptome aufwies, und schließlich recht unspezifisch als eine Störung beschrieben wurde, an der der Betroffene selbst oder die ihn umgebende Gesellschaft leidet (Schneider 1950). Nach wie vor wird der Begriff der Psychopathie auch fachwissenschaftlich uneinheitlich verwendet, häufig ohne vorherige klare Abgrenzung gegenüber anderen Störungsbildern, vornehmlich jedoch ohne Abgrenzung von der Antisozialen Persönlichkeitsstörung. Trotz mangelnder Einheitlichkeit in der Begriffsverwendung findet sich durchgängig ein Defizit moralischen Empfindens als zentrales Merkmal dieser Störung. Indikator dieses Defizits ist die Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Normen und den Rechten anderer und einer daraus resultierenden Rücksichtslosigkeit in interpersonellen Beziehungen (Schneider 1950; Cleckley 1982; W. McCord und J. McCord 1964; S. Glueck und E. Glueck 1963; Hare 1970; Hare und Neumann 2011; Lykken 1995). Sichtbar wird dieses durch ständige Normübertretung und damit auch wiederholtes kriminelles Verhalten. Unter dem Begriff der Psychopathie findet sich auch aktuell noch ein Konglomerat von Diagnosekriterien aus inzwischen voneinander geschiedenen Persönlichkeitsstörungen, wie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung, aber auch der narzistischen wie der histrionischen und nicht zuletzt der noch vergleichsweise recht neuen Borderline-Störung. Allerdings stellt die Überlappung

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1 Psychopathie und ASP

von Symptomen verschiedener Störungsbilder allgemein auch keine psychiatrische Seltenheit dar. Eine Persönlichkeitsstörung bezeichnet ein überdauerndes Muster des inneren Erlebens und Verhaltens, das merklich von den Erwartungen der sozio-kulturellen Umgebung abweicht und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen zur Folge hat (DSM-V, ICD-10). Das Muster ist stabil und andauernd und tritt meist während der Kindheit, spätestens im Jugendalter auf. Das überdauernde Muster ist zudem nicht direkte Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz, einer Hirnschädigung oder -krankheit und lässt sich nicht besser mit anderen psychiatrischen Störung erklären. Für eine erste Einordnung der Begriffe werden im Folgenden die zentralen Merkmale einer „psychopathy“ nach Hare, der Antisozialen Persönlichkeitsstörung nach DSM-V und der Dissozialen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 in aller Kürze aufgeführt.

1.1.1 Psychopathy nach Hare Das psychopathy-Konzept nach Hare bezeichnet ein Cluster interpersoneller, affektiver, lebensstilbezogener und antisozialer Charakterzüge und Verhaltensweisen (Hare und Neumann 2011). Diesem Konzept nach ist der Psychopath jemand, der sich auszeichnet durch einen übersteigerten Selbstwert, das rücksichtslose Verfolgen eigener Ziele, eine unzureichende Verhaltenskontrolle, Impulsivität und einen Mangel an Empathie und Gewissenbissen. Das Gefühlsleben verbleibt oberflächlich und kalt. Diese Kaltherzigkeit wird mit einer ständigen Übertretung sozialer Normen und der Verletzung der Rechte anderer zur Verfolgung eigener Ziele in Verbindung gebracht, ohne die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns tragen zu wollen oder zu können. Das zwischenmenschliche Verhalten ist demnach geprägt von manipulativem Verhalten, oberflächlichem Charme sowie pathologischem Lügen und betrügerischem Verhalten. Diese Eigenschaften beeinträchtigen die Fähigkeit zu langfristigen Liebesbeziehungen, so dass diese meist kurzfristig bleiben und promiskuitiv sind. Die Missachtung sozialer Normen gepaart mit einem

1.1 Begriffsbestimmung

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ständigen Stimulationsbedürfnis erschweren das Verfolgen realistischer und langfristiger Ziele und bedingen frühe Verhaltensauffälligkeiten, einen parasitären Lebensstil bis hin zu polytroper Kriminalität.

1.1.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung nach DSM-V Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen 2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert 3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen 4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert 5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer 6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. 7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat Die Diagnose der Antisozialen Persönlichkeitsstörung darf frühestens mit Vollendung des 18. Lebensjahres gestellt werden, vor Vollendung des 18. Lebensjahres hat die Diagnose der Störung des Sozialverhaltens Gültigkeit.

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1 Psychopathie und ASP

1.1.3 Dissoziale Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 Nach ICD-10 bezeichnet die Dissoziale Persönlichkeitsstörung eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist (ICD-10, F 60.2). Ein weiteres Merkmal ist das Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen. Anhaltende Reizbarkeit kann ein zusätzliches Merkmal sein (Dilling, Mombour und M. Schmidt 2014). Eine Störung des Sozialverhaltens in der Kindheit oder Jugend stützt die Diagnose, muss aber nicht vorgelegen haben. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sollte nicht vor dem 16. oder 17. Lebensjahr gestellt werden.

1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie Die Genese des Begriffes der Psychopathie zeigt, dass die Verknüpfung zu kriminellem Verhalten keine zufällige ist. Es soll hier keine erschöpfende Ausarbeitung der Historie der Psychopathie erfolgen. Jedoch wird mit Darstellung ihres begrifflichen Ursprunges und ihrer Entwicklung die klare Verbindung der Diagnose zu partikularen gesellschaftlichen Interessen herausgestellt. Diese manifestieren sich nicht nur in der Forderung zur Verbindlichkeit spezifischer Normen sondern schließlich auch in einer Pathologisierung der Abweichung davon. Die Konstruktion dieses Störungsbildes wird vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsverhältnisse verdeutlicht. Die Psychopathie hat ihren Ursprung Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Beobachtung von Geistesstörungen, die nicht auf eine Ein-

1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie

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schränkung der Geistestätigkeit, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen zurückgeführt werden konnten und mit denen keine ersichtlichen Zwangshandlungen einhergingen. Dieses Phämomen wurde erstmals in der englischen Übersetzung von Pinel 1806 als „mania without delirium“ benannt (Pinel 1806, 150 ff.) und stellte eine Abgrenzung zu den bereits bekannten Störungsbildern der Psychosen und Neurosen dar. Mit dem Begriff der „moral insanity“ verband 1835 der Engländer Prichard eine Geistes- oder Persönlichkeitsstörung, die trotz intakter Verstandesfähigkeit eine Störung des moralischen Empfindens darstellte (Prichard 1835, 12ff.). Dieses Empfinden beinhaltete den Bezug des Menschen zu seiner sozialen Umwelt unter der Prämisse, der Mensch sei natürlicherweise affektiv durch ein moralisches Wertesystem in Form sittlicher Gefühle an die ihn umgebende Gesellschaft gebunden. Schien diese Gebundenheit anhand beobachteten Verhaltens nicht vorhanden oder gestört, wurde eine Abnormalität angenommen. Foucault beschreibt eingängig die Entwicklung des Verständnisses von Abnormalität im Rahmen immer fortschreitender medizinischer Examination des Körpers und damit einhergehend des Begriffes „Monstrum“(Foucault 2007). So war nach Foucault das Verständnis im Vorwege der fortschreitenden medizinischen Erkenntnisse in die Vorstellung einer nach göttlichen Gesetzen geformten Natur alles Lebenden eingebunden. Körperliche Deformationen, die eine gewisse Schwere aufwiesen, erschienen in diesem Rahmen als Aufhebung dieser göttlichen Zuordnung. Sie galten als eine nach natürlichen Gesetzen unüberwindliche Vermischung von z.B. Genus, wie bei Hermaphroditen, der menschlicher Individualität, wie bei siamesischen Zwilligen, und schließlich sogar Spezies. Ohne Zuordnung von Lebewesen zu den „natürlichen“ Kategorien war ungewiss, welche menschliche Gesetzgebung, Grundsätze und Rechtsprechung auf diese Phänomene Anwendung finden kann, sie standen damit außerhalb der menschlichen Ordnung. Ihre körperlichen Besonderheiten konnten nur darin begründet sein, dass sie mit Bösem im Bunde standen, womit der Rückschluss auf das Charakterliche vollzogen war. Immer weitergehende Fortschritte der Körpermedizin brachten jedoch zutage, dass körperliche Abweichungen in kleinerer wie größerer Form mehr eine breite Spielart

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1 Psychopathie und ASP

der Natur darstellten. Die natürlichen Kategorien wurden fluider, wissenschaftliche Erkenntnisse und Expertentum nahmen nach und nach Einzug in die Rechtsprechung. Nun war weniger die körperliche Besonderheit an sich ausschlaggebend für das Rechtsurteil, sondern mehr und mehr die gesellschaftlichen Erwartungen, welches Verhalten der davon Betroffene an den Tag zu legen hatte. Wies z.B. eine Person beide Geschlechtsmerkmale auf, hatte sie sich je nach körperlicher Dominanz der Merkmale oder nach Wahl entsprechend in Gänze als Frau oder Mann einzuordnen und zu verhalten (Foucault 2007). Lebte die Person beides oder bewegte sich außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen geschlechtlicher Zuordnung, wurde ihr aufgrund der zugesprochenen charakterlichen Mängel sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt. Die ehemals an vornehmlich körperlichen Merkmalen festgelegte „Monstrosität“ wurde fortschreitend an Verhaltenserwartungen und daraus geschlossene charakterliche „Montrosität“ geknüpft. Eine Auswirkung körperlicher Aberrationen auf die charakterliche Entwicklung blieb als gedankliches Konstrukt zwar weiterhin erhalten, diese Auswirkung war jedoch in ihrer Schwere abgeschwächt und wurde nicht mehr als zwingend empfunden. Hingegen wurden die in diesem Zusammenhang beobachteten Verhaltensweisen zunehmend bedeutsamer. In der Beurteilung wurde nun die Aberration des Charakters zentral und gewann damit eine eigene moralische Dimension. Nach Foucault „…läßt sich in jedem Fall eine Veränderung beobachten, die darin besteht, daß in gewisser Weise die moralische Monstrosität, die Monstrosität im Verhalten, autonom wird und die alte Kategorie des Monsters aus dem Bereich der somatischen und natürlichen Verkehrtheit in jenen der bloßen und einfachen Kriminalität verschiebt.“ (Foucault 2007, S. 105). So wandelte sich der Begriff von Monstrosität der Natur in Form körperlicher Deformationen zu einer Monstrosität des Verhaltens und des Charakters. Kriminelles Verhalten als offenbarste Übertretung eines kodifizierten moralischen Normsystems wurde nun zu einer Fehlentwicklung der menschlichen Natur überhaupt.

1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie

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„Das Verbrechen hat eine Natur und der Kriminelle ist ein natürliches Wesen, das aufgrund seiner Natur durch seine Kriminalität charakterisiert ist.“ (Foucault 2007, S. 119). Diese Natur stellte demnach eine Regression in einen der Zivilisation vorgelagerten Zustand dar, denn der Kriminelle scheitert diesem Verständnis nach daran, zu verstehen, dass die Unterordnung seiner originären Interessen unter die des sozialen Körpers, dem er sich zuordnet, letztlich der Erfüllung eigener Bedürfnisse dient, damit selbst Bedürfnis ist. Die gute menschliche Natur zeigte sich in dem Willen und der Fähigkeit zur Unterordnung unter den Rousseauschen Gesellschaftsvertrag. Die Natur des Kriminellen als jemanden, der sich diesem nicht unterzuordnen vermag, mehr noch ein Feind dieser Gesellschaftsordnung ist, war somit eine pathologische. Dabei war diese reibungslose Unterordnung und die Pflicht ihrer Erfüllung seit jeher im Hauptkörper der Gesellschaft also in ihrer breiten Mitte verankert, an der oberen wie unteren Peripherie fand sich die Ausschweifung davon. „Der Despot ist aufgrund seines Status Krimineller, während der Kriminelle per Zufall ein Despot ist.“ (Foucault 2007, S. 126) Beide verweigern die Erfüllung des Gesellschaftsvertrages, indem sie ihre eigenen Interessen über die des Gesellschaftskörpers stellen und sich dem Gemeinwohl nicht unterordnen. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Während der Despot die Gesellschaftsordnung willkürlich nach eigenem Gutdünken gestaltet, sie unverhüllt beugt und damit ihre uneingeschränkte Verbindlichkeit aufhebt, unterläuft der Kriminelle sie im Verborgenen. Ähnlich äußerte sich Foucault in seiner Vorlesung „Die Strafgesellschaft“ hinsichtlich des gesellschaftlich konstruierten Bildes des Landstreichers Ende des 18. Jahrhunderts und des Feudalherrn. Beide stehen in ihrem Müßiggang dem Wohle des Gesellschaftskörpers entgegen. Hier stellt Foucault den klaren Bezug zur Ökonomie her, Landstreicher wie Feudalherr verweigern die Unterwerfung unter die Prinzipien der

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Produktion, unterbrechen vielmehr den gesellschaftlichen Produktionsprozess und schädigen diesen sogar. Sie widersetzen sich damit dem gesellschaftlichen Postulat, dass eben diese Unterordnung fordert. Foucault bezieht sich auf die Beschreibung des Landstreichers und möglichen staatlichen Eingriffen diesem gegenüber von Le Trosne (1764) (Foucault 2015b, 43 ff.). Die von Le Trosne aufgeführten Merkmale des Landstreichers weisen starke Gemeinsamkeiten mit denen der Antisozialen Persönlichkeitsstörung auf, wie Unfähigkeit zu stetem Lebenswandel in Form einer geregelten Beschäftigung, Delinquenz und Kriminalität, Impulsivität, Verantwortungslosigkeit in Form unehelicher Verbindungen und Kinder, aggressive Vorgehensweise ohne Rücksichtnahme auf andere. Diese Analogien zeigen auf, dass das Postulat der Unterwerfung unter den Produktionsprozess durch die Jahrhunderte wirksam ist. Es variiert jedoch das „Label“, mit dem diejenigen, die sich der Unterwerfung entziehen, belegt werden. Ebenso variieret der Bezugsrahmen, in den die Widersetzung eingeordnet wird. Als Label „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“ sind die in der Beschreibung des Landstreichers reinen Verhaltensmerkmale schließlich in den Bezugsrahmen der psychischen Krankheit eingebettet. Mit Überwindung des feudalistischen Systems hin zur steten Entwicklung eines kapitalistischen gewinnt diese Unterordnung des Einzelnen unter den Produktionsprozess zunehmende Bedeutung. „Ab dem Moment, in dem sich die Gesellschaft als ein System von Beziehungen zwischen Individuuen definiert, die die Produktion ermöglichen, indem sie diese zu maximieren erlauben, verfügt man nämlich über ein Kriterium, das es gestattet, den Feind der Gesellschaft zu benennen: jedermann, der dem Grundsatz der Maximierung der Produktion feindlich gesinnt oder abhold ist.“ (Foucault 2015a, S. 80) Dieses Grundsystem bedient sich in Folge mehr und mehr Institutionen, Apparaten der Produktion, der Wissensvermittlung und der Repression, die die Normalisierung des Individuums als innerliche wie äußerliche Voraussetzung für eine reibungslose Eingliederung in den

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Produktionsprozess einleiten, sicherstellen und wiederherstellen sollen. Marginalisierung ist hier nach Foucault kein für sich zu verfolgender Zweck, sie liegt in der Logik des Systems. Sie tritt im Zuge der Widersetzung gegen den Normalisierungsprozess auf und stellt somit die Folge einer erfolglosen Normalisierung dar. Ihre Ursache wird im innerlichen wie äußerlichen Widerstand des einzelnen Individuums gegen die eigene Normalisierung verortet und wird diesem damit persönlich zurechenbar. Der Aspekt der erfolglosen Normalisierung in Form „misslungener Sozialisierung“ und der Widersetzung gegen Normalisierung wird später in der Diskussion um die Endgültigkeit und Implikationen einer Diagnose der Psychopathie bedeutsam sein. Hier liegt die Verantwortung über den Erfolg des Normalisierungsprozesses beim Individuum selbst, insofern es sich selbst zu führen hat. Dieser Normalisierungsprozess als enge Einbindung in die Institutionen zielt auf die Totalverfügung über die menschliche Zeit ab. Sie wird von Foucault als „Einsperrung der Bindungen“ bezeichnet, insofern Bindungen nunmehr nicht weiter endogen innerhalb sozialer Gruppen entstehen, sondern einer Aufteilung des Lebens entlang der und auf die gesellschaftlichen Apparate entsprechen. Sie stellen daher mehr Beschlagnahme als Einsperrung dar. Das menschliche Leben ist nun in Phasen der Einbindung in gesellschaftliche Einrichtungen unterteilt, beginnend mit der Kinderkrippe, dem Kindergarten über die Schule hin zur Ausbildung, dem Studium und schließlich dem Arbeitsplatz bis hin zur Rente, um nur einen Teil zu veranschaulichen. „Die Kontrolle über die Zeit ist einer der Hauptpunkte der Über-Macht, die der Kapitalismus durch das staatliche System, aufbaut.“ (Foucault 2015a, S. 290) Es wird sich zeigen, dass die Konstruktion zunächst des Psychopathen und schließlich der Antisozialen Persönlichkeitsstörung ein Individuum abbildet, dass sich den vom Kapitalismus verlangten Prinzipien widersetzt. Hier will eine Beschlagnahme nicht gelingen, bildet doch der Widerstand gegen Normalisierung ein zentrales Element des konstruierten Störungsbildes. Weitere Elemente bilden die Aussichtslosigkeit einer Korrektur aufgrund von Unempfindlichkeit

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gegen Maßnahmen, der willentliche Entzug aus oder die Unfähigkeit zu einem geregelten Produktionsprozess mit dem Hang zu Müßiggang und Ausschweifung sowie der Bruch biografischer Linearität. „Die Lebenszeit, die von Muße, Vergnügen, Glück und Feiern begleitet sein könnte, musste homogenisiert werden, indem sie in eine Zeit eingegliedert wurde, die nicht mehr die des Lebens der Individuen, ihrer Vergnügungen, ihrer Wünsche, ihrer Körper war, sondern die der Kontinuität der Produktion, des Profits.“ (Foucault 2015a, S. 291) Damit war die Sicht auf das Kriminelle als Ausdruck einer krankhaften Natur, die dem Gesellschaftlichen entgegensteht, etabliert. Gleichzeitig erstarkte die Psychiatrie mit ihrem steten Bemühen, aus dem Bereich der Sozialhygiene heraus und in den Bereich der Medizin als eigenständige Wissenschaft einzutreten. (Dörner 1981). Somit waren die gesellschaftlichen Vorstellungen und Strukturen für ein Diagnosesystem geschaffen, dass auch Geisteshaltungen mit erfasste. Die Rahmung des Kriminellen durch ein System der Normalisierung erlaubte eine Analyse des Kriminellen in Begriffen der sozialen Unangepasstheit und bestärkte den Diskurs über normabweichendes Verhaltens als Psychopathologie. Der Kriminelle war damit jemand, dem gesellschaftliche Werte und Normen fremd sind, und das, obwohl er als Teil dieser Gesellschaft eben jene Institutionen und Apparaturen der Normalisierung durchlaufen hat. Dem Versagen dieser Apparaturen musste ein krankhafter Geisteszustand des Individuums zugrunde liegen. Der Wiederherstellung seiner Normalisierung konnte sich wiederum nur eine der gesellschaftlichen Institutionen annehmen, die Psychiatrie. Die Psychopathie als pathologische Form misslungener Sozialisation wies weder eine ersichtliche Einschränkung der Intelligenz noch Anzeichen einer Psychose oder Neurose auf. Sie war also nicht in das bisherige System augenfälliger Geisteskrankheiten einzuordnen. Damit entfiel zugleich die Orientierung an einem ersichtlichen Krankheitswert, womit die „moral insanity“, deren zentrales Kriterium sich auch in moderneren Konzepten der Psychopathie findet, sich auf einen

1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie

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Defekt des moralischen Empfindens verdichtete. So schrieb Muralt Anfang des 20. Jahrhunderts: „Heutzutage werden unter moralischem Irresein nur angeborene oder in der ersten Entwicklung erworbene, in der Constitution begründete Defectzustände verstanden, deren wesentlicher Zug der Mangel oder die Verkehrung der sittlichen Gefühle und Strebungen ist. Man hat, wohl mit Recht, vorgeschlagen, wegen der großen Verwirrung, die sich um die Moral Insanity gebildet hat, diesen Ausdruck auszumerzen und fortan nur von moralischem Irresein, oder besser von moralischer Imbecillität und moralischer Idiotie, von angeborenem moralischen Schwachsinn und Blödsinn zu sprechen.“ (Muralt 1903, S. 7/8) Trug die „Psychopathia sexualis“ von Krafft-Ebing 1889 erstmals schon den Begriff im Titel, war dieser jedoch auf sexuelle Aberrationen eingeschränkt. Der Begriff der psychopathischen Persönlichkeit erschien einige Zeit später erstmals 1903 in der 7. Lehrbuchauflage von Emil Kraepelin. Ihr vornehmlicher Gesichtspunkt war nun eine Dissozialität. Kraepelin selbst wandte ein der Körpermedizin entlehntes Diagnostiksystem in der Psychiatrie an, das dieser zur Anerkennung als vollwertigem medizinischem und wissenschaftlichem Faches verhalf. Dabei erfüllte die möglichst genaue Kategorisierung eine weitere soziale Funktion des Begreifens und damit auch Beherrschens im wahrsten Wortsinne. „Diagnostizieren entspricht also zunächst dem Ordnungsbedürfnis der Menschen, dem Bedürfnis, in einem bisher undurchschaubaren, chaotischen, freien, vielleicht auch sozial gefährlichen und angstauslösenden Bereich Ordnung zu schaffen durch Einordnen, Klassifizieren, Systematisieren.“ (Dörner 1981, S. 139) Dieses Bedürfnis darf umso mehr für den Bereich der psychischen Devianzen gelten, zumal in einer Zeit, in der sich der aufgeklärte, selbsttätig moralische und arbeitende, also der produktive Mensch

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als Ideal der bürgerlichen Gesellschaft ab dem 17. Jahrhundert dem Irrationalen, Unvernünftigen, Unberechenbaren und damit auch Unproduktiven gegenüber sah, das sich in Zeiten der Industrialisierung und der Wirtschaftskrisen vornehmlich in dem zunehmenden Heer der Nicht-Arbeitenden, Verarmten und Verelendeten fand. „Man wird die Epoche der administrativen Ausgrenzung der Unvernunft (1650-1800) umschreiben können als diejenige, in der die Kirche die Formen der Unvernunft, namentlich Arme und Irre, nicht mehr, die bürgerlichkapitalistische Wirtschaftsgesellschaft noch nicht umgreifen konnte.“ (Dörner 1975, S. 27) Arbeit wurde zum Schlüssel der Teilhabe an der sozio-ökonomischen Ordnung und damit zur gesellschaftlichen Pflicht. Es ist kein Zufall, dass die Psychopathie als Diagnose im Laufe zunehmender Industrialisierung und der mit ihr enstehenden neuen sozialen Probleme ihren Anfang im 19. Jahrhundert nimmt. Sie erfährt in der Bemühung, sie auch begrifflich zu „umgreifen“, in der Folge besondere Aufmerksamkeit. In der Abbildung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen dieser Zeit stellt Psychopathie die Diagnose par excellence dar, bildet sie doch eben jenes gesellschaftliche Postulat der moralischen Verpflichtung zur Vernunft als Herrschaft über die Natur ebenso wie die Pflicht zur Produktivität ab, indem sie nicht das unmittelbare Erleben des Betroffenen oder der Umwelt seiner geistigen Krankheit erfasst, sondern die Abweichung von diesem bürgerlichen Ideal zur Referenzgröße des Ausmaßes der Störung erhebt. Diese Störung stellt eine erhebliche Gefahr für die bestehende und sich verheißungsvoll entwickelnde gesellschaftliche Ordnung dar. Kriminalisierung als „Zwangsmethode der Erziehung zur Arbeitsmoral der untersten Schicht“ (Smaus 1986, S. 191) erhält mit der Diagnose der Psychopathie den Mantel einer gestörten Persönlichkeit und ist damit in ihrer Ursache nicht sozialen Verhältnissen zuzuordnen. Von dem bürgerlichen Ideal abweichendes Verhalten wird kriminalisiert und schließlich pathologisiert, seine Ursache jedoch in einer angenommenen moralischen Minderwertigkeit der Angehörigen

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der unteren Klasse verortet. Dabei erfüllt sie eine herrschaftssichernde Funktion. „Im strukturellen Kontext erweist sich die Kriminalisierung als Bestandteil derjenigen symbolischen Struktur der Gesellschaft, die die Reproduktion des ‚Fußes‘ der gesellschaftlichen Pyramide teils sicherstellt, vor allem aber rechtfertigt.“(Smaus 1986, S. 191) Dieses Konstrukt betraf zunächst den „armen Irren“ (Dörner 1975), wohingegen der bürgerlichen Gesellschaft die Hysterie vorbehalten war. Zwar war die Hysterie gleichermaßen in den Kontext der Unvernunft eingebunden, aufgrund der Besitzverhältnisse nicht jedoch in den der eingeschränkten Produktivität. Für ihre Linderung standen private Einrichtungen zur Verfügung. In diesen herrschte weniger die Kontrolle durch Zwang vor, vielmehr ging es darum das seelische Gleichgewicht durch angenehme Ertüchtigung wiederzuerlangen. Somit unterschied die Psychiatrie schon von ihren frühen Anfängen an in ihrer Praxis sozio-ökonomische Gruppen. 1 Foucaults „Landstreicher“ und „Feudalherr“, ehemals in der Einordnung ihrer die Gesellschaft schädigenden 1

Zu einer zeitweisen demokratisierenden Wirkung im Rahmen des Baus von „Lunatic Asylums“ s. Klaus Dörner in Bürger und Irre, 1975, S.88 ff.. Lunatic Asylums sollten Bürgerliche wie Arme beherbergen. Vorangegangen war im Zuge der Romantik die zunehmend positiven Auffassung des Menschen als gefühlvolles Individuum. Sie stand als Gegenentwurf zu einem die menschliche Vernunft und die Nützlichkeit des einzelnen für die Gemeinschaft überbetonenden Menschenbild der Aufklärung und Industrialisierung. Überstiegen die menschlichen Leidenschaften und das Ausmaß der Gefühle die nervliche Kapazität, drohte das Abgleiten in Unvernunft und Wahnsinn. Die Vorstellung einer natürlichen Disposition zu einer erhöhten inneren Empfindsamkeit betraf mit dieser Entwicklung nun auch vornehmlich jene, die dem Bürgertum zuzurechnen waren. Weltschmerz, verzehrende Liebe, Fern- und Heimweh sowie Melancholie wurden zu Sinnbildern der bürgerlichen tugendhaften Empfindsamkeit. Wahnsinn als Übersteigerung dieser wurde demzufolge aufgrund der im Menschen selbst verankerten Leidenschaften zu einer allgemeinen menschlichen Möglichkeit. Damit wurde jedoch auch das Postulat der Vernunft im Menschen selbst verankert. „Die Empfindsamkeit, der Vorzug des Bürgers, stellt nun die moralische Aufgabe, die durch Beschränkung, Verzicht, zu lösen ist, was mit Erfolg belohnt wird. Versagt man, steigert sich die Empfindsamkeit ins Unnatürlich-Maßlose, ist

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Unproduktivität ebenbürtig, werden nun anhand ihres Besitzstandes voneinander geschieden. Das Postulat, sich dem Produktionsprozess unterzuordnen, gilt nunmehr vor allem dem noch Nicht-Besitzenden, da der Besitzende nach dem proklamierten Prinzip dieser neuen Gesellschaftsordnung eben jenen Besitz durch vorangegangene Disziplin und Produktivität erlangt hat. Auch stellt er mit seinem Besitz die Grundlagen für den Produktionsprozess und ist damit immer Teil von diesem. Die diagnostischen Vorläufer der Psychopathie erfassten somit Verhalten, das in erster Linie die gesellschaftlich Marginalisierten betraf, jene, die sich im Zuge der Industrialisierung und damit dem Wegfall der traditionellen sozialen Zusammenhänge und Arbeitskontexte in den Armutsvierteln der Städte ballten. Der „arme Irre“ rekrutierte sich aus der Gruppe der „working poor“ wie aus den Kriminellen, Bettlern, den Säufern, den Dirnen, allen jenen also, die dem bürgerlichen Ideal der Selbstdisziplinierung zu Vernunft und Produktivität nicht entsprachen. Wurde dem „Irren“ im Menschen vor dem 19. Jahrhundert noch vornehmlich körperliche Bezwingung und Behandlung entgegengesetzt, so wurde mit dem Aufkommen des sozialtherapeutischen Ansatzes dem „Unerwarteten“ und damit immer auch Angstauslösendem mit Beherrschung in Form eines nosologischen Systems psychischer Krankheiten und deren Behandlung begegnet. Mit immer verfeinerter Systematisierung und Einordnung schien das Unvernünftige in seinen Ursachen erkenn- und beherrsch-, schließlich korrigierbar. Hier beginnt die Transformation der Figur des „human monsters“, Krankheit eine der möglichen Strafen.“ (Dörner 1984, S. 65). Heilung versprach die Herausnahme aus der diese Leidenschaften befördernden gewohnten und damit auch priviligierten Lebensführung und die Unterbringung in einer „reizlosen“ Umgebung, dem Lunatic Asylum. Der Bau dieser Asylums trug dabei dem ökonomischen Gedanken hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte Rechnung, wie die Entlastung der arbeitenden bürgerlichen Familie von der Pflege eines geistig Kranken, der Kontrolle des „armen Irren“, der Umlage der Finanzierung der Unterbringung sowie Steigerung der Effizienz durch spezielle Architektur wie dem Panoptikon. Sie standen damit in Kontrast zu den ehemals meist auf dem Land errichteten Anstalten, denen eine romantisch-psychische Anschauung des Wesens zugrunde lag.

1.2 Historischer Hintergrund der Psychopathie

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dessen Referenzrahmen die Natur, Gesellschaft, das Gesetz war, in die Figur des „individual to be corrected“, nun betrachtet und eingebettet in den Kontext erziehender, korrigierender und miteinander verwobener gesellschaftlicher Institutionen, der Familie, der Schule und der Gemeinde. „Als farbloses und banalisiertes Monster ist der Anormale des 19. Jahrhunderts seinerseits unbelehrbar, ein Unverbesserlicher, den man mitten in die Korrektionsanstalt hineinstellen will.“ (Foucault 2007, S. 80) Es ist die Zeit, in der sich die Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft empfehlen will und zu einem wesentlichen Bestandteil des „apparatus of correction“ avanciert. Ihre Etablierung als unverzichtbare Disziplin im Umgang mit jenen Gruppen, die gesellschaftlich als störend oder schädigend angesehen werden, und dem Anspruch ihrer Zuständigkeit für diese gelingt im Rahmen der Ausweitung psychiatrischer Diagnosen. Je umfassender das ohnehin breite Spektrum menschlicher Verhaltensabweichungen durch Diagnosen abgebildet werden kann, desto notwendiger wird ein Ausbau der Psychiatrie als autonome Wissenschaft. Im Zuge dieser Etablierung verbanden sich zunehmend Kriminalpolitik und Psychiatrie, unverkennbar in der Genese der „Sexual Psychopaths Laws“ 1937. Hier waren psychiatrische Vereinigungen maßgeblich für die Formulierung des sozialen Problems „sexual psychopath“ und der konstatierten Notwendigkeit einer eigens für diesen speziellen Tätertypen entwickelten Gesetzgebung (Sutherland 1950, S. 142). Mit der entscheidenden Rolle, die psychiatrische Vereinigungen bei der Formulierung und Verabschiedung dieser Gesetzgebung einnahmen, wurde deren kriminalpolitischer Einfluss sowie ihre vitalen Interessen ersichtlich. Diese waren durchaus auch ökonomischer Natur, da schließlich Psychiater im Rahmen der Erstellung von Gutachten maßgeblichen Anteil am Ausgang des Prozesses sowie an der weiteren Unterbringung des Verurteilten und schließlich am Verbleib in ihrer klinischen Einrichtung hatten. Die ehemals für eine klare Bestimmung zu viele Symptome umfassende Diagnose der Psychopathie wurde im Verlauf zunächst weiter

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nach Typen verfeinert. War Psychopathie ehemals auf Dissozialität als Unfähigkeit zu Gefühlen der Sittlichkeit, des Anstandes und Empathie fokussiert, so löste Kraepelin diesen Fokus im Zuge einer weiteren Ausdifferenzierung psychopathischer Persönlichkeiten in seiner 8. Auflage auf. Die dissoziale Persönlichkeit fand sich nunmehr unter insgesamt sieben Typen psychopathischer Persönlichkeiten: Die Erregbaren, die Haltlosen, die Triebmenschen, die Verschrobenen, die Lügner und Schwindler, die Gesellschaftsfeinde (die dissoziale Persönlichkeit) sowie die Streitsüchtigen (Stompe 2009, S. 4). Ihre Abgrenzung erfolgte ausschließlich aufgrund sozialer Verhaltensweisen und war rein deskriptiv. 1923 wurde die Typologie der psychopathischen Persönlichkeiten auf elf verschiedene Typen von Kurt Schneider erweitert. Dabei verstand Schneider Psychopathien als eine Abweichung von der Norm im quantitativen Sinne, bezogen auf die Verteilung von Persönlichkeiten innerhalb der Normalbevölkerung. Mit dem Blick auf statistische Abweichung distanzierte er sich von dem Begriff des Normalen als subjektiv vorgestelltes Ideal, in dem Bemühen seine Betrachtung einer ethischen oder sozialen Bewertung der Abweichung, des Abnormalen, zu entziehen (Schneider 1950, S. 2/3). Kraepelins Psychopathie-Typen demonstrieren eindringlich, dass es sich bei der Diagnose der Psychopathie um eine Auflistung von Verhaltensweisen handelte, die gesellschaftlich unerwünscht waren. Psychopathen waren jene, die sich willentlich oder unwillentlich dem gesellschaftlichen Diktat der Verhaltensanpassung an gesellschaftliche Forderungen wie Produktivität und Normentreue entzogen, ohne dass dies in Abgrenzung zu den Psychosen oder Intelligenzminderung streng medizinisch begründet zu sein schien, da der Krankheitswert selbst die generelle Fähigkeit hierzu nicht einschränkte. Die Psychopathie diente also als psychiatrische Folie für Devianz und übergab das Phänomen damit an die Medizin und Fürsorge. Schneider selbst formulierte, Kraeplins Typen aus der gesellschaftlichen Unerwünschtheit herauslösen und in charakterliche Eigenschaften einzubetten zu wollen. Sie umfassten den hyperthymischen, depressiven, selbstunsicheren, anankastischen, fanatischen, geltungsbedürftigen, stimmungslabilen, explosiblen, gemütlosen, willenlosen und asthenischen Psychopathen

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(Schneider 1950, 69 ff.). Seine eigene Typologie bezeichnete Schneider als systemlose Typen der Psychopathie, die er anhand von Beobachtungen entwickelte. Eine Form systematisch abgeleiteter Typologie hielt Schneider im Falle von Psychopathie indes für unmöglich, da Eigenschaften nur allgemein systematisierbar seien, die Abweichung davon hingegen gerade nicht (Schneider 1950, S. 50). „Und Menschen, Persönlichkeiten, kann man nicht diagnostisch etikettieren wie Krankheiten und seelische Folgen von Krankheiten. Man kann eben höchstens Eigenschaften an ihnen aufzeigen, […], die sie im auffallenden Maß kennzeichnen, […]. Dieses Hervorheben geschieht stets unter einem besonderen Gesichtspunkt, insbesondere dem des subjektiven Empfindens, des Daseins- oder Lebensgefühl oder dem der Schwierigkeiten, die Umwelt und Gemeinschaft mit diesen Menschen infolge dieser Eigenschaften haben. Neben diesen unter diesen Gesichtspunkten wichtigen Eigenschaften hat der gleiche Mensch unendlich viele andere.“ (Schneider 1950, S. 51) Psychopathie kennzeichnete nach Schneider also keine ganzheitliche Persönlichkeit, sondern bildete lediglich einen Teil dieser unter einem bestimmten Aspekt ab, dessen Beurteilung dem Betroffenen selbst wie auch seiner Umwelt obliegt. Folgt man Schneiders Annahme, erklärt sich das vielfältige aber im Grunde ergebnislose Ringen der Disziplin um eine endgültige und valide Definition von Psychopathie. So bildete der gemütlose Psychopath von Schneider in seiner Beschreibung Kraeplins „Gesellschaftsfeind“ ab. Kraeplins Bezeichnungen waren Schneider zu stark auf die gestörte Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zentriert, damit zu soziologisch und infolgedessen ungeeignet zur Beschreibung charakterlicher Eigenschaften. Ungeachtet dessen, dass auch Schneiders Begriff des „Gemütslosen“ moralisch negativ konnotiert sein dürfte, ist bezeichnend, dass schon Schneider den Begriff antisozial bzw. dissozial als zu starke Konzentration auf die gesellschaftliche Bewertung erfasst hat, dieser sich jedoch bis heute in den zwei großen Diagnostik-Manualen findet und trotz Kritik

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weiterhin verbreitet angewendet wird. Strasser indes sieht darin wenig überraschend eine Haltung der Psychiatrie und der Kriminologie als Ausdruck gesellschaftlicher Abwehrmechanismen. „Die Frage, wie es passieren konnte, dass in der forensischen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts sich ein Wesen konstituiert, das zugleich krank und böse, ein Wesen, das böse ist, weil es abnorm und krank ist - der sogenannte Psychopath -, findet hier eine Antwort: der Blick des forensischen Psychiaters auf den Verbrecher, genauer auf Verbrecher eines bestimmten Typs, Verbrecher, die im Betrachter sehr intensive Abwehr- und Rache-Impulse auslöse, unterliegt der Archaik des Bösen. Diese ermöglicht es, die böse delinquente Handlung auf hochselektive Weise als Ausfluß einer bösen Krankheit, einer Abnormität der Seele oder des Gemüts wahrzunehmen.“ (Strasser 2005, S. 34) Zwar gilt der Psychopath als krank, jedoch nicht als krank im üblichen Sinne. Wesentlich für die Unterscheidung ist hier die Wahrnehmung des Leidens. Mit der Zuordnung als „asozial“ wird der Psychopath nicht als leidend denn vielmehr als störend sogar schädigend empfunden. Die Art der Reaktion orientiert sich infolgedessen auch nicht an der Linderung des Leids des Betroffenen, sondern an dem Störnis, das er für die Gesellschaft darstellt. Somit richten sich die zu ergreifenden Maßnahmen an der kurzfristigen wie langfristigen Eindämmung oder Beseitigung dieses Störnises aus. Manifestiert wurde diese Bewertung des Psychopathen in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten verfolgten methodisch eine „eugenisch bzw. rassenhygienisch motivierte sowie an ökonomischer Effizienz und Leistungsfähigkeit des „Volkskörpers“ orientierte Gesundheitsund Sozialpolitik: Diese führte u. a. zur Zwangssterilisation von über 360.000 sogenannten „Erbkranken“, und zur systematischen Tötung von ca. 250.000 bis 300.000 psychiatrischen Patienten, Behinderten und anderen Erkrankten aus sozialen Randgruppen“ (Roelke 2010, S. 1317). Psychische Erkrankung stellte also allgemein ein lebensbe-

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drohliches Risiko für die Betroffenen dar, gleiches galt für als „asozial“ deklarierte Bevölkerungsgruppen. Psychopathie verknüpfte nun den Terminus „asozial“ mit dem der psychischen Erkrankung, die als solche Identifizierten konnten damit systemopportun unter den Passus des „angeborenen Schwachsinns“ des 1933 erlassenenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fallen. Somit konnte jegliches als volksschädigend eingestuftes Verhalten unter dieses Gesetz subsumiert werden. Dabei legte Kretschmer 1931 in seiner Veröffentlichung „Geniale Menschen“ einen von einem ausschließlich am gesellschaftlichen Störnis orientiertem Konzept der Psychopathie abweichenden Grundstein. Dieser folgte dem Gedanken Schneiders, dass die psychopathische Persönlichkeit zunächst eine vor allem von der Norm abweichende Persönlichkeit sei, ungeachtet der sozialen Folgen und ihrer moralischen Bewertung. Damit bildeten seine Überlegungen das gedankliche Fundament für den jetzigen Typ des „erfolgreichen Psychopathen“. Schon für Kretschmer war die psychopathische Persönlichkeit in ihrer gesellschaftlichen Bewertung nicht zwangsläufig rein defizitär. Entscheidende Impulse für gesellschaftliche Veränderungen wurden seiner Auffassung nach eben nicht aus der Mitte derjenigen angestoßen, die dem Normalbereich und damit den vollends psychisch Gesunden und Gemäßigten zugeordnet wurden. „Betrachten wir nun die genialen Führertypen der großen geschichtlichen Revolutionen, so ändert sich das Bild nur in dem einen Punkt, daß wir Männer von überragender Intelligenz vor uns haben - aber nicht darin, daß diese Männer etwa weniger psychopathisch gewesen wären als die Masse der kleinen Revolutionstypen.“ (Kretschmer 1931, S. 18) Zur Zeit des Nationalsozialismus und dessen Präsentation Hitlers als genialem Führertypen bildete die theoretische Gleichstellung der Persönlichkeitsstruktur Hitlers mit den „Gemütsarmen“, „Antisozialen“ und „Gesellschaftsfeinden“ ein enormes Risiko für Leib und Leben. Wie auch andere Wissenschaften zensierte sich die Psychia-

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trie selbst. Dieser Ansatz wurde folgerichtig aus späteren Auflagen entfernt und nicht weiter verfolgt (Günther 2008, S.12 ff). Was blieb war ein weiterhin ausschließlich an charakterlichen Defiziten orientiertes Psychopathiekonstrukt, das sich im Kontext der Verwertbarkeit des Einzelnen für die deutsche Kriegsindustrie, dem Nutzen für den „Volkskörper“, zunehmend verschärfte. Als Psychopathen Diagnostizierte hatten Arbeitslager, Konzentrationslager, Zwangseinweisung in Heilanstalten und Sterilisation zu fürchten. Parallel sank die Schwelle zur Einordnung von Verhalten als psychopathisch im Nationalsozialismus mit fortschreitender Kriegszeit. Die absolute Unterordnung des Einzelnen zur Nutzung aller verfügbarer menschlicher Ressourcen für die Aufrechterhaltung der Kriegsindustrie sowie für den Kriegsdienst bildete den vorrangigen Maßstab für die Bewertung „abnormen“ Verhaltens. Wer sich Befehlen widersetzte, sich dem Kriegstdienst oder der Rückkehr an die Front zu entziehen versuchte, galt als Bedrohung des nationalsozialistischen Systems und damit als charakterlich minderwertig. Er lief Gefahr als Psychopath gekennzeichnet zu werden, mit allen disziplinarischen Maßnahmen zu seiner Rückführung in das System bis hin zu lebensbedrohlichen Strafen bei wiederholter Weigerung. Der historische Überblick über Aufkommen und Etablierung der Psychopathie als Diagnose zur Zeit der Industrialisierung macht deutlich, dass sie wie kein anderes Störungsbild an das bestehende Normsystem einer Gesellschaft gebunden und damit weit fluider in ihren Kriterien als z.B. Psychosen und ehemaligen Neurosen ist. Die Diagnose Psychopathie erfüllt seitdem eine die bestehende Gesellschaftsordnung sichernde Funktion, insofern sie Verhalten, das dieser Ordnung zuwiderläuft, zu einer Pathologie der Persönlichkeit erklärt. Sie betrifft zudem vornehmlich jene, die gesellschaftlich exkludiert sind. Damit wird das gesellschaftliche Störnis dem Einzelnen zugerechnet und nicht in Betracht gezogen, dass dieses systemimmanent sein und seine Ursache in der Gesellschaftsordnung selbst haben kann. Arbeitete man in der Psychiatrie zur Zeit Schneiders, vor allem in Deutschland, noch an verschiedenenen Typen von Psychopathie, so entwickelten sich in der Nachkriegszeit vor allem in den USA Bemühungen, ein ein-

1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie

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heitliches Konzept der Psychopathie zu entwickeln. In diesem konnten Ausprägungen im Auftreten einzelner Merkmale variieren, sie bildeten aber keine eigenen Typen. Im Folgenden sollen zwei Vertreter genauer dargestellt werden, da ihr Psychopathie-Konzept die fachwissenschaftliche Diskussion sowohl in den USA als auch im europäischen Raum maßgeblich geprägt haben und nach wie vor prägen. Ihre Skizzierung des Psychopathen findet sich gleichermaßen in der kulturindustriellen Verarbeitung und damit auch gesellschaftlichen Wahrnehmung des Psychopathen wieder.

1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie „In Nordamerika erfolgte die konzeptionell klarste Bestimmung eines Persönlichkeitstypus mit gestörtem Sozialverhalten und Delinquenz.“ (Saß 1987, S. 21) Die moderne Bestimmung der Psychopathie, auf dem auch die später von Hare entwikelte „psychopathy“ beruht, basiert auf dem Psychopathie-Konzept von Cleckley. Hervey M. Cleckley entwickelte erstmals 1941 aus einigen Fallstudien ein Profil des Psychopathen, das im Grunde dem Typen des geltungsbedürftigen Psychopathen von Schneider entspricht, jedoch ebenfalls Merkmale anderer Typen, wie dem gemütslosen Psychopathen trägt: „We are dealing here with not a complete man at all but with something that can mimic the human personality perfectly […] So perfect is his reproduction of a whole and normal man that no one who examines the psychopath in a clinical setting can point out in scientific or objective terms why, or how, he is not real“ (Cleckley 1982, S. 228) Der Psychopath nach Cleckley zeichnet sich also durch ein Defizit der Entwicklung einer vollständigen Persönlichkeit aus, hat jedoch die Fähigkeit, eine solche nach außen hin erfolgreich darzustellen. Die aus seinen Fallstudien entwickelten insgesamt 16 charakteristischen Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale fasste er wie folgt zusammen.

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• Superficial charm and good „intelligence“ • Absence of delusions and other signs of irrational „thinking“ • Absence of „nervousness“ or psychoneurotic manifestations • Unreliability • Untruthfulness and insincerity • Lack of remorse and shame • Inadequately motivated antisocial behaviour • Poor judgement and failure to learn by experience • Pathologic egocentricity and incapacity for love • General poverty in major affective reactions • Specific loss of insight • Unresponsiveness in general interpersonal relations • Fantastic and uninviting behaviour, with drink or sometimes without • Suicide rarely carried out • Sex life impersonal, trivial and poorly integrated • Failure to follow any life plan (Cleckley 1982) Auffallend hier ist das „inadequately motivated antisocial behaviour“. Es dient nach Cleckley der Abgrenzung zum rein Kriminellen durch Hervorhebung eines Krankheitswertes nicht nachvollziehbaren Verhaltens. Dabei bemisst sich die Nachvollziehbarkeit nach Cleckley an der Relation von dem zu erwartenden Gewinn zu dem antizipierten Risiko, durch dieses Verhalten negative Folgen zu erfahren. Dies entspricht den Prinzipien der rational choice (G. S. Becker 1978), was angesichts

1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie

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von Cleckleys Profession als Psychiater überrascht, schließlich sind innerpsychische Vorgänge sehr komplex und entziehen sich häufig für die Umwelt ebenso wie für den Betroffenen selbst gerade einer klaren rationalen Abwägung und Zuordnung. Die Unterscheidung zwischen Psychopathen und Kriminellen anhand der Trennlinie der Irrationalität antisozialen Verhaltens begründet mithin auch die Vehemenz der gesellschaftlichen Reaktion auf den Psychopathen. Ist nach dieser Vorstellung das Fehlverhalten des normalen Kriminellen aufgrund der rationalen Abwägungen innerhalb dieses ökonomischen Entscheidungskonzeptes weithin nachvollziehbar, so entzieht sich die vermeintliche Irrationalität der Motivation und des Verhaltens im Falle des Psychopathen. Seine Motivation und Handlungen fallen damit in den Bereich des unmotiviert Bösen, bzw. der reinen Lust am Bösen. Dem normalen Kriminellen ist diesem Prinzip nach mit Erhöhung der Kosten in Form von Strafen sowie ihrer Androhung grundsätzlich beizukommen, womit er weiterhin Teil des gesellschaftlichen Körpers bleibt. Der Psychopath hingegen stellt sich außerhalb dieses Körpers und entzieht sich auch mit seiner Unempfindlichkeit gegen Strafandrohung dessen Zugriffsmöglichkeiten. Ähnlich hob auch das Ehepaar William und Joan McCord die Unterscheidung des Psychopathen gegenüber dem in vielen menschlichen Bezügen noch „sozialen“ Kriminellen hervor. Dem zufolge ist der Psychopath nicht im Sinne der Ablehnung eines bestehenden gesellschaftlichen Wertesystems und Bindung an ein alternatives antisozial. Er ist aufgrund seiner mangelnden Triebkontrolle und Impulsivität unfähig, sich überhaupt an ein Wertesystem zu binden, verdeutlicht durch den Begriff „asozial“. Hier ist Psychopathie nicht an ein bestehendes Norm- und Wertesystem gebunden, womit das Psychopathie-Konzept auch nicht im Zuge von Veränderungen dieses Wertesystemes variieren müsste. Damit negierten die McCords jedoch gleichzeitig den Psychopathen als soziales Wesen schlechthin. Aus der Auflösung der Verbindlichkeit sozialer Verhaltensregeln gründet sich die Unberechenbarkeit des Psychopathen, der wiederum aufgrund der Unfähigkeit zur Bindung an ein Wertesystem gesellschaftlich nur mit Wegschluss, mit Neutralisierung begegnet werden kann.

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1 Psychopathie und ASP „Since the bizarre, erratic behaviour of the psychopath antagonizes society, he is often found in the social waste baskets: the prisons or the mental hospitals.“ (W. McCord und J. McCord 1964, S. 8)

Diese Argumentation hinsichtlich der Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umganges mit Menschen, denen eine psychopathische Persönlichkeit oder ASP diagnostiziert wurde, ist weiterhin aktuell und wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgegriffen. Auch bei Cleckley war mangelndes Scham- und Reuegefühl ein Kriterium, bei den McCords ist es nun mit allgemeiner Herzlosigkeit das zentrale Merkmal. „It is the heartlessness of the psychopath wich most strikingly sets him apart from the normal human being.[…] Yet a most important human element is missing: the sense of guilt.“ (W. McCord und J. McCord 1964, S. 12) Die angenommmene Unfähigkeit des Psychopathen, soziale wie persönliche Bindungen einzugehen, die Gewissenlosigkeit und das rücksichtslose egozentrische Streben nach Bedürfnisbefriedigung etablierten die Verbindung von Psychopathie und schweren Gewalt- und Sexualverbrechen. Diese hergestellte Verbindung stilisierte den Psychopathen zu einer allgemeinen „sozialen Bedrohung“ und hält sie mithilfe tautologischer Schlüsse nach wie vor stabil. So wird die Gewissenlosigkeit aus der Art der Taten gelesen, während die Taten wiederum nur Manifestation einer zutiefst in ihren sozialen Empfindungen gestörten Persönlichkeit sein können. Doch auch dem Psychopathiekonzept widersprechende und damit unerklärliche Merkmale, werden über weitere Merkmale in das ursprüngliche Konzept zurückgeführt. Bestehende und funktionierende familiäre und freundschaftliche Bindungen des Psychopathen, die der angenommenen Unfähigkeit zur sozialen und emotionalen Bindung widersprechen, können mit der Erweiterung des Psychopathiekonzeptes um das Merkmal der Fähigkeit zur sozialen Täuschung und Manipulation zu einer sichtbaren Demonstration der Gewissenlosigkeit und Herzlosigkeit des Psychopathen umdefiniert werden. Damit wird der scheinbar nicht aufzulösende Widerspruch zum Konzept zu einem Beweis seiner Gültigkeit.

1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie

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„Und dennoch ist dieses Prinzip der Erkennbarkeit ein eigentlich tautologisches Prinzip, da die Eigenschaft des Monsters eben darin besteht, sich als Monster zu behaupten, aus sich heraus alle Abweichungen zu erklären, die von ihm ausgehen können, aber an sich unerkennbar zu sein.“ (Foucault 2007, S. 78) Das Merkmal der sozialen Täuschung konnte man bereits bei Schneiders geltungsbedürftigen Psychopathen ausmachen. Hier bildet es jedoch einen eigenen Typen, der in seiner Beschreibung hohe Übereinstimmungen mit der heutigen histrionischen Persönlichkeitsstörung aufweist und in klarer Abgrenzung zum gemütslosen Psychopathen steht. Cleckleys Konzept verbindet nun diese bei Schneider in ihrer Beschreibung kaum zusammenzubringenden Typen, und so nimmt die Fähigkeit zu Manipulation und Täuschung einen zentralen Aspekt bei Cleckley ein. Hingegen fanden sich seit 1980 mit Ersetzung der Psychopathie durch die ASPD (Antisocial Personality Disorder) im DSM-III Täuschung und Manipulation nicht weiter explizit in den Kriterien, einzig möglicherweise vermittelt über das Item „no regard for the truth“. Fand sich bei Näcke das Überspielen des moralischen Defektes noch als eine Spielart im Rahmen einer vorliegenden Psychopathie in Form einer „Raffinirtheit im Reden, Handeln und Unterlassen“ (Näcke 1902, S. 29), so ist die Fähigkeit zur Manipulation auch in dem zur Zeit aktuellen diagnostischen Konzept von Psychopathie bei Hare explizit von Cleckley in seiner PCL-R (Psychopathy Checklist - Revised) (Hare und Neumann 2011, S. 6) aufgenommen. Sie stellt neben einer allgemeinen Gefühlsarmut ein wesentliches Element bei der späteren Konstruktion des „erfolgreichen Psychopathen“ dar. Das Merkmal der Fähigkeit zu Täuschung und Manipulation ist Ergebnis einer retrospektiven Sinnzuschreibung einzelner Taten zu einer Persönlichkeit, die diese Taten in ihrer bisherigen Wahrnehmung nicht erwarten ließ. Am offenbarsten zeigt sie sich in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit meist schweren Gewalt- und Sexualverbrechen. Dieser Prozess der Sinnzuschreibung kann bis hin einer vollkommme-

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1 Psychopathie und ASP

nen Umbewertung einer Persönlichkeit führen und wird von Garfinkel in der Schilderung der „degradation ceremonies“ beschrieben, die innerhalb eines Strafprozesses hohe öffentliche Wirksamkeit entfalten. „The other person becomes in the eye of his condemners literally a different and new person. It is not that the new attributes are added to the old „nucleus“. He is not changed, he is reconstituted. […]; the new identity is the „basic reality“. What he is now is what, „after all“, he was all along.“ (Garfinkel 1956, S. 421/422) Die Zuschreibung dieser Fähigkeit gibt damit vor allem Aufschluss über die Bemühung, das Psychopathie-Konzept gegen jede Widersprüchlichkeit aufrechtzuerhalten und diese Widersprüchlichkeit für dessen Bestätigung dingbar zu machen. Sie gibt ebenso Aufschluss über die gesellschaftliche Bewertung des Psychopathen und die Angst, diesen nicht als solchen identifizieren zu können, da er sich erst im Zuge seines Verbrechens offenbart. Es erschüttert damit die Grundfesten gesellschaftlichen Lebens, das grundsätzliches Vertrauen in die Antizipierbarkeit sozialer Interaktionen voraussetzt. Mit der Feststellung der Tat als Ausdruck einer Persönlichkeit und der Überlagerung der „alten“ im Zuge der Erkenntnis einer „neuen“ wird die Ordnung der Vorhersehbarkeit insofern wiederhergestellt, als dass die Ursache erkannt und benannt ist, sie liegt in der Täterpersönlichkeit selbst. Es bedarf nunmehr einzig der Sammlung und Katalogisierung von Informationen über Täterpersönlichkeiten im Dienste der frühzeitigen Erkennung einer solchermaßen gearteten Persönlichkeit. Dieses Vorgehen kann als kollektive „Coping-Strategie“ einer immer weniger von Gewalt betroffenen und immer mehr auf sexuelle Selbstbestimmung ausgerichteten Gesellschaft im Umgang mit Gewalt- und Sexualverbrechen betrachtet werden. Ihre diametral zu dem tatsächlichen Auftreten zunehmenden Ängste vor Tat und Täter werden vortrefflich von einzelnen Vertretern der psychiatrischen Disziplin wie auch Vertretern strafrechtlicher Verfolgungsorgane in Form populärwissenschaftlicher Literatur pointiert und weiter geschürt. Obwohl Psychopathie in den Diagnosemanualen durch die vermeintlich weniger

1.3 Das moderne Konzept der Psychopathie

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negativ konnotierten Diagnosen der Antisozialen, bzw. Dissozialen Persönlichkeitsstörung ersetzt wurde, werden dieselben Ängste mit ihnen bedient. So schreibt zum Beispiel der Psychiater Donald W. Black in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Bad Boys, Bad Men: Confronting Antisocial Personality Disorder (Sociopathy)“ unter dem bezeichnenderweise „The lurking threat“ genannten Kapitel: „But the true price of ASP is expressed in more subtle ways as well, including a diffuse sense of mistrust in the intentions of others. […] antisocials and their actions contribute to our collective fears and preoccupations. This fears drives us to quicken our steps on a dark street, to lock our cars and houses, to suspect others promises. While theses instincts guard us from danger, they can become harmful if they convince us that nothing is safe, that societys rules no longer afford any protection or assurance of order.“ (Black 1999, S. 5/6) Angesichts der von ihm zitierten erhobenen Prävalenz dieser Störung von 2,5% in der Gesamtbevölkerung ist das eine starke Wirkung, die diese 2,5% auf das Sicherheitsempfinden einer ganzen Gesellschaft haben sollen. Zumindest für das Psychopathiekonstrukt käme für diesen Aspekt die Fähigkeit zur Täuschung in dieser Behauptung zum Tragen, als danach schlichtweg nur wenige Psychopathen als solche erkannt werden. Die tatsächliche Prävalenz und die davon ausgehende Gefahr wird damit als im Vergleich zu dem bisher Erkennbaren weitaus höher dargestellt. Psychopathie findet sich selbst aufgrunddessen, dass bisher keine klare Definition gelungen ist sowie der historisch durchgängigen stigmatisierenden Konnotationen nicht mehr in den zwei großen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-V. So wurde die Psychopathie 1958 von der American Psychiatric Association (kurz APA) zunächst in Soziopathie, 1968 schließlich in Antisoziale Persönlichkeitsstörung umbenannt. Innerhalb des ICD-10 findet sie sich unter der dissozialen Persönlichkeitsstörung F 60.2. Allerdings scheinen die negativen Assoziationen der ehemaligen Psychopathie nun schlicht ein anderes Gewand zu

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1 Psychopathie und ASP

tragen. So ist allein in drei Kriterien der Antisocial Personality Disorder des DSM-V wörtlich der Begriff des „Versagens“ aufgeführt, vornehmlich bezüglich der Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen wie Normtreue, dauerhafter Tätigkeit und langfristiger Lebensplanung. Grundsätzlich sind alle Kriterien als Defizite formuliert, wobei je nach Kontext diese durchaus auch positiv formuliert und bewertet werden könnten. Um nur ein Beispiel zu nennen, könnte die „Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sichheit und der Sicherheit anderer“ auch wertneutral als Risikobereitschaft aufgeführt werden. Schließlich ist mit den Begriffen „antisozial“ und „dissozial“ der behaupteten Sozialschädlichkeit und der gesellschaftlichen Unerwünschtheit nun klar Ausdruck verliehen. An stigmatisierender Wirkung und negativen Konnotationen hat die ASP gegenüber der Psychopathie jedenfalls wohl kaum verloren. Trotz der vermeintlichen Abschwächung der moralisch negativen Implikationen bedienen sich nicht nur die Belletristik sowie psychologische Ratgeber weiterhin des Begriffes der Psychopathie, sondern gleichermaßen eine Vielzahl fachwissenschaftlicher Artikel. In den Diagnosemanualen DSM-V und ICD-10 findet sich inzwischen ein bunter Strauß von Persönlichkeitsstörungen, die in ihren Kriterien teilweise Überlappungen zur ehemaligen Psychopathie aufweisen, wie sie unter anderem Cleckley entwickelt hat. So deckt sich das Bild der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit einem Teil der persönlichkeitsbezogenen bzw. interpersonellen Kriterien der Psychopathie, während die Antisoziale Persönlichkeitsstörung vor allem die Verhaltensmerkmale der Psychopathie abdeckt. „Psychopathie lässt sich auffassen als eine stabile Kombination aus narzisstischen, dissozialen und BorderlinePersönlichkeitszügen.“ (Stompe 2009, S. 7)

1.4 Das psychopathy-Konzept und PCL-R nach Hare Im Folgenden soll näher auf das Diagnoseinstrument der Psychopathy Checklist Revised, kurz PCL-R, von Hare eingegangen werden, da

1.4 Das psychopathy-Konzept und PCL-R nach Hare

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dieses Instrument weitläufig zur Diagnostik einer psychopathischen Persönlichkeit eingesetzt wird. Aufgrund der ereignisreichen Historie des Begriffes Psychopathie und in Abgrenzung zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung wird die Psychopathie nun auch im deutschen Raum „in verschämt anglifizierter Form als psychopathy“ (Böllinger 2010b, S. 147) bezeichnet. Dieses Instrument wurde von Hare in den 1980-er Jahren entwickelt (PCL) und 1990 überarbeitet (PCL-R). Die Entwicklung dieses Instrumentes trägt Hares Gedanken Rechnung, dass es im Prinzip möglich sei einen Einzelwert zu ermitteln, der den Psychopathiegrad einer gegebenen Person anzeige (Hare 1970). Es trifft damit den voranschreitenden Geist der Zeit, sozialen wie innerpsychischen Phänomenen mit immer exakteren Messungen und Zuweisung eines Wertes begegnen zu wollen. So schrieb auch Witter: „Die biologisch-psychologische Beschreibung eines Menschen, die unvermeidlich eine mehr oder weniger breite Schilderung sein wird, muss schließlich irgendwie auf eine kurze Formel gebracht werden, damit sie handlich wird und man mit ihr arbeiten kann.“ (Witter 1970, S. 136) Dienlich ist eine solche kurze Formel, wie auch ein Einzelwert, vornehmlich innerhalb der forensischen Psychiatrie mit ihrer Ausrichtung an juristischen und kriminalpolitischen Forderungen, die Verkürzung auf einen solchen fügt sich zudem widerstandslos in das Prinzip einer „actuarial justice“ ein (Feeley und Simon 1994). Mit der Überprüfung des Vorliegens einer Reihe von Items wird zum einen suggeriert, hinter dieser Sammlung stünde ein echtes Konzept von Persönlichkeit, zum anderen die Möglichkeit der objektiven Feststellung einer solchen. Die Vereinfachung des Psychopathie-Konzeptes in seiner Abbildung und Anwendung, mit dem Resultat eines klaren Ergebnisses, stellt mit der Erstellung der Checklist eine wahre Orientierung der Psychiatrie am Strafsystem als Kunden dar. Und dies obwohl das durch diesen Kurztest abgebildete Konzept eben nicht stabil, einheitlich oder fundiert ist.

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1 Psychopathie und ASP

Die Checklist soll vor allem „neben einer Prägnanz der Einzelmerkmale“ zu einer „verbesserten Akzeptanz bei den Anwendern“ führen, die sich sonst „nicht auf die Komplexität eines Sachverhaltes einlassen wollen“ (Nedopil 1999, S. 125). Nedopil weist hier explizit auf eine zunehmende Einbindung psychiatrischer Diagnostik in den strafrechtlichen Prozess hin, womit die forensisch-psychiatrische Diagnostik sich mehr und mehr in ihrer Verständlichkeit und Anwendung an ihren fachfremden Kunden ausrichtet, den Strafrichtern und Strafverfolgungsorganen. Damit werden komplexe Sachverhalte, wie die Bestimmung einer Persönlichkeit, auf einfache und eindeutige Darstellungen heruntergebrochen und eben nicht in ihrer Gesamtheit erfasst. Die PCL-R ist aktuell das meist akzeptierte Instrument zur Messung von psychopathy (Hare und Neumann 2011). Die PCL-R ist eine Checkliste mit insgesamt 20 Items, denen ein Wert von 0 = trifft nicht zu, 1 = trifft teilweise zu bis 2 = trifft voll zu, zugewiesen wird. Die angegebenen Werte entsprechen gleichzeitig den zusammenzuzählenden Punkten. 40 Punkte sind der höchste erzielbare Wert und entsprechen dem prototypischen Psychopathen. Hare selbst setzt für die Diagnose einer vorliegenden psychopathy einen cut-off-Wert von 30, eine Verbindlichkeit für diesen Wert besteht mithin nicht. So setzen einige europäische Länder den cut-off-Wert auf 25 (Hare und Neumann 2011). Den Cut-Off-Wert von 30 erläutern Hare und Neumann damit, dass in diesem Wertebereich Untersuchungen eine Vergleichbarkeit der Ausprägung des Psychopathie-Grades in unterschiedlichen Populationen nahelegen (Hare und Neumann 2011). Ob ein geringerer Cut-Off-Wert von 25 in einigen europäischen Ländern damit zusammenhängt, dass die Untersuchungspopulationen in Europa im Schnitt einen 2-3 Punkte geringeren Psychopathie-Score als in den untersuchten Populationen der USA aufwiesen (Cooke 2009), kann hier nur vermutet werden. Grundsätzlich verringert ein höherer Schwellenwert indes das Risiko einer inflationären Diagnose und ihrer negativen Implikationen. 18 der 20 Items sind untergliedert in zwei Faktoren, denen wiederum jeweils zwei Komponenten zugeordnet sind.

1.4 Das psychopathy-Konzept und PCL-R nach Hare

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In ihrer Tabelle der psychopathy-Items (Hare und Neumann 2011, S. 6) umfasst Faktor 1 die Komponenten „Interpersonell“ und „Affektiv“, wohingegen Faktor 2 mit den Komponenten „Lebensstil“ und „Antisozial“ Verhaltensaspekte abbildet. Zu beachten ist, dass die zur PCL-R ebenfalls zugehörigen Items „Promiskuitives Sexualverhalten“ (Nr. 11 in der Checkliste) und „viele ehe(ähn)liche KurzzeitBeziehungen“ (Nr. 17) zwar zum Gesamtscore beitragen, sich jedoch in der Auflistung des Zwei-Faktoren-Modells selbst nicht wiederfinden. Die Autoren erläutern diesen Sachverhalt damit, dass beide Merkmale im Rahmen einer Faktorenanalyse auf keinem der Faktoren F1 oder F2 luden (Hare und Neumann 2011, S. 7). Dennoch sollten die zwei Items zu sexuellem Verhalten gedanklich explizit hinsichtlich gesellschaftlicher Bewertungen mitberücksichtigt werden, da die gesellschaftliche Sexualmoral zum Teil tabuisierte und repressive im Sinne einer geforderten Triebunterdrückung ist. Die Bewertung sexuellen Verhaltens kann zudem je nach Geschlechtszuordnung der betrachteten Person gänzlich unterschiedlich ausfallen. Schließlich legitimiert das Diktat der Triebunterdrückung und dessen angenommenes Scheitern im Falle von Sexual- und Gewalttätern rigide strafrechtliche Maßnahmen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Hare selbst führt an, dass die Antisoziale Persönlichkeitsstörung stärker mit den in der PCL-R aufgeführten Komponenten „Lebenstil“ und „Antisozial“ zusammenhänge als mit den interpersonellen und affektiven Aspekten. Damit bildet die Antisoziale Persönlichkeitsstörung vornehmlich die beobachtbaren und dokumentierbaren Verhaltensaspekte der Psychopathie ab, weniger die der Beziehungsgestaltung oder des inneren Erlebens. „Ergebnis ist, dass ASPS in nicht-forensischen wie forensischen Populationen mindestens drei Mal so häufig auftritt wie Psychopathy.“ (Hare und Neumann 2011, S. 9) Nun gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen zur Prävalenz von ASP und psychopathy innerhalb forensischer, psychiatrischer und Suchthilfeeinrichtungen (Poythress, Edens, Skeem und Lilienfeld 2010; Cooke, Michie, Hart und Clark 2004; Kosson, Lorenz und Newman

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1 Psychopathie und ASP

Tabelle 1.1: Items und Faktoren in den Hare PCL-Skalen

PCL-R F1 Interpersonell 1. 2. 4. 5.

Gewandheit/oberflächlicher Charme Erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl Pathologisches Lügen Betrügerisches-manipulatives Verhalten

Affektiv 6. 7. 8. 16.

Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein Oberflächliche Gefühle Gefühlskälte, Mangel an Empathie Mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen

F2 Lebensstil 3. 9. 13. 14. 15.

Stimulationsbedürfnis Parasitärer Lebensstil Fehlen realistischer, langfristiger Ziele Impulsivität Verantwortungslosigkeit

Antisozial 10. 12. 18. 19. 20.

Unzureichende Verhaltenskontrolle Frühe Verhaltensauffälligkeit Jugendkriminalität Widerruf der bedingten Entlassung Polytrope Kriminalität

1.4 Das psychopathy-Konzept und PCL-R nach Hare

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2006; Hare, Hart und Harpur 1991; Moran 1999; Nicholls, Ogloff, Brink und Spidel 2005; Warren und South 2006; Habermeyer, Passow und Vohs 2010; Dudeck, Kopp und Kuwert 2009). Auf welche Untersuchungen außerhalb des forensischen Kontextes sich Hare und Neumann hier konkret beziehen, lassen sie offen. Mithin dürfte eine repräsentative Studie zur Prävalenz von ASP und psychopathy in der Allgemeinbevölkerung außerordentlich schwierig sein, bedenkt man, dass die Diagnose einer solchen Störung fraglos einen sorgsamen psychiatrischen oder psychologischen Diagnoseprozess voraussetzen sollte. Singleton et. al. fanden in ihrer Untersuchung in privaten Haushalten anhand lediglich zwei geführter Interviews eine Prävalenz von unter 1% mit ASP in der britischen Bevölkerung (Singleton, Bumpstead, O’Brien, A. Lee und Meltzer 2003, S. 67). Allgemein gilt die Evaluation des Anteils an von psychopathy oder Antisozialer Persönlichkeitsstörung Betroffenen außerhalb von Institutionen als extrem schwierig bis so gut wie unmöglich, er wird jedoch als nicht höher als 3%-5% eingeschätzt (Ogloff 2006). Innerhalb forensischer Populationen kann man konstatieren, dass wer den Score für die Diagnose einer psychopathy erfüllt, in der Regel auch die diagnostischen Kriterien eine ASP aufweist, da sich allein 60% der Symptome der PCL-R, die sozial abweichenden Verhalten abbilden, in den ASP-Kriterien wiederfinden. „This suggests first, that Antisocial PD criteria are much broader (i.e. less precise) than the PCL-R criteria and, second, that Antisocial PD contains many more behaviourally based (social deviance) symptoms than personality based (interpersonal or affective) symptoms.“ (Ogloff 2006, S. 523) Da sich zeigen wird, dass die ASP kein Diagnosekriterium aufweist, das nicht in der PCL-R abgebildet ist, kann daraus geschlossen werden, dass die Schwelle für ein stark mit Kriminalität assoziiertes Störungsbild in Gestalt der ASP schlicht niedriger liegt als für die einer psychopathy.

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1 Psychopathie und ASP

1.5 Kritik an dem Instrument PCL-R nach Hare Das Konzept der psychopathy nach Hare ist, obwohl im klinischen und juristischen Kontext etabliert, nicht unumstritten. Es wurde im Rahmen mehrerer Untersuchungen im forensischen Setting entwickelt und findet hier auch bevorzugt Anwendung. Über das Ausmaß und die Spielarten der psychopathy nach Hare ist außerhalb des forensischen Rahmen nichts Belastbares bekannt. Diese Konzentration des Messinstrumentes auf den forensischen Kontext gab Anlass zu Kritik innerhalb der Profession, Hares Konzept der psychopathy selbst, vor allem jedoch dessen Operationalisierung in Form der PCL-R, sei vornehmlich ein Instrument zur Risikobeurteilung krimineller Rückfälligkeit, ihr Nutzen außerhalb dieses Zweckes sei damit nicht ausreichend untersucht. „The concept of psychopathy is strongly related to predicting the risk of recidivism in criminal behaviour; 7 years ago, a meta-analysis of the single most important instrument used in psychopathy, the PCL-R, found 16 studies that had assessed the PCL-R as a predictor of institutional adjustment, and 34 studies that had assessed the PCL-R as a predictor of criminal recidivism. In contrast, research addressing psychopathy as a target for treatment is far more limited.“ (Hesse 2010, S. 2) Was kriminalpolitisch höchst dienstbar ist, stößt innerhalb des Fachgebietes nicht ohne Weiteres auf Zuspruch. Die Simplifizierung der Stellung einer Diagnose oder Prognose anhand einer abzuarbeitenden Liste verkennt die komplexen Vorgänge menschlicher Handlungsentscheidungen, vermittelt eine sichere Beziehung zwischen vergangenem und zukünftigem Verhalten und unterschätzt sytematisch die Bedeutung der prozessualen und interpersonellen Auseinandersetzung innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung, wie es sie für eine belastbare Einordnung und eine auf Wahrscheinlichkeit beruhende Vorhersage bedarf. Der Kontext eines Strafprozesses begünstigt die Orientierung an einem zeitlich und vom Aufwand her optimierten Diagnoseverfahren,

1.5 Kritik an dem Instrument PCL-R nach Hare

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das nur bedingt die bisher notwendige Beteiligung des Betroffenen erfordert. Die Präsentation eines eindeutigen Befundes in Form eines einzelnen Wertes erweist sich damit als besonders effizient und der neuen Ausrichtung konform. „Sie [die psychopathy-checklists und vergleichbare Instrumente, Anm. der Verf.] sind nicht nur bei forensischen Psychiatern beliebt, sondern werden sogar zuweilen eigenhändig von Strafrichtern „subsumiert“. Auch diese Praxis indiziert neben anderem die kriminalpolitische Wendung der Strafjustiz in Richtung actuarial justice und Exklusion statt Rehabilitation.“ (Böllinger 2010b, S. 148). So ist eine Diagnostik nach Hare und Neumann mithilfe der PCL-R bereits anhand einer Auswertung der Akten und dem Führen eines halbstrukturierten Interviews, in manchen Fällen sogar ausschließlich anhand der Aktenauswertung möglich (Hare und Neumann 2011). Über die mehr kriminalpolitische als therapeutische Ausrichtung des psychopathy-Konzeptes und des Instrumentes hinaus ist auch dessen begrenzte Eignung innerhalb der Diagnostik kritisiert worden, weil es “[…] ebenfalls nicht für die Klassifizierung der psychopathischen Persönlichkeitstypen im allgemeinen Sinne geeignet ist, sondern den speziellen, für nordamerikanische Verhältnisse charakteristischen Psychopathietypus antisozialer Prägung reliabel erfasst.“ (Saß 1987, S. 21) Untersuchungen zur PCL-R hinsichtlich möglicher kultureller Unterschiede sind bislang nicht sehr vielfältig, mehren sich jedoch und gehen zunehmend auch über den westlichen Kulturkreis hinaus. Eine Vergleichbarkeit der Untersuchungen ist trotz der wachsenden Vielfalt bislang problematisch, da sie in der Auswahl der Samples, der Methode, sowie in Aspekten der Untersuchung stark variieren und damit spezifisch sind. Yokotas Untersuchung über psychopathy nach Hare in Japan fand grundsätzlich Übereinstimmungen des Psychopathiekonstruktes in einer japanischen Population von Studenten, jedoch auch Differenzen in einzelnen Faktoren, so dass er den Schluss zog, dass spezifische Charakteristika von Psychopathen von der jeweiligen Sozialstruktur beeinflusst werden, von der sie umgeben sind (Yokota 2010,

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1 Psychopathie und ASP

S. 910). Zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich dieses Zusammenhanges kamen Sohn und Lee, die allgemein geringeren Psychopathiescores und -raten in asiatischen Populationen glichen sich bei den Asiaten an, die in westlichen Ländern lebten. Es fand sich ein Zusammenhang bei einer stärkerer Ausprägung von Individualismus und höheren Werten in antisozialem Verhalten (Sohn und S. J. Lee 2014). Neben kulturellen Unterschieden fanden Cooke et al. starke Hinweise darauf, dass sozial deviantes Verhalten nicht Symptom der psychopathy sondern eine mögliche Folge davon sein könnte. Daraufhin entwickelten sie ein hierarchisches 3-Faktoren-Modell ohne die Abbildungen der antisozialen Verhaltensmerkmale der PCL-R, die kulturellen Unterschiede waren infolge nur noch marginal (Cooke, Michie, Hart und Clark 2004). Desweiteren fand Cooke im Schnitt höhere PCL-R Scores bei untersuchten Populationen in den USA und Kanada als in Europa. Diese Unterschiede waren besonders hoch bei den interpersonellen und Verhaltenssymptomen, weniger bei den affektiven (Cooke 2009). Die PCL-R in ihrer Abbildung von Verhaltensmerkmalen, vornehmlich devianten Verhaltens, scheint in ihrer Aussagekraft also auf Angehörige eines bestimmten Kulturkreises begrenzt. Gleichermaßen wurden Unterschiede nach Geschlecht im Vorliegen einer psychopathy nach der PCL-R festgestellt. So kommen diverse Studien zu dem Ergebnis, dass annähernd doppelt so viele Männer wie Frauen eine psychopathy aufweisen (Nicholls, Ogloff, Brink und Spidel 2005). Die angenommene bzw. gefundene Prävalenz von psychopathy schwankt bei inhaftierten Frauen je nach Untersuchung von 11% bis hin zu 32% der untersuchten Population (Warren und South 2006), hier jedoch mit einem gesetzten Cut-Off-Wert von 25. Untersuchungen von psychopathy bei Männern setzen regelmäßig einen Cut-Off-Wert von 30, so dass eine verlässliche Einschätzung der Relation zwischen den Geschlechtern schwierig wird. Eine erhebliche Höherbelastung von Männern ist Konsens der herrschenden Meinung (Logan 2009). Als mögliche Erklärung dieser Differenz findet sich häufig die Auffassung, psychopathy äußere sich in Teilen bei Frauen anders, vornehmlich entfielen einzelne Merkmale des antisozialen Verhaltensmusters, womit

1.5 Kritik an dem Instrument PCL-R nach Hare

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jedoch eben das Instrument PCL-R nicht geeignet sei, psychopathy bei Frauen zu erfassen. So fand Grann, dass bei Männern öfter „Oberflächlichkeit und Mangel an Empathie“ vorlag, während Frauen vor allem das Merkmal „Promiskuität“ aufwiesen und gab zu bedenken, dass diese Geschlechterstereotypen ein Artefakt durch die Konstruktion des Instrumentes selbst sein könnten (Grann 2000). Für den deutschen Sprachraum liegen für weibliche Inhaftierte keine Untersuchungen zur Prävalenz von psychopathy vor, jedoch eine Untersuchung zur Prävalenz der Antisozialen Persönlichkeitsstörung unter weiblichen und männlichen Inhaftierten, die im Ergebnis nahezu identisch waren (32,9% der Männer, 30,2% der Frauen) (Eisenbarth 2014). Angesichts der vermuteten Unterschätzung von psychopathy bei Frauen aufgrund des Fehlens antisozialer Verhaltensmuster überrascht dieses Ergebnis. Schließlich bildet die Antisoziale Persönlichkeitsstörung eben gerade die antisozialen Verhaltensmuster der psychopathy ab. Vermutet wird ebenfalls, Frauen erhielten aufgrund der diagnostischen Nähe eher die Diagnose einer Borderline-Störung statt psychopathy (Sprague, Javdani, Sadeh und Newman 2012). Bislang wurden noch keine klaren Ursachen für vermeintliche Geschlechtsunterschiede im Vorliegen einer psychopathy hinsichtlich einer bei Frauen schwächeren Ausprägung antisozialer Verhaltensmuster wie direkter Aggression, begangener Straftaten, hier vornehmlich Gewaltdelikte, institutioneller Auffälligkeit sowie Rückfälligkeit eruiert. Neuro-biologische und hormonelle Erklärungen bezüglich der offensiven und aggressiven Verhaltensaspekte der psychopathy sind jedoch schnell bei der Hand (Eisenbarth 2014).2 Auch stehen die empirischen engen Zusammenhänge bestimm2

Dabei lassen sich gerade die Ergebnisse im Rahmen der Befragungen von Probandinnen im Arbeitskontext hinsichtlich der Unterschiede zwischen Männern und Frauen mit stark psychopathischen Persönlichkeitszügen ohne große Anstrengung auch in Bezug der gesellschaftlich konstruierten Geschlechterrollen interpretieren. So wiesen Frauen mit psychopathischen Zügen, hier vor allem furchtloser Dominanz, in ihrer Selbstwahrnehmung eine höhere Präferenz für Alleingänge statt Teamarbeit sowie Akzeptanz von Manipulationen in Verhandlungen und Bereitschaft, diese einzusetzen auf als die männlichen Probanden. Daraus schließt Eisenbarth, dass sich bei Frauen der dominante-manipulative Stil stärker auswirkt, wohingegen antisoziale Verhaltensmuster geringer ausge-

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1 Psychopathie und ASP

ter Scores nach der PCL-R mit konkreten Verhaltensmustern, vornehmlich gewalttätigem Verhalten, und der Vorhersage von krimineller Rückfälligkeit in Frage. Bei seiner Untersuchung hinsichtlich der Prognosegüte der PCL-R für Rückfälligkeit anhand einer Aktenanalyse identifizierte Nedopil bei einem Cut-off-Wert von 24 einen Anteil von 67% als „falsch Positive“, bei einem höherem Cut-Off-Wert von 30 immer noch einen Anteil von 50%. Bei dem Versuch der sicheren Ermittlung der Rückfallfreien, wurde ersichtlich, dass erst unter einem Cut-Off-Wert von 4 keine mit einem Gewaltdelikt rückfällige Täter mehr lagen (Nedopil 2009). Auch Urbaniok et. al. kommen zu dem Schluss, dass die PCL-R als Prognoseinstrument für Schweizer Populationen eher ungeeignet ist (Urbaniok, Noll und Rossegger 2007). Die Vorhersagekraft der PCL-R bezüglich gewalttätigen Verhaltens und wiederholter Straffälligkeit hat sich bei Frauen als moderat bis gering erwiesen, in einigen spezifischen Fragestellungen sogar als diametral zu dem Erwarteten. „Salekin et al. (1997) found in their follow-up of 78 female inmates that PCL-R scores were unrelated to violent behavior, verbal aggression and noncompliant behavior, and estimated overall dangerousness while incarcerated. They also found out, that psychopathy scores were modest to poor predictors of recidivism when the women returned to the community.“ (Warren und South 2006, S. 5)

prägt sind. Der dominent-manipulative Stil wird den sogenannten „erfolgreichen Psychopathen“ zugeschrieben, die zwar hohe Werte in der PCL-R erzielen, jedoch aufgrund des Fehlens der Merkmale des Clusters „antisozial“ offiziellen Institutionen entgehen. Denkbar wäre auch in der angeführten Befragung eine starke Betonung vermeintlich männlichen Verhaltens von Frauen in Positionen, die gesamtgesellschaftlich vornehmlich von Männern besetzt sind, um diese Postitionen zu bestätigen und zu sichern. Ebenso ist es möglich, dass Frauen ihr eigenes Verhalten zu einem früheren Zeitpunkt als Männer als auffallend aggressiv und offensiv bewerten, da ein solches Verhalten sich grundsätzlich nicht mit dem gesellschaftlichen Frauenbild vereinbaren lässt.

1.5 Kritik an dem Instrument PCL-R nach Hare

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In ihrer eigenen Studie der Prävalenz und Implikationen von ASP und psychopathy im Vergleich bei inhaftierten Frauen stellten Warren und South fest, dass innerhalb der vier Gruppen (1. nur ASP, 2. nur psychopathy, 3. ASP und psychopathy und 4. keinerlei Diagnose) die Gruppe derjenigen, die keine Diagnose erfüllten, zu einem doppelt bis fünffach höheren Prozentsatz wegen schwerer Straftaten wie Mord inhaftiert waren als jene mit einer Diagnose psychopathy oder ASP (Warren und South 2006). Zumindest für Frauen steht damit die angenommene enge Verbindung von ASP, psychopathy und schweren Gewaltverbrechen auf dem Prüfstand. Man könnte nun anführen, dass der Anteil derjenigen Frauen, die schwere Straftaten begangen haben, und die eine Diagnose wie ASP und psychopathy aufwiesen, im Zweifel tatsächlich weit höher war, dass diese Frauen jedoch aufgrund der erkannten Persönlichkeitsstörung nicht inhaftiert, sondern einer therapeutischen Einrichtung überstellt wurden, womit sie in dieser Studie also gar nicht auftauchten. Grundsätzlich scheint die Bereitschaft, im Rahmen eines Strafprozesses die Schuldunfähigkeit aufgrund einer ASP wie psychopathy anzunehmen, allgemein eher gering, wofür die hohen Raten von ASP und sogar psychopathy bei Insassen in Haftanstalten ein Indiz sein dürften (Stompe 2008; Dudeck, Kopp und Kuwert 2009). Fraglich wäre jedoch, ob es vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Geschlechterbilder eine Tendenz gibt, Frauen eher aufgrund einer psychiatrischen Diagnose bei schweren Gewaltverbrechen Schuldunfähigkeit zu attestieren als Männern. Ebenfalls überraschend war das Ergebnis der besagten Studie von Warren und South, dass das 7. Kriterium für die Diagnose einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung, ein Mangel an Reuegefühl, sich zu dem geringsten Anteil in genau jener Gruppe der mit ASP Diagnostizierten fand. Tatsächlich wiesen mehr Frauen ein geringes Reuegefühl auf, denen weder eine ASP noch psychopathy diagnostiziert wurde, als jene mit Antisozialer Persönlichkeitsstörung. „Notably, the seventh criterion for APD, lack of remorse, was endorsed least by the APD Only group - 21.7% versus

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1 Psychopathie und ASP 33.3% (PCL-R Only), 47.7% (APD/PCL-R), and 22.5% (Non- Diagnosable).“ (Warren und South 2006, S. 12)3

Die PCL-R hat demnach in diesem Zusammenhang bei vorliegender psychopathy bei Frauen eine vergleichsweise geringe Vorhersagekraft. Damit ist die PCL-R weit davon entfernt, ein universelles Instrument zum einen zur Bestimmung dessen zu sein, was sie zu messen vorgibt, zum anderen den Zweck der Prognose verlässlich zu erfüllen, für den sie vorzugsweise verwandt wird. Grundsätzlich steht damit angesichts des eingeschränkten Anwendungsbereiches, der wenig einheitlichen, teilweise sogar einander widersprechenden Ergebnisse die Gültigkeit des Konzeptes zur Disposition.

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen In der begrifflichen Historie der Psychopathie bildet das gesellschaftliche Scheitern aufgrund der Unfähigkeit zu normkonformem Verhaltens den definitorisch gemeinsamen Nenner. Angesichts der durchgängig zentralen Bedeutung des gesellschaftlichen Scheiterns für das Konzept der Psychopathie scheint der „erfolgreiche Psychopath“ paradox zu sein. Tatsächlich beschrieb schon Cleckley im Rahmen seiner explorativen Untersuchung mehrere Fälle, bei denen zwar die Merkmale einer Psychopathie vorlagen, die Betroffenen jedoch in gesellschaftlich angesehenen Bereichen und Kreisen tätig waren, das gesellschaftliche Scheitern somit ersichtlich ausblieb. Infolgedessen stellte Cleckley in „The mask of sanity“ heraus, dass ein als flach zu bezeichnendes Gefühlsleben ein sehr viel evidenterer Hinweis auf das Vorliegen einer Psychopathie sei als delinquentes oder kriminelles Verhalten. Der 3

Insgesamt umfasste die Studie von Warren und South 137 Frauen, von denen 17% die Diagnose ASP, 36% keine Diagnose, 15% die Diagnose psychopathy und 32% die Kriterien für die Diagnosen ASP und psychopathy erfüllten. Allerdings wurde der cut-off-Wert der anhand von PCL-R erfassten psychopathy auf 25 statt 30 gesetzt, so dass die Schwelle zu einer psychopathy Diagnose entsprechend verringert wurde (Warren und South 2006).

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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erfolgreiche Psychopath stellte für ihn also keine Unwahrscheinlichkeit dar. „The true difference between them and the psychopaths who go continually to jails or psychiatric hospitals is that they keep up a far better and more consistent outward appearance of being normal.“ (Cleckley 1982, S. 191) Diese Fälle führte Cleckley unter „incomplete manifestations or suggestions of the disorder“ auf. In der Herausstellung einer vorliegenden psychopathologischen Störung fielen jedoch auch hier wieder vornehmlich beobachtbare Verhaltensweisen ins Gewicht, die dem Postulat der Vernunft, der Disziplin, auch in Form von Triebverzicht, und der Produktivität zuwiderlaufen. Diese wurden beschrieben als episodenhafte „Ausbrüche“ in Form inadäquaten Verhaltens aus den ansonsten konformen Verhaltensweisen. Dabei bemaß sich die Unangemessenheit des Verhaltens an der gehobenen gesellschaftlichen Stellung der Patienten, wie in der Schilderung eines Geschäftsmannes, der anstelle des Ausrichtens von Cocktailpartys punktuelle Alkoholexzesse mit Fremden unterer Gesellschaftsschichten vorzog. Anhand dieser und anderer beispielhafter Beschreibungen wird offenbar, dass sich hier die Einordnung von Psychopathie entlang einer Linie soziokultureller schichtspezifischer Erwartungsmuster vollzog. Jedoch verbleibt der alleinige Rückschluss von der Übertretung gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen auf ein flach zu bezeichnendes Gefühlsleben unzureichend, denn er könnte ebensogut gegenteilig gezogen werden. Diese „Ausbrüche“ aus einer von Disziplin und Triebverzicht und damit von der Gefühlunterdrückung geprägten Gesellschaftsschicht könnten gerade Ausdruck einer jenem Menschen abgesprochenen intensiven Gefühlswelt sein. Was an gesichertem Unterschied zwischen dem erfolgreichen Psychopathen und dem institutionell auffällig gewordenem Psychopathen bleibt, ist zum einen zunächst genau dies, dass er nicht auffällig geworden ist, beziehungsweise aufgrund seiner gehobenen gesellschaftlichen Stellung klinische Institutionen wie Strafverfolgungsorgane meiden konnte. Ein systematischer Unterschied ist auch in Folge von Cleckleys Veröffentlichung bis zum heutigen Zeitpunkt nicht

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klar zu benennen, mal bleiben die Norm- und Gesetzesübertretungen aufgrund der Manipulationsfähigkeit schlichtweg unentdeckt, mal äußert sich die Störung weniger in dauerhafter Form, sondern in episodenhaften Exzessen, meist sexueller und rauschinduzierter Natur, mal zeigte sie sich auschließlich in der Schilderung einer oberflächlich bleibenden Gefühlswelt. Aktuelle Untersuchungen stehen vor dem Problem, die Population der erfolgreichen Psychopathen schwerlich aufspüren zu können, da sie eben nicht in Institutionen wie psychiatrischen oder forensischen Einrichtungen aufzufinden sind. In einer Untersuchung, die über die Befragung bestimmter Berufsgruppen nach Kontakt zu möglichen Psychopathen Aufschluss über diesen erhalten wollte, kristallisierten sich für diesen Typen folgende Merkmale heraus. „Consistent with expectations, the successful psychopaths were rated high in assertiveness, excitement-seeking, and activity, and especially low in agreeableness traits like straightforwardness, altruism, compliance, and modesty. Most importantly with respect to the hypotheses of the study, successful psychopaths were high in competence, order, achievement-striving, and self-discipline.“ (MullinsSweatt, Glover, Derefinko, J. D. Miller und Widiger 2010, S. 556) Auffallend ist zunächst, dass mit dieser Beschreibung das bisher4 fast vollständig an Defiziten orientierte Konzept der Psychopathie 4

Eine genaue Datierung, ab wann das Konzept des erfolgreichen Psychopathen aufgekommen und eine entsprechende Relevanz erfährt, bedarf einer eigenen differenzierten Untersuchung. Fachwissenschaftlich kamen vereinzelt immer wieder auch zu frühen Zeitpunkten Überlegungen auf, das Störungsbild der Psychopathie von einem gesellschaftlichen Scheitern zu lösen, wie Kretschmers „genialer Führertyp“ noch vor der Machtergreifung Hitlers zeigt. Diese verblieben jedoch zunächst sporadisch, versandeten und erfuhren in Folge keine explizite Aufmerksamkeit. Massenmedial wäre hier vielleicht für die breite öffentliche Wahrnehmung des Prototyps des erfolgreichen Psychopathen exemplarisch das 1991 veröffentlichte Buch „American Psycho“ von Bret Easton Ellis (Ellis 2006) zu nennen. Im gleichnamigen Film werden Aspekte des postmodernen Kapitalismus, genauer die Aushöhlung und Brutalisierung des Menschlichen

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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nun um Merkmale erweitert oder modifiziert wird, die als persönliche Stärken in einer an Wettbewerb und ökonomischen Erfolg orientierten Gesellschaftsordnung gewertet werden können. Noch herrscht keine Einigkeit über den Topos „Erfolg“ in diesem Zusammenhang, ob dieser rein in der Vermeidung von Strafverfolgung zu suchen ist oder eher dem allgemein gesellschaftlichen Empfinden von ökonomischem Erfolg und Ansehen entsprechen soll. „Reviewing this research, one recent model of neurobiological differences between successful and unsuccessful psychopaths suggests that, while criminal psychopaths engage in behaviors that are classified by „blue-collar“ crime and physical violence, successful psychopaths are more likely to engage in „white-collar“ crimes and relational aggression (Gao and Raine 2010)“ (Stevens, Deuling und Armenakis 2012, S. 42) Hier werden zentrale Aussagen des Labeling Approach offenbar. So trägt kriminelles Verhalten im Sinne des Labeling Approach das Attribut „kriminell“ nicht per se in sich. Vielmehr wird dieses Merkmal erst im Rahmen gesellschaftlicher Definitions- und Zuschreibungsprozesse formuliert und appliziert (Lemert 1951; H. S. Becker 1963; Quensel 1970; Sack 1972; Sack 1979; Smaus 1986; Quinney 1973). Das Augenmerk bei der Ermittlung der Ursachen kriminellen Verhaltens richtet sich demnach vornehmlich auf jene gesellschaftlichen Definitionsprozesse sowie diejenigen sozialen Gruppen, die diese Prozesse bestimmen. Dabei verfügen je nach Ansatz allgemein mächtige gesellschaftliche Gruppen (Quinney 1973) oder konkret die Ober- und Mittelschicht (Sack 1972; Sack 1979; Smaus 1986) über die Hoheit der Definition und Applikation des Labels „kriminell“. In der von Stevens formulierten klaren Zuordnung von Schichtzugehörigkeit, der spezifischen Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung hervorgerufen durch einen amoralischen Materialismus thematisiert. Der Protagonist Patrick Bateman darf seitdem als ikonisch für das öffentliche Bild des erfolgreichen Psychopathen gelten.

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und einer bestimmten Form von Kriminalität wird der Zuschreibungsaspekt des Labeling offenbar. Stevens et al. erfassen damit wahrscheinlich unintendiert, was den tatsächlichen Erfolg des erfolgreichen Psychopathen ausmacht, dass er rein aufgrund anderer Schichtzugehörigkeit zum einen der Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden und damit zum anderen der Gefahr als solcher offiziell benannt zu werden entgeht. Darüber hinaus wird jedoch das Psychopathie-Konstrukt für eben jene höhere Schicht angeglichen, in einer beispiellosen Uminterpretation von ehemals klar als defizitär formulierten Merkmalen zu persönlichen Stärken und Ressourcen. Faktisch wird hier unterschiedlichen sozialen Schichten, vermittelt über die ihnen zugewiesenen kriminellen Verhaltensweisen, jeweils ein bestimmter Psychopathie-Typ zugewiesen, dem wiederum erkennbare neurobiologische Unterschiede zugrundeliegen sollen. Anhand dieser neurobiologischen Unterschiede soll sich nun im Vorwege die zukünftige Form kriminellen Verhaltens vermittels der Zuordnung zu den zwei Psychopathie-Typen vorhersehen lassen. Damit ist die Abkehr des erfolgreichen Psychopathen von der Kriminalität der Unterschicht, dem gewöhnlichen, wenig gerissenen Kriminellen, vollzogen und auf einer gesellschaftlich höherer Schicht angesiedelt. In der psychiatrischen Diagnostik wird die Kopplung des Psychopathie-Begriff mit Antisozialität vornehmlich auf den „Blue-Collar-Kriminellen“ angewandt. Wohingegen im fachwissenschaftlichen Diskurs um den „White-Collar-Kriminellen“ überwiegend eine Kopplung von Psychopathie mit Begriffen wie „Narzissmus“und „machiavellistische Intelligenz“ gebräuchlich sind (Dammann 2017). Zwar werden die die Gesellschaft schädigenden Verhaltensmuster des White-Collar-Kriminellen auch als antisozial bewertet, die Protagonisten selbst jedoch selten mit der Antisozialen Persönlichkeitsstörung belegt. Damit gelingt über die Antisoziale Persönlichkeitsstörung eine diagnostische wie eine sprachliche Abgrenzung der Psychopathie unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Der höheren, ökonomisch erfolgreichen Schicht bleiben dabei die in der öffentlichen Wahrnehmung eher schillernde Diagnosen des Narzissten, Macchiavellisten und Psychopathen vorbehalten. Diese beinhalten Vorstellungen von Macht, Manipulationsfähigkeit, Ruchlosigkeit und strategischer Bril-

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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lanz und gelten nicht zuletzt als Quelle grandiosen gesellschaftlichen Erfolges. Ein hoher sozialer Status bietet Schutz vor der Sichtbarkeit und offiziellen Feststellung möglichen kriminellen Verhaltens (Sack 1979, S. 472). Doch auch bei einer offiziellen Feststellung erfolgten kriminellen Verhaltens gerade im Wirtschaftsbereich ist die öffentliche Wahrnehmung eine andere. Wirtschaftskriminelle entsprechen nicht den allgemein vorherrschenden Auffassungen von Kriminalität. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Altersstruktur und ihren sozioökonomischen Merkmalen von dem lapidar ausgedrückt: Straßen- und Alltagskriminellen. „Die typische Wirtschaftskriminalität wird somit gerade nicht von Kriminellen begangen, die bereits früher durch eine Vielzahl von Straftaten auffällig geworden sind (Eigentumsdelikte, Körperverletzungen etc.). In dieser Gruppe findet sich oft Arbeitsunwilligkeit, Rücksichtslosigkeit und Suchtmittelkonsum. Die antisozialen Karrieren beginnen meist bereits in Jugendanstalten und Gefängnissen.“ (Dammann 2017, S. 61) Auch widerspricht der Typus des Wirtschaftskriminellen dem Kriterium der Persönlichkeitsstörungen im Sinne einer Dysfunktionalität in interpersonellen Beziehungen (Dammann 2017, S. 61), die es auf dem beruflichen Weg zu einer einflussreichen Position erfolgreich zu bewerkstelligen gilt. Folgerichtig führt Dammann fort, dass Psychopathie und antisoziale Dimension im gemeinsamen Auftreten fatal seien, Psychopathie ohne antisoziale Dimension sich hingegen durch späteren Erfolg auszeichne (Dammann 2017, S. 65). Tatsächlich ist bemerkenswert, warum ein eigener Typ konstruiert wurde, dessen einziges wirklich diskriminantes Kriterium zu dem vorherigen die offizielle Feststellung gesellschaftlichen Scheiterns und kriminellen Verhaltens ist. Die Entkopplung von Psychopathie und kriminellem Verhalten im Falle des erfolgreichen Psychopathen verschiebt den Fokus auf nunmehr die affektiven und interpersonellen Komponenten. Die ehemals rein defizitorientierte Betrachtungsweise von Psychopathie entwickelt

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nun beachtenswerte Annahmen über die interpersonellen Fähigkeiten dieses Typs. „According to Smith (1978), the psychopath is also impressively skillful in discerning precisely what other people desire. These skills, according to theory, give psychopaths an ability to control others and make them feel as if they are getting what they want even though the opposite may be true (Smith, 1978)“ (Mullins-Nelson, Salekin und Leistico 2006, S. 134) Die Fähigkeit zur Manipulation, wie sie schon in Cleckleys Beschreibung zu finden war, ehemals vornehmlich die Fähigkeit, das eigene Persönlichkeits- und Gefühlsdefizit zu verbergen, macht den Psychopathen nun zu einem regelrechten „Puppetmaster“ in interpersonellen Beziehungen. Auch die Zentrierung um den Begriff der „furchtlosen Dominanz“, die nun ein Merkmal darstellt, das allen jenen gemein ist, denen eine Diagnose psychopathy gestellt werden könnte, die sich aber von dem bisherigen Bild des Psychopathen unterscheiden, bestätigt allgemein den Übergang von ehemals moralisch vernichtenden zu gesellschaftlich tolerierbaren Merkmalen. Mehr noch, es ist das Merkmal, das Psychopathen wie Helden gemein ist. „I believe in short, that the hero and the psychopath may be twigs of the same genetic branch.“ (Lykken 1995, S. 124) Mit Erweiterung der Untersuchungspopulationen außerhalb von Haftanstalten und psychiatrischen Einrichtungen und der Feststellung, bzw. Vermutung, dass ein Teil der Psychopathiemerkmale auch bei Menschen zum Tragen kommt, die prominente gesellschaftliche Positionen innehaben, wurde das Bild vom Psychopathen, dem eine gesellschaftliche Teilhabe aufgrund seiner Störung nicht gelingen kann, ehemals ein wenn nicht das zentrale Merkmal der Störung aufgeweicht. Auch das zuvor als für Psychopathie wesentliche Merkmal der mangelnden Empathie geriet auf den Prüfstand, da der Empathie-

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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begriff in Verbindung mit Psychopathie nicht einheitlich definiert und unterschiedlich verwandt wurde5 . Mit der Möglichkeit dieser Diagnose auch bei Menschen, die gesellschaftliches Ansehen genießen und der Zuschreibung psychopathiebegründender Persönlichkeitsmerkmale als kausal für diesen Erfolg, avancieren Teilaspekte der Psychopathie zu zuträglichen Eigenschaften. So hat sich in der kulturindustriellen Wahrnehmung der Psychopathie parallel zum inszenierten Schrecken innerhalb des „true crime“ sogar fast schon ein Heroismus entwickelt. Zum einen werden Merkmale oder ehemalige Defizite des Psychopathie-Konstruktes nun zu außergewöhnlichen Fähigkeiten umdefiniert, zum anderen zu solchen, die innerhalb einer am ökonomischen Erfolg orientierten Gesellschaft, von Vorteil auf dem Weg zu diesem sind. „In fact, psychopaths have a lot of good things going for them. They are fearless, confident, charismatic, ruthless and focused - qualities tailor-made for success in twenty-first century society.“ schreibt Kevin Dutton auf seiner Website hinsichtlich seines allenfalls noch poulärwissenschaftlichen Lebensratgebers „The Wisdom of Psychopaths“6 . Und auch Hare, Begründer der „psychopathy“, nutzt die Verwertbarkeit dieses Konstruktes im Rahmen der Unterhaltungsindustrie mit der Veröffentlichung seiner Bücher „Gewissenlos. Psychopathen unter uns“ und „Menschenschinder und Manager“. Es ist Ausdruck dessen, wie gut sich sowohl der „antisoziale Psychopath“ als auch der „erfolgreiche Psychopath“ in Kultur- und Unterhaltungsindustrie ökonomisch verwerten lassen. Der Typ des „erfolgreichen Psychopathen“ ist damit durchaus zu einem auch positiv besetzten Label geworden. So positiv, dass der bekannte Hirnforscher James Fellon sich nicht scheute ein Buch „Der Psychopath in mir“ zu veröffentlichen, in dem er ausgiebig die beruflichen und sozialen Erfolg befördernden Merkmale seiner vermeintlichen 5

Nach Mullins-Nelson könnte eine Differenzierung nach kognitiver und affektiver Empathie das Konzept „erfolgreicher Psychopath“ erhellen (Mullins-Nelson, Salekin und Leistico 2006, S. 135). 6 http://www.kevindutton.co.uk/books/the-wisdom-of-psychopaths/, Zugriff auf die Seite am 06.06.2020.

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Psychopathie darlegt7 . Tatsächlich scheinen die interpersonellen und affektiven Diagnosekriterien ebenso wie einige des Lebensstils mit Erfolg in hohen beruflichen und gesellschaftlichen Positionen nicht grundsätzlich in Widerspruch zu stehen. Dies gilt zumindest in einem Wirtschaftssystem, in dem Gewinne auch kurzfristig erzielbar sind, so dass langfristige Kooperation keine Notwendigkeit für dessen Erhalt darstellt. Legt man für die westliche Welt die Wirkung des „Projektes Neoliberalismus“ (Wacquant 2009) zugrunde, beschränken sich die Deregulierungen nach ökonomischen Prinzip nicht nur auf den wirtschaftlichen Sektor, sondern bedeuten vielmehr auch eine Unterwerfung der staatlichen, politischen und kulturellen Bereiche unter die Gebote und Prinzipien eben jenes neoliberalistischen Wirtschaftssystems. Einige der Diagnosekriterien der psychopathy ließen sich nach dieser Annahme sogar als innerpsychische Anpassungsreaktion des Individuums auf gesellschaftliche Verhältnisse, die von sozialer Unsicherheit und Bindungslosigkeit gekennzeichnet sind, interpretieren. Richard Sennett bringt die Auswirkung einer flexibilisierten Arbeitswelt im Zuge des neuen Kapitalismus auf die Ausbildung des Charakters der Individuen zusammen. Die von ihm als „Drift“ benannte zentrale Erfahrung von Flüchtigkeit und Kontrolllosigkeit im Zuge des Wandels von einer „langfristigen Ordnung“ zu dem „neuen Regime kurzfristiger Zeit“ (Sennett 1998, S. 26) stellt er als entscheidend heraus. Zunehmende Unsicherheit und Flexibilisierung der Arbeitskraft mit Notwendigkeit zu häufigen Arbeitsort- und Wohnortwechseln, stetig wachsende Leistungsanforderungen und Beschleunigungen von Vorgängen innerhalb der Arbeitsorganisation und schließlich die Erosion 7

Vermeintlich deswegen, da Fallon indes den Befund der eigenen Psychopathie rein über ein neurologisches Bildgebungsverfahren des eigenen Gehirns ersah, anschließend retrospektiv vergangenes Verhalten kongruent zu diesem Befund interpretierte, wobei zweifelhaft ist, ob Psychopathie auf diese Weise überhaupt erkennbar sein kann. Neben diesen ließen sich noch weitere Beispiele von Veröffentlichungen namhafter vorzugsweise Neurowissenschaftler nennen, die Anteile der psychopathy als Ressource für das Beschreiten eines wirtschaftlich erfolgreichen Weges, einer Karriere, innerhalb der heutigen Gesellschaft betrachten und medial darstellen.

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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sozialer Gemeinschaft führen nach Sennett zu einem Bedeutungsverlust ehemals handlungsleitender und Sicherheit vermittelnder Wertvorstellungen und Tugenden wie Loyalität, Verantwortungsbewusstsein und Arbeitsethos, die sich aufgrund der nunmehr verringerten Identifikation mit der eigenen Arbeit kaum noch entwickeln können. Die langfristige Verfolgung von Zielen und die dafür notwendige Fähigkeit zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung verliert angesichts sich verringernder Zuversicht und Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte zu entwerfen, an Bedeutung und verkümmert. Diese Anweisung zur Umtriebigkeit findet ihren Niederschlag auch in den engsten sozialen Beziehungen. „Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte der flexiblen Gesellschaft: bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer.“ (Sennett 1998, S. 29) Die Beschleunigung der ökonomischen Abläufe mit zunehmender Globalisierung und fortschreitender Technik und die Anpassung des Einzelnen daran in Form kurzfristiger Flexibilität und ständigem Fluss schaffen ein fragmentiertes Empfinden der Zeit, das der Herausbildung eines konsistenten Charakters entgegensteht. „Die Erfahrung einer zusammenhanglosen Zeit bedroht die Fähigkeit der Menschen, ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen.“ (Sennett 1998, S. 37) Ein Großteil der Diagnosekriterien der psychopathy im interpersonellen, affektiven, aber auch im Bereich des Lebensstils lässt sich den von Sennett geschilderten Folgen des Gesellschaftssytems auf die charakterliche Entwicklung des Individuums ohne große Anstrengung zuordnen. Teilweise herrscht komplette Deckungsgleichheit zwischen diesen wie in der Benennung von Oberflächlichkeit, Verantwortungslosigkeit, Fehlen langfristiger Ziele. Einzig die Dimension antisozialer Verhaltensweisen wird nicht erfasst. Allerdings bilden sie einerseits in Gänze eben auch keine Charaktermerkmale, sondern beobachtbares, mithin offiziell dokumentiertes Verhalten ab, andererseits referieren sie immer auf das jeweilige Normensystem. Im Normbruch

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liegt ihre Existenz erst begründet, womit sie so variabel sind, wie geltende Normen selbst. Eine eigene Bestimmung liegt ihnen damit nicht zugrunde. Schließlich ist ein Großteil der westlichen Kulturen auf ein individualistisches Selbstbild angelegt, allen voran die USamerikanische Kultur. Es ist anzunehmen, dass die Haltung gegenüber den angeführten Persönlichkeitsmerkmalen der psychopathy in diesen individualistisch angelegten Kulturen ambivalent ist. So sehr sie im Kontext interpersoneller Beziehungen als Störnis empfunden werden, so sehr gelten sie bei entsprechendem wirtschaftlichen Erfolg als kausal und förderlich für diesen. Mit ansteigender Betonung wirtschaftlichen Erfolges für gesellschaftliches Ansehen werden die ihn befördernden Persönlichkeitsmerkmale in ihrer Entwicklung erstrebenswerter, bei gleichzeitiger Ablehnung ihres Auftretens bei Ausbleiben des Erfolges sowie in unmittelbaren interpersonellen Beziehungen. Ihre positive Belegung scheint damit erst retrospektiv, also nach tatsächlichem Eintreten gesellschaftlichen Erfolges zu erfolgen. Und so mag es nicht verwundern, dass die untersuchte Prävalenz von psychopathy, bzw. Antisozialer Persönlichkeitsstörung in Kulturen, in denen individueller wirtschaftlicher Erfolg betont wird, höher zu sein scheint als in Kulturen, in denen der Wert der Gemeinschaft dem des Individuums bevorrechtigt ist (Stout 2005). Wobei der tatsächliche Unterschied in Höhe des Auftretens von psychopathy und ASP auch auf ihren kulturspezifischen Ausdruck, ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und schließlich Benennung als solche zurückgefolgert werden kann (Akthar und Zoltani 2017). Beide Formen des „erfolgreichen Psychopathen“ bilden sich in dem von Prinzipien des neuen Kapitalismus forcierten Charakters ab, sowohl der Typ, dessen Einordnung als erfolgreich sich schlicht auf der Vermeidung des Labels „kriminell“ bzw. „Psychopath“ gründet, als auch die anfangs benannten Psychopathen in herausragenden gesellschaftlichen Stellungen. Nach Sennet lösen sich nun „alte Werte und Tugenden“ zugunsten neuer, für den gesellschaftlichen Erfolg unter den neuen Bedingungen förderlicher Werte und Normen auf. Dieser neue Habitus erfährt damit grundsätzlich eine breitere Streuung innerhalb der Gesellschaft. Er wird zugleich in gesellschaftlichen Gruppen registriert, die ihren bereits privilegierten

1.6 Der Typus des erfolgreichen Psychopathen

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sozialen Status durch gelungene Anpassung an die neuen Forderungen des Systems weiter steigern, zumindest erhalten. Damit lässt sich die Vermutung anstellen, dass mit der veränderten gesellschaftlichen Bewertung der von Sennett aufgeführten ehemaligen Tugenden die neuen handlungsleitenden Werte mit zunehmender Verbreitung als beobachtbares und erfahrbares Handlungsmuster zumindest anteilig „normal“ werden. Sie fallen damit in die erwartbare Variation menschlichen Verhaltens und an Persönlichkeiten, womit eine Veränderung der Bewertung eines Teiles der affektiven und interpersonellen Aspekte des Psychopathie-Konstruktes als „normal“ einhergeht bzw. sich die Toleranz hinsichtlich ihrer Ausprägung erhöht. Ihre Einordnung als „dysfunktional“ und „pathologisch“ erfolgt dem Labeling Approach folgend vor dem Hintergrund struktureller Machtverhältnisse. Am Beispiel des Aggressionsbegriffes lässt sich die Kontext- und Statusgebundenheit der Bewertung vermeintlich eindeutig negativer Verhaltensweisen verdeutlichen. In Form instrumenteller oder indirekter Aggression kann diese abhängig vom sozialen Kontext und Status des Aggressors als legitime Strategie zu wirtschaftlichem Erfolg gelten oder als Hinweis auf antisoziale Verhaltensmuster. Die Formulierung und Durchsetzung verbindlicher Normen ist gesellschaftlich privilegierten Gruppen vorbehalten. Die Verwerfung alter Normen und Werte zugunsten der neuen Anpassungsmuster, die in zunehmenden Maße einen Vorteil im Wettbewerb um soziale Anerkennung und Status begründen, sickert damit weiter in die gesellschaftlichen Segmente, die eben jene Formulierung und Durchsetzung verbindlicher Normen innehaben. Die Konstruktion eines eigenen Typen von Psychopathie, der in den ökonomisch erfolgreichen Segmenten der Gesellschaft verortet wird, stützt die Annahme der Kontrollfunktion, die diese Diagnose mittelbar erfüllt. Die Empfindung der Psychopathie als zu kontrollierendes gesellschaftliches Störnis und soziale Gefahr ist damit gänzlich an das Vorliegen antisozialer Verhaltensmuster gebunden. Das Cluster der antisozialen Diagnosemerkmale sowie Teile des Lebensstils wie „parasitärer Lebensstil“ mit der Verfügung harter dokumentierbarer Merkmale, wie

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wiederholte Straffälligkeit und langfristiger Arbeitslosigkeit, stellt nun die Grundlage, das Störnis auszumachen. Mit der ambivalenten Belegung der innerpsychischen wie interpersonellen Kriterien der Psychopathie konzentriert sich die Bewertung des „sozialen Störnisses“ und der „Gefährlichkeit“ zunehmend auf die antisozialen Verhaltensaspekte. Diese bilden Verhaltensweisen ab, die als abweichend deklariert sind, und verweisen damit auf die historisch damit verknüpften sozio-strukturell und ökonomisch Marginalisierten, die Kriminellen, die Arbeitslosen, die Obdachlosen und Drogenabhängigen. Den Platz, den die Diagnose der Psychopathie also in ihrer vornehmlichen Anwendung auf und Kontrolle von bestimmten Bevölkerungsgruppen einnahm, nimmt mit dem Konstrukt des „erfolgreichen Psychopathen“ und der Überbetonung antisozialer Verhaltensweisen nun zunehmend die Diagnose der ASP ein. Die Verkürzung des Psychopathie-Konzeptes und Konzentration auf dieses Cluster antisozialer Verhaltensmerkmale in Form der Antisozialen Persönlichkeitsstörung bildet die Orientierung des Krankheitsbegriffes weniger an dem Leiden des Betroffenen als an der Proklamation einer erheblichen gesellschaftlicher Störung durch diese und damit ihre Darstellung und Wahrnehmung als soziales Problem erneut ab. Was den „erfolgreichen Psychopathen“ vom herkömmlichen und dem mit ASP Diagnostizierten im Kern unterscheidet, ist also in erster Linie seine öffentliche Kennzeichnung als dieser. Dabei dient im Vorwege als „kriminell“ gekennzeichnetes Verhalten als harter Indikator zur Einordnung des Ausmaßes an vermuteter Antisozialität. Die Kennzeichnung folgt also dem vorangegangenen und erfolgreich applizierten Label „kriminell“ und „abweichend“ und unterliegt mithin analogen Prozessen der Zuschreibung.

1.7 Die diagnostischen Kriterien der Antisozialen Persönlichkeitsstörung Obwohl die Antisoziale bzw. Dissoziale Persönlichkeitsstörung die Psychopathie in den zwei großen Diagnosemanualen ICD und DSM ersetz-

1.7 Diagnostische Kriterien der ASP

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te, bleibt das Konstrukt der Psychopathie nun als „psychopathy“ im fachlichen Diskurs erhalten, weist jedoch mehr Diagnosekriterien als die ASP auf. Mit der Verkürzung von Diagnosekriterien ist die Voraussetzung zur Diagnose einer ASP damit umso eher gegeben, womit die Schwelle zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung mit beträchtlichen negativen Konnotationen erheblich gesenkt wurde. Gestützt wird diese Annahme durch Untersuchungen, die belegen, „[…], dass die Mehrheit von mittels PCL-R festgestellten ‚psychopaths‘ gleichzeitig die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllt. Umgekehrt ist nur eine Minderheit dissozialer Persönlichkeiten als ‚psychopaths‘ zu klassifizieren.“ (A. Schmidt, Nedopil und Scholz 2004, S. 104). Nur ein geringer Teil der Personengruppe mit ASP weist die Besonderheiten in der Emotionsverarbeitung und -regulierung auf, die noch für die Diagnose einer Psychopathie gefordert werden (Hare und Neumann 2011). Ein übersteigerter Selbstwert, fehlende Empathie, oberflächlicher Charme und Dysphorie werden zwar im DSM-V unter „Zugehörige Merkmale der Diagnosesicherung“ für eine ASP aufgeführt, sie sind jedoch nicht Bestimmungsmerkmale der ASP und werden auch im DSM-V mit dem traditionellen Konzept der Psychopathie in Verbindung gebracht. Mit der Verringerung der Diagnosekriterien wird also nun nicht nur ein breiterer Personenkreis umfasst, aufgrund der Vernachlässigung affektiver und interpersoneller Komponenten und der Konzentration auf Verhaltensmerkmale wird die Stellung der Diagnose ASP auch anhand rein beobachtbaren Verhaltens erleichtert. „Over the past 25 years, however, the DSM format has focused more on the behavior of the individuals, seeing Antisocial Personality Disorder as a form of dissonance between the individual and society.“ (Warren und South 2006, S. 7) Damit wird dem eigenen geäußerten Empfinden des Betroffenen, das den Einblick in eben jenes Gefühlsleben überhaupt erst ermöglicht, weniger Bedeutung zugemessen. So wurde im Rahmen der Diagnosestellung einer Psychopathie durchaus eingewandt, dass die Aussage

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des Begutachteten vonnöten war, um eben jene affektiven und interpersonellen Aspekte der Störung abzubilden, wobei gleichzeitig Unaufrichtigkeit, notorisches Lügen und Manipulationsfähigkeit ebenfalls zentrale Aspekte dieser Störung sind. Die Erkenntnis über das Ausmaß der Störung durch das Gespräch mit dem Betroffenen galt also von jeher als zwiespältig. In den Diagnosekriterien der ASP taucht die Neigung zu notorischem Lügen ebenfalls auf, die Diagnose dieser Störung benötigt jedoch keine tiefere Einsicht in die Emotionsverarbeitung und -regulierung. Mit einer verlässlichen Dokumentation der im Kindesalter schon aufgetretenen Störung des Sozialverhaltens oder der im Kern vergleichbaren Aussagen von Bezugspersonen sowie einer entsprechenden Strafaktenlage ließe sich diese Diagnose mit aller Wahrscheinlichkeit ohne sprachlichen Austausch sogar gänzlich ohne direkten Kontakt zu dem Betroffenen stellen. Dieses Vorgehen ist schon im Rahmen der Anwendung des Instrumentes PCL-R durchaus möglich. „In manchen Fällen wird das „Standard“-Vorgehen (Interview plus Akteninformation) durch ein nicht standardisiertes Vorgehen ersetzt, bei dem nur Informationen aus den vorliegende Akten genutzt werden, um die Items einschätzen zu können.“ (Hare und Neumann 2011, S. 5) Es sollte zu erwarten sein, dass die Anamnese lang andauernder Verhaltensmuster und spezieller Persönlichkeitszüge, die eine Diagnose erst ermöglicht, eine intensive Auseinandersetzung und den Dialog mit dem Betroffenen voraussetzt, doch selbst im DSM-V wird für den Prozess der Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung angeführt: „Obwohl ein einmaliges Interview bei manchen Patienten für eine Diagnosestellung ausreicht, wird es oft notwendig sein, mehrere Interviews und diese über einen Zeitraum verteilt zu führen.“ Da die Antisoziale Persönlichkeitsstörung ein starkes Gewicht auf äußerlich beobachtbares mithin häufig offiziell dokumentiertes Verhalten hat, dürfte die Gefahr groß sein, dem Zeugnis des Betroffenen selbst weniger Raum zu geben als es z.B. bei der Diagnostik einer möglichen Borderline-Persönlichkeitsstörung mit auf ein komplexeres inneres

1.7 Diagnostische Kriterien der ASP

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Erleben ausgerichteten Kriterien der Fall wäre. Mit der Einengung auf beobachtbare Verhaltensmerkmale, ist eine Ferndiagnostik nicht nur überhaupt möglich und aufwandsarm zu stellen, sondern nach außen hin bedenkenloser zu vertreten, da ihr die Dokumentation von Seiten offizieller Stellen, z.B. in Form von Strafakten, zugrundeliegt. Damit ist der Betroffene selbst nicht mehr Zeuge und Zeugnis eigener innerpsychischer Vorgänge und interpersoneller Problematiken. Gleichermaßen stellt sich das Problem, wenn der Begutachtete schweigt, also keinen Einblick in seine innerpsychischen Vorgänge und Lebensbiographie geben möchte, da er z.B. im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens negative Folgen fürchtet. Bei einer Gutachtenerstellung ohne den durch den Begutachteten selbst gewährten Einblick in seine Psyche und sein Erleben liefern punktuelles situatives Verhalten in Form von dokumentiertem kriminellem Verhalten sowie sozio-biografische Merkmale die entscheidenden Informationen, anhand derer eine Einordnung der Persönlichkeit erfolgen kann. Angesichts der Bedeutsamkeit einer solchen Diagnose im Rahmen strafrechtlicher Verfahren, vornehmlich auch hinsichtlich der Verhängung scharfer Maßregeln wie der Sicherungsverwahrung, scheint es fahrlässig, diese ohne sorgfältige Begutachtung des Betroffenen selbst zu stellen. Das eigene Zeugnis der zu begutachtenden Person findet sich in den erarbeiteten Mindestanforderungen für die Erstellung eines Schuldfähigkeitsgutachtens sowie eines Prognosegutachtens (Boetticher, Kröber und Müller-Isberner 2006). Ob ein solches Gutachten jedoch hinfällig wird, sofern es diesen Aspekt der Mindestanforderungen nicht erfüllt, z.B. im Falle einer Weigerung des Begutachteten, sich zu äußern und damit eines Gutachtens aufgrund vorangegangener Aktenlage und einer sogenannten Fremdanamnese (Aussagen von signifikanten Dritten und Zeugen), findet sich nicht. Dass es dem Beschuldigten im Zweifel bei sehr intimen Fragestellungen zu seinem innerpsychischen Erleben zum Nachteil gereichen kann, wenn er dazu schweigt, lässt sich mit rechtsstaatlichen Prizipien, die sich auch in Konstrukten wie dem Aussageverweigerungsrecht abbilden, gedanklich nicht ohne Weiteres übereinbringen. Es existieren wenig Studien über die Prävalenz von ASP in der Bevölkerung, diese beschränken sich auf Populationen innerhalb von

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1 Psychopathie und ASP

Institutionen wie Haftanstalten, psychiatrischen Institutionen oder Einrichtungen der Suchthilfe. Mit der Konzentration der Diagnose auf normabweichendes bzw. delinquentes Verhalten und der Untersuchung von Populationen innerhalb bestimmter Einrichtungen verwundert kaum die dortige hohe Prävalenz von annähernd 60 Prozent (Poythress, Edens, Skeem und Lilienfeld 2010; Kosson, Lorenz und Newman 2006) der untersuchten Personen, auf die diese Diagnose zutrifft, schließlich decken sich hier Anlass der Inhaftierung bzw. Einweisung und Diagnosekriterien. Hingegen wies nur knapp ein Drittel von den mit ASP Diagnostizierten wiederum eine psychopathy nach Hare auf (Kosson, Lorenz und Newman 2006). Nimmt man nun an, dass das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung bedeutungsvoll hinsichtlich einer Risikobewertung oder der strafrechtlichen Bewertung von Schuldfähigkeit und der Legalprognose ist, und damit einhergehend Auswirkung auf Formen und Intensität der Kontrolle zu Lasten der so Etikettierten hat, dann ist die Herabsetzung der Schwelle zur Diagnose einer solchen Störung kritisch zu beurteilen.

1.8 Diagnostische Kriterien der ASP und Kriminalität Im deutschen Raum wird zuweilen statt der Antisozialen auf die Dissoziale Persönlichkeitsstörung Bezug genommen. Diese unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der ASP, im Wortlaut selbst ist kriminelles Verhalten nicht explizit aufgeführt, dafür jedoch die Unempfindlichkeit gegenüber nachteiligen Erlebnissen, namentlich Bestrafung8 . Letztlich liefe es im Falle der ASP jedoch auf dasselbe hinaus, da sich die Unempfindlichkeit gegenüber Bestrafung in der offiziellen Bewertung eben durch die Begehung weiterer Straftaten ausdrückte. Im DSM-V findet sich gleichermaßen keine Abgrenzung, nur der Hinweis, dass das Verhaltensmuster der ASP auch als Psychopathie, Soziopathie oder 8

Diskussionswürdig wäre, ob die dissoziale Persönlichkeitsstörung zumindest in ihrer Formulierung selbst eher Persönlichkeitsmerkmale abbildet als die ASP, da sie den Bezug zu Strafgesetzen in ihren Items nicht explizit herausstellt.

1.8 Diagnostische Kriterien der ASP und Kriminalität

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Dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Da ferner innerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion keine Differenzen herausgestellt werden, mithin die Kritikpunkte an der ASP die Dissoziale Persönlichkeitsstörung gleichermaßen treffen, sind im Folgenden beide mit ASP umfasst. Im weiteren Verlauf werden die Kriterien der ASP in ihrer Verbindung zu kriminellem Verhalten diskutiert. Wie anfangs aufgeführt müssen für die Stellung einer Diagnose einer ASP mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein: 1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen 2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert 3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen 4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert 5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer 6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. 7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat Mit dem Aufführen wiederholt gesetzeswidrigen Verhaltens an erster Stelle wird der Konzentration auf kriminelles Verhalten Nachdruck verliehen. Findet sich dieser Verhaltensaspekt im Psychopathie-Konzept bei Cleckley noch recht allgemein unter „inadequately motivated antisocial behaviour“ so ist die Zuschneidung auf kriminelles Verhalten

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1 Psychopathie und ASP

bei Hares psychopathy schon explizit benannt, erhält jedoch zunächst nicht dieses Gewicht, da es hier lediglich zwei Items von insgesamt zwanzig ausmacht. Die Abbildung krimineller Verhaltensweisen in den Merkmalen einer ASP ist hingegen dominant. „Regrettably, the disorder has become a diagnosic category for behavioural difficulties pertaining to criminality. Moreover, […], far more people (particularly prisoners) meet the criteria for a diagnosis of Antisocial PD, than is warranted.“ (Ogloff 2006, S. 521) Das Konzept der psychopathy nach PCL-R deckt neben den fünf Items der Dimension antisoziales Verhalten ein Reihe interpersoneller und affektiver Aspekte ab, womit selbst bei Höchstwerten der mit kriminellem Verhalten assoziierten Items der Gesamtwert für die Diagnose einer psychopathy nicht erreicht würde. Zudem bietet sie mit der Zuordnung verschiedener Werte eine immerhin feinere Differenzierung des Ausmaßes einer möglichen Störung als die ASP. Hingegen decken sich zwei der insgesamt sieben Items der Kriterien für ASP nach DSMV direkt mit strafbewehrtem Verhalten (Nr. 1 und 4), zwei Kriterien werden mit kriminellem Verhalten eng assoziiert (Nr. 2 und 5). Zudem wird in der Fachliteratur ein starker Zusammenhang zwischen Drogenund Alkoholabhängigkeit und ASP durch verschiedene empirische Untersuchungen unterlegt. Dieser variiert von fast noch moderaten 34%, die sowohl ASP als auch regelmäßigen Gebrauch illegaler Drogen aufweisen (Fridell, Hesse und Johnson 2006)9 bis hin zu einer Prävalenz von 80% mit ASP und einer Suchterkrankung zu einem Zeitpunkt im Laufe ihres Lebens (Moran 1999). Auch im DSM-V findet sich ein Hinweis auf eine hohe Komorbiditätsrate von Antisozialer Persönlichkeitsstörung und Alkoholkonsumstörung sowie einer Störung 9

Es handelte sich hierbei um eine Follow-Up-Untersuchung einer Population innerhalb einer schwedischen Entgiftungsklinik. Die 34% umfassten nicht den Eingangszustand, der aufgrund der Art der Einrichtung hätte annähernd 100% betragen müssen, sondern diejenigen, die nach der Entlassung aus der Klinik weiterhin konsumierten. Insgesamt wurde 32% der dortigen Patienten eine ASP diagnostiziert.

1.8 Diagnostische Kriterien der ASP und Kriminalität

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durch Stimulanzienkonsum. Dabei herrscht im fachwissenschaftlichen Diskurs Uneinigkeit darüber, ob das Vorliegen einer ASP aufgrund der konstatierten Impulsivität eine Abhängigkeit befördert oder ob regelmäßiger Substanzkonsum Aspekte des antisozialen Verhaltens erst begründet (Cunningham und Reidy 1998). Dies soll in diesem Rahmen nicht geklärt werden. Hingewiesen werden soll jedoch auf die hinreichend bekannten häufigen sozialen wie psychischen Implikationen von Abhängigkeit und deren Kriminalisierung aufgrund des Besitzes und der Beschaffung illegaler Drogen sowie substanzinduzierten Verhaltensveränderungen. So erfüllt die Abhängigkeit von illegalen Drogen in vielen Fällen für sich schon vier der Kriterien von ASP, wie wiederholte Normbrüche, die eine Festnahme begründen, Impulsivität, Missachtung der eigenen Sicherheit und berufliches Versagen. Die konstatierte Komorbidität von Abhängigkeitssyndrom und ASP unterstreicht den Grad der sozialen Unerwünschtheit von Abhängigkeit und deren gesellschaftliche Bewertung als sozial schädlich. Die Begrenzung auf den Bruch von Normen, die eine Festnahme begründen, anstelle des weiteren Feldes auch informeller Normen mag damit begründet sein, dass die mangelnde Anerkennung das menschliche Miteinander regelnder Normen eine gewisse Schwere aufweisen sollte, um eine Persönlichkeitsstörung daraus abzuleiten. Vertritt man die Auffassung, dass die Kodifizierung von Normen in Form von Gesetzen der besonderen gesellschaftlichen Bewertung der Einhaltung dieser Rechnung trägt, so ist der Fokus auf gesetzeswidriges Verhalten begründbar, jedoch nicht zwingend. Grundsätzlich wird für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung auch ein gewisses Leid des Betroffenen an dieser vorausgesetzt. So heißt es im ICD-10 zum Störungsbegriff: „Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen Ebene und oft auch auf der Gruppen. oder sozialen Ebene mit Belastungen und Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale

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1 Psychopathie und ASP Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigung sollten nicht als psychische Störung im hier definierten Sinne angesehen werden.“ (Dilling, Mombour und M. Schmidt 2014, S. 42)

Die Voraussetzung eines persönlichen Leidens an der Persönlichkeitsstörung erfährt in der Fachliteratur wenig Aufmerksamkeit und spiegelt sich auch nicht in den Diagnosekriterien wieder. Stattdessen wird eine hohe emotionale Bedrängnis des näheren sozialen Umfeldes konstatiert. Der Bezug zu Gesetzeswidrigkeit verdeutlicht aber in erster Linie das Verhältnis der Gesellschaft zu den Betroffenen, weniger die Beeinträchtigung durch die Störung auf denjenigen selbst oder seine interpersonellen Beziehungen. Wiederholt kriminelles Verhalten muss keine negativen Auswirkungen auf den Handelnden oder dessen soziale Beziehungen haben. Das Leid des Betroffenen sowie seines persönlichen Umfeldes kann sich sogar ausschließlich an der Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bemessen und interpersonelle Konflikte erst begründen. Keine andere Persönlichkeitsstörung konstituiert sich über den Passus des Rechtsbruchs per se so klar als eine des gestörten Verhältnisses der Gesellschaft zum Einzelnen, als Angehöriger einer bestimmten sozialen Gruppe. Da zwischenmenschliche Beziehungen regulierende informelle Normen jedoch stark variieren, zudem komplex sind, ist es pragmatisch die für dieses Störungsbild postulierte Unfähigkeit der Normanpassung an kodifizierten Normen zu binden. Diese sind zwar im Grunde selbst nicht eindeutig, versprechen jedoch durch eine vorangegangene gerichtliche Feststellung Objektivität. Den permanenten Bruch von Verhaltenserwartungen und -regeln zu überprüfen und als solche zu werten, hängt ausgesprochen stark von der Beurteilung der jeweiligen Umwelt ab. Die Erwartungen sowie ihre Übertretungen differieren in verschiedenen sozialen Kontexten und sind nicht immer offenkundig, zudem ist die Bewertung der Schwere eine unterschiedliche. „Few persons in a situation ever conform exactly with the norms of their group; […].“ (Lemert 1951, S. 31)

1.8 Diagnostische Kriterien der ASP und Kriminalität

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Die Eingrenzung auf die Übertretung kodifizierter Normen, deren Verfolgung nach Sack (Sack 1979, S. 472) maßgeblich von der Schichtzugehörigkeit des Betroffenen bestimmt wird, geht damit jedoch zu Lasten bestimmter sozialer Gruppen. Mit der unauflösbaren Bindung an ein jeweiliges Rechtssystem und dessen Selektionsmechanismen wird die Universalität der Diagnose aufgehoben, zudem die Qualität als eine tatsächliche Persönlichkeitsstörung zur Disposition gestellt. „Als sie [ASP, Anm. d.Verf.]1980 durch das DSM-III (APA, 1980) eingeführt wurde, war die Absicht eine reliable Möglichkeit zu haben, um das traditionelle Konzept der Psychopathy durch Fokussieren auf leicht feststellbare antisoziale Verhaltensweisen zu messen[…].“ (Hare und Neumann 2011, S. 9) Betrachtet man die einzelnen Kriterien aufmerksam, so ist auffallend, dass jedes einzelne Kriterium ohne weiteres ein anderes nach sich ziehen kann, fast schon impliziert, so könnten wiederholte Schlägereien (Item Nr. 4) allein das Vorliegen der Items 1, 3, 5 und 7 begründen. Auch die schon kritisierte Zuordnung dieser Störung zu gesellschaftlich missbilligten Verhaltens- und Lebenweisen wie Drogenabhängigkeit, Obdachlosigkeit sowie zu bestimmten Milieus, wie sie der unteren Schicht zugeordnet werden, belegt eine Pathologisierung von als Störung der herrschende Gesellschaftsordnung identifizierter sozialer Gruppen. Demnach begründet die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppierungen das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung. „Studies of selected populations indicate that antisocial personality disorder is especially prevalent among the unemployed, the homeless, wife-batterers, and child abusers […]“ (Moran 1999, S. 238) Die mangelnde Reue, das einzige ASP Kriterium, das nicht unmittelbar beobachtbares Verhalten beinhaltet, verweist auf die ehemals für die Psychopathie angenommene Unfähigkeit der Bindung an ein Wertesystem. Hier wird die Rationalisierung von Taten als Hinweis für das Fehlen von Reue gesehen. Damit wird die Möglichkeit des

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1 Psychopathie und ASP

Bestehens von „Neutralisierungstechniken“ (Sykes und Matza 1957) schlichtweg ausgeräumt, was für das Konstrukt nur konsequent ist, denn schließlich wären solche Techniken wiederum Anzeichen für die Bindung überhaupt an ein internalisiertes Wertesystem. In einer Studie zur Prävalenz von ASP unter Frauen in einem Hochsicherheitsgefängnis wiesen gerade mal ein Fünftel (21,7%) das Merkmal mangelnder Reue auf, knapp unter dem Anteil der Frauen, die das Merkmal ohne jegliche Diagnose auswiesen (22,5%) (Warren und South 2006, S. 12), womit erneut entweder die Universalität des Diagnosekonstruktes zur Disposition steht, da geschlechtsspezifisch, oder das Kriterium der mangelnden Reue nicht ausreichend distinktiv ist. Hingegen plädiert Kröber für eine klare Trennung zwischen einem nur dissozialen Lebensstil, unter den auch wiederholt kriminelles Verhalten fiele, und einer echten ASP, die sich durch eine Bindungsunfähigkeit in persönlichen Beziehungen, durch Vereinsamung und Unfähigkeit zur Kooperation äußert. ASP würde sich dann auch in einem wahrzunehmenden Leiden der von ihr Betroffenen ausdrücken, indem „sie immer wieder auf Wahrgenommenwerden, Anerkennung und Zuwendung hoffen, aber jede versuchte Beziehung bald wieder sprengen.“ (Kröber 2017, S. 161). Dieser Ansatz würde zur Bejahung des Krankheitswertes ein Leiden des Betroffenen selbst voraussetzen. Zum anderen würde dem antisozialen Aspekt der Störung eine Vorstellung des Sozialen vorangehen, die von kodifizierten gesellschaftlichen Normen und Werten abgekoppelt ist.

2 Die Eignung der Diagnose ASP zur kriminalpolitischen Kontrolle Im Folgenden wird die generelle Eignung der Nutzung der ASP zur kriminalpolitischen Kontrolle überprüft, auch unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse sowie bereits wirksamen Maßnahmen in Verbindung mit dieser Diagnose. Dabei offenbaren sich auch mit Foucault „Techniken der Macht“ in Form akribischer Überwachung und Kontrolle. Eine Macht, die sich selbst gestaltet, Wissen akkumuliert und sich aus sich selbst heraus vermehrt. In der Methode bedient sie sich der Einteilung der Gesellschaft in spezifische Gruppen, über die jeweils eigene Erkenntnisse angehäuft und zur Anwendung gebracht werden. Ersehbar wird dies in der intensiven Verbindung der Psychiatrie oder allgemeiner der Lebenswissenschaften mit kriminalpolitischen Institutionen. Je feiner und dynamischer diese Unterteilung gesellschaftlicher Gruppen und ihrer Merkmale, desto spezifischer die Formen ihres „governments“ (Foucault 2007, 68 ff.). „Schließlich geht es nicht um eine definitive Stigmatisierung eines Teils der Bevölkerung, sondern um die fortgesetzte Überwachung eines regelmäßigen Feldes, in dessen Inneren unausgesetzt jedes Individuum vermessen wird, um zu erfahren, ob es der Regel der festgesetzten Gesundheitsnorm entspricht.“ (Foucault 2007, S. 68) Entgegen Foucaults Auffassung der damit einhergehenden Abkehr von Exklusion durch Verdammung und Abwehr zu einer Inklusion durch Überwachung und Kontrolle verbinden sich im Falle des kriminalpolitischen Umganges mit der Diagnose der ASP beide Aspekte. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Schreiber, Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29620-9_2

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

Sie werden für das Individuum selbst nur zu unterschiedlichen biografischen Abschnitten spürbar. Exemplarisch behandelt wird der Aspekt der Inklusion durch Kontrolle und Überwachung im weiteren Verlauf der Darstellung zur kindlichen Störung des Sozialverhaltens (unten Kapitel 2.2), in dem die Beobachtung kindlichen Verhaltens in sozio-strukturell schwachen Familienkonstellationen mit aufmerksamer Dokumentation durch staatliche und hilfsstaatliche Institutionen erörtert wird. Sind Irregularitäten detektiert, werden diese in einem Prozess der Feststellung als solche gelabelt und wiederum systematisch eben jenen sozialen Gruppierungen generalisiert zugeordnet. Dieser Prozess hat jedenfalls im Falle der ASP, hier vornehmlich auch im Rahmen strafrechtlicher Bewertung hinsichtlich verhängter Maßregeln wie der Sicherungsverwahrung auch ganz buchstäblich exkludierende Wirkung zur Folge und zum Zweck. Diese erfolgt nicht ausschließlich physisch in Form zeitlich unabsehbarer Wegsperrung sondern auch durch die Diagnose selbst. Der Terminus „antisozial“ bringt schließlich zum Ausdruck, dass dem so Diagnostizierten eine tief in der Psyche verankerte Feindseligkeit gegenüber der Gesellschaft attribuiert wird. Mechanismen dieser Exklusion sowie die Prinzipien der Auswahl, welche Gruppen die Detektion auf antisoziale Verhaltensmerkmale als Ausdruck einer Störung insbesondere trifft, werden durch die Annahmen des Labeling Approach offenbar. Die Detektion erfolgt nicht zufällig, streng anlassbezogen oder generell weitläufig, sondern betrifft vornehmlich jene soziale Gruppen, deren Verhaltensweisen sehr viel aufmerksamer beobachtet werden und mit dem Merkmal antisozial belegt werden, da diesen historisch bereits Merkmale zugeschrieben sind, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine große Nähe zu Abweichung und Kriminalität und damit zwangsläufig zu den Diagnosekriterien der ASP aufweisen. Diese selektive Zuschreibung wird im fachwissenschaftlichen Diskurs beständig reproduziert. Mit erfasst werden die dem zugrunde liegende gesellschaftliche Funktion sowie die vorangestellten gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in deren Dienst kriminalpolitische Maßnahmen stehen.

2.1 Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht

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2.1 Die Verbindung von Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht Keine andere Persönlichkeitsstörung ist definitorisch so nah an Kriminalität und Vorstellungen einer Unterschichtenkultur angelegt wie die Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Je nach theoretischer Ausrichtung formulieren Vertretern des Labeling-Approach zufolge entweder konkret die Mittel- und Oberschicht (Sack 1995; Smaus 1986) oder, wie im allgemein konflikt-theoretischen Ansatz Quinneys (Quinney 1973), mächtige soziale Gruppierungen Strafgesetze, die den Grund für die Verteilung des Gutes „kriminell“ stellen. Ein wesentlicher Teil der Diagnosekriterien der ASP weist Übereinstimmungen mit dem auf, was als „normabweichend“ bis hin zu „kriminell“ definiert ist. Allein zwei der sieben Items beinhalten wiederholt konkret strafbewehrtes Verhalten (Nr. 1 und 4). Drei weitere Items (Nr. 2, 5 und 6) können je nach Kontext und Ausmaß gleichermaßen durch strafrechtliche Bestimmungen wie bspw. § 263 StGB erfasst sein. Doch auch über die durch Strafgesetze abgebildeten Normen hinaus bilden die verbleibenden Items ausnahmslos Normen der Mittelschicht ab. So ist das Verbot der Impulsivität und Aggression vornehmlich auf die Aggression im Sinne körperlicher Aggression beschränkt, wie die Erläuterung „die sich in wiederholten Schlägereien und Überfällen äußert“ unmissverständlich deutlich macht. Damit nicht umfasst ist die instrumentelle Aggression, die als Mittel meist zur Erlangung materiellen Vorteils eingesetzt wird. Die Schädigung steht hier nicht im Vordergrund, wird aber hingenommen (Dorsch 2013). Ebenso wenig erfasst der Wortlaut Formen der indirekten Aggression. Grund hierfür kann die gesellschaftlich differierende Bewertung und der Umgang mit unterschiedlichen Aggressionsformen sein. Inwiefern indirekte und instrumentelle Aggression als eine legitime Form der Aggression gilt, um ökonomische Interessen zu verfolgen, kann nur vermutet werden. Aggression gälte dann als Strategie zur Verfolgung gesellschaftlich als rational, vernünftig und erstrebenswert bewerteter Ziele. Da mit wirtschaftlichem Erfolg und dem Streben danach grundsätzlich ein offen-

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

sives Vorgehen verbunden wird, ist die Bewertung „geschäftstüchtiger Verhaltensweisen“ in einer steten ökonomischen Konkurrenzsituation als gesellschaftlich akzeptable Form der Aggression wahrscheinlich. Auch ist die körperliche Aggression in ihrer Sichtbarkeit mehr in unteren Schichten der Gesellschaft verortet, sofern sie im öffentlichen Raum stattfindet. Aber selbst im Falle häuslicher Gewalt wird sie aufgrund dichter Wohnverhältnisse bei diesen stärker wahrgenommen. Die instrumentelle und indirekte Aggression ist eher mit dem Habitus höherer Schichten vereinbar. Hier wäre zumindest im Wortlaut die Formulierung der dissozialen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 vorzuziehen, da diese mit der Formulierung „niedrige Schwelle für aggressives, wie auch gewalttätiges Verhalten“ nicht auf körperliche Aggression beschränkt ist. Nr. 6 der Diagnosekriterien bildet die Nichterfüllung des Gebotes der langfristigen Planung und Tätigkeit im Sinne von Unterwerfung unter die Lohnarbeit ab, unabhängig davon, wie einträglich diese ist. Dieses Gebot hat sich im Zuge des Neoliberalismus Wacquant zufolge zunehmend verschärft. Das gesellschaftliche Diktat, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn der Lohnertrag die Lebenskosten nicht deckt, trifft vornehmlich jene, die auf dem Arbeitsmarkt schlechtere Chancen haben, sei es aufrgund geringerer Flexibilität oder Bildung. „Am häufigsten ist dabei die Bedingung, dass die unterstützte Person bei Strafe des Verlusts ihres Leistungsanspruches jede ihr angebotene Arbeit oder sonstige Tätigkeit annehmen muss, wie immer die Bezahlung oder die Arbeitsbedingungen auch aussehen („workfare“).“ (Wacquant 2009, S. 78)1 1

Eine klare Entwicklung dieser Art lässt sich analog in Deutschland beobachten. Der Bereich der ehemaligen 1-Euro-Jobs, von dem Jobcenter verordnete Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung sowie die enge Zusammenarbeit mit Zeitarbeitsfirmen belegen diese Tendenz. In Deutschland fällt man mit Aufnahme einer bezahlten Tätigkeit zwar nicht automatisch aus dem Anspruch auf staatliche Unterstützung raus, jedoch liegt dem ein gleichermaßen komplexes Antragsverfahren zugrunde wie dem auf Sozialhilfe. Allgemein ist die Schwelle zur erfolgreichen Antragsstellung auf Sozialleistungen von ihrer Komplexität

2.1 Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht

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Besonders widersprüchlich ist das Gebot der langfristigen Planung und Tätigkeit vor dem Hintergrund zunehmend prekärer Arbeitsverhältnisse, die genau diese Planung eben nicht erlauben. Mehr noch hält das derzeitige Lohn- und Beschäftigungssystem dieser Arbeitsverhältnisse die in ihnen tätigen Menschen unter ständiger staatlicher Kontrolle, da sie in der Regel zusätzlich auf aufstockende staatliche Zuschüsse angewiesen sind. Hier zeichnet sich ein wesentlicher Aspekt der von Wacquant als „workfare“ bezeichneten staatlichen Strategie ab. Diese Normen bilden das Diktat zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung als notwendige Voraussetzung zur Disziplinierung des Körpers als zentraler Teil der Mittelschichtskultur ab, mit ihrer Praxis und Forderung der Unterordnung hedonistischer Triebe unter Prinzipien der Vernunft und der Produktion. Hier steht, in der Wahrnehmung der Mittelschicht, der „Naturmensch“ in seiner Triebhaftigkeit in Opposition zum „Kulturmenschen“. Während der „Naturmensch“ unter ständiger Kontrolle gehalten wird, ist dem „Kulturmenschen“ die Disziplinierung seiner Triebe gelungen, insofern er diese in sozial akzeptable Formen wie Produktivität und das Streben nach gesellschaftlichem Erfolg sublimiert. Die Unterdrückung des Impuls- wie Sexualtriebes ist eines der mächtigsten gesellschaftlichen Postulate. Seine Stärke zeigt sich in der intensiven gesellschaftlichen Reaktion auf sexuell konnotierte und Gewaltstraftaten, aber auch in der Historie gesellschaftlicher Abwertung und Bestrafung anderer Sexualität als der monogam heterosexuellen. In der Forderung der unbedingten Unterdrückung des Impuls- und Sexualtriebes werden gesellschaftliche Machtverhältnisse offenbar. „Der unmittelbare Zweck jedes Herrschenden oder jeder herrschenden Gruppe ist das Herrschen selber. Das muss verschleiert werden, da solch ein Zweck sich vereitelt, indem er sich erklärt. Die Herrschenden verschleiern diesen Zweck (noch vor ihrem eigenen Gewissen), indem sie den und Formalität so hoch angelegt, dass gerade jene, die dieser besonders bedürfen, besonders große Probleme damit haben, die Anforderungen zu erfüllen.

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle Unterworfenen für Triebverzicht und Gehorsam einen Lohn versprechen in ungewisser Zukunft“ (Plack 1991, S. 108)

Die Anleitung zu dessen Erfüllung findet ihren Anfang in der bürgerlich-konservativen Kernfamilie (Horkheimer 1987). Horkheimer stellt die Abhängigkeit von Frau und Kind von dem Geld verdienenden Mann heraus, der mit der Verfügung über die Subsistenzmittel die substantielle Macht innehat. Daraus resultiert eine inner- wie außerfamiliäre Hierarchie, in der dem Mann Leitung und Entscheidung obliegt. So werden die Vorstellungen des Kindes schon von früh an von dem Prinzip „der Macht von Menschen über Menschen, des Oben und Unten, des Befehlens und Gehorchens beherrscht“ (Horkheimer 1987, S. 56). Doch auch der Mann unterliegt dem Zwang lebenslanger Erwerbstätigkeit, deren Sicherung er vor allem durch den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gewährleisten muss. Auch wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse dieses bürgerliche Ideal zunehmend aufweichen, ist es nach wie vor auch auf sozialstruktureller Ebene als solches wirksam. Damit liegt in der Konsequenz der Konstruktion des antisozialen bzw. paraphilen Menschen ein Sozialisationsdefizit aufgrund desolater Familienverhältnisse vor dem Referenzrahmen bürgerlich-mittelständischer Normen und Werte zugrunde. Auch die soziodemografischen Merkmale der Populationen mit hohen Prävalenzraten von ASP entsprechen denen, die mit hohen Kriminalitätsraten assoziiert werden, es sind vornehmlich Männer mit geringer Bildung im Alter bis 44 Jahren (Moran 1999). Deutlich wird hier die Zusammenführung von gesellschaftlichen Gruppierungen mit niedrigem, sozio-ökonomischem Status und gesellschaftlich geächteten Verhaltensweisen, wie auch Paraphilien, die nun in einer gemeinsamen Persönlichkeitsstörung eingehen. Ohne diagnostische Vorkenntnisse geschweige formelle Ausbildung lassen sich diesen gesellschaftlichen Gruppen problemlos zwei bis drei der Kriterien allein aufgrund ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung zuordnen. Es sind indes jene soziale Gruppen, die das gesellschaftliche Ressentiment am stärksten trifft und die als Gefahr für das bestehende soziale Gefüge hochstilisiert werden.

2.1 Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht

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Ihre Bezeichnung in Typen erhebt das gesellschaftlich stigmatisierte Merkmal zum charakteristischen. „Dabei bedient es sich der diffusen sozialen Ängste, die in den mittleren und unteren Regionen als Reaktion auf die Aufsplitterung der Lohnarbeit und die wiederkehrende Ungleichheit umgehen, verwandelt die in ein allgemeines Ressentiment gegenüber Wohlfahrtsempfängern wie Straßenkriminellen und stilisiert diese zu Zwillingskategorien der Abgehängten und Diffamierten hoch, die die soziale Ordnung durch ihre lockere Moral und ihr zügelloses Verhalten untergraben und deshalb unter strenge Vormundschaft gestellt werden müssen.“ (Wacquant 2009, S. 299) Wacquant bezieht sich hier auf die Kontrolle und Bestrafung der durch das „Projekt Neoliberalismus“ marginalisierten sozialen Gruppen, die mithilfe einer darauf ausgerichteten Strafverfolgungspolitik im Zuge sich verschärfender sozialer Unsicherheiten zur Wahrung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse unter Kontrolle gehalten werden. Wacquants Aussage lässt sich hier insofern analog anwenden, als mit der engen definitorischen Verknüpfung von Störungsbild und Kriminalität eine Repathologisierung kriminellen Verhaltens folgt. Aus dieser Repathologisierung leitet sich eine strenge gesellschaftliche Vormundschaft über das gestörte Individuum und dessen Inhaftierung und Verwahrung ab. Angesichts aktueller politischer Entwicklungen und Politisierung von Migration lohnt ein Blick auf die fachwissenschaftliche Diskussion bezüglich der Entwicklung und Prävalenz der Antisozialen Persönlichkeitsstörung und vornehmlich jungen Männern mit Migrationshintergrund. Hier wird Migrationshintergrund aufgrund divergierender kultureller Anforderungen als eigener Stressor verstanden. Über diesen spezifischen Stressor hinaus sind es jedoch vor allem die „sozialen Komorbiditäten“, die die Entwicklung einer ASP allgemein befördern sollen, denen Migranten erfahrungsgemäß jedoch in höherem Maße ausgesetzt sind. Die aufgeführten sozialen Komorbiditäten sind ein

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

geringer ökonomischer Status, erschwerter Zugang zu höherer Bildung und Zuordnung zu kriminellen Milieus. Letztlich stellt auch hier die Anpassung an zum Teil nicht erfüllbare Forderungen einer von „Normen und Werten der Mittelschicht geprägten Gesellschaft, die leistungsschwächeren Personen rasch mit Ablehnung und Überdruss begegnet“ (Saimeh 2017, S. 136) entscheidendes Kriterium dar. Dabei wird vernachlässigt, dass die angeführte kollektive „Leistungsschwäche“ aus erhöhten gesellschaftlichen Anforderungen resultiert. Schließlich treffen die Anforderungen jene, die infolge gesellschaftlicher Deprivation wenig Spielraum haben, diesen adäquat zu begegnen. So kann die Zuordnung von gesellschaftlichen Gruppen zu Milieus und devianten Verhaltensweisen zum einen gelingen, zum anderen der Einzelne angehalten werden, sich aus diesen zu lösen. Es lässt sich also feststellen, dass die Diagnosekriterien der ASP Abweichungen von dem Wertesystem der Mittel- und Oberschicht abbilden und dass diese Abweichung davon mit einem Label versehen wird, das in seiner sozialen Verurteilung sogar wirkmächtiger als das Label „kriminell“ ist. Beinhaltet das Label „ASP“ das Label „kriminell“ per Definition schon, so entfällt mit der Konstatierung einer gestörten Persönlichkeit darüber hinaus jeglicher sozialer Kontext oder rationale Abwägungen, die kriminellen Handlungen noch grundsätzlich zugeschrieben werden mögen. Die Störung selbst und damit der „kriminelle Hang“ ist mit Annahme ihrer biologischen Heridität tief im Individuum verankert und damit nunmehr losgelöst von Wandel und Besserung. Die Störung wird zu einer festgeschriebenen Eigenschaft. Wurde „kriminell“ durch die gesellschaftliche Zuschreibung schon zu einer wesentlichen Eigenschaft im wörtlichen Sinne, als dass sie alle anderen Eigenschaften zu überdecken droht und sich schließlich auch tief in das Selbstverständnis, die Identität des so Etikettierten gräbt (H. S. Becker 1963; Quensel 1970), so stellt die ASP mit denselben Kriterien als Persönlichkeitsstörung an sich den Anspruch auf die Beschreibung zentraler Persönlichkeitsmerkmale. Und wurde weiter beim Etikett „kriminell“ zwar von Verhalten auf ein Wesensmerkmal geschlossen, so war dieses als innere Einstellung des Täters hinsichtlich der Begehung krimineller Handlungen auf diese beschränkt. Hingegen

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geht die ASP weit über die Annahme dieses spezifischen Hanges hinaus und vereint alle negativen Konnotationen, die mit kriminellem Verhalten assoziiert werden zu einer Pathologie der Persönlichkeit. Mit „antisozial“ wird damit auch die Fähigkeit zu jeglichem sozialen Handeln und Empfinden überhaupt in der Person verneint. Mit der erfolgreichen Applikation des Labels wird also eine Person geschaffen, deren Unfähigkeit zu sozialem Verhalten in einem biologischen, da neurologischen, Defizit begründet ist. Aktiviert und konserviert wird dieses Defizit zusätzlich durch Sozialisationsbedingungen, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung für sich alleine schon „Asozialität“ induzieren. Es wird eine Person geschaffen, deren Defekt darüber hinaus eine Unempfindlichkeit gegenüber Behandlung oder Bestrafung impliziert und deren Leiden sich einzig an dem Ausmaß der durch die Gesellschaft verwehrten Bedürfnisbefriedigung und der mangelnden eigenen Anpassung daran bemisst. Wohingegen der durch diese Störung verursachte gesellschaftliche Schaden von der erheblichen Verletzung von Individualrechten bis hin zur Zerstörung von Grundvertrauen in die Antizipation menschlicher Interaktion als Basis sozialen Miteinanders angelegt wird. Der antisoziale Mensch ist somit zwar Teil der Gesellschaft, insofern er ihr soziokulturell angehört, steht aber außerhalb dieser und wird auch als nicht inkludierbar bewertet, da er ihre Anforderung zur Selbstführung verweigert. „Wer seinen Körper nicht regieren kann, nimmt eine soziale Sonderstellung ein, die sich immer deutlicher auch in Marginalisierung und harscher Ausschlusspolitik verdeutlicht.“ (Klimke 2010, S. 225) Das Label „antisoziale Persönlichkeit“ verweist auf das Label des „gefährlichen Eigenen“, dessen Ausgrenzung biologistisch begründet wird und dem gesellschaftlich nur mit Einsperren begegnet werden kann (Pilgram 2010, S. 351). Die Sanktionierung der Abweichung von diesen Normen steht im Dienste der Herrschaftssicherung jener Gruppen, die diese zur Wahrung ihrer Interessen formulieren, konkret die Sicherung der Verfügung und Verteilung positiver gesellschaftlicher Güter durch die Mittel- und Oberschicht (Sack 1995; Smaus 1986).

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Das auf diese Weise verteilte negative Gut „kriminell“ und „antisozial“ beschneidet Chancen gesellschaftlicher Partizipation bis hin zu regelrechter sozialer Vernichtung. Mit Zunahme sozialer Unsicherheiten innerhalb der Mittelschicht (Garland 2001) in Folge ökonomischer Entwicklungen, gewinnt die Kontrolle der abgehängten Gesellschaftsgruppen zur Sicherung der verbleibenden Privilegien vermehrt an Bedeutung. Die Diskreditierung einer ganzen Klasse vereinfacht dabei den Diskurs um das Ausmaß und die Angemessenheit kriminalpolitischer Maßnahmen. „In den Vereinigten Staaten wiederum hat das Schauermärchen von der ‚Unterklasse‘ einen billigen, entpolitisierten und schablonenhaften Diskurs zur Verfügung gestellt, der den ungeheuren Anstieg der Gewalt in und um das Ghetto seit den Umwälzungen der 60er Jahre erklären soll. Tatsächlich wurde diese Gewalt als kategorialer Beweis für die Existenz dieser sozialen Gruppe gesehen, die gerade über ihr antisoziales Verhalten definiert wird.“ (Wacquant 2018, S. 14) In ihrer Zugehörigkeit zur Mittel- und Oberschicht und ihrer Deutungshoheit von „Normalität“ und „Abnormalität“ im Kontext psychischer Pathologien, nehmen die Psychowissenschaften hier eine prominente Stellung ein. Seit der Verbindung von kriminellem Verhalten als Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit trat mit der Psychiatrie ein weiterer gesellschaftlicher Akteur in den Bereich der Strafverfolgung wie auch der Prävention und Kontrolle ein. Exemplarisch von Sutherland in der Schilderung der Genese der „Sexual Psychopath Laws“ abgebildet, nimmt die Profession einen immer größeren Einfluss auf kriminalpolitische Prozesse. Die herrschaftssichernde Funktion, die die Psychiatrie gesellschaftlich ausfüllt, wird wirksam in der Ermittlung und Präsentation der biologischen und innerpsychischen Determinanten menschlich unvernünftigen Verhaltens und der Verknüpfung dieser zu Sozialisationsdefiziten. Dabei verbleibt der Diskurs über mögliche soziale Kausalitäten immer auf der Ebene spezifischer Erziehungsstile, des Milieus, allenfalls einer vermeintlichen Unter-

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schichtkultur. Ihre eigene exponierte Stellung manifestiert sich in ihrem Anspruch und der gesellschaftlichen Anerkennung als für die Unvernunft einzig sachverständige Disziplin. „Dadurch, daß die Psychiatrie zugleich die Existenz sozialer, handlungsbestimmender Faktoren ausschloß, entlastete sie die herrschende Gesellschafts- und Sozialordnung von dem Druck, sich selbst in Frage zu stellen.“ (Güse und Schmacke 1976, S. 205) Damit steht die Psychiatrie im Dienste bestehender Machverhältnisse, die diese Unvernunft vor dem Hintergrund des Fortbestehens der Verhältnisse im Sinne dysfunktionaler Verhaltens- und Einstellungsmuster konstruieren. Unvernunft ist demnach, was den bestehenden Verhätnissen zuwiderläuft und ihre Erhaltung gefährdet. Zugleich sind die Vertreter der Psychowissenschaften selbst Repräsentanten eben jener gesellschaftlichen Herrschaftskultur, deren eigene Werthaltung immer auch die Folie bildet, vor der Einstellungen und Verhalten anderer beurteilt wird. „Die psychoanalytische Literatur kennzeichnet den typischen Unterschichtkriminellen durch eine Reihe negativer Merkmale, die alle die mangelhafte Ausbildung solcher seelischer Qualitäten signalisieren, die nicht nur mittelund oberschichttypisch sind, sondern überdies auch aus der Perspektive der Werthaltungen der Mittel- und Oberschicht wesentliche Bedingungen personaler Autonomie repräsentieren.“ (Strasser 2005, S. 23) Strasser geht hier den Implikationen des Konstruktes der Psychopathie nach, für die ASP gilt es indes umso mehr. Ihre Diagnosekriterien selbst sowie die ihr im weiteren fachlichen Diskurs zugeschriebenen Merkmale decken sich fast gänzlich mit denen des im Fachdiskurs immer wieder replizierten prototypischen Kriminellen aus der Unterschicht. Da als Referenzrahmen einer solchen Diagnose die Abbildung der Werte der Mittel- und Oberschicht angelegt, zudem die Diagnose selbst aus eben dieser Schicht heraus gestellt wird, überrascht es nicht,

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dass die Konstruktionen des typischen Unterschichtkriminellen und die desjenigen mit ASP fast gänzlich übereinstimmen. „Während es den Verbrechenswissenschaftlern, zumindest denen im Westen, ohne weiteres als ideologisches Manöver einleuchtet, wenn jemand sozialschädliche Verhaltensweisen wie Kartellabsprachen, Börsenmanipulation und Steuerhinterziehung als Ausdruck einer krankhaften Persönlichkeitsstruktur bewertet, haben sie oft nur geringe Hemmungen, Unterschichtkriminelle als Psychopathen zu qualifizieren.“ (Strasser 2005, S. 23) Legt man die Diagnosekriterien der ASP zugrunde, so lässt sich feststellen, dass bei den von Strasser aufgeführten Verhaltensweisen des sogenannten White-Collar-Kriminellen ausreichend Items bestätigt werden könnten, um gleichermaßen die Diagnose einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung zu stellen. Dennoch stößt man in der Literatur regelmäßig auf Erklärungsmuster, die nur allzu bekannt aus dem Diskurs zur Ursächlichkeit kriminellen Verhaltens sind und mit ihrem Bezug auf einen geringen sozio-ökonomischen Status und von der bürgerlichen Kernfamilie abweichenden Familienkonstellationen klar auf die Herkunft aus unteren sozialen Schichten verweisen. „Mealey (1995) discussed an array of family (e.g., single parent, large family size) and social (e.g., lower socioeconomic status) problems that may place individuals at risk for antisocial traits and tendencies.“ (Poythress, Edens, Skeem und Lilienfeld 2010, S. 391) Einen noch stringenteren Zusammenhang stellt Lykken mit der Verortung von antisozialem Verhalten als Resultat der Herkunft aus „broken homes“ her (Lykken 1995). Ebenso konstatiert Rauchfleisch zur Entwicklung antisozialen Verhaltens: „[…], daß die frühkindlichen Traumatisierungen zumeist der äußeren Realität entsprechende schwerwiegenden Beeinträchtigungen waren, die vor allem aus der sozialen Instabilität der Herkunftsfamilie

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(mit zum Teil gravierenden ökonomischen Problemen und intrafamiliären Spannungen) und aus vielfältigen Beziehungsabbrüchen, […], resultieren.“ (Rauchfleisch 2000, S. 383) Die Betonung des frühkindlichen Traumas verhehlt hingegen nicht die implizite Aussage, in welcher sozialen Schicht Kinder diesem vornehmlich ausgesetzt sind. Akthar und Zoltani verweisen gleichermaßen auf die Gefahr, kriminelles Verhalten mit Vorliegen einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung gleichzusetzen und befürchten einen entstehenden Bias in der Zuweisung zu Lasten bestimmter gesellschaftlich benachteiligter Gruppen. In ihrer weiteren Darstellung sehen sie jedoch einen so starken Vulnerabilitätsfaktor in Armut, dass dieser Faktor allein die genetischen Ausstattungen überlagert (Akthar und Zoltani 2017). Mit anderen Worten ist das Risiko der Ausbildung einer ASP in unteren sozialen Schichten auch hier grundsätzlich höher, sei es aufgrund der wirksam werdenden genetischen Disposition oder schlicht aufgrund der hohen Armutsrate in diesen Gesellschaftgruppen. Es lässt sich also durchweg eine Fixierung der Ursachen von ASP auf soziale Verhältnisse feststellen, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und dem bisherigen fachwissenschaftlichen Diskurs ersichtlich auf diejenigen gesellschaftlichen Gruppierungen mit geringem sozialen Status, namentlich der Unterschicht, verweisen. Es betrifft also jene Gruppen, die schon im Rahmen ätiologischer Kriminalitättheorien mit kriminellem Verhalten assoziiert wurden. Eine solche Zuweisungspraxis beinhaltet im Umkehrschluss den Schutz, den die Zugehörigkeit zu der Mittel- und Oberschicht bzw. zu gesellschaftlich einflussreichen Gruppierungen vor einer solchen Etikettierung bietet. Dieser zeigt sich zum einen in der geringen Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsorgane, zum anderen in der Selektivität der Metaund Anwendungsregeln des Strafprozesses (Sack 1979, 458 ff), im Rahmen derer erst das Etikett „kriminell“ appliziert wird. Da Verhalten, das als White-Collar-Crime gewertet werden könnte meist system- oder unternehmensintern bleibt und damit eine verminderte Sichtbarkeit nach außen aufweist, ist die allgemeine gesellschaftliche Aufmerksamkeit darauf eher gering und punktuell. Auch bilden die entsprechenden möglichen rechtlichen Tatbestände meist komplexe

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Sachverhalte ab, die profunde Kenntnisse erfordern und sich wenig mit dem Alltagsverständnis von Kriminalität wie Körperverletzung, Diebstahl und Betrug decken. Damit kann diese Form des Verhaltens eher der öffentlichen Definition als solche entgehen. Mit der möglichen Einordnung von eigentlich kriminellem Verhalten als legitime Technik innerhalb eines gesellschaftlichen Teilsystems mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entfällt regelhaft auch die Etikettierung als „Antisozialität“. Schließlich erfolgt die Applikation des Labels erst vermittels der Metaund Anwendungsregeln im Rahmen eines Strafprozesses, innerhalb dessen dem Geschehen interpretativ Sinn verliehen und im Urteil als objektiver Sachverhalt festgeschrieben wird. Dabei werden nach Sack erneut starke Selektionsprozesse wirksam, die systematisch steuern, wem das Label „kriminell“ zugewiesen wird. Die psychiatrische Diagnostik weist hier starke Analogien zum Strafprozess auf, insofern auch hier Rekonstruktion und Interpretation vergangenen Handelns sowie Motivation und Gefühlsleben des Patienten den zentralen Gegenstand bilden. Die schließliche Feststellung einer gestörten Persönlichkeit schafft diesem Interpretationsprozess ein Faktum, das sich als Sachverhalt präsentiert und nicht mehr revidierbar ist. Dabei übertrifft das Machtgefälle zwischen Psychiater und Patienten das im Strafprozess zu Tage tretende sogar insofern als innerhalb eines Strafprozesses ein Vertreter derselben Profession in Form des Verteidigers die Vertretung der Interessen des Angeklagten sowie eine übersetzende und vermittelnde Funktion einnimmt2 . Diese entfällt im Falle eines diagnostischen Settings aufgrund der vorangestellten Prämisse der Linderung eines Leidens und daraus resultierend eine von Fürsorge statt von Kontrolle und Strafe geprägte Arzt-Patient-Beziehung. Dass diese innerhalb des forensischen Settings 2

Die Möglichkeit bei Anklage einen Verteidiger oder Gutachter zu bemühen, besteht grundsätzlich jederzeit, die Kosten werden jedoch nur unter besonderen Umständen vom Staat übernommen, z.B. bei einem besonders schwerwiegendem Tatvorwurf. Ist diese Grenze also unterschritten, muss der Angeklagte die Anwaltskosten selber tragen, womit die Interessensvertretung vor Gericht und damit ein im Zweifel günstigerer Prozessausgang maßgeblich von der Finanzkraft des Angeklagten bestimmt wird.

2.1 Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht

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nur bedingt zu behaupten ist und bisweilen sogar zugunsten „rechtspolitischer Rücksichten“ (Güse und Schmacke 1976) gänzlich entfällt, verändert nicht die grundsätzliche Einordnung als solche. Zusätzlich beeinträchtigen finanzielle Abhängigkeiten des Gutachters hinsichtlich des Einkommens durch gerichtliche Gutachtenaufträge wie auch vom Gericht signalisierte Tendenzen (Jordan und Gresser 2014) die professionelle Arzt-Patient-Beziehung. Auch wird dem Begutachteten kein in der Sache firmer Vertreter beigestellt, wie es in Prozessen möglich ist, die die Beziehung Individuum und Staat betreffen. Je nach Schwere des Konfliktes, der jedem Strafverfahren zugrunde liegt, ist eine solche sachverständige Vertretung des Einzelnen gegenüber der Anklage des Staates obligatorisch. Im Falle eines forensischen Gutachtens ist eben jener strafrechtliche Konflikt bestimmend und überlagert das sonst auf Vertrauen beruhende therapeutische Verhältnis. Der Patient ist den Interpretationen des Gutachters im Grunde unterlegen. So wird er auch innerhalb des Interaktionsprozesses die zu seiner Diagnose führenden Rückschlüsse und Interpretationen nur bedingt beeinflussen können, ebenso wenig wie den Prozess der Diagnostik selbst. Meist wird dieser ihm gar nicht erst offengelegt. Bisweilen wird ihm sogar der Befund und dessen Übermittlung im Rahmen gutachterlicher oder innerhalb von Kontroll- und Hilfeinstitutionen durchgeführter Diagnostik vorenthalten, bis hin zu langfristiger persönlicher Unkenntnis einer ihm anhaftenden jedoch allen involvierten Institutionen bekannten Diagnose. Findet die Diagnostik außerhalb eines Strafprozesses statt, womit zwar der unmittelbare Strafcharakter entfällt, hat sie jedoch im Zweifel die offizielle Feststellung einer Störung zur Folge. Ab dem Zeitpunkt ist diese nicht nur anderen offiziellen Institutionen zugänglich, mindestens jedoch den Institutionen des Gesundheitssystems, sie wird bei Kenntnis zum herausragenden Merkmal. Dieses ohnehin schon in der Sache bestehende Machtgefälle verschärft sich im Falle divergierender Schichtzugehörigkeit. Kann der Patient bei gleicher Schichtzugehörigkeit des Psychiaters einer Diagnose entgehen, so wird diese im Falle eines im Vorwege schon bestehenden Unterschiedes in der gesellschaftlichen Stellung umso wahrscheinlicher.

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle „Hier wirkt sich richtunggebend u.a. ein Umstand aus, der von mir bisher wenig berücksichtigt wurde, die soziale Distanz der Mittelklassen-Psychiater zu den UnterklassenPatienten. Je größer die Distanz, desto unverständlicher wirkt schon das „normale“ Verhalten auf den klassenhöheren Beurteiler. Je unverständlicher aber das Verhalten, desto prognostisch ungünstigere Diagnosen kommen zustande und verschlechtern die Chancen des etikettierten Unterklasse-Patienten ein weiteres Mal.“ (Dörner 1981, S. 145)

Dörner betont hier eine als fehlgeschlagen zu bezeichnende Kommunikation, berücksichtigt jedoch nicht die mit der Differenz in der gesellschaftlichen Stellung verbundenen divergierenden Interessen, die den Interaktionsprozess mitgestalten sowie das in der Situation selbst liegende Machtgefälle. Die beschriebenen Dynamik dürfte ein nicht unwesentlicher Faktor in einem Interaktionsprozess sein, an dessen Ende die Diagnose ASP steht, bedenkt man die Nähe der für diese Störung festgelegten Merkmale zu Verhaltensweisen marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen. Damit laufen Angehörige der Unterschicht schon aufgrund der unterschiedlichen sozialen Stellung zum Psychiater eher Gefahr eine psychische Störung diagnostiziert zu bekommen, mit der Tendenz einer ungünstigeren Prognose. Für die Feststellung einer ASP gilt dies doch in ausgesprochenem Maße, da sie zum einen gesellschaftliche Vorstellungen von Unterschicht und kriminellem Verhalten in sich vereint, zum anderen in ihr vornehmlich eine kriminalpolitische Funktion des Ausschlusses störender Gruppierungen zum Tragen kommt. „Die Schaffung der Gruppe Psychopathie innerhalb der psychiatrischen Systematik kann somit nicht als medizinisches Forschungsergebnis gewertet werden; sie stellt den wissenschaftlich verbrämten Versuch der Diskriminierung einer bestimmten Menschengruppe dar, die aus verschiedenen Gründen in Schwierigkeiten mit ihrer Umwelt geraten sind.“ (Güse und Schmacke 1976, S. 149)

2.1 Störungsbild, Kriminalität und Unterschicht

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So führt sich die soziale Etikettierung von Verhaltensweisen als „kriminell“ oder „abweichend“fort, indem sie die Kristallisationspunkte des Verhaltens in einer Unterschichtkultur nach Miller (W. B. Miller 1974, 342 ff.) einer pathologischen ablehnenden Grundhaltung gegenüber allem Gesellschaftlichen zuordnet. Die Deklaration einer psychischen Störung verschärft die ohnehin schon historisch geknüpfte und immer wieder durch den Prozess der Zuweisung gesellschaftlich reproduzierte Verbindung von Schichtzugehörigkeit und kriminellem Verhalten, nun vervollständigt zu einer Trias von Unterschicht, Kriminalität und pathologisch antisozialem Verhalten und Einstellungen. Das Potential einer Persönlichkeitsstörung mit ihrer definitorischen Zuschneidung auf die gesellschaftlichen Zuschreibungen und Implikationen kriminellen Verhaltens zur Nutzung kriminalpolitischer Zwecke wird im Verlauf anhand zweier schon konkret wirksamer Maßnahmen dargestellt. Allgemein zeigt sich ihre Nutzbarkeit in der Konstruktion der „gefährlichen Spezies“, die nach Pilgram die „gefährliche Klasse“ ersetzt hat. Dies ist jedoch insofern missverständlich, als diese sich mit zunehmender Globalisierung um Menschengruppen aus diversen Nationen, vornehmlich den sogenannten Drittstaaten, erweitert. „Die globale Restrukturierung der Ökonomie treibt Migrationsprozesse ebenso an, wie sie in Europa die Industriearbeits- und working-class-Strukturen erodieren und sich Zuwanderer und Unterklassemitglieder in einer gemeinsamen prekären Situation wieder finden lässt.“ (Pilgram 2010, S. 347) Diese Degradierung der Fremden und der Mythos der „Überfremdung“ mit all den konstatierten gesellschaftlichen Schäden, wirtschaftlicher wie kultureller Art, dient der Stabilisierung der durch zunehmende soziale Unsicherheiten gefährdeten inneren gesellschaftlichen Ordnung. Zwei Aspekte sind hier wesentlich. Der eine betrifft die ökonomische Verwertung dieser beiden Gruppen, die sich durch die inszenierte Konkurrenz um prekäre befristete Arbeitsverhältnisse und verbleibende staatlichen Sozialleistungen auszeichnet. Diese macht die eigene ökonomische Überflüssigkeit ständig spürbar, ihre Ursa-

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

che wird jedoch dem massenweisen Zuzug Fremder zugeordnet. Der andere Aspekt zeigt sich in Attribuierung der Gefährlichkeit beim „Fremden“ auf seine Kultur, beim „Eigenen“ auf seine Natur, womit die biologistische Betrachtung und die Zuweisung einer ASP innerhalb der eigenen Kultur zugehörigen Straftäter vornehmlich die „persistent offenders“ betrifft. Die vollständige Ersetzung und damit Auflösung der Verbindung von Schichtzugehörigkeit und Kriminalität darf angesichts der engen begrifflichen Verknüpfung von Kriminalität, ASP und Verhaltensund Einstellungsmustern unterer sozialer Schichten jedoch angezweifelt werden. Vielmehr darf vermutet werden, dass die „gefährliche Spezies“ weiterhin vornehmlich in der „gefährlichen Klasse“ verortet wird.

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens im Kontext frühzeitiger Intervention In der Auseinandersetzung der Ursächlichkeit von ASP wie auch psychopathy verweisen verschiedene Psychowissenschaftler wie Neurologen auf eine angenommene Erblichkeit (Lykken 1995; Black 1999; Fallon 2015; Ritter 2009; Moran 1999; Cunningham und Reidy 1998; Moffitt, Caspi, Rutter und Silva 2001). Je nach Forschungsschwerpunkt werden unterschiedliche genetische Dispositionen hervorgehoben, die die Entwicklung einer ASP befördern. Sie verweisen damit auf einen wieder erstarkenden Trend auch in der Erklärung kriminellen Verhaltens. In dessen Grundannahme ist kriminelles wie jegliches menschliches Verhalten, wenn nicht durch neurologische Prozesse determiniert, so zumindest über die Abbildung der ihm zugrundeliegenden neurologischen Prozesse sichtbar zu machen. Auf Basis von technisch immer feiner werdenden Bildgebungsverfahren und zu berechnenden Wahrscheinlichkeiten wird dieses damit vorhersagbar. Diese Bildgebungsverfahren, das sogenannte Neuro-Imaging, stellen damit nun insbesondere den „biologischen Beweis“ für die Detektion pathologischer Zustände sowie gestörter Persönlichkeiten (Böllinger

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens

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2010a). Angesichts der Professionen der Neurologie und Psychiatrie mit dem Schwerpunkt auf medizinische Aspekte ist das Interesse an möglichen neurologischen Ursachen im Grunde verständlich. Die Sichtbarkeit und Sicherheit kausaler Zusammenhänge von aktiven Hirnarealen und konkretem menschlichen Verhalten sowie Einstellungen ist aber nicht stringent (Böllinger 2010a). Je stärker das Augenmerk auf neuro-biologischer Erklärungsmodelle gerichtet ist, desto mehr treten Mechanismen gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse und ihre Funktion für die Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse in den Hintergrund. Damit wird der Nutzen der Verfügbarkeit dieser Diagnose im Sinne kriminalpolitischer Kontrolle ebenso wie die dahinter stehenden gesellschaftlichen Partikularinteressen, die maßgeblich für den Definitionsprozess dieses Begriffes und dessen Indienstnahme sind, nicht ersichtlich. Zwar wird von Vertretern der Erblichkeits-Hypothese der ASP eine quasi „Aktivierung“ dieser Disposition durch das Hinzukommen sozialer Faktoren angenommen, diese beschränken sich jedoch auf das Familiensystem und damit auf interpersonelle Beziehungen und Erziehungsstile, womit sie in ihrer Reichweite höchstens noch ein bestimmtes Milieu erfassen. „Sobald die Analyseeinheit größer wird als das Individuum, wird sogleich auf den Public-Health-Ansatz zurückgegriffen, der sogleich die passenden Präventionskonzepte nahelegt, nämlich Bildung, community-basierte Prävention und Interventionsstrategien.“ (Klimke 2010, S. 222) Entsprechend verbleiben gesellschaftliche Maßnahmen im Bereich der Korrektur und Kontrolle auf der Ebene dieser sozialer Einheiten. Die Methode des Rückschlusses entspricht dabei dem Prinzip ätiologischer Theorien abweichenden Verhaltens. Ausgeblendet wird jedoch die für den Erkenntnisprozess so unablässige Reflexion der Verwebung der eigenen Profession mit gesellschaftlichen Entwicklungen, hier vor allem die aktuelle kriminalpolitische Strömung und ihrer Renaissance biologistischer Erklärungsmodelle für abweichendes Verhalten. Bereits in der Vergangenheit wurde die entstandende Liäson von Psychiatrie

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

und Politik und deren Unterordnung unter rechtspolitische Interessen kritisch betrachtet. „Indem das Verhältnis zwischen psychisch Auffälligem und der Gesellschaft als biologisch determinierte Anpassungsfähigkeit definiert wird, wird die Gesellschaft pauschal exkulpiert und als potentielles Konfliktfeld aus dem Denken des Arztes herausgehalten.“ (Güse und Schmacke 1976, S. 147) Im Rahmen dieser Erklärungsmodelle wird als einzig mögliche soziale Determinante der Entwicklung einer ASP das Aufwachsen in prekären sozialen Verhältnissen konstatiert. Diese bemessen sich dabei vordergründig nicht rein an dem tatsächlichen sozio-ökonomischen Status des familiären Umfeldes. In der Klärung dessen, was unter prekären sozialen Verhältnissen zu verstehen sei, findet sich jedoch regelmäßig der Verweis, wo diese vornehmlich zu finden sind. So wird die Verbreitung inkonsistenter Erziehungsstile, fragmentierter Familienstrukturen in Form alleinerziehender Mütter, sogenannter „broken homes“, sowie von den Eltern selbst vorgelebtem delinquenten oder kriminellen Verhaltens innerhalb von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status verortet. Lykken sieht in einer mangelnde Erziehung bzw. Sozialisierung sogar die zentrale Ursache für die Entwicklung einer ASP, die er auch als Soziopathie bezeichnet und in einen direkten Zusammenhang mit Kriminalität stellt (Lykken 1995, 112 ff.). Hingegen steht hinter der Entwicklung einer primären Psychopathie ein Zusammenwirken von erblicher Dispostition, von ihm als die unterschiedliche Ausprägung des „Low-Fear-Quotienten“ vermutet, gepaart mit einer gescheiterten Sozialisation. Diese verortet er vor allem in Haushalten alleinerziehender Mütter (Lykken 1995, S. 197). Hier greifen in der Argumentation bürgerliche Vorstellungen einer dysfunktionalen Familie, von der fehlenden Orientierung und Grenzsetzung junger Männer, die ohne Vater aufwachsen, mit denen die alleinerziehende (minderjährige) Mutter überfordert ist (Lykken 1995; Trembley 2014). Dies entspricht der Verortung kriminellen Verhal-

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens

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tens in der Unterschicht, auch hier trifft es vornehmlich junge Männer aus Familienverhältnissen, die nicht dem Ideal der bürgerlichen Kernfamilie entsprechen. Diese Deckungsgleichheit der identifizierten gesellschaftlichen Gruppen, namentlich Männer aus marginalisierten Lebensverhältnissen, kann nicht weiter verwundern, bedenkt man, dass kriminelles oder delinquentes Verhalten eine prominente Stellung in der Diagnose von ASP einnimmt. Die genetische Disposition stellt also in dieser Aufassung mehr den fruchtbaren Boden dar, auf dem Psychopathie bzw. ASP gedeihen kann. Ausschlaggebend für die Entwicklung dieser Störung ist die fehlende oder falsche Wertevermittlung innerhalb der Familie. „A child with a low FQ [Fear Quotient, Anm. d. Verf.], whose parents nonetheless succed in instilling the essentials of good citizenship, would grow up to the kind of person one would like to have on hand when stress and danger threaten.“ (Lykken 1995, S. 124) Die Trennlinie der Einordnung scheint sich demzufolge vornehmlich an der Internalisierung von Werten zu vollziehen, die Lykken als zentral für „good citizenship“ herausstellt. Gemeint sind hier die Normen und Werte der bürgerlichen Mittelschicht, wie spätere Ausführungen Lykkens bestätigen (Lykken 1995, 195 ff.). So verbleibt die Verortung der Ursache von ASP im Individuum und der Familie und erreicht allenfalls noch die Ebene des Milieus in Form einer Sozialisation innerhalb einer Subkultur. Diese entspricht hier jedoch in ihrer Darstellung weniger einer tatsächlichen Subkultur mit eigenem Wertesystem als schlichtweg einem Konglomerat dysfunktionaler marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Es sind die Teenager-Mütter, die Armen und Arbeitslosen, die Süchtigen, die seelisch Kranken und die Kriminellen, aus deren Mitte die Personengruppe der ASP vornehmlich entspringt. Auch Trembley sieht neben dem Einfluss der genetischen Veranlagung das direkte, vor allem mütterliche, Umfeld als Risikofaktor für das kindliche antisoziale Verhalten. „Most of these risk factors can be identified prior or at the start of pregnancy: mother’s behaviour problems du-

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle ring adolescence, mother’s poor education, mother’s first pregnancy at a young age, mother’s depression, mother’s smoking during pregnancy, dysfunctional relations between mother and father, and low family income.„ (Trembley 2014, S. 425)

Die Annahme, dass sich die defizitäre Sozialisation schon im Kindesalter in Form einer Störung des Sozialverhaltens abzeichnet, ist den vorangegangenen nach nur folgerichtig. Dabei bemisst sich das Vorliegen einer solchen Verhaltensstörung daran, ob in den letzten 12 Monaten mindestens drei und in den letzten 6 Monaten mindestens eine der Verhaltensweisen wie aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren, Zerstörung von Eigentum, Betrug oder Diebstahl und schwere Regelverstöße aufgetreten sind (DSM-V). Dies muss wiederholt und anhaltend auftreten, wobei über die Frequenz im DSM-IV noch nichts angeführt wurde, der nun aber mit Neuauflage seit 2013 eine klare Häufigkeitsangabe enthält. Im DSM-V findet sich unter Diagnostic Features noch folgende Bemerkung: „Because individuals with Conduct Disorder are likely to minimize their conduct problems, the clinician often must rely on additional informants. However, the informant’s knowledge of the child’s conduct problems may be limited by inadequate supervision or by the child’s not having revealed them.“ (American Psychiatric Association, DSMV, 2013, S.472) Wesentlich ist hier die Einordnung kindlichen oder jugendlichen Verhaltens in die Straftatbestände abbildenden Kategorien, womit es maßgeblich auf die jeweilige Unterordnung konkreten Verhaltens unter diese ankommt. Sie unterliegt also denselben Mechanismen, die die allgemeine und persönliche Wahrnehmung von Kriminalität beeinflussen und ist damit fluide. In der Regel wird die Diagnose nur bedingt anhand der Äußerungen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen selbst gestellt, grundsätzlich werden Personen und Institutionen in ihrer Bewertung über das kindliche Verhalten hinzugezogen. Man

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens

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darf annehmen, dass diese sogar in den meisten Fällen maßgeblich für die Initiierung eines Diagnoseprozesses sein dürften. Außerhalb der Familie handelt es sich also vor allem um Vertreter gesellschaftlicher Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Jugendhäuser, Kinderhäuser, Jugendwohnungen, Sportvereine und Jugendämter, die in einem ersten Schritt Abweichungen detektieren und öffentlich machen. Bestimmend für den Anstoß sind also jene Institutionen, die neben der Familie mit der Aufgabe zur Erziehung, zur Korrektur, zur Normvermittlung und -verdeutlichung, zur Normalisierung des Individuums und der Ausbildung der Fähigkeit zur Selbstführung betraut sind. Diese Institutionen haben qua gesellschaftlichem Auftrag eine Kontrollfunktion hinsichtlich der Einhaltung informeller wie formeller Normen inne, ebenso wie die Meldung etwaiger Abweichung und deren Korrektur. Ihnen obliegt die Entscheidung darüber, inwieweit abweichendes Verhalten zu einem frühen Zeitpunkt ein offiziell vermerktes wird und damit erst diese Qualität zugewiesen bekommt. „[…] since it is the audience which eventually decides wether or not a given action or actions will become a visible case of deviation.“ (Erikson 1969, S. 11) Diese Institutionen der Normalisierung als „authorized agents“ der herrschenden Ordnung, im Sinne einer ununterbrochenen Detektion möglicher Abweichungen, sind auch jene, die neben dem Strafsystem abweichendes Verhalten erst produzieren. „From this point of view, deviant behaviour is behaviour, which is organisationally defined, processed, and treated as „strange“, „abnormal“, „theft“, „delinquent“, [antisocial, Anm. der Verf.], etc., by the personnel in the social system which has produced the rate.“ (Kitsuse und Cicourel 1973, S. 249) Jene soziale Institutionen haben dabei nicht ausschließlich das möglicherweise betroffene Kind im Blick, sondern darüber hinaus dessen Familie. So verweist der eigentlich für die Hilfestellung einer Diagnostik

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

auf den ersten Blick überflüssige zweite Satz der zitierten Formulierung des DSM-V mit „limited by inadequate supervision“ darauf hin, dass das Abtasten nach möglichen Störungen des Sozialverhaltens sich vom Individuum auf das ganze Familiensystem zu erstrecken hat. Und weiter, dass bei Verdacht dieser Störung ohne Vorliegen ausreichend belastbarer Informationen z.B. von Seiten der Familie ein Blick in die Familienstruktur Aufschluss über eine mögliche Störung geben kann oder einen Verdacht erst begründet, sofern hier ein Defizit feststellbar ist. Mit dem Begriff der „Kindeswohlgefährdung“, der ehemals die Eingriffsrechte und Pflichten des Jugendamtes regelte, wird nun für alle Institutionen mit Kontakt zu Kindern und Familien die aufmerksame Beobachtung und Überwachung dieser auf schädigende Einflüsse und abweichendes Verhalten zur Pflicht erhoben. So schreibt die EnqueteKommission für Kinderschutz der Hamburgischen Bürgerschaft zur Wahrung des Anspruches eines jeden Kindes auf Sorge und Erziehung durch Förderung und Schutz: „Gemeinsam mit der Kinder- und Jugendhilfe sind hier vor allem die Fachkräfte in den Arbeitsfeldern des Gesundheitswesens, an den Schulen und in den Familiengerichten gefordert, Kinderrechte als Rechte aller Kinder zu stärken und in all ihren Arbeitsweisen und Verfahren zur vorrangigen Richtschnur zu machen.“ (Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 21/16000, 19.12.2018) Die Wahrung des Kinderschutzes beschränkt sich jedoch vom Zeitpunkt her nicht auf die tatsächlich eingetretene Kindeswohlgefährdung, sondern eine mögliche Intervention wird zeitlich vorverlagert. „Handlungspflichten des Staates im Hinblick auf das Binnenverhältnis zwischen Eltern und Kindern beziehungsweise Jugendlichen setzen allerdings nicht erst dann ein, wenn eine Kindeswohlgefährdung bereits festgestellt ist.“ (Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 21/160000, 19.12.2018)

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens

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Für die dem Kindeswohl verpflichteten Institutionen darf mithin dasselbe gelten, was Dörner für die Beziehung zwischen Psychiater und Patient und Sack für das Verhältnis zwischen staatlichen oder mit gesellschaftlicher Macht ausgestatteten Institutionen und Angehörigen unterer sozialer Schichten festgestellt hat. Ihre Vertreter rekrutieren sich aus der Mitte der Gesellschaft, womit ihr Fokus der Korrektur und Kontrolle auf Angehörige der Unterschicht bzw. marginalisierte Gruppen fällt. Deren soziales Milieu gilt nach Erkenntnis der Fachdisziplinen Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft und Kriminologie schließlich nach wie vor als Nährboden für Kriminalität, Sucht und psychischen Störungen. Es sind also jene gesellschaftlichen Gruppen, die einen geringen sozio-ökonomischen Status aufweisen und die in der gesellschaftlichen Einordnung als unfähig zur Vermittlung des „good citizenship“ eingeordnet werden. „Good citizenship“ steht hier für die Internalisierung des Norm- und Wertesystems der Mittelschicht, mit ihrer Kultur der Disziplinierung und Optimierung des Einzelnen und der Anerkennung der Eigenverantwortung für die eigenen Lebensumstände. Lykken geht sogar soweit eine staatliche Zulassung zur Elternschaft als einzige reale Problemlösung für Soziopathie und Kriminalität zu konstatieren. In seiner Ausführung, welche Eltern die staatliche Zulassung erhalten sollten, zeichnet sich erneut deutlich ab, welchen sozialen Verhältnissen diese zuzuordnen sind. „A society that enforces parental licensure, but one in which mature married couples who are self-supporting, noncriminal, and not mentally ill can expect to receive a license if they want one, does not seem to me to deserve the epithet „totalitarian“.“ (Lykken 1995, S. 233) Die beste Prävention ASP zu verhindern, stellt demnach die Gewährleistung kindlichen Aufwachsens innerhalb der traditionellen bürgerlichen Kernfamilie dar, die ausreichend ökonomisch produktiv und damit von staatlicher Zuwendung unabhängig ist. Sie garantiert damit deren Werteweitergabe an das Kind. Wo diese Weitergabe nicht gewährleistet werden kann, ist es Verpflichtung des Staates einer „soziale Verwahrlosung“ des Kindes mithilfe eines ausgebauten

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

Kontroll- und Interventionssystems ab Zeitpunkt der Schwangerschaft (Trembley 2014, S. 426) bis hin zur frühzeitigen Herausnahme aus der Familie vorzubeugen. Zwar ist die Unempfindlichkeit gegen Strafe und Behandlung kein unmittelbares Diagnosemerkmal der ASP wie bei der fast deckungsgleichen dissozialen Persönlichkeitsstörung, jedoch ist sie letztlich ein mittelbares Merkmal über die persistenten Normbrüche trotz erfolgter gesellschaftlicher Reaktion. Diese Resistenz gegen Strafe rückt argumentativ das „Sozialisieren“ des Kindes und gegebenenfalls die zeitlich noch frühere Intervention zur Prävention schädlicher Entwicklung im Kindes- und Jugendalter in den Vordergrund. Das frühzeitige Erkennen neurobiologischer Belastungen und antisozialer Verhaltensdispositionen bildet hier die Basis für die Rechtzeitigkeit dieser Intervention. „Davon ausgehend ist es konsequent, dass mittlerweile die Jugendversion der PCL entwickelt wurde (s.o.), daran gearbeitet wird, „psychopaths“ bereits in der Kindheit zu identifizieren und das Einstiegsalter in Sicherungsmaßnahmen zu senken.“ (Pollähne 2010, S. 411) Es ist offensichtlich, dass ein dem Kind oder Jugendlichen erfolgreich angehaftete Etikett „gestörten Sozialverhaltens“ eine enorm gesteigerte Aufmerksamkeit sozialer Kontrollinstitutionen zur Folge hat, die sich auch auf die direkte Familie des Kindes erstreckt. Gleiches gilt für weitere negative Implikationen des Labels, da die Ursache der Störung in desolaten Familienverhältnissen, unzureichender Aufsicht und defizitären Normvermittlung, also in der mangelnden Sozialisation des Kindes verortet wird. Der Selektionsprozess gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und Wahrnehmung verläuft hier analog zu dem der Zuweisung des Labels „kriminell“ (Sack 1979). Es ist also anzunehmen, dass zum einen Kinder aus Familien mit geringem sozialen Status ein höheres Risiko tragen, dass ihnen eine „Störung des Sozialverhaltens“ diagnostiziert, dass ihr Verhalten als „antisozial“ eingeordnet wird. Mit dieser Praxis bestätigt sich dessen Ursache in „broken homes“ und mangelnder Sozialisierung auch zunehmend quantitativ. Je weiter die Familienverhältnisse also vom Ideal der bürgerlichen Familie

2.2 Die kindliche Störung des Sozialverhaltens

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entfernt sind, desto höher die Aufmerksamkeit, desto selektiver die Wahrnehmung und schließlich desto ungünstiger die Einschätzung des kindlichen Verhaltens und seiner Entwicklung. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass Familien aus sozial schwachen Verhältnissen der Betreuung durch Kontrollinstitutionen übergeben werden, da diese Institutionen mit der Supervision des Normalisierungsprozesses betraut sind. Mit der Orientierung am mittelständischen Wertekanon als Maßgabe für die Beurteilung von normalem oder abweichendem Verhalten kann vergleichbares Verhalten bei Kindern von Familien mit höherem sozialen Status hingegen nicht auf die mangelnde innerfamiliäre Vermittlung dieser Werte attribuiert werden. Damit eröffnet sich ein Raum möglicher alternativer Erklärungs- und Interpretationsprozesse, an denen die Eltern qua ihres gleich hohen wenn nicht sogar höheren gesellschaftlichen Status in der Auseinandersetzung mit Vertretern der sozialen Kontrollinstitutionen maßgeblich beteiligt sind, wenn sie ihn nicht sogar gänzlich bestimmen. Die Beurteilung von vermeintlich objektiv abweichendem Verhalten, wie die kindliche Aggression gegenüber Menschen und Tieren, unterliegt einer gesellschaftlichen Bewertung und Subjektivität der Wahrnehmung. Man betrachte allein die unterschiedliche gesellschaftliche Einordnung aggressiven Verhaltens je nach Geschlecht. Aggression ist somit nicht durch objektive Beobachtung festzustellen, sondern unterliegt Interpretations- und Schlussfolgerungsprozessen. „Der Begriff „aggressives Verhalten“ beschreibt also keine feststehende Verhaltensklasse, sondern ist ein Beurteilungsprädikat (Mummendey/Bornewasser/Löschper/Linnenweber 1982), das einem Ereignis verliehen wird und es erst damit zu einem aggressiven Verhalten macht.“ (Löschper 1992, S. 15) Die Hoheit darüber, ihre eigenen Interpretationen geltend zu machen, garantiert, dass das kindliche Verhalten nur mittels der elterlichen Akzeptanz als abweichend einzuordnen ist. Da sie darüber hinaus Inhaber und Repräsentanten des „good citizenship“ sind, wird die Aufsicht und Korrektur über den Normalisierungsprozess jedoch hier

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

in die Familie selbst zurückgegeben und nur in Ausnahmefällen durch offizielle Institutionen übernommen. Damit besteht jedoch eben jene von Labeling-Ansatz konstatierte Gefahr, das vermeintlich erkannte Problem der antisozialen Verhaltensweisen durch Zuweisung eines sozial so geächteten Merkmals erst hervorzurufen, bzw. zu zementieren. Denn nach erfolgter Zuweisung beeinträchtigt dieses Attribut jede soziale Interaktion so nachteilig, dass jegliches Verhalten des Kindes und Jugendlichen vor dem Hintergrund dieser Folie der „Antisozialität“ betrachtet werden kann. Mit dieser erhöhten Aufmerksamkeit erhöht sich auch die Sichtbarkeit von Verhalten, das als „antisozial“ eingestuft werden könnte, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit es auch als solches zu bewerten. Hingegen verblassen die immer noch einen Großteil an der Gesamtheit ausmachenden konformen Verhaltensweisen vor dem Wissen um eine Störung der Persönlichkeit, die sich durch nonkonformes Verhalten auszeichnet. Die so gelabelte Person begründet in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein Risiko für jede soziale Begegnung, denn schließlich ist das zentrale Merkmal die Rücksichtslosigkeit und die ständige Übertretung der Rechte anderer. Dementsprechend wird der Umgang von Seiten der Institutionen von engmaschiger Kontrolle gekennzeichnet sein, um das Ausmaß des Risikos einzuschränken, womit der Betroffene zunehmend in den Möglichkeiten begrenzt wird, sich zu bewähren (Erikson 1969; Quensel 1970). Ist die neurobiologische Verortung der Ursache für ASP noch für sich vorurteilslos, so wird sie mit der klaren Verortung der Aktivierung dieses biologischen Defizites in unteren gesellschaftlichen Schichten (Lykken 1995; Trembley 2014) sozial diskriminierend, und zwar von frühem Alter an.

2.3 Die ASP im Kontext der Risikoorientierten Bewährungshilfe Die neue Ausrichtung an der Minderung von Risiken sowohl in der institutionellen Justierung als auch im individuellen Lebensbereich hat nun auch in Form der Risikoorientierten Bewährungshilfe, im

2.3 Die Risikoorientierte Bewährungshilfe

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Folgenden auch als ROB abgekürzt, die Soziale Arbeit erfasst. Das von Mayer et al. 2007 vorgestellte Konzept einer neu auszurichtenden Bewährungshilfe (Mayer, Schlatter und Zobrist 2007) wird seitdem kontrovers diskutiert (Klug 2008; Fitzgibbon 2008; Schierz 2015; Lindenau und Meier-Kressig 2015). In seiner Reinform ist das Konzept der Risikoorientierten Bewährungshilfe nicht umgesetzt worden, es zeigt jedoch die Konsequenzen einer auf die Erfassung und Verwaltung von Risiken ausgerichteten Bewährungshilfe auf. Die Risikoorientierte Bewährungshilfe stellt in der Ausrichtung ihrer Methode an dem ökonomischen Grundsatz der Effizienz ehemalige Maximen der Sozialen Arbeit in Frage. Es soll nicht dargestellt werden, worin sich das von Mayer et.al. entwickelte und zunächst in der Schweiz angewandte Konzept der Risikoorientierten Bewährungshilfe von den bisherigen Methoden unterscheidet. Auch soll nicht diskutiert werden, ob die Implementierung dieses Modells sich überhaupt noch mit Prinzipien der Sozialen Arbeit vereinbaren lässt oder ob diese sich nun in Gänze einer Ordnungspolitik unterordnet. Folgerichtig wäre die Bewährungshilfe dann auch gedanklich aus der Fachrichtung der Sozialen Arbeit zu entlassen und gänzlich den staatlichen Kontrollinstitutionen zuzurechnen. Dargestellt werden sollen vornehmlich jene Aspekte, die die Brisanz einer Diagnose wie der ASP im Kontext der Risikoorientierten Bewährungshilfe zum Vorschein bringt. Anlass zur Entwicklung des neuen Modells war Kritik an der bisherigen Bewährungshilfe, diese sei mehr intuitiv von einem sozialarbeiterischen Mantra der Freiwilligkeit und der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Probanden geleitet. Die Bewährungshilfe verfolge damit eine „unspezifische Interventionsstrategie“, die es an Professionalität mangeln lasse und die sich unstrukturiert zu sehr an den Bedürfnissen des einzelnen Probanden orientiere. Dabei könne und müsse der zeitliche Aufwand in Zeiten immer knapper werdender Ressourcen effektiver genutzt werden. Vornehmlich sollten die verbleibenden Ressourcen dem Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren Straftaten zukommen.

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle „Jede Einheit, die für freiwillig ausgehandelte Hilfsprozesse verwendet wird, kann nicht dem Ziel der Risikominderung gewidmet werden.“ (Mayer, Schlatter und Zobrist 2007, S. 37)

Die Prämisse ist deutlich. Hinterfragt wird nicht weiter, welche gesellschaftlichen Prozesse zu einer solchen Verknappung der Ressourcen geführt haben. Ebenso wenig wie für die Autoren fraglos ist, dass die Verknappung auf das Notwendigste wünschenswert ist. Entscheidend ist, wie sich das ökonomische Primat der Effizienz in dem einzig noch zu verfolgenden Ziel der Bewährungshilfe, nämlich der Risikominderung, in Form von Rückfallvermeidung zum Schutz der Allgemeinheit, umsetzen lässt. Dabei sollen Problembereiche, die nicht in direktem Verhältnis zur Rückfallgefahr stehen, in der Bearbeitung zukünftig außen vor gelassen, im Zweifel noch an andere Dienstleister ausgelagert werden. Hier zeigt sich, dass über die Konsequenz ihrer Implementierung nur bedingt Einigkeit besteht. So schreibt Klug: „Neben diesen stark risikoorientierten Elementen, bleibt natürlich jederzeit die Möglichkeit, den Klient_ innen auch in nicht risikolrelevanten Bereichen zu helfen.“ (Klug 2015, S. 674) Das Modell selbst sieht Interventionen in nicht risikorelevanten Bereichen jedoch gerade nicht vor. Damit ergibt sich eine systematische Überbewertung von im Verhältnis geringer devianter zu dem Großteil der konformen Verhaltensweisen. Gesellschaftlich grundsätzlich als konform erachtete Verhaltensweisen sind jedoch nun im Kontext neuer Forderungen und Erwartungen zu betrachten. Verhaltensweisen wie Alkoholkonsum oder Wohnortwechsel, im Vorwege als neutral, in bestimmten situativen Kontexten vielleicht sogar als positiv bewertet, können die Qualität „riskant“, „abweichend“ und schließlich „verboten“ erhalten. Sie dienten nun als Indiz für die generelle Unfähigkeit sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. Mit Auflösung einer Kontextgebundenheit von Verhaltensweisen bei als riskant eingestuften Probanden könnten diese zu

2.3 Die Risikoorientierte Bewährungshilfe

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einem persönlichen Merkmal umgewertet werden. Mit der Forderung der strikten Unterlassung von sonst als „normal“ bewerteten Verhaltensweisen würde der soziale Verhaltensspielraum empfindlich eingeschränkt. Betrifft diese Restriktion Verhaltensweisen, die in einem anderen Kontext gesellschaftlich verbreitet, erwünscht oder sogar gefordert sind, befände sich der Sanktionierte in einem Spannungsfeld einander widersprechender Verhaltensanforderungen unterschiedlicher Bezugssysteme. Im Folgenden soll diskutiert werden, welche Auswirkungen die Diagnose einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer risikoorientierten Bewährungshilfe hat. Diese nimmt nicht weiter das Lebenslagenkonzept und den Resozialisierungsgedanken, dem der Straftäter als Person mit unterschiedlichen Facetten zugrundeliegt, zum Schwerpunkt. Stattdessen folgt sie der Sichtweise des Straftäters als Risikoträger, womit dem Risk-Assessment und Risk-Management ein höheres Gewicht beigemessen wird. „Diese deliktorientierte Perspektive stellte eine Innovation in der Bewährungshilfe dar. Der Schwerpunkt verschiebt sich von der Förderung der sozialen Integration hin zur gezielten Erhebung und Bearbeitung von Risikofaktoren und das Rückfallrisiko mindernden Interventionen.“ (Kanton Zürich, zit. in Klug, 2007, S. 238) Hier wird zum einen die Ausrichtung an der Minimierung der durch Delikt und Täter ermittelten Gefahr für die Allgemeinheit offenkundig, zum anderen, dass soziale Integration zunächst nicht länger als stabilisierender Faktor hinsichtlich der Rückfallminimierung zu gelten hat. Damit erhält der Schutz der Allgemeinheit absoluten Vorrang vor der Rehabilitation des Straftäters, beides wird nunmehr gedanklich voneinander abgekoppelt. In der Methode orientiert sich diese Form der Bewährungshilfe im statistischen Prognoseverfahren an der Deliktschwere und Häufigkeit sowie an der Erhebung als kriminogen geltender Faktoren zur Errechnung der Rückfallwahrscheinlichkeit und damit des Risikopotentials des Täters. Mit dem Risiko-Assessment werden neben protektiven

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Faktoren vornehmlich all jene Risikofaktoren erhoben, die nach allgemeiner Erkenntnis das Rückfallrisiko erhöhen (Mayer 2007, S. 39/40). Mittels der Zuweisung eines Wertes und Zuordnung zu einer Gruppe ist das Ausmaß der Gefahr deutlich ablesbar und auch im Verhältnis zu anderen Risikogruppen vergleichbar (Mayer 2007, S. 148). Mit dem Akt der Einstufung in verschiedene Risikogruppen, vornehmlich in der Einstufung in eine Gruppe mit „hoher Rückfallgefahr“, bliebe streng genommen die strafgerichtliche „günstige Sozialprognose“, die einer Strafaussetzung zur Bewährung vorangeht, für die darauf folgende Intensität der Kontrolle unberücksichtigt. Die vorangegangene „günstige Sozialprognose“ und damit auch die richterliche Einschätzung und Entscheidung würde damit untergraben3 . Damit verschöbe sich der Prozess des Labelings als „gefährlich und mit hoher Rückfallgefahr“ zeitlich wie kontextuell. Entfaltete dieser Prozess in Folge der Aktivierung der offiziellen Kontrollorgane für das Label „kriminell“ nach Sack vor allem innerhalb des Strafprozesses seine vollendete Wirkung (Sack 1979, S. 469), so würde dieses Label nun um weitere erweitert. Indem der Proband zuvor im Strafprozess zwar als „kriminell“ gelabelt wird, von einer (weiteren) Inhaftierung jedoch aufgrund einer günstigen Prognose abgesehen wird, bliebe diese für die im Anschluss von der Bewährungshilfe zu leistende Einschätzung des Risikos zumindest unberücksichtigt. Im Falle der Einordnung in die höchste Risikokategorie würde sie sogar in Abrede gestellt. Es wäre zu argumentieren, dieselben Faktoren, die zur gerichtlichen Aussetzung der Strafe führen, würden auch zur Risikoanamnese herangezogen, womit die Einschätzung des Strafgerichtes sich in der Einordnung zu einer Risikogruppe abbilden müsste. Demnach wäre jedoch die ganze Systematik der Risikoorientierten Bewährungshilfe mit ihrer Zuordnung obsolet. Die Erweiterung des im Rahmen des Strafprozesses angehafteten Labels „kriminell“ um die Label „hohes Rückfallrisiko“ und damit „gefährlich“ würde dann in den Bereich der Sozialen Arbeit verlagert. Womit sie die offizielle Etikettierung des 3

https://www.bewaehrungshilfe.de/wp-content/uploads/2014/01/Position-derLAG-zur-Einführung-der-Risikoorientierten-Bewährungshilfe-ROB.pdf, Zugriff am 03.07.20.

2.3 Die Risikoorientierte Bewährungshilfe

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Probanden nicht mehr nur weiterführte, sondern diese erweiterte, im Zweifel sogar maßgeblich das vom Gericht im Vorwege abgewiesene Label nachträglich eigenmächtig applizierte. Die Einordnung in die Gruppe „hohe Rückfallgefahr“ erlaubt es nun, Probanden einer engen Kontrolle zu unterstellen. Die Kritik an der aktuarischen Methode, nach der dieses Label zugewiesen wird, greift dabei jene Mechanismen auf, die Garfinkel in den „degradation ceremonies“ bereits beschrieb. Sie zeichnen sich durch die Überbetonung bekannt gewordenen und offiziell dokumentierten Verhaltens aus, vor dessen Hintergund jegliches vergangenes Verhalten retrospektiv uminterpretiert und zukünftiges Verhalten daraus prognostiziert wird (Garfinkel 1956). Damit wird jedoch eine als defizitär bewertete Vergangenheit auch für zukünftige Interaktionen festgeschrieben, zu Lasten der Entwicklung einer ressourcenorientierten Zukunftsperspektive. „Die Diagnose- und Prognosekonzepte überbewerten in ihrer empirischen Ausrichtung die statistischen Kennzahlen und verfehlen dadurch systematisch den Einzelfall und negieren in ihrer Vergangenheitsbesessenheit die Zukunftsoffenheit menschlicher Entwicklung.“ (Lindenau und Meier-Kressig 2015, S. 88) Planerisch kommt den Probanden mit einem hohen Wert, also einem hohen Rückfallrisiko, mehr Kontrolle und Intervention zu, während denen mit Zuschreibung eines geringen Risikowertes kaum Unterstützung zuteil wird. Die Form der Unterstützung bzw. Intervention richtet sich nach der neuen Systematik nicht weiter im Schwerpunkt an der sozialen Integration des Täters und seinem individuellen Unterstützungsbedarf aus. Ehemals fielen vornehmlich Faktoren wie Erwerbstätigkeit, soziale Kontakte und Wohnsituation in die Unterstützungsleistung durch den Bewährungshelfer. Nun richtet sich die Konzeption der ROB hauptsächlich an Ergebnissen der „WhatWorks“-Debatte aus (Mayer, Schlatter und Zobrist 2007, S. 45). Dem vorangegangen war die Diskussion um die Effektivität der Straftäterbehandlung und dem geäußerten Verdacht des „nothing works“. Andrews, Bonta und Hoge entwickelten in Folge das „risk-needs-

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responsivity“ Modell (RNR), mithilfe dessen die Wirksamkeit der Straftäterrehabilitation bestimmbar werden sollte (zusammenfassend A. Schmidt 2019). Zentraler Aspekt dieses Modells ist die Verhinderung von Rückfallkriminalität. Die für dieses Ziel entwickelten Prinzipien der Intervention bemessen sich an der Höhe des Rückfallrisikos (risk), den für die Rückfallprävention vorhandenen Bedürfnissen (needs) und an der Ansprechbarkeit des Straftäters (responsivity) (Kammerer 2019). Damit rücken die deliktspezifischen Eigenschaften des Täters bezüglich der Einordnung der Aspekte „risk“ und „needs“ in den Vordergrund. Zur Vermittlung rückfallminimierender Verhaltensstrategien dienen standardisierte kognitiv-verhaltensorientierte Programme wie z.B. Anti-Aggressivität-Trainings (Kammerer 2019). Die Auswahl des Interventionsprogramms ist nicht weiter am vom Probanden formulierten Bedarf ausgerichtet, sondern an der antizipierten Minderung des Rückfallrisikos. Auf welche Intervention der Täter positiv reagiert, bzw. von welcher er profitiert (responsivity) bemäße sich dann jedoch nicht an seiner Eigeneinschätzung sondern an empirischen Erkenntnissen, welches Programm sich für welchen Täter- und Persönlichkeitstyp als erfogreich erwiesen hat. Auch im Bereich der Bewährungshilfe bemüht man sich um eine „einfache Lösung für ein komplexes gesellschaftliches Problem“ (Graebsch 2004, S. 278) und verlässt sich mit der Risikoorientierten Bewährungshilfe auf die sogenannten „evidencebased-interventions“, die im Rahmen der „What-Works“-Debatte den vermeintlich aktuell gesicherten Wissensstand der jeweiligen Disziplin abbilden4 . Indes unterliegt das Konzept der ROB nicht denselben Standards hinsichtlich der Erhebung der Wirksamkeit der ROB selbst5 . 4

Zu einer kritischen Auseinandersetzung der Selektion wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihrer politischen Umsetzung und Darstellung auch methodischer Schwächen einer „Evidence-Based Crime Prevention“ anhand konkreter Beispiele, siehe Graebsch 2004. 5 So mahnte die Arbeitsgemeinschaft Deutscher BewährungshelferInnen e.V. in ihrem Positionspapier zur Einführung der ROB in Hessen an, dass die Erfahrungen mit der ROB in den Bundesländern Niedersachsen und Bayern gezeigt haben, dass diese sich in der Praxis nicht bewährt hat, womit die Implementierung in weiteren Bundesländern sich erst mit dem Nachweis der Wirksamkeit empfehlen würde (Positionspapier der LAG zur beabsichtigten Einführung der

2.3 Die Risikoorientierte Bewährungshilfe

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Auch wenn der Kontrollaspekt der Bewährungshilfe schon immer „eine Art institutionalisiertes Misstrauen der Gesellschaft gegenüber den Klient_innen“ (Klug 2015, S. 672) beinhaltete, ist der ehemals in Kontrolle und Hilfe aufgeteilte Auftrag in dem Konzept weitestgehend auf eben diesen verkürzt. Der Proband selbst hat damit auch keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die Formulierung eigener Bedürfnisse und Ziele. „Zielorientierung bedeutet nämlich auch, dass keine Ziele mit dem Probanden entwickelt oder „ausgehandelt“ werden. […] Die als nötig erkannten Veränderungsziele werden explizit benannt und den Probanden erläutert.“ (Mayer, Schlatter und Zobrist 2007, S. 43) Angesichts der Belanglosigkeit, die dem vom Probanden selbst formulierten Bedarf eingeräumt wird, muten Passi wie „Unterstützung“, „Arbeitsbündnis“ und „Compliance“ geradezu paradox an. Zur Erfüllung der Rückfallvermeidung bedarf es einer Einschätzung des vom Probanden ausgehenden Risikos im Rahmen eines sogenannten Risiko-Assessments. Es muss konkret über die „verschiedenen Lebensbereiche hinaus auch Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensgewohnheiten im Sinne von criminogenic needs (Andrews 1995) der Probanden erfassen. “ (Mayer, Schlatter und Zobrist 2007, S. 39). Die Erhebung des Risiko-Potentials richtet sich im Anschluss in erster Linie an die den Einzelfaktoren zugewiesene Rückfallwahrscheinlichkeit und dem damit vermuteten Schaden für potentielle Opfer. Dabei verläuft die Prognose der Rückfallwahrscheinlichkeit anhand verschiedener Prognosechecklisten, die mal mehr statistisch mal mehr klinisch in ihrem Verfahren ausgerichtet sind. Die Intensität der darauf risikoorientierten Bewährungshilfe (ROB) in Hessen, 27.01.14). So stellt die Arbeitsgemeinschaft fest, dass der Hilfeprozess vollständig durch den Kontrollund Risikomanagementprozess verdrängt wurde, was in dem Konzept der Risikoorientierten Bewährungshilfe zwar auch deutlich als intendiertes Ziel zum Ausdruck kommt, jedoch ein wesentlicher Kritikpunkt des Positionspapiers ist. Der Nachweis der Wirksamkeit des Konzeptes bemisst sich also auch daran, was als Erfolgsindikator gesetzt wird.

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

folgenden Intervention, also das Ausmaß der Kontrolle, der der als risikobehaftet Identifizierte unterworfen wird, bemisst sich an dem Wert, den er nach Erstellen und Auswerten einer Checkliste zugeordnet bekommt. Dabei folgt es dem Prinzip der Zuordnung des Einzelnen zu bestimmten Risikogruppen mit spezifischem Wertebereich (Scores) von Rückfallwahrscheinlichkeit und der daraus abgeleiteten Prognose seines zukünftigen individuellen Verhaltens. Es handelt sich also um Summenbildungen von Risikofaktoren und der Zuordnung des Einzelfalls zu einer normierten Risikogruppe mit ähnlicher Ausprägung, deren erhobene Rückfallquote als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird. Als eines der aktuellen Erfassungsinstrumente stößt die LSI-R (Level of Service Inventory-Revised) von Andrews und Bonta auf vermehrten Zuspruch, da in ihr neben der hauptsächlich aktuarischen Erfassung auch klinische Items mitberücksichtigt werden (Dahle, 2008; Mayer, 2007). Als Prädiktorvariablen bildet es die von Andrews und Bonta als „big four“ bezeichneten Prädiktoren ab. Vor der Folie der Diagnosekriterien der antisozialen Persönlichkeitsstörung, findet sich mit drei der Prädiktoren komplette Übereinstimmung. In Kürze führt Mayer auf: 1. antisoziale Einstellungen 2. problematische Persönlichkeitsmerkmale wie Impulsivität, geringes Einfühlungsvermögen, geringe Selbstkontrolle, Risikofreude 3. kriminelle und antisoziale Verhaltensweisen in der Vorgeschichte (Mayer 2007, S. 155) Der vierte Prädiktor ebenso wie vier weitere, die den Kreis der Faktoren auf die „big eight“ erweitern, umfassen die mit ASP und Kriminalität in kausalen Zusammenhang gebrachten und mit der gesellschaftlich unteren Schicht assoziierten sozio-strukturellen Merkmale wie geringe Ausbildung, Aufwachsen in Problemvierteln, Kontakt zu kriminellem Milieu und elterliche Vernachlässigung (Wilson 1989; Ricketts 1990; Marks 1991). Zur Optimierung der Dokumentation und Nachvollziehbarkeit des Arbeitsprozesses durch Dritte lassen sich alle Schritte durch eine ent-

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sprechende Software ( wie z.B. OASys - Offender Assessment System) abbilden, vom Risk-Assessment, über die geplante Intervention, Zwischenschritte, Aufgabenverteilung, Zeitplan und nicht zuletzt, woran die Erreichung des Zieles zu bemessen ist (Mayer 2007). Vornehmlich der als Risikoproband Etikettierte befindet sich damit in einem streng überwachten und dokumentierten Prozessablauf, innerhalb dessen zusätzliche vertiefende Abklärungen ausgelöst werden, wie z.B. bei Sexual- und Gewaltstraftaten, Drogenkonsum und psychischen Störungen. Mit der Erweiterung um andere standardisierte Prognoseinstrumente lässt sich nun auch das Vorliegen einer antisozialen oder psychopathischen Persönlichkeitsstruktur durch den Bewährungshelfer abklären (Mayer 2007, S. 167). Nun gibt es eine Übereinstimmung der im Rahmen des Risk-Assessment abgefragten Items und den Diagnosekriterien sowohl der ASP als auch der psychopathy. So wird eine Prognosecheckliste von Mayer als Beispiel angeführt, die unter anderem die Felder Kriminalitätsentwicklung, Persönlichkeit und psychische Störung, soziale Kompetenz sowie spezifischen Konfliktverhalten abfragt. In der Kategorie „prognostisch ungünstig“ finden sich Merkmale, die die Diagnosekriterien einer ASP nach DSM-V abbilden: Kriminalität als eingeschliffenes Verhaltensmuster, Gewaltanwendung, instabile Arbeitsverhältnisse und Beziehungen sowie geringe Frustrationstoleranz und Impulsivität. Gleichermaßen als „prognostisch ungünstig“ wird zudem explizit die Herkunft aus dissozialem Milieu sowie das Vorliegen einer Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung mit dissozialen Merkmalen benannt. Diese ist nach Dissozialitäts- und „psychopathy“-Kriterien beurteilbar (Mayer 2007, S. 151). Da es also eine Überlappung von Merkmalen einer ungünstigen Prognose wie für das Vorliegen einer ASP gibt, besteht die Gefahr, dass die Feststellung des einen die Feststellung des anderen quasi „automatisch“ nach sich zieht. Hemmt die Etikettierung von Probanden zu Beginn eines Prozesses nach Risikoklassen schon Entwicklungschancen, so gilt das für eine parallele Zuordnung einer ASP oder deren vorherige Kenntnis aufgrund gerichtlicher Gutachten umso mehr, da sie eine schlechte Rückfallprognose aufgrund ihrer Diagnosekriterien bereits in sich

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

birgt. Verbunden mit dem konstatierten Behandlungsunwillen und daraus folgend stark erschwerter Behandelbarkeit (Rauchfleisch 2000; Pecher 2011; Kastner 2011; Bosch, Rijckmans, Decoene u. a. 2018) einer ASP sowie höchster Risikoeinschätzung, kann sich der hohe Unterstützungsaufwand der Hochrisikogruppe, der sich nach dem Konzept der ROB ergibt, jedoch entweder in Kontrollmaßnahmen oder Trainings erschöpfen. Zwar gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit von „evidence-based-interventions“ bei mit ASP-Diagnostizierten, diese zielen jedoch häufig eben auf Teilaspekte der Störung ab, meist jene mit Deliktbezug, ohne die Störung selbst zu therapieren (Bosch, Rijckmans, Decoene u. a. 2018). Im Zuge der Effizienzorientierung hält das System damit kein ernsthaftes Therapieangebot für diejenigen vor, die von ihm mit dem höchsten Rückfallrisiko und entsprechend hohem Bedarf an Intervention belegt werden, da sich die Sinnhaftigkeit und damit Realisierung der Intervention rein an deren antizipierten Wirksamkeit zur Rückfallprävention bemisst. Damit steht die Minimierung bis Eindämmung des durch die Persönlichkeit des Probanden selbst ausgemachten Risikos im Vordergrund und erschöpft sich in weitgehenden Restriktionen des Verhaltens und deren stetiger Kontrolle. „Moreover, in the case of antisocial personality disorders, the most contentious group, it is undoubtly the case that, worldwide, the majority are „managed“ most of the time by the criminal practice sytem rather than by health services.“ (Kendell 2002, S. 112) Allgemein gilt die Behandlung von Personen mit ASP aufgrund der Eigenheit der Störung selbst, vornehmlich hier aufgrund fehlender intrinsischer Motivation als außerordentlich schwierig (Rauchfleisch 2000; Pecher 2011; Bosch, Rijckmans, Decoene u. a. 2018; Duggan 2009; Kastner 2011). Argumentativ steht der mangelnde Wille zur Auseinandersetzung mit der eigenen Störung und vergangener Taten entsprechenden behandlerischen Maßnahmen entgegen und rechtfertigt damit Maßnahmen der Sicherung und Kontrolle.

2.4 Die ASP im strafrechtlichen Kontext

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2.4 Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung im Kontext strafrechtlicher Sanktionen Mit der engen Verwebung einer Persönlichkeitsstörung mit kriminellem Verhalten kommt dieser per se eine kriminalpolitische und im Besonderen strafrechtliche Bedeutung zu. Die Konstruktion einer Persönlichkeitsstörung, deren maßgeblicher Kern Straffälligkeit ist, wirft die Frage nach der Schuldfähigkeit, Legalprognose, Gefährlichkeit und einer geeigneten strafrechtlichen Reaktion auf. Vor allem aber wirft sie Fragen danach auf, was eine psychische Störung im Strafrecht unter dem Aspekt des normativen Postulats sein soll. Hier ist die Strafrechtsdogmatik weit davon entfernt, eine einheitliche Auffassung mit einer Zuordnung zu den bereits bestehenden Passi des § 20 StGB zu entwickeln. Dabei drängt sich der Verdacht auf, eben diese Unbestimmtheit eröffne die willkommene Möglichkeit, sich über langfristige Verwahrung jener Täter zu entledigen, denen die Gesellschaft mit starkem Ressentiment begegnet und denen gegenüber sie punitiv eingestellt ist. Sie können auch kriminalpolitisch als Störnis gelten, insofern die „Gewohnheitsverbrecher“, „Berufsverbrecher“ und „Hangtäter“ dem ersten äußeren Anschein nach mit ihren beständigen Rechtsbrüchen die Wirkungslosigkeit der strafrechtlichen Reaktionsformen nach außen zu demonstrieren scheinen. Mit der Verortung der Ursache dieser vermeintlichen Wirkungslosigkeit staatlicher Sanktionen auf einen gestörten inneren Zustand des Täters wird die Wirkungsmacht des Strafsystems hinsichtlich der Aspekte Strafe und Schutz wiederhergestellt und Maßregeln wie die Sicherungsverwahrung werden legitimiert. „Die Rede von den „Unverbesserlichen“ impliziert, dass sie durch keine Strafe vom Verbrechen abzuhalten, sondern von Natur aus dazu disponiert sind.“ (Hofinger 2013, S. 10) Die Rede von dem unverbesserlichen Rückfalltäter in Verbindung mit einer psychischen Störung wie der ASP, die sich in ihrer Bestimmung durch kriminelle Rückfälle ausdrückt, wirft gerade in Verbindung der strafrechtlichen Maßregeln wie § 63 StGB und § 66 StGB die Frage

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

nach dem Ausmaß der Beeinträchtigung durch sie und ihre Behandelbarkeit auf. Die Disposition zur „Unverbesserlichkeit“ entbindet den Betroffenen mitnichten aus der Verantwortung für seinen Zustand und Taten. Vielmehr ist er angehalten ein weit höheres Maß an Selbstführung aufzubringen und nach außen sichtbar zu machen, worauf näher eingegangen wird, wenn es um den Krankheitswert der ASP geht. Ist dieser „Unverbesserlichkeit“ nicht erfolgreich entgegenzuwirken, orientierten sich strafrechtliche Maßnahmen nunmehr weniger an der Schuld des Täters und damit zeitlich begrenzten Vergeltung der Tat als an seiner Gefährlichkeit. Inwieweit tatsächlich eine Tendenz besteht, Straftäter tatsächlich eher in Sicherungsverwahrung zu bringen und sie dort länger zu belassen, kann hier nicht ausreichend überprüft werden. Allerdings sind die Gefangenen- und Verwahrtenzahlen in den Justizvollzugsanstalten in dem Zeitraum 2009 - 2019 fast durchgehend rückläufig 6 , wohingegen die Anzahl der Sicherungsverwahrten für denselben Zeitraum für das Jahr 2019 einen neuen Höchststand verzeichnete 7 . Dem kann ein kumulativer Effekt zugrunde liegen, da innerhalb des Zeitraumes die Anzahl der Neuzugänge von einem Tiefstwert im Jahr 2012 von 445 Verwahrten auf 581 Verwahrten im Jahr 2019 136 beträgt, vorausgesetzt dass innerhalb des Zeitraumes keiner entlassen wurde. Über die Entwicklung der durchschnittlichen Dauer des Verbleibs in Sicherungsverwahrung existieren allerdings auch keine Statistiken. Mit dem Konstrukt des „von Natur aus unverbesserlichen Kriminellen“ ist das strafrechtliche Dogma der Resozialisierung des Täters, also dessen Wiedereinbindung in die rechtskonforme Gesellschaft als langfristiger Schutz dieser vor den kriminellen Taten des Täters, gedanklich aufgeweicht und wird durch das Konzept der Sicherung ersetzt. Nun hat das Strafrecht mit den § 20 und § 21 StGB grundsätzlich dem Umstand Rechnung getragen, dass Straftäter aufgrund einer seelischen Störung für ihre Tat als nicht oder vermindert verantwortlich 6

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/225/umfrage/gefangene-undverwahrte-seit-dem-jahr-2000/, Zugriff am 20.06.20. 7 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75094/umfrage/strafgefangenein-sicherungsverwahrung/, Zugriff am 20.06.20.

2.4 Die ASP im strafrechtlichen Kontext

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gesehen werden können, wenn die Störung eine gewisse Schwere und einen entsprechenden Zusammenhang zur Tat aufweist. Mit dieser Feststellung erhält zunächst die Behandlung der Störung Vorrang vor dem Strafcharakter, jedoch rückt neben der Orientierung am Täter als Person der Schutz der Öffentlichkeit ebenfalls in den Vordergrund. Das Rechtsinstitut der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB deckt den Aspekt der vorrangigen Behandlung eines für die Allgemeinheit gefährlichen psychisch kranken Straftäters ab. Daneben bildet die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB den Schutz der Allgemeinheit vor einem als gefährlich erachteten Täter, ohne dass dieser psychisch erkrankt sein muss, im deutschen Rechtssystem ab. Dabei ist die Unterbringung nach § 66 StGB nicht wie § 63 StGB an eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit geknüpft, womit sich die Sicherungsverwahrung an jene Täter richtet, die für ihre Taten als voll verantwortlich gesehen werden. Historischer Vorläufer der derzeitigen Sicherungsverwahrung war das 1933 von den Nationalsozialisten erlassene „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Maßregeln der Sicherung und Besserung“, nach dem eine Strafverschärfung allein aufgrund wiederholter Straffälligkeit verhängt werden konnte, sofern aus dieser ersichtlich war, dass der Täter ein Gewohnheitsverbrecher ist8 . Dieses Gesetz wurde neben einer Vielzahl anderer Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen und stellte die Auffassung der Erblichkeit kriminellen Verhaltens heraus. Zur Verhütung der Weitergabe von Verbrecheranlagen galt neben der Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern der langfristige Wegschluss als probates Mittel (Gütt, Rüdin und Ruttle 1936). Der Schutz der Öffentlichkeit stand im Vordergrund. „In den neuen Strafbestimmungen wird die Möglichkeit geschaffen, nicht durch Bestrafung der Verbrecher, sondern auch durch Maßnahmen der Sicherung und Besserung die Allgemeinheit ganz anders wie bisher vor Verbrechern zu schützen.“ (Gütt, Rüdin und Ruttle 1936, S. 61) 8

https://www.servat.unibe.ch/dns/RGBl_1933_I_995_G_Gewohnheitsverbrecher.pdf, Zugriff am 20.06.20.

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

Der Zweck der Besserung ist bei den heutigen Maßregeln vor den der Sicherung gerückt, wobei der Besserungszweck sich bei den nach § 63 StGB Untergebrachten zunächst ganz unmittelbar erschließt, da hier die angenommene Gefährlichkeit an eine bestehende psychische Erkrankung geknüpft ist, die zu behandeln ist. Hingegen richtete sich die Sicherungsverwahrung an den ehemals als „Gewohnheitsverbrecher“ nun als „Hangtäter“ deklarierten Täter. Es wird sich zeigen, dass die ASP hier eine Sonderstellung innerhalb der Persönlichkeitsstörungen einnimmt, da bei ihr die Verhaltensaspekte, nämlich kriminelles Verhalten, überbetont sind und sie zudem Parallelen zu den Merkmalen aufweist, die auch zur Prüfung eines möglichen „Hanges“ dienen (Habermeyer und Saß 2004). Und so finden sich unter den Sicherungsverwahrten mit Persönlichkeitsstörungen auch vornehmlich jene mit einer Antisozialen oder Dissozialen Persönlichkeitsstörung (Schäfer 2019, S. 24) bei einer allgmein sehr hohen Prävalenz von ASP bei Sicherungsverwahrten von bis zu 77% (Habermeyer, Passow und Vohs 2010, S. 271). Vornehmlich der Sicherungscharakter der Maßregeln ließ sich mithilfe der Herausstellung einer Bedrohung durch den Täter und des Schutzes der Gesellschaft vor diesem begründen und kriminalpolitisch verwerten. Hingegen erfordert die Orientierung an dem Täter als behandlungsbedürftiger Person eine weit diffizilere Auseinandersetzung innerhalb des strafrechtlichen Kontextes. Sie dürfte in einer zunehmend an Sicherheit und Opferschutz orientierten Gesellschaft in der öffentlichen Vermittlung erschwert sein und kaum die erwünschte breite Unterstützung einbringen. Mit der Feststellung einer aufgrund defizitärer neurobiologischer Ausstattung und deren Aktivierung durch ein Sozialisationsdefizit per se gefährlichen Personengruppe wurde eine Atmosphäre der öffentlichen Meinung geschaffen, die sowohl bereits bestehende rigide strafrechtliche Maßnahmen wie die Sicherungsverwahrung sowie deren Verschärfung (Graebsch 2019) zum Schutz der Öffentlichkeit legitimiert. Die Verknüpfung bestimmter psychischer Störungen wie der Psychopathie, bzw. ASP mit der Begehung schwerster Gewalt- und Sexualerbrechen beförderte zusätzlich eine punitive Einstellung der

2.4 Die ASP im strafrechtlichen Kontext

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Öffentlichkeit. Gleichermaßen werden kriminalpolitische Mechanismen offenbar. So erlaubte die öffentlichkeitswirksame Proklamation einer besonderen Bedrohung durch spezifische Personengruppen und deren Formulierung als soziales Problem zu dessen Lösung die Durchsetzung strafverschärfender Gesetzgebung und Ausweitung polizeilicher Eingriffsbefugnisse. Ein illustratives und frühes Beispiel für die Dynamik einer solchen Konstruktion ist die Genese der sogenannten „Sexual Psychopaths Laws“. Erlassen wurden sie erstmals 1937 in Michigan, bis 1949 folgten weitere elf Bundesstaaten (Sutherland 1950). Im Vorwege ihrer Erlassung stand die öffentliche Darstellung einer wachsenden Bedrohung durch „sexual psychopaths“ und damit deren Wahrnehmung als soziales Problem. Auf den Weg gebracht wurden die „sexual psychopath laws“ durch eine Anzahl vorangegangener Behauptungen, die die Zwangsläufigkeit einer eigenen Gesetzgebung für diesen speziellen Tätertypen herausstellten. Sutherland beschreibt diese Dynamik eindringlich, die ihren Anfang in öffentlichen Behauptungen durch von Quinney als „authorized agents“ bezeichneten Personen und Institutionen nimmt9 . „Namely, that the present danger to women and children from serious sex crimes is very great, […]; that most sex crimes are committed by „sexual psychopaths“ and that these persons persist in their sexual crimes throughout life; that they always give warning, that they are dangerous by first committing minor offenses; that any psychiatrist can diagnose them with high degree at any early age, before they committed serious crimes; and that sexual psychopaths who are diagnosed and identified should be confined as irresponsible persons until they are pronounced by psychiatrists to be completely and permanently cured of their malady.„ (Sutherland 1950, S. 142) 9

„Authorized agents“ sind nach Quinney jene Akteure, die qua ihres gesellschaftlichen Status in einer politisch organisierten Gesellschaft die Definiton und anschließende Bewertung menschlichen Verhaltens innehaben. Im Bereich kriminellen Verhaltens sind es entsprechend Vertreter und Institutionen vornehmlich des strafrechtlichen aber auch des politischen Systems.“(Quinney 1973).

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle

Durch das Herausstellen einer enormen Gefahr durch psychisch gestörte Täter rückt der Sicherungsaspekt in den Vordergrund, als dass der Täter so lange aus der Gesellschaft zu nehmen ist, bis er im Zuge einer erfogreichen Behandlung seiner Störung keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt. Damit schließt sich die Frage nach einer erfogreichen Behandlung vor dem Hintergrund der Prognose zukünftiger Ungefährlichkeit an, die noch an späterer Stelle behandelt wird. Die Konstruktion eines sozialen Problems erschöpft sich nicht in der Durchsetzung einzelner punktueller Gesetzgebungen, sondern schafft eine allgemeine Atmosphäre, die weitläufige Umstrukturierungen des staatlichen Kontroll- und Sanktionsapparates erlaubt. „Unabhängig von statistisch erfassbaren Häufigkeiten bilden Bedrohungen die Grundlage für mediale und politische Empörungen, kreieren moralische Paniken und sind im Einzelfall geeignet, als ‚kulturelles Drama‘ oder ‚cultural trauma‘ (de Haan 2007; Eyerman 2008), die Richtung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen nachhaltig zu beeinflussen.“ (Groenemeyer 2010, S. 11) Mit dem Auslösen „moralischer Paniken“ lassen sich also ohnehin schon scharfe strafrechtliche Sanktionen wie die Sicherungsverwahrung weiter ausbauen. Die Entwicklung der Sicherungsverwahrung seit 1998 demonstriert eine solche sukzessive Ausweitung und Verschärfung des Institutes. Ehemals als „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ 1933 von den Nationalsozialisten erlassen, wurde die Sicherungsverwahrung im Zuge der von der Großen Koalition verabschiedeten Strafrechtsreform nach dem 2. Weltkrieg 1969 zunächst in ihren materiellen und formellen Voraussetzungen restriktiver gefasst. Ihre Dauer wurde auf 10 Jahre begrenzt. Diese Restriktion und zeitliche Begrenzung der Sicherungsverwahrung wurden mit den Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 jedoch rückwirkend aufgehoben (BT-Drs. 13/8586). Zudem wurden die formellen Hürden für die Verhängung der Sicherungsverwahrung gesenkt. Dieser Gesetzesvorstoß fiel zeitlich

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eng mit der Aufdeckung gravierender Einzelfälle, wie unter anderem dem medial stark präsenten und aufsehenerregenden Fall von Marc Dutroux in Belgien zusammen und wird als gesetzgeberische Reaktion darauf bewertet (Dünkel 2004, S. 42). Mithin findet sich diese Begründung des Gesetzesentwurfes als Reaktion auf die zuletzt bekannt gewordenen schweren Straftaten im Entwurf selbst (BT-Drs. 13/7163). Mit Aufhebung der 10-Jahres-Befristung und der Reduzierung der Anordnungsveraussetzung auf nunmehr eine schwere Anlasstat wurde zudem herausgestellt, dass eine freiheitsentziehende Maßregel nur dann ausgesetzt wird, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird.“ (BT-Drucksache 13/9062, S.5). Mit der Herabsetzung der Voraussetzungen auf eine Anlasstat wurde die „allgemein geltende Ungefährlichkeitsvermutung […] tatsächlich in eine Gefährlichkeitsvermutung verkehrt, die nur über einen Sachverständigen widerlegt werden kann.“ (Graebsch 2019, S. 312). Diese Vorverlagerung des Eingriffszeitpunktes eines zeitlich unbegrenzten Wegschlusses zur Verhütung weiterer Straftaten wird außerordentlich kritisch gesehen und in Zusammenhang mit einer Entwicklung hin zu dem „Precrime-Gedanken“ gebracht (Graebsch 2017; Graebsch 2019). Allein der Bezug zu einer Anlasstat sichert hier noch die Grenze zu einer reinen „Pre-Crime-Einsperrung“ (Graebsch 2019). Damit wurde die Möglichkeit der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung mit dem Begriff Erprobung, der die Inkaufnahme eines Restrisikos der Begehung rechtwidriger Taten impliziert, auf die Stellung einer Prognose rechtskonformen Verhaltens im Sinne nicht weiter fortbestehender Gefährlichkeit eingeengt. 2016 wurde dieser Passus auf „erheblich rechtswidrige“ Taten eingegrenzt (BT-Drs. 18/7244). Dem kann jedoch eigentlich nur symbolische Bedeutung zukommen, da die Erheblichkeit bei Anordnung der Maßregel anhand der Anlasstat bereits bestätigt wurde, ebenso wie die Gefahr weiterer gleichartiger Taten. Mit der Beweislastumkehr ist der Betroffene also verpflichtet sich entgegen der Gefährlichkeitsvermutung als ungefährlich zu erweisen (Graebsch 2017). 2002 wurde das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung beschlossen. 2004 wurde

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schließlich auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt. Die verfassungsrechtlichen Bedenken unter anderem hinsichtlich des Rückwirkungsverbotes von Strafgesetzen nach Artikel 3, Abs. 2 GG für sogenannte „Altfälle“ wies das Bundesverfassungsgericht 2004 zunächst zurück mit der Begründung dieser Verfassungsgrundsatz umfasse nicht Maßnahmen der Besserung und Sicherung (2 BvR 2029/01). Diese Ausweitungen und Verschärfungen mit der schließlichen Ausweitung des Instituts der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch auf das Jugendstrafrecht, dessen Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT-Drucksache 16/6562) 2008 vom Bundestag unverändert übernommen und verabschiedet wurde (BR-Drucksache 440//08), können als eine oben angeführte „Verbeugung politischer Entscheidungsträger vor der öffentlichen Meinung“ (Meier 2015, S. 167) gedeutet werden. Es lässt sich eine Wechselwirkung feststellen, insofern die Konstruktion eines sozialen Problems ein Klima der Punitivität in der Bevölkerung befördert, der Gesetzgeber diesem mit Erlassung neuer oder Ausweitung, bzw. Verschärfung vorhandener Strafgesetze folgt, damit bestätigt und erneut befördert. Die unmittelbare Einführung des Therapieunterbringungsgesetz für psychisch gestörte Gewalttäter (ThUG) verdeutlicht eine solche wechselseitige Beeinflussung. Die folgende chronologische Zusammenfassung illustriert zudem die zunehmenden Eingang des Begriffes der psychischen Störung in die rechtlichen Bestimmungen. Der Einführung des ThUG vorausgegangen waren beginnend 2009 mit der Individualbeschwerde M. gegen Deutschland10 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), nach denen die rückwirkende Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gewertet wurde, unter anderem da diese als Strafe zu werten und damit vom Rückwirkungsverbot erfasst sei. Im Dezember 2010 wurde das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und begleitenden Regelungen durch den Bundestag beschlossen (BT-Drucksache 10

Rechtssache M. gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04 und Nr. 20008/07).

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17/3403). Dabei machte sich der Gesetzgeber eine durch den EGMR erfolgte Prüfung und Bestätigung zunutze, nach der ein Freiheitsentzug mit Art 5, Abs. 1, Satz 2 lit. e EMRK generell vereinbar sei, sofern die unterzubringende Person „of unsound mind“ sei. Mit diesem Passus der „person of unsound mind“ eröffnete sich die Möglichkeit, die rückwirkende Sicherungsverwahrung nun als Therapieunterbringungsgesetzes für psychisch gestörte Straftäter (ThUG) recht unverhohlen umzuetikettieren und zu verabschieden. Damit sah der Nationalstaaat seine durch die Entscheidung des EGMR eingeschränkte Autonomie in legislativen Entscheidungen unverzüglich wiederhergestellt. Ein halbes Jahr später stellte das Bundesverfassungsgericht im Mai 2011 die Unvereinbarkeit der gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz fest und forderte den Gesetzgeber auf ein Regelungskonzept der Sicherungsverwahrung auszugestalten, das den verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Wahrung des Abstandsgebotes entspricht (2 BvR 2365/09). Bis Juni 2013 sollten jedoch die bisherigen Regelungen in Kraft bleiben, für die „Altfälle“ sowie nach § 66b, Abs. 2 StGB oder § 7, Abs. 3 JGG nachträglich Sicherungsverwahrte bedurfte es laut Bundesverfassungsgericht nun für deren weitere Unterbringung einer psychischen Störung im Sinne des ThUG. Damit war der Anwendungsbereich des ThUG eigentlich aufgehoben, da die mit diesem Gesetz erfassten Fälle durch die Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichtes abgedeckt wurden. Mit der auf ThUG folgenden Übergangsvorschrift Art. 316f Abs.2 EGStGB wurde der Anwendungsbereich für ThUG im Grunde obsolet, da mit Art. 316f Abs. 2 die Möglichkeit der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung weiterhin bestehen blieb, sofern beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt, aus der sich eine hochgradige Gefahr ableiten lässt, dass er schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten begehen wird. Wobei Art. 316f Abs. 2 die Schwelle einer weiteren Unterbringung zumindest der Formulierung nach höher legte als die von ThUG geforderte hohe Wahrscheinlichkeit der erheblichen Beeinträchtigung entsprechender Rechtsgüter. Die in Folge der Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung und der zu begleitenden Regelungen entstandene Unübersichtlichkeit wurde mit Art. 316e EGStGB,

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durch den die „Regelungen über die Sicherungsverwahrung je nach Zeitpunkt der Anlasstat nunmehr drei unterschiedlichen zeitlichen Regimen unterlagen“ (Kinzig 2015, S. 156), verstärkt. Auch sind die formellen Voraussetzungen des Anwendungsbereichen vornehmlich bei den sogenannten „Mischfällen“ alles andere als eindeutig, woran auch innerhalb der Profession Kritik laut wird. „Das alles liefe letztlich doch darauf hinaus, und erste Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern lassen dies erkennen, Menschen in der Sicherungsverwahrung zu belassen, die nach neuem Recht dort nicht mehr ‚landen‘ würden […].“ (Pollähne 2011, S. 219) Dass ThUG als legislatives Feigenblatt angesehen werden darf, wird durch § 2 ThUG Abs. 2 noch untermauert, insofern danach für die Therapieunterbringung geeignete Einrichtungen unter bestimmten Voraussetzungen auch jene im Sinne des § 66c Abs. 1 StGB sind, womit psychisch gestörte Straftäter mit jenen, die „nur“ sicherungsverwahrt sind konzeptionell auch gemeinsam untergebracht werden können. Nicht nur aufgrund der unverhohlenen Umetikettierung der „nachträglichen Sicherungsverwahrung„ in eine „nachträgliche Therapieunterbringung“ geriet der Vorstoß des ThUG in massive Kritik verschiedener Professionen11 . Doch aufgrund seines geringen Anwendundungsbereiches zeigt es kriminalpolitische Aspekte und Prozesse umso eindringlicher auf. Hier hat der Gesetzgeber eine eigene Gesetzgebung geschaffen, um jene in nachträglicher Sicherungsverwahrung zu belassen, die sonst aus ihr hätten entlassen werden müssen. Schließlich wurde „die Therapieunterbringung in der Praxis überhaupt nicht benötigt […], weil der fragliche Personenkreis aufgrund der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichtes schlicht in Sicherungsverwahrung bleiben konnte und nach Art. 316f EGStGB die nachträgliche Sicherungsverwahrung ausdrücklich trotz ihrer weitgehenden Abschaffung durch die Hintertür in die Zukunft perpetuiert wird.“ (Graebsch 2019, 11

https://www.polizei-newsletter.de/documents/2013_Offener_Brief_nachtraegliche_Therapieunterbringung.pdf, Zugriff am 21.06.20.

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S. 314). Jedoch bereitete die Formulierung des ThUG mit der Einführung des Begriffes der „psychischen Störung“ erst den fruchtbaren Boden für diese Übergangsregelung. Die Notwendigkeit einer eigenen Gesetzgebung für eine sehr kleine Gruppe von Tätern bestand darin, sich als Regierung medienöffentlich dem Schutz der Allgemeinheit vor als vermeintlich gefährlichen Gewalt- und Sexualtätern zu verschreiben. Vermeintlich deswegen, da Kriminalitätsprognosen aus vielerlei Gründen wie dem Fehlschluss von Merkmalen einer Population auf das Verhalten des Einzelnen oder die allgemeine Unsichtbarkeit der „falsch Positiven“ erhebliche Unsicherheiten aufweisen. „Da deren Legalbewährung in der Praxis nicht überprüft werden kann, wird bereits erkennbar, dass die Basisrate zwar eine reale Größe ist, deren Umfang man sich aber bisher nur mittels eines theoretischen Konstrukts angenähert hat.“ (Alex 2010, S. 59) Schließlich sei noch die Unsicherheit gutachterlicher Prognosen zukünftigen Verhaltens angemerkt. In seiner Studie zeigte Alex, dass diese zwar selten gefährliche Straftäter als solche nicht erkennen, jedoch in umso höherem Ausmaß Straftäter als gefährlich einstuften, die innerhalb des Katamnesezeitraumes von 5 Jahren nicht wieder strafrechtlich in Erscheidung getreten sind. „Die Problematik der ‘falsch Positiven‚ zeigt sich also auch in dieser Untersuchung. 30 von 46 als hochgefährlich Eingeschätzten, das sind 65%, sind bisher entgegen der Prognose nicht wieder auffällig geworden.„ (Alex 2010, S. 95) Die Diskussionen um die Problematik der “falsch Positiven“ soll hier nicht detailliert erfolgen. Dass der Gesetzgeber diese jedoch unberücksichtigt lässt, ist Ausdruck der Selektion, in welchem Ausmaß und zu welchen Anlässen der Gesetzgeber sich an kriminologischen Erkenntnissen zu orientieren gewillt ist (Kinzig 2020).

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle „Es hat fast den Anschein, als hätte die kriminologische Erkenntnis mit umgekehrten Vorzeichen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess.“ (Graebsch 2009, S. 735)

Der Gesetzgeber richtet damit strafrechtliche Entscheidung am Zuspruch und der Unterstützung durch die Öffentlichkeit aus, während diese im Vorwege durch gezielte Medienöffentlichkeit erreichbar ist. Er schafft sich die Anlässe und Notwendigkeiten seines Eingreifens mit dem Entwurf von Bedrohungsszenarien zuweilen selbst, womit die immer weiter voranschreitenden staatlichen Eingriffsrechte legitimiert werden (Gutsche 2008). Diese Demonstrationen erforderlicher staatlicher Eingriffe dienen dem Machterhalt und - ausbau und sind eine geeignete Vorführung der von Sack wie auch von Quinney angesprochenen strafrechtlichen Normgenese mächtiger gesellschaftlicher Gruppen. Im Falle des ThUG wie gleichermaßen der Sicherungsverwahrung trifft es zudem eine Population, der mit starken gesellschaftlichen Ressentiments aufgrund des ihr zugeschriebenen Versagens der Unterdrückung des Sexualtriebes und der Impulskontrolle begegnet wird. So fand sich dieser Bezug bereits 1997 im „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ (BT-Drucksache 137163). Und so erwähnt der Gesetzgeber explizit in seiner Formulierung des ThUG, welche Täter er mit diesem Instrument nach Entlassung aus der Sicherungsverwahrung wieder zu erfassen erachtet, die Täter mit dissozialer Persönlichkeitsstörung und jene mit Paraphilien, ausdrücklich die mit Pädophilie und Sadomasoschismus (BT-Drucksache 17/3403, S.54). Es sind indes jene Täter, die die höchste mediale Aufmerksamkeit erfahren, trotz ihres geringen Anteils an der Gesamtpopulation der Täter schwerer Delikte. Für diese bedarf es einer gänzlich eigenen, sich stetig entwickelnden Gesetzgebung, die darüber immer unübersichtlicher wird. „Dadurch, dass der Gesetzgeber auf fast jede neue schwere Rückfalltat mit einer so genannten Reform reagiert, ist ein eigenes, nur noch Eingeweihten in glücklichen Stunden verständliches Rechtsgebiet entstanden: die Sicherungsverwahrung.“ (Kinzig 2010, S. 51)

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In Einrichtungen der Sicherungsverwahrung finden sich demnach jene Straftäter, die nach § 66 StGB aufgrund ihres Hanges zu erheblichen Strataten für die Allgemeinheit als gefährlich gelten, jene, die nach § 66b StGB zunächst nach § 63 StGb untergebracht waren, nach dessen Erledigung jedoch weiter eine hohe Wahrscheinlichkeit erheblicher Straftaten angenommen wird und schließlich jene, von denen nach Art. 316f EGStGB aufgrund ihrer psychischen Störung eine hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Sexual- und Straftaten erwartet wird. Zuletzt sollten sich nach von § 2 Abs. 2 ThUG je nach Ausgestaltung des Maßregelvollzuges auch jene Straftäter in Einrichtungen der Sicherungsverwahrung wiederfinden, die eigentlich aufgrund des Rückwirkungsverbotes aus dieser hätten entlassen werden müssen, die jedoch eine psychische Störung aufweisen, infolge derer eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten angenommen wird, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung anderer erheblich beeinträchtigen. Mit der Übernahme des Begriffes der „psychischen Störung“ in das Recht der Sicherungsverwahrung wurde das ThUG schließlich verzichtbar. Zentraler und gemeinsamer Aspekt bleibt eine ungünstige Gefährlichkeitsprognose. Es wird also offenbar, dass die psychische Störung strafrechtlich außerhalb der Frage der Schuldfähigkeit bedeutsamer wird. Die folgende Diskussion um die Begriffe der psychischen Störung und des Hanges in Verbindung mit Krankheitswert und Gefährlichkeitsprognose soll aufzeigen, dass das Konzept der Antisozialen Persönlichkeitsstörung in besonderer Weise geeignet ist, unter die Voraussetzungen freiheitsentziehender Maßregeln subsumieren zu werden. Für die Argumentation bedarf es der Erläuterung der wesentlichen Topoi wie „psychische Störung“ und „Gefährlichkeitsprognose“ für eine Einordnung der ASP.

2.4.1 Der Begriff der „psychischen Störung“ Seit dem Urteil des EGMR 2009 (EGMR Nr. 19359/04), nach dem die rückwirkende Aufhebung der 10-Jahres-Frist für die Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit Art. 5 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Abs. 1

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EMRK erklärt wurde, konzentriert sich die Diskussion in Anknüpfung an Art. 5 Abs. 1 lit. 2e EMRK um den Begriff des „unsound mind“, der die Möglichkeit einer auch rückwirkend zeitlich unbestimmten und doch menschenrechtskonformen Unterbringung von Straftätern verspricht. Dabei ist der Begriff „unsound mind“ in der EMRK selbst nicht definiert, und auch der EGMR sieht dessen konkrete Bedeutung in Abhängigkeit psychiatrischen Fortschrittes und verortet seine inhaltliche Ausgestaltung im jeweiligen nationalen Recht (EGMR Nr. 10211/12 und 27505/14)12 . Für einen möglichen Freiheitsentzug einer Person von „unsound mind“ gibt der EGMR jedoch drei Minimalanforderungen vor. Erstens muss eine ernsthafte psychische Störung zuverlässig nachgewiesen sein, zweitens muss diese einen Schweregrad aufweisen, der eine zwangsweise Unterbringung rechtfertigt und drittens ist die Dauer der Unterbringung an das Weiterbestehen der psychischen Störung zu binden (EGMR Nr. 10211/12 und 27505/14)13 . Die weiteren Ausführungen, die der EGMR zur Konkretisierung der Minimalanforderungen macht, sind recht weitläufig und verweisen im Grunde wieder auf nationales Recht, wenn die psychischen Störung zum Beispiel so ernsthaft sein muss, dass sie die Behandlung in einer Einrichtung für psychisch kranke Patienten erfordert, wie Krankenhäuser, Kliniken oder andere geeignete Einrichtungen (EGMR Nr. 10211/12 und 27505/14)14 In dem Urteil der Grand Chamber Illseher gegen Deutschland stellte der EGMR hinsichtlich einer geeigneten Einrichtung fest, dass dieser aus der Haftanstalt in eine eigens für Sicherungsverwahrte vorgesehene Anstalt verlegt wurde, in der ihm verschiedene Behandlungsangebote durch fachliches Personal gemacht wurden. „Insbesondere sind ein Psychiater, sieben Psychologen, ein Arzt und vier Pflegekräfte mit der ärztlichen und the12

Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 127 und 128. 13 Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 127. 14 Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 129 und Rn. 138.

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rapeutischen Behandlung betraut. Den an psychischen Störungen leidenden Personen wird ein breites Behandlungsspektrum angeboten; hierzu gehören Behandlungsprogramme für Gewalt- oder Sexualstraftäter, individuell auf den jeweiligen Untergebrachten zugeschnittene Einzeltherapien, Sozialtherapien in Gruppensitzungen sowie eine individuelle sozialtherapeutische Unterstützung. Falls erforderlich, werden externe Therapeuten hinzugezogen. Dem Beschwerdeführer wurden insbesondere eine Sozialtherapie in Einzel- oder Gruppensitzungen, die Teilnahme an einem Intensivbehandlungsprogramm für Sexualstraftäter und eine Therapie durch einen externen Psychiater angeboten.“ (EGMR Nr. 10211/12 und 27505/14, Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 165). Der Einwand von Seiten des Klägers, eine Einrichtung für Sicherungsverwahrte sei keine geeignete Einrichtung für psychisch gestörte Sicherungsverwahrte, da ein Großteil gerade keine psychische Störung aufweise, ließ der EGMR angesichts der obigen Aufführung der Behandlungsangebote nicht gelten. Damit sind entsprechend der Setzung des EGMR Einrichtungen der Sicherungsverwahrung generell für psychisch gestörte Straftäter geeignet, sofern sie die Möglichkeit der Behandlung dieser Störung bereitstellen. Eine zwangsweise Unterbringung kann dadurch gerechtfertigt sein, dass die Person für ihre Heilung oder Linderung therapeutische, medikamentöse oder andere klinische Behandlung benötigt, jedoch auch bei notwendig erachteter Kontrolle und Überwachung zur Verhütung von Fremd- und Eigengefährdung15 . Nicht erforderlich ist hingegen eine Schwere der Störung, die dem Kriterium der verminderten Schuldfähigkeit des jeweiligen Staates entspräche (EGMR Nr. 10211/12 und

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Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 127, 128, 129 und 133.

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27505/14)16 . Dabei hatte sich der EGMR im Jahr 1976, also zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt, konkreter dazu geäußert, was er unter „unsound mind“ verstanden sehen will. „A ‚person of unsound mind‘ within the meaning of this provision is not only a mental health patient properly so called but also a person who by reason of a personality disorder whereby he cannot held to be criminally responsible has the tendency to continuously break the law.“17 Dies entspräche im deutschen Strafrecht einer Orientierung am § 20 StGB. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte hingegen die Ausführungen des Gesetzgebers im Zuge des ThUG (BT-Drucksache 17/3403, S. 54), dass der Begriff der „psychischen Störung“ gerade nicht den Schweregrad aufweisen müsse, so dass die Voraussetzungen der § § 20, 21 StGB erfüllt seien. Der Begriff lehne sich zwar an die psychiatrischen Klassifikationssysteme an, er sei jedoch nicht deckungsgleich, somit sei er ein unbestimmter Rechtsbegriff. Ob seine Merkmale erfüllt seien, sei von den Gerichten eigenständig zu prüfen (2 BvR 1516/11, Rn. 39). Damit tritt neben die in § 20 StGB aufgeführten Kategorien der „krankhaften seelischen Störung“, dem „Schwachsinn“, der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung„ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ mit der „psychischen Störung“ eine weitere normative Kategorie psychischer Beeinträchtigung hinzu. Mit „krankhaften seelischen Störungen“ sind jene mit neurobiologischer Verursachung gemeint, der Terminus „Schwachsinn“ bezeichnet eine angeborene Intelligenzminderung und die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ verweist auf eine psychische Beeinträchtigung im Zuge einer schweren Belastungssituation. Der Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ hingegen umfasst die Störungen, deren Auftreten keine organische sondern in äußeren Lebensbedingungen liegende Ursächlichkeit hat (Rupprecht 2006, S. 42). Unter die „schwere andere 16

Urteil der Grand Chamber im Fall Ilnseher gegen Deutschland am 04.12.2018, Rn. 149. 17 EGMR Nr. 7493/76, X. v/the Federal Republic of Germany, S. 182.

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seelische Abartigkeit“ fallen insbesondere die spezifischen Persönlichkeitsstörungen (Höffler und Stadtland 2012). Sie müssen jedoch einen gewissen Schweregrad aufweisen, damit sie unter § 20 StGB fallen. Da der Begriff der „psychische Störung“ gerade nicht notwendigerweise diesen Schweregrad beinhaltet, umfasst er also auch jene Ausprägungen von Persönlichkeitsstörungen, die unterhalb der Schwelle von § § 20, 21 StGB liegen. Nun wird in der psychiatrischen Profession inzwischen vielmehr von einem „Kontinuum zwischen Normalität und Persönlichkeitspathologie“ (Herpertz 2018) ausgegangen. Ab welchem Punkt innerhalb dieses Kontinuums eine solche Persönlichkeitsstörung strafrechtlich dem Passus der „psychischen Störung“ zuzuordnen ist, bleibt bislang offen. Die weitere Unterbringung nach § 66 StGB in Verbindung mit § 316f EGStGB hängt also maßgeblich am Topos der „psychischen Störung“. Er ersetzt in der Folgeunterbringung den im Vorwege festgestellten „Hang zu erheblichen Straftaten“ im § 66 StGB und unterliegt kriminalpolitisch opportun keiner bestimmten Auslegung. Der Gesetzgeber beruft sich hier zwar grundsätzlich auf die psychiatrischen Diagnosemanuale DSM und ICD, will den Begriff der „psychischen Störung“ jedoch weiter gefasst sehen (BT-Drucksache 17/3403, S. 54). Gegen diese weite Auslegung des Störungsbegriffes im forensischen Kontext gibt es durchaus Widerstand in bedeutenden Teilen der psychiatrischen Profession. Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zur Einführung des ThUG und damit des juristisch neuen Begriffes der „psychischen Störung“ sieht darin eine Instrumentalisierung, schärfer noch eine Gefahr des Missbrauches des Begriffes „Therapie“, der nur noch dem Deckmantel der Verwahrung von als gefährlich erachteten Straftätern dient. „Dieses [die Abkopplung des Begriffes der psychischen Störung von einem Krankheitswert] ignoriert die unterschiedliche Verhaltensrelevanz der in den Klassifikationssystemen definierten psychischen Störungen, spricht ganz allgemein von psychischer Gestörtheit und macht das Gesetz daher prinzipiell für jedwede (u. a. auch politische)

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2 ASP und kriminalpolitische Kontrolle Normabweichung anwendbar. Damit werden abweichendes Verhalten, Gefährlichkeit und Kriminalität in unzulässiger Weise auf psychische Gestörtheit zurückgeführt und letztlich zur Aufgabe der Psychiatrie erklärt.“18

Neben rein „handwerklichen Fehlern“ bei der Gutachtenerstellung (Maatz 2007) ist auch die psychiatrisch/psychologische Beurteilung einer psychischen Störung aufgrund der unterschiedlichen Fachrichtungen und Schulen nicht einheitlich. Klassifikationssysteme wie der ICD-10 sind in der Belegung der Begrifflichkeiten nicht so eindeutig, als dass sie eine klare Einordnung vorgeben könnten. Der einleitende zirkuläre Satz, nach dem es sich bei Persönlichkeitsstörungen um schwere Störungen der Persönlichkeit handelt, ist symptomatisch und wenig hilfreich (ICD-10 F60.). Recht unbestimmt ist auch die weitere Beschreibung, die der ICD-10 selbst vorgibt. „Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit persönlichen und sozialen Beeinträchtigungen einher.“19 Vor allem der Passus „beinahe immer“ bedeutete ja, dass die betroffene Person sich selbst gar nicht unbedingt durch die Störung beeinträchtigt empfinden muss. Damit steht die Frage nach dem Krankheitswert der Störung im Vordergrund, also ob z.B. auch allein sozial auffälliges und störendes Verhalten als psychische Störung gewertet werden kann. Damit rückte man allerdings wieder in Nähe der Begriffsbelegung, die die DGPPN doch im Rahmen ihrer Stellungnahme explizit ablehnt. Weiter heißt es in den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD zu den spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F 60): 18

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zum Therapieunterbringungsgesetz ThUG, Nachzulesen unter https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-011-0111-x, Zugriff am 21.06.20. 19 Nachzulesen unter https://www.icd-code.de/icd/code/F60.-.html, Zugriff am 10.08.2019.

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„Bei dem Versuch, genaue Leitlinien und diagnostische Kriterien für diese Störungen festzulegen, wird der Unterschied zwischen Beobachtung und Interpretation besonders deutlich. Wie viele Kriterien erfüllt sein müssen, bevor die Diagnose als sicher angesehen werden kann, ist bei dem derzeitigen Kenntnisstand ein noch ungelöstes Problem.“ (Dilling, Mombour und M. Schmidt 2014, S. 38) Auch liegen verschiedenen Persönlichkeitsstörungen unterschiedliche Konzepte zugrunde, wie die tiefenpsychologische, reaktionstypologische Konzeptionen oder die der psychiatrischen Krankheitslehre. Einzig die dissoziale Persönlichkeitsstörung bildet ein eigenes Konzept. „Eine weitere Konzeption, nämlich die der dissozialen Persönlichkeitsstörung, ist stark soziologisch geprägt und insofern ein Sonderfall.“ (Tölle und Windgassen 2012, S. 107) Die Haltung von Gesetzgeber und Rechtsprechung, sich in Ermangelung eigener Begriffsentwicklung der Systematik der Psychiatrie anzulehnen, dieser aber nicht in Gänze folgen zu wollen, führt sich in der ambivalenten Beziehung zwischen Jurisdiktion und forensischer Psychiatrie fort. Mit der im Strafprozess relevanter werdenden Frage der Zurechnungsfähigkeit, die sich den Prinzipien der Aufklärung entlehnte, das Individuum sei grundsätzlich mit Vernunft, Willensfreiheit und individueller Verantwortung für sein Handeln ausgestattet, ist die Psychiatrie als Akteur des Strafprozesses aufgetreten. Mit ihrer Entdeckung der Psychopathologien, rankt sich deren strafrechtliche Einordnung um die immer gleichen Fragen, wie hoch der Krankheitswert und damit die Beeinträchtigung eben jener Prinzipien durch diesen sind. Damit hat sich die Psychiatrie unverzichtbar für die Stellungnahme zu diesen zentralen Fragen innerhalb des Strafprozesses gemacht. Die Ambivalenz der Beziehung zwischen Psychiatrie und Rechtsprechung folgt nun aus dem Mangel eines eigenen wissenschaftlichen Systems zur Belegung eines normativen Störungsbegriffs, insofern Fragen wie die Beeinträchtigung, Gefährlichkeit und Behandelbarkeit bei Vorliegen möglicher Persönlichkeitsstörungen nicht allein von der

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Jurisdiktion beantwortet werden können oder dürfen, weil der Einbezug eines Sachverständigen von Rechts wegen gefordert ist (Wolf 2012). Die Gerichte sind damit maßgeblich auf das Gutachten des forensischen Fachkundigen angewiesen, halten sich jedoch in der Beurteilung dessen, in welchem Ausmaß sie dieses in die Rechtsprechung einfließen lassen, aufgrund ihres normativen Bezugssystems formal unabhängig. „Das vom Gericht zu findende rechtliche Urteil beruht auf einem gänzlich anderen Prozess [als dem der psychowissenschaftlichen Gutachtenerstellung, Anm. der Verf.], in welchem das Verhalten der Menschen unter dem Aspekt seiner Sozialverträglichkeit oder -schädlichkeit normativ bewertet und in Strafgesetzen gespiegelt wird.“ (Wolf 2012, S. 237) Es liegt im Ermessen des Tatrichters, inwieweit er dem Gutachten folgt, und es liegt im Interesse des Psychiaters diesen starken, aber dennoch begrenzten Einfluss im Strafprozess zu haben. Besonders deutlich wird die Zwiespältigkeit auch innerhalb der psychiatrischen Profession. So versteht sie sich einerseits als für Fragen der Psyche und damit der psychischen Beeinträchtigung und Störung zentrale Profession und nimmt Stellung zu maßgeblichen Kernfragen innerhalb des Strafprozesses wie „die Begutachtung der Fragestellung, ob die Schuldfähigkeit durch eine psychische Störung beeinträchtigt war, […]ebenso wie „[…] ob der Täter zur Tatzeit überhaupt ein geeigneter ‚Normadressat‘ sein konnte.“ (Saß und Habermeyer 2007, S. 157, 160). Andererseits weist sie die letzte Zuständigkeit und damit tatsächlich wirksam werdende Schuldfähigkeitsbeurteilung der Jusrisdiktion zu. So können sich beide Seiten bei einer durch ein „Fehlurteil“ erregten Öffentlichkeit auf die sachverständige Verantwortung des jeweils anderen berufen20 . 20

Einen Einblick in die Vehemenz und damit Bedrohlichkeit öffentlicher Reaktion auf aus der Haft oder Sicherungsverwahrung entlassener Gewaltstraftäter, die erneut straffällig wurden, gibt Michael Alex in seiner Abhandlung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung (Alex 2010, 55 ff, 115 ff, 127ff).

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„Sich zu dieser Frage (der Steuerungsfähigkeit, Anm. d. Verf.) nicht zu äußern dient aber auch dem eigenen Schutz des Sachverständigen, weil es ihn weniger anfällig macht für sach- und fachfremde Einflüsse, etwa wenn die nach einem besonders scheußlichen Tötungsverbrechen in der Öffentlichkeit ‚geforderten‘ Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe abhängig davon ist, ob dem Angeklagten § 21 StGB ‚zuzubilligen‘ ist.“ (Maatz 2007, S. 151) Tatrichter wie Sachverständige sehen sich dem Konflikt zwischen ihrer öffentlich wahrgenommen Rolle und Verantwortung mit den fachlichen und rechtlichen Anforderungen ihrer jeweiligen Profession gegenüber. Der Rechtsbegriff der „psychischen Störung“ erlaubt in seiner Unbestimmtheit eine wenn auch nicht gänzlich willkürliche so doch flexible Auslegung. Der konkreten Rechtssprechung kommt also eine zentrale Bedeutung in seiner Auslegung zu. Führt man sich nach Sack die enorme Bedeutung des juristischen Subsumtionsprozesses für die erfolgreiche Anhaftung des Labels „kriminell“ vor Augen (Sack 1979, 458 ff.), so ist allein mit der Unbestimmtheit des Begriffes der psychischen Störung für analoge Etikettierungsprozesse Vorschub geleistet. Ein Strafprozess ist immer auch ein Aushandlungsprozess, welche Interpretation des Geschehens und der Person des Angeklagten geltend gemacht werden kann. Dabei hat der Angeklagte selbst meist aufgrund der Unkenntnis juristischer Topoi sowie der Systematik des Subsumtionsprozesses, kurz aufgrund der Spezialisierung ganzer Berufsgruppen auf Anwendung genau dieser Regeln, wenig Raum, seiner Interpretation Geltung zu verschaffen. Hier obliegt die interpretative Rekonstruktion eines komplexen Sachverhaltes der systeminternen Profession. Das den Prozess abschließende Urteil und die Feststellung einer spezifischen Persönlichkeit des Angeklagten, bzw. die Störung einer solchen, lässt den Umstand, dass auch ein alternativer Schluss hätte geltend gemacht werden können, gänzlich unberücksichtigt. Seine Formulierung konstatiert einen vordergründig unstrittigen Sachverhalt, der dem Angeklagten in Folge langfristig anhaftet (Sack 1979, 465 ff.).

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Da es zur Feststellung einer psychischen Störung nicht der Schwere der in § 20 StGB geforderten psychischen Beeinträchtigung bedarf, weiter die psychiatrischen Diagnosemanuale nur der Orientierung dienen, „deckt der Begriff der „psychischen Störung“ ein breites Spektrum von Erscheinungsformen ab, von denen nur ein Teil in der psychiatrischforensischen Begutachtungspraxis bzw. auf einer normativen Ebene als psychische Erkrankung gewertet wird.“ (BT-Drucksache 17/3403, 26.10.2010) Der Gesetzgeber scheint zunächst auch zukünftig keine Verbindlichkeit in seiner Auslegung schaffen zu wollen. „Damit ist die Intention des Gesetzgebers deutlich, es soll z.B. auch ein ‚abnorm aggressives und ernsthaft unverantwortliches Verhalten eines verurteilten Straftäters‘ - und zwar unabhängig vom Vorliegen einer ‚im klinischen Sinne behandelbaren psychischen Krankheit‘ ausreichen. In der Regel ist ein solches bei ‚dissozialen Persönlichkeiten‘ vorhanden, als die die Verwahrten geschildert werden“ (Morgenstern 2011, S. 977) Bedenkt man die extrem hohe Prävalenz des Vorliegens einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung bei annähernd 73% unter Inhaftierten (Dudeck, Kopp und Kuwert 2009, S. 222)21 und bei bis zu 77% der Sicherungsverwahrten (Habermeyer, Passow und Vohs 2010, S. 271) und die großzügige Auslegung einer psychischen Störung von Seiten des Gesetzgebers, so scheint diese nun den Zwischenraum zwischen nur „Hangtätern“ und jenen, deren Störung den Exkulpationsgründen des § 20 StGB zuzuordnen wäre, gefüllt zu haben. „Nicht zuletzt weisen die Kennzeichen einer sog. dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung eine hohe Übereinstimmung mit jenen Beschreibungsmerkmalen auf, die als charakteristisch für den ‚Typus‘ des Sicherungsverwahrten angesehen wird.“ (Brettel 2017, S. 245) 21

Für einen tabellarischen Überblick über die Prävalenzraten von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung und bei forensisch-psychiatrischen Stichproben verschiedener Untersuchung s. auch Stompe (Stompe 2008, S. 11).

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Der „Hang“ ist ein rein normativer Begriff und bezeichnet einen „eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist demnach derjenige, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist oder der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.“ (BGH 2StR 193/03, Urteil vom 11.09.12). Dabei führt der BGH in diesem Urteil aus, dass die Prüfung anhand der Kriterien kriminelle Entwicklung, Gleichartigkeit der Taten, Sozialisation, Charakterstruktur, Sozialverhalten erfolgen soll. Sprächen einzelne der Gesichtspunkte gegen einen Hang, führte das mithin nicht zu dessen Verneinung (BGH 2StR 193/03, Urteil vom 11.09.12). Das Vorliegen einer ASP ist grundsätzlich dazu geeignet ist, den für die Sicherungsverwahrung erforderlichen „Hang“ zu begründen, da dieser außer dem Punkt der „Gleichartigkeit der Taten“ im Grunde ihre Diagnosekriterien abbildet. Damit konnten psychopathologische Störungen, vornehmlich solche, die mit kriminellem Verhalten definitorisch assoziiert werden, wie die psychopathy, ASP und ein Teil der sexuellen Devianzen je nach Schweregrad unter die „schwere andere seelische Abartigkeit“ gem. § § 20,21 StGB oder den „Hang“ subsumiert werden. Im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln führt die Anwendung des § § 20,21 zu einer Unterbringung nach § 63 oder § 64 StGB, die zwar rechtsdogmatisch auch auf die Sicherung der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ausgelegt sind, jedoch diese vornehmlich durch die Behandlung der für die Gefährlichkeit des Täters ursächlichen seelischen Erkrankung bzw. Suchterkrankung herstellen will. Hingegen zielt die Sicherungsverwahrung zwar neben der Sicherung auch auf Besserung ab, sie ist in ihrer tatsächlichen Gestaltung jedoch der Haft näher als der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Ansonsten wäre im Übrigen die Verlegung eines vorher nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten in die Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB nicht einsichtig. Erklärt das Gericht die Unterbringung nach § 67d Abs. 6 zwar für erledigt, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, der die Unterbringung nach § 63 StGB veranlasst hat, nicht mehr besteht, kann das Gericht nach § 66b

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StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen, wenn es den Untergebrachten weiterhin für gefährlich hält. Bestünde eine gleichwertig intensiv therapeutische Ausrichtung beider Maßregeln wäre eine solche Verlegung und damit § 66b StGB nicht begründbar. „Orientiert man sich an den Vorgaben, die der Gesetzgeber und die Justizpraxis für die sozialtherapeutischen Einrichtungen und den psychiatrischen Maßregelvollzug gemacht haben (z.B. Neufassung des § 63 StGB), so ist nach 6 Jahren Behandlungszeit eine Unterbringung nur noch dann zu rechtfertigen, wenn eine hochgradige Gefahr schwerwiegender Straftaten befürchtet wird, die Behandlung also gescheitert oder der Betroffene unbehandelbar ist.“ (Nedopil 2017, S. 60) Mit der Einführung des ThUG betonte der Gesetzgeber selbst, dass in Abgrenzung zur Haft ebenso wie zur Sicherungsverwahrung nun die Behandlung im Vordergrund stehe, um die Unterbringung möglichst kurz zu halten und die Person schnell entlassen zu können (BT-Drucksache 17/3403, S. 21). Womit der Gesetzgeber einräumte, dass sich offensichtlich in Sicherungsverwahrung psychisch gestörte Gewalttäter befanden, die dort jedoch keine nennenswerte Behandlung dieser erfuhren, andernfalls wäre das neue Gesetz schon im Vorwege gegenstandslos. Es schließt sich mit der Frage der „psychischen Störung“ die nach dem Krankheitswert und dem Erfordernis ihrer Behandlung an. Fraglich ist also, ob eine gerichtlich angeordnete zwangsweise und unbefristete Unterbringung in einer therapeutischen Einrichtung oder Sicherungsverwahrung für psychisch gestörte Gewalttäter einen Krankheitswert, ein Leiden und damit eine Behandelbarkeit dieser Störung voraussetzt.

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2.4.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Krankheitswert Im Folgenden soll über die Voraussetzungen für die Gewährung der gesellschaftlichen Wahrnehmung als „krank“ geprüft werden, inwiefern diese soziale Rolle im Falle der Antisozialen Persönlichkeitststörung gewährt oder verwehrt wird. Die soziale Krankenrolle wie Parsons sie bestimmt hat, die sogenannte „sick role“ bemisst sich durch Verhaltenserwartungen, die von Seiten der Gesellschaft an den Kranken herangetragen werden. Kommt er diesen nach, befreit ihn die Gesellschaft für die Zeit der Behandlung und letzlichen Heilung von der Erfüllung bestimmter sozialer Pflichten. Zu den gesellschaftlichen Erwartungen zählt, dass der Kranke gesund zu werden wünscht, also eine Krankheitseinsicht hat, und dass er mit den für seine mögliche Gesundung zuständigen Institutionen kooperiert. Ihm wird hingegen die Verantwortung für seinen Zustand, für die Krankheit, nicht schuldhaft angerechnet. Auch wird er für eine bestimmte Zeit von der Verpflichtung seiner bisherigen sozialen Rollen freigestellt (Parsons 1967, S. 57). Ist die von Parsons angeführte soziale Krankenrolle schon nur bedingt kompatibel zu der gesellschaftlichen Reaktion auf psychisch Kranke, steht sie im Falle der Antisozialen Persönlichkeitsstörung gänzlich zur Disposition. Bezüglich der Freistellung von sozialen Verpflichtungen führt Dörner für einen nicht geringen Teil psychisch Kranker eine fast schon zwangsweise Entfernung aus diesen durch die Gesellschaft an (Dörner 1975). Im Falle der ASP stellt hingegen die Verweigerung der Übernahme sozialer Verantwortungen ein wesentliches Kriterium des Krankheitsbildes selbst dar. Die gesellschaftliche Forderung liegt nun gerade darin, als Zeichen der Besserung des Zustandes diese soziale Verpflichtung wahrzunehmen und zu erfüllen. Damit kann ein Teil der Genesung nur in der Sichtbarkeit der Übernahme dieser Verantwortung liegen. Wird der Kranke für die Zeit der Genesung gerade aus dieser Verantwortung entlassen, so ist sie in der Bewertung der ASP Teil dieses Prozesses.

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Es ist anzunehmen, dass beide Rechte der Krankenrolle nur dann zugestanden werden, sobald die Pflichten, Krankheitseinsicht und Wille zur Genesung sowie Kooperation, von Seiten des Kranken erfüllt sind. Auch hier fällt die ASP aus zwei Gründen bestimmungsgemäß aus der möglichen Einnahme der sozialen Krankenrolle. Zum einen entfällt in ihrem Störungsbild alles Wahnhafte und jegliches Delir und damit eine Exkulpation aufgrund einer Bewusstseinsstörung. Zum anderen wird ihr über die konkreten Diagnosekriterien hinaus gerade ein Mangel an Leid und eine Unempfindlichkeit gegenüber bzw. mangelndes Interesse an Behandlung des Störungsbildes zugeschrieben. Damit dürfte das zweite Recht, nämlich die Entlassung aus der schuldhaften Zuschreibung des Zustandes, ebenfalls entfallen. Wenn nicht für die Genese der Krankheit so wird der Betroffene zumindest für einen sich im Zweifel verschärfenden Verlauf, in jedem Fall für den Verbleib innerhalb dieses Zustandes, verantwortlich gemacht. An diesem Punkt greift die moralische Zurechnung für das als asozial und gesellschaftlich schädigend bezeichnete Verhalten. So sind die Ursachen der ASP zwar in einen Bereich verlagert, den der Betroffene kaum zu verantworten hat oder beeinflussen kann, nämlich seiner genetischen Disposition (Lykken 1995; Black 1999; Fallon 2015; Ritter 2009; Moran 1999; Cunningham und Reidy 1998; Moffitt, Caspi, Rutter und Silva 2001)und Sozialisation. Will der Betroffene jedoch einer moralischen Zurechnung entgehen, hat er sich selbst als gesellschaftlich schädigend und gestört zu erkennen. Im Zuge dieser Selbsterkenntnis hat er schließlich den Willen aufzubringen, diesen Zustand abzuändern. Nun zeichnet sich eine Renaissance biologistischer Erklärungsmodelle kriminellen Verhaltens aktuell mit dem Aufstieg der Neuro-Science und ihrer Verortung einer genetischen Anlage zu kriminalitätsfördernden pathologischen Persönlichkeitsstrukturen in spezifischen neuronalen Hirnvernetzungen und -aktivitäten ab (Lösel und Schmucker 2014; Ritter 2009; Schwerdtner 2011) mit denen körperliche Vulnerabilitäten für zukünftiges gewalttätiges und kriminelles Verhalten vordergründig ausgemacht sind. Da es für die Aktivierung der Persönlichkeitsstörung und damit Ausbruch zusätzlicher Faktoren bedarf, unterliegt sie keiner strengen Monokausalität, sondern probalistischer Risiko-

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logik, womit die Zurechnung des tatsächlichen „Ausbruchs“ zu dem Einzelnen gelingen kann. Je nach Zeitpunkt der Kenntnisnahme der eigenen Disposition ist die Einleitung von Gegenmaßnahmen zu deren Ausbruch zeitlich vorverlagert und fällt in den präventiven Bereich. „Die Konstruktion von Risikopersonen, Risikopaaren, Risikoschwangerschaften, etc. erleichtert die Moralisierung abweichenden Verhaltens und die Zuweisung von Schuld und Verantwortung, […]. (Lemke 2001, S. 39) Hier ist das Individuum aufgerufen an seiner Risikominimierung und Optimierung aktiv mitzuwirken, seiner Disposition frühzeitig zu begegnen und sie unschädlich zu machen. Psychopathie wie auch die Antisoziale Persönlichkeitsstörung gelten als schwer behandelbar, ihre Behandlung wird als anspruchsvoll, aufwändig, langfristig und und herausfordernd für den Therapeuten und dessen Team beschrieben (Kröger, Beek u. a. 2012; Lösel und Schmucker 2014; Kastner 2011; Pecher 2011; Rauchfleisch 2000). Durchgängig als besonders erschwerend wird die meist fehlende oder geringe „Compliance“ des zu Behandelnden herausgestellt, die als zentral für eine fruchtbare Therapeut-Patient-Beziehung gilt. Dass sich Patienten mit ASP oder Psychopathie nur eingeschränkt auf den therapeutischen Prozess einlassen, wird mit Merkmalen des Störungsbildes selbst in Zusammenhang gebracht, wie eine geringe emotionale Tiefe, verringerte Selbstreflexion und Selbstregulation und leichte Kränkbarkeit (Kröger, Beek u. a. 2012). Aufgrund der kaum herzustellenden therapeutischen Beziehung entfällt ein zentraler Bestandteil der traditionellen psychotherapeutischen Behandung und gilt damit als wenig erfolgreich (Kröger, Beek u. a. 2012; Pecher 2011), wenn auch nicht als unmöglich (Kastner 2011; Rauchfleisch 2000). Als aussichtsreicher kristallisiert sich in der therapeutischen Fachliteratur die Ausrichtung der Behandlung nach den Prinzipien des risk-need-responsivity-Modells (Andrews, Bonta u. a. 1990) in Form modularer Therapieangebote (Kröger, Beek u. a. 2012; Lösel und Schmucker 2014; Bosch, Rijckmans, Decoene u. a. 2018) heraus. Bedarfsweise kann diese durch begleitende Medikation zur Hemmung der Impulskontrolle oder des Sexualtriebes

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sowie zur Linderung einer einhergehenden Depression oder Sucht unterstützt werden (Kröger, Beek u. a. 2012; Lösel und Schmucker 2014). Diese Therapieangebote blenden innerpsychische Vorgänge und deren Behandlung nicht gänzlich aus, sie konzentrieren sich jedoch im Schwerpunkt auf die dynamischen Risikofaktoren und die Verhaltensmodifikation (Kröger, Beek u. a. 2012). Doch auch die Behandlung nach diesem Modell gilt aufgrund der geringen Ansprechbarkeit (responsivity) des Behandelnden erschwert. Die erschwerenden Faktoren sind die Unfähigkeit eine therapeutische Beziehung einzugehen, eine unzureichende Informationsverarbeitung und die fehlende Motivation (Kröger, Beek u. a. 2012). Die angenommene Unfähigkeit zur Entwicklung einer „Compliance“ als Grundlage für einen therapeutischen Prozess und die geringe Ansprechbarkeit für die Behandlung nach dem risk-need-responsibility-Modell kollidiert mit der generellen Forderung an den von ASP Betroffenen, aktiv an seiner Therapierung und damit der Minimierung des von ihm ausgehenden Risikos mitzuwirken. Doch auch auf Seiten des Therapeuten kann die reduzierte ComplianceFähigkeit einhergehend mit weiteren Merkmalen der Störung wie den antisozialen und narzisstischen Verhaltensmustern ganz konkret zu einem Unbehagen des Therapeuten bis hin zu seinerseits „ausgesprochen negativen Reaktionen führen“ (Rauchfleisch 2000, S. 386). Der von ASP Betroffene wird demnach aufgrund seines geringen Leidensdruckes und seiner mangelnden Selbstreflexion kaum Krankheitseinsicht haben, womit die Feststellung der Störung wie auch die Notwendigkeit ihrer Behandlung von außen erfolgt. Mit Kenntnisnahme seiner Störung ist er angehalten, Gegenmaßnahmen mit der direkten Wahrnehmung therapeutischer Behandlung, medikamentöser Behandlung, wie ggf. der Einnahme von Psychopharmaka sowie einer von schädlichen Einflüssen enthaltsamen und rechtskonformen Lebensführung einzuleiten. Jedoch widerspricht das aktive und freiwillige Aufsuchen oder die Annahme von therapeutischen Angeboten doch gerade Merkmalen, die der Störung zugewiesen sind. Wird einer Person nun durch bildgebende Verfahren ihre genetische Dispositon zu antisozialem Verhalten attestiert (Lösel und Schmucker 2014), kann sie sogar zu einem einer Strafbarkeit vorgelagerten Zeitpunkt dazu ver-

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pflichtet werden, das durch sie ausgehende Risiko für die Gemeinschaft per strikter Selbstführung zu minimieren. Seit der Verlagerung der Ursachen für „böses“ Verhalten auf „böse“ Ursachen, die nur bedingt innerhalb des Handlungsspielraumes des Betroffenen liegen, ist nach Strasser eine moralische Zuschreibung des Verhaltens zu diesem nicht mehr gegeben, Verantwortung wäre damit nicht länger eine Frage der Autonomie des handelnden Subjekts. „Verantwortlichsein heißt nunmehr nichts anderes, als dass man nun in dem Moment legitimerweise zum Objekt der gesellschaftlichen Reaktion gemacht werden kann, indem man gegen die gültigen Regeln der Gesellschaft verstößt.“ (Strasser 2005, S. 19) Mit der Zuschreibung von außerhalb des Individuums liegenden Ursachen für dessen „böses“ Verhalten, verwandelt sich der ehemals moralische und rein strafende Charakter der gesellschaftlichen Reaktion zu einem therapeutischen. Es gilt der Disposition des Individuums zu delinquentem und asozialem Verhalten durch Behandlung entgegenzuwirken und sie zu neutralisieren. Doch verhält sich diese Feststellung im Fall der ASP nicht ganz so eindeutig, da für dieses Störungsbild die mangelnde Krankheitseinsicht und damit eine grundsätzliche Ablehnung von Behandlung und damit Besserung angenommen wird. Die moralische Zuschreibung für den eigenen Zustand hängt zudem maßgeblich davon ab, wie hoch der Krankheitswert dieser Störung ist. Ob also die Fähigkeit des betroffenen Individuums, den Krankheitswert zu erkennen, durch die Störung selbst so eingeschränkt ist, dass diese Erkenntnis von ihm nicht erwartbar ist. Hier ist wesentlich, dass die mangelnde Einsicht und die schlechte Behandlungsprognose nicht definitionsgemäß Teil der ASP ist, sondern dieser mehr im Verlauf fachwissenschaftlicher Auseinandersetzung zugeschrieben wurde. Damit stellt die mangelnde Einsicht zur eigenen Behandlung eben keinen notwendigen Bestandteil der Störung dar, gilt aber als ein Symptom dieser. Zudem kann dem Individuum aufgrund der für ASP angenommenen allgemeinen Steurungsfähigkeit und dem ihm zugänglichen Wissen um seine problematische Anlage, zugemutet werden, sich

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selbst zu begrenzen und zu managen. Womit zum einen die moralische Zurechnung wieder gelingen kann, zum anderen bei angenommener Erfolglosigkeit therapeutischer Intervention der strafende bzw. nunmehr sichernde Charakter der gesellschaftlichen Reaktion zentrale Bedeutung erhält. Damit ist mit dem Rückfalltäter mit einer ASP im Grunde eine Figur geschaffen, die um das ihr innewohnende Risiko für die Gesellschaft spätestens mit der offiziellen Feststellung weiß, die jedoch nicht beabsichtigt, diesem aktiv entgegenzuwirken. Damit stellt die ASP im forensischen Kontext eine Besonderheit insofern dar, als dass der Krankheitswert einzig hinsichtlich der Rückfallgefährdung und Gefährdung öffentlicher Sicherheit geltend gemacht wird. Mit ihrer Diagnose lässt sich nun ein pathologischer, nicht abzuändernden „Hang zu erheblichen Straftaten“ attestieren, der jedoch innerhalb des Strafprozesses regelhaft keine Verneinung oder Einschränkung der Schuldfähigkeit zur Folge hat. So folgt der Gesetzgeber dem EGMR, „dass eine fehlende Behandelbarkeit im klinischen Sinne nicht zu einer Freilassung zwinge, wenn eine Gefahr für die Allgemeinheit bestehe.“ (BT-Drucksache, 17/3403, S. 53) Grundsätzlich kommt trotz Feststellung einer Persönlichkeitsstörung die Anwendung des § 20 StGB nur in Ausnahmefällen und § 21 StGB nur unter sehr spezifischen Umständen in Betracht (Eschelbach 2017; Boetticher, Nedopil, Bolsinski und Saß 2007). Im Falle der ASP wird die Störung selbst in der Tendenz sogar als Bestätigung und Begründung schuldhaften Verhaltens angesehen (Pecher 2011). Ein weiterer Indikator dafür, dass in der Rechtspraxis die Schuldfähigkeit bei Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung allgemein und bei der ASP im Besonderen angenommen wird, könnte die hohe Prävalenz von ASP in Untersuchungen von Inhaftierten von 60% (Poythress, Edens, Skeem und Lilienfeld 2010) bis hin zu 72% (Dudeck, Kopp und Kuwert 2009; Stompe 2008) sein. Hingegen fanden sich in einer Untersuchung von Müller-Isberner et.al. über die Entwicklung des psychiatrischen Maßregelvollzugs in Hessen 2006 gerade 20,9% mit einer reinen Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung unter nach § 63 StGB Untergebrachten (Müller-Isberner, Jöckel, Neumeyer-Bubel und Imbeck 2007). Damit stellten sie einen kontinuierlichen Rückgang von Persönlichkeitsstörungen im psychiatri-

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schen Maßregelvollzug seit einem Höchststand von 37,6% im jahr 1986 fest. 2015 waren es bundesweit gerade 11,4% Untergebrachte mit der Hautpdiagnose einer Persönlichkeitstsörung im psychiatrischen Maßregelvollzug, womit gegenüber dem Jahr 2010 ein Abfall der Prävalenz von 20% verzeichnet wurde (Schäfer 2019). Eine breit angelegte Untersuchung über die Prävalenz speziell von ASP in Einrichtungen des psychiatrischen Maßregelvollzuges könnte im Abgleich mit den bereits gefundenen Prävalenzraten unter Inhaftierten weiteren Aufschluss geben. Die hohe Prävalenz von Inhaftierten mit ASP mag ein Hinweis darauf sein, dass diese nicht bereits während des Strafprozesses sondern erst im Rahmen der Untersuchungen diagnostiziert wurde. Ein Grund dafür könnte sein, dass einer weniger rigiden Formulierungen als dem Begriff der Persönlichkeitsstörung der Vorzug gegeben wird, um die Frage nach einer Beeinträchtigung und Steuerungsfähigkeit innerhalb des Prozesses gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wo sie jedoch bereits während des Strafprozesses erkannt wird, hat sie in der Regel keine Auswirkung auf die Annahme der Schuldfähigkeit. „In der Praxis wird im Einklang mit den Vorgaben des BGH (vgl. Theune 2002) regelmäßig die Heuristik angewandt, einer anti- bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht das Ausmaß einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zuzumessen (vgl. z.B. Saß 1992). Das mit dieser Störung einhergehende, gegen soziale Konventionen und Normen verstoßende Verhaltensmuster wird somit der Verantwortung des Einzelnen zugeschrieben, da Fähigkeiten zu Auseinandersetzung und Anpassung durchaus bestünden (Saß 1992)“ (A. Schmidt, Nedopil und Scholz 2004, S. 104) Auch wurde als denkbar erachtet, es könne sich um eine Verteidigungstrategie handeln, insofern die Verteidigung hinsichtlich des kleineren Übels einer zumindest begrenzten Freiheitsstrafe eine Begutachtung ihres Mandanten und damit Feststellung einer Persönlichkeitsstörung zu verhindern versucht (Frädrich und Pfäfflin 2000, S. 101). Das ist nachvollziehbar, bedenkt man zusätzlich die langfris-

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tigen Implikationen einer im Strafprozess festgestellten Antisozialen Persönlichkeitsstörung, die bezüglich einer Haftentlassung und der Gewährung von Vollzugslockerungen immer als Risikofaktor gewertet wird (Pecher 2011). Das Konstrukt des Hybrids von „gestört, aber nicht gestört genug, um schuldunfähig, bzw. schuldvermindert zu sein“ mag auch Folge einer geringen Schwelle für eine Diagnose von ASP mit ab drei vorliegenden Kriterien sein, die ausschließlich kriminelles Verhalten abbilden können. Bei Vorliegen aller, in der Summe immer noch lediglich sieben Kriterien, und Hochsetzung der Schwelle einer Diagnose um weitergehende Einschränkungen, wäre mit der aktuellen Rechtssprechung des BGH zumindest eine mögliche Subsumtion der ASP unter die „schwere andere seelische Abartigkeit“ eindeutiger. „Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist.“ (BGH 1 StR 402/15, 16.03.16) Ob der ASP ein solches Störungspotential zugeschrieben wird, dass es einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ gleichkommt, hängt mit der Ausprägung der Merkmale zusammen, die mehr dem emotional-instabilen Bereich zugeordnet werden und weniger dem antisozialer Verhaltensweisen. Diese Merkmale fallen eher in gemeinsames Auftreten mit der Diagnose psychopathy und damit unter den § 20 oder § 21 StGB. Mit der Konzentration der ASP auf eben die antisozialen Verhaltensweisen wird jedoch selten die Schuldunfähigkeit oder die verminderte Schuldunfähigkeit bejaht. Ob der Beeinträchtigung durch die Störung diese Schwere zugeordnet wird und ob § 20 StGB damit zur Anwendung kommt, hängt mehr von idiosynkratisch geprägten Auffassungen des Gutachters denn dem Fall selbst ab.(A. Schmidt, Nedopil und Scholz 2004) „Eine solche Entscheidungsgrundlage widerspricht der Forderung nach Rechtssicherheit in dem Bereich, in dem (auch psychisch gestörte) Menschen Zwangsmaßnahmen unter-

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worfen werden.“ (A. Schmidt, Nedopil und Scholz 2004, S. 106) Damit kommt dem Interpretationsprozess im Rahmen der Erstellung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens entscheidende Bedeutung im Strafprozess zu. Die Schuldfähigkeitsuntersuchung bewegt sich auf zwei Ebenen, deren Befunderhebung unerlässlich in die Zuständigkeit forensischer Gutachter fällt. Es ist hier zunächst die vorgelagerte Ebene der Prüfung einer möglicherweise gegebenen „schweren anderen seelischen Abartigkeit“, die nachvollziehbar sein und sich an den Grundsätzen der Diagnostik orientieren sollte sowie nachfolgend die Auswirkung der Störung auf das Steuerungs- und Einsichtsvermögen zur Tatzeit (Saß und Habermeyer 2007). Führt eine gestellte Diagnose ASP in überwiegenden Fällen nicht zur Anwendung des § 20 oder § 21 StGB, ist jedoch anzunehmen, dass die der Diagnose zugrunde liegenden Feststellung den für die Sicherungsverwahrung erforderlichen „Hang“ als eingeschliffener innerer Zustand, der zu wiederholten Straftaten führt, regelmäßig bestätigt. Zu demselben Schluss kommt auch Schäfer, dass „gutachterlich festgestellte Dissozialität sich in Richtung Anordnung der Sicherungsverwahrung auswirkt (da mangelnde Aussicht auf Behandelbarkeit, Erreichbarkeit oder aufgrund der Annahme, dass genau dann das Konzept des Justizvollzuges besser geeignet ist) “ (Schäfer 2019, S. 84). Das ThuG und die an dieses anschließende Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Altfällen der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfassen faktisch mit der weiten Auslegung des Begriffes der „psychischen Störung“ und der konkreten Subsumtion jene, die vorher aufgrund ihres „Hanges“ in der Sicherungsverwahrung waren und nun aufgrund ihrer festgestellten psychischen Störung in ihr verbleiben, obwohl sie aus dieser hätten entlassen werden müssen.

2.4.3 Antisoziale Persönlichkeitsstörung, „Hang“ und Gefährlichkeitsprognose Seit Verabschiedung des ThuG schließt nun die „psychische Störung“ an die Bedeutung des „Hanges“ hinsichtlich der Prognose von

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Gefährlichkeit an. Bei Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB bleibt er nach wie vor bestehen und ist in der Norm explizit benannt. Nach § 66a StGB kann die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ab einer gewissen Schwere auch bei Ersttätern ausgesprochen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit feststellbar oder wahrscheinlich ist, dass der Täter infolge seines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. „Der Rechtsbegriff des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB bezeichnet einen eingeschliffenen inneren Zustand, der den Täter immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Ein Hang liegt bei demjenigen vor, der dauerhaft zur Begehung von Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Hangtäter ist auch derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag (BGH 4 StR 578/18, Rn. 15, Urteil vom 09.05.19).“ Bei der Überprüfung eines möglichen Hanges wurde aufgrund seiner Unbestimmtheit bereits festgestellt, dass Tatrichter dazu neigen, zu seiner Feststellung vorwiegend Umstände heranzuziehen, die zu den formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gehören, und diesen allein aus Vorstrafen ersehen (Kinzig 1996; Pfister 2007). Es bedarf keiner großen gedanklichen Bemühung, vergangene Taten zum Referenzrahmen zukünftiger Taten zu erheben, sie also zur Beurteilung des Täters als Person, seiner Gefährlichkeit und der Wahrscheinlichkeit der erneuten Straffälligkeit heranzuziehen. So stellten Pulmann und Habermeyer in einer Untersuchung gerichtlicher Gutachten und ihrer richterlichen Würdigung fest, dass die Feststellung des Hanges und die daraus folgende Kriminalprognose sich auffallend häufig und stark aus legalbiografischen Merkmalen des Angeklagten, wie Vortaten, Haftzeiten, Anlasstat, Jugendkriminalität etc. speiste. Wurde der Hang zusätzlich mit Strukturen der Persönlichkeit begründet, wurde in einem überwältigenden Teil die dissoziale (antisoziale, Anm. der Verf.)

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Persönlichkeitsstörung angenommen. Auch zeigten sie, dass ein Großteil der Begründungen zur Verhängung der Sicherungsverwahrung auf gutachterlichen Aussagen fußte, es jedoch keine inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Informationen und Erkenntnissen des Gutachtens in den gerichtlichen Entscheidungen gab (Puhlmann und Habermeyer 2010). Die Autoren merkten darüber hinaus den Missstand an, dass schon die Auftragserteilung des Gerichtes an den Gutachter meist die Überprüfung formaljuristischer Begrifflichkeiten wie „Hang“ und „Kriminalprognose“ beinhalte, das Vorliegen des Hanges schließlich sowohl von Seiten der Gutachter als auch oftmals von Seiten des Gerichtes mit einer schlechten Kriminalprognose begründet wurde (Puhlmann und Habermeyer 2010, S. 45). Und so kann es kaum verwundern, wenn das Gutachten in Verwendung dieser Begriffe erstellt wird und die Ergebnisse in die Argumentation der richterlichen Entscheidung schließlich aufgenommen werden. Hier sprechen sich Puhlmann und Habermeyer dafür aus, dass Gutachter Ausführungen zur Persönlichkeit des Probanden machen sollen, ohne sich zu formaljuristischen Begriffe wie dem Vorliegen eines „Hanges“ zu äußern. Es scheint jedoch als ginge es letztlich nur um die Vermeidung fachfremder Begrifflichkeiten, wenn die Autoren schließlich bemerken: „Die Begutachtung der psychowissenschaftliche fassbaren Voraussetzungen einer Hangtäterschaft erfordert somit die Auseinandersetzung mit der forensischen Relevanz von Persönlichkeitsstörungen und insbesondere der Relevanz des dissozialen, bzw. antisozialen Störungstypus. […] Somit steht einer fachlich fundierten psychowissenschaftlichen Abklärung von Persönlichkeitsmerkmalen, die den Hang des § 66 StGB ausmachen, nichts entgegen.„ (Puhlmann und Habermeyer 2010, S. 46) Eine Überbetonung legalbiografischer Anhaltspunkte bei der Überprüfung eines vorliegenden Hanges würde durch die Konzentration auf vergangenes Verhalten zur Prognose zukünftigen Verhaltens das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren hinsichtlich Legalbewährung und damit auch die „Zukunftsoffenheit menschlicher Entwicklung“ (Lin-

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denau und Meier-Kressig 2015, S. 88) systematisch unterschätzen. Die Prognose anhand bereits dokumentierter Daten anstelle kontroverser Persönlichkeitsmerkmale erleichterte jedoch zeitlich wie inhaltlich die Überprüfung innerhalb des Strafprozesses und wäre damit an Effizienz statt auf Sorgfalt ausgerichtet. Laut BGH hat die Prüfung eines vorliegenden Hanges gesondert von der nachfolgenden Prüfung der Gefährlichkeitsprognose zu erfolgen (BGH 4 StR 578/18, Rn. 15,16,17, Urteil vom 09.05.19), ob der Täter sich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann (BGH 4 StR 578/18, Rn. 17, Urteil vom 09.05.19). Dabei ist das Vorliegen des Hanges ein wesentliches, wenn auch nicht einziges Kriterium für eine Gefährlichkeitsprognose. Hingegen legte der BGH 2015 den Schwerpunkt anders, hier kam es für die Annahme der Gefährlichkeit darauf an, ob von dem Täter mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche Strataten ernsthaft zu erwarten seien, mit dem Hinweis, dass ein statistischer Wert von 25% regelmäßig auf eine „bestimmten Wahrscheinlichkeit“ ernsthaft zu erwartender erheblicher Taten hindeute (BGH 1 StR 594/14, Rn. 4,5, Urteil vom 28.04.15). Die gedanklichen Voraussetzungen beider Aussagen scheinen verschieden. Die Voraussetzung einer Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten hieße ja, dass grundsätzlich davon ausgegangen wird, der Täter werde keine weiteren begehen, sofern sich nicht im Rahmen der Prüfung eine Gefahr für weitere Taten ergibt. Wohingegen die Aussage des BGH von 2019 impliziert, der Täter werde aufgrund seines Hanges weitere Taten begehen, sofern diese Wahrscheinlichkeit nicht durch protektive Faktoren gesenkt werden kann. Überspitzt geht die Entwicklung von einer der Prüfung vorausgehenden Ungefährlichkeitsvermutung zu einer Gefährlichkeitsvermutung. Nach den von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe erstellten Mindestanforderungen für Prognosegutachten soll die Gefährlichkeitsprognose zum einen aus der Entwicklung und dem gegenwärtigen Bild der Persönlichkeit, einer Krankheits- und Störungsanamnese sowie auch aus dem insbesondere kriminellem Vorleben und dem Tatbild hervorgehen (Boetticher, Kröber und Müller-Isberner 2006). Grundsätzlich ergibt sich vor allem für eine nachträgliche Unterbringung die Frage, welche Informationen

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für die Prognose herangezogen werden, die nicht bereits im Rahmen des Strafprozesses zum Tragen kamen oder hätten kommen müssen. „Bei den nachträglichen Entscheidungen ist die ‚neue ‘ Tatsachenbasis noch geringer, weil sich hier die Feststellungen des Gerichtes auf Tatsachen beschränken sollen, die in der künstlichen Welt des Vollzuges einer Freiheitsstrafe oder Maßregel und zwar vor deren Ende erkennbar werden …“ (Boetticher 2006, S. 97) Wurde bezüglich des „Hanges“ aus vergangenem Verhalten auf eine innere Haltung des Täters und auf die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Verhaltens geschlossen, so ließe sich recht problemlos aus denselben Anhaltspunkten, die den „Hang“ begründeten, nun eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung konstruieren, die bei „Altfällen“ eine weitere Unterbringung in Sicherungsverwahrung rechtfertigte. So orientierte sich der BGH in seiner Rechtsprechung (BGH 3 StR 382/13, 06.05.14) an den von Habermeyer und Saß aufgeführten Kriterien, die das Vorliegen des „Hanges“ stützen und die zu einem überwiegenden Teil mit Kriterien der ASP abgleichbar sind. • zustimmende, ich-syntone Haltung zur Delinquenz • Schuldzuweisung an Opfer, Außenstehende, Umwelteinflüsse • fehlende psychosoziale Auslösefaktoren bzw. begünstigende Konflikte • Phasen der Delinquenz überwiegen gegenüber unauffälligen Lebensphasen • progrediente Rückfallneigung, Missachtung von Auflagen • aktive Gestaltung der Tatumstände bzw. der Tat • Spezialisierung auf einen bestimmten Delinquenztyp • Integration in eine kriminelle Subkultur

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• „Psychopathy“ nach Hare • Reizhunger, sozial unverbundene, augenblicksgebundene Lebensführung • antisoziale Denkstile, die eine situative Verführbarkeit bedingen oder kriminelle Verhaltensstile legitim erscheinen lassen (Habermeyer und Saß 2004, S. 1065) In ihrer Aufführung der bisherigen Auslegungen des „Hanges“ zeigt sich, dass diese weit davon entfernt sind einheitlich zu sein. Ebensowenig wie der Begriff der „psychischen Störung“ so klar umrissen ist, als dass er sich selbst innerhalb des eigenen normativen Bezugssystems der Rechtsdogmatik eindeutig von Begriffen wie „Hang“ und „schwerer anderer seelischen Abartigkeit“ abgrenzen oder zuordnen ließe. Zu den Schwierigkeiten einer Feststellung eines vorliegenden Hanges gesellt sich eine zweite, die der Gefährlichkeit des Täters und deren Prognose. Hierzu schreibt Pollähne: „Irreführend ist der gängige Begriff der Gefährlichkeitsprognose, denn es kann nicht um eine abstrakte oder generelle Gefährlichkeit gehen, die ihm quasi wie ein Persönlichkeitsmerkmal anhaftet …, sondern nur um die von ihm ausgehende konkrete Gefahr einer kriminellen Tat, …“ (Pollähne 2006, S. 224) Grundsätzlich soll die Prognose aus einer Gesamtwürdigung von Täter, deliktische Vorgeschichte und Tat erfolgen (Boetticher, Kröber und Müller-Isberner 2006). Nun können Prognosen nur eine vorsichtige Wahrscheinlichkeitsaussage hinsichtlich des Eintritts eines Ereignisses sein. Im Falle der Gefährlichkeitsprognose wiegt diese Einschränkung der generellen Aussagekraft von Prognosen aufgrund der vom Begutachteten zu tragenden Konsequenzen umso schwerer. Zudem „ergeht sie unter denkbar ungünstige Rahmenbedingungen für die Treffsicherheit, indem sie sich meist über einen relativ langen Zeitraum erstrecken soll (und) den Eintritt relativ seltener Ereignisse vorherzusagen hat […].“ (Pollähne 2006, S. 245).

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Angesichts weiterer der Anzahl und Vielfalt nach unlösbar anmutenden Problematiken der Gutachtenerstellung, scheint das Vorhaben einer zuverlässigen und gültigen Gefährlichkeitsprognose diffizil. In Kürze aufgeführt seien hier: die zahlreichen methodischen Mängel und Fehler (Pollähne 2006; Alex 2010; Nowara 2006; Pfäfflin 2006), die geltende Unschuldsvermutung zum Zeitpunkt des Gutachtens (Pollähne 2006), das Spannungsfeld zwischen den Professionen und Formulierung des Auftrages (Puhlmann und Habermeyer 2010; Habermeyer, Hoff und Saß 2002), der Druck von Seiten des Gerichtes bezüglich eines gewünschten Gutachtenergebnisses (Wolf 2012; Pfäfflin 2006), der enorme Druck der Öffentlichkeit (Groß-Bölting 2006) und schließlich das Selbstverständnis des Gutachters selbst (Nowara 2006). Verschärfend zeichnete sich bereits vor einiger Zeit eine prognostische Beweislastumkehr ab, da insbesondere statistische Prognoseverfahren der Tat einen so zentralen Stellenwert einräumen, dass durch diese bereits die Gefährlichkeit des Täters indiziert werde (Pollähne 2006). Diese Beweislastumkehr in der Prognostik bedeutet, dass entgegen einer Gefährlichkeitsprognose nun eine vorab vermutete Gefährlichkeit durch Gutachten wiederlegt werden muss, ob der Täter sich also mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann (BGH 4 StR 578/18, Rn, 17, Urteil vom 09.05.19). Das Unterfangen scheint umso aussichtloser angesichts einer systematischen Überschätzung von Risiko- zu Lasten protektiver Faktoren (Nowara 2006). „Es bleibt dabei, dass Freiheitsentzug nicht deswegen erfolgt, weil wir Rückfallgefahr vorhersagen können, sondern weil wir oft nicht die Ungefährlichkeit des Begutachteten prognostizieren können.“ (Nedopil 2005, S. 6) Wurde der Hang bei der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus einer Überbetonung der Tat oder Taten und auch daraus abgeleiteten eingeschliffenen Verhaltensmustern und Einstellungen bestätigt, so besteht bei den sogenannten „Altfällen“ in der Überprüfung ihrer Fortsetzung die Gefahr, die ehemals den Hang begründenden Merkmale aufgrund einer hohen Deckungsgleichheit nun

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für die Diagnose einer ASP heranzuziehen und aus dieser wiederum eine weiter bestehenden Gefährlichkeit des Täters abzuleiten. Aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Merkmale und der schlechten Legalprognose kann eine ASP aber auch gleichermaßen das Vorliegen eines Hanges begründen. „Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung ist ein Idealtyp des „Hanges“ zur Begehung schwerer Straftaten, der nach § § 66, 66a StGB zusätzlich zur Strafe eine Unterbringung erforderlich machen kann. Daher droht in der Praxis eine Doppelsanktionierung, wenn der aus Mangel an Empathie durch Gefühllosigkeit, insbesondere bei Gewalttaten (vgl. Dudek 2014, S.93), in Erscheinung getretene, aber schuldfähige Straftäter nicht nur besonders hart bestraft, sondern auch wegen der Rückfallgefahren (s.Kap. 14) infolge des störungsbedingten Hangs zur Begehung von Straftaten zusätzlich mit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung belegt wird.“ (Eschelbach 2017, S. 176/177) Flankiert wird eine solche Praxis durch Untersuchungen und Ergebnisse im Bereich der Neurowissenschaften, so lange diese die normative Frage der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit unbeantwortet lassen oder positiv bescheiden. Einen Überblick über Forschungsergebnisse zu einem Zusammenhang von ASP, Psychopathie und neuropsychologischen Ergebnissen gibt Lösel (Lösel und Schmucker 2014). In diesem wird unter anderem eine Studie aufgeführt, die bei Personen mit ASP eine spezifische Reduzierung der grauen Substanz im präfontalen Cortex gegenüber einer Kontrollgruppe festgestellt hat. Diese Reduzierung der grauen Sunstanz scheint nach weiteren Studien vornehmlich in Zusammenhang mit antisozialem Verhalten zu stehen, da sie lediglich auch bei „nicht-erfolgreichen“ Psychopathen, nicht jedoch bei „erfolgreichen“ Psychopathen gefunden wurde. Definiert wurden die „nicht-erfolgreichen“ Psychopathen durch mindestens eine strafrechtliche Verurteilung (Lösel und Schmucker 2014, S. 495). Mit Kunz kann bezogen auf solche Befunde ein klarer Bezug des Rechtssystems zum „Feindstrafrecht“ (Jakobs 2004) hergestellt werden.

2.4 Die ASP im strafrechtlichen Kontext

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Die Sicherungsverwahrung, von ihm als „Strafverwahrung“ bezeichnet (Kunz 2006, S. 82), stellt ein Instrument für die dauerhafte Exklusion von gefährlichen Tätern dar, die aufgrund ihrer Persönlichkeit mit Mitteln des „Bürgerstrafrechts“ als nicht weiter ansprechbar gelten. Die Sicherungsverwahrung als Maßnahme der Besserung und Sicherung könnte sich dann nur noch in einer Maßnahme der Sicherung erschöpfen, sofern der Täter aufgrund sowohl seiner genetisch-neurologischen Disposition als auch seines Behandlungsunwillens einer Besserung als kaum zugänglich, jedoch aufgrund seiner Persönlichkeit weiterhin als gefährlich erachtet wird. Wie die vorherigen Ausführungen gezeigt haben, lässt sich mit der Antisozialen Persönlichkeitsstörung auch ein psychisches Störungsbild konstruieren, dass sich vornehmlich aus dem Begehen von Straftaten speist und nun argumentativ die Orientierung an vergangenen Taten zur Einordnung der Gefährlichkeit des Täters und der Prognose zukünftiger Straftaten erleichtert. Mit ihr ist eine psychische Störung geschaffen, die sich in der ständigen Begehung von Straftaten ausdrückt, die jedoch regelhaft keine so tiefgreifenden Auswirkungen auf den Betroffenen hat, dass die Schuldfähigkeit davon berührt wäre. Schließlich kann sie als Konstrukt zu jedem Zeitpunkt einer kriminellen Karriere erst als Störung „erkannt“ werden. War der Straftäter mit Verhängung der Haft rechtlich voll schuldfähig und wurde im Anschluss zum Schutz der Allgemeinheit aufgrund seines Hanges zu erheblichen Straftaten in Sicherungsverwahrung untergebracht, wird ihm nachfolgend eine psychische Störung attestiert, die nun eine Behandlung erfordert und eine weitere Unterbringung auf unbestimmte Zeit erlaubt. Eine Unterbringung, die aufgrund des Abstandgebotes nicht allein den Schutz der Gesellschaft vor dem Täter, sondern maßgeblich auch die Behandlung und Heilung seiner Störung und damit Krankheit zum Gegenstand hat. Dabei kann sich der Krankheitswert der nachträglich erkannten Störung nach vorangegangenem juristischen Urteil in diesem Fall nur in einer Wiederkehr kriminellen Verhaltens erschöpfen. Einziger roter Faden und den beiden zeitlich versetzten Prüfungen gemein ist die zunächst aus dem Hang, schließlich aus der zum späteren Zeitpunkt erkannten psychischen Störung abgeleitete

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ungünstige Gefährlichkeitsprognose. Der in Sicherungsverwahrung Untergebrachte hat sich für die Möglichkeit seiner Freilassung „als entgegen der Vermutung ungefährlich zu erweisen“ (Graebsch 2017). Er hat also seiner Gefährlichkeit aktiv entgegenzuwirken. Nach außen darstellbar ist das Entgegenwirken über die Wahrnehmung und die aktive Teilnahme an Behandlungsangeboten. Nun zeichnet sich auch im Strafvollzug eine zunehmende Präferenz für standardisierte Behandlungsprogramme nach den RNR-Prinzipien (risk-need-responsivity) ab (Graebsch 2017), womit das Behandlungsangebot in seiner Art an dem vom Gefangenen selbst formulierten therapeutischen Bedarf vorbeigehen kann. Eine Verweigerung der Teilnahme oder auch eine als zu gering erachtete Mitwirkung kann dann als Unwille gedeutet werden, die eigene Gefährlichkeit anzuerkennen und die sie begründenden Merkmale zu bearbeiten. Das Vorliegen einer Diagnose der ASP erschwert die Bedingungen zusätzlich über die konstatierte geringe „responsivity“, die der Störung zugeschrieben wird. Dieser ist mit hoher Struktur innerhalb des Behandlungsprogramms zu begegnen (Andrews, Bonta u. a. 1990; Kröger, Beek u. a. 2012), bisweilen findet sich auch der Vorschlag durch Neurofeedback gezielt Gehirnareale zu trainieren (Lösel und Schmucker 2014) sowie die ausschließliche oder begleitende Gabe von Medikamenten (Lösel und Schmucker 2014; Kröger, Beek u. a. 2012). Im Grunde ist der Betroffene dazu angehalten, alle ihm angebotenen Behandlungsmaßnahmen wahrzunehmen, um die von ihm ausgehende Gefährlichkeit einzudämmen. Verweigert er die Behandlung oder bleibt der Behandlungserfolg aus, kann ihm aufgrund fehlender Einsicht und Bemühung oder seiner mangelnden „compliance“ der Verbleib in der Sicherungsverwahrung schließlich persönlich als „selbstgewähltes Schicksal“ angerechnet werden. „Es wird ihnen das Scheitern der Selbstführung,[…], als eigene Verantwortung im Sinne neoliberaler Resonsibilisierung zugeschrieben.“ (Graebsch 2017, S. 174) Mit der Unbestimmtheit des juristischen Begriffes der „psychischen Störung“ erfolgt die Anhaftung der antisozialen Persönlichkeit anhand juristischer Subsumtion im Rahmen eines Strafprozesses. Sie steht

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dabei im Dienste kriminalpolitischer Interessen in Form der Demonstration staatlicher Handlungsfähigkeit und Garantie von Sicherheit durch den unbefristeten Wegschluss von als durch ihre Taten und Störung besonders gefährlich und schädigend dargestellten Straftäter. „Most serious crime is commited by a small proportion of the criminal population. In longitudinal studies, about 5 percent of the criminally active subjects are responsible for over half of the offenses recorded.“ (Harris, Skilling und Rice 2001, S. 198) Über den Begriff des „persistent offender“ (Moffitt 1993) und der mithilfe definitorischer Tautologie getroffenen Feststellung, dass in dieser Population wiederum ein Großteil die Kriterien der Antisozialen Persönlichkeitsstörung bzw. psychopathy erfüllt sind (Moffitt 1993), lässt sich ein beachtliches soziales Problem konstruieren. Dies gilt umso mehr, insofern mit dieser Form der Störung medial wie kulturindustriell massive Gewalt- und Sexualverbrechen verknüpft werden. Gerade der Begriff der psychischen Störung in Verbindung mit Straffälligkeit erfüllt eine wesentliche Funktion im Umgang mit Rechtsbrechern. „Die „Psychopathie“ [Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Anm. der Verf.] ist Steigerung und endgültige Fixierung des Verbrechens“ (Katschnig und Steinert 1973, S. 112)

3 Fazit Es hat sich gezeigt, dass sich die Antisoziale Persönlichkeitsstöung in ihrer Entstehung aus dem historisch gewachsenen Begriff der Psychopathie entwickelt hat. Dieser war mit ersten Aufkommen eher unspezifisch und erfasste zunächst notorische Verhaltensauffälligkeiten, die sich nicht in den zu diesem Zeitpunkt geltenden Katalog der sich durch offenkundigen Wahn, Delir oder Intelligenzminderung auszeichnenden Geisteskrankheiten einordnen ließen. In seinem Verlauf konzentrierte sich der Begriff der Psychopathie jedoch zunehmend auf das Feld gesellschaftlich unerwünschter Devianzen und damit auf Kriminalität als Bruch dieser in Form institutionalisierter Normen abgebildeten Devianzen. Nach dem Ansatz des Labeling wohnt abweichendem wie kriminellem Verhalten dieses Prädikat nicht per se inne, sondern unterliegt gesellschaftlichen Definitions- und Anwendungsprozessen. Die Definition von Verhalten als abweichend und kriminell und die Zuschreibung dieses Labels ist in mächtigen gesellschaftlichen Segmenten verortet und damit ein Abbild gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Die Zuschreibung von Verhalten als abweichend, kriminell und antisozial ging und geht nach wie vor systematisch zu Lasten unterer Gesellschaftsschichten. Kriminalität und Unterschicht sind damit in ihrer Wahrnehmung und Zuschreibung von je her eng assoziiert. Der historische Kontext, in dem die Diagnose der Psychopathie aufkam, zeigt, dass die bereits bestehende Assoziation von Abweichung und Kriminalität und Unterschicht um eine krankhafte Persönlichkeit erweitert und damit tief im Individuum selbst verankert wurde. Im Grunde wurde der soziale Zusammenhang und die Bedeutung der Unterschicht so verändert, dass sie in der vorherrschenden gesellschaftlichen und auch fachwissenschaftlichen Wahrnehmung zunehmend zu einer heteroge© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Schreiber, Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29620-9_3

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3 Fazit

nen Anhäufung gesellschaftlich gescheiterter und gestörter Individuen wurde. Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung beschränkt nun die Diagnosekriterien der Psychopathie auf ihre Verhaltensmerkmale. Sie erweitert damit deren Anwendungsbereich, indem sie vornehmlich gesellschaftliches Scheitern und kriminelles Verhalten erfasst und zum Ausdruck eines gestörten inneren Zustandes erhebt. Sie tritt damit an die Stelle, die vor Entdeckung des erfolgreichen Psychopathen die Diagnose der Psychopathie eingenommen hat. Die gesellschaftlichen Stigmatisierungsprozesse, wie sie unter anderem von Becker, Sack und Quinney für das Label „kriminell“ vorgeführt wurden, stimmen in wesentlichen Elementen mit denen überein, die einer Etikettierung als „antisoziale Persönlichkeit“ entsprechen. Dies ist erwartbar, bedenkt man, dass die Diagnosekriterien und damit die psychowissenschaftlichen wie auch juristischen Rezeptionen von ASP definitorisch so eng mit kriminellem Verhalten verwoben sind, dass das erfolgreich angehaftete Etikett „kriminell“ und dessen wiederholte Feststellung das Etikett „ASP“ befördert. Steht das Etikett „kriminell“ im Dienste bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse und geht historisch wie aktuell zu Lasten unterer gesellschaftlicher Segmente, so trifft dies auf das Etikett „ASP“ gleichermaßen zu. Gestützt durch den fachwissenschaftlichen Diskurs wird die ASP insbesondere bei jenen verortet, die bereits eng mit Kriminalität assoziiert werden. Historisch wie aktuell laufen damit vornehmlich ökonomisch schwache Gesellschaftsgruppen Gefahr, mit beiden Etiketten belastet zu werden. Steht die Applikation des Labels „kriminell“ im Zuge der Normanwendung im Dienste jener Gruppen, die ihre Normen zu gesellschaftlich verbindlichen erheben konnten, so steht auch die Vergabe des Etiketts „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“ im unmittelbaren wie mittelbaren Interesse jener. So nehmen die Interessen ihren Anfang in der Kontrolle derjenigen, deren Aussicht auf Partizipation an der Verteilung der positiven Güter innerhalb der Gesellschaft aufgrund sich verschärfender sozialer Verhältnisse immer mehr schwindet (Garland 2001; Wacquant 2009; Wacquant 2018). Beauftragt mit der Kontrolle von Normalisierungsprozessen sowie deren Detektion und Korrektur

3 Fazit

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sind soziale Institutionen wie auch das Strafsystem. Als System sichern sie sich damit ihren Erhalt und Ausbau. Mit der Konstruktion zunächst der Psychopathie, schließlich der ASP, etablierte sich die Psychiatrie als ein weiterer mächtiger gesellschaftlicher Akteur und gewann enormen Einfluss auf kriminalpolitische Prozesse. Hier gewährleistet die Genese kriminalpolitisch nutzbarer Diagnosen auch die Bewahrung und Intensivierung der Allianz von Psychiatrie und Justiz. Damit dient die Erzeugung abweichenden Verhaltens über Normsetzung und -anwendung korrigierender Institutionen zur Rechtfertigung ihrer Existenz und Sicherung ihres eigenen Fortbestandes. Nach Smaus sichert die Drohung und tatsächliche Zuweisung des Labels „kriminell“ erst eben jene Verhältnissse, indem sie die davon Betroffenen für den Arbeits- und Produktionsprozess verfügbar hält, ungeachtet dessen, wie prekär die daraus resultierende soziale Situation und wie gering die Einträglichkeit ist (Smaus 1986). Und auch Wacquant sieht einen direkten Zusammenhang von Kriminalisierung zur Wahrung bestehender ökonomischer Machtverhältnisse (Wacquant 2009). Innerhalb der von ihm als „Projekt Neoliberalismus“ zusammengefassten gesamtgesellschaftlichen Veränderungen wird mit der Methode des „workfare“ weiterhin die Arbeitskraft der unteren Gesellschaftsschichten ständig verfügbar gehalten. Zugleich werden mit der Methode des „prisonfare“ diejenigen, die keine Teilhabe an der bestehenden Ordnung haben, bzw. eine Gefahr für ihren Bestand darstellen, unter Kontrolle gehalten und aus der Gesellschaft entfernt. Was bedeutet das für die Einordnung der Antisozialen Persönlichkeitsstörung? Mit der Verknüpfung der drei gesellschaftlichen Konzepte „Unterschicht“, „Kriminalität“ und „Antisoziale Persönlichkeit“ wird das gesellschaftliche Scheitern des Einzelnen als Angehöriger einer strukturell marginalisierten Gruppe zu einer Pathologie seiner Persönlichkeit. Die Annahme der biologischen und sozialen Erblichkeit von ASP verknüpft diese dauerhaft mit den bereits untrennbar mit Kriminalität assoziierten gesellschaftlichen Segmenten. So ist das Individuum zwar nicht verantwortlich für seine genetische Disposition oder deren Aktivierung durch sein soziales Umfeld, es kann ihm jedoch persönlich zugerechnet werden, nicht aktiv an seiner Besserung

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3 Fazit

mitzuwirken. Gesellschaft erschiene dann als naturgegebener unveränderlicher Sachverhalt, dessen Herausforderungen der einzelne zu bewältigen hat. So hätte das betroffene Individuum durch strikte Selbstführung und der Einleitung konkreter Gegenmaßnahmen seinem „sozialschädlichen“ Verhalten entgegenzuwirken. Mit der genetischen Weitergabe von ASP und der Aktivierung durch soziale Verhältnisse verlagerte sich die Forderung nach Korrektur und aktiver Mitwirkung zeitlich nach vorne und erstreckte sich damit auf mehrere Generationen. Die Vorstöße von Lyyken und Trembley zeigen, dass eine präventive Intervention bereits zum Zeitpunkt von Schwangerschaften keine Unmöglichkeit darstellt. Diese konstruierte und immer wieder reproduzierte Verbindung dient damit dem Erhalt bestehender Verhältnisse und ruft gesellschaftliche Ressentiments gegen jene hervor, die als „antisozial“ und damit „sozialschädlich“ herausgestellt werden. Überschattet das Label „kriminell“ in seiner Wirkung auf die Wahrnehmung einer Person schon den Großteil konformer Verhaltensweisen und begründet damit aus einem Verhaltensmerkmal ein solches der Persönlichkeit, so ist dieses Label aber ebenfalls eines, dass auch nur episodenweise vergeben werden kann, womit es keine lebenslange Zwangsläufigkeit impliziert. Die Zuschreibung „antisozial“ zu sein, stellt dagegen eine zentrale Wesenseigenschaft dar, der in Folge alle gegenwärtigen und zukünftigen sozialen Begegnungen unterliegen. Mit dem Aufkommen neurologisch bildgebender Verfahren und der vermeintlichen Möglichkeit der frühen Feststellung einer Disposition ist einer zeitlich noch weiter vorgelagerter Prävention so wie Kontrolle Vorschub geleistet. Mit der offiziellen, durch gesellschaftliche Institutionen angeregten Feststellung der kindlichen Störung des Sozialverhaltens als Prädiktor einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung und damit zukünftig notorischen, in der Assoziation auch schwersten Gesetzesbrüchen, mit der Verortung ihrer Aktivierung in bestimmten sozialen Verhältnissen und ihrer sozialen wie genetischen Weitergabe lassen sich ganze Generationen gesellschaftlicher Gruppen präventiv, also anlasslos, screenen, dokumentieren und kontrollieren. Mit dieser Trias, die empirisch in der Höherbelastung unterer Schichtzugehörigkeit und einer erheblich erhöhten Prävalenz von ASP unter Inhaftierten

3 Fazit

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tautologisch bestätigt wird, ist zu erwarten, dass vornehmlich Angehörige unterer Schichten über das im Vorwege erfolgreich angehaftete Etikett „kriminell„ die Diagnose ASP zugewiesen bekommen. Die Darstellung ihrer Herkunft aus der Geschichte des PsychopathieBegriffes hat gezeigt, dass die Antisoziale Persönlichkeitsstörung keine rein medizinische, wenn überhaupt eine medizinische Kategorie ist, sondern auch eine soziale. So sind für ihre Bestimmung weder Leid noch Behandlung, noch ein Krankheitswert notwendig. Wesentliches Bestimmungselement ist das gesellschaftliche Störnis mit einer für die Spezifizierung einer psychischen Störung beispiellosen Überbetonung von Verhaltensaspekten und systematischer Vernachlässigung innerpsychischer Vorgänge. Damit scheint die ASP als echte psychische Störung zur Disposition zu stehen und mehr einen rechtlich-normativen Begriff abzubilden. Hier besteht Untersuchungsbedarf, inwiefern dieses Störungsbild außerhalb des kriminalpolitischen und forensischen Kontextes überhaupt Relevanz hat. Es bedarf einer kritischen Überprüfung, an wen diese Diagnose vergeben wird, welche Prozesse zu ihrer Applizierung führen, schließlich welche Funktion sie erfüllt. Ihre kriminalpolitische Nutzbarkeit hat sich an den Beispielen der Risikoorientierten Bewährungshilfe, der Sicherungsverwahrung und des ThUG bereits erwiesen und wird sich im Zuge zunehmender Prävention und Kontrolle im gesellschaftlichen Umgang mit abweichendem Verhalten noch stärker bewähren. Angesichts der hier dargestellten Zusammenhänge ist zu erwarten, dass die Diagnose der Antisozialen Persönlichkeitsstörung vornehmlich in der unteren Gesellschaftsschicht verbleibt. In Anbetracht der seit 2016 verstärkten medialen und politischen „Flüchtlingsdebatte“ hinsichtlich junger männlicher kriminell gewordener Geflüchteter (Maurer, Jost, Hassler und Kruschinski 2019) wird zu betrachten sein, ob sich die Diagnose zunehmend auf diese gesellschaftlich als „soziales Problem“ konstruierte Gruppe erweitert. Bestimmend wird hier nicht die öffentliche Wahrnehmung als „antisozial“ sein, sondern ob diese zugeschriebene Antisozialität im Mantel einer psychischen Störung nach Pilgram den „Eigenen“ vorbehalten bleibt, während die des „Fremden“ seiner Kultur attribuiert wird. Im Juli 2019 wurde ein Urteil im Fall des jungen Irakers Ali B. ge-

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3 Fazit

fällt, bei dem die Sicherungsverwahrung vorbehalten wurde, nachdem eine schwere Persönlichkeitstörung mit psychopathischen Zügen attestiert wurde1 . Dieses Urteil zeigt, dass diese Frage erst zukünftig zu beantworten ist. Abschließend hat sich gezeigt, dass die Kriminalisierung und Pathologisierung der Marginalisierten einer Gesellschaft und die damit einhergehenden öffentlichen Ressentiments die Grundlage für staatliche Instrumente der Bestrafung, Kontrolle und Verwahrung schafft, womit die Antisoziale Persönlichkeitsstörung sich als Konstrukt sowohl allgemein zur kriminalpolitischen Kontrolle eignet als auch mit Wacquant ganz explizit zum „Bestrafen der Armen“.

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