Die andere Vernunft: Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik 9783050052786, 9783050051253

Die ideengeschichtlich orientierte, interdisziplinär angelegte Studie fragt nach dem spannungsreichen Verhältnis von Phi

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Die andere Vernunft: Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik
 9783050052786, 9783050051253

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Die andere Vernunft

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 4 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Lars-Thade Ulrichs

Die andere Vernunft Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik

Akademie Verlag

Diese Studie wurde 2008 mit dem Christian-Gottlob-Heyne-Preis als beste Göttinger geisteswissenschaftliche Dissertation des Jahres ausgezeichnet. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN      978-3-05-005125-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 www.akademie-verlag.de Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der Oldenbourg Gruppe. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Fotos: Johann Wolfgang Goethe an Johann   Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 970

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen 1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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Exposition des systematischen Problems. Der doppelte Antagonismus: Das Verhältnis von Philosophie und Literatur (materialer Antagonismus) – Diskursdifferenzierung vs. Überschreitung von Diskursgrenzen (formaler Antagonismus) – Die kulturelle Dialektik.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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Die Achsenzeit zwischen 1770 und 1820: Die Krise der Metaphysik und drei Reaktionen auf sie – Die Rolle des Romans – Das pragmatische Paradigma – Der philosophische Roman der Spätaufklärung – Das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie.

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

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Gegenstand und Erkenntnisinteresse der Untersuchung – Aufgabe und Ziel einer systematischen Untersuchung anhand exemplarischer historischer Problemsituationen – Methodische Überlegungen zur Hermeneutik und zum werkästhetischen Ansatz – Gliederung der Arbeit.

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil 2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman der Spätaufklärung 2.1.1 Das Grundkonzept der Natur und das pragmatische Paradigma Der Begriff des Paradigmas – Das Grundkonzept der Natur und seine drei Geltungsbereiche. Das pragmatische Paradigma – Der doppelte Eklektizismus – Der

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Inhaltsverzeichnis philosophische Roman – Der Kontextualismus – Die narrative Identität – Die Autoreflexivität des philosophischen Romans.

2.1.2 Das Konzept der anderen Vernunft. Die pragmatische Wende in der Erkentnistheorie und das funktionalistische Rationalitätskonzept

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Der Begriff der anderen Vernunft – Die funktionalistische Rationalitätstheorie. Narrative Entlarvungstechniken. Die Kontextualisierung der Philosophie innerhalb der fiktionalen Welt – Perspektivistische und skeptizistische Positionen der Spätaufklärung – Die metaphysische Spekulation – Relativismus und Toleranz – Die Theorie der lebensnotwendigen Illusionen und die Schwärmerei – Dialogische Elemente im philosophischen Roman – Der Briefroman.

2.1.3 Dieses wunderbare Kompositum. Die pragmatische Wende in der Handlungs- und Moraltheorie und der ethische Kontextualismus

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Der Leib-Seele-Dualismus – Aufklärung und Empfindsamkeit – Psychologisierungstendenzen im philosophischen Roman. Egoismustheorie und Entlarvungspsychologie – Die skeptische Satire – Der pragmatische Begriff vom Ich. Die moralphilosophischen Reflexionen im philosophischen Roman: Moral-sense-Ethik und Egoismustheorie – Der Partikularismus – Narrative Kontextualisierungstechniken – Pädagogische Konzepte – Verhältnis zum Bildungsroman.

2.1.4 In dem großen Maschinenwerke der Welt. Die pragmatische Wende in der Staats- und Geschichtsphilosophie und das utopische Denken der Spätaufklärung

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Das Naturrecht im 18. Jahrhundert – Der Mensch als geselliges und egoistisches Wesen – Der Kontraktualismus – Der Naturzustand. Der Staat als wohlverstandener Egoismus aller und das Ideal seiner sittlichen Grundlegung – Die Erziehung. Die Kritik am Konzept des Naturzustandes – Skeptische Geschichtsmodelle. Das utopische Denken der Spätaufklärung – Formen und Funktionen des Utopischen im philosophischen Roman – Die (Fiktions-)Ironie – Die Utopie als Austragungsort autoreflexiven Erzählens.

2.1.5 Die Nachahmung der möglichen Welten. Die pragmatische Wende der Ästhetik und die Autoreflexivität im philosophischen Roman der Spätaufklärung Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Der Konflikt zwischen Mimesis- und Poiesiskonzeption. Die Theorie der möglichen Welten. Blanckenburgs Romantheorie und die poetologischen Reflexionen der Spätaufklärer. Der pragmatische Roman – Kausales, teleologisches und digressives Erzählen. Utopismus und fiktionales Erzählen – Die Autoreflexivität erster und zweiter Stufe. Der philosophische Roman, die organizistische Kunstauffassung und die Autonomieästhetik.

207

Inhaltsverzeichnis 2.1.6 Der philosophische Roman der Spätaufklärung als paradigmatische Diskursform

7 246

Die Autoreflexivität erster Stufe – Der doppelte Eklektizismus. Die Autoreflexivität zweiter Stufe. Mechanizistisches und organizistisches Paradigma. Die Bedeutung des philosophischen Romans für die Transzendentalpoesie. Zum Gattungsproblem.

2.2 Das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie und die Kunstphilosophie des Deutschen Idealismus 2.2.1 Die metaphysische Wende der Romantiker und der Ansatz der Kunstphilosophie

262

Das Verhältnis von Philosophie und Kunst um 1800 – Das pragmatische Paradigma und die idealistische Metaphysik – Das organizistische Paradigma – Ontologischer und subjektivitätsphilosophischer Zugang zum transzendentalpoetischen Roman. Spätaufklärung und Frühromantik – Der Textkorpus.

2.2.2 Der Weltorganismus. Eine neue Metaphysik auf kritischen Grundlagen

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Der hermeneutische Metaphysikbegriff – Das doppelte Selbstverhältnis – (Real-) Dialektische Struktur der spekulativen Theorien Fichtes, Schellings und Schopenhauers – Subjektivitätsphilosophie und Metaphysik. Das organizistische Paradigma I: Die Idee von der Einheit der Natur – Organizistischer Systembegriff – Die ‚relationistische‘ Metaphysik.

2.2.3 Die romantische Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik

312

Die Bedeutung Kants für die ästhetischen Theorien der Frühromantik – Kants Konzept der ästhetischen Idee. Die Transzendentalpoesie als Konsequenz des neuen Metaphysikverständnisses – Kunst als Darstellung des Absoluten – Die transzendentalpoetische Dialektik als Erzählproblem – Die romantische Ironie – Allegorie und Symbol – Die transzendentalpoetische Romantheorie.

2.2.4 Das Konzept der Transzendentalpoesie und die Autoreflexivität zweiter Stufe Das organizistische Paradigma II: Die Kunstauffassung um 1800 – Das Mimesiskonzept in der Kunstphilosophie um 1800. Die Autoreflexivität zweiter Stufe als erzähltechnisches Verfahren. Die Romane Jean Pauls (Hesperus, Flegeljahre) und E.T.A. Hoffmanns (Kater Murr, Goldener Topf) und das autoreflexive Erzählen.

339

8

Inhaltsverzeichnis

2.2.5 Das Konzept der Transzendentalpoesie und die Subjektivitätstheorie um 1800

372

Die Einbildungskraft in der (Kunst-)Philosophie um 1800 – Die ästhetische als objektivierte intellektuelle Anschauung – Die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins. Der Identitätsroman und sein Verhältnis zum Entwicklungsroman. Das Identitätsproblem in den Romanen Tiecks (William Lovell), Jean Pauls (Siebenkäs, Der Titan) sowie in Bonaventuras Nachtwachen – Nihilistische Tendenzen – Genetische Subjektivitätsphilosophie und Identitätsroman.

2.2.6 Noch einmal: der alte Streit ...

416

Zusammenfassung: Das Verhältnis von Literatur und Philosophie um 1800 – Die Kategorie der Anschauung – Das Verhältnis der Transzendentalpoesie zum philosophischen Roman der Spätaufklärung – Dekonstruktion und transzendentalpoetischer Roman.

3. Schluss und Zusammenfassung 3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

433

Die Tradition der anderen Vernunft und die Selbstaufklärung der Vernunft – Der Metaphysikbegriff – Der Pragmatismusbegriff – Die Relevanz des pragmatischen Paradigmas für spätere Entwicklungen der Philosophie. Das Problem der Traditionsbegründung.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

448

Spätaufklärung und Frühromantik: Kontinuität oder Differenz? – Zur Gattungstheorie des Romans – Der Roman als offene Diskursform – Der dekonstruktive Charakter des Romans der Achsenzeit – Die Autoreflexivität als Gattungsmerkmal modernen Erzählens.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie zur Achsenzeit

462

Zusammenfassung: Das Verhältnis von Literatur und Philosophie um 1800. Ethics and literature – Systematische Resultate der Untersuchung – Die Tradition der anderen Vernunft.

Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Promotionsschrift, die in den Jahren 2003 bis 2007 an der Georg-August-Universität Göttingen entstanden ist. Wurde bereits die Arbeit und Fertigstellung dieser Untersuchung nicht unerheblich dadurch erschwert, dass keine der von mir angesprochenen Stiftungen sie für förderungswürdig erachtete, so legten sich auch der Drucklegung unerwartete Schwierigkeiten in den Weg, da keine einschlägige Einrichtung einen Druckkostenzuschuss zu bewilligen bereit war. Dies hat sowohl die Forschungsarbeit selbst als auch den Druck der Arbeit zeitlich ungebührlich ausgedehnt. Anhand des vorliegenden Textes kann sich jeder Leser selbst ein Urteil darüber bilden, ob dieses Diktum bezüglich der Förderungswürdigkeit des Projekts zu Recht oder zu Unrecht ausgesprochen wurde und welches Licht dies auf die Praxis der Wissenschaftsförderung wirft. Umso größer war darum die Freude, dass mir 2008 der Christian-Gottlob-HeynePreis der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen für die beste Göttinger geisteswissenschaftliche Dissertation des Jahres zuerkannt wurde. Den verantwortlichen Jurymitgliedern gebührt dafür mein aufrichtiger Dank. Nicht zuletzt war mir dies eine Bestätigung dafür, dass es so arg um die Qualität der Untersuchung wohl doch nicht bestellt sein konnte. Gleichermaßen dankbar bin ich der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung, die mir schließlich, nach vielen vergeblichen Anläufen bei anderen Stellen, einen Zuschuss zu den Druckkosten bewilligte und durch ihre großzügige Unterstützung diese Publikation allererst ermöglichte. Ohnehin ist es, wenn eine langjährige Arbeit zum Abschluss gelangt, Zeit zu danken und einer Vielzahl von Personen Erwähnung zu tun. Dies geschieht immer in der Gefahr, dass man den Einen oder Anderen, der es verdient hätte, zu nennen vergisst. Danken möchte ich zunächst meinen Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Gerhard Lauer vom Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen und Herrn Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg vom Philosophischen Seminar der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, für ihre stets zuverlässige, geduldige und vor allem kompetente Betreuung der Arbeit. Ihre wissenschaftlichen Hinweise und Hilfestellungen waren dem Projekt allezeit überaus förderlich. Nicht vergessen möchte ich aber auch, Herrn Prof. Dr. phil. Dr. theol. h.c. Konrad Cramer, dem ursprünglichen Betreuer der

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Vorwort

Dissertation, meinen besonderen Dank auszusprechen. Die – thematisch nicht nur in den Umkreis der vorliegenden Untersuchung gehörigen – Gespräche mit ihm bedeuteten für mich immer einen sowohl wissenschaftlichen als auch persönlichen Gewinn. Allen Dreien ist es zu verdanken, dass meine langwierige Arbeit an der komplexen Thematik in einer akademischen Atmosphäre im besten Sinne des Wortes stattfinden konnte, wie sie heute – allen Bekenntnissen zur Interdisziplinarität, Exzellenz und Clusterbildung zum Trotz – selten geworden ist. Dank sagen möchte ich ebenso allen wissenschaftlichen Gesprächspartnern, denen diese Arbeit gleichfalls viel zu verdanken hat. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, möchte ich namentlich erwähnen: Prof. Dr. Winfried Barner, Prof. Dr. Ulrich Barth, Thomas Busche, Prof. Dr. Dieter Cherubim, Dr. Rolf Albert Dietrich, Dr. Martin Erhardt, Prof. Dr. Werner Frick, Dr. Reinhold Grünendahl, Dr. Holger Gutschmidt, Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Dieter Henrich, Alexander Kaiser, Judith Klein, Prof. Dr. Lorenz Krüger (†), Dr. Stefan Lang, Prof. Dr. Klaus Manger, Dr. Klaus Modick, August Ohage, Prof. Dr. Jürgen Ringleben, Prof. Dr. Birgit Sandkaulen, Dirk Schäfer, Mario Schlechter, Prof. Dr. Horst Turk (†), Dr. Jürgen Viering sowie meinen ersten philosophischen Lehrer Dr. Wilhelm Ude (†). Danken will ich schließlich auch denjenigen, die mir während der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung den Rücken finanziell freigehalten haben – namentlich Frau Dr. Ute Pott vom Gleimhaus Halberstadt, Frau Simone Kopp-Sievers vom Museumsverband Sachsen-Anhalt sowie Herrn Dr. Thomas Müller-Bahlke von den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Mich finanziell abgesichert zu haben kann jedoch mit ebensolchem Recht Herr Moritz Schmidt in Anspruch nehmen. Für seine Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage und der Bewältigung dabei auftretender EDV-Probleme möchte ich Herrn Peter Hurlemann danken. Meinen persönlichen und besonderen Dank aussprechen möchte ich aber, neben meiner Mutter und Großmutter, vor allem meiner Freundin und Weggefährtin, Frau Giulia Radaelli, ohne die meine Dissertation vielleicht nie zum Abschluss gelangt wäre. Nach so vielen Danksagungen gebe ich nunmehr die Arbeit mit innigem Ernst hin. In einer Zeit, in der es im öffentlichen Leben nicht einmal mehr ehrenrührig zu sein scheint, sich des Plagiats oder gleich des käuflichen Erwerbs einer wissenschaftlichen Arbeit schuldig zu machen, muss ich ausdrücklich bekennen, dass die vorliegende Untersuchung vielen vorausgehenden Untersuchungen vieles zu verdanken hat. Dies aber ist an allen Stellen ausgewiesen. Doch so wie dieses Buch viele andere Bücher als ihm notwendig voraussetzt, so habe ich die Hoffnung, dass es gleichermaßen viele andere Bücher – vorausgehende wie künftige – überflüssig und vielleicht gar viele weitere möglich macht. Damit würde am Ende der Gerechtigkeit hinreichend Genüge getan. Göttingen und Halle/Saale, im Februar 2011

Lars-Thade Ulrichs

1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung „Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das da1 zwischen liegt?“

Es herrscht ein „alter Streit“2 – nicht bloß zwischen den Fakultäten, wie Kant ihn beschrieb3, sondern ein Streit, der weitaus tiefer unsere kulturellen Grundlagen berührt und der entsprechend tiefer auch in die Vergangenheit hinabreicht und sich zumindest bis auf Platon zurückverfolgen lässt: es ist der Streit um das Verhältnis von Philosophie und Kunst. Seinen Ursprung hat er in der klassischen griechischen Philosophie, von dort aber geht er, ohne je ganz zu verschwinden, weiter bis Heidegger, ja, noch darüber hinaus und bis in unsere Tage. Freilich hat er heute einen anderen Namen erhalten: Der ‚Streit zwischen den beiden Kulturen‘4 wird er inzwischen genannt; und führt man ihn auch unter anderen Vorzeichen, so stellt sich doch die Frage, ob es sich nicht um dasselbe alte Thema handelt, nur in neue Begriffe gefasst. Wenn man sich aber, so sagen die Einen, von dieser Reformulierung des alten Problems in einer neuen Terminologie nicht täuschen lasse, sondern über Epochen- und Diskursgrenzen hinaus unbeirrt nach den Gemeinsamkeiten forsche, dann werde man in dem Verdacht bestärkt, dass sich in allen Ausformungen, die dieser Streit im Laufe der Zeit angenommen hat, ein großer Grundgegensatz verbirgt: Ob sich nun Philosophie und Dichtung, Wissenschaft und Kunst5, erklärende Ätiologie und verstehende Hermeneutik6 oder aber abstrakte und historische Traditionen7 gegenüberstünden, immer keh1 2 3 4 5 6

Musil, 1978, Bd. 1, S. 254. Vgl. Platon: Politeia, Buch X, 607 b, in: Platon, 1957, Bd. 3, S. 298. Vgl. Kants gleichlautende Schrift, in: Kant, 1974, Bd. 12, S. 342. Vgl. Charles P. Snows gleichnamiges Werk von 1964. Vgl. dazu den Titel von Feyerabend, 1984. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 145 ff u. Bd. 2, S. 206 ff, insbes. S. 212; aber auch Rorty, 1980, S. 215 ff.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

re darin, so meinen sie, jenes alte Abgrenzungsproblem wieder, das unsere Geschichte so lang schon begleitet. Andere hinwieder leugnen diese historische Invarianz und halten an der Unvergleichbarkeit jener Debatten fest, die in Antike, Neuzeit und Moderne mit großer Energie geführt worden sind; für sie verwischt die Betonung der Homogenität dieser Diskussionen die grundverschiedenen Probleme, die in ihnen jeweils ausgetragen werden. Gleich nun aber, ob man der Überzeugung ist, dass sich all diese Gegensätze auf einen ‚zeitlosen‘ Grundgegensatz, etwa im menschlichen Erkenntnisvermögen, reduzieren ließen, oder ob man meint, dass zwischen den verschiedenen Formen des „alten Streites“ allenfalls Analogien erkennbar seien, im Grunde aber dabei ganz unterschiedliche Gegensätze in Rede stünden und dass sich deshalb jede ‚Letztbegründung‘ auch an dieser Stelle nur lächerlich mache – gleichgültig also, ob man der These von der historischen Invarianz und geistesgeschichtlichen Kontinuität anhängt oder ob man die Auffassung einer historischen Kontingenz und Diskontinuität vertritt, eines lässt sich doch mit Sicherheit sagen: In diesem „alten Streit“ artikuliert sich ein – zumindest für unsere Kultur – derart fundamentaler Antagonismus, dass dessen Verleugnung zu einer durch und durch verfehlten Auffassung vom Grundcharakter dieser Kultur und vom Verlauf der okzidentalen Geistesgeschichte führen würde. Allerdings ist zu bemerken, dass es sich bei diesem Antagonismus nicht allein um den materialen Gegensatz zweier Kulturformen handelt, sondern dass hier zunächst ein eher formal zu nennender, jenen ersten materialen Gegensatz zwar voraussetzender, aber zugleich transzendierender Antagonismus beachtet werden muss. Denn klar herauszustellen ist, dass die Bemühungen um eine Schlichtung jenes „alten Streites“, d.h. um eine Versöhnung der Ansprüche von Kunst und Philosophie – und später auch der Wissenschaft – ebenso alt sind wie dieser alte Streit selbst.8 Im Zuge dieser Schlichtungsversuche bildete sich aber früh schon ein weiterer Antagonismus heraus – derjenige nämlich zwischen Kulturdifferenzierung und Diskursabgrenzung i.S. einer Herausbildung autonomer kultureller Systeme einerseits und den Bemühungen um Diskursvermischung und Interdisziplinarität i.S. des Versuchs einer Synthese verschiedener Kulturformen andererseits. Dabei wird schon durch einen flüchtigen Blick auf die Geistesgeschichte deutlich, dass beide Bestrebungen dieses – man möchte sagen: dia-

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Vgl. Feyerabend, 1989, S. 181 u. 1980, S. 63. Dies zeigt sich schon bei Platon selbst, der nicht allein In seinen Dialogen Ion und Phaidros – anders als in der Politeia – die Kunst, insbesondere die Dichtung in den höchsten Tönen feiert und diese Form der inspirierten ‚Begeisterung‘, des ‚göttlichen Wahnsinns‘ weit über die ‚Anstrengung des Begriffs‘ stellt und der auch nicht bloß, durch die Verwendung von Argumentationen so gut wie von Märchen und Mythen, eine starke Neigung zur Diskursvermischung zeigt, sondern der vor allem durch die Formulierung des wirkungsmächtigen Ideals einer Versöhnung der Ideen des ‚Guten, Schönen und Wahren‘ eine Einheit aller Kulturleistungen anstrebt, die Kunst, Philosophie und Wissenschaft, ja selbst die Moralität miteinander vermitteln soll.

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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lektischen9 – Prozesses umso intensiver verfolgt werden, je stärker der jeweils gegenläufige Prozess in Gang gesetzt wird, dass sie also in einem proportionalen Verhältnis zueinander stehen: Je stärker sich die Kultur differenziert, je stärker auch die sich im Zuge dieses Prozesses herausbildenden autonomen Systeme von Kunst, Philosophie und Wissenschaft sich wiederum intern differenzieren, desto nachhaltiger werden auch die Bemühungen um eine Wiederannäherung, um eine neuerliche, womöglich ‚höhere‘ Synthese der auseinanderfallenden Kulturformen. Es handelt sich sonach bei den Phänomenen Diskursabgrenzung und Diskursvermischung um zwei vielfach ineinander verschränkte Prozesse. Die Vermittlungsversuche, die heute unter den Leitbildern der Interdisziplinarität und Interkulturalität unternommen werden, artikulieren sich nun nicht nur in dem Bestreben, einer der kulturellen Subsysteme die Priorität vor den jeweils anderen zu sichern und sie entsprechend – insofern alle Letztbegründungsversuche auch auf das Auseinanderfallen einer vordem einheitlichen oder als einheitlich vorgestellten Kultur reagieren – als letzthin begründende Fundamentaldisziplin zu etablieren, sondern solche Bemühungen zeigen sich auch in dem bescheideneren Unternehmen einer Diskursvermischung, welches die Gleichberechtigung der Subsysteme prinzipiell anerkennt und diese in einer Synthese im gut Hegelschen Sinne ‚aufzuheben‘ trachtet. Solche Versuche, die Grenzen der Diskurssysteme zu überschreiten, gehen von der Überzeugung aus, dass die Erkenntnis in der abendländischen Kultur eine derart zentrale Stellung einnimmt, dass man geradezu von dem – im weitesten Sinne – szientistischen Wesen unserer Kultur sprechen könne. Dies wiederum impliziert, dass auch die Kunst und vor allem die sogenannte ‚schöne Literatur‘ in irgendeinem, weiter noch zu klärenden, Sinne eine welterschließende Funktion besitzt, dass sie also ebenfalls eine Wissensform darstellt: Mögen auch näherhin enorme Differenzen in der Einschätzung der eigentümlichen Erkenntnisleistung der Kunst, speziell der Literatur herrschen – auf eine wie immer geartete intellektualistische Auffassung der Kunst sind die Anhänger des Ideals einer Versöhnung der Ansprüche von Wissenschaft, Philosophie und Kunst genau deshalb festgelegt, weil ihnen andernfalls das für ihre Vermittlungsversuche nötige tertium comparationis fehlte.10 Der formale Antagonismus zwischen den Bemühungen um Differenzierung und Synthetisierung der Kulturformen verschärft sich jedoch stets in sogenannten Krisensituationen, in denen die bisher gültigen Sicherungen fraglich werden und die intellektuellen, aber auch die gesellschaftlichen Grundlagen ins Wanken geraten. Es ist vielleicht nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, dass eine solche Verschärfung des Antagonismus einen historischen Zeitabschnitt erst zu dem macht, was man mit Jaspers als ‚Ach9 10

Inwiefern zu Recht nicht bloß von einem Antagonismus, sondern von einer Dialektik gesprochen werden kann, wird am Ende dieses Kapitels noch eigens zu untersuchen sein. Eine Alternative böte allenfalls die Berufung auf die Kreativität als das gemeinsame Merkmal von Wissenschaft, Philosophie und Kunst – allerdings ist dies m.E. ein zu vages Konzept, als dass es in diesem Kontext fruchtbar gemacht werden könnte

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

senzeit‘ bezeichnen könnte.11 Gerade zu solchen Zeiten greifen Gegner wie Befürworter kultureller Differenzierungen sowohl auf den Grundgegensatz zwischen den beiden Kulturen als auch auf die Versuche seiner Versöhnung zurück, wobei die abenteuerlichsten Allianzen gebildet werden. Der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Kunst als der materiale Antagonismus unserer Kultur ist also der Kristallisationspunkt, an dem sich die Auseinandersetzung um Differenzierung und Vermittlung verschiedener Diskurssysteme, Traditionen oder Kulturformen entspinnt. Von ihm nimmt also auch der formale Antagonismus seinen Ausgang. Es lässt sich sogar mit Gründen behaupten, dass hier der eigentliche Ort ist, an dem der Streit um die Grundlagen der abendländischen Kultur ausgetragen wird. Die Folge dieses Umstandes ist, dass sich formaler und materialer Antagonismus auf verwirrende Weise überlagern. So bedarf es einer gewissen interpretatorischen Virtuosität, um in diesen vielfach verschränkten Gegensätzen klare Strukturen zu identifizieren. Unabhängig davon, ob eine solche hermeneutische Virtuosität zu zählbaren Erfolgen führt, gewiss ist, dass die betroffenen Diskutanten es zumindest oft so wahrnehmen, als würde sowohl in dem formalen als auch in dem materialen Antagonismus noch immer derselbe alte Streit ausgetragen. Dieser Streit stellt also im Prozess der Differenzierung der Kultur und ihrer Diskurse das leitende Orientierungsschema dar, auf das stets von neuem zurückgegriffen wird. Durch die Verschränkung von materialem und formalem Antagonismus in ganz unterschiedlichen Kontexten erhält jedoch der in diesem Streit sich artikulierende Gegensatz eine ungeheure Dynamik, welche die geistesgeschichtliche Ausgangslage im Laufe der Zeit immer wieder verändert: Stehen sich im klassischen Griechenland Philosophie und Dichtung gegenüber, so treibt die neuzeitliche Kultur eher die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und empirischer Wissenschaft um, bis in neuester Zeit Kunst und Wissenschaft in Konkurrenz zueinander treten. Im Grunde sind die Verhältnisse jedoch wesentlich komplexer, da der Grundgegensatz nicht allein zwischen (vermeintlich) klar voneinander geschiedenen Kulturleistungen wie Kunst, Philosophie und Wissenschaft auftritt, sondern von diesen selbst internalisiert wird und nunmehr für ihre weitere Binnendifferenzierung sorgt. So scheiden sich innerhalb der positiven Wissenschaft die Natur- von den Geisteswissenschaften, innerhalb der Philosophie hermeneutische und analytische Philosophie, innerhalb der Kunst intellektualistisch orientierte und auf das Emotionale abzielende Kunst. Aber auch hier ist noch lange kein Halten, denn 11

Vgl. Jaspers, 1949. Jaspers verwendet den Begriff freilich in einem anderen Sinne und bezeichnet mit ihm die ‚Zeitenwende‘ zwischen 800 und 200 v. Chr. Es wird sich aber im Zuge dieser Untersuchung erweisen, wie sehr eine Bestimmung des Zeitraums zwischen 1770 und 1820 als ‚Achsenzeit‘ seine Berechtigung hat. Im Vergleich zu dem von Koselleck für die Zeit um 1800 geprägten Begriff der ‚Sattelzeit‘ bietet er m.E. den Vorteil größerer Neutralität gegenüber etablierten Konzeptualisierungen der in Rede stehenden Epoche. Gerade angesichts der komplexen Konstellationen um 1800 gilt es zu verhüten, sich den Deutungshorizont von vornherein von einem Epochenkonzept verstellen zu lassen – zumal der Begriff der ‚Sattelzeit‘ in entscheidender Hinsicht an soziopolitische Umwälzungen gebunden ist.

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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beispielsweise in der Naturwissenschaft differenziert man weiter nach ätiologischen und klassifizierenden, nach komplexitätsreduzierenden und ‚ganzheitlichen‘ Disziplinen. In dieser Entwicklung können recht merkwürdige Koalitionen gebildet werden: So bringen sich analytische und wissenschaftstheoretische Philosophie und empirische (Natur-) Wissenschaft gemeinsam gegenüber der metaphysiklastigen, hermeneutischen Philosophie und der Kunst, insbesondere der Literatur in Stellung. Noch verwirrender wird das Ganze, wenn bei der Reflexion auf ihre (methodischen) Grundlagen und zur Erklärung der eigenen Geschichte eine Disziplin Verbündete aus einem (scheinbar) weit abgelegenen Gebiet sucht und z.B. innerhalb der sogenannten ‚hard sciences‘ normaler und revolutionärer Diskurs mit analytischer Tätigkeit einerseits und mit der Kunst, gar mit poetischen Fertigkeiten andererseits parallelisiert werden. Die Entwicklung scheint hier zu einem Endpunkt gelangt zu sein, insofern mit der aus der Wissenschaftstheorie bekannten Unterscheidung zwischen normalem und revolutionärem Diskurs ein Antagonismus identifiziert wird, der wiederum auf alle Diskurs- und Wissensformen angewendet wird und sie intern strukturiert. Die wechselseitigen Anleihen, die in diesen Versuchen einer (Wieder-)Annäherung i.S. einer Aufdeckung der untergründigen Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie, Wissenschaft und Kunst oder auch zwischen Wissenschaft und Philosophie zu beobachten sind, lassen das Gewebe unserer Kultur als kaum mehr entwirrbar erscheinen.12 Natürlich ist angesichts der permanenten Verschiebungen innerhalb dieser Debatten die Verführung groß, den in ihm exekutierten Gegensatz auf einen sei es ontologischen, sei es erkenntnistheoretischen resp. methodischen oder sei es auch biologischen Grundgegensatz zurückzuführen, ihn also beispielsweise auf den Gegensatz von Natur und Geist, von Materialismus und Idealismus, von kausalem, komplexitätsreduzierendem und finalistischem, Komplexität steigerndem Denken, von analytischer und synthetischer Methode oder auch zuletzt neurophysiologisch auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der beiden Gehirnhemisphären zu fundieren – auf einen Grundgegensatz mithin, den man zuletzt so allgemein formuliert, dass er sich zu zwei grundsätzlich verschiedenen Erkenntnisrichtungen verdünnt: der erklärenden Erkenntnisrichtung von unten nach oben und einer verstehenden von oben nach unten. Und ebenso groß ist angesichts dieses, um uns eines Ausdrucks Musils zu bedienen, „Glaubenskrieg[es] in Permanenz“13 die Verführung, eines jener geradezu titanischen Unternehmen ins Werk zu setzen, die heutzutage (wohl zu Recht) in Misskredit geraten sind, und die gesamte okzidentale Geistesgeschichte unter dem Aspekt jenes zweifachen, sich auf komplexe Weise überlagernden Antagonismus zu betrachten. Gerade im Land der ‚Dichter und Denker‘, das 12

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In gewisser Hinsicht sind die wechselseitigen Adaptionen zwischen den verschiedenen Kulturformen auch Ausdruck einer Verlegenheit, insofern sie darauf verweisen, dass die qualitative Fortschrittsidee fragwürdig geworden ist, durch die traditionell die positiven (Natur-)Wissenschaften charakterisiert werden – im Gegensatz zu Philosophie und Kunst, die nur durch einen quantitativen oder akkumulativen Fortschritt ausgezeichnet seien. Musil, 1978, Bd. 1, S. 1022.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

die beiden Parteien des „alten Streites“ schon im Namen trägt, sind derlei Ambitionen letztlich kaum verwunderlich. Denn schließlich steht im Zentrum des Problems die Erkenntnis, und Erkenntnis ist doch, wenn überhaupt irgendetwas, die Grundlage unserer Kultur. Und ebenso wenig in Verwunderung setzt, dass sich dieses fundamentale Problem sogleich in mehrfacher Hinsicht stellt: nicht nur hinsichtlich des Inhalts und des Zwecks der jeweils in Rede stehenden Erkenntnis- und Wissensformen, sondern auch in der Richtung ihres Erwerbs und ihrer Genese sowie ihres Geltungsbereichs sowohl wie im Hinblick auf ihre jeweilige Methodik und Vermittlungsform. Obwohl es sich zunächst um ein teils methodologisches Problem, teils um ein Problem der Diskursinhalte handeln mag, tritt es nämlich von Anfang an auch als Problem der Diskursform auf.14 Zudem muss man bei der Ventilierung eines derart umfassenden Problems, wie es das der Erkenntnis darstellt, sorgfältig zwischen einer geistesgeschichtlichen und einer transzendentalen Fragestellung unterscheiden: Eine Erklärung dafür, wie eine Menge von Überzeugungen möglich sei, ist eine schwierige transzendentale Aufgabe, die im Gegensatz steht zu einer schlichten Erklärung dafür, weshalb nicht diese, sondern jene Überzeugungen tatsächlich vertreten werden. Erklärungen dieser letzteren Art werden von der Geistesgeschichte – zu der auch die Wissenschaftsgeschichte gehört – geliefert. Erklärungen der ersten Art hingegen müssen eine Theorie darüber enthalten, in welchem Verhältnis Welt oder Realität einerseits und Theorie, Methodologie und Vokabu15 lar andererseits stehen.

Dennoch werden auch durch einen solchen geistesgeschichtlichen Erklärungsansatz Fragen berührt, die in ebenjenen transzendentalen Aufgabenbereich führen. So sorgfältig also einerseits zwischen den beiden Fragestellungen unterschieden werden muss, so untrennbar sind sie andererseits auch. Die Reflexion auf die unterschiedlichen methodologischen Ansätze in den ‚beiden Kulturen‘ sowie auf die Möglichkeit einer Verständigung zwischen derart verschieden ausgerichteten Traditionen hat nämlich – interessanterweise ebenfalls von Anbeginn an16 – die Entwicklung sich diametral entgegengesetzter Theorien im Gefolge, die alle nur irgend denkbaren Formen der Konkurrenz zwischen Traditionen, Theorien oder Kulturen17 erklären und beseitigen helfen sollen, deren Herausbildung aber den Graben zwischen den ‚beiden Kulturen‘ eher noch vertieft hat, als dass sie zur Lösung des hierbei in Rede stehenden Problems 14

15 16 17

Schon bei Platon manifestiert es sich in diesem zweifachen Sinne: Nicht nur werden mit Argument und Mythos zwei ganz verschiedenen Diskurstypen angehörige methodische Mittel zur Lösung philosophischer Probleme eingesetzt, sondern Platon stellt uns mit seinen Dialogen zugleich vor das Dilemma, welcher Diskursform wir seine Werke eigentlich beizuzählen haben – ob der philosophisch argumentierenden und im weiteren Sinne wissenschaftlichen oder eher der poetischen, d.h. der Mittel der Kunst sich bedienenden. Rorty, 1993, S. 33. Vgl. etwa nur den Protagoras Platons, in dem bereits eine Relativismusdebatte geführt wird. Welche Referenzobjekte die unterschiedlichen Metatheorien jeweils behandeln, hängt bereits von einer Vorentscheidung ab, die gewiss von größter Bedeutung ist, hier jedoch nicht weiter thematisiert werden kann. Vgl. dazu z.B. Feyerabend, 1989, S. 35 ff.

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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der Inkommensurabilität18 etwas hat beitragen können: Da stehen sich Objektivismus und Relativismus, Realismus und Pragmatismus oder auch Realismus und Instrumentalismus unversöhnlich gegenüber, und ein Ende des Streites gerät mehr denn je außer Sicht. Nun lässt sich zwar mit guten Gründen bestreiten, dass die Erkenntnistheorie, in deren Bereich letztlich auch diese Metatheorien gehören, tatsächlich jene fundierende Rolle spielt, die ihr von vielen Philosophen zugesprochen wird19; doch eines zumindest kann nicht von der Hand gewiesen werden – dass sie insofern von grundlegender Bedeutung ist, als sich an ihr immer wieder ein nach den Fundamenten unserer Kultur fragender Streit entzündet, dessen Auswirkungen in nahezu alle kulturellen Bereiche hineinreicht. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich die erkenntnistheoretische Debatte um Wissenserwerb und -vermittlung, dass sich die Probleme der Methodologie und der Diskursabgrenzung auch auf dem Felde der sogenannten ‚schönen Literatur‘ manifestieren. Denn ungeachtet aller Streitigkeiten in der Frage um die eigentümliche Erkenntnisleistung von Literatur überhaupt, herrscht unter den Streitparteien darüber wenigstens Einigkeit, dass sie in irgendeinem Sinne eine welterschließende Funktion besitzt. Dies aber reicht grundsätzlich bereits aus, um sie in Konkurrenz treten zu lassen zu den sich einer wie auch immer gearteten wissenschaftlichen Methodik bedienenden, auf einer wie auch immer verstandenen Rationalität beruhenden Erklärungsansätzen von Philosophie oder Wissenschaft. Dabei spielt sie gleichsam die Rolle einer fremden Kultur in der eigenen. Um diese kulturinterne Konkurrenz zu erfassen, führt Feyerabend die Unterscheidung von abstrakten und historischen Traditionen ein: Die Mitglieder theoretischer Traditionen identifizieren Wissen mit Allgemeingültigkeit, betrachten Theorien als die wahren Informationsträger und versuchen, auf eine standardisierte oder „logische“ Weise zu argumentieren. Sie wollen das Wissen unter die Herrschaft univer18

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Der Begriff der Inkommensurabilität wird hier im weitesten Verstande genommen und meint das Phänomen, dass zwei oder mehrere Positionen nicht unter eine Regelmenge gebracht werden können, die sie miteinander vergleichbar macht. Vgl. hierzu etwa: Rorty, 1980, S. 316. Bei Feyerabend wird der Inkommensurabilitätsbegriff auf ähnlich abstrakte Weise definiert: „Universelle Prinzipien [d.h. „Konstruktionsprinzipien, die jedem Bestandteil der Welt (der Theorie), jeder Tatsache (jedem Begriff) zugrunde liegen“] außer Kraft setzen heißt, alle Tatsachen und alle Begriffe außer Kraft setzen. Schließlich wollen wir eine Entdeckung oder eine Aussage oder eine Einstellung inkommensurabel mit der Welt (der Theorie, dem Bezugssystem) nennen, wenn sie einige ihrer universellen Prinzipien außer Kraft setzt.“ (Feyerabend, 1991, S. 352) Vgl. hierzu Rorty, 1980, insbes. S. 131 ff, wo er u.a. darauf hinweist, dass der Anspruch der erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie ebenfalls in dem Versuch einer Diskursabgrenzung seine historischen Wurzeln hat: „It was not until after Kant that our modern philosophy-science distinction took hold. [...] It was only after that battle had been won that the question of seperation from the sciences could arise. The eventual demarcation [...] was made possible by the notion that philosophy’s core was ‚theory of knowledge‘, a theory distinct from the sciences because it was their foundation.“ Inwiefern der philosophische Roman der Spätaufklärung sowie die romantische Transzendentalpoesie an der Bestreitung dieser zentralen Rolle teilnimmt, wird sich im Laufe dieser Untersuchung klären.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen seller Gesetze bringen. Für sie identifizieren Theorien, was im Fluß der Geschichte dauerhaft ist, und machen es dadurch unhistorisch. [...] Die Mitglieder historischer Traditionen betonen das Besondere [...], verlassen sich auf Listen, Stories, Nebenbemerkungen, argumentieren mit Hilfe von Beispielen, Analogien, freien Assoziationen und verwenden „logische“ Regeln, wenn es ihrem Zweck entspricht. Sie betonen auch die Pluralität und, mit Hilfe der Pluralität, die Geschichtsabhängigkeit logischer Maßstäbe.20

Hierbei hält Feyerabend jedoch dafür, dass auch die abstrakten Traditionen eigentlich historische seien21 – mit dem Unterschied freilich, dass sie sich nicht als solche darstellten, sondern in ihrem Streben nach Objektivität den Geschichtsbezug ausblendeten.22 Dem entsprechend versucht er, im Zuge seiner Destruktion der Wissenschaftstheorie, der neuzeitlichen Wissenschaft den Nimbus der reinen Rationalität zu nehmen, indem er mit dem Hinweis auf deren Geschichtlichkeit und mit Hilfe von ‚Fallstudien‘ auf die Notwendigkeit des Methodenpluralismus innerhalb der (erfolgreichen) Wissenschaft insistiert23 und mit wissenschaftshistorischen Argumenten seinen „erkenntnistheoretischen Anarchismus“ untermauert: Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, „Objektivität“, „Wahrheit“, der wird einsehen, daß es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt. Es ist der Grundsatz: Anything 24 goes.

Daraus zieht Feyerabend den Schluss, dass der Unterschied zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft jegliche Bedeutung verliert, da zuweilen nur die ‚unwissenschaftlichen‘ Theorien historischer Traditionen die für den Fortschritt der Wissenschaft erforderlichen Alternativen bereitstellen können.25 Feyerabend plädiert also für eine kontrol20 21 22

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Feyerabend, 1989, S. 181; vgl. auch: ders., 1980, S. 63. Vgl. Feyerabend, 1989, S. 191 f. Vgl. Feyerabend, 1980, S. 148; s.a. Rorty, 1988, S. 11 ff, wo er zwischen zwei Verfahrensweisen unterscheidet, dem „Leben durch Einordnung in einen größeren Zusammenhang Sinn zu verleihen“, nämlich dem „Wunsch nach Objektivität“ (mit einer unmittelbaren Beziehung zu einer nichtmenschlichen Realität) und dem „Wunsch nach Solidarität“ (mit Bezug auf eine historisch kontingente Gemeinschaft). Vgl. z. B. Feyerabend, 1991, S. 54: „Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.“ Feyerabend, 1991, S. 31. Hierbei betont Feyerabend mehrfach, dass dieser polemisch gegen den kritischen Rationalismus gerichtete Grundsatz zum einen historisch wirklich sei, d.h. als einziges methodisches Prinzip die Geschichte der Wissenschaft zu erfassen vermöge, und zum andern wissenschaftlich notwendig sei, weil nur mit ihm ein Erkenntnisfortschritt ermöglicht werde (vgl. Feyerabend, 1980, S. 195 f). An anderer Stelle vertritt er die „Auffassung, dass selbst unsere grundlegendsten Annahmen, unsere festesten Überzeugungen und unsere schlüssigsten Argumente verändert, das heißt verbessert oder entschärft oder als irrelevant hingestellt werden können durch einen Vergleich mit etwas, das zu-

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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lierte Überschreitung der Diskursgrenzen und für eine wechselseitige Befruchtung der ganz unterschiedlichen Traditionen angehörigen Welterschließungsmodelle. Nichts nämlich sei dem Erkenntnisfortschritt abträglicher als die Abschottung einer Tradition gegenüber allen anderen, wie sie die Wissenschaftstheorie für die Theorienbildung der Naturwissenschaften betreibt. Dabei darf man sich allerdings nicht von der Polemik Feyerabends gegen den kritischen Rationalismus und seiner Neigung zu provokanten Slogans täuschen lassen: Sinn und Zweck dieses „erkenntnistheoretischen Anarchismus“ ist gerade die Sicherung des wissenschaftlichen Fortschritts sowie die Bewahrung von Rationalitätsstandards. Doch eine solche Sicherung der Rationalität ist laut Feyerabend nur durch fortwährenden Rückgriff auf etwas bisweilen als völlig irrational Erscheinendes möglich: Will man die Vernunft in ihren legitimen Ansprüchen retten, so muss man das Andere der Vernunft einzubeziehen versuchen; dass dadurch eine andere Vernunft inthronisiert wird – eine liberale, weltoffene, nicht mehr dogmatische –, berührt die interne Struktur der Rationalität nicht: Nur vermittelst einer Aufweichung der ‚hard sciences‘ vermag man diese auf dem Weg des Fortschritts zu halten.26 Am Ende werden wissenschaftliche Theorien für Feyerabend nachgerade zu aus dem Material des Denkens bestehenden Kunstwerken27, und die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst verschwimmt: [D]ie besten Teile der Wissenschaften, das heißt jene Teile, die von den großen Wissenschaftlern entwickelt wurden, sind Künste und nicht Wissenschaften im Sinne eines „rationalen“ 28 Unternehmens, das allgemeinen Maßstäben der Vernunft genügt [...].

Die Kehrseite dieser Aufweichung der ‚hard sciences‘ ist die Aufwertung der Kunst, insbesondere der Literatur zu einer eigenen Weise der Welterschließung, die neben den Erkenntnisleistungen von Wissenschaft und Philosophie ein eigenes Recht zugebilligt wird. Eine derartige Annäherung von Wissenschaft und Kunst wird von Rorty in enge Verbindung mit der Unterscheidung zwischen ‚normalem‘ und ‚revolutionärem‘ Diskurs gebracht. Hierbei handelt es sich zunächst um eine Differenzierung, die sich in verschiedenen Diskursformen findet; als eine solche Binnendifferenzierung nimmt sie innerhalb von Kunst, Wissenschaft und Philosophie nur jeweils eine andere Gestalt an. Der dem normalen Diskurs (i.S. einer Überprüfung der Wahrheit bestimmter Aussagen

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nächst wie der reine Irrsinn aussieht“ (Feyerabend, 1989, S. 41). Im Hintergrund steht dabei die schon klassisch zu nennende Ablehnung der naiven Position, dass wir wissenschaftliche Theorien direkt anhand von empirischen Tatsachen überprüfen könnten. Vielmehr müssten wir immer „Ideen mit anderen Ideen vergleichen, nicht mit der ‚Erfahrung‘“ (Feyerabend, 1991, S. 34). Ganz ähnliche Bestrebungen – dies sei hier vorgreifend erwähnt – zeigen auch jene Verfasser philosophischer Romane, die in dieser Untersuchung im Mittelpunkt des Interesses stehen – mit dem Unterschied freilich, dass sie umgekehrt die Rationalität wie auch die Kreativität der Literatur zu bewahren bzw. allererst herzustellen versuchen, indem sie in die offene Form des Romans fremde – d. h. hier vor allem philosophische und wissenschaftliche – Diskurselemente integrieren. Vgl. Feyerabend, 1989, S. 427. Feyerabend, 1991, S. 384.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

sowie der Eignung bestimmter Mittel zur Erreichung von Zielen unter der Voraussetzung wesentlicher Einigkeit über das Hintergrundmodell bzw. im Rahmen eines anerkannten Vokabulars) gegenüberstehende revolutionäre Diskurs (i.S. einer Problematisierung aller Voraussetzungen einer Debatte in Zeiten der Krise) wird von Rorty als ein „literarische[r] oder poetische[r] Augenblick“ der Geschichte bezeichnet.29 In diese Kerbe schlägt auch Feyerabend, wenn er die Notwendigkeit des Pluralismus innerhalb der Wissenschaften in einer Weise beschreibt, dass man geradezu anzunehmen genötigt ist, die Kunst, insbesondere die fiktionale Literatur könne unmittelbar den Fortschritt der Wissenschaften befördern: Man braucht einen äußeren Maßstab der Kritik, ein System alternativer Annahmen, oder, da diese Annahmen sehr allgemein sind und gewissermaßen eine ganze Gegenwelt konstituieren: man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften der wirklichen Welt zu erkennen, in der 30 wir zu leben glauben (und die in Wirklichkeit vielleicht nur eine andere Traumwelt ist).

Dabei mag es, um sich die Engführung des wissenschaftstheoretischen Begriffs des revolutionären Diskurses mit einem künstlerischen Moment verständlicher zu machen, nützlich sein, die hier in Rede stehende Unterscheidung mit Hilfe der Begriffe der Metapher und des neuen Vokabulars genauer zu fassen.31 Denn jeder revolutionäre Diskurs zeichnet sich – so Rorty, Gedanken Nietzsches aufgreifend32 – gerade dadurch aus, dass er sich nicht mit dem Auseinanderkebsen von Argumenten begnügt, sondern eine neue Redeweise einführt, die sich im alten Sprachspiel, also von der Warte des normalen Diskurses, wie eine Metapher ausnimmt: Nach Davidsonscher Sprachauffassung haben Metaphern keine Bedeutung. Damit ist gesagt, daß sie in dem vor ihrer Verfertigung gespielten Sprachspiel keinen Platz haben. In den anschließend gespielten Sprachspielen dagegen kann es sein und kommt es tatsächlich vor, daß sie eine wichtige Aufgabe erfüllen. Denn dadurch, daß ihnen eine buchstäbliche Bedeutung beigelegt wird, wodurch sie dann zu „vergilbten“ Metaphern werden, vergrößern sie den logischen Raum. Daher ist die Metapher ein wesentliches Instrument im Prozeß des Umwebens unserer Überzeugungen und Wünsche. Ohne sie gäbe es so etwas wie eine wissenschaftliche 33 Revolution oder einen kulturellen Umbruch gar nicht.

In einer solchen Umbruchsituation werden – ließe sich mit Feyerabend ergänzen – stets „antizipatorische“ Überlegungen notwendig, die auf dem bisherigen Stand des Denkens nicht gerechtfertigt werden können.34 Hierdurch entsteht dann der Eindruck des AntiSystematischen, wo es sich doch nur um die Notwendigkeit der Vorläufigkeit eines neuen Modells handelt, durch das eine gänzlich neue Sichtweise eingeführt wird: 29 30 31 32 33 34

Vgl. Rorty, 1993, S. 110. Feyerabend, 1991, S. 37. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf Ricœurs Metapherntheorie, in: Ricœur, 1986. Vgl. Nietzsches Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Nietzsche, 1988, Bd. 1, insbes. S. 880 f. Rorty, 1993, S. 68. Zur Problematik der antizipierenden Überlegungen vgl. Feyerabend, 1980, S. 47.

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

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Interesting philosophical change [...] occurs not when a new way is found to deal with an old 35 problem but when a new set of problems emerges and the old ones begin to fade away.

Der revolutionäre Diskurs hat demnach insgesamt gegenüber dem ‚Sprachspiel‘ des normalen Diskurses einen metaphorischen Charakter. Dabei kann auch ein Diskurstyp als ganzer gegenüber einem anderen die Rolle des revolutionären gegenüber dem normalen Diskurs spielen. Wie Rorty und Feyerabend dies für das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft behauptet haben, so ist diese Möglichkeit auch oder noch mehr in dem Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie gegeben – ja, es erscheint geradezu als eine notwendige Konsequenz, wenn man bedenkt, dass die Literatur, wie keine andere Diskursform, mit der Erfindung und Verwendung von Metaphern beschäftigt ist. Da nun die Binnendifferenzierung im Bereich der Philosophie die Gestalt des Gegensatzes zwischen einer existentiellen, bildenden und hermeneutischen auf der einen und einer systematischen, analytischen und argumentativen Philosophie auf der anderen Seite annimmt, tritt die vermeintlich unsaubere Denkart der Literatur in der Rolle der hermeneutischen Diskursform auf und stellt sich dem systematischen und analytischen Ansatz der professionellen Philosophie gegenüber.36 Hierbei ist klar zu sehen, dass die hermeneutische Richtung innerhalb der Philosophie nur ein Randdasein führt und schon ihre klassischen Vertreter – wie z. B. Schelling, Schopenhauer oder Nietzsche – zumeist in Opposition gegenüber jener professionellen Philosophie stehen, die sich an den empirischen (Natur-)Wissenschaften als ihrem methodischen Vorbild orientiert.37 Diese Auffassung von der hermeneutischen Philosophie als einer „wesentlich reaktive[n] Denkrichtung“, die allein in der Opposition gegen die analytische Tradition ihren Sinn hat, vertritt auch Rorty, der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß nichtnormale und „existentielle“ Diskurse immer parasitär gegenüber normalen Diskursen sind, immer auf sie aufbauen, daß sich also die Möglichkeit einer Hermeneutik immer auf die Möglichkeit einer Erkenntnistheorie [...] gründet, und daß der Bildungsprozeß jederzeit vom 38 Material der jeweiligen Gegenwartskultur Gebrauch macht.

Dabei übernimmt der solcherart hermeneutisch orientierte Philosoph eine neue Rolle, nämlich die „Rolle des informierten Dilettanten [..], des Polypragmatikers, des sokratischen Vermittlers unterschiedlicher Diskurse“39 und verfolgt das Ideal der ‚societas‘ als 35 36

37

38 39

Rorty, 1980, S. 264. Dies geschieht z.B. im Falle des Romans um 1800, der sich gegen die sich als Expertenkultur etablierende Philosophie wendet. Voraussetzung dafür ist aber die Übernahme philosophischer Ansprüche in die ‚schöne Literatur‘. Das heißt allerdings nicht, dass die Vertreter der Tradition der anderen Vernunft – gleich ob sie sich der Äußerungsform des philosophischen Romans oder der philosophischen Abhandlung bedienen – nicht auf die empirischen Wissenschaften zurückgreifen. Gerade für Schopenhauer und Schelling sind sie maßgeblich. Rorty, 1997, S. 396 f. Rorty, 1997, S. 345.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

einer „Gemeinschaft von Personen [..], die durch Urbanität40 zusammengehalten wird, nicht durch ein gemeinsames Ziel oder gar ein gemeinsames Fundament“: Die Hermeneutik betrachtet die Beziehungen der unterschiedlichen Diskurse zueinander als Beziehungen zwischen den möglichen Strängen eines Gesprächs, das seinerseits keines die Sprecher verbindenden disziplinären Systems bedarf, das jedoch, solange es währt, die Hoff41 nung auf Übereinstimmung nie aufgibt.

In den Augen der ‚hermeneutischen‘ Philosophen um und nach 1800 tritt die Philosophie ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen – in eine enge Verwandtschaftsbeziehung zur Kunst – eine Auffassung, die im Übrigen erhebliche Konsequenzen für den Philosophie- und Systembegriff hat.42 Wie immer man aber diese hermeneutischen Diskurse der Philosophie beschreibt, sie folgen jedenfalls, wie die Kunst, einem alternativen Rationalitätstyp: sie sind die Artikulationssysteme einer anderen Vernunft als derjenigen, die in den ‚analytischen‘ Diskursformationen die Standards definiert.43 Rorty fasst seine Überlegungen zusammen, indem er darauf hinweist, dass der Streit zwischen Philosophie und Literatur bzw. zwischen Wissenschaft und Kunst von derart grundlegender Bedeutung ist, dass dessen Beseitigung geradezu zur Eliminierung der abendländischen Kultur führte: Dieser Gegensatz zwischen dem Buchstäblichen und dem Metaphorischen steht im Hintergrund des für die nachkantianische Periode der Philosophie bezeichnenden Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Kunst. [...] Sollte sich das Abendland je von diesem Gegensatz lösen, dessen Geschichte zurückreicht bis zu dem von Platon beschriebenen Streit zwischen Philosophie und Dichtung, dann könnte es geschehen, daß seine Kultur aufhört, spezifisch abendlän44 dische Züge zu tragen.

Entsprechend versucht Rorty zu zeigen, dass der in dem Streit zwischen Philosophie und Dichtung sich verbergende Gegensatz, auch wenn er, wie Feyerabend, fortwährend gegen dessen Berechtigung argumentiert45, für alle Bereiche unserer Kultur von Bedeutung ist: 40 41

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Auf das Urbanitätsideal Wielands werden wir noch zu sprechen kommen (vgl. v.a. Kap. 2.1.2). Rorty, 1997, S. 346. Es ist schwer zu beurteilen, ob mit dieser Bestimmung der neuen Rolle des Philosophen als eines Vermittlers unterschiedlicher Diskurse letztlich nicht doch eine Instanz benannt wird, die oberhalb der Kulturdifferenzierungen von Wissenschaft, Philosophie und Kunst schwebt und von dieser Warte aus den Streit der Kombattanten auf metatheoretische Weise schlichtet. Mag dies auch nicht im Sinne einer Gottesperspektive zu verstehen sein, so birgt etwa der Wielandsche Begriff des ‚kosmopolitischen Standpunkts‘, der diese Instanz vielleicht am besten beschreibt, eine eigentümliche Ambivalenz, die den Verdacht aufkommen lässt, dass man sich auch hier eine letztgültige Schiedsrichterfunktion anmaßt. Vgl. zu dieser Thematik v.a. das Kap. 2.2.2. Wie diese ‚andere Vernunft‘ genau beschaffen ist, wird noch zu klären sein (vgl. Kap. 2.1.2). Rorty, 1993, S. 70 f. Vgl. z.B. Rorty, 1993, S. 131 f: „Ginge die Wissenschaft so unmetaphorisch und methodisch vor, wie die Wissenschaftstheorie gern vorgibt, und handelte es sich in der Philosophie wirklich in dem Maße um das Lösen von Problemen, das Analysieren von Begriffen und das Betrachten von Ideen,

1.1 Der alte Streit – eine Art Einleitung

23

Die Gegensätze zwischen dem Klassischen und dem Romantischen, zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Literarischen sowie zwischen Ordnung und Freiheit sollten wir als emblematische Kennzeichen eines inneren Rhythmus auffassen, der jedes Fach und jeden Teilbe46 reich der Kultur durchdringt.

Dieser Rhythmus, mit dem wir mit müssen, durchdringt auch diese Arbeit. Erscheint nämlich in solcher Perspektive der „alte Streit“ genau in dem Sinne als das innerste Wesen der abendländischen Kultur, dass eine Aufhebung dieses Gegensatzes unmittelbar zu deren Ende führte, so ist mit ebensolcher Bestimmtheit darauf hinzuweisen, dass auch eine strikte Abschottung der beiden Diskursformen, wie wir sie gerade heute trotz aller Bekenntnisse zur Interdisziplinarität antreffen, das Ende unserer Kultur bedeutete. Zwar wäre es illusorisch und wohl auch gar nicht wünschenswert, eine endgültige Versöhnung zwischen den unterschiedlichen Kulturformen erreichen zu wollen, doch sollte dies nicht dazu verführen, alle Bemühungen um eine wechselseitige Befruchtung der beiden Kulturen durch – rational kontrollierte – Grenzüberschreitungen einzustellen, da nur dadurch nicht allein die in allen Kulturleistungen notwendige Kreativität, sondern auch die ihnen ebenso unerlässliche Rationalität bewahrt werden kann.47 Mag man auch über das hier im Hintergrund stehende Ideal einer allseitigen Bildung der Diskursteilnehmer spotten, so scheint es zu einer derartigen Vermittlung zwischen den Diskursen keine ernstzunehmende Alternative zu geben. Die Tatsache, dass sich zum einen in einer solchen ‚Streitkultur‘ der formale und materiale Antagonismus – also die Bemühungen um Differenzierung und Synthetisierung der Kulturformen und der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Kunst – auf verwirrende Weise beständig überlagern, zum andern innerhalb dieses doppelten Antagonismus wiederum wechselseitige Beeinflussungen zwischen den verschiedenen Diskurssystemen zu beobachten sind –, diese Tatsache lässt es als berechtigt erscheinen, statt von einem bloßen Antagonismus von einem dialektischen Prozess zu sprechen. Denn wenn nicht hier, wo sollte sonst von Dialektik im Ernst noch die Rede sein? Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um eine grundlegende Kulturdialektik, sondern zugleich um eine solche, deren Ende nicht abzusehen und wohl auch kaum erstrebenswert ist. Dass die Synthesen, die in einem derartigen dialektischen Prozess erreicht werden, niemals endgültig sind und in der Geistesgeschichte nur einen vorübergehenden Wert beanspruchen können, sollte jedenfalls kein Hinderungsgrund sein, den auf eine lange Bedeu-

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wie sie es sich manchmal erträumt, dann wäre es vielleicht möglich, eine Unterscheidung zwischen Philosophie und Literatur oder zwischen Wissenschaft und Literatur zu treffen [...].“ Rorty, 1993, S. 144. Das gilt natürlich auch für die Interpretation des philosophischen und transzendentalpoetischen Romans, die sich allezeit offen zu halten hat gegenüber dem diskursiven Umfeld, in dem er als Schnittpunkt zu verorten ist.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

tungsgeschichte zurückblickenden und unscharf gewordenen Begriff der Dialektik in diesem Zusammenhang zu verwenden.48 Die Tatsache aber, dass dabei die Kunst eine wichtige Rolle spielt, eröffnet zuletzt die Möglichkeit, diese kulturelle Dialektik mit Hilfe des Spielbegriffs zu beschreiben, wie er in jüngster Vergangenheit wieder von Bourdieu verwendet worden ist49: Der dialektische Prozess innerhalb der okzidentalen Kultur erscheint danach weniger als ein unnachgiebig geführter Streit, der eine strenge Abschottung der einzelnen Diskurssysteme zur Folge hat, sondern als ein freies intellektuelles Spiel, durch das man ein distanziertes und ironisches Verhältnis zur Kultur gewinnt und in dem gerade ihre Differenzen zu einer wechselseitigen Befruchtung der Diskurse führen. Innerhalb dieses Prozesses aber wird die Kunst zu einer eigenständigen Erkenntnisleistung mit ihr eigentümlichen Rationalitätsstandards aufgewertet. Dies ist von größter Wichtigkeit. Ebenso wichtig aber ist, dass eine solche Aufwertung der Kunst auch schon in den Abgrenzungsdebatten innerhalb der Diskurssysteme von Philosophie und Wissenschaft impliziert ist. Die Ausführungen zu den Binnendifferenzierungen von Philosophie und Wissenschaft mit Hilfe von Feyerabend und Rorty sollten entsprechend dazu beitragen, die neue Bestimmung der Rolle der Kunst auch von dieser Seite zu verdeutlichen.50 Es gilt jedoch vor allem, die historischen Bedingungen dieser Debatten und ihre vielfältigen Implikationen zu verstehen, wenn man einem Verständnis des systematischen Problems des Verhältnisses von Philosophie und Kunst näher kommen will. Hierzu ist es erforderlich, sich mit der exemplarischen Situation der ‚Achsenzeit‘ um 1800 eingehend zu beschäftigen. Hierzu ist es auch unumgänglich, sich mit dem Roman als der offenen Diskursform schlechthin zu befassen. Genau hierzu soll diese Untersuchung einen Beitrag leisten.

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Es soll entsprechend in der folgenden Untersuchung nicht behauptet werden, dass der philosophische Roman der Spätaufklärung oder das Konzept der Transzendentalpoesie eine solche endgültige Synthese von Philosophie und Kunst darstellten. Dennoch bemühen sich unter den Intellektuellen um 1800 insbesondere einige Romanciers um eine Schlichtung des alten Streits und eine Überwindung der Diskursgrenzen, insofern auch um eine derartige Synthese. So in Bourdieu, 2005, insbes. S. 122 ff, aber auch bereits in ders., 1997, passim. Dass diese Vorstellung von der Konkurrenz der Diskurse als eines Spiels bereits den Spätaufklärern nicht fremd war, zeigen etwa die satirischen Erzählungen Wezels Silvans Bibliothek und Euprosinopatorius (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1.6, aber auch: Ulrichs, 2004, S. 125 ff). Die Bezugnahmen auf Feyerabend und Rorty sollten also nicht dazu dienen, ihre – oftmals recht vagen – Darstellungen als korrekte Beschreibungen der komplexen diskurslogischen Zusammenhänge den folgenden Untersuchungen zugrunde zu legen, sondern vielmehr einen möglichst weiten Horizont zu eröffnen, um ebenjene Komplexität zumindest umrisshaft zu vergegenwärtigen.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft „Wo aber Gefahr ist, wächst 1 das Rettende auch.“

Eine ungeheure Debatte tut sich da auf, und der „alte Streit“ pflanzt sich durch die Jahrhunderte fort. Es ist aber eine Debatte, die sich so weitgehend verzweigt und so notorisch die europäische Geistesgeschichte beherrscht, dass es fast aussichtslos scheint, sie auch nur in ihren grundlegenden Zügen zu charakterisieren. Es ist daher unausweichlich, das Untersuchungsfeld einzuengen. Entsprechend beschränkt sich die vorliegende Arbeit zeitlich auf eine an Ausdehnung geringe, an Bedeutung jedoch kaum zu überschätzende Epoche der Geistesgeschichte: Im Zentrum steht die Achsenzeit zwischen 1770 und 1820, in der die bisher sicheren Maßstäbe auf umfassende Weise ins Wanken gerieten und derart radikal hinterfragt wurden, dass die soeben skizzierte doppelte Dialektik der Geistesgeschichte – also derjenigen von Philosophie und Kunst auf der einen und derjenigen von kultureller Differenzierung und Synthetisierung auf der anderen Seite – in vordem noch nicht da gewesener Radikalität, in auch danach kaum je erreichter Intensität wirksam wurde. Von dieser Achsenzeit erhält man dadurch den Eindruck, dass es sich bei ihr um einen Schmelztiegel handelt, in dem die Kultur bis auf einen schlechthin atemberaubenden Grad erhitzt wurde. Sodann stellt die Untersuchung mit dem Roman eine Diskursform in den Mittelpunkt der Betrachtung, die in der Zeit um 1800 nicht nur eine große Popularität genoss, sondern auch eine solch enorme Aufwertung erfuhr, dass sie innerhalb der Literatur zur neuen Leitgattung avancierte. Durch eine solche Beschränkung auf eine bestimmte Epoche einerseits und auf eine einzelne Diskursform andererseits scheint das Unternehmen vergleichsweise bescheiden. Fragt man jedoch nach den Implikationen der Gattung des Romans, speziell des philosophischen der Spätaufklärung sowie des transzendentalpoetischen Romans der Romantik, verfolgt man sodann die Konsequenzen dieser Gattungsbildung auch für andere Diskursformen, untersucht man schließlich die Folgen dieser Entwicklungen für das Philosophieverständnis und den Systembegriff um 1800, so wird man alsbald auf derart allgemeine Probleme geführt, dass die vertikale wie horizontale Kontinuität innerhalb der Geistesgeschichte gewährleistet und der Horizont auf die in einer interdisziplinären Arbeit erwünschte Weise erweitert wird. Diese systematischen Probleme können jedoch nur in einer exemplarischen historischen Problemsituation auf erhellende Weise dargestellt werden. Dass der Wettstreit zwischen Philosophie und Kunst resp. Dichtung sich nun aber gerade im 18. Jahrhundert verschärft und sich entsprechend das Problem ihres Verhältnisses insbesondere in jenem Zeitalter stellt, das mit dem etwas schiefen Begriff der 1

Hölderlin, 1943 ff, Bd. 2, 1, S. 165.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

‚Goethezeit‘ bezeichnet wird, mag nur den Ununterrichteten überraschen. Nicht nur weil diese Zeit gemeinhin als die Geburtsstunde der neueren deutschen Literatur und vor allem des Romans gilt, in der für eine lange Weile die Entwicklung der verschiedenen Gattungen vorgezeichnet wurde, noch auch nur weil sich in ihr die gesamte Kultur in neue Subsysteme ausdifferenzierte, die bis heute ihre Stabilität bewahrt haben2, sondern vor allem weil es sich, diesen Differenzierungsprozess zugleich ermöglichend und notwendig machend, um eine Zeit des Umbruchs handelt, in der nach Abdankung der großen metaphysischen Letztbegründungen eine grundlegende Neuorientierung stattfindet – aus all diesen Gründen muss die Epoche zwischen 1770 und 1820 als eine Achsenzeit angesprochen werden. Sie erscheint dadurch als der eigentliche Beginn der Moderne, in deren Horizont wir heute noch stehen. Fragt man aber – um die allzu geläufige Redeweise von ‚Orientierungskrise‘ und ‚Ende der Metaphysik‘ mit Inhalt zu füllen – nach den besonderen Formen, die diese Krise im ausgehenden 18. Jahrhundert angenommen hat und in deren Rahmen eine Wiederaufnahme des „alten Streites“ zwischen Philosophie und Kunst möglich wurde, so gerät man angesichts der Komplexität der Zusammenhänge unweigerlich in Schwierigkeiten.3 Hier herrscht wahrhaftig Erklärungsnotstand. Denn freilich gehört es zu den Gemeinplätzen geistesgeschichtlicher Untersuchungen, dass jene Krise der Metaphysik bereits wesentlich früher – nämlich spätestens mit Galilei und Descartes – beginnt und mit dem Erfolg der empirischen Wissenschaften – zusamt der sie legitimierenden neuzeitlichen Philosophie – zusammenhängt: die ungeheure Akkumulation des empirischen Wissens vermag, so scheint es, keine metaphysische Theorie mehr zusammen zu halten. Doch ebenso unbestritten ist, dass sich diese Krise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beträchtlich verschärft. Obgleich sich der Sachverhalt bei genauerem Hinsehen wesentlich komplexer darstellt und die Vorläufer schlechthin Legion sind, knüpft sich diese Entwicklung vor allem an den Namen Kants und dessen kritische Philosophie, die in erster Linie als der Versuch einer Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis und infolge dessen als eine Beschneidung der metaphysischen Ansprüche der Vernunft aufzufassen ist. Trotz aller vorangegangenen Bemühungen der Empiristen und Materialisten ist eine solche Bindung der Erkenntnis an die Empirie (mit Newtons Physik als paradigmatischem Vorbild) und die entsprechende Zurückweisung jeglichen transzendenten Gebrauchs der Vernunft niemals mit einer derartigen argumentativen Strenge vorgenommen worden. Nicht nur wird in der Transzendentalphilosophie Kants die Ausgangsbasis vieler weiterer Entwicklungen gelegt, sondern spätestens von diesem Zeitpunkt des Auftretens

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So wird in jener Zeit auch der noch heute weitgehend gültige Kanon der Wissenschaftsdisziplinen ausgebildet. Im Folgenden wird eine ideengeschichtliche Betrachtungsweise vorgestellt, zu der es natürlich Alternativen gibt. Die realhistorischen Aspekte der „Krise der Metaphysik“ müssen in dieser Untersuchung aber weitgehend unberücksichtigt bleiben.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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des „Alleszermalmers“4 an verschärft sich die Krise der Metaphysik auf eine Weise, welche die Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts als eine zutiefst ambivalente, gleichwohl sehr einschneidende Angelegenheit erlebten.5 Denn der Zusammenbruch oder vielmehr die schleichende Zersetzung der metaphysischen Welterklärungsmodelle führte zwar einerseits zu einer Erweiterung der Erkenntnis- und Handlungsspielräume, andererseits aber rief sie eine Verunsicherung hervor, deren erhöhten Orientierungsbedarf keine Instanz mehr befriedigen zu können schien.6 Hier ist man weit entfernt von einer lustvollen Diesseitsgewandtheit, die, nachdem man den Himmel den Spatzen überlassen hat, der Erde nun, wie Nietzsche es wollte, einen Sinn schafft, einen Menschensinn. Vielmehr überkommt die Menschen, während sie „das Glöckchen klingeln“7 hören, das Gefühl der „Weltlosigkeit“, wie es Blumenberg mit Bezug auf Hannah Arendt beschreibt: Der Mensch sei, als er die Hoffnung auf das Jenseits verlor, nicht mit der dadurch freigewordenen Intensität des Bewußtseins auf das Diesseits eingegangen; vielmehr wurde er aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückgeworfen. [...] Was immer wir meinen mögen, wenn wir von Säkularisierung sprechen, historisch kann sie auf keinen Fall als ein Verweltlichungsprozeß im strengen Sinne des Wortes angesehen werden; denn die Moderne hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen; sie ist bes8 tenfalls auf es zurückgeworfen.

Dieses Gefühl des Auf-sich-selbst-Zurückgeworfenseins, das von „transzendentaler Obdachlosigkeit“9 Zeugnis ablegte, rief verschiedene Reaktionen hervor, die sich unter drei Formen klassifizieren lassen: 1) Zunächst sind die Versuche einer Letztbegründung menschlicher Erkenntnis zu nennen, die dem Auseinanderdriften der Kultur in Folge der Herausbildung des modernen Systems der empirischen Wissenschaften begegnen sollten und die schließlich in den Bemühungen um eine Reformulierung der Metaphysik innerhalb des Deutschen Idealismus gipfelten. Diese Suche nach einem den Ansprüchen der kritischen Philosophie genügenden fundamentum inconcussum, die, was man nicht verkennen sollte, auch schon hinter dem kritischen Unternehmen Kants steht10, nimmt 4 5

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So bezeichnete bekanntlich Mendelssohn Kant, in: Mendelssohn, 1979, S. 5. Der Aufstieg des Bürgertums, der Beginn des merkantilen Kapitalismus und das Ende der Bevormundung durch Staat und Kirche (oder zumindest der Anfang dieses Endes) und der damit einhergehende „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ sind die realhistorischen Komplemente dieser Entwicklung. Vgl. dazu Erhart, 1991, S. 10 f. Vgl. Heines berühmten Ausspruch zur Grablegung Gottes in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heine, 1968, S. 120. Blumenberg, 1966, S. 16 f. Der Ausdruck stammt bekanntlich von Georg Lukács, der ihn bezeichnenderweise im Hinblick auf die „Form des Romans“ verwendet (vgl. Lukács, 1920, S. 23). Schon im Selbstverständnis Kants, erst recht aber im Rückblick der Deutschen Idealisten sind die drei Kritiken im Grunde „Prolegommena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

allerdings – getreu der kopernikanischen Wende der Subjektivitätsphilosophie – eine völlig andere Form an als in der klassischen Metaphysik: Je nach dem wie die Frage nach dem Primat von theoretischer (‚reiner‘) oder praktischer Vernunft beantwortet wurde, gründete die nachkantische Philosophie die gesamte menschliche Erkenntnis entweder auf das theoretische oder das praktische Selbstbewusstsein. Immer aber versuchte sie dabei die Philosophie als eine Fundamentaldisziplin zu etablieren, welche die durch den Zusammenbruch der klassischen Metaphysik entstandenen Begründungsdefizite beheben helfen sollte. Am deutlichsten wird dies, wenn man von Hegel absieht, bei Fichte, dessen Wissenschaftslehre als eine „Wissenschaft der Wissenschaft“ die obersten Prinzipien zu formulieren versucht, die für alles menschliche Wissen Geltung haben sollen.11 Insbesondere die Transzendentalphilosophie Kants wird im Zuge dieser Bemühungen von ihren Verfechtern als akademische Expertenkultur institutionalisiert. Damit setzte sich jedoch nur fort, was durch die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie bereits begonnen worden war. Dies hatte nicht nur den raschen Niedergang der Popularphilosophie zur Folge, auf die man zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur mehr noch verächtlich zurückblickte12, sondern es führte auch zu dem Versuch, die Literatur aus dem philosophisch relevanten Kanon auszugliedern. So entwickelt sich aus der durch den Erfolg der kritischen Philosophie verschärften Krise der Metaphysik auch in dieser Hinsicht das Phänomen der Diskursabgrenzung, das die Zeit zwischen 1770 und 1820 wie kaum eine andere charakterisiert. 2) Einem solchen sowohl die Transzendentalphilosophie Kants und die Wissenschaftslehre Fichtes wie das dialektische System Hegels, ja zuletzt auch die Identitätsphilosophie Schellings und die Willensmetaphysik Schopenhauers charakterisierenden Anspruch der professionellen Philosophie stellte sich jedoch jene einem pragmatischen Paradigma verpflichtete Tradition der anderen Vernunft entgegen, die von den literarischen Spätaufklärern begründet wurde. Trotz vieler Gemeinsamkeiten artikuliert sich hier ein gänzlich anderes Philosophieverständnis: Zwar gehen auch die Gründungsväter dieser Tradition nicht nur von der Zentralstellung des Menschen

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wird auftreten wollen“: sie sollen den Boden bereiten für eine spekulative Philosophie, die den Rationalitätsstandards des Kritizismus genügt (vgl. dazu Kap. 2.2.2 dieser Arbeit). Auch beim jungen, in seiner programmatischen Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794) noch ganz unter dem Einfluss Fichtes stehenden Schelling wird dieser Letztbegründungsanspruch deutlich. Dort bestimmt er die Wissenschaft als „ein Ganzes, das unter der Form der Einheit steht“, was jedoch „nur insofern möglich [sei], als alle Theile derselben Einer Bedingung untergeordnet sind“. Entsprechend begibt er sich auf die „Suche nach nur einem Grundsatz nicht nur der Philosophie, sondern aller Wissenschaften, der in Bezug auf die Wissenschaft unbedingt ist und der sowohl Bedingung ihres Inhalts als ihrer Form seyn“ müsse (vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 50 f). Das bekannte Diktum Hegels von der Aufklärung als bloßer „Ausklärung“ oder gar als „Aufkläricht“ ist vor allem auf die Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts gemünzt (vgl. Hegel, 1970, S. 267).

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

29

und dem Primat des Praktischen vor dem Theoretischen, sondern auch von dem Gegensatz zwischen der Unendlichkeit des metaphysischen Bedürfnisses und der Endlichkeit des metaphysischen Vermögens des Menschen aus.13 Doch, anders als alle Letztbegründungstheorien, ziehen sie hieraus den Schluss, dass allein eine radikal skeptische14, ja agnostische Haltung, die sich auf die Probleme der alltäglichen Lebenswelt beschränkt und die unbeantwortbaren metaphysischen Fragen zugunsten des common sense verabschiedet, die angemessene Weiterentwicklung des kritischen Unternehmens darstellt. In ihrem eigenen Selbstverständnis erscheint den Spätaufklärern das pragmatische Paradigma15 als die einzige konsequente Radikalisierungsform der kritischen Philosophie: nur eine pragmatische Wende16, so ihre Überzeugung, vollendet die kopernikanische. Ohne bereits an dieser Stelle das pragmatische Paradigma genauer darstellen zu können, lässt sich doch so viel sagen, dass in ihm der Mensch nicht mehr allein als Vernunft-, sondern in erster Linie als Naturwesen begriffen wurde. Hierbei wird das Verhältnis zwischen Rationalität und Affektivität umgekehrt und eine Theorie des universellen Funktionalismus formuliert, wonach nicht mehr die Frage nach der internen Struktur der Vernunft, sondern nach deren Funktion im umgreifenden Kontext des Naturgegebenen im Mittelpunkt des Interesses steht. Diese Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität präsentiert sich dabei in ihrer Orientierung am ‚ganzen Menschen‘ als eine holistische Theorie, die über den bloß anthropologischen Befund hinaus zu einer Aufwertung der Praxis führt. Der Paradigmenwechsel hatte entsprechend weitreichende Konsequenzen in den verschiedensten Disziplinen. Anders als den Popularphilosophen erscheint den literarischen Spätaufklärern dabei der Roman als die dem pragmatischen Paradigma allein adäquate Diskursform. Gegen die Versuche einer Fundierung allen menschlichen Wissens durch die systematische Philosophie trat somit eine Gruppe von Aufklärern auf, die ein therapeutisches Philosophieverständnis formulierte und die Hauptaufgabe dieser ‚Wissenschaft‘ in einer praxisbezogenen Eudaimonologie sah. Sie kritisierten an der professionellen Philosophie die Unverständlichkeit ihrer Expertensprache sowie deren Suche nach apriorischen Strukturen als eine „neue Scholastik“. Allen voran ist hier Wieland zu nennen, der die „Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet“ (WW VIII, 24, S. 55 ff) und der entsprechend in seiner Debatte mit 13

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Insofern zeigt sich hier deutlich, dass die kritische Philosophie die unhintergehbare Grundlage der philosophischen Anstrengungen auch der Spätaufklärer darstellt. Zu berücksichtigen ist aber, dass sie zugleich immer wieder auf die empiristische und materialistische Philosophie zurückgreifen. Bezogen auf die Ausführungen Kants in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft ließe sich zur Verteidigung der literarischen Spätaufklärer ihr Skeptizismus auch als ein verantwortlicher Skeptizismus bezeichnen. Inwiefern der Begriff des Paradigmas im Rahmen einer geistesgeschichtlichen Untersuchung gerechtfertigt ist, wird noch zu klären sein (vgl. v.a. Kap. 2.1.1). Der Begriff der „pragmatischen Wende“ taucht auch bei Habermas auf; er wird dort aber in einem anderen Sinne verwendet (vgl. Habermas, 1988, S. 244 ff).

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen Reinhold, seinem Schwiegersohn, der Philosophie ihren Herrschaftsanspruch bestreitet. Aber auch Wezel stimmt in diesen kritischen Tenor ein, wenn er schreibt: Wir haben Lehrbücher der Philosophie, aber keine Philosophie; viel Lehrer der Philosophie, aber wenig Philosophen: Jedermann hört Philosophie, und keiner liebt sie: der Gelehrte verachtet sie, weil ihm sein Lehrer Wortkrämerey dafür verkaufte, und der Ungelehrte haßt sie, weil ihr der Theolog Schuld giebt, daß sie nichts glaubt, was er lehrt. So leicht ist es doch, seinen guten Namen zu verlieren! bey den Alten war die Philosophie eine angebetete Göttin, von welcher sich die Sterblichen Licht, Einsicht, Glückseligkeit, Mäßigung in der Freude, Trost im Unglück und Linderung im Schmerze versprachen: izt wird sie wie eine alte Quacksalberin verachtet, die mit Arcanis handelt und nur solche Abnehmer findet, die ihre elenden Geheimnisse noch nicht kennen: Andere sehen sie als eine Müßiggängerin an, die barbarische Wörter und unbrauchbare Hypothesen brütet. Woher kommt dieser außerordentliche Sturz? Liegt die Schuld an uns oder an der Philosophie? – Vermuthlich an beiden: die Philosophie ist nicht mehr, was sie seyn soll, und wir verach17 ten etwas, das wir unter einem andern Namen hochschätzen. (Wezel, Epistel, S. 168)

Zwar sollte die Geschichte dieser Einschätzung Unrecht geben, indem sie Autoren wie Wieland, Wezel und Klinger dem Vergessen überantwortete; das zeitgenössische Publikum hingegen schien es eher mit einer derartigen Beurteilung zu halten. Denn die Literatur bekam in der mit dem Aufstieg des Bürgertums entstehenden literarischen Öffentlichkeit, die den vernünftigen Dialog zum Ideal erhob, eine gänzlich neue Funktion18: Da die christliche Religion ihren Einfluss auf den aufgeklärten Menschen mehr und mehr verlor und da die aus der Magdschaft der Theologie entlassene Philosophie zugleich akademisch wurde, musste sie nunmehr deren bisherige Aufgaben, so weit als möglich, übernehmen. Es erwuchs ihr ein Publikum, das sich über Produkte der sogenannten ‚schönen Literatur‘ um eine existentielle Selbstverständigung bemühte, die es weder in philosophischen Texten noch in der religiösen Erbauungsliteratur zu realisieren wusste. Die vielgescholtene ‚bürgerliche Innerlichkeit‘, die sich als Privatsphäre dem Bereich des Öffentlichen gegenüber etablierte und zu deren Schutz später die Theorie des Liberalismus formuliert wurde19, suchte hier nach Antworten auf jene Fragen, die bisher die Domäne der Philosophie gewesen waren. Entsprechend lässt sich um 1800 das Aufkommen von hochreflexiven Prosatexten beobachten, die zwar in die Rubrik der ‚schönen Literatur‘ 17

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Vgl. hierzu den von Böttiger überlieferten Ausspruch Wielands: „Wir haben eigentlich gar keine Philosophie mehr. Nur die Griechen hatten das Wort und die Sache dazu.“ (zit. nach Erhart, 1991, S. 375) sowie die abfällige Charakterisierung der akademischen Philosophie durch Klinger (Klinger, Werke, 11, S. 170 ff). Das für die Spätaufklärer so wichtige Urbanitätsideal mit seinen Prinzipien der Publizität und Toleranz soll, wenn es schon nicht in der politischen Wirklichkeit zu haben ist, zumindest in der literarischen Welt zu einer idealen Kommunikationsgemeinschaft führen. So schreibt Wezel: „[A]llein die Schriftstellerwelt ist eine große weitläufige Konversation, wo jeder reden kann, der reden will, wenn er nur wenigstens nichts Albernes sagt: und dafür kann ich allenfalls stehen.“ (Wezel, Versuch, S. 457); vgl. hierzu auch Habermas , 1996, S. 118 f) Vgl. Mill, 1988, aber auch: Feyerabend, 1989, S. 54 ff sowie Rorty, 1988, S. 87 ff u. 1989, S. 84 ff.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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fallen, die aber zugleich Probleme verhandeln, die wir als genuin philosophische anzusprechen gewohnt sind. Freilich waren dies in den Augen der professionellen Philosophen bloß Probleme einer „Philosophie für die Welt“ bzw. der zunehmend abgewerteten Popularphilosophie, nicht jedoch der strengen Schulphilosophie. Jedenfalls aber erfuhr die Literatur, indem sie solche Ansprüche übernahm, einen radikalen Funktionswandel. 3) Diese Ansprüche aber stehen scheinbar in einem strikten Gegensatz zu den Bestrebungen der Romantiker, die mit ihrer Romanpraxis so wohl wie mit ihrer Kunstphilosophie ein wesentlich anspruchsvolleres, nämlich spekulatives Unternehmen begründen wollten und die mit der Auffassung der Kunst als einer Ersatzmetaphysik denkbar weit entfernt scheinen von der pragmatischen Haltung der Spätaufklärer. Doch dieser Schein trügt. Denn man darf bei allen Differenzen zwischen Spätaufklärern und Romantikern nicht verkennen, dass auch die literarische Romantik aus den Resultaten der kritischen Philosophie Kants die Konsequenz zog, dass die klassische Metaphysik ein gescheitertes Unternehmen sei, dessen Problembestände auf dem Wege der Reflexion nimmermehr aufzulösen seien. Da aber das metaphysische Bedürfnis des Menschen weiterhin seine Ansprüche erhebt, kann es nach Auffassung der Romantiker nur auf einem ganz anderen Feld befriedigt werden. Dieses Feld ist für sie das Gebiet der Kunst, vor allem der Literatur. Auf diesem Terrain allein kann der Zugang zu dem gefunden werden, was in der Philosophie jener Zeit als das ‚Absolute‘ bezeichnet wird. Dadurch wird, wie Schelling es im System des transcendentalen Idealismus formuliert, die Kunst zum „einzige[n] wahre[n] und ewige[n] Organon zugleich und Document der Philosophie“ (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 627) bzw. die Philosophie der Kunst zum „Schlußstein ihres Gewölbes“ (ebd., S. 349): Die Kunst ist eben deßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß.“ (ebd., S. 628)

Eine solche Orientierung an der metaphysischen Idee des Absoluten und der korrespondierenden Bestimmung der Kunst als Ersatzmetaphysik liegt nun zwar weit ab von der anti-metaphysischen Haltung der Spätaufklärer; doch ist zugleich offensichtlich, dass sie beide zum einen von derselben Ausgangsbasis – der kritischen Philosophie Kants – ihren Weg nehmen und sich zum andern dennoch in Opposition zu ebenjener professionellen Philosophie begeben, die eine letztbegründende Theorie zu formulieren versucht. Hierbei greifen die Frühromantiker auf das Kantische Konzept der ästhetischen Idee zurück, wonach zwischen den regulativen Vernunftideen und den ästhetischen Ideen der Einbildungskraft ein Analogieverhältnis genau in dem Sinne besteht, dass der empirischen Nicht-Ausfüllbarkeit (Indemonstrabilität) der Vernunftidee die hermeneutische Nicht-Ausdeutbarkeit (Inexponibilität) der äs-

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

thetischen Idee entspricht.20 Diese Konzeption wenden die Frühromantiker auf das Problem des Zugangs zum Absoluten an, indem sie dafürhalten, dass nur in dem unendlicher Deutungen fähigen Kunstwerk das stets zwar vorausgesetzte, aber begrifflich niemals erfassbare Absolute auf angemessene Weise dargestellt werden kann. Mittel einer solchen Darstellung sind für Novalis und Friedrich Schlegel die romantische Ironie sowie das allegorische Sprechen, wie sie die sogenannte „progressive Universalpoesie“ oder auch „Transzendentalpoesie“, v.a. in der Form des Romans, charakterisieren.21 Dabei ist unverkennbar, dass sowohl der Versuch, die Philosophie als Fundamentaldisziplin zu etablieren, als auch die Bemühungen sowohl der Spätaufklärer als auch der Romantiker, auf dem Felde der Kunst, insbesondere der Literatur und hier vor allem des Romans die Diskursgrenzen zu überschreiten, nur unterschiedliche Reaktionen auf das Auseinanderfallen einer Kultur darstellen, deren Einheitlichkeit durch keine überwölbende Metaphysik mehr garantiert werden kann. Freilich handelt es sich hierbei um drei gänzlich verschiedene Reaktionen auf die Krise der Metaphysik, die jedoch darin übereinkommen, dass sie den transzendenten Gebrauch der Vernunft einer radikalen Kritik unterziehen. Dass sie dies aus jeweils unterschiedlichen Gründen tun, ist daneben von nachrangiger Bedeutung. Während jedoch die Versuche der professionellen Philosophie, eine Letztbegründung der menschlichen Erkenntnis zu geben, zwar ebenfalls dem Kulturzerfall begegnen soll, letztlich aber eine weitere Diskursabgrenzung zum Ergebnis hat, ist den literarischen Spätaufklärern und Frühromantikern das Ideal einer Vermittlung der Diskurse auf dem Felde des Romans gemeinsam. Wie schon die Neuauflage des „alten Streites“ lässt sich somit auch der Beginn der allmählichen Annäherung der verschiedenen Diskursformen im ausgehenden 18. Jahrhundert verorten – in jener Achsenzeit, die man deshalb als Gründungszeit einer Tradition der anderen Vernunft ansprechen kann. Es ist allerdings ein Beginn, der in Vergessenheit geraten ist und überlagert wird von den gleichzeitigen Phänomenen der Professionalisierung der Philosophie einerseits und des beschleunigten Fortschritts der empirischen Wissenschaften und der Herausbildung ihres disziplinären Kanons andererseits. So bleibt das Erbe der anderen Vernunft zunächst ein verkanntes. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Ort dieses Annäherungsprozesses, der Roman, ebenfalls lange Zeit im Schatten gelegen hat und, im Hinblick auf seine Erkenntnisleistung, der Aufhellung noch immer harrt.

20 21

Vgl. Kant, KU, B 240 ff. Der Begriff der „progressiven Universalpoesie“ wird von Friedrich Schlegel in dem berühmten 116. Athenäumsfragment eingeführt und erläutert (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, 2, S. 182 f), während das gerade auch für das ästhetische Denken von Novalis bedeutende Konzept der „Transzendentalpoesie“ „nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache“ erstmals im 238. Athenäumsfragment formuliert wird (vgl. ebd., S. 204). Auf Schlegels Konzept werden wir ausführlich in Kap. 2.2.3 eingehen.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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Dass die Begründung der Tradition der anderen Vernunft aber in eine historische Krisensituation fällt und der philosophische Roman sich in einer „romanreichen, wiewohl sehr unromantischen Zeit“ (Wieland, Werke, XII, 38, S. 280) zu etablieren hat, macht die Diskursform des Romans nur umso zweideutiger: Angelegt auf eine Vermischung der Diskurse stellen sich sowohl der philosophische Roman der Spätaufklärung als auch der Roman der Transzendentalpoesie als diskursiv offene Systeme gegen die (scheinbar) geschlossenen, auf Diskursabgrenzung angelegten Systeme von Philosophie und Einzelwissenschaften. Gleichzeitig aber ist das Grundcharakteristikum schon des philosophischen Romans der Spätaufklärung seine Autoreflexivität. Nun ist zwar diese Autoreflexivität ohne die Offenheit der Romanform gegenüber externen Einflüssen überhaupt nicht möglich, zugleich jedoch trägt der philosophische Roman durch die Implementierung der autoreflexiven Struktur in die Romanform entscheidend nicht nur zur Entwicklung des Konzepts der Transzendentalpoesie und zur Formulierung der Autonomieästhetik, sondern überhaupt zur Herausbildung des Romans als eigenständiger Gattung bei. Durch diesen antagonistischen Prozess innerhalb des Romans selbst, der ihn gleichzeitig als ein offenes und autonomes System erscheinen lässt, erhält auch der Roman selbst einen ambivalenten Charakter, insofern er zwei gegenläufige Prozesse in Gang setzt: Einerseits ist er als offene Form auf Diskursvermischung angelegt, andererseits leistet er durch seine Autoreflexivität einen bedeutenden Beitrag zur Gattungsbildung. Wie immer man diesen Widerspruch auflösen will, klar ist jedenfalls, dass die Begründung der Tradition der anderen Vernunft der Auswanderung einer ganzen Denkform aus der strengen Philosophie in den Bereich der Literatur, genauer: des Romans gleichkommt. Die neue Denkform selbst erhebt zwar nicht den Anspruch, die Anforderungen der ‚eigentlichen‘ Philosophie zu erfüllen – ihr ist daher allemal das Verdikt des ‚schlampigen Denkens‘ gewiss. Gleichwohl erfasst die weitere Entwicklung dieser Tradition später auch die ‚eigentliche‘ Philosophie, ja mit Heidegger und der auf ihn sich berufenden post-analytischen Philosophie wird sie zuletzt gar akademisch: Das ‚schlampige Denken‘ bekommt am Ende seine systematische Theorie, die von ihrem Erbe jedoch kaum noch etwas weiß.22 Dabei geht es jedoch nicht an, ein solch implikationsreiches Problem wie das bei dieser Traditionsbegründung virulente der Diskurswahl mit Hilfe von simplen soziologischen oder wirkungsästhetischen Theorien lösen zu wollen. Lässt man nämlich die gängigen Erklärungsansätze für dieses Phänomen Revue passieren, so stellt sich schnell ein kritisches Unbehagen ein, das sich aus dem Gefühl speist, dass diese Erklärungsversuche weit unter dem Reflexionsniveau bleiben, welches die zugrunde liegenden Texte selbst mühevoll erreichen. Das soll nicht heißen, dass diese Erklärungen falsch sind, wohl aber, dass sie bloß notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für die Wahl eines Diskurses markieren, der die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur be22

Zur Fortsetzung der Tradition der anderen Vernunft innerhalb der professionellen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Kap. 3.1.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

wusst verwischt. Die Gründe für die Wahl der Diskursform des Romans reichen vielmehr wesentlich tiefer als der wirkungsästhetische Ansatz meint, wenn er die philosophische Aufladung poetischer Texte des späten 18. Jahrhunderts aus jenem fast schon sprichwörtlich gewordenen ‚aufklärerischen Interesse‘ herleitet, das diverse Schriftsteller zu der vermeintlich populäreren Form der Dichtung greifen ließ, um ihre philosophischen, eben ‚aufklärerischen‘ Anschauungen in eine breite ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘ zu tragen.23 Nun lässt sich zwar bei vielen Autoren eine derartige Wirkungsabsicht, nach der sie auf ihre Zeitgenossen erzieherisch einzuwirken versuchen, gewiss nicht leugnen; und gewichtige Unterstützung erhält solch ein Modell von der Tatsache, dass mit Wolff, spätestens aber mit Kant sich die Philosophie als eine Expertenkultur etabliert und die vermeintlich ‚unsaubere‘, der Selbstverständigung des gebildeten Teils des Bürgertums dienende Art des Philosophierens in andere Diskursformen ausweichen muss. Nur stellt sich dann die Frage, warum diese Aufklärer es sich nicht an der Popularphilosophie genügen ließen und sich stattdessen der etwas zwielichtigen Form des poetischen Diskurses bedienten. Darüber hinaus bliebe ungeklärt, warum der solcherart, d.h. aufgrund eines didaktischen Interesses nunmehr philosophisch gewordene Roman ausgerechnet in einer Zeit auftritt, da sich die Hoffnungen der Intellektuellen merklich verdüstert hatten und die Aufklärung historisch zur Spätaufklärung, diese aber zu einer „traurigen Wissenschaft“ (Wezel, B, I, S. 196) geworden war, die nur mehr noch die „Nachtseite der Aufklärung“24 erhellen oder gleich in dem ihr natürlichen Dunkel belassen wollte. Das „pädagogische Jahrhundert“ ging jedenfalls – darüber kann auch die z.T. hitzige Bildungsdebatte nicht hinwegtäuschen – seinem Ende unaufhaltsam entgegen. Nun ließe sich gegen diese Ausführungen mit einigem Recht einwenden, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert die „Romane [zwar] am meisten verachtet, aber auch am meisten gelesen“ (Wezel, HU, S. 9) wurden und somit von größerer Breitenwirksamkeit als die Popularphilosophie waren. Und zur Stützung dieses Einwandes könnte man weiterhin behaupten, dass der Rückzug in den poetischen Diskurs sich gerade mit der Verdüsterung der aufklärerischen Hoffnungen erklären ließe, insofern der poetische Diskurs nur indirekte Wirkungsmöglichkeiten bietet und keine unmittelbare Belehrung anstrebt, sondern sich als rhetorisch höchst vermittelt darstellt: Der Roman wird so zu einer ‚List der Vernunft‘, doch noch zu ihrem Zweck zu kommen. Über derlei kritische Einwände lässt sich trefflich streiten. In diesem Zusammenhang stellt sich aber die viel grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis zwischen einem werkästhetischen und einem rezeptions- oder wirkungsästhetischen Interpretationsansatz. Nach meinem Dafürhalten geht die in der vorliegenden Untersuchung präferierte werkästhetische Zugangsweise mit ihrem Konzept der Autonomie des literarischen Kunstwerks, indem sie nach den intrinsischen Gründen für die Diskurswahl fragt, auf die eigentliche Tiefenstruktur der untersuchten Texte, während der wirkungsästhetische 23 24

Dies wiederum trägt entscheidend zu jener Herausbildung des ‚literarischen Systems‘ bei, von dem Siegfried J. Schmidt spricht (Schmidt, 1989b). Vgl. Kremers gleichnamiges Werk über Wezel von 1982.

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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Ansatz dem gegenüber nur an der Oberfläche bleibt. Die Frage nach der Diskursrezeption kann demnach erst dann sinnvoll gestellt werden, wenn vorher das Problem der internen Diskurslogik einer Lösung näher gebracht worden ist. Dabei kann man die Berechtigung des rezeptionsästhetischen Ansatzes sehr wohl anerkennen – allerdings mit der Einschränkung, dass er gegenüber einer werkästhetisch orientierten Untersuchung der Diskurslogik nur nachrangig verfolgt werden darf.25 Allein im Rahmen einer solchen Sichtweise, welche die Frage nach der Priorität von wirkungs- und werkästhetischem Ansatz zugunsten des letzteren entscheidet, ist es m.E. erklärbar, dass sich schon zu Beginn des hier untersuchten Zeitabschnitts gegen den aufklärerischen Auftrag der Literatur eine radikale Skepsis regt. Wenn beispielsweise Wezel gegenüber seinen Lesern „die Rolle eines stillen, gleichgültigen Beobachters [einnimmt], der den größten Theil des policirten menschlichen Geschlechts als prädestinirte Thoren, einen geringen Theil als prädestinirte Dummköpfe, und den schwächsten als unglückliche Schlachtopfer des Lasters betrachtet“ (Wezel, TK, I, S. IX) oder das Schicksal des scheinbar so pädagogisch daherkommenden Robinson Wezels „ein blutiger Krieg [besiegelt], worinne man sich mit der Robinsonia illustrata die Köpfe zerschießen will“ (Wezel, RK, S. 260), dann zeigt diese Auffassung der Literatur als ‚Kanonenfutter‘ und ihres Publikums als einer Versammlung von Minderbemittelten die Zweifel an der Möglichkeit einer Aufklärung durch Literatur, und es wird verständlich, warum „die große Reise“ der Gedanken nicht mehr als romantische Wallfahrt gen Jerusalem aufgefasst werden kann: [D]ie große Reise aus der Studierstube in die philosophischen Bücher, aus diesen nach einer sorgfältigen Reinigung in solche Bücher, die ohne scharfes Nachdenken gelesen werden, von da in die Köpfe des lesenden Theils der Nation und aus diesen endlich vermittelst des Umgangs in die Köpfe des nichtlesenden Haufens [...] ist völlig wie die Reise der Israeliten ins gelobte Land: der größte Theil dieser Meinungen und Grundsätze kömmt unterwegs um, und die ja noch anlangen, brauchen eben so viel und noch mehr Zeit als Josua und Kaleb [...]. (Wezel, SE 3, S. 71 f)

Diese Skepsis gegenüber der aufklärerischen Funktion der Literatur macht deutlich, mit welcher Vorsicht man den wirkungsästhetischen Erklärungsansatz betrachten muss, der die Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der sozialen Wirklichkeit rücken will. Mit Sicherheit reagieren auch die hier behandelten Autoren auf konkrete gesellschaftliche Verhältnisse – gerade das Konzept der literarischen Öffentlichkeit als einer „weltbürgerlichen Gesellschaft“, d.h. eines freien Zusammenschlusses unter Gleichen ist als Gegenmodell zur politischen Realität ohne diese genauso wenig erklärbar wie dessen Verabschiedung im Rahmen eines umfassen25

So lässt sich der rezeptionsästhetische Ansatz dem werkästhetischen einordnen, nicht aber umgekehrt; letzterer genießt deshalb Priorität. Dies könnte man auch mit Hilfe von Ricœurs Theorie der dreifachen Mimesis verständlich machen, wonach zwischen Produktions-, Werk- und Wirkungsästhetik kein Gegensatz, sondern ein wechselseitiges Ergänzungsverhältnis besteht, zugleich aber das literarische Werk eine zentrale Stellung einnimmt und seine Analyse vorrangig verfolgt werden muss (vgl. Ricœur, 1988, Bd. 1).

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

den Zweifels an der Wirksamkeit von Literatur überhaupt. Doch mit ebensolcher Sicherheit ist diese Reaktion kein einfaches Abbildverhältnis, das mit einem mehr oder minder expliziten Basis-Überbau-Modell erfasst werden könnte. Vielmehr hat man es hier mit derart komplexen Konstellationen zu tun, dass man besser daran tut, der internen geistesgeschichtlichen Dynamik zu folgen und i.S. eines Konzepts von Literaturals Funktionsgeschichte26 die innere Struktur der beteiligten Diskurse zu untersuchen, als einen eindimensionalen mimetischen oder gar kausalen Bezug zwischen Literatur und Sozietät herzustellen.27 In diesem Sinne ist es die Grundvoraussetzung dieser Arbeit, dass es bereits den Autoren der Spätaufklärung – und mehr noch gilt dies für die literarische Romantik – keineswegs allein darum ging, die Wahrheit angenehm verhüllt in einem schönen Gewande darzubieten, um so ihren ‚aufklärerischen Auftrag‘ doch noch zu erfüllen. Vielmehr hatten Spätaufklärer wie Frühromantiker für die Wahl des poetischen Diskurses, genauer der Romanform Gründe, die man, besieht man sie etwas näher, nicht anders denn als gute Gründe bezeichnen muss. Diese Gründe gehen jedoch über eine allgemeine Reaktion auf den Zusammenbruch der klassischen Metaphysik hinaus und umfassen eine solche Weite des Gedankens, dass es nicht allzu schwer halten wird, ihnen eine systematische Form zu geben, auch wenn man damit in einen Widerspruch zu der anti-systematischen Auffassung der hier behandelten Autoren gerät. Diese anti-systematische Haltung ist keineswegs die einzige Gemeinsamkeit, die sich zwischen den Generationen der Spätaufklärer und der Frühromantiker feststellen lässt, und es kann als eines der Hauptanliegen dieser Arbeit angesehen werden, die – z.T. schon um 180028 – verlorengegangene geistesgeschichtliche Kontinuität zwischen Spätaufklärung und Frühromantik wiederherzustellen. Dabei sollen keineswegs die Differenzen verwischt werden. Dennoch kann man nicht oft genug betonen, dass sich sowohl die Spätaufklärer als auch die Frühromantiker in Opposition zur professionellen Philosophie jener Zeit sehen und, ausgehend von der kritischen Philosophie, die klassische Metaphysik verabschieden. Auf der Grundlage dieser ihnen beiden gemeinsamen Überzeugung fällt die Entscheidung für die Wahl der poetischen Diskursform. Während die Spätaufklärer jedoch auf dem Gebiet der Literatur ihr anti-systematisches, pragmatisches und skeptizistisches Philosophieverständnis konsequent umzusetzen versuchen und hierfür den Roman als die einzige angemessene Diskursform betrachten, wol26 27

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Vgl. hierzu Erhart, 1991, S. 13 ff, der dafür hält, dass das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft kein Abbild-, sondern ein Antwortverhältnis sei. Zu dieser hier sicherlich nicht einmal näherungsweise erschöpfend dargestellten Problematik s. z.B. MacIntyre, 1981, S. 84 ff. Freilich gehört es zu den fundamentalen Einsichten des neuen Paradigmas und damit zur Grundlage dieser Interpretation des spätaufklärerischen Romans, dass alles menschliche Erkennen und Handeln in einem ‚lebensweltlichen‘, damit aber soziohistorischen Kontext steht; doch dies widerstreitet nicht der Ablehnung jener simplifizierenden soziologischen Erklärungsansätze. Jean Paul distanziert sich beispielsweise in seiner Vorschule der Ästhetik von den „poetischen Materialisten“, als die er die Aufklärungsschriftsteller bezeichnet (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 34 f).

1.2 Die Entstehung der Tradition der anderen Vernunft

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len die Romantiker keineswegs alle spekulativen Ansprüche aufgeben. Entsprechend glauben sie, dass das, was die Philosophie nicht mehr zu leisten vermag, die Kunst sehr wohl erreichen kann: einen Zugang zum Absoluten. Für die Romantiker wird so die Kunst zur Ersatzmetaphysik: was das spekulative Denken legitim nicht mehr beanspruchen kann, das soll nun die Kunst erfüllen. Hiervon sind die Spätaufklärer freilich weit entfernt: sie halten die Poesie, speziell den Roman für die angemessene Diskursform einer nicht-metaphysischen, pragmatischen Philosophie und die Wahl dieser Diskursform somit für ein folgerichtiges Ergebnis der Metaphysikkritik, während sie alle weiter gehenden spekulativen Ansprüche an die Kunst ablehnen. Im Zuge der Umsetzung dieser diskurslogischen Konsequenz auf dem Gebiet der Literatur implementieren die Spätaufklärer aber eine autoreflexive Struktur in die Form des Romans. Das ist von größter Wichtigkeit. Indem der philosophische Roman die diskursiven Passagen und die formalen Mittel in Wechselbeziehung setzt, wird die autoreflexive Struktur zu einem Formmerkmal des literarischen Werkes. Unter dem Einfluss der aus der Zeit der Frühaufklärung überkommenen Debatte um Poiesis und Mimesis sowie der Leibnizschen Theorie der möglichen Welten und unter Bezugnahme auf das Konzept des pragmatischen Romans entwickelt sich das Erzählen selbst, entwickelt sich die Erschaffung fiktionaler Welten zu einem durchaus problematischen Vorgang, auf den beständig reflektiert werden muss. Hieraus entsteht zum einen das schon den philosophischen Roman der Spätaufklärung charakterisierende Merkmal der Fiktionsironie, durch die das Erzählte und das Erzählen in eins und gleichursprünglich präsentiert werden. Zum andern wird nunmehr die Frage nach dem mimetischen Gehalt der Kunst von der Nachbildung einzelner Entitäten auf das Ganze des literarischen Werkes verlagert: nicht mehr einzelne in ihrer Motivation transparent zu machende Handlungen oder möglichst ‚natürlich‘ abzuschildernde Gegenstände, sondern die Wirklichkeit als ganze soll durch die – ‚poietisch‘ erschaffene – fiktionale Welt abgebildet werden. Beide Aspekte – das autoreflexive Erzählen und der mimetische Bezug zwischen literarischem Werk und der Welt als ganzer – werden für die Generation der Romantiker von größter Bedeutung und erweisen damit die Pionierrolle des philosophischen Romans der Spätaufklärung. Denn für die Romantiker wie für die Deutschen Idealisten besteht in dieser Autoreflexivität gerade das entscheidende Strukturmerkmal des Absoluten. Dem entsprechend wird das Kunstwerk eben durch seine Autoreflexivität zur angemessenen Darstellung des Absoluten. Gegenüber der überwiegend noch kausaldeterministisch und mechanizistisch verfassten Weltauffassung der Spätaufklärer29 impliziert diese Sichtweise freilich eine andere Ontologie, in der die Natur als Organismus begriffen und die sie darstellende Kunst in Folge dessen ebenfalls organizistisch aufgefasst wird. Dennoch muss festgestellt werden, dass die Romantiker keineswegs jene 29

Dass man allerdings mit einer vorschnellen Charakterisierung der spätaufklärerischen Weltsicht als mechanizistisch vorsichtig sein muss, zeigt sich daran, dass das kausaldeterministische Konzept des pragmatischen Romans im philosophischen Roman der Spätaufklärer radikal parodiert wird. Dieser Thematik werden wir uns ausführlich in Kap. 2.1.5 zuwenden.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

eindeutige „Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung“ vollziehen, die in der Literaturwissenschaft nachgerade zu einem Gemeinplatz geworden ist.30 So zeigt sich, dass durch die Herleitung der Autoreflexivität, als eines Merkmals moderner Erzählkunst, aus dem philosophischen Roman der Spätaufklärung die mangelnde poetologische Konkretheit kompensiert wird, die man den kunstphilosophischen Ausführungen der Romantiker, insbesondere dem Konzept der Transzendentalpoesie vorwerfen kann. Der hohe Abstraktionsgrad der frühromantischen Poetologie nämlich verdeckt sowohl die Gemeinsamkeiten mit als auch die Unterschiede zu den entsprechenden Auffassungen der literarischen Spätaufklärer und macht einen Vergleich, damit aber den Aufweis der geistesgeschichtlichen Kontinuität zwischen Spätaufklärung und Romantik so schwierig. Für die Aufdeckung einer solchen Kontinuität ist aber das Phänomen der Autoreflexivität von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus lassen sich über die Kategorie der Autoreflexivität grundsätzliche systematische Probleme der Philosophie entwickeln, die über die konkrete historische Problemsituation um 1800 hinaus Geltung beanspruchen können. Denn die geistesgeschichtliche Kontinuität der hier in Rede stehenden Achsenzeit manifestiert sich auch darin, dass der Deutsche Idealismus, indem er vom Primat des Praktischen vor dem Theoretischen ausgeht und den Begriff der Selbstbestimmung zum obersten Prinzip auch der theoretischen Philosophie macht, ebenfalls noch unter dem pragmatischen Paradigma steht: Dadurch, dass in den spekulativen Systemen des Deutschen Idealismus die Subjektivität als produktive Tätigkeit bestimmt und durch die Übertragung dieses Subjektcharakters auf die Natur im objektiven Idealismus auch die Natur insgesamt als reine Produktivität aufgefasst wird, formulieren die Deutschen Idealisten gleichsam eine Metaphysik auf pragmatischen Grundlagen. Nimmt man noch hinzu, dass die Kategorie der Autoreflexivität in dieser Ontologie eine prominente Rolle spielt, insofern ohne sie die Bestimmung der Natur als Organismus undenkbar ist, dann zeigt diese Aufnahme von Elementen der spätaufklärerischen, später romantischen Kunstauffassung in die metaphysische Theorie deutlich, wie wichtig eine genauere Untersuchung der philosophischen Grundlagen der Literatur, insbesondere des Romans jener Epoche für ein Verständnis dieser Zusammenhänge ist. Es ließe sich vielleicht am Ende gar der Verdacht äußern, dass die Ontologie des Deutschen Idealismus in mehr oder minder heimlichem Bezug auf die Literatur jener Zeit entwickelt worden ist, indem erst die Auffassung der Kunst als Organismus diese Denker auf die Idee geführt haben könnte, auch das Weltganze organizistisch zu beschreiben – eine Vermutung, die verständlicher werden ließe, warum Philosophen wie Schelling und Schopenhauer Kunst und Philosophie in ein so enges Verwandtschaftsverhältnis gebracht haben.

30

Vgl. u.a. Preisendanz, 1978.

1.3 Autoreflexionen: Ziel, Methode und Grundbegriffe „Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die 1 die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.“

Mit der vorliegenden Untersuchung wird der Anspruch erhoben, ein systematisches Thema der Philosophie anhand einer historischen Problemsituation exemplarisch vorzuführen. Umgekehrt ließe sich sagen, dass es sich um eine geistesgeschichtliche Untersuchung mit systematischem Schwerpunkt handle, die eine Art von Exemplifizierungsmethode verfolgt.2 Das systematische Thema – die Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Literatur – lässt sich dabei unter vier Leitfragen betrachten: 1) Auf Seiten der Literatur soll die Frage in den Mittelpunkt gestellt werden, welche Aussagen über den Grundcharakter des literarischen Kunstwerks getroffen werden können, wenn dieses mit Hilfe solcher – für die neuzeitliche Ästhetik zentralen – Begriffe wie Autoreflexivität, Autonomie, Organismus oder Transzendentalität untersucht wird. Hierbei wird die Literatur jedoch nur in Form des Romans betrachtet. Im Fokus des Interesses steht die Auseinandersetzung mit der These, dass die Autoreflexivität Merkmal aller ‚großen‘ Literatur sei. Somit stellt sich die Frage, welche Formen der Autoreflexivität innerhalb der modernen Romanliteratur identifiziert werden können. Diese Frage führt auf das Problem der Bewusstheit des Erzählens, womit zuletzt auch das Problem der Fiktionalität berührt wird. 2) Auf der Seite der Philosophie hinwieder ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, zu verbindlichen Aussagen über den Grundcharakter einer bestimmten Form von philosophischem Denken zu gelangen – desjenigen nämlich, das in Orientierung am pragmatischen Paradigma entwickelt wird. Diese pragmatische Philosophie wird in zwei verschiedenen Gestalten betrachtet: - in der spezifischen Form einer nicht-spekulativen, dezidiert anti-metaphysischen Philosophie, also einer pragmatischen Philosophie im engeren Sinne, die sich am common sense und der konkreten Lebenswelt orientiert; - in der spezifischen Form einer spekulativen, metaphysisch verfassten Philosophie, also einer pragmatischen Philosophie im weiteren Sinne, die einen hermeneutischen und dialektischen Metaphysikbegriff vertritt und für die die Auffassung der Welt als eines Organismus von zentraler Bedeutung ist. Hierbei müssen sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten dieser beiden Formen pragmatischer Philosophie herausgearbeitet werden. 1 2

Feyerabend, 1991, S. 54. Entsprechend ist die Unterscheidung zwischen systematischem Thema und historischer Problemsituation nur künstlich; vielmehr ist beides in stetem Wechselbezug zu analysieren.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

3) Nach Klärung der beiden erstgenannten Problemfelder soll sich die Untersuchung dem Verhältnis von Literatur und Philosophie widmen, d. h. zu generellen Aussagen über den materialen Antagonismus unserer Kultur fortschreiten. 4) Dies soll zuletzt auch einen Beitrag zur Aufklärung des Verhältnisses von Diskursabgrenzung und Diskursvermischung, also des formalen Antagonismus unserer Kultur leisten. Von besonderem Interesse wird sein, in welcher Weise sich formaler und materialer Antagonismus überlagern und inwiefern hieraus eine grundsätzliche Dialektik entsteht, die unsere Kultur insgesamt prägt. Man sieht bereits an dieser Entfaltung des systematischen Problems, dass die Untersuchung einen hohen Anspruch verfolgt. Es ist allerdings nicht allein der Komplexität dieser Problematik geschuldet, dass in unserer Analyse das Untersuchungsfeld in doppelter Weise eingeschränkt wird: zum einen auf die Achsenzeit zwischen 1770 und 1820, zum andern auf eine bestimmte Diskursform – den Roman. Vielmehr ist es der Ausgangspunkt des gesamten Unternehmens, dass ein systematisches philosophisches Problem nur anhand einer exemplarischen historischen Problemsituation sinnvoll behandelt werden kann.3 Die exemplarische historische Problemsituation, die in der vorliegenden Untersuchung analysiert wird, ist also die Achsenzeit von 1770 bis 1820, die im Hinblick sowohl auf ihre (avancierte) Literatur als auch auf ihre (avancierte) Philosophie untersucht wird: Auf literarischem Feld stehen dabei zwei Gattungen im Mittelpunkt der Betrachtung: 1) der philosophische Roman der Spätaufklärung, wie er vor allem von drei Autoren – nämlich Christoph Martin Wieland, Johann Carl Wezel und Friedrich Maximilian Klinger repräsentiert wird4; 2) die Transzendentalpoesie der Frühromantik, als deren literarische Realisierungen die Romane von Jean Paul, Ludwig Tieck und E.T.A Hoffmann angesehen werden. Auf dem Gebiet der Philosophie werden wiederum zwei historische Ausformungen des pragmatischen Paradigmas genauer betrachtet: 1) die skeptische, dezidiert anti-metaphysische Philosophie der Aufklärung, die teils empiristisch (Locke, Hume), teils materialistisch (LaMettrie, Helvetius, Holbach) 3

4

Dabei lassen sich allerdings weder in den Voraussetzungen noch in den Analysen noch auch in den Ergebnissen Gemeinplätze immer vermeiden. Doch scheint dies auch gar nicht erstrebenswert. Zuweilen ist es unausweichlich, sich auf solchen Gemeinplätzen zu tummeln, um zu einigen Einsichten zu gelangen. Entscheidend ist vielmehr, dass man ein intellektuell brach liegendes Gebiet wieder urbar macht, indem man es auf eine bisher nicht erprobte Weise aufteilt und bearbeitet – oder um es mit Wieland zu sagen, der viele unserer Verhältnisse vorausgesehen hat: „Es giebt wenige gelehrte Gemeinplätze, [...] welche, ungeachtet der große Haufe der Gelehrten sich schon so viele Jahrhunderte darauf herum getummelt hat, so erschöpft, zertreten und ausgenutzt seyn sollten, dass sie durch Einzäunung und Bearbeitung nicht eine neue Gestalt gewinnen, und in fruchtbare Plätze verwandelt werden könnten.“ (Wieland, Werke, V, 14, S.239) Der Begriff des philosophischen Romans ist – interessanterweise im Zusammenhang einer Analyse des Romanzyklus von Klinger – von Morgenstern eingeführt worden, der ihn allerdings als gleichbedeutend mit dem Begriff des Bildungsromans verwendet (vgl. Selbmann (Hrsg.), 1988, S. 19 ff).

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

41

verfasst ist, die aber vor allem in der Gestalt der auf die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie sich gründenden Popularphilosophie sowie in ihrer ästhetischen Ausformung von Relevanz wird; 2) die romantische ‚Ästhetik‘ und Romantheorie (Novalis, Friedrich Schlegel) sowie die Kunstphilosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere wie sie von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Arthur Schopenhauer formuliert wird. Natürlich wird in der vorliegenden Untersuchung nicht der Anspruch erhoben, die gesamte Philosophie der Achsenzeit – ebenso wenig wie die Literatur jener Epoche – darzustellen; vielmehr wird sie nur insoweit in Betracht gezogen, als sie in einem engen Verhältnis zur Literatur der damaligen Zeit steht. Wichtig ist jedoch, dass es sich nicht um eine Arbeit zur ästhetischen Theorie der Zeit um 1800 im engeren Sinne handelt. Abgesehen davon, dass es großen Teils um eine metaphysisch verfasste Kunstphilosophie geht und nicht um eine am sinnlichen Erkenntnisvermögen orientierte Ästhetik im Sinne Baumgartens5, soll hier der Versuch unternommen werden, philosophische und literarische Texte zunächst in ihrem jeweiligen diskursiven Kontext zu analysieren, um sie dann in Beziehung zueinander zu setzen. Anders als in den meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten, in denen häufig nur einzelne Philosopheme für die Textanalyse verwendet werden, anders auch als in philosophischen Arbeiten zur Ästhetik, die sich zumeist auf einem hohen Abstraktionsniveau bewegen, ohne dass ihre Thesen in der konkreten Textanalyse sich bewähren müssen, soll in der gegenwärtigen Untersuchung versucht werden, Philosophie und Literatur in einen tatsächlichen Begründungszusammenhang zu bringen. Die Interdisziplinarität dieses Ansatzes korrespondiert mit der Offenheit der Gattung des Romans im Spannungsfeld der Diskurse. Ein derartiger Forschungsansatz erscheint im Großen und Ganzen als ein Desiderat, das es dringend zu beheben gilt. Dabei soll die vergleichende Untersuchung von Texten der Achsenzeit in genau dem Sinne exemplarisch sein, dass die systematischen Probleme gerade dadurch einer Lösung näher gebracht werden, dass die geistesgeschichtliche Analyse mit transzendentalen Fragestellungen verknüpft wird. Wenn wir nun für die Zeit der Spätaufklärung mit Wieland, Wezel und Klinger drei Autoren des späten 18. Jahrhunderts ausgewählt haben, die unverdient in Vergessenheit geraten sind6, so geschah dies nicht, weil wir ihnen in der Manier Arno Schmidts7 ihr 5

6

Die aufklärerische Ästhetik lässt sich freilich nicht auf eine Theorie der Sinnlichkeit reduzieren. Entsprechend wird sie vor allem in ihrer metaphysischen Bedeutung betrachtet. Demnach steht die Theorie der möglichen Welten und deren Konsequenzen im Mittelpunkt der Untersuchung. Dies gilt letztlich auch für den immerhin der ‚deutschen Klassik‘ beigezählten Wieland, als dessen Hauptwerke noch immer der Oberon und der – als Bildungsroman missverstandene – Agathon gelten. Die Gründe für dieses Vergessen werden, wenn zumeist auch nur implizit, in der vorliegenden Untersuchung entwickelt; sie sind allerdings auch in der Lichtgestalt Goethes zu suchen, vor dessen ‚Morphologie der Pflanze‘ alle Werke der Spätaufklärung zu dürftigen Schattengewächsen geworden sind. Was das Konzept der ‚Goethezeit‘ von der Tradition der anderen Vernunft noch übrig gelassen hatte, das erledigten die Generation der Romantiker und der Deutsche Idealismus – wenn diese auch auf der anderen Seite von ebenjener Tradition stark beeinflusst wurden.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

Daseinsrecht als Klassiker zurückgeben und sie dem Kanon der Weltliteratur einfügen wollten, sondern diese Auswahl der Autoren rührt primär aus einem diskurstheoretischen Interesse her, das nach den ideengeschichtlichen Zusammenhängen eines in der Zeit der Spätaufklärung stattfindenden Paradigmenwechsels sowie nach den internen Begründungsverhältnissen innerhalb einer neu entstehenden Tradition fragt.8 Gleiches gilt auch für die Generation der Romantiker. Erschwerend hinzu kommt hier jedoch der Umstand, dass als Musterbeispiele für die sogenannte Transzendentalpoesie nicht die Lucinde Friedrich Schlegels oder der Ofterdingen von Novalis, sondern insbesondere die Romane von Jean Paul angesehen werden, zu denen sich die Nachtwachen Bonaventuras, der William Lovell Ludwig Tiecks sowie der Kater Murr E.T.A Hoffmanns gesellen. Novalis und Friedrich Schlegel werden hingegen nur als Theoretiker berücksichtigt – und zwar im Kontext mit den metaphysischen Systemen von Schelling und Schopenhauer. Eine solche Textauswahl mag strittig sein, stammt doch das poetologische Konzept der Transzendentalpoesie von Friedrich Schlegel und Novalis. Warum aber nicht deren Romane Lucinde und Heinrich von Ofterdingen, sondern Texte von solchen Autoren der Untersuchung zugrunde gelegt werden, deren Zugehörigkeit zur Romantik bereits umstritten ist, wird sich im Laufe der Untersuchung begründen.9 Primäres Ziel des geistesgeschichtlich orientierten Teils der Untersuchung ist es, die verlorengegangene Kontinuität zwischen Aufklärung, Romantik und Deutschem Idealismus wiederherzustellen und anhand des zentralen Problems des Verhältnisses zwischen Philosophie und Literatur die Zeit zwischen 1770 und 1820 insgesamt zu charakterisieren. Deshalb wird hier nicht nur ein diskurs-, sondern zugleich ein kulturgeschichtlicher Ansatz verfolgt, insofern mit der Behauptung, dass es sich sowohl bei dem formalen als auch bei dem materialen Antagonismus um grundlegende Züge der okzidentalen Geistesgeschichte handelt, notwendig der Anspruch verbunden ist, die gesamte Kultur dieses Zeitabschnitts zu beschreiben. Dies bringt es mit sich, dass ein verhältnismäßig großes Textkorpus zugrundegelegt werden muss, das mit den genannten Romanen nicht bloß scheinbar weit von einander entfernte Erzähltexte zusammenzuführen versucht, sondern zugleich auch mit philosophischen Schriften von Kant, Schelling und Schopenhauer Texte umfasst, die nicht ohne weiteres in eine enge Verbindung zu bringen sind. Nun liegen zwar einerseits viele Untersuchungen zur Autoreflexivität, Autonomieästhetik oder 7

8

9

Ich bin allerdings weit davon entfernt, mich über Arno Schmidts ‚Rettungsversuche‘ lustig zu machen, wie es in der germanistischen Literatur inzwischen zum guten Ton gehört. Die Verdienste Schmidts gerade um die Literatur des 18. Jahrhunderts sind kaum zu überschätzen, wenn seine Interpretationen auch häufig einseitig sind. Dies mag manchmal den Eindruck erwecken, als wollten wir am Gipfelgespräch der großen Geister teilnehmen und als hielten wir das Gewimmel der Zwerge zu unseren Füßen, wie es Schopenhauer und Nietzsche beschreiben, für – Gewimmel. Doch entstünde dieser Eindruck zu Unrecht, denn es geht nicht um eine Wiederbelebung eines obsoleten Konzepts von Geistesgeschichte als einer Geschichte der Geistesheroen, sondern um die strukturelle Untersuchung einer neubegründeten Tradition. Vgl. hierzu den Abschnitt 2.2.

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

43

auch zur Bewusstheit des Erzählens, andererseits eine Fülle literarhistorischer Arbeiten insbesondere zur Transzendentalpoesie vor. Doch ist eine Untersuchung sowohl der systematischen als auch der historischen Begründungszusammenhänge als ein deplorables Forschungsdesiderat zu bezeichnen. Namentlich fehlt es an Arbeiten, die sich um die Herstellung einer Kontinuität zwischen philosophischem Roman und Transzendentalpoesie bemühen und damit das Konzept der Achsenzeit mit Inhalt füllen.10 Angestrebt wird also zunächst zwar nur eine historisch adäquate Interpretation der zugrundelegten Texte, die das kulturelle Wissen der in Rede stehenden Zeit aus einem repräsentativen Textkorpus rekonstruiert.11 Allerdings soll diese Interpretation zugleich einen Beitrag zur Aufklärung des systematischen Problems, also des Verhältnisses zwischen Philosophie und Literatur leisten. Der Ansatz dieser Untersuchung hat damit sicher manches mit der Konstellationsforschung gemein, da auch in ihr eine systematische Problemanordnung in ihrem Argumentations- und Theorieverlauf analysiert wird, „bei der die historische – konkrete – Gestalt [dieser Problemstellung] nur von zweitrangigem Interesse ist, insofern diese Erscheinungsformen kontingent sind“12. Anders aber als in der Konstellationsforschung geht es in dieser Arbeit weniger um eine mikrologische Analyse weniger ausgewählter Texte, sondern um die Skizzierung eines ganzen Syndroms anhand eines umfangreichen Textkorpus, wobei ein an sich bereits bekanntes Material neu beleuchtet und kontextualisiert werden soll. Demnach ist das Ziel die „Rekonstruktion eines Denkraums“ in seiner Dynamik.13 Dabei ist die Text- und Argumentationsanalyse integraler Bestandteil der Untersuchung, denn schließlich hat sich das entworfene geistesgeschichtliche Bild am Textdetail zu bewähren. Entsprechend der systematischen Ausrichtung der Untersuchung wird der in mancher Hinsicht fragwürdige Autorenbegriff der Diskurstheorie zugrundegelegt14, wonach der 10

11 12 13 14

Gemäß der Auffassung der Epoche von 1770 bis 1820 als einer Achsenzeit, in der einerseits viele Entwicklungen zusammenlaufen, andererseits entscheidende Weichen für die Zukunft gestellt werden, ergibt sich die Notwendigkeit sowohl des Rückgriffs auf ältere Texte als auch der Vorausweisung auf spätere Erscheinungen Dadurch erst wird das Konzept der Achsenzeit begründet, insofern dadurch erst die Schlüsselstellung dieses Zeitabschnitts innerhalb der geistesgeschichtlichen Entwicklung aufgezeigt wird. Vgl. dazu auch Titzmanns Konzept einer integrativen Literaturgeschichte in: Titzmann, 1991, S. 400 ff. Vgl. Stamm, Marcello: „Konstellationsforschung – ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven“, in: Mulsow /Stamm (Hrsg.), 2005, S. 33. Ebd., S. 35. Zweifelhaft ist dieser Autorenbegriff nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem hier verhandelten Untersuchungsgegenstand, da man den „Mythos der Autorschaft“ geradezu als einen integralen Bestandteil der Tradition der anderen Vernunft ansehen kann, insofern ein kontextualisiertes Subjektmodell direkt aus dem pragmatischen Paradigma folgt. In diesem Sinne schreibt Turk, 1977, S. 34: „Den Anspruch der philosophischen Rede, durch das Maskieren ihrer Sprecherinstanz unterm Titel Vernunft für alle Zeiten und Leser gültig zu sein, bestreitet die Literatur der Subjektivität mit dem Mythos der Autorschaft. [...] Dem literarischen Sprechen die Sachbezogenheit abzusprechen ist seit deren Beginn ein Geschäft der Philosophie.“

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

Autor nichts ist als „eine Funktion bzw. ein Prinzip des Diskurses“15 oder ein „Agent der Ordnung“16 mit dem Zweck der Klassifikation bzw. Disziplinierung des (verborgenen) Diskurses: Der Autor ist also ein Phantasma, dazu bestimmt, Lücken und Risse im Diskurs zu verdecken, und als Phantasma einer Psychoanalyse und einer Diskursanalyse bedürftig. Die Diskursanalyse kann zeigen, daß seine Nennung einfach die Sprachregelungen einer Kultur befolgt, die die höhere Namentlichkeit auf seiten der niederen Ränge praktiziert.17

Eine solche Redeweise vom ‚Tod des Autors‘ erhält zusätzliche Unterstützung durch den Umstand, dass viele diskurslogische Zusammenhänge den einzelnen Autoren nicht in aller Deutlichkeit bewusst sind und diese entsprechend an einem Prozess partizipieren, der das Subjekt übergreift.18 Entsprechend wird der ‚Autor‘ in der folgenden Untersuchung bloß als „Schnittpunkt differenter Diskurse jenseits aller Selbstdurchsichtigkeitsphantasien“19 betrachtet. Gleichwohl ist es eine der Ausgangsthesen der Untersuchung, dass diese Unbewusstheit bei den Verfassern der philosophischen und transzendentalpoetischen Romane in geringerem Maße zu konstatieren ist, als dies gewöhnlicher Weise der Fall ist. Die Auffassung der Spätaufklärer vom philosophischen Roman als der dem pragmatischen Paradigma allein angemessenen Diskursform, erst recht aber das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie setzt vielmehr eine bewusste Diskurswahl, diese aber eine rational rekonstruierbare Intentionalität der Autoren voraus. Dies muss nicht zwangsläufig in die vieldiskutierte Intentionalitätsproblematik literarischer Werke führen, da mit einer solchen Auffassung nicht die Behauptung verbunden ist, dass sich die in Rede stehenden Autoren ihrer Intentionen voll und ganz bewusst sein müssten bzw. keinerlei unbewusster, „nie aufgehende[r] Rest“ (Schelling, Werke, Bd. 4, S. 251) vorhanden sein dürfte. Dennoch wäre es angesichts des hohen Reflexionsniveaus der behandelten Werke gänzlich kontraintuitiv, bezüglich der Diskurswahl nicht von einer bewussten und rational rekonstruierbaren Intentionalität der Autoren auszugehen. Solch einem verhältnismäßig anspruchsvollen Unternehmen muss natürlich ein hohes methodisches Reflexionsniveau entsprechen. Nun lässt sich aber beobachten, dass angesichts der desolaten methodischen Lage insbesondere in den Textwissenschaften jeder Wissenschaftler seine eigene, ihm jeweils eigentümliche Methode entwickelt. Zwar kann man diese Situation auch positiv als Methodenpluralismus deuten und als einen 15 16 17 18

19

Vgl. Japp, Uwe: „Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses“, in: Fohrmann/Müller (Hrsg.), 1988, S. 228. Ebd., S. 230. Turk, 1977, S. 41. Vgl. Japp, a.a.O., S. 225: „Vielmehr verhält es sich so, dass der Autor mehr oder weniger bekannter Werke auch in Diskurse verwickelt ist, die nicht von ihm selbst verantwortet werden – und deren strukturierende Funktion ihm von Fall zu Fall nicht einmal bewußt ist.“ Vgl. Fohrmann, Jürgen: „Einleitung: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft“, in: Fohrmann/Müller (Hrsg.), 1988, S. 15.

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

45

Gewinn begrüßen, doch hat dergleichen immer den unangenehmen Beigeschmack einer ‚Patchwork-Methodik‘, wenn man zugleich vielleicht auch deren Unvermeidlichkeit einsieht. Ähnliches geschieht auch in der vorliegenden Arbeit – mit dem Unterschied freilich, dass wir diese Methode möglichst transparent zu machen versuchen. Dabei greifen wir maßgeblich auf das Konzept der philosophischen Hermeneutik zurück, wie es vor allem von Ricœur ausgearbeitet worden ist. In unserem Fall ist jedoch das Besondere dieses Ansatzes, dass mit ihm nur eine Fortsetzung des Geschäfts des philosophischen Romans bzw. der Transzendentalpoesie mit anderen Mitteln betrieben wird. Die in der vorliegenden Untersuchung angewandte philosophische Hermeneutik führt nämlich nur das fort, was der autoreflexive philosophische resp. transzendentalpoetische Roman gegenüber dem sich allmählich als eigenständige Gattung etablierenden ‚normalen‘ Roman leistet. In ihm bemüht man sich darum, die philosophischen Voraussetzungen jedes Romanerzählens aus dem Status ihrer Impliziertheit herauszuheben. Indem er auf die Bedingungen der Möglichkeit allen fiktionalen Erzählens reflektiert und dessen Hintergrundannahmen diskursiv offen legt, artikuliert sich im philosophischen Roman der Spätaufklärung sowie in der Transzendentalpoesie der Romantiker all das, was schon dem ‚normalen‘ Roman zugrunde liegt. Sowohl der philosophische als auch der transzendentalpoetische Roman ist demnach gegenüber dem Roman als Gattung – wie auch gegenüber der professionellen Philosophie – reaktiv und eklektisch. Indem er aber die impliziten Voraussetzungen des Romanerzählens auf autoreflexive Weise bewusst macht, verändert er die Gattung des Romans auf so nachhaltige Weise, dass es nicht zu viel gesagt ist, wenn man die Entstehung des modernen Romans in die Zeit der Spätaufklärung fallen lässt. Denn das charakteristische Kennzeichen des modernen Romans ist die Bewusstheit seiner Erzählverfahren, ist damit zuletzt die autoreflexive Grundstruktur, die der philosophische Roman erstmals in die entstehende Romangattung implementiert. Die Methode der philosophischen Hermeneutik vollzieht nun sowohl nach der Seite des philosophischen Gehaltes als auch in Richtung der formalen Mittel das Geschäft des solcherart als reaktiv bestimmten philosophischen resp. transzendentalpoetischen Romans bloß nach. Allerdings geschieht dieser Nachvollzug in einem anderen Diskurs, demjenigen nämlich der Wissenschaft; er erfolgt damit notgedrungen in systematischer Form, wobei diese Systematik eigentlich zum anti-systematischen Ansatz des pragmatischen Paradigmas im Widerspruch steht. Die philosophische Hermeneutik operiert also auf der Grundlage der These, dass der autoreflexive Roman ein Metaroman ist. Mit anderen Worten: beim philosophischen und transzendentalpoetischen Roman handelt es sich aufgrund seiner Autoreflexivität bereits um einen sich selbst auslegenden, gleichsam ‚hermeneutischen‘ Roman, dessen Interpretation im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses sich nur durch einen höheren Explikationsgrad auszeichnet. Was aber hat diese wissenschaftliche Interpretation des Romans um 1800 näherhin zu leisten? Sie muss a) den philosophischen Aussagegehalt der Romantexte herauslösen und sodann in Bezug zu ihren formalen Mitteln setzen, sodass gewissermaßen eine

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

adaequatio, ein ‚harmonisches‘ Verhältnis von Form und Inhalt hergestellt wird, und b) den Erzählvorgang in stetem Bezug auf das Erzählte analysieren und die dabei gewonnenen Merkmalsbestimmungen in den Kontext der zeitgenössischen Philosophie integrieren, um dadurch insbesondere die metaphysischen Hintergrundannahmen des Romanerzählens überhaupt ans Licht des Begriffs zu bringen. Es handelt sich also um eine Kombination von hermeneutischem (i.S. eines Herauslösens der (philosophischen) Implikationen) und diskurstheoretischem Verfahren (i.S. einer Integration in den geistesgeschichtlichen Kontext). Die Untersuchung behandelt folglich die philosophischen Implikationen der gesamten erzählenden Literatur. Diese Implikationen müssen innerhalb des Romans nicht notwendig diskursiv verhandelt werden. Dies geschieht allein im philosophischen Roman der Spätaufklärung mit seiner autoreflexiven Struktur. Bereits in der romantischen Literatur treten die diskursiven Elemente wieder zurück (ohne freilich ganz zu verschwinden); dafür tritt die autoreflexive Struktur als formales, erzähltechnisches Kennzeichen innerhalb der Transzendentalpoesie deutlicher hervor. Die Interpretation der transzendentalpoetischen Romane verfolgt deswegen das Ziel, ihre philosophischen Implikationen herauszulösen und dadurch ihre Verwandtschaft zum diskursiv artikulierten philosophischen Roman der Spätaufklärung herauszuarbeiten. Es wird sich erweisen, dass nur auf diese Weise ein angemessenes Verständnis der romantischen Literatur gewonnen werden kann. In diesem Zusammenhang lässt sich natürlich die Frage stellen, ob nicht der Versuch, eine explizit anti-systematische Position, wie sie im philosophischen Roman der Spätaufklärung formuliert ist, im Rahmen einer an der philosophischen Hermeneutik orientierten Interpretation zu systematisieren, von vornherein dem Zirkularitätsvorwurf anheimfallen muss, insofern man damit aus dieser Art des Denkens genau das macht, gegen das es sich wendet: eine systematische Theorie. Angewandt auf die frühromantische Transzendentalpoesie ließe sich dies auch so formulieren: Steht der Versuch, den transzendentalpoetischen Roman vor dem Hintergrund der spekulativen Theorien des Deutschen Idealismus zu interpretieren, nicht in geradem Widerspruch zu der Auffassung der romantischen Kunstphilosophie, dass sich eine metaphysische Theorie auf begrifflichem Wege nicht mehr formulieren lässt und gerade deshalb die Kunst zur Ersatzmetaphysik erhoben wird? Dieser Zirkel ist strukturell derselbe wie derjenige, den Kritiker wie Putnam oder Williams dem Relativismus vorhalten.20 Mit Feyerabend wäre diesem Vorwurf mit dem Hinweis zu begegnen, dass hier keineswegs eine Theorie formuliert werden soll, die die skeptischen und relativistischen Positionen axiomatisiert, sondern nur eine bestimmte Grundhaltung, die sich in kritischer Auseinandersetzung mit der systematischen Theorie etabliert, mit Hilfe von Faustregeln charakterisiert werden soll.21 Deshalb ist es ein Fehlschluss anzunehmen, ein anti-systematischer Diskurs ließe sich überhaupt nicht vertreten. Eine solche Behauptung beruht auf der Verwechs20 21

Vgl. Putnam, 1982, S. 165. Vgl. Feyerabend, 1989, S. 120.

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

47

lung von axiomatischer Struktur und Begründungszusammenhang: keine systematische Axiomatik zu haben ist nicht gleichbedeutend damit, keine Begründungsverhältnisse vorweisen zu können. Diese letzteren lassen sich aber innerhalb der Tradition der anderen Vernunft sehr wohl identifizieren. Und wenn dies auch keine systematische Theorie ergibt, so wird damit doch begreiflich, wie es möglich war, dass am Anfang der in Rede stehenden Tradition der philosophische Roman steht und kein philosophisch argumentierender Text. Daher folgt die Untersuchung der Auffassung, dass nur durch die Methode der philosophischen Hermeneutik und interdisziplinär verfassten Diskursanalyse Interpretationsmuster entwickelt werden können, die Relevanz nicht allein für spätere Entwicklungen sowohl der Literatur- als auch der Philosophiegeschichte, sondern auch für die Legitimationskrise der heutigen Kultur besitzen: Die Erinnerung an die verschüttete Tradition der anderen Vernunft kann darum zur Selbstverständigung über die Grundlagen unserer Kultur einen – wenn auch nur schmalen – Beitrag leisten. Desweiteren entspricht dem Charakter der Autoreflexivität der hier behandelten Romane der Ansatz der Werkästhetik. Dieser geht zwar von einer gehaltästhetischen Analyse des Romans um 1800 aus, führt aber zwangsläufig auf Probleme der Formästhetik, die wiederum in einen permanenten Bezug zu jenen gehaltästhetischen Resultaten gebracht werden müssen. Eine solche dialektische Beziehung zwischen Gehalt- und Formästhetik, die somit gleichsam eine dynamische Werkästhetik konstituiert, ist nicht mit einer werkimmanenten Analyse zu verwechseln, insofern sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetische Aspekte einbezogen werden. Wie in Ricœurs Theorie der dreifachen Mimesis steht jedoch der Bereich der poetischen Konfiguration bzw. der narrativen Gestaltung im Zentrum der Interpretation. Ricœur drückt dies so aus, dass die mimesis II als „die Welt der dichterischen Komposition“ nicht nur „den literarischen Charakter des literarischen Kunstwerks“ begründet, sondern zugleich auch den „Angelpunkt der Analyse“ darstellt: Aufgabe der Hermeneutik ist es [..], die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein 22 Handeln verändert.

Demnach dürfen die Bereiche der Mimesis I und III in der Textinterpretation nicht vernachlässigt werden. Zunächst nämlich ist hierfür ein „Vorverständnis der Welt des Handelns“, also der Mimesis I erforderlich.23 Sodann muss in der Interpretation die 22 23

Ricoeur, 1988 ff, Bd. 1, S. 88; vgl. dazu auch Mattern, 1996, S. 126 ff. Dieses praktische Vorverständnis setzt laut Ricœur zunächst die „Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen“, voraus, also die „Kompetenz, auf sinnvolle Art und Weise das Begriffsnetz zu verwenden, das strukturell den Bereich der Handlung von dem der physikalischen Bewegung unterscheidet“, sodass Ziele, Motive, handelnde Subjekte oder Interaktionen identifiziert werden können. Sodann muss es einen Begriff von der Beziehung zwischen narrativem und praktischem Verstehen besitzen und schließlich die narrative Komposition in den symbolischen Ressourcen des Praktischen, insbesondere im Symbolnetz der Kultur zu verankern

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

Mimesis III als „Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers“ berücksichtigt werden – ist doch der Text immer ein „Komplex von Anweisungen, die vom einzelnen Leser oder dem Publikum passiv oder schöpferisch ausgeführt werden“ und der Akt des Lesens entsprechend „der letzte Träger der Refiguration, der Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel“.24 Dennoch besitzt das Werk stets das Primat: In ihm gestaltet sich eine „intelligible Totalität“ bzw. eine „dissonante Konsonanz“25, die immer narrativ und damit zeitlich verfasst ist.26 Eine solche Vermittlung der drei Welten der Mimesis ist gerade für die Deutung der philosophischen und transzendentalpoetischen Romane unerlässlich, belehrt doch bereits ein kurzer Blick auf diese Texte darüber, dass in ihnen sowohl auf den Bereich der Mimesis I – etwa im Kontext der Mimesis-Poiesis-Problematik oder in der Auseinandersetzung mit handlungstheoretischen Fragestellungen – als auch auf die Mimesis III – vor allem durch Verwendung von Erzähler-Leser-Dialogen – intensiv reflektiert wird. Eine Vernachlässigung des Sachverhalts, dass in den Texten selbst eine solche explizite Reflexion stattfindet, würde nur zu Fehldeutungen führen. Obgleich gemäß dem diskursanalytischen Ansatz der Untersuchung, wonach das Werk als ein interdiskursiver Schnittpunkt aufgefasst wird, die literarischen Werke als ganze nicht Gegenstand der Textanalysen sind, ist also der methodische Untersuchungsansatz insofern werk- und nicht rezeptions- oder produktionsästhetisch, als die zu analysierenden Texte als autonome Kunstwerke aufgefasst werden. M. E. wird nur ein solcher werkästhetischer Ansatz, der zugleich einen Beitrag zur Gattungsästhetik leisten soll, der autoreflexiven Grundstruktur sowohl des philosophischen Romans als auch der Transzendentalpoesie gerecht. Das schließt andere Interpretationsmodelle freilich nicht aus. Insofern Diskursanalyse immer zugleich Kontextanalyse ist und sich um die Integration der untersuchten Werke in das philosophische und wissenschaftliche Umfeld bemüht, ist diese Untersuchung von vornherein auf Interdisziplinarität angelegt.

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vermögen, wobei deutlich wird, dass „in der Handlung Zeitstrukturen [enthalten sind], die zum Ezählen herausfordern“, nämlich die zeitliche Struktur des In-der-Welt-Seins (vgl. Ricœur, 1988 ff, Bd. 1, S. 90 ff). Ricœur, 1988 ff, Bd. 1, S. 113 ff. Vor diesem Hintergrund ist auch Ricœurs These zu sehen, „daß die Welt der Zeichen verstehen ein Mittel ist, um sich zu verstehen“; entsprechend bestimmt er die „konkrete Reflexion“ als „Vermittlung des Cogito mit der gesamten Welt der Zeichen“ (Ricœur, 1973, S. 170 f). Schon für Gadamer beruht jede Interpretation auf einem „Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet“, wonach „nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt“; daraus leitet er das sogenannte hermeneutische Billigkeitsprinzip ab, wonach das Ziel jeder Interpretation in der Herstellung eines Maximums von Verständlichkeit und Sinn bestehe (vgl. Gadamer, 1986, S. 278 f). Vgl. Ricœur, 1988 ff, Bd. 1, S. 104 ff. Laut Ricœur wird hierbei ein Zirkel zwischen den drei Welten der Mimesis aufgrund der „pränarrativen Struktur der Erfahrung“ vermieden (vgl. ebd., S. 116 ff).

1.3 Autoreflexionen – Ziel, Methode und Grundbegriffe

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Dadurch aber wird der werkästhetische Ansatz wiederum in Richtung einer geistesgeschichtlichen Analyse der Begründungszusammenhänge überschritten. Abgesehen davon wird der Werkbegriff jedoch parallel zum diskurstheoretischen Autorenbegriff behandelt: Er fällt in der vorliegenden Arbeit dem Konzept der Subjektdezentrierung insofern zum Opfer, als hier der Text vornehmlich als eine „zusammengesetzte und künstlich zum Abschluss gebrachte disperse Einheit“27 fungiert, mithin als ein „Knoten in einem Netz“28, der aus Elementen verschiedener Diskurse zusammengewunden ist. Dies bietet natürlich für eine interdisziplinäre Studie, die den „alten Streit“ zwischen Philosophie und Literatur anhand des philosophischen bzw. transzendentalpoetischen Romans betrachtet, den Vorteil, dass die „Pluralität eines Textes [...], der stets aus Aussagen verschiedener Diskurse besteht“, bereits nach einer solchen Interdisziplinarität verlangt.29. Angesichts der Tatsache, dass es sich sowohl beim philosophischen als auch beim transzendentalpoetischen Roman um offene Gattungen par excellance handelt, ist diese interdisziplinäre Herangehensweise also mehr als gerechtfertigt.30 Die Kehrseite eines solchen Werkbegriffs ist allerdings, dass dadurch viele Aspekte der behandelten Texte vernachlässigt werden müssen und ihre Analyse nicht einmal näherungsweise erschöpfend sein kann. Ein derartiger a priori auf Interdiskursivität angelegter Autor- und Werkbegriff kommt jedoch dem gewählten Ansatz insofern entgegen, als er die Ausblendung der diskurslogisch nicht wesentlichen Aspekte der untersuchten Werke ermöglicht. Die Gliederung dieser Arbeit in ihrem ersten Teil ergibt sich aus der „vierfachen Wurzel“ der Tradition der anderen Vernunft. Entsprechend wird der philosophische Roman im textanalytischen Teil 2.1 nach einer Einleitung (Kap. 2.1.1), die das pragmatische Paradigma in seinen allgemeinen Zügen darstellt, unter den Aspekten Erkenntnistheorie (Kap. 2.1.2), Handlungstheorie und Moralphilosophie (Kap. 2.1.3), Staats- und Geschichtsphilosophie sowie Utopismus (Kap. 2.1.4) betrachtet, um in einer Darstellung der Theorie der Nachahmung der möglichen Welten seine ästhetische Grundlegung zu erhalten (Kap. 2.1.5). In dem zusammenfassenden Kap. 2.1.6 finden diese Ausführungen hinsichtlich der Gattung des philosophischen Romans und seiner Pionierrolle für die romantische Transzendentalpoesie ihren (vorläufigen) Abschluss. Darauf aufbauend wird im Abschnitt 2.2 die romantische Transzendentalpoesie sowie die Kunstphilosophie des Deutschen Idealismus einer näheren Betrachtung unterworfen: Nach einem einleitenden, die Kontinuität zwischen Spätaufklärung und Frühromantik thematisierenden Kapitel (2.2.1) werden zunächst die Versuche der Restituierung der Metaphysik im Deutschen Idealismus untersucht, wobei insbesondere der neue Metaphysikbegriff sowie die (real-)dialektische Struktur der spekulativen The27 28 29 30

Fohrmann, a.a.O., in: Fohrmann/Müller Hrsg., 1988, S. 16. Vgl. Foucault, 1997, S. 36. Ebd. Das bereits oben kurz behandelte Intentionalitätsproblem stellt sich bei einem solchen Werkbegriff gar nicht erst.

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1. Theoretische und methodische Vorüberlegungen

orien Schellings und Schopenhauers von Interesse sind (Kap. 2.2.2). Daran anschließend wird die romantische Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik in ihrem Ausgang von der kritischen Philosophie Kants betrachtet (Kap. 2.2.3). Nach diesen allgemeinen Ausführungen widmet sich die Untersuchung den transzendentalpoetischen Romanen – und zwar zunächst unter ‚formästhetischen‘ Aspekten, d.h. unter den Gesichtspunkten der Autoreflexivität bzw. der Bewusstheit des Erzählens (Kap. 2.2.4), sodann unter ‚gehaltsästhetischen‘ Aspekten, d.h. im Hinblick auf die in den Romanen der Transzendentalpoesie zum Ausdruck kommenden Subjektivitätskonzepte (Kap. 2.2.5). In dem abschließenden Kap. 2.2.6 wird das Verhältnis von Kunst und Philosophie in der Sichtweise der Romantiker und der Deutschen Idealisten zusammenfassend dargestellt und der Bogen zurück zum philosophischen Roman der Spätaufklärung geschlagen. Im 3. Abschnitt soll schließlich das systematische Thema des Verhältnisses von Philosophie und Literatur vor dem Hintergrund der erzielten Ergebnisse von neuem aufgegriffen werden. Nachdem im Kap. 3.1 die Philosophie der Achsenzeit in ihren beiden Gestalten als pragmatische und metaphysische unter dem die gesamte Untersuchung leitenden Orientierungssystem des pragmatischen Paradigmas synoptisch betrachtet worden ist, wird in Kap. 3.2 die Literatur der Achsenzeit insbesondere unter gattungsästhetischen Fragestellungen zusammenfassend charakterisiert. In beiden Kapiteln soll zugleich – freilich nur in Form eines Ausblicks – eine geistesgeschichtliche Verlängerung der Tradition der anderen Vernunft erfolgen, wobei der Traditionsbegriff in Absetzung zu alternativen Konzepten thematisiert wird. Nach diesem Rückblick auf Philosophie und Literatur der Achsenzeit soll schließlich im Kap. 3.3 untersucht werden, inwiefern die in der exemplarischen Problemsituation zwischen 1770 und 1820 ausgetragenen Auseinandersetzungen das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Literatur erhellen und inwieweit sie eine Gegenwartsrelevanz beanspruchen können. Die Gliederung der Arbeit in drei Teile soll einen Durchgang durch das Thema in mehreren, sich allmählich erweiternden Kreisen ergeben. Ob dies bloß ein sinnloses Insich-selbst-Kreisen darstellt oder ob es in wachsenden Ringen erfolgt, kann gültig erst am Ende der Untersuchung entschieden werden.

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman der Spätaufklärung 2.1.1 Das Grundkonzept der Natur und das pragmatische Paradigma Die Welt ist nicht da, um von uns erkannt zu werden, sondern uns in ihr zu bilden.

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Wenn man sich den Gründen für die Wahl des Romans als der einer Tradition der anderen Vernunft angemessenen Diskursform zuwendet, kommt man nicht umhin, sich eines Begriffs zu bedienen, der aufgrund seines inflationären Gebrauchs beinahe jeglichen Erklärungswert verloren hat – des Begriffs des Paradigmenwechsels.2 Ohne ihn scheint es nicht zu verstehen, mit welchem Recht die sogenannte ‚schöne Literatur‘, die vor dem Gerichtshof der Vernunft Jahrhunderte hindurch das klägliche Dasein eines Winkeladvokaten geführt hatte, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ernsthaft glaubte in Konkurrenz mit dem philosophischen Diskurs treten zu dürfen. Dies zumal, weil die Philosophie im Zuge ihrer Professionalisierung zu derselben Zeit einen Systematisierungsanspruch formulierte, der in Kants transzendentalem Idealismus – als der philosophischen Metatheorie zu der als vorbildlich angesehenen Newtonschen Physik3 – seinen

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Lichtenberg, 1994, Bd. 1, S. 779 (J 898). So schreibt bereits Luhmann, dass der Begriff des Paradigmas „ins kaum noch Bestimmbare verschwommen“ sei, bestimmt ihn aber dennoch als „eine theoretische Grundlegung von mehr oder weniger disziplinbeherrschender Bedeutung“ (Luhmann, 1987, S. 307). Wir werden in Kapitel 2.2.2 sehen, dass sich die kritische Auseinandersetzung des Deutschen Idealismus mit der Kantischen Philosophie nicht zuletzt an dieser engen Bindung an Newtons Physik entzündet und dass entsprechend der Deutsche Idealismus zu einem guten Teil als eine Gegenbewegung gegen die mechanizistische Physik auftritt und an der Entwicklung einer dynamischen und organizistischen Physik im Rahmen einer spekulativen Theorie das größte Interesse nimmt.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

(vorläufigen) Höhepunkt erreichte, von dem herab alle anderen Weisen der Weltdeutung als nachrangig erschienen.4 Nun kann man es gewiss für problematisch halten, den aus der Wissenschaftsgeschichte stammenden Begriff des Paradigmas auf das Gebiet der Philosophie- oder gar der Literaturgeschichte zu übertragen – scheint er doch ausschließlich im Rahmen einer qualitativen Fortschrittsidee, d.h. unter der Annahme sinnvoll zu sein, dass es einen Konvergenzpunkt – ‚Wahrheit‘ genannt – gibt, dem wir uns in der ‚Logik der Forschung‘ allmählich annähern.5 Doch gegen diese Auffassung werden bereits in der Spätaufklärung Zweifel erhoben. So beschreibt Wezel die Suche nach der Wahrheit als einen Feldzug in unbekanntes Terrain: Das schnurrichste bey dem ganzen Kriege war, daß das bestrittne Ding [= die Wahrheit] gar nirgends existirte, sondern erst aufgesucht werden sollte. Folglich war ihr Krieg ohngefähr auf den Schlag, als wenn die europäischen Mächte einen um die terra australis incognita, die un6 entdeckten Länder des Südpols führen wollten. (Wezel, B, I, S. 213)

Erst recht aber ist mit dieser Anschauung in der neueren Wissenschaftstheorie so gründlich aufgeräumt worden, dass es ausgesprochen fraglich ist, ob die Redeweise von einem Paradigmenwechsel tatsächlich nur im Rahmen einer solchen – als realistisch zu bezeichnenden – Wahrheitstheorie Gültigkeit beanspruchen kann. Angesichts dieses kritischen Unternehmens, das die Wissenschaft als eine methodologisch ausgesprochen liberale Praxis ausweist, erscheint es als durchaus gerechtfertigt, den Begriff des Paradigmas auch auf philosophie- oder literaturgeschichtliche Phänomene anzuwenden. Das Paradigma aber, das bis zu seiner Verabschiedung im Laufe des 18. Jahrhunderts die neuzeitliche Philosophie beherrschte, hatte, vereinfacht gesprochen7, seinen harten Kern in der Zentralkategorie der Vernunft – einer Vernunft, die ihre metaphysi4 5 6

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Man sollte aber beachten, dass sich auch der transzendentale Idealismus Kants innerhalb des pragmatischen Paradigmas hält oder zumindest dessen Herausbildung entscheidend vorbereitet. Zur Unterscheidung von qualitativer und quantitativer Fortschrittsidee vgl. Feyerabend, 1984, S. 87 ff. Auch die berühmte Äußerung Lessings zum Wahrheitsproblem kann so verstanden werden, dass sie aus der conditio humana das Beste zu machen versucht: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ‚Wähle!‘ – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Vater, gib! die reine Wahrheit ist doch nur für dich allein!‘„ (Lessing, o. J., Bd. 6, S. 96) Die Gegenüberstellung der Grundkonzepte ‚Vernunft‘ und ‚Natur‘ soll nicht mehr als eine vorläufige Orientierung geben, die über wesentliche Differenzierungen jener und auch – man denke nur an Hegels Philosophie des Geistes – der späteren Zeit hinweggeht. Im Laufe der Untersuchung wird sich das, was hier das Grundkonzept der Natur genannt wird, mit Gehalt füllen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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sche Legitimation weit über die Scholastik hinaus in der christlichen Gottesvorstellung fand und damit die Gottesebenbildlichkeit des Menschen garantierte. Noch für Wolff war Gott der summus philosophus8 – ja, mit Gurwitsch lässt sich die gesamte LeibnizWolffsche Philosophie als eine Transzendentalphilosophie auffassen, die den göttlichen Geist an die Subjektstelle setzt.9 An die Stelle dieses Paradigmas trat – nicht zuletzt im Zuge der Entwicklung der Naturwissenschaften und des Empirismus als deren metaphysischer Basistheorie – das Grundkonzept der Natur, wodurch eine geistesgeschichtliche Entwicklung in Gang gesetzt wurde, an deren Ende die Herausbildung des pragmatischen Paradigmas stehen sollte. Denn die Rede von dem revolutionären Diskurs, der ein neues Paradigma hervorbringt, darf nicht verkennen lassen, dass auch der Paradigmenbildung eine lange Entwicklung vorhergeht, in der mehr oder minder klar umrissene Orientierungssysteme oder „Hintergrundmetaphern“ eine vorbereitende Rolle spielen. Um eine solche Vorform des pragmatischen Paradigmas handelt es sich bei dem Grundkonzept der Natur, dessen Erörterung zeigen soll, dass auch eine ‚metaphysische‘ Revolution keine creatio ex nihilo darstellt. Und wenn dieses Konzept auch beinahe von Anfang an auf zwei entgegengesetzte Weisen verstanden wurde, so steht im Hintergrund doch dasselbe leitende Orientierungsmodell: Der Mensch wurde nicht mehr als Vernunftwesen bzw. als vernunftbegabtes Geschöpf Gottes begriffen, sondern als Naturwesen, das mit all den Schwächen und Mängeln behaftet ist, welche einem solchen notwendigerweise zukommen. Der Begriff der Natur ist freilich schillernd und besitzt gerade im 18. Jahrhundert eine Fülle von Bedeutungsnuancen, die sich aus ganz verschiedenen Quellen speisen: Von der aristotelischen Naturauffassung über den Naturbegriff der empirischen Wissenschaften und das pantheistische Naturverständnis bis hin zum geschichtsphilosophischen Begriff des Naturzustandes beeinflussen viele unterschiedliche Konzeptionen das Denken der Aufklärer und später der Romantiker.10 Ehe aber der Wandel des grundlegenden Orientierungsmodells und der daraus resultierende Paradigmenwechsel in den folgenden Kapiteln auf vier den Raum des neuen Paradigmas abgrenzenden Ebenen dargelegt werden, ist näher auf den Umstand einzugehen, dass das Orientierungsmodell der Natur im 18. Jahrhundert auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen interpretiert wurde. Auf der einen Seite steht die ontologische Idee vom Ganzen der Natur als einer Einheit von Sein und Sollen. Mit dieser Auffassung, die sich um den Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses nicht schert, hofften vornehmlich die gemäßigten Aufklärer die moralischen Normen vor der totalen Relativierung zu konventionellen Setzungen zu retten.11 Denn nur wenn man, so glaubten sie, 8 9 10 11

Vgl. z.B. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 904 u. 973. Vgl. hierzu Gurwitsch, 1974. Vgl. dazu den Artikel Natur im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 6, S. 421-478). Titzmann beschreibt dieses Dilemma der Aufklärer wie folgt: „Nur ein göttlicher Urheber der Welt kann etwa den Moralnormen den ontologischen Status nicht-kulturrelativer, immer und überall verbindlicher Universalien verleihen und garantieren, daß sie (aufgrund der ‚menschlichen Natur‘) entweder jedermann rational erkennbar oder jedermann in seiner Anlage mitgegeben sind. In eben

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

das Fundament der Moral in die Natur des Menschen selbst, als dem tiefstmöglichen Ort, versetze, lasse sich diese scheinbar unausweichliche Konsequenz aus der Integration der bisher die Gültigkeit der Moral garantierenden Rationalität in die Biostruktur des Menschen vermeiden.12 Eine solche Gründung des Moralischen in der Natur erfolgt vor allem in der Moral-sense-Ethik. Freilich gerät man mit solch einem normativistischen Naturbegriff, der das ‚παντα καλα λιαν‘ über das Universum spricht, angesichts des Übels und Leidens in einen schweren Erklärungsnotstand. Zur Rechtfertigung des allgegenwärtigen Übels trifft man deshalb die Unterscheidung von Sein und Schein13, die man darum als die Kehrseite jener Identifizierung von Sein und Sollen ansehen kann.14 Nur mit ihr scheint sich zeigen zu lassen, dass die Natur (des Menschen) eigentlich (moralisch) gut ist, die vielfältigen Übel hingegen bloß unbedeutende Kräuselungen an der Oberfläche des Seins darstellen, die dem optimistischen Naturbegriff keinen Abbruch tun.15 Diese Überzeugung der gemäßigten Aufklärer, dass der Mensch von Natur gut sei, die Auffassung also von den ‚sympathetischen‘ Neigungen des Menschen, von seinem mitleidigen Wesen, seiner ursprünglichen Geselligkeit steht im Gegensatz zur christlichen, vor allem lutherisch-pietistischen Überzeugung von der natürlichen Verderbtheit des Menschen, die auch noch im 18. Jahrhundert äußerst wirkungsmächtig war – wie sich nicht zuletzt in der Kantischen Rede vom „radikale[n], angeborne[n] [...] Bösen“16 zeigt.

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dem Ausmaß, in dem die Moraltheorie auf diese Instanz verzichtet und sie nicht, ausgesprochen oder unausgesprochen, für die Rechtfertigung der Moral bemüht, gerät dieser ontologische Anspruch der Moralnormen in eine Legitimationskrise: die Normen laufen Gefahr, auf bloß kulturrelative Spielregeln reduziert zu werden.“ (Titzmann, 1990, S. 273) Die Moral-sense-Ethik versucht daraus auf nicht-metaphysische Weise einen Ausweg zu bieten (vgl. hierzu auch Kondylis, 1981, S. 343 ff). Über den Zusammenhang von anthropologischer und ontologischer Perspektive innerhalb des neuen Paradigmas vgl. Kondylis, 1981, S. 348 f. Als eine Spielart der Trennung von Sein und Schein lässt sich die Unterscheidung von Teil und Ganzem innerhalb der Theodizee auffassen, wobei die Unfähigkeit, jenseits der Übel im Detail das harmonische Ganze zu begreifen, auf der innerweltlichen Standortgebundenheit des Menschen sowie seinem eingeschränkten Erkenntnisvermögen beruhe (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 702 u. 784). Man kann daher in gewissem Sinne behaupten, dass im normativistischen Naturbegriff die geheime Theoontologie des Grundkonzepts der Vernunft fortwirkt. Kant stellt hier, wie andernorts auch, einen Sonderfall dar: Zwar findet sich bei ihm eine radikale Trennung von Sein und Schein in seiner Unterscheidung von intelligibler und empirischer Sphäre, doch wird diese Aufspaltung parallelisiert mit einer ebenso strikten Trennung von Sein und Sollen, sodass die Sphäre des Intelligiblen zugleich die Sphäre des Moralischen ist. Die Gründe für diese Annahme einer ‚intelligiblen Moral‘ sind sicher, wie Kondylis bemerkt, in Kants mechanizistischer Naturauffassung einerseits und seiner pessimistischen Menschenauffassung andererseits zu suchen; ob dies allerdings ausreicht, Kant als einen ‚Gegenaufklärer‘ zu bezeichnen, ist stark zu bezweifeln. (Vgl. Kondylis, 1981, S. 638 ff) Vgl. Kant, 1974, Bd. 4, S. 680.

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2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

Auf der anderen Seite, aber sich noch immer im Rahmen des Grundkonzepts der Natur bewegend, findet sich als radikale Form der Aufklärung der Materialismus insbesondere französischer Provenienz, der als rein phänomenalistische Theorie nicht nur die Trennung von Sein und Schein ablehnt, sondern auch gegen die Identifizierung von Sein und Sollen auftritt und der Moral somit die ontologische Grundlage nimmt.17 Bei Wezel heißt es in kritischer Absicht: Die körperliche Welt sieht man immer nur von der Seite des Vergnügens an, das sie den äußerlichen Sinnen gewährt, und findet Freude auf allen Wegen: Die Geisterwelt betrachtet man ganz allein mit der moralischen Brille, und vergißt, daß die innerlichen Sinne, Reflexion und Nachdenken, hier eben so viel Vergnügen und Unterhaltung finden, als dort Augen und Ohren. Woran liegt also wohl die ganze Schuld? – Daß wir die Körperwelt blos ansehen, wie sie ist, und die Geisterwelt nicht blos betrachten, wie sie ist, sondern wie sie nach gewissen vorausgesetzten Begriffen seyn soll; nicht mit bloßen Augen, sondern immer durch das Medium der Moral. Daher die ewigen Klagen über die Verderbniß, die Schmähungen auf die armen Leidenschaften, die Beschwerden über die Abnahme guter Menschen, die Deklamationen wider Laster, die nicht existiren, und die Empfehlungen für Tugenden, die nicht existiren kön18 nen! Alles einseitige Klagen, einseitige Urtheile. (Wezel, Versuch, S. 444)

Es entsteht so eine monistische und zumeist auch deterministische Theorie von großer logischer Kohärenz, die die Welt als Maschine oder als „Uhr [...], die sich selbst aufzöge“19, versteht. An der vielfachen Verwendung der Maschinenmetapher wird klar, dass das mechanizistische Denken im gesamten 18. Jahrhundert eine wesentliche Traditionslinie darstellt – auch dort, wo die Position des Materialismus explizit abgelehnt wird. Schon Gottsched schrieb: Weil die Welt eine Maschine ist: so hat sie in so weit, mit einer Uhr eine große Ähnlichkeit.

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Noch am Ende des Aufklärungszeitalters bezeichnet Lenz den Menschen „als eine vorzüglichkünstliche Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt […] nennen, besser oder 21 schlimmer hineinpaßt“. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich beim Materialismus nicht allein um eine erkenntnistheoretische Position, sondern um eine metaphysische Theorie mit universellem Anspruch handelt. In deren Rahmen wird die Moral als bloß konventionelles Produkt auf der Grundlage von utilitaristischen Klugheitserwägungen aufgefasst, für das sich bestenfalls eine psychologische oder soziologische Genealogie formulieren lasse, das 17

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Vgl. hierzu Kondylis, 1981, S. 490 ff. Jaumann weist richtig darauf hin, dass der Materialismus damals wie heute „die Rolle eines interdiskursiven Elements [spielt], das sich ausdifferenzierende Fachwissenschaften zusammenhält“ (Jaumann, 1994, S. 250) Gerade dadurch hat er starken Einfluss auf die Spätaufklärung ausgeübt. Interessant an diesem Zitat ist, dass bereits Wezel, wie später Kant, die Trennung von Sein und Sollen in Verbindung bringt mit einer Zwei-Welten-Theorie, in der die intelligible Sphäre sich zugleich als die moralische darstellt. Die Ablehnung dieser Position durch Wezel sollte jedoch nicht dazu verführen, ihn einfachhin als einen ‚Materialisten‘ zu klassifizieren. Wezels Verhältnis zum Materialismus ist wesentlich komplexer (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1.3). So Sulzer in seinen Unterredungen, zit. nach Jaumann, 1994, S. 182. Gottsched, Weltweisheit, Bd. 1, § 345. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Über Götz von Berlichingen, in: ders., 1987, Bd. 2, S. 637.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil seinen Grund aber letztlich im Egoismus des Einzelnen habe. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt weiter bis zum Nihilismus, dem das Problem der Werte „mitten auf dem Kothhaufen, wo alles funkelt und glänzt, und alles nichts ist“ (Wezel, B, II, S. 171), überhaupt kein Rätsel mehr aufgibt – eine Lehre, auf die man sich vorerst nur mit geheimem Grauen ein22 lässt.

Wenn nun auch der Materialismus demselben Grundkonzept folgt wie die Vertreter eines normativen Naturbegriffs, so führen dessen radikale, bis zum Nihilismus gehende Konsequenzen doch dazu, dass die gemäßigten Aufklärer ihr Naturkonzept an zwei Fronten verteidigen müssen: Zum einen richtet sich ihre immanente, pragmatische Welterklärung gegen Theologie und klassische Metaphysik, die weiterhin dem alten Grundkonzept folgen, zum andern gilt es, ihr normatives Moralkonzept gegen die Angriffe der Materialisten zu schützen.23 Auch hieraus erklärt sich das polemische Wesen der Aufklärung sowie die Vielfalt der Positionen, die einen oftmals so verwirrenden Eindruck erzeugen, deren Einheitlichkeit jedoch durch die pragmatische Fragehaltung gewährleistet wird.24 Mit dem Hinweis darauf, dass die intellektuelle Pluralität das Vorhandensein eines leitenden Paradigmas keineswegs hindert, ist die Auffassung Jaumanns abzulehnen, der die Möglichkeit einer Paradigmenbildung im 18. Jahrhundert bestreitet: Die disparate, von konfessionellen, territorialen, landesherrlichen und institutionellen Differenzen geprägte Bildungslandschaft des deutschen Sprachraums im 18. Jahrhundert läßt natürlich keine einheitliche Paradigmenbildung erwarten. So präsentiert sich der zentrale Terminus der „Natur“ frakturiert in eine Vielzahl konkurrierender Modelle, die von den Altlasten der scholastisch-aristotelischen Universitäten, magischen Vorstellungen und religiösen Dogmen ebenso geprägt sind wie von Einflüssen Newtons, der Franzosen oder der Leibniz-WolffSchule. [...] Die Welt als Maschine und Gebäude findet sich hier ebenso wie die Kette der Wesen, Analogiemodelle von Makrokosmos und Mikrokosmos konkurrieren mit der Natur als 25 Buch, religiöse Schöpfungsvorstellungen stehen neben pantheistischen Auffassungen.

Abgesehen von dem durchaus schiefen Verständnis des Paradigmenbegriffs und dem haltlosen soziologischen Erklärungsmodell, wonach ein einfacher Kausalnexus zwischen der gesellschaftlichen Verfassung Deutschlands und der Möglichkeit der Paradigmenbildung hergestellt wird, bleibt gegen Jaumann festzuhalten, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein solches Paradigma sehr wohl zu identifizieren ist. Was sich hier nicht einfügt, gehört dem alten Paradigma an, das natürlich weiterhin vorhanden ist. Dem entsprechend steht auch der Materialismus, ja selbst der Nihilismus unter dem leitenden Orientierungsmodell der Natur. Deutlich wird diess insbesondere bei Holbach:

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So heißt es am Schluss der Nachtwachen, die in vielerlei Hinsicht das Ende der Aufklärung markieren: „’Und der Widerhall im Gebeinhause ruft zum letzten Male – Nichts!‘“ (Bonaventura, 1990, S. 143) – ein Widerhall, der sich bis in die oft genannten nihilistischen Züge der Romantik fortpflanzt (vgl. hierzu v.a. Kap. 2.2.5). Vgl. Kondylis, 1981, S. 22 ff. Vgl. dazu Kondylis, 1981, S. 20. Jaumann, 1994, S. 171 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Der Mensch ist das Werk der Natur, er existiert in der Natur, er ist ihren Gesetzen unterworfen, er kann sich nicht von ihr freimachen, er kann nicht einmal durch das Denken von ihr loskommen; vergeblich strebt sein Geist über die Grenzen der sichtbaren Welt hinaus, immer ist er gezwungen, zu ihr zurückzukehren. Für ein Ding, das durch die Natur geformt und durch sie begrenzt ist, existiert nichts außerhalb des großen Ganzen, zu dem es gehört und unter dessen Einflüssen es steht; die Dinge, von denen man annimmt, dass sie über der Natur stehen oder dass sie von ihr verschieden sind, werden immer Trugbilder sein, von denen wir uns niemals wirkliche Ideen machen können, weder von dem Ort, den sie einnehmen, noch von ihrer Wirkungsart. Es ist nichts, und es kann nichts außerhalb der Begrenzung geben, die alle Dinge 26 umschließt.

Innerhalb des Orientierungsmodells der Natur hat man, mit Spaemann, drei Geltungsbereiche zu unterscheiden: zum ersten den „Totalzusammenhang der Erscheinungen“, also das Gesamt der materiellen Welt, zum zweiten die „individuelle, durch Selbsterhaltung primär bestimmte Vermögensausstattung und Bedürfnisstruktur des Menschen“, d.h. seinen Triebapparat bzw. seine Affektivität, und zum dritten den „hypothetische[n], dieser Geschichte voraufliegende[n] Anfangszustand des Menschen“, also den Naturzustand27. Trotz der vielfältigen Bedeutungsnuancen des Naturbegriffs lassen sich also drei im Aufklärungszeitalter wesentliche Denkräume bestimmen, in denen das Konzept der Natur von Bedeutung ist: der naturwissenschaftliche bzw. -philosophische, der anthropologische bzw. ethische sowie der geschichts- und staatsphilosophische. Entscheidend wird innerhalb des neuen Paradigmas zunächst der zweite Geltungsbereich, wonach der Mensch als Naturwesen im Mittelpunkt der Betrachtung steht und in dessen Rahmen das Primat der biologischen vor der intellektuellen und moralischen Ausstattung des Menschen formuliert wird. Dies ist vor dem Hintergrund der subjektivitätsphilosophischen Wendung, die schon Descartes, erst recht aber Kant dem neuzeitlichen Denken gegeben hat, nicht anders zu erwarten. Denn dass trotz des großen Erfolgs der naturwissenschaftlichen Forschung von Galilei bis Newton nicht das Gesamt der materiellen Welt, sondern die Affektivität des Menschen zunächst der dominante Geltungsbereich des Orientierungsmodells der Natur wurde, rührt vor allem von dieser subjektzentrierten Ausrichtung der neuzeitlichen Philosophie her. Wenn Kant seinen eigenen Ansatz als ‚kopernikanische Wende‘ bezeichnet28, dann will er damit also nicht nur das radikal Neue seines transzendentalen Idealismus charakterisieren, sondern zugleich, indem er seine Philosophie mit der kopernikanischen Revolution vergleicht, zum 26 27

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Vgl. Holbach, 1960, S. 11. Zit. nach Jaumann, 1994, S. 169. Die Unterscheidung Ammermanns zwischen zwei Funktionen des Naturbegriffs – nämlich der normativen (mit der vorbildlichen Ordnung der Natur im Rahmen einer Mimesistheorie) und der emanzipatorischen (als Reflexion auf die Geschichtlichkeit des Menschen mit der Folge einer vom Naturzustand ausgehenden Kulturkritik) – ist hingegen abzulehnen, da beide Naturbegriffe natürlich normativ sind (vgl. Ammermann, 1978, S. 13 ff). Vgl. Kant, KrV, B XVI ff. Die Metapher selbst kommt freilich bei Kant nicht buchstäblich vor. Da sie sich aber für eine Beschreibung seiner Position eingebürgert hat, soll sie auch hier Verwendung finden.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Ausdruck bringen, dass die gesamte neuzeitliche Philosophie als Subjektphilosophie zu begreifen ist.29 Indem der Vernunft innerhalb eines solchen Konzepts nur mehr noch eine sekundäre Rolle gegenüber der natürlichen Ausstattung des Menschen zukommt, führt diese grundsätzliche Umkehrung des Verhältnisses zwischen Rationalität und Affektivität zu einer Theorie, die man als einen universellen Funktionalismus bezeichnen könnte, insofern nun nicht mehr die Frage nach der internen Struktur der Vernunft und der auf ihr (vorgeblich) gegründeten Konstrukte – wie der Moral oder dem gesellschaftlichen Zusammenschluss – im Vordergrund steht, sondern die Funktion dieser Rationalitätsstrukturen im umgreifenden Kontext des – wie immer näher bestimmten – ‚Natürlichen‘. So schreibt bereits Hume: Since reason alone can never produce any action, or give rise to volition, I infer, that the same faculty is as incapable of preventing volition, or of disputing the preference with any passion or emotion. [...] We speak not strictly and philosophically when we talk of the combat between passion and reason. Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never 30 pretend to any other office than to serve and obey them.

Macht man sich alle Konsequenzen dieser Umkehrung bewusst, so scheint es nicht zu viel gesagt, wenn man die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität als einen revolutionären Bruch in der Geistesgeschichte bezeichnet. Zumindest die Zeitgenossen erlebten diesen Wandel des Orientierungssystems als eine epochale Wende, mit der gleichsam ‚Seinsgeschichte‘ geschrieben wurde.31 Hierbei lassen sich das Orientierungssystem der Natur und erst recht das auf dieses sich gründende pragmatische Paradigma grundsätzlich dadurch charakterisieren, dass in ihm die Erkenntnis- und Erklärungsrichtung von unten nach oben erfolgt, also in diesem Sinne reduktionistisch vorgegangen wird – eine, mit Musil zu sprechen, „Spekulation a la baisse“32, die den metaphysischen Vernunfthimmel auf den Boden der natürlichen und späterhin lebensweltlichen Tatsachen herabziehen will. Vor einem eigentlichen Reduktionismus bewahrt den funktionalistischen Ansatz des pragmatischen Paradigmas jedoch seine Orientierung am ‚ganzen Menschen‘ als einer Totalität von Natur und Geist, Leib und Seele, Affektivität und Rationalität.33 Der Funktionalismus ist deshalb eine holistische Theorie. Entsprechend führt er innerhalb der Philosophie zu einem Paradigmenwechsel, dem auch die mit universalistischem Anspruch auftretende Anthropologie ihre Entstehung zu verdanken hat.

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Zur Metapher der „kopernikanischen Wende“ bei Kant vgl. Blumenberg, 1975, S. 691 ff. Hume, 1978, S. 414 f. Als einen derartigen revolutionären Bruch verstand auch Schopenhauer – ohne seine Vorläufer zu erwähnen – seine Philosophie, die bekanntlich dem Willen den Primat vor dem Intellekt zuschrieb. Musil, 1978, Bd. 1, S. 410. Dem gegenüber wird die Orientierung am Menschen als reinem Vernunftwesen von den Verfechtern dieser funktionalistischen Theorie als einseitig und reduktionistisch angesehen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Ebenso gelangt der für das 18. Jahrhundert zentrale Konflikt zwischen ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ wenn schon nicht zu einer endgültigen Lösung, so doch unter eine neue – holistisch orientierte – Perspektive. Bekanntlich ist zur Interpretation dieses Konflikts und des dahinter stehenden commercium-Problems, neben Ästhetik und Pädagogik, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende Anthropologie als neue Einheitswissenschaft angetreten. Obgleich ihr Einfluss auf das Denken der damaligen Zeit gemeinhin überschätzt wird, lässt sich doch nicht leugnen, dass die Anthropologie in einer allgemeinen geistigen Bewegung steht, in der der Mensch zum Zentralthema aller philosophischen Bemühungen wird34: Wo in der Frühaufklärung „Gott“ [...] stillschweigend Zentrum und Bezugspunkt der Theoriebildungen war, da ist es jetzt der „Mensch“ [...]. Wie der Mensch hat sich die Anthropologie aus den theoretischen Kontexten, in die sie eingebettet war, gelöst und ist autonom und dominant geworden: sie ist das integrative System, von dem her allein sich die verbliebenen Reduktionsformen und Schwundstufen, in denen die anderen Teilphilosophien einzig noch existieren, legitimieren. Gott, die Teleologie von Entwicklungsprozessen, die Bestimmung des Menschen sind nunmehr anthropologisch motiviert, funktionale Denkgrößen. Alle Sinngarantien sind zurückgenommen; eine vernünftige und gerechte Weltordnung, in der Vernunft, Tugend, Glück zusammenfielen, ist nicht mehr erkennbar. Der Optimismus ist durch Pessimismus und Skepsis ersetzt; selbst der Erkenntniswille erhält eine anthropologische Grenze durch das Bedürfnis des Menschen nach sinngebenden Fiktionen. [...] Erhalten bleiben die Forderungen der Moral, die freilich [nur] noch vom exzeptionellen Individuum uneingeschränkt erfüllbar sind, das im Tugendheroismus seiner moralischen Autonomie eine immer tragische 35 Selbstbewährung vor dem Publikum des eigenen Ich als richtender Instanz vollzieht.

Stark beeinflusst wurde die Anthropologie vom englischen Empirismus, der dadurch zu einer der wichtigsten Quellen der Tradition der anderen Vernunft wurde.36 Hier beginnt jene „Rehabilitation der Sinnlichkeit“37, der gemäß nicht mehr die Vernunft mit etwelchen aus eigenem Vermögen stammenden Erkenntnissen a priori, sondern die (sinnliche) Erfahrung am Anfang aller Erkenntnis steht. Gemäß dem alten Grundsatz Nihil est in intellectu quod non antea fuerit in sensu werden in der Erkenntnistheorie genetische Untersuchungen wichtiger als logische Analysen. Ohne zunächst die schwierigen Aspekte des Induktionsproblems in den Blick zu bekommen, machen die Empiristen mit allen Formen der deduktiven Erkenntnis buchstäblich tabula rasa; und auch als man sich der Überzogenheit dieses Vorgehens bewusst wird, betrachtet man jede Deduktion aus Erkenntnissen a priori mit Misstrauen. Die Äußerung Wezels über seine eigene Bildungsgeschichte kann daher durchaus als repräsentativ für die starke Beein-

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So bezeichnet Baruzzi die gesamte neuzeitliche Philosophie als eine „Metaphysik sub specie humanitatis“ (vgl. Baruzzi, 1973, S. 10). 35 Titzmann, 1990, S. 282 f. 36 Der französische Sensualismus des frühen 18. Jahrhunderts kann, obgleich hier nicht eigens genannt, in dieser allgemeinen Hinsicht mit dem englischen Empirismus identifiziert werden. 37 Kondylis, 1981, S. 19.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

flussung der Spätaufklärer durch den – insbesondere über die Anthropologie vermittelten – Empirismus angesehen werden: Ich fieng an [Locke] zu lesen und zitterte schon zum voraus, daß ich nichts begreifen würde. Drollich! ich begriff alles: der Mann machte mir freylich oft Langeweile, die aber, wie ich nunmehr merke, von seiner gedehnten Manier zu denken und der weitschweifigen Schreibart herkommen mochte; gleichwohl las ich emsig, so viel es meine Geduld zuließ. Das war mein cursus philosophiae: er zündete in meinem Kopfe ein Licht an, als wann ich vorher nur geträumt hätte, und ihm nebst einer Recension von Unzers Physiologie in der allgemeinen Bibliothek hab‘ ich mein ganzes philosophisches System zu danken; beide stießen meine Speculation auf den Weg, den sie seitdem betrat. Jene Hauptrevolution, die im achtzehnten oder neunzehnten Jahr mit meinem Denken vorgehen mochte, kann dem Rec. mein Mißfallen an Leibnitzen erklären: damals war er mir unleidlich, und itzt unerträglich. (Wezel, Epistel, 38 S. 225)

Über die Bedeutung der ‚anthropologischen Wende‘ in der Philosophie der Aufklärung sind sich die Spätaufklärer weitgehend einig39: Für sie alle wird der Popesche Satz „The proper study of mankind is man“40 zum Leitspruch, die Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ zur Leitfrage des Jahrhunderts.41 Selbst Kant – mit Sicherheit kein Anhänger der Anthropologie – fasst nicht nur die philosophischen Grundfragen unter der alles umgreifenden „Was ist der Mensch?“42, sondern auch seine jahrzehntelangen Vorlesungen zu einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zusammen, die er mit den berühmten Sätzen eröffnet: Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist. – Ihn also seiner Spezies nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders Weltkenntnis genannt zu werden [...]. Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht

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Zur Geringschätzung aller nicht-empirischen Philosophen, v.a. Leibnizens, dessen Theodizee Wezel im Belphegor so grausam parodiert hat, vgl. auch Wezel, Epistel, S. 224. Bemerkenswert scheint auch der sehr an Kants berühmte Notiz zum Einfluss Humes auf sein Denken gemahnende Wortlaut der Locke-Eloge Wezels. Inwieweit es sich bei der Aussage, dass er Locke und einer Unzer-Rezension sein „ganzes philosophisches System zu danken“ habe, um ein Understatement handelt, kann kaum noch entschieden werden. Als ein Beispiel unter vielen sei an dieser Stelle Mendelssohn zitiert, für den es an der Zeit ist, „die Weisheit von der Betrachtung der Natur auf die Betrachtung des Menschen zurückzuführen. Dieses ist der Weg, den die Weltweisheit alle Zeit nehmen sollte. Sie muß mit Untersuchung der äußerlichen Gegenstände anfangen, aber bey jedem Schritte, den sie thut, einen Blick auf den Menschen zurückwerfen, auf dessen Glückseligkeit alle ihre Bemühungen abzielen sollten.“ (Mendelssohn, Moses: Leben und Charakter des Sokrates (1767), zit. nach: Grimminger Hrsg., 1980, S. 606) Pope, 1978, S. 189. Vgl. hierzu D’Alessandro, 1996, S. 21 ff. Kant, 1974, Bd. 6, S. 447 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf 43 das, was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.

Auch die hier behandelten Autoren, obgleich sie sich ihre skeptische Distanz bewahren44, unterscheiden sich in ihrer Einschätzung der Anthropologie nicht von ihren Zeitgenossen. So schreibt Wieland – bereits das Programm einer historischen Anthropologie formulierend: Die nöthigste und nützlichste aller Wissenschaften, oder, noch genauer zu reden, diejenige, in welcher alle übrigen eingeschlossen sind, ist die Wissenschaft des Menschen. [...] Diese historische Kenntniß der Erdebewohner ist die Grundlage aller ächt filosofischen Wissenschaft [...]. Im Grunde ist also alle ächte Menschenkenntniß historisch. (Wieland, Werke, X, 30, S. 140 f)

Dennoch gilt es festzuhalten, dass nicht die ‚anthropologische Wende‘ das für das ausgehende 18. Jahrhundert kennzeichnende Merkmal ist, sondern der soeben skizzierte Paradigmenwechsel. Denn die Philosophie ist spätestens seit Descartes und den Anfängen der Subjektivitätsphilosophie anthropozentrisch, und die popularphilosophisch geprägte und medizinisch ausgerichtete Anthropologie ist vor diesem Hintergrund bestenfalls eine Randerscheinung.45 Der geradezu existentialistische Grundansatz nämlich, der sich hinter der Integration der Vernunft in die Biostruktur des Menschen verbirgt, führt über den anthropologischen Befund hinaus zu einer Aufwertung der Praxis, die sich deutlich bereits bei Kant abzeichnet und für den weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte von grundlegender Bedeutung sein wird46. Denn innerhalb der Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität wird das Wesen des Menschen nicht allein von der Triebausstattung her bestimmt – dies wäre nur, mit Kant zu reden, die Betrachtungsweise der im weitesten Sinne ‚physiologischen Menschenkenntnis‘ –, sondern von Anfang an wird dieses Wesen, dessen natürliche Ausstattung intentional verfasst ist und auf einen verändernden Eingriff in die Außenwelt gerichtet ist, zugleich als durch und durch praktisch oder auf Praxis angelegt erfasst, sodass ergänzend eine ‚pragmatische Menschenkenntnis‘ erforderlich wird. Erst durch dieses zusätzliche Bestimmungs43

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Kant, 1983, S. 29 [A 119]. Schon in der Formulierung wird deutlich, dass für Kant gemäß seiner Zwei-Welten-Theorie die pragmatische Perspektive notwendig mit der Freiheitsproblematik verbunden ist. Vgl. z.B. Wezel: „Der Mensch ist für den Menschen das größte Räthsel, das nimmer durch einen Versuch aufgelöst werden kann.“ (Wezel, KS I, S. 93) Dennoch tritt gerade Wezel am Ende seines Schaffens mit einer anthropologischen Studie, nämlich dem Versuch über die Kenntniß des Menschen hervor. Die verschiedenen Anthropologiebegriffe, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet haben (pragmatische, historische, philosophische und medizinische oder physiologische Anthropologie), können im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht näher dargelegt werden. Vgl. dazu den Artikel Anthropologie im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Vgl. Kondylis, 1981, S. 350, wo er in idiosynkratischer Weise Kants kopernikanische Wende, also das Primat der Erkenntnistheorie, und seine anschließende pragmatische Wende i.S. des Primats der praktischen Vernunft als „Gemeinplätze der westeuropäischen Aufklärung“ bezeichnet, die sich bis auf die „humanistische Verteidigung des Primats der vita activa“ zurückverfolgen lasse.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

merkmal des Praktischen kann sich aus dem Orientierungssystem der Natur und der darauf sich gründenden funktionalistischen Betrachtungsweise das pragmatische Paradigma entwickeln. Hierbei wird der Begriff des Pragmatismus bereits im 18. Jahrhundert in doppeltem Sinne verwendet: Zum einen wird als pragmatisch jene Auffassung bezeichnet, die in irgendeinem näher zu spezifizierenden Sinne vom Primat des Praktischen überzeugt ist – diese Überzeugung haben die Spätaufklärer noch mit den Deutschen Idealisten gemein, deren Metaphysik mit ihrer Bestimmung von Ich und Natur als ‚Tathandlung‘47, ‚Produktivität‘48 oder ‚Wille‘49 in gewissem Sinne ebenfalls als pragmatisch bezeichnet werden kann. Zum andern beinhaltet der Pragmatismus im 18. Jahrhundert die Bindung des philosophischen Denkens an den common sense und die konkrete Lebenswelt – eine Auffassung, die vor allem von den Popularphilosophen vertreten wurde und etwa in der Maxime des Hippias aus Wielands Agathon zum Ausdruck kommt: Laß uns also den Plan unsers Lebens auf das gründen, was wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glückliche Leben ist, den geradesten und sichersten Weg su50 chen, auf dem wir dazu gelangen können. (Wieland, A, S. 90)

Dass bei der Bildung des pragmatischen Paradigmas zunächst nur die Verfasstheit des menschlichen Subjekts und dem gemäß bloß jener Geltungsbereich des Naturkonzepts in Frage steht, der die natürliche Ausstattung des Menschen umfasst, darf nicht dazu verführen, den Geltungsbereich der Gesamtnatur als irrelevant auszublenden. Jedoch tritt dieser Bereich erst in einer späteren Phase der Philosophiegeschichte in den Mittelpunkt des Interesses – in jener Phase der nachkantischen Philosophie nämlich, in der man sich auf der Grundlage des Kritizismus um eine Reformulierung der Metaphysik bemüht. Dies erfolgt nicht zuletzt unter Rückwirkung der Ergebnisse, die innerhalb des Geltungsbereichs der menschlichen Natur erzielt worden sind, und zeigt sich vor allem in der Übertragung der Wesensbestimmung der menschlichen Natur auf die Gesamtnatur, die infolge dessen als Subjekt i.S. einer natura naturans sowie als Produktivität in 47 48 49 50

Bei Fichte. Bei Schelling. Bei Schopenhauer. Beide Bedeutungen des Pragmatismusbegriffs sind gleichermaßen angesprochen, wenn es am Ende des Agathon über das Denken des Archytas heißt: „[D]ie Philosophie des Archytas war ganz practisch.“ (Wieland, A, S. 566) Wie wir noch sehen werden, lassen sich für beide Verwendungsweisen eine Fülle von Belegen in den philosophischen Romanen der Spätaufklärung beibringen. Hierbei hatte insbesondere das Denken Shaftesburys den größten Einfluss: „Whilst PHILOSOPHY is taken (as in its prime Sense it ought) for Mastership in LIFE and MANNERS, ‘tis like to make no ill Figure in the World, whatever Impertinencys may reign, or however extravagant the Times may prove. But let us view PHILOSOPHY, like mere Virtuosoship, in its usual Career, and we shall find The Ridicule rising full as strongly against the Professors of the higher as the lower kind. Cockleshell abounds with each. Many things exteriour, and without ourselves, of no relation to our real Interests or to those of Society and Mankind, are diligently investigated [...].“ (Shaftesbury, Werke, Bd. 1, 2, S. 195 f)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

63

einem Tätigkeitssinn bestimmt wird.51 Eine solche zugleich subjektivistische und pragmatische Physik stellt sich der mechanizistischen Naturauffassung Newtons entgegen. Man kann behaupten, dass diese Ausweitung des Geltungsbereichs des Naturbegriffs geradezu zwangsläufig aus dem holistischen Ansatz des pragmatischen Paradigmas folgt, sodass am Ende die Bildung des hier in Rede stehenden Paradigmas zu einem radikal gewandelten ontologischen Konzept führt.52 Von nicht minder großer Bedeutung für das Denken der Spätaufklärer ist der dritte Geltungsbereich des neuen Orientierungsmodells, also der aller menschlichen Geschichte vorausliegende Naturzustand. Hierbei steht die pessimistische, vor allem von Hobbes vertretene Variante einer optimistischen Sichtweise gegenüber, wie sie insbesondere von Rousseau verfochten wurde. Beide Auffassungen haben die Spätaufklärer in ihren staats- und geschichtsphilosophischen Überlegungen stark beeinflusst. Ihre Reflexionen lassen sich dabei als Beiträge zu der das 18. Jahrhundert beherrschenden Naturrechtsdebatte auffassen.53 Bereits an diesen wenigen Ausführungen erkennt man, dass die so oft bemühte anthropologische Wende nur Teil eines umfassenden Paradigmenwechsels ist, in dem auf der Grundlage eines neuen Naturkonzepts weitreichende pragmatische Folgerungen gezogen werden und ein anderes Menschenbild entsteht, das sich u.a. in der spätaufklärerischen Anthropologie wiederfindet.54 Dieser Paradigmenwechsel, der innerhalb der Philosophie vollzogen wurde, führte zu gewichtigen Konsequenzen in verschiedenen Bereichen, von denen im Folgenden vier untersuchen werden.55 Dass das pragmatische Paradigma innerhalb der Philosophie entwickelt worden ist, hat aber zur Konsequenz, 51 52 53 54

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Freilich wird dadurch der Bereich der Metaphysik betreten, den die skeptischen Spätaufklärer als unzugänglich betrachten. Der näheren Analyse dieses zweiten Geltungsbereichs und der Übertragung von Kernelementen des pragmatischen Paradigmas von der menschlichen auf die Gesamtnatur widmet sich v.a. Kap. 2.2.2. Auf diesen dritten Geltungsbereich wird in Kap. 2.1.4 näher eingegangen. Zwar ist Heinz nur zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Das Interesse am Menschen als Forschungsgegenstand hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgreich die metaphysischen Standardthemen Gott und die Welt verdrängt; die Philosophie ist in ihren Grundzügen anthropozentrisch – und damit auch anthropologisch – geworden. Damit tritt sie jedoch in Konkurrenz zu anderen wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Disziplinen, die sich ebenfalls um die Vermittlung von ‚Menschenkenntniß‘ bemühen, wie etwa die Moralistik und ihre Erben in Popularphilosophie und Philanthropie, die medizinische Anthropologie samt der sich entwickelnden Psychologie, die Pädagogik und sogar die Literatur. Es erscheint fast unmöglich, hier noch genaue Disziplinen- oder Diskursgrenzen zu ziehen [...].“ (Heinz, Jutta: „Erzählen statt Klassifizieren“, in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 237). Aber es erscheint mir geradezu als albern, aus einem Randphänomen wie der Anthropologie Platners oder Unzers eine epochale Angelegenheit machen zu wollen. Wie ich in Kap. 3.1 ausführen werde, ist darum auch die Gattungsbestimmung des Romans des späten 18. Jahrhunderts als eines ‚anthropologischen‘ unangemessen, da mit diesem – zudem verschwommenen – Begriff nur ein Teil seiner Charakteristika erfasst wird (vgl. Heinz, 1996 u. Schings, 1980). Dieser vierfachen Unterteilung mag eine gewisse Willkür anhaften; sie ist aber zur besseren Übersicht über die komplexen Zusammenhänge notwendig.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

dass die literarischen Vertreter der Tradition der anderen Vernunft als Eklektiker anzusehen sind, die in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum philosophischen Diskurs stehen.56 Wenn auch gesagt werden muss, dass die Widersprüchlichkeit des pragmatischen Paradigmas kein Kennzeichen von Inkonsistenz, sondern Folge des spezifischen – nämlich relativistischen und perspektivistischen – Philosophiebegriffs der Spätaufklärer ist und deswegen die Identifikation eines leitenden Paradigmas keineswegs hindert, so ergibt sich aus diesem eklektischen Charakter doch die Notwendigkeit der Einbeziehung der professionellen Philosophie in die Interpretation der philosophischen Romane.57 Dabei ist, mit Feyerabend, dieser Eklektizismus oder „Opportunismus“ bloß ein anderer Ausdruck für den Relativismus58, insofern eklektische – anders als dogmatische – Traditionen sich als genau solche darstellen, „die zwar von Werten geleitet sind, aber sich nicht scheuen, diese Werte bei passender Gelegenheit zu verändern, und die die Werte anderer nicht verneinen, sondern sie gelten lassen und gelegentlich selbst übernehmen“59 In einem ähnlichen Sinn beschreibt Schmidt-Biggemann den Eklektizismus: Eklektische Philosophie ist deshalb a limine prinzipienlose Philosophie ohne Folgerungsrei60 hen, eine Sekte, um Sekten aufzuheben, eine methodenlose Methode.

Dabei lässt sich der Eklektizismus in ein Begründungsverhältnis zum Pragmatismus stellen: Das ist die erste Konsequenz des Eklektizismus: Der Kompetenzanspruch der Vernunft, auch 61 ihr Anspruch auf Wahrheit insgesamt, wird durch Praxis begrenzt.

Zuletzt muss der Eklektizismus auch in Bezug zum Skeptizismus gesehen werden, womit ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor für die Tradition der anderen Vernunft 56

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Mit der Charakterisierung der literarischen Spätaufklärung als Eklektizismus ist, wie SchmidtBiggemann betont, keineswegs eine negative Wertung verbunden. Im Gegenteil, im Eklektizismus artikuliert sich das Bewusstsein der notwendigen Geschichtlichkeit aller Konzepte: „In dieser Perspektive ist Geschichte immer die Geschichte der Vorläufer, eine Geschichte derjenigen, die schon vor mir das Richtige, das ich jetzt kenne, wußten; es ist eine Art philosophischer Ahnenforschung.“ (Schmidt-Biggemann, 1988, S. 203) Vgl. dazu auch Brenner, 1981, S. 7: „Die Literatur der Aufklärung erscheint als ein inkonsistentes Bündel von Strömungen und Gegenströmungen, dem Einheit nur als erborgte zukommt. Als eigene Epoche kann die Literatur des fraglichen Zeitraums nur begriffen werden, wenn sie konsequent [...] auf die aufklärerische Philosophie bezogen wird durch die Übertragung von deren Impulsen auf jene. Die Literatur wäre dann Fortführung der Philosophie mit anderen Mitteln, und in der Tat scheint dies das einzige Kriterium zu sein, das die Abgrenzung der aufklärerischen Literatur als einer eigenen Epoche erlaubt.“ Feyerabend, 1980, S. 140: „Der Relativismus ist nichts anderes als eine gelehrte Fassung eines naiven und fruchtbaren Opportunismus.“ Ebd., S. 136. Schmidt-Biggemann, 1988, S. 204. Ebd., S. 207. Der Begründungszusammenhang zwischen Eklektizismus und Pragmatismus ist freilich ein wechselseitiger, d.h. der Eklektizismus ist gleicherweise Konsequenz des Pragmatismus.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

65

genannt wäre. Sofern man nicht bereit ist, schon den vorplatonischen Erkenntnisbegriff des Protagoras62 als Quelle dieser Tradition zu betrachten, rührt dieser Einfluss vom spätantiken Skeptizismus her. Infolge dessen artikuliert sich die Tradition der anderen Vernunft zur Zeit der Spätaufklärung nicht nur als ein eklektischer, sondern zugleich als ein skeptischer Diskurs. Bereits bei Diderot findet sich diese enge Wahlverwandtschaft von Skeptiker und Eklektiker: Die Skeptiker und die Eklektiker können als gemeinsame Devise wählen: nullius addictus iurare in verba magistri. Aber die Eklektiker [...] ziehen ihren Profit aus vielen Ideen [...] und sie fügen dieser Devise eine zweite hinzu, durch die sie ihren Gegnern Recht tun wollen, ohne die Denkfreiheit zu opfern, auf die sie so stolz sind: Nullum philosophum tam fuisse inanem qui non videre ex vero aliquid. Wenn man diese beiden Philosophentypen vergleicht, sieht man, daß der Skeptizismus der Stein des Anstoßes für den Eklektizismus ist; der Eklektiker sollte deshalb stets an der Seite des Skeptikers gehen, um all die Scherben einzusammeln, die 63 sein Freund nicht völlig zerstört hat „par la sévérité des ses essais“.

Zielpunkt der spätaufklärerischen Bemühungen ist aber allemal ein „verantwortlicher“ und „glücklicher“ Skeptizismus, der die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis nicht als Anlass zur Verzweiflung, sondern als Bedingung eines gelungenen Lebens ansieht.64 Doch die bloße Nennung der philosophischen Einflussfaktoren, denen sich mit guten Gründen andere anfügen ließen, trägt im Grunde ebenso wenig aus wie die Charakterisierung der Spätaufklärer als Eklektiker. Denn innerhalb der Tradition der anderen Vernunft werden diese Einflussfaktoren auf z.T. radikale Weise umgeformt. Festgehalten werden sollte an dieser Stelle nur, dass die philosophischen Romane der Spätaufklärung gegenüber der avancierten Philosophie des 18. Jahrhunderts zunächst rein eklektisch sind. Dies haben sie gemein mit der Popularphilosophie, über deren Vermittlung die literarischen Spätaufklärer die neuen philosophischen Entwicklungen häufig rezipieren. Allerdings ziehen sie aus ihrer Rezeption derartiger philosophischer Theorien wie des Pragmatismus, Empirismus, Materialismus oder Skeptizismus die Konsequenz, dass allein der poetische Diskurs, genauer der Roman die solchen philosophischen Positionen angemessene Diskursform darstellt. Die Spätaufklärer begnügen sich also nicht damit, auf eklektische Weise aus den genannten philosophischen Theorien das zu bilden, was wir das pragmatische Paradigma genannt haben, sondern ihre zentrale Leistung besteht in der Wahl des Romans als der diesem Paradigma adäquaten Diskursform. Dabei gesellt sich der ersten Form des Eklektizismus des philosophischen Romans (gegenüber der Philosophie) eine zweite hinzu – derjenigen nämlich gegenüber dem Roman überhaupt, den sie als eine ausgebildete, wiewohl noch nicht abgeschlosse62 63 64

Zum vorplatonischen Erkenntnisbegriff vgl. Fritz, 1938, Snell, 1924 sowie Feyerabend, 1989, S. 145 ff. Schmidt-Biggemann, 1988, S. 217 (vgl. auch den Artikel Éclectisme in der Diderot-d‘Alembertschen Encyclopédie, auf die Schmidt-Biggemann hier Bezug nimmt (Bd. 5, 1755, S. 270 b)). Auf den Skeptizismus der Spätaufklärer kommen wir noch mehrfach zurück, v.a. in Kap. 2.1.2.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ne Gattung bereits vorfinden. So lässt sich das, was Dirscherl über die Romane Voltaires, Rousseaus und Diderots schreibt, auf den philosophischen Roman der Spätaufklärer übertragen: Die Philosophen reagieren lediglich auf eine Gattung, die andere bereits zum insgeheim dominanten Genus einer im Umbruch befindlichen Gattungshierarchie gemacht haben. Insofern läßt sich behaupten, daß der aufklärerische Roman keine Gattung, sondern ein wohlüberlegter Reflex der herrschenden Gattungspraxis ist. Auf sie zielt die den Texten inhärente Kritik ab, und mit den ästhetischen Normen und Erwartungen, die diese Praxis schuf, rechnet auch die Romanpraxis der Philosophen. Konventionelle Strukturen werden aufgrund neuer Intentionen z.T. sicherlich modifiziert. Stets wird man aber hinter jedem Roman eines Philosophen einen 65 bereits wohl etablierten Romantyp des 18. Jahrhunderts wiedererkennen.

Die Literatur fungiert hierbei, indem sie die aufklärerische „Utopie der ganzen, ungeteilten Subjektivität“66 bewahrt, als jener Ort, an dem der harmonische consensus von Herz und Vernunft wiederhergestellt werden soll. Dadurch aber, dass sie dieses spezifisch anthropologische Anliegen realisiert, erweist sie sich als die dem neuen Paradigma allein angemessene Diskursform. Damit aber wird die Literatur enorm aufgewertet. Siegrist schreibt deshalb richtig: Mit ihrem notwendigen Bezug auf Wahrheit und ihrer belehrenden, aufklärenden Funktion stellt sich die Dichtung an die Seite von Philosophie und Wissenschaft, die das gleiche auf der 67 abstrakten Ebene betreiben.

Die Gattung des philosophischen Romans erscheint einigen Autoren der Spätaufklärung demnach als diejenige Diskursform, die auch auf der Ebene der Erkenntnisvermittlung die pragmatische Wende der Philosophie vollzieht. Dass sich die Spätaufklärer der Gründe ihrer Diskurswahl weitgehend bewusst waren, zeigt sich beispielsweise an der Unterscheidung Wezels zwischen Literatur, Historie und Philosophie: Individuelle Thatsachen oder Fakta, das heißt, Gedanken, Empfindungen, Entschließungen, Handlungen, Begebnisse, die einer bestimmten oder erdichteten Person angehören, willkührlich zu einem Ganzen anzuordnen und dabey blos die höchste Wirkung auf den Leser und sein Ergötzen vor Augen haben, ist poetische, dichterische Darstellung. Individuelle Thatsachen unverändert und in der Ordnung erzählen, wie sie geschahen, ohne einen andern Zweck, als daß der Leser sie kennen lernt und den Effekt fühlt, den die Sachen an und für sich thun können, heißt historische Darstellung: allgemeine Fakta (z.B. Naturerscheinungen) und Räsonnements in der Absicht vorgetragen, um in dem Leser allgemeine Ideen und Spekulationen zu erwecken, ist die philosophische. (Wezel, Epistel, S. 161)

Nur in der Gattung des Romans wird nach Überzeugung der Spätaufklärer jene umfassende Kontextualisierung und Relativierung des Denkens vorgenommen, die einer pragmatischen Auffassung vom Menschen qua Naturwesen angemessen ist: Indem die 65 66 67

Dirscherl, 1985, S. 13. Vgl. Grimminger, 1982, S. 135 ff. Siegrist, Christoph: „Ethik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten“, in: Grimminger (Hrsg), 1980, S. 286.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

67

Philosophie in den lebenspraktischen Kontext zurückgenommen und nur mehr noch relativ auf den individuellen Menschen verstanden wird, geht es nicht mehr allein um das philosophische Denken selbst, sondern um den Hervorgang dieses Denkens aus der Lebensgeschichte und den -umständen des Menschen sowie um seine Integration in verschiedenen Handlungskontexten68, als deren Kehrseite die radikale Ablehnung aller metaphysischen Spekulation erscheint. Was aber eignet sich für die Vermittlung solch einer pragmatischen Philosophie besser als der Roman? Hier allein kann, in einer fiktionalen Welt, anhand des Figurenpersonals vorgeführt werden, was eine kontextualisierte Philosophie bedeutet; hier erst, im Roman der Spätaufklärung, wird in concreto sichtbar, wie die lebenspraktische Anbindung der Philosophie funktioniert.69 Damit einher geht eine allgemeine Tendenz zur Psychologisierung des Romangeschehens. Denn wo mit der Philosophie im buchstäblichen Sinne die Probe aufs Exempel gemacht wird, wo sie, mit Marx zu sprechen, vom Kopf auf die Füße gestellt wird, wo sie also integriert wird in einen lebenspraktischen Kontext, da rückt naturgemäß die psychische Genese aller intellektuellen Konzepte so wohl wie ihre Rolle in den fiktionalen Handlungs- und Entscheidungssituationen in den Fokus des Interesses. Aus dieser „epischen Integration“ erklärt sich die Wahlverwandtschaft des philosophischen mit dem Entwicklungsroman – am deutlichsten sichtbar im Agathon Wielands sowie im Tobias Knaut Wezels, aber auch in der Geschichte eines Teutschen von Klinger.70 Dadurch jedoch erhält die Darstellung philosophischer Positionen eine narrative Struktur, die man deshalb als eine notwendige Konsequenz des holistischen Ansatzes des pragmatischen Paradigmas auffassen kann. Man könnte auch sagen: Dadurch, dass der kontextualistische und holistische Ansatz des pragmatischen Paradigmas notwendig auf eine narrative Struktur verweist, wird klar, dass der Roman die zwangsläufige diskurslogische Konsequenz dieses Paradigmas ist. Eine Parallele hierzu lässt sich in den Subjektivitätstheorien des frühen Deutschen Idealismus sehen: Den Versuch, ausgehend vom Primat des Praktischen vor dem Theoretischen eine ‚pragmatische Geschichte des Selbstbewusstseins‘ zu entwickeln, innerhalb derer die Setzung des Ich als Tathandlung

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Für diese Einbeziehung der gesamten Affektivität sowie des Netzes der Meinungen und Vorurteile in die Erkenntnistheorie hat Wezel den Begriff des Sehrohrs geprägt, in dem sich bereits der Übergang von der Subjektivitätsphilosophie zu einer pragmatischen Erkenntnistheorie manifestiert und der den ganzen Menschen als Bedingungsgefüge seiner Erkenntnis betrachtet (vgl. TK, IV, Anhang I, S. 54*). Dies nimmt zunächst, unter dem Einfluss des Materialismus, die Form einer Physiologie der Erkenntnis an, für die die in den Texten der Spätaufklärung allenthalben begegnende Maschinenmetapher steht; diese ‚Philosophie des Leibes‘ erfährt aber alsbald eine Erweiterung zu einer umfassenden Psychologisierung des Erkennens (vgl. hierzu das Kapitel 2.1.2). Die radikale Skepsis der Spätaufklärer gegenüber der Bildungs- und Erziehungsfähigkeit des Menschen lässt sie in eigentümlicher Weise zwischen einem extremen Determinismus und einer Auffassung des Menschen als eines – wie Nietzsche es später nannte – „noch nicht festgestellte[n] Thier[s]“ (Nietzsche, 1988, Bd. 5, S. 81) schwanken (vgl. hierzu Kap. 2.1.3).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

bestimmt wird, kann man durchaus als Ausdruck narrativen Denkens innerhalb der Philosophie auffassen.71 Die aus dem holistischen Ansatz des pragmatischen Paradigmas notwendig folgende narrative Struktur verweist dabei auf ein Konzept von personaler Identität, das die philosophischen Identitätsmodelle des 18. Jahrhunderts in entscheidender Weise überschreitet. Laut Ricœur lässt Selbigkeit sich entweder als numerische oder qualitative Identität auffassen. Voraussetzung der letzteren ist eine „ununterbrochene Kontinuität [..] zwischen dem ersten und dem letzten Entwicklungsstadium dessen, was wir für das dasselbe Individuum halten“. Sie gründet sich also, so Ricœur weiter, auf das Prinzip der Beständigkeit in der Zeit und manifestiert sich zum einen in der Fähigkeit zum Versprechen, zum andern in der Ausbildung des Charakters72, wodurch eine Reidentifikation anhand von Habitualität und Gewohnheit73 ermöglicht werde. Deswegen impliziert sie für Ricœur eine Geschichte und verweist auf eine narrative Identität.74 Dieses Konzept der narrativen Identität besagt, dass allein die Erzählung eines Lebens die Frage nach der personalen Identität beantworten könne.75 Dies jedoch geschieht notwendig in immer neuer Weise, da unser Leben in immer wieder anderen Versionen erzählt werden kann: Die „Geschichte eines Lebens [wird] unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt.“76 Dem zufolge handelt es sich bei der narrativen Identität um „keine stabile und bruchlose Identität“, da man „für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen“ kann.77 Es entsteht eine „zirkuläre Beziehung zwischen dem [...] Charakter [...] und den Erzählungen [...], die diesen Charakter gleichzeitig ausdrücken und formen“. Infolge dessen bezeichnet Ricœur die narrative Identität auch als „die poetische Lösung des hermeneutischen Zirkels“78:

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72 73

74 75 76 77 78

Vgl. dazu Kap. 2.2.5. Laut Schwanitz ist für Hegels Phänomenologie des Geistes die Geschichte „ein sich selbst vorwärts treibender Prozeß der Aufklärung über sich selbst [..], der erst am Ende im Zustand völliger Selbsttransparenz zur Ruhe kommt“. Damit aber folge die Phänomenologie in ihrer Darstellung des dialektischen Prozesses der Geschichte den Erzählkonventionen des Romans, insofern dieser in ihrer „ständig neu aufgefüllte[n] Differenz zwischen enger Erzählperspektive und erweiterter Erzählperspektive“ ebenfalls eine dialektische Methode anwende (vgl. Schwanitz, 1990, S. 183). Dieser Gedanke findet sich auch in Nietzsches Genealogie der Moral (vgl. Nietzsche, 1988, Bd. 5, S. 291 ff). Habitualität und Gewohnheit werden von Ricœur verstanden als die „Gesamtheit der erworbenen Identifikationen [...] mit Werten, Normen, Idealen, Vorbildern, Helden, in denen Person und Gemeinschaft sich wiedererkennen“ (vgl. Ricœur, 1996, S. 144). Zu den vorstehenden Ausführungen vgl. Ricœur, 1996, S. 144 ff. Vgl. Ricœur, 1988 ff, Bd. 3, S. 395: „Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an.“ Ebd., S. 396. Ebd., S. 399. Ebd., S. 398.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

69

Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, 79 die die Identität der Figur bewirkt.

Daher gehen Identitätsverlust des Charakters und Konfigurationsverlust der Erzählung parallel.80 Man kann auch sagen, dass sich Charakter und Erzählung innerhalb des Konzepts der narrativen Identität in einem dialektischen Verhältnis befinden.81 Dabei lässt sich mit Ricœur behaupten, dass die narrative Identität „bewirkt, daß die Kontingenz des Ereignisses zur in gewissem Sinne nachträglichen Notwendigkeit einer Lebensgeschichte beiträgt, der sich die Identität der Person angleicht“.82 Entsprechend ist „das narrative Ereignis durch sein Verhältnis zum Konfigurationsprozeß selbst definiert“: es erscheint zugleich als „Quelle der Diskordanz, insofern es in Erscheinung tritt“, und als „Quelle der Konkordanz, insofern es zum Fortgang der Erzählung beiträgt“. Dadurch lässt sich ein „Umschlag des Kontingenzeffektes in einen Notwendigkeitseffekt“ beobachten – jedoch nur „im nachträglichen Verständnis, wenn es durch die gewissermaßen rückwirkende Notwendigkeit, die sich aus der zu Ende geführten zeitlichen Totalität ergibt, verklärt wurde“.83 Wie schon Aristoteles sagte84, kann über das Leben und den Charakter einer Person nur vom Ende, nämlich vom Ende seiner ‚Lebenserzählung‘ her ein Urteil gefällt werden – erst dann ründet sich das Leben zu einem notwendigen Ganzen. So lässt sich laut Ricœur eine „innere Dialektik der Figur“ zwischen Konkordanz als Einheit ihres Lebens und Diskordanz als Bedrohung dieser Totalität durch unvorhersehbare Ereignisse erkennen.85 Deshalb erscheint Ricœur die narrative Identität als eine „Form von Identität, die Personen oder Gemeinschaften zugeschrieben werden kann, ohne daß man sich in den Problemen verfängt, die durch die Annahme eines selbstidentischen Subjekts entstehen“86: [E]s kann nicht darum gehen, daß das Lob der Erzählung heimlich den Anspruch des konstituierenden Subjekts wiederbelebt, den Sinn zu beherrschen. [...] [Aber] es kann auch nicht darum gehen, daß das Eingeständnis der Grenzen der Erzählung, das mit dem Eingeständnis des 87 Mysteriums der Zeit einhergeht, dem Obskurantismus Vorschub leistet.

Trotzdem wird dadurch die „Möglichkeit des Daseins, ein Ganzes zu sein“, erfüllt: Unter der Voraussetzung der Sterblichkeit stellt allein die narrative Identität eine Verbindung zwischen dem ‚Ganzsein‘ und dem ‚Sein zum Tode‘ her, von denen Heidegger spricht; somit ist sie auch Voraussetzung jener Entschlossenheit gegenüber dem Tod, 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Ricœur, 1996, S. 182. Ebd., S. 183. Ebd., S. 203. Mattern, 1996, S. 203 (FN 253). Vgl. Ricœur, 1996, S. 175 sowie S. 181. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098 a 16 ff. Ricœur, 1996, S. 181 f. Vgl. Mattern, 1996, S. 175. Ricœur, 1988 ff, Bd. 3, S. 437.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

die Heidegger als höchsten Erweis von Eigentlichkeit betrachtet.88 Im Rahmen des Romanerzählens verweist das Konzept der narrativen Identität insofern auf den von der (Auto-)Biographie inspirierten Entwicklungsroman – ein Modell, das auch von den philosophischen Romanen der Spätaufklärung adaptiert wird. Gerade in dieser neu begründeten Gattung wird ein Selbst vorgeführt, „das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat“89 und auf deren Basis es nun seine Lebensgeschichte erzählt. Als Paradebeispiel für solch einen ‚philosophischen Bildungsroman‘ kann Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen angesehen werden, in dem sich der Anspruch, eine Geschichte der sokratischen Schule zu schreiben, die in eine Gesamtdarstellung der antiken Kultur eingebettet ist, nicht nur mit einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie insbesondere Kantischer Prägung, sondern zugleich mit der Entwicklung eines pragmatischen Philosophieverständnisses verknüpft: Diesen und einer Menge anderer Klippen und Untiefen, zwischen welchen die Platonische Filosofie, unter beständiger Gefahr zu scheitern oder auf dem Sande sitzen zu bleiben, sich durcharbeiten muß, entgehen wir andern ächten Sokratiker freylich durch den großen Grundsatz unsers Meisters: bloß über die menschlichen Dinge menschlich zu filosofieren, und die göttlichen, als über unsern Verstand gehend, unbesorgt den Göttern zu überlassen: aber wir bekennen uns dadurch auch zu einer Unwissenheit, die uns mit den ungelehrten Idioten in eine Reihe stellen würde, wenn wir nicht wenigsten dieß voraus hätten, daß wir die Ursachen kennen, warum diese Unwissenheit unvermeidlich ist. (WW, XI, 36, S. 224)

Diese „Verteidigungsschrift der Aufklärung gegen im Gefolge Kants erhobene Ansprüche der Philosophie auf eine Grundlagendisziplin“90 wird vorgeführt anhand der Bildungsgeschichten des Figurenpersonals: Ihre verschiedenen Lebenskonzepte spiegeln die philosophischen Denkweisen, denen sich der Roman in seinen diskursiven Passagen ausführlich widmet. Müller ist deshalb zuzustimmen, wenn er sagt, dass in den späten Romanen Wielands keineswegs „beliebige Meinungen nebeneinandergestellt“ werden, sondern diese Meinungen „Ausdruck einer bestimmten Philosophie“91sind, in deren Rahmen die Protagonisten ihre Erfahrungen zu deuten versuchen. Die verschiedenen philosophischen Systeme, die im Aristipp vorgestellt werden, sind daher in erster Linie Ausdruck der Lebenskonzepte der Protagonisten: [S]o wie er als vollendeten Ausdruck des Individuums gerade das System versteht, das doch seinem Wesen nach auf etwas Allgemeines zielt, so setzt er den einzelnen Fall stets in Beziehung zu anderen vergleichbaren Fällen, so sucht er im Besonderen allgemeine Strukturen; seine Überzeugung ist aber: der wahre Dichter „studiert die Moral im Menschen, und nicht den Menschen in der Moral“. Nicht ein vorgegebenes Allgemeines wird durch ein Besonderes 88

89 90 91

Vgl. ebd., S. 405. Dennoch wird das (narrative) Selbst von Ricœur zugleich als wesentlich „weltoffen“ bestimmt, d.h. sein Weltbezug ist „ein Verhältnis der totalen Betroffenheit: Alles betrifft mich“ (ebd., S. 378). Ebd., S. 396. Reemtsma, 1992, S. 111. Vgl. Müller, 1971, S. 77.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

71

exemplifiziert, sondern im Besonderen werden die verschiedenen möglichen Formen eines erst 92 noch zu bestimmenden Allgemeinen gesucht.

Insofern also erst das philosophische System – und nicht die einzelne Meinung – Ausdruck der individuellen Form eines Menschen ist, erscheint der Philosoph bei Wieland als „der typische Vertreter der menschlichen Natur“93. Unseren Ausführungen zufolge verlangt das pragmatische Paradigma notwendigerweise nach einer narrativen Struktur und verweist dadurch mit ebensolcher Notwendigkeit auf das Konzept der narrativen Identität. Die narrative Identität kann also als Bindeglied zwischen dem pragmatischen Paradigma und der Gattung des philosophischen Romans angesehen werden. Konsequenz dessen ist, dass innerhalb des philosophischen Romans die diskursiven Passagen, die jenes pragmatische Paradigma artikulieren, zugleich die spezifischen Mittel des Romanerzählens und dadurch die Gründe der Diskurswahl reflektieren. Dadurch entsteht das Phänomen der Autoreflexivität, durch das der diskursive Gehalt und die Erzählmittel innerhalb des philosophischen Romans der Spätaufklärung in ein Begründungsverhältnis geraten und das später eine solch umfassende Bedeutung für die Entwicklung sowohl der klassischen Autonomieästhetik als auch der romantischen Transzendentalpoesie haben sollte. Diesem Phänomen der Autoreflexivität können wir uns in gebührender Weise jedoch erst dann widmen94, wenn wir den diskursiven Gehalt der philosophischen Romane auf vier verschiedenen Ebenen ausführlich analysiert haben. In den folgenden Kapiteln werden wir uns daher nacheinander erkenntnistheoretischen, handlungs- und moraltheoretischen, staats- und geschichtsphilosophischen sowie ästhetischen Fragestellungen zuwenden – damit zugleich die Konsequenzen des Paradigmenwechsels auf unterschiedlichen philosophischen Feldern und ihre Behandlung in den spätaufklärerischen Romanen näher betrachtend.

92 93 94

Ebd., S. 113. Vgl. auch ebd., S. 196. Ebd., S. 77. Dies erfolgt entsprechend in Kap. 2.1.6 – allerdings werden wir uns im Laufe der Darstellung des pragmatischen Paradigmas immer wieder auch den diskurslogischen Konsequenzen des Paradigmenwechsels widmen.

2.1.2 Das Konzept der anderen Vernunft. Die pragmatische Wende in der Erkenntnistheorie und das funktionalistische Rationalitätskonzept Hat der alte Königsberger Krittler die Vernunft kritisirt und ihr die Flügel beschnitten; – gut! so erfinden wir eine neue Vernunft, von der bis dahin noch kein Mensch etwas gehört hatte [...]. Die alte, auskritisirte Vernunft aber, die degradiren wir, nennen sie Verstand und schik1 ken sie promeniren.

Die neuzeitliche Erkenntnistheorie hatte sowohl in ihrer rationalistischen als auch in ihrer empiristischen Variante den Status einer Fundamentaldisziplin. Dabei war sie bereits bei Descartes, erst recht aber bei Kant und seinen Nachfolgern am Konzept des Subjekts orientiert. Im Rahmen dessen wurde das sogenannte Vorstellungsparadigma entwickelt, das bis ins 20. Jahrhundert maßgeblich blieb. Vereinfachend lässt sich sagen, dass die Leitmetapher dieser Erkenntnistheorie das Bild des Spiegels war. Das Ziel war eine adäquate Erkenntnis dessen, was der Fall war – und zu diesem Zweck musste das Erkenntnisvermögen vermessen und wie ein Spiegel poliert werden: The picture which holds traditional philosophy captive is that of the mind as a great mirror, containing various representations – some accurate, some not – and capable of being studied by pure, nonempirical methods. Without the notion of the mind as mirror, the notion of knowledge as accuracy of representation would not have suggested itself.2

Wird nun eine derartige Erkenntnistheorie pragmatisch gefasst, so gelangt, um im Bild zu bleiben, die ‚Rückseite des Spiegels‘3 in den Fokus des Interesses. Das Bedingungsgefüge menschlicher Erkenntnis zu untersuchen, bedeutet innerhalb des pragmatischen Paradigmas jedoch nicht mehr nur die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis in ihrer kategorialen Form zu analysieren, sondern die gesamte menschliche Vermögensausstattung als das Erkennen bedingend zu begreifen. Auf diese Weise wird der Intellekt in die Biostruktur integriert und daraus ein Funktionsbegriff der Rationalität abgeleitet. Indem diesem Rationalitäts- ein existentieller Erkenntnis- sowie ein pragmatischer, mit der Korrespondenztheorie brechender Wahrheitsbegriff an die Seite gestellt, die vom Empirismus ausgehende „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ zu einem Perspektivismus der Interessen bzw. zu einer Theorie der lebensnotwendigen Illusionen verschärft und schließlich die Kritik der reinen Vernunft durch eine umfassende Physiologie der Erkenntnis ergänzt wird, kommt zur transzendentalphilosophischen Wende, die kopernikanische zu vollenden, nun noch die pragmatische, nach der der Praxis vor der Theorie das Primat zukommt. 1 2 3

Schopenhauer Werke, Bd. 3, S. 51 f. Rorty, 1980, S. 22. Diese zur Kennzeichnung seiner ‚evolutionären Erkenntnistheorie‘ verwendeten Metapher von Konrad Lorenz wird, wie wir auch im Zusammenhang der Moralphilosophie sehen werden, mit Bedacht verwendet (vgl. Kap. 2.1.3).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

73

Für die Untersuchung solch einer holistisch verfassten Erkenntnistheorie, die nach der Funktion des Erkennens im Gesamt des menschlichen Lebens fragt, ist es aber unumgänglich, weitere Differenzierungen vorzunehmen. So entwickelt die funktionalistische Rationalitätstheorie den Begriff einer anderen Vernunft, indem durch die Integration der Rationalität in die Biostruktur des Menschen die Vernunft funktional auf radikal veränderte Weise charakterisiert wird. Durch eine solche – naturalistisch zu nennende – Vernunfttheorie wird die Rationalität an die Welt der Erfahrung bzw. an die alltägliche Lebenswelt gebunden. Die Kehrseite dessen ist die Ablehnung aller metaphysischen Spekulation. Die funktionalistische Rationalitätstheorie kann insofern als eine Fortsetzung des kritischen Unternehmens Kants bezeichnet werden. Mehr noch, sie muss als explikative Theorie zum Philosophem von den unübersteiglichen Schranken der Vernunft angesehen werden: Durch den Aufweis der bloß dienenden Rolle der Vernunft bzw. der weitgehenden Abhängigkeit der Rationalität von der Affektivität des Menschen wird erklärt, warum die Vernunft immerdar unfähig zu metaphysischen Spekulationen bleiben muss. An dieser Kontinuität zwischen dem Kantischen Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft und der funktionalistischen Rationalitätstheorie des pragmatischen Paradigmas zeigt sich, dass die „Geschichte des Nachdenkens über die Vernunft“ immer eine „Geschichte ihrer Kritik“4, diese Kritik von den Anfängen bis über Kant hinaus jedoch stets eine Kritik der spekulativen Vernunft war. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass jede rationale Rationalitätskritik – und als eine solche hat diejenige Kants zu gelten – „immer zugleich als Rationalitätsbeweis des animal rationale, das sie vorbringt“5, zu verstehen ist, während eine funktionalistische Vernunftkritik zeigen will, dass der menschlichen Rationalität etwas zutiefst Irrationales zugrunde liegt. Die funktionalistische Rationalitätstheorie des pragmatischen Paradigmas ist also einer ‚Philosophie der Immanenz‘ verpflichtet. Man kann sie auch als eine Theorie der instrumentellen Vernunft charakterisieren – allerdings als eine solche, die sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte dieser instrumentellen Rolle der Vernunft aufzuzeigen versucht. Nicht allein von Missbrauch der menschlichen und außermenschlichen Natur, wie später bei Adorno und Horkheimer6, ist hier die Rede, sondern auch von den wohltuenden Folgen einer Ablehnung des transzendenten Vernunftgebrauchs. Die Redeweise von der ‚anderen Vernunft‘ ist darum so zu verstehen, dass diese Vernunft ‚anders‘ ist nur im Hinblick auf die kontextuelle Funktion der Rationalität, nicht jedoch hinsichtlich ihrer internen Struktur. Diese Unterscheidung zwischen interner Struktur und externer Funktion der Rationalität zeichnet bereits Kants Unternehmen einer Grenzbestimmung der Vernunft im Spannungsfeld zwischen Erfahrung und Spekulation aus. Strikter jedoch als dort, wo die Erkenntnis auf die empirische Sphäre be4 5 6

Schnädelbach, 1994, S. 103. Ebd., S. 114. Vgl. Adorno/Horkheimer, 1969.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

schränkt wird, sind die Grenzen im pragmatischen Paradigma durch die Praxis bzw. die alltägliche Lebenswelt gezogen. Als Komplement der funktionalistischen Rationalitätstheorie wird im Rahmen des pragmatischen Paradigmas eine funktionalistische Wahrheitstheorie formuliert. Ihr pragmatischer Wahrheitsbegriff hat dabei einen doppelten Sinn: Zum einen wird das Prädikat ‚wahr‘ als extensional gleichbedeutend mit dem Prädikat ‚gut für uns‘ angesehen – ein Instrumentalismus, der durchaus auch moralische Aspekte umfasst; zum andern wird als ‚wahr‘ nur mehr noch das bezeichnet, was als gut resp. vernünftig begründet im Hinblick auf einen bestimmten (begründenden) Kontext gelten kann, wohingegen ein nicht-kontextualisierter, absoluter Wahrheitsbegriff als der menschlichen Erkenntnis nicht angemessen, weil nicht verfügbar abgelehnt wird. Es handelt sich demnach zugleich um eine holistische Wahrheitstheorie. Sowohl die Rationalitäts- als auch die Wahrheitstheorie des pragmatischen Paradigmas resultieren aus der Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Selbstaufklärung der Vernunft. Diese Selbstaufklärung der Vernunft kann nach Auffassung der Spätaufklärer nur über eine Selbstaufklärung über ihre eigenen Grenzen erfolgen. Die Grenzen der Rationalität und damit die Bedingungen der Möglichkeiten der Erkenntnis können aber wiederum nur über eine funktionalistische, dem Holismus verpflichtete Theorie verstanden werden. Nach Dafürhalten der literarischen Spätaufklärer kann dies jedoch nicht in philosophisch argumentierenden Texten, sondern vornehmlich auf dem Gebiet der Literatur, insbesondere des Romans erfolgen.7 Innerhalb des philosophischen Romans manifestieren sich der funktionalistische Vernunftbegriff und die darauf basierende negative Haltung gegenüber der metaphysischen Spekulation auf diskursiver Ebene vor allem im Umgang mit dem Generalproblem des 18. Jahrhunderts – der Schwärmerei – sowie in der Theorie der lebensnotwendigen Illusionen. So wird die alte Frage des Pangloss „Wer weiß, wofür es uns gut ist?“ an die ideologischen Konzepte selbst gerichtet und die ‚Wahrheit‘ in pragmatischer Weise in eine ‚Wahrheit für uns‘ umgeschrieben.8 Die Ambivalenz des funktionalistischen Begriffs der Vernunft zeigt sich in diesen Romanen darin, dass auf der einen Seite dem Konzept der – positiv gewerteten – Bindung der Rationalität an die Lebenswelt durch Kontextualisierung und epische Integration der diskursiven Passagen Genüge getan wird, auf der anderen Seite der negativ aufgefassten Instrumentalisierung der Vernunft mit satirischen Entlarvungstechniken zu Leibe gerückt wird. Die funktionalistische Rationalitätstheorie erweist sich dabei sowohl in den literarischen als auch in den philosophischen Texten der Tradition der anderen Vernunft als eine Form des skeptischen Diskurses. Schnädelbach weist auf die „Wirkungslosigkeit

7 8

Dieses Thema wird insbesondere in Kap. 2.1.6 näher beleuchtet. Gerade im Belphegor Wezels werden die unterschiedlichen Weltauffassungen zu lebensnotwendigen Illusionen relativiert, für die sich zwar Ursachen, aber keine Gründe angeben lassen (vgl. Wezel, B, II, S. 283).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

75

des Arguments des performativen Selbstwiderspruchs gegen die funktionalistische Vernunftdeutung“ hin: Selbstbezug ist eben nicht unter allen Bedingungen antinomienverdächtig, sondern nur unter denen bestimmter Totalitätsvoraussetzungen: Nur wenn Vernunft das Ganze ist und das Ganze vernünftig, führt es in Widersprüche, die Vernunft bloß als Funktion von etwas anzusehen, das nicht Vernunft wäre. Die funktionale Vernunft hingegen versteht sich als endliche und dezentrierte Vernunft und kann sich darum ohne Selbstwiderspruch auch zum empirischen 9 Thema werden.

Während bei Schelling und Hegel die Kritik der kritischen Vernunft zwar durchaus als deren Selbstkritik betrieben wurde, zugleich aber der Rehabilitierung der spekulativen Vernunft dienen sollte und dem gemäß der terminus ad quem ihrer Rationalitätskritik die absolute Vernunft war10, soll die Kritik der funktionalen Vernunft die Vernunft als eine bloße Funktion des Vernunftlosen erweisen.11 Sofern sie spekulativ wird, führt sie auf eine Metaphysik des Irrationalen, wie wir sie beim späten Schelling, Schopenhauer oder Nietzsche finden. Bleibt sie hingegen empirisch und untersucht die Vernunft als „endliche und dezentrierte“, entwickelt sie sich zu einer Anthropologie der Vernunft12, wie wir sie in der literarischen Spätaufklärung erkennen können. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle, welche die empiristisch und subjektivitätstheoretisch verfasste Erkenntnistheorie bei der Herausbildung des pragmatischen Paradigmas spielt, ist es nicht erstaunlich, dass sich beide Aspekte – Subjektzentrierung und empiristischer Grundansatz – auch bei den literarischen Spätaufklärern finden. Die bereits zitierte Äußerung Wezels über seine intellektuellen Wurzeln, wonach er seinen gesamten cursus philosophiae Locke und Unzers Physiologie zu verdanken habe13, zeigt die starke Beeinflussung der Spätaufklärer durch den über die Anthropologie vermittelten Empirismus deutlich. Entsprechend klar bekennt sich Wezel zur Erfahrung als dem Königsweg menschlicher Erkenntnis: Nachdem der menschliche Geist so viele Jahrhunderte herumgeirrt war, um das zu ergründen, was er nicht wissen soll, sah er erst in unserm ein, was er wissen kann: viele tausend Jahre lang suchte er den Weg zur Wahrheit und fand ihn erst in unserm Zeitalter – den Weg der Beobachtung und Erfahrung. [...] Hier stehn Herkules Säulen: weiter hinaus ist alles Dampf und Nebel. (Wezel, Versuch, S. 27 f)

Ebenso eindeutig fällt Wezels Anschluss an die empiristische Tradition aus: Alles, was sich nicht auf Beobachtung und Erfahrung oder auf Schlüsse aus Erfahrungen und solchen Grundsätzen gründet, die das Resultat von einer Menge gleichförmiger Erfahrungen sind, gilt bey mir für keine Philosophie: in diesem Gesichtspunkte betrachte ich Leibnitzen und alle Philosophen, und habe daher schon längst alle aus meiner Liste der Philosophen aus9 10 11 12 13

Schnädelbach, 1994, S. 120 f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117 ff. Ebd., S. 124. Vgl. Wezel, Epistel, S. 225; zit. im vorangegangenen Abschnitt.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil gestrichen, außer den griechischen Weltweisen und einigen Neuern von Locke an. (Wezel, Epistel, S. 224)

An die Seite dieser „Apologie für die Sinnlichkeit“14 ist das Bekenntnis Wezels zum subjektivitätsphilosophischen Ansatz zu stellen, das er mit ebensolcher Deutlichkeit formuliert: Da ich aber von allen Dingen außer meiner Vorstellung nichts weis, als was mich mein Bewußtseyn lehrt, so macht die Summe meiner Vorstellungen meine Welt aus; und das Ganze, was der Mensch Welt nennt, muß also viel kleiner seyn als die wahre. (Wezel, Versuch, 15 S. 29)

Diese idealistische Grundhaltung trifft man in nuce auch bei Wieland an. So bemerkt der Erzähler im Agathon: So irrig, so lächerlich und kindisch es ist, wenn wir uns einbilden (und doch bilden sich das die Meisten ein) daß der Mensch die Hauptfigur in der ganzen Schöpfung und alles andere bloß seinetwillen da sei – – So natürlich ist hingegen, daß er es in dem besonderen System seiner Ideen ist. In dieser kleinen Welt ist und bleibt er, er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunct – – der Held des Stücks, auf den alles sich bezieht, und dessen Glück oder Fall al16 les entscheidet. (Wieland, A, S. 545)

Wezel wiederum verknüpft seine idealistische Position, wonach „jeder Mensch [...] eine Welt für sich“ (Wezel, WA, II, S. 156) sei, mit moralphilosophischen bzw. handlungstheoretischen Überlegungen sowie mit dem dabei sich stellenden Problem der Intersubjektivität: Man sieht die Welt durch die Höhlung eines Pfeifenstiels, ein Ferngläschen oder ein Sechsgroschenperspektiv, und der schmale Fleck, der hinter dem schlechtgeschliffenen trüben Glase steht, ist uns die ganze Welt. Jeder Mensch bildet um sich herum ein kleines Weltsystem, wo seine Eigenliebe im Mittelpunkt liegt, und die übrigen Menschen, die mit ihm in Verbindung stehen, entweder als Trabanten mit sich fortreißt, oder als Planeten um sich wandern läßt, und einen jeden in seinen Wirbel zieht: aber jeder von den übrigen Planeten hat auch seinen Wirbel, auch seine anziehende Kraft. (Wezel, Versuch, S. 445)

Bei Wezel erlebt dieser Idealismus ein doppeltes Schicksal. Zum einen wendet er sie auf die literarische Produktion selbst an, sodass auch die fiktionale Welt des Romans als eine subjektive charakterisiert wird, deren Schöpfer nur das sagt, „was jeder Schrift14 15

16

Vgl. Kant , 1983, S. 57 ff [A 143]. Vgl. auch Wezel, Versuch, S. 27 f: „Wir kennen die nächsten Gegenstände um uns nur aus ihren Wirkungen auf unsere Sinne und unsere Vorstellung [...]. Nicht anders kenne ich die Dinge, die in mir selbst vorgehn: daß mein Herz schlägt, meine Lunge athmet, daß in meinem Gehirne Ideen sich erzeugen, weis ich nur durch meine Vorstellung und mein Bewußtseyn: was zu diesen beiden nicht gelangt, weder durch unmittelbare Empfindung, noch durch Beobachtung, noch durch Schlüsse, das ist für mich nicht in der Welt: wie alles in und außer mir meinem Bewußtseyn und meiner Vorstellung erscheint, so ist es für mich.“ Allerdings bleibt Wieland – und im übrigen auch Wezel – gemäß seinem pragmatischen Standpunkt letztlich Realist, wie wir im Zusammenhang mit dem Don Sylvio noch sehen werden.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

77

steller einzig sagen kann – was ihm scheint, nichts als das Resultat seiner Beobachtungen“ (Wezel, B, I, S. X): Wie bey der Vorstellung der sichtbaren Gegenstände, so kömmt es auch bey den blos denkbaren auf den Bau des beobachtenden Auges, auf das Medium, wodurch es sieht, auf die Seite, die der Gegenstand ihm zukehrt, und auf die weitre und nähere Entfernung an, ob unser Urtheil, unsre Vorstellung davon so oder anders ausfallen, ob die Vorstellung mit dieser oder jener Farbe, mit starken Schatten oder starkem Lichte gemahlt werden soll. Zu verwundern ist es also niemals, wenn ein Autor in Einem Buche Eine Sache auf zwo ganz verschiedene Arten abbildet: die Ursache ist ganz natürlich – er sah jedesmal durch ein andres Medium, oder eine 17 andre Seite. (Wezel, TK, IV, Anhang 1, S. 54*)

Zum andern wird der subjektphilosophische Ansatz von Wezel dadurch radikalisiert, dass als Bedingungen der Erkenntnis nicht allein etwelche Kategorien, sondern die gesamte Affektivität, das gesamte Netz der Meinungen und Vorurteile, ja auch der Leib und seine physiologischen Funktionen identifiziert werden. Entsprechend ist der ganze Mensch in der Erkenntnistheorie zu berücksichtigen. Dadurch erscheint die „Wahrheit in unserm Kopfe nur [als] ein gefärbter Lichtstrahl, der durch das Prisma unser [!] Empfindungen und Leidenschaften fällt“ (Wezel, WA, I, S. 348). Dafür steht im Tobias Knaut der Begriff des Sehrohrs: So [‚Sehrohr‘] nenne ich gewisse Grundsätze, die jeder Beobachter moralischer Sachen zu seiner Betrachtung mitbringt und die sich auf eine von den bekannten Arten, wie Grundsätze erzeugt werden, meistentheils wider Wissen und wider Willen in der Seele festgesetzt haben. 18 (Wezel, TK, IV, Anhang I, S. 54*)

Im Begriff des Sehrohrs, der den ganzen Menschen als Bedingungsgefüge seiner Erkenntnis fasst, manifestiert sich der Übergang zu einer pragmatischen Erkenntnistheorie. Der hieraus entstehende Erkenntnisbegriff dient freilich nicht nur zur Beschreibung einer positiv zu wertenden ‚ganzheitlichen‘ intellektuellen Fähigkeit, sondern steht zugleich in der kritischen Absicht einer satirischen Entlarvung von Vorurteilen und unbegründeten Überzeugungen. Entsprechend parodiert Wezel die Subjektivität der Meinungen, indem er den Erzähler im Tobias Knaut eine Beweisform in die Logik einführen lässt, die im Gegensatz zu vielen anderen Schlussformen den Vorteil habe, dass „alle sogenannte vernünftige Kreaturen von dem selbstzufriedensten Weisen bis zu dem kleinsten Geiste in ihren Deducktionen, Dissertationen, Argumentationen a priori 17

18

Die Frage, inwieweit die Einschränkung seines Totalitätsanspruchs durch diese notwendige Subjektivität des Erzählens das Konzept des pragmatischen Romans berührt, wird in Kap. 2.1.5 eingehender behandelt. Auch Klinger betont den Einfluss der Affektivität auf das Erkennen und damit die Neigung des Menschen zu umfassenden Rationalisierungsstrategien: „So glich nun Faust dem welterfahrnen Manne, der [...] in Stumpfheit des Geistes und des Herzens, bitter in die Welt zurückblickt, das ganze Menschengeschlecht nach der schwarzen Erfahrung beurtheilt, die er gemacht hat, ohne nur einmal zu bedenken, daß diese Erfahrung ihren Anstrich von unserm Innern erhält, und sich hauptsächlich nach unserm eignen Werth bestimmt.“ (Klinger, Faust, S. 198)

78

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

und a posteriori [...] keinen andern Beweis jemals gebrauchen [...] und [...] keinen andern jemals gebrauchen können“ (Wezel, TK, I, S. 19 f). Diese Beweisform nimmt sich wie folgt aus: „Meinen kürzesten, deutlichsten, bündigsten Beweis will ich, wie in allen Sachen, also auch hier gebrauchen. In gehöriger Form steht er also: 1) Mir ist es unbegreiflich. 2) - - 3) - - 4) - - - und so ins unendliche fort. Den will ich doch sehen, der wider diesen Beweis etwas einzuwenden hat.“ (Wezel, TK, I, S. 18)

Als exemplarischen Text zu diesem Problemkreis kann man den Wieland-Roman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva19 ansehen. Wenn dort mit Don Sylvio eine Figur vorgeführt wird, der seinen Kopf durch übermäßige Märchenlektüre so weit korrumpiert hat, dass ihm seine gesamte Erlebniswelt zu einem Feenabenteuer wird, dann geht es nicht, wie an den Erzählerreflexionen über erkenntnistheoretische Fragestellungen deutlich wird, um die „Feerey“ allein, nicht einmal um den verheerenden Einfluss der Literatur auf die Lebensführung, sondern um das philosophische Problem der Realität und unseres Verhältnisses zu ihr: Um dieses scheinbare Paradoxon zu begreifen, müssen wir uns erinnern, daß es eine zweyfache Art von Wirklichkeit giebt, welche in einzelnen Fällen nicht allemahl so leicht zu unterscheiden ist, als manche Leute denken. / So wie es nehmlich, allen Egoisten zu Trotz, Dinge gibt, die wirklich außer uns sind, so giebt es andre die bloß in unserm Gehirn existiren. Die erstern sind, wenn wir gleich nicht wissen daß sie sind; die andern sind nur, in so fern wir uns einbilden daß sie seyen. Sie sind für sich selbst – nichts; aber sie machen auf denjenigen, der sie für wirklich hält, die nehmlichen Eindrücke, als ob sie etwas wären; und ohne daß die Menschen sich deßwegen weniger dünken, sind sie die Triebfedern der meisten Handlungen des menschlichen Geschlechts, die Quelle unsrer Glückseligkeit und unsers Elends, unsrer 20 schändlichsten Laster und unsrer glänzendsten Tugenden. (Wieland, Werke, IV, 11, S. 84 f)

Wieland führt auf satirische Weise all die Finessen vor, mit denen es der Hauptfigur gelingt, sämtliche Realitätsfragmente im Sinne seines Illusionssystems umzudeuten. Und ebenso vielfältig wie diese Finessen sind im Don Sylvio die Gründe, die das Wahnsystem des Protagonisten hervorgerufen haben: die gesamte Erziehung, lässt Wieland erkennen, musste notwendigerweise zu dieser Entwicklung führen.21 Was der ihn auf seiner Bettlerfahrt des Ungeistes durch die Welt treu begleitende Pedrillo, der, wie Sancho Pansa im Don Quijote, das Realitätsprinzip vertritt, aber sich aufgrund seiner 19 20 21

Den sprechenden Titel Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva verwendet Wieland nur in der ersten Fassung des Romans von 1764. Vgl. auch das 1. Kapitel des 4. Buches Worin der Autor eine tiefe Einsicht in die Geheimnnisse der Ontologie an den Tag legt (Wieland, Werke, IV, 11, S. 256 ff). Vgl. hierzu v.a. die Reflexionen des Erzählers im 3. Kapitel des 1. Buches Psychologische Betrachtungen (Wieland, Werke, IV, 11, S. 13 ff).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Leichtgläubigkeit immer wieder vom Wahnwitz seines Herrn anstecken lässt, noch nicht vermag, gelingt einer aufwendig inszenierten Schwärmerkur, die zur Heilung des Wahns gerade diesen selbst benutzt, um den Helden zur Raison und damit zur Realität zurückzubringen: Erst die geschickte Verwendung der „Feerey“ selbst lässt Don Sylvio wieder in Kontakt mit der ‚wirklichen Wirklichkeit‘ treten. Im Don Sylvio steht also der Kampf der Natur mit der Schwärmerei der Feenmärchen nur stellvertretend für den Konflikt zwischen einer idealistischen Metaphysik und einem realistischen Pragmatismus, der schließlich zugunsten des letzteren aufgelöst wird. Am Ende triumphiert die Natur über die ‚hyperphysische‘ Spekulation. Die Tradition der anderen Vernunft radikalisiert demnach die Ergebnisse der empiristisch orientierten Subjektivitätsphilosophie, indem sie sämtliche Voraussetzungen der intellektuellen Tätigkeit des Menschen berücksichtigt. Den ganzen Menschen zu betrachten, heißt zu dieser Zeit jedoch vor allem seine Leiblichkeit einzubeziehen, den Menschen also nicht mehr auf einen „Kopf, an welchen etwa noch ein paar Flügel gesetzt werden könnten“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 120), zu reduzieren, sondern mit dem commercium mentis et corporis ernst zu machen. Diese ‚Philosophie des Leibes‘ ist vor allem unter dem Einfluss des französischen Materialismus sowie der medizinischen Anthropologie entstanden. Folglich nimmt der existentielle Erkenntnisbegriff der literarischen Spätaufklärer zunächst die Form einer Physiologie der Erkenntnis an, die den Einfluss des Körpers auf das Denken und Wahrnehmen betont.22 Ziel einer solchen Erkenntnistheorie ist aber die Entwicklung eines sich in der Praxis bewährenden Wissens.23 Wie schon Holbach die „bunte Vielfalt der moralischen Welt“ aus der ontischen Pluralität der physischen ableitet und somit die Subjektivität und Perspektivität unmittelbar aus der determinierten Materialität der Individuen folgert24, bestimmen auch bei Wezel die körperlichen Ursachen in umfassender Weise unser Weltverhältnis, sodass der Mensch in nahezu fatalistischer Manier Meinungen ausgesetzt ist, die unwillkürlich in seinem Gehirn entstehen und die er sich kaum noch zuzuschreiben vermag: Die meisten unsrer Entschließungen, Vorurtheile, Meinungen – und wie der ganze Schwarm weiter heißt – entstehen so ohne unsre Einwilligung und Vergünstigung, sogar ohne unser Wissen; sie fliegen aus der Ideenmasse auf, durch das bloße Wirken und Gähren der darinne liegenden Materien: wir handeln darnach und werden es nicht eher gewahr, daß so etwas in

22

23 24

In aller Deutlichkeit spricht Wezel die Bedingtheit der menschlichen Erkenntnis durch seine Körperlichkeit an folgender Stelle aus: „Inzwischen ist der Einfluß dieser körperlichen Ursachen auf unsre moralische und intelectuelle Vollkommenheit so gewiß, so mächtig, so allgemein, daß ich fest überzeugt bin, die Psychologie müsse bey diesem Einflusse anfangen, und könne nur alsdann erst gedeihen, wenn unsre Kenntniß desselben genauer und vollständiger ist.“ (Wezel, Versuch, S. 431) Auf die im 18. Jahrhundert intensiv diskutierte Leib-Seele-Problematik wird in Kap. 2.1.3 näher eingegangen. Vgl. dazu Futterknecht, Franz: „Leser als prädestinierte Toren“, in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S.50 f. Vgl. Holbach, 1960, S. 93 f; s. dazu auch Kondylis, 1981, S. 522 ff.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil unserm Kopfe ist, als bis wir lange genug davon regiert worden sind. (Wezel, TK, IV, 25 S. 244 f)

Als praktische Konsequenz der holistischen Physiologie der Erkenntnis stellt sich demnach ein Gefühl der Fremdbestimmtheit, ja der Selbstenteignung ein, mit der der Mensch sich selbst nur mehr noch zuschaut wie irgendeinem Ding in der Welt.26 Hinter der Physiologie der Erkenntnis steht jedoch ein sehr viel umfassenderer Ansatz, nämlich die Integration der Intellektualität in die Biostruktur des Menschen. Zwar bedient man sich zum Ausdruck dieser radikalen Umkehrung im materialistisch geprägten Diskurs der Maschinenmetaphorik, doch das Bild vom Menschen als einer Maschine, das im Rahmen einer deterministischen Theorie nur ein anderer Ausdruck für eine Beschreibung des Menschen als Naturwesen ist, steht bei Wezel bereits im Kontext des pragmatischen Paradigmas: [W]ir wollen so unwissend werden, daß wir nicht einmal Seele und Körper unterscheiden[,] wir wollen uns den Menschen als ein Ganzes, als eine Maschine denken, die aus einer bestimmten Summe von Kräften und Organen besteht, und worin eine Reihe von Wirkungen vorgeht, die alle in Einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte, den wir Seele nennen, sich endigen oder anfangen. (Wezel, Versuch, S. 43 f)

Wezel verwendet also in seiner anthropologischen Studie einen methodischen Materialismus, für den die Behauptung, dass alles im Menschen ein „Spiel des Mechanismus“ sei, das „dem Spiele der Feder und der Räder in einer Uhr gleich“ sehe (Wezel, Versuch, S. 52), nicht im Widerspruch steht mit der Bestimmung der Seele als „Etwas in uns, das, unabhängig von den Eindrücken der äußerlichen Gegenstände und vom Zwange des Mechanismus, Wirkungen hervorbringen [...] kann“ (ebd., S. 58). Was Wezel hier verdeutlicht, gilt nicht minder für seine Romane: das Bild vom Menschen als einer Maschine wird als metaphorische Redeweise eingeführt, die keineswegs von einer materialistischen Theorie Zeugnis ablegt, sondern im Dienst des pragmatischen Paradigmas steht27 und durchaus parodiert werden kann: 25

26 27

In einer Fußnote verweist Wezel an dieser Stelle „auf die Grundsätze des großen Euphrosinopatorius“ – einer mehr philosophischen als satirischen Erzählung, in der es heißt: „[I]ch stelle mir seinen [des Menschen] Kopf als ein Gefäß vor, in das Vorsehung, Schicksal, Zufall eine größre oder kleinere Menge Ideen hineingeworfen hat, und noch hineinwirft. Unter diesem Kessel, dieser Pfanne oder was man sich sonst darunter denken will, ist ein Feuer, das bald schwach glimmt, bald helle lodert – dies ist das Blut und die Lebensgeister. Die Ingredienzien des Kessels sind in einer beständigen Bewegung theils von sich selbst [...] – theils durch die Wirkung des Feuers und die Zusätze, die täglich von außenher hineinfliegen. Hierzu kömmt noch eine dritte Bewegung, die die Seele verursacht; diese steht, wie eine Zauberinn, vor dem angefüllten Gefäße und giebt der ganzen Masse von Zeit zu Zeit eine neue Wendung [...].“ (SE 3, S. 68) Die Tatsache, dass hier der Seele eine wichtige Rolle zugesprochen wird, zeigt, wie wenig Wezel als ein strenger Materialist angesehen werden kann. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Problem des Determinismus in Kap. 2.1.3. Es ist deswegen auch nicht erstaunlich, dass die Maschinenmetapher bei Klinger und Wieland nur am Rande auftritt, obgleich sie demselben Paradigma folgen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Vielleicht ist dieses medicinische Gewand, in welches ich meine Moral gehüllt habe, in unsern Tagen das schicklichste, wo unsre Weltweisen zum Theil in ihren Erklärungen von den unerklärbaren Wirkungen der Seele so medicinisch, so anatomisch geworden sind, daß wohl nur noch die übrigen Jahre dieses erleuchteten Jahrhunderts verfließen müssen, um anatomische Theater für die Seelen errichtet, und in den philosophischen Hörsälen Geisterskelette vorgezeigt und zergliedert zu sehen. (Wezel, TK, I, S. 24)

Wenn Tobias Knaut als Maschine vorgestellt wird, die den Einflüssen der Umwelt hilflos preisgegeben ist und schon im Mutterleib unter der Zufuhr unreiner Körpersäfte zu leiden hat, dann steht dies in der satirischen Absicht einer Entlarvung seiner Passivität im Rahmen eines „negativen Bildungsromans“ – einer Passivität, die sich im Stoizismus zu verklären sucht und doch nichts ist als auf körperlichen Beschädigungen beruhende Trägheit der Masse. Deshalb ist Jaumann nur Recht zu geben, wenn er über den Tobias Knaut schreibt: Der eigenartige Schwebezustand, den der Text dadurch gewinnt, daß er beständig massive Ansätze materialistischer Methodik und Theorie offenbart und diese zugleich zurücknimmt und 28 relativiert, stellt ein dominierendes Strukturprinzip der Erzählung dar.

Ihren wohl krassesten Ausdruck erhält die Maschinenmetapher jedoch im Belphegor, in dem die weibliche Hauptfigur Akante als künstliche Maschine, als ‚verbrauchte Frau‘29 vorgeführt wird, an der kaum noch ein Körperorgan echt ist.30 Hier geht es nicht um eine literarische Versinnlichung LaMettrieschen Gedankenguts, sondern um eine möglichst sinnfällige Darstellung der Demontage des Menschen im Kampf aller gegen alle. Auch im Versuch wird die Maschinenmetapher in den Kontext des pragmatischen Paradigmas gestellt: Wir wollen uns also ganz in unsere Vorstellung zurückziehn, selbst den Körper als eine Sache außer uns betrachten. [...] [So] wollen wir eine Maschine seyn [...] Je mehr es dem Leser gelingt, sie [die Wirkungen] in sich selbst zu betrachten, wie die Phänomene bey einem physikalischen Versuche, oder die Bewegungen in einem Uhrwerke [...], desto leichter werden wir uns auf Einem Wege beysammen erhalten: er soll darum nicht willenlose Maschine bleiben, sondern zu seiner Zeit wieder ein thätiges Wesen werden, so sehr er es nach der Erfahrung ist. (Wezel, Versuch, S. 36 f)

Auch bei seinem Frontalangriff auf die „Nationalkrankheit“ der Empfindsamkeit sucht Wezel die Ursachen in der körperlichen Beschaffenheit und der Ernährungsweise seiner Zeitgenossen und empfiehlt dagegen diätetische Maßnahmen.31 Während Wieland – 28

29 30 31

Jaumann, 1994, S. 215. Wezel tritt dabei in einen Zirkel ein, der, recht bedacht, ein Problem von geradezu säkularen Ausmaßen markiert: Er nimmt zunächst eine subjektive Perspektivierung des Materialismus vor, um dann aber die subjektiven Perspektiven wiederum physiologisch zu begründen (vgl. ebd., S. 220). Dies ist keine Zwei-, sondern eine Doppeldeutigkeit und bezieht sich auf die Erzählung von Edgar Allan Poe Der verbrauchte Mann (The Man that was used up). Vgl. Wezel, B, I, S. 105-111. Vgl. Wezel, RK, S. 6 f, wo die Empfindsamkeit als „ein natürliches Übel“ bezeichnet wird, dessen „hauptsächlichste Ursache [..] in dem verderbten Stoffe der Körper, in der Lebensart, in den Nah-

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ebenfalls ein scharfer Kritiker der Schwärmerei, aber auch ein warmer Fürsprecher des Enthusiasmus – für dieses Generalproblem des 18. Jahrhunderts vorwiegend psychologische Erklärungen zu geben bemüht ist32, führt Wezel in der Wilhelmine Arendt eine physiologische Begründung des empfindsamen Leidens vor. Nicht nur werden mit Hilfe von Irvings und Browns Humoraltheorie die Körpersäfte und vor allem die Verdauungsprobleme der Heldin zur Erklärung des „Empfindsamkeitsfiebers“ herangezogen33, sondern die Ursachen ihrer im Tod endenden Melancholie in der unterdrückten Sinnlichkeit gesucht.34 Dieser radikale „Medizinzynismus“35 kann als besonders treffender Ausdruck der Physiologie der Erkenntnis herangezogen werden, wobei für Wezel die Schwärmerei im „Volkssistem“ das ist, was im „philosophischen Sistem“ die metaphysische Spekulation darstellt.36 Die Kritik an der Schwärmerei vertritt, wie schon im Don Sylvio, die Kritik an der Metaphysik. Der – metaphorisch gewendete – materialistische Diskurs ist aber nur eine Äußerungsform des pragmatischen Paradigmas. Viel wichtiger ist, dass eine derartige Physiologie der Erkenntnis einen tiefgreifenden Wandel des Menschenbildes anzeigt, wonach der Intellekt in die Biostruktur integriert wird. Infolge dessen wandelt sich der Vernunftbegriff in einen Funktionsbegriff.37 Die Rationalität erscheint danach als eine voraussetzungsreiche Aktivität, die im Dienst der Leidenschaften und Affekte steht. Dieser Begriff einer instrumentellen Vernunft, der sich auch bei Locke, Condillac und Voltaire findet38, wird an prominenter Stelle bereits von Hume verwendet.39 Wieland stellt diese Auffassung, die Schopenhauer später als die Lehre vom „Primat des Willens vor dem Intellekt“ bezeichnete, in einer bemerkenswert modern anmutenden, an Gehlens Rede vom Mängelwesen gemahnenden Äußerung in Zusammenhang mit einer anthropologischen Theorie, welche die Herausbildung der Vernunft als Folge der Instinktentartung des Menschen beschreibt: [S]o zeigt sich, – daß unter allen der Mensch am wenigsten als das geboren wird was er seyn kann; daß die Natur für seine Erhaltung dem Ansehen nach, am wenigsten gesorgt hat; daß sie

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rungsmitteln, in den Sitten“ liege und entsprechend die „Eingeweide“ „den wahren Quell der Empfindsamkeit“ darstellen. Allerdings reduziert Wezel die Schwärmerei keineswegs auf den Einfluss von „Kaffee“ und „leckerhafte[n], reizende[n], schlaffmachende[n] Speisen und Getränke[n]“ bzw. – wie in der Wilhelmine Arendt – auf die Zusammensetzung der Körpersäfte, sondern bezieht auch psychologische und soziale Ursachen ein. S. z.B. Agathodämon (Wieland, Werke, X, 32, S. 182-213) u. Don Sylvio (Wieland, Werke, IV, 11, S. 13-17). Vgl. Wezel, WA, II, S. 148 ff. Vgl. Wezel, WA, I, S. 330 f. Vgl. Sloterdijk, 1983, Bd. 2, S. 489. Zur Unterscheidung zwischen „Volkssistem“ und „philosophischem Sistem“ vgl. Wezel, Versuch, S. 17 ff. Vgl. Kondylis, 1981, S. 326. Vgl. die Darstellung von Kondylis, 1981, S. 327 ff. Vgl. die im vorangegangenen Kapitel zitierte Äußerung Humes, in: Hume, 1978, S. 414 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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ihn übel bekleidet, unverwahrt gegen Frost, Hitze und schlimmes Wetter, und unfähig ohne langwierigen fremden Beystand sich selbst fortzubringen, auf die Welt ausstößt; – daß der Instinkt, der angeborene Lehrmeister der Thiere, bey ihm allein schwach, ungewiß und unzulänglich ist; – und warum alles das, als‚ weil sie ihn durch die Vernunft, die er vor jenem voraus 40 hat, fähig gemacht, diesen Abgang zu ersetzen? (Wieland, Werke, V, 14, S. 59 f)

Die Vernunft, die hier als bloßer Instinktersatz erscheint und deren primäre Aufgabe entsprechend in der Erfüllung der biologisch verankerten Zwecke des Naturwesens Mensch gesehen wird41, ist damit an die in Gefühl und Sinnlichkeit verankerten Werte gebunden. Im Rahmen eines solchen naturalistischen Rationalitätskonzepts wird es zur entscheidenden Frage, ob das Primat der Affektivität vor der Rationalität im Kontext einer, wie bei Hobbes oder de Sade, pessimistischen oder, wie bei Rousseau, einer optimistischen Anthropologie betrachtet wird.42 Wieland schwankt beständig zwischen beiden Möglichkeiten; dem gemäß treten bei ihm sowohl die negativen als auch die positiven Aspekte des funktionalistischen Vernunftbegriffs auf.43 So zeigt der Erzähler im Agathon einerseits ein großes Vertrauen in die Zuverlässigkeit eines naturgegebenen ‚rationalen Instinkts‘ für die richtige Lebensführung: Der Instinct und dieses am wenigsten betrügliche Gefühl des Wahren und Guten, welches die Natur allen Menschen zugeteilt hat, können uns am besten sagen, woran wir uns halten sollen; und dahin müssen, früher oder später, die größesten Geister zurückkommen, wenn sie nicht das Schicksal haben wollen, wie die Taube des Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern 44 und nirgends Ruhe zu finden. (Wieland, A, S. 583)

Andererseits hat die Instrumentalisierung der Vernunft für Wieland zur Folge, dass sich das Denken zumeist in Vorurteilen bewegt und im blinden Gehorsam gegenüber den Leidenschaften keineswegs etwelchen Rationalitätskriterien genügt. Besonders deutlich vertritt diese Position in der Geschichte des Danischmend der alte Kalender – als der Verkörperung einer desillusionierten Aufklärung: 40

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Vgl. dazu auch Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 196: „[W]ährend eine jede Art von Tieren nur einen ihr eigenen Instinkt besitzt, so eignet der Mensch, dem vielleicht kein besonderer zuteil geworden ist, sich alle zu [...].“ In diesem Zusammenhang sei an Humes Kausalitätstheorie erinnert, der zufolge gesagt werden kann: „[T]his operation of the mind, by which we infer like effects from like causes, and vice versa, is so essential to the subsistence of all human creatures [...], dass „the ordinary wisdom of nature“ sich gedrungen sah, den Kausalitätsbegriff durch „some instinct or mechanical tendency“ sicherzustellen. (Hume, 1913a, S. 56). Vgl. Kondylis, 1981, S. 337 f. In diesem Sinne schreibt auch Engbers über Wielands Dialogroman Araspes und Panthea: „Im Verlauf der Erzählung wird seine [Araspes’] Behauptung, daß die Natur die Begierden des Menschen ‚zu Sclaven seiner Vernunft [...] bestimmt‘ hat, gründlich ad absurdum geführt und Humes gegenteilige These, daß die Vernunft eine Sklavin der Leidenschaft ist, bestätigt.“ (Engbers, 2001, S. 103) In diesem Zitat wird darüber hinaus deutlich, wie eng für Wieland der ‚rationale Instinkt‘ mit dem – ebenfalls zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehörigen – moralischen Sinn verwandt ist (vgl. dazu Kap. 2.1.3).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil Die Menschen, nehmlich, räsonnieren gewöhnlich nicht nach den Gesetzen der Vernunft. – Im Gegentheil ihre angeborne und allgemeinste Art zu räsonnieren ist: von einzelnen Fällen aufs Allgemeine zu schließen, aus flüchtig oder nur von Einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige Folgerungen herzuleiten, und alle Augenblicke Worte mit Begriffen, und Begriffe mit Sachen zu verwechseln. Die allermeisten, das ist, nach dem billigsten Überschlag neun hundert neun und neunzig unter tausenden, urtheilen, in den meisten und wichtigsten Vorfallenheiten ihres Lebens, nach ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurtheilen, Leidenschaften, Grillen, Fantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne, anscheinenden Ähnlichkeiten und geheimen Eingebungen der Parteylichkeit für sich selbst, um derentwillen sie alle Augenblicke ihren eigenen Esel für ein Pferd und eines ande45 ren Mannes Pferd für einen Esel ansehen. (Wieland, Werke, III, 8, S. 106)

Damit übernimmt die Rationalität nur mehr noch die Funktion der Rationalisierung – eine Strategie, die von den Spätaufklärern in vielen Fällen jedoch als lebensnotwendig angesehen wird. So sagt der Erzähler über Selmann, den Mentor Tobias Knauts: Er that es also aus Gewohnheit immer fort, sann sich hinter drein Gründe aus, warum ers gethan hatte, und so ließ er sich von seiner Vernunft bereden, er habe nach vernünftigen 46 Gründen gehandelt. (Wezel, TK, II, S. 193 f)

So erscheinen sämtliche Begründungsverfahren als willkürlich und, da sich für jede – zumindest im nachhinein – eine gewisse Rationalität finden lässt, alle menschlichen Überzeugungen als kontingent: Wenn man nur erst mit sich einig ist, was man behaupten will, so ist es unendlich leicht zu finden, wodurch man es behaupten kann [...]. (Wezel, SE 3, S. 35)

Die negativen Aspekte der instrumentellen Vernunft und damit die Schattenseiten einer korrumpierten Aufklärung werden von Wieland eindrücklich anhand der Hippias-Figur im Agathon dargestellt. Für Hippias besteht die Lehre der Sophisten vor allem in der Vermittlung der Fähigkeit zur Manipulation der Menschen: Die Kunst über die Einbildungskraft der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung erhalten, daß wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel, diejenige, die ihrem Besitzer am nützlichsten ist, und dieses ist die Kunst welche die Sophisten lehren und ausüben [...]. (Wieland, A, S. 96)

Integriert ist diese Egoismuslehre in ein hedonistisches System, wonach die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse und nicht die Beantwortung spekulativer Fragen durch

45

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Selbst der häufig mit einem Kantianischen Vernunftbegriff liebäugelnde Klinger lässt im Faust den Teufel die anthropologische Feststellung treffen: “[W]as der Sinn nicht fassen kann, lösen Stolz und Eigenliebe zu ihrem Vortheil auf.“ (Klinger, Faust, S. 44) Auch Wieland weist auf die uns schon durch Wezel bekannte altbewährte Schlussform hin, wonach jeder Mensch gemeinhin folgert: „Nun ist dies aber ein Gedanke, den ich nicht leiden kann; er ist also falsch.“ (Wieland, Werke, II, 6, S. 62)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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eine (platonische) Metaphysik das Ziel aller Philosophie sei.47 Agathons entscheidender Einwand gegen die Lehre des Hippias ist, dass sie nicht verallgemeinerbar sei, da sie, konsequent in Anwendung gebracht, zum Krieg aller gegen alle führe.48 Dennoch ist der Hippias des Agathon keineswegs nur eine negativ charakterisierte Figur. Vielmehr zeichnet sich seine Philosophie zum einen durch ihren Realismus49, zum andern durch ihre Konsequenz aus: [Hippias] besaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der Moralisten zu sein pflegt; er lebte nach seinen Grundsätzen. (Wieland, A, S. 45)

Dadurch erweist sich Hippias als konsequenter Vertreter des Pragmatismus50 – eines Pragmatismus allerdings, in dem die Appellation an die Instanz der Natur vor allem dazu dient, den eigenen Vorteil wahrzunehmen: Es ist wahr, die Gesetze sind bei dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein was bei einem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein, als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden und genieße so viel Vergnügen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die Natur dem Menschen gegeben 51 hat [...]. (Wieland, A, S. 102 f)

Gemäß der Bestimmung der Rationalität als Rationalisierung gerät auch bei Wezel die vernünftige Haltung der Philosophen in Verdacht – scheinbar allein auf reine Wahrheit abgestellt, ist sie in Wirklichkeit der Affektivität unterworfen: Die Philosophen erfanden sich ein Ding, das sie Wahrheit nennten; um dieses hinkten sie herum, wie die Götzendiener des Baals. Sie erfanden eine Kriegskunst, Regeln des Angriffs und des Rückzugs, Trenscheen, Stratageme, Laufgräben, grobes und kleines Geschütze; und die edlen Ritter der Wahrheit sind jederzeit die treflichsten Kanonirer gewesen.[...] So ein 47

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„Es sind also, wenn man genau reden will, alle Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sei nun unmittelbar oder vermittelst der Einbildungskraft, von keinen anderen als sinnlichen Vorstellungen entstehen können.“ (Wieland, A, S. 79) Vgl. Wieland, A, S. 113. Selbst Agathon muss in einer schweren Stunde einsehen, dass die „brutale Denkungsart“ (Wieland, A, S. 146) des Hippias den Vorzug hat, die traurige Faktizität adäquat zu beschreiben: „Nein [...], die Menschen sind nicht wofür ich sie hielt, da ich sie nach mir selbst, und mich selbst nach den jugendlichen Empfindungen eines gefühlvollen Herzens, und nach einer noch ungeprüften Unschuld beurteilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmste, was Hippias von ihnen sagte [...]. O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine Moral, deine Staatskunst, gründen sich auf die Erfahrung aller Zeiten.“ (ebd., S. 537 f) Vgl. Wieland, A, S. 90; bereits im vorangegangenen Kapitel zitiert. Dabei erweist sich Hippias als Vertreter des Relativismus: „Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den Vertrag den ein gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so ferne sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet.“ (Wieland, A, S. 103)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil Froschmäusekrieg war der Krieg der Philosophen um die Wahrheit; jeder supponirte nicht, sondern behauptete, das was mir Wahrheit scheint, ist Wahrheit, und das Glück der Waffen soll entscheiden, wer im Punkte der Wahrheit herrschen und dem Glauben und dem Beifalle der übrigen Gesetze vorschreiben soll. Man sonderte sich auch hier in Rotten und Faktionen, auch hier waren Neid und Vorzugssucht die Waffenträger, auch hier galt es Unterdrükkung und Herrschsucht. Es ist alles eins: nur andre Gegenstände, andre Waffen. (Wezel, B, 52 I, S. 213 ff)

Wie bei Klinger Leviathan, der „Fürst der Hölle“, als „Erfinder der Wissenschaften“ bezeichnet wird53, so enthüllt sich für den psychologisch geschärften Blick Wezels im Streben nach Wahrheit bloß der Wille zur Macht. Der Streit der Philosophen wird damit zu einer Fortsetzung des allgemeinen Krieges mit anderen Mitteln, und die agonale Weltkonzeption des Belphegor zeigt ihre universelle Gültigkeit. Entsprechend ablehnend stehen die am pragmatischen Paradigma orientierten Autoren der Spätaufklärung der vorgeblich ‚reinen‘, in Wahrheit aber bloß lebensfernen Vernunft gegenüber. Nicht nur „daß man der Filosofie zu viel Ehre erweist, wenn man ihr die Macht zuschreibt, dem Gefühle, der Einbildungskraft und den Leidenschaften immer unumschränkt zu gebieten“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 30), sondern man misskennt gemeinhin auch, dass in dieser praxisfernen Erkenntnis sich letztlich nur der „Geist der Kleinigkeit“ verbirgt, den man laut Wezel als „den unumschränkten Monarchen unsres ganzen Planeten“ (Wezel, SE 3, S. 11) betrachten kann und der „überhaupt nirgends so eifrige Verehrung genießt, als unter den Gelehrten“ (ebd., S. 12). Zwar erkennen die Spätaufklärer die Leistungen der Wissenschaften durchaus an, doch bemühen sie sich darum, einen Erkenntnisbegriff zu entwickeln, der die damit einhergehende ‚Entzauberung der Welt‘ vermeidet. So beschreibt Klinger die Ambivalenz der wissenschaftlichen Haltung folgendermaßen: Vor diesem mathematischen Sinne [...] zerstiebt alles Wunderbare, in dem Augenblick, da er erwacht, und mit seinem eiskalten Blick den Gegenstand der Bewunderung betrachtet. Er ruht dann nicht eher, bis er alles aufgelöset, zu Gerippe, zu Federn, Triebrädern und Zugwerk gemacht hat; doch er selbst ist so wunderbar, daß nur durch ihn eigentlich sich der Mensch von dem Thier unterscheidet, daß er nur durch ihn Schöpfer aller der Werke wird, ohne die wir noch in den Wäldern lebten. Denn durch ihn allein ahmen wir im Kleinen die unermeßliche Schöpfung nach [...]. (Klinger, Werke, 6, S. 177)

In demselben Sinne beschreibt Blumenberg den „Motivationsbruch“ bei der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft – ein Bruch, der der Ausgliederung der Erkenntnis aus dem praktischen Kontext zur Folge habe.54 Der Sinnlosigkeitsverdacht, der dem gegenüber im neuzeitlichen Denken mehr und mehr laut wird, äußert sich auch in der Tradition der anderen Vernunft, die einerseits die Erkenntnis im Rahmen der Theorie der lebens52

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Analog dazu herrscht im Belphegor auch in der literarischen Welt nur eine sublimierte Form des Krieges, der zwar mit feineren Waffen, aber mit ebensolcher Leidenschaftlichkeit geführt wird (vgl. Wezel, B, I, S. 157-167). Vgl. Klinger, Faust, S. 30. Vgl. Blumenberg, 1966, S. 265 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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notwendigen Illusionen sogar als glücksverhindernd beschreibt, andererseits aber diese Trennung von Theorie und Praxis durch die Entwicklung eines existentiellen Erkenntnisbegriffs aufzufangen versucht55. So empfiehlt Wielands Normfigur im Aristipp, uns eine reelle, d.h. im praktischen Leben brauchbare und hinreichende Kenntniß der Menschen und der Dinge um uns her anzuschaffen, deren wir gleichwohl am meisten bedürfen, da von den Verhältnissen dieser Menschen und dieser Dinge zu uns, und von der Art, wie wir diese gebrauchen und uns gegen jene benehmen, unser Wohl oder Weh abhängt. Ob die Welt um uns her aus reellen Dingen oder bloßen Erscheinungen bestehe, wenn es für gesunde Menschen auch eine Frage seyn könnte, wäre doch eine unnütze Frage, weil wir uns, um nicht wie Thoren zu handeln, immer so benehmen müssen, als ob Alles, was gesunden und vernünftigen Menschen reell scheint, es auch wirklich sey. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 231 f)

Für Wielands Aristipp wird eine solche an der lebensweltlichen Erfahrung und einem pragmatischen Wahrheitsbegriff orientierte, jede Form von metaphysischer Spekulation ablehnende Philosophie von Sokrates repräsentiert, für dessen Lehre er „[a]ls bloße Spekulazionssache [...], wie für jede andere, keine taube Nuß“ gäbe, dessen Philosophie ihm aber „in Ausübung gebracht mehr als alles Gold des großen Königs werth“ (Wieland, Werke, XI, 35, S. 70) sei: Mir ist also kaum etwas andres übrig geblieben als seine [des Sokrates] Anspruchlosigkeit, sein Widerwille gegen alles Geschminkte und Unnatürliche, gegen Aufgeblasenheit, Eigendünkel und ungebührliche Anmaßungen, seine Geringschätzung aller spitzfündigen, im Leben unbrauchbaren und bloß zum Gepräng und Disputieren dienlichen Spekulazionen, seine Manier bey Erörterung problematischer Fragen immer zuerst auf das, was uns die Erfahrung davon sagt, Acht zu geben, nach der Entstehungsweise der Begriffe, in welche das Problem zerfällt, zu forschen, und überhaupt beym Suchen der Wahrheit immer vorauszusetzen, daß sie uns ganz nahe liege, und meistens nur durch den Wahn, daß man sie weit und mühsam suchen müsse, verfehlt werde. (Wieland, Werke, XI, 35, S. 90 f)

Der nach Laktanz die Sokratische Philosophie charakterisierende Leitsatz Quae supra nos, nihil ad nos56, steht auch über der Tradition der anderen Vernunft. Wielands Aristipp hegt die innigste Überzeugung, daß der größte Theil der Probleme, womit die spekulativen Filosofen seiner Zeit sich selbst und ihre Lehrlinge unterhielten, ganz und gar keine Gegenstände des menschlichen Wissens seyen, und daß ein gesund denkender Mensch in der kurzen Lebenszeit, die ihm von der Natur so kärglich zugemessen wird, mehr als genug zu thun habe, wenn er nur zu einem hinlänglichen Grade von Kenntniß dessen was allen Menschen zu wissen nöthig und was nicht zu wissen ein großes Übel ist, gelangen wollte. (Wieland, Werke, XI, 57 33, S. 68 f)

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Wie wichtig etwa in Wielands Agathon die Orientierung an der Lebenspraxis ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Philosophie des Archytas, die am Ende den Roman krönen soll, als „ganz practisch“ bezeichnet wird (vgl. Wieland, A, S. 566). Zit. nach Blumenberg, 1966, S. 276. Die zweite antike Normfigur im Werk Wielands, Diogenes, äußert sich in dankenswert lakonischer Weise ähnlich: „Meine Theorie war nicht so bald gefunden, als ich that, was die wenigsten von eu-

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Für diesen praxisbezogenen Erkenntnisbegriff, wonach man mit der ganzen Person für etwas einzustehen habe58 und alle metaphysischen Fragen auf die Frage nach dem Was?, also nach dem, was in der phänomenalen Welt der Fall ist, reduziert werden können59, erscheint alle Spekulation als bloßes „Luftgefecht [...], aus welchem bisher noch keiner als gekrönter Sieger hervorgegangen ist“ (Klinger, Werke, 6, S. 234). Auch Locke und Hume vereinigen ihre Stimmen nachdrucksvoll in der Anempfehlung dieser Regel: The Candle, that is set up in us, shines bright enough for all our Purposes. The Discoveries we can make with this, ought to satisfy us: And we shall then use our Understandings right, when we entertain all Objects in the Way and Proportion, that they are suited to our Faculties; and upon those Grounds, they are capable of being propose’d to us; and not peremptorily or intemperately require Demonstration, and demand Certainty, where Probability only is to be had, and which is sufficient to govern all our Concernments. If we will disbelieve every thing, because we cannot certainly know all things; we shall do much-what as wisely as he, who would 60 not use his Legs, but sit still and perish, because he had no Wings to fly. It seems, then, that nature has pointed out a mixed kind of life as most suitable to the human race [...]. [...] Indulge your passion for science, say she, but let your science be human, and 61 such as may have a direct reference to action and society.

Die Ablehnung aller metaphysischen Spekulation und die Hinwendung zur Lebenspraxis, die sich auch in dem im 18. Jahrhundert einflussreichen und gerade Wieland prägenden Virtuoso-Ideal Shaftesburys zeigt62, führt zu einem Verständnis von Philosophie als reflektierter Lebenskunst, welche sich auf die alltägliche Wirklichkeit beschränkt,

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ren Sittenlehrern thun. Ich fing an sie in Ausübung zu bringen [...].“ (Wieland, Werke, IV, 13, S. 12) Vgl. dazu Feyerabend, 1989, S. 148. Vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 287: „Indem ich also mich selbst und die sich meinem Bewußtseyn sich aufdringenden Dinge um mich her, denke, ist die Frage nicht: Woher sind wir? oder warum [sind] wir? – sondern das Einzige was sich fragen läßt und was uns kümmern soll, ist was sind wir?“ Locke, 1975, S. 46. Vgl. ebd.: „Our Business here is not to know all things, but those which concern our Conduct.“ Vgl. hierzu auch Kondylis, 1990, S. 318. Hume, 1913a, S. 5. Vgl. auch die berühmte Bücherverbrennung, mit der die Enquiry Humes endet: „When we run over libraries, persuaded of these principles, what havoc must we make? If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames: for it can contain nothing but sophistry and illusion.“ (ebd., S. 176) Vgl. z.B. Shaftesbury, Werke, Bd. 1, 2, S. 190: „In this latter general Denomination [as Virtuosi] we include the real fine Gentlemen, the Lovers of Art and Ingenuity; such as have seen the World, and have inform’d themselves of the Manners and Customs of the several Nations of Europe, search’d into their Antiquitys, and Records; consider’d their Police, Laws and Constitutions; observ’d the Situations, Strength, and Ornaments of their Citys, their principal Arts, Studys and Amusements; their Architecture, Sculpture, Painting, Musick, and their Taste in Poetry, Learning, Language, and Conversation.“ (s.a. ebd., S. 195 ff).

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deren Bewältigung, wie Aristipp betont, für die Beschäftigung mit der „spekulativen Filosofie“ keinen Raum lässt63: Die großen Aufgaben: ‚Was ist der Mensch in der gegenwärtigen Periode seines Daseyns? Welches sind seine Kräfte und Anlagen? Wie und wozu hat er sie zu gebrauchen? Was soll er hier seyn? Was kann er hier werden? Zu welcher Vollkommenheit könnte er schon in diesem Leben gelangen, wenn er die Mittel kennen und richtig anwenden lernte, die ihm dazu gegeben sind?‘ – Diese Aufgaben, die sich wieder in unzählige andere auflösen, sind so ganz für uns gemacht, und geben uns so viel zu schaffen, daß ich nicht sehe, wo wir Zeit hernehmen wollen, uns um Dinge zu bekümmern, die wir eben darum, weil sie uns unerreichbar sind, mit gu64 tem Fug als uns nichts angehend betrachten dürften. (Wieland, Werke, X, 32, S. 332 f)

Wie Pedrillo, der den Metaphysiker Don Sylvio immer wieder zurück in die Alltagswelt zu holen versucht und der – „ohne den geringsten Ansatz zur spekulativen Filosofie“ – „anstatt über seinen beschwerlichen Zustand lange zu vernünfteln, [...] sich nichts angelegener seyn [ließ], als wie er sich bald davon befreyen wolle“ (Wieland, Werke, IV, 11, S. 260), soll auch der Philosoph sich stets an der konkreten Lebenswelt orientieren und auf den Nutzen sehen, den eine philosophische Anschauung hat oder haben kann. Hume, der versucht „to limit our enquiries to common life“65, wird denn auch nicht müde, die Hoffnung zu äußern, dass die wahre Philosophie stets mit dem common sense übereinstimmen werde: All philosophy, therefore, in the world, and all the religion, which is nothing but a species of philosophy, will never be able to carry us beyond the usual course of experience, or give us measures of conduct and behaviour different from those which are furnished by reflections on 66 common life.

Ganz im Sinne der pragmatischen Anthropologie Kants, für die nicht mehr, „was die Natur aus dem Menschen macht“, sondern „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“, von Interesse ist und in der „die Anwendung ihrer Ideen mehr als ihre Grundlegung im Vordergrund steht“67, wird auch für den philosophischen Roman der Spätaufklärung die Lebenswelt zum zentralen Problem aller Philosophie. Im Roman gelangt diese Bindung der Theorie an die Lebenspraxis allererst zu dem ihr angemessenen Ausdruck:

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Vgl. dazu auch Schmidt-Biggemann, 1988, S. 31. Vgl dazu Wieland, Werke, XI, 34, S. 358, wo Aristipp mit wegwerfender Geste aus dem Agnostizismus seine Toleranz rechtfertigt: „[Ü]berhaupt ist es einer meiner Grundsätze mit niemandem über das, was er von den überirdischen und dämonischen Dingen glaubt, oder nicht glaubt, zu hadern.“ Vgl. Hume, 1913a, S. 41: „Nor need we fear that this philosophy, while it endeavours to limit our enquiries to common life, should ever undermine the reasonings of common life, and carry its doubts so far as to destroy all action, as well as speculation.“ Hume, 1913a, S. 155. Vgl. Winter, 1974, S. 74 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil In der Aufklärung wird die Konzentration auf die menschliche Natur und das gemeine Leben als Ersatz für die wirkungslos gewordenen Naturbilder daher nicht in der Philosophie, sondern nur in der Literatur realisierbar, die durch ihre Subjektivität gerade die „unregelmäßigen“ Phä68 nomene des Alltags beschreiben kann.

Dass die Tradition der anderen Vernunft der Praxis den Vorrang vor der Theorie gibt und die alltägliche Lebenswelt aufwertet, bedeutet jedoch keineswegs eine Entscheidung für den Irrationalismus. Vielmehr finden sich bei den Spätaufklärern eindeutige Hinweise auf die Hochschätzung der – allerdings anders, nämlich funktionalistisch verstandenen – Vernunft: Gottlob!! daß der Mensch nicht ganz Verstand ist – und ich sage, Gottlob mit sechshundert Ausrufungszeichen, daß der Mensch nicht ganz Herz ist! Ich weiß nicht, welcher Dämon einen Theil unserer Scribenten besitzt, den armen Verstand wie einen nichtswürdigen Buben auszuschimpfen: warum ist es denn nicht besser, wie es die Natur haben will, die Verstand und Herz machte, daß sie die menschliche Maschine im Gleichgewicht erhalten sollen? Das ist mir gerade als wenn jemand den lieben Gott loben wollte, daß er nicht die Welt aus lauter Wasser bestehen ließ. Ich kenne keinen Fall des menschlichen Lebens, und Niemand unter diesen Herzensposaunern wird einen angeben können, wo es nicht heilsamer ist, wann der Verstand sich in die Angelegenheiten des Herzens mischt: ich weiß viele, wo der Mensch ganz Verstand seyn muß, aber keinen, wo er ganz Herz seyn darf. (Wezel, Versuch, S. 310)

Gerade in Wielands Romanen, die mit Müller als eine permanente Arbeit an der Überwindung der Subjektivität charakterisiert werden können69, werden keineswegs „beliebige Meinungen nebeneinander gestellt, sondern diese Meinungen sind Ausdruck einer bestimmten Philosophie“70, ohne die eine angemessene Lebensführung für Wieland gar nicht möglich ist. Es geht hier mitnichten um eine Verabschiedung der Rationalität oder um die Inszenierung einer Walpurgisnacht der Unvernunft, sondern immer bleibt eine vernünftig reflektierte Lebensführung das Ziel aller Bemühungen. Eine solche kann in den Augen der Spätaufklärer jedoch nicht ohne Beschäftigung mit philosophischen Problemen statthaben, die sich deshalb auch immer wieder in den Vordergrund des Romangeschehens drängen; nur handelt es sich um eine Beschäftigung, welche an einem anderen Vernunft- und Erkenntnisbegriff orientiert ist. So wie im Rahmen des pragmatischen Paradigmas die Philosophie an die konkrete Lebenspraxis gebunden wird, findet umgekehrt ein individuelles Lebenskonzept erst im philosophischen System seinen ihm angemessenen Ausdruck. Beide Aspekte sind für den existentiellen Erkenntnisbegriff gleichermaßen konstitutiv. Ganz in der Linie einer solchen Auffassung liegt 68

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Ammermann, 1978, S. 45. Allerdings kann ich der Behauptung Ammermanns nicht zustimmen, dass die „Spätaufklärung [...] der Veränderung des Zentralbegriffs Natur keine neue Theorie entgegensetzen [konnte]“ (ebd., S. 176 f). Zwar ist es richtig, dass die „Zuwendung zum durchschnittlichen Erfahrungshorizont der Lebenswelt zum Ersatz für den Verlust verbindlicher kosmologischer und metaphysischer Ordnung“ wurde, doch ist gerade das pragmatische Paradigma in entscheidender Hinsicht am Naturbegriff orientiert. Vgl. Müller, 1971, S. 54 ff. Vgl. ebd., S. 77.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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es, dass insbesondere Wieland nicht müde wird, den Vorrang des Kopfes vor dem Herzen zu betonen. Zugleich müssen jedoch beide – Kopf wie Herz – in ein „wohltemperiertes Gleichgewicht“ gebracht werden, will man das rechte Leben nicht verfehlen71: Die Fantasie ist immer eine unsichere Führerin, aber nie gefährlicher, als wenn sie sich die 72 Larve der Vernunft umbindet und aus Principien irre redet. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 286)

Ebenso wenig wie der Rationalitätsglaube durch einen Irrationalismus ersetzt wird, wird innerhalb der Tradition der anderen Vernunft der Wahrheitsbegriff im Zuge der Aufwertung der Praxis verabschiedet. Vielmehr erhält er nur eine andere Bedeutung. Was bereits zur Zeit der Spätaufklärung in nuce entwickelt wird, ist das, was späterhin zu einer pragmatischen Wahrheitstheorie ausgebaut wird, der zufolge „das ‚Wahre‘ nichts anderes ist als ‚das Gute im Hinblick auf unsere Überzeugungen, und zwar das Gute aus bestimmten, angebbaren Gründen‘„73, und wonach unsere „Überzeugungen nicht als Abbilder der Realität [anzusehen sind], sondern als Werkzeuge zum Umgang mit der Wirklichkeit, als Bestimmungen, die angeben, wie in Reaktion auf bestimmte Eventualitäten zu handeln ist“74. Danach sind die Ausdrücke ‚wahr‘ und ‚begründet relativ auf ein Begriffssystem‘ (conceptual scheme) als synonym zu verstehen, „as long as ‚our conceptual scheme‘ is taken as simply a reference to what we believe now – the collection of views which make up our present day culture“75. Innerhalb des pragmatischen Paradigmas wird also die realistische Korrespondenz- durch eine instrumentalistische Kohärenztheorie der Wahrheit ersetzt. In diesem Sinne lässt Wezel, nachdem der Leser in einer „dienstfreundlichen Anzeige“ vor einem ernsten Gespräch gewarnt wurde, das er getrost überblättern könne, den Philosophen Selmann (Person B) im Tobias Knaut die Unterscheidung zwischen ‚Gewissheit‘ und ‚gewiss sein‘ treffen: A. Mein Herr, ich merke, Sie sind ein Metaphysiker. 71 72

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Auf die Herz-Kopf-Problematik werden wir im folgenden Kapitel 2.1.3 noch ausführlich zurückkommen. Der Lauf der Welt – das sieht auch Wieland klar – ist freilich ein anderer; hier hat die Vernunft oft genug von vornherein verlorenes Spiel: „Es bedarf, um die größten Veränderungen im Zustande der Welt hervorzubringen, nur weniger Ideen, die in beschränkten aber kraftvollen Menschen lebendig und herrschend werden. Diese wenigen Ideen brauchen nicht einmahl deutlich und bestimmt zu seyn; im Gegentheil, sie wirken nur desto gewaltiger, je verworrener sie sind.“ (Wieland, Werke, X, 32, S. 425 f) Rorty, 1988, S. 6. Rorty greift hierbei auf die Position von William James zurück. Rorty, 1993, S. 60. In der Konsequenz einer solchen pragmatischen Wahrheitskonzeption steht auch der Vorschlag Rortys, „alle Bereiche der Kultur nicht als Autoritäten, sondern als Werkzeuge zu sehen: als Hilfsmittel zur Neubeschreibung und Neugestaltung unseres Ichs und unserer Umwelt“ (ebd. S. 10 f). Rorty, 1980, S. 276. Die mit Hilfe des Wahrheitsbegriffs Davidsons verfeinerte pragmatische Wahrheitskonzeption Rortys, wonach der Ausdruck ‚wahr‘ mit überhaupt nichts synonym ist und deshalb weder analysiert noch definiert zu werden braucht, lasse ich hier unberücksichtigt, da sie selbst mit einiger Großzügigkeit nicht bei unseren spätaufklärerischen Autoren zu finden ist (vgl. dazu Rorty, 1993, S. 21 ff u. S. 41).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil B. Keineswegs! Auch habe ichs nie seyn wollen. Ich habe gelesen und gedacht; Beobachtungen und gesunde Vernunft ist meine ganze Metaphysik: was vor diesen besteht, das sind meine Meinungen – A. Die Sie vermuthlich für die wahren Meinungen halten? B. Freilich! Sonst machte ich sie nicht zu den meinigen. A. Wie können Sie aber das glauben. Es ist ja keine Gewisheit; und wo die nicht ist, wie kann man da glauben? B. Sehr wohl! Wir wollen uns nur verstehen. Sie werden mir einräumen, daß gewiß seyn und Gewisheit haben, zwo nicht gleichbedeutende Redensarten sind? A. Wie so? B. Gewiß seyn heißt, sich etwas als wahr vorstellen: so bin ich gewiß, daß meine Wahrnehmungen wahr sind, das heißt, ich stelle sie mir als wahr vor oder – ich glaube es. Doch darum habe ich nicht Gewißheit, das ist, weil ich sie mir als wahr vorstelle, deswegen sind sie es 76 nicht; [...].“ (Wezel, TK, II, S. 159 f)

Insofern die Begriffssysteme von Menschen gemacht sind und Sätze nur in Bezug auf diese Begriffssysteme als wahr bezeichnet werden können, kann für den Anhänger des pragmatischen Paradigmas auch die Wahrheit einzelner Aussagen als von Menschen gemacht angesehen werden.77 In der Linie einer solchen Wahrheitsauffassung liegen auch die Gründe, aus denen sich der Erzähler im Tobias Knaut für die Annahme einer Seele entscheidet: Jede Sache in der Welt erscheint jedem Menschen so und nicht anders, aus Ursachen, die nicht in seiner Gewalt sind. Dem Mettrie scheint die Seele materiell – vermuthlich weil ihm der Zufall nur solche Erscheinungen von derselben auf einer überredenden Seite vor die Augen kommen ließ, die ihm diese Meinung aufdrangen – einem andern erscheint sie als immateriell – aus der nämlichen Ursache: aber ich ziehe diese letzte Meinung vor, weil es heilsamer und von fruchtbarern Folgen ist, wenn sie die ganze Welt glaubt, als wenn sich die ganze Welt bloß für einen Erdenkloß hält. Wo ein solcher Maasstab nicht statt findet, da können Menschen nicht bestimmen, was Wahrheit ist, da glaube ich gar nichts. (Wezel, TK, III, S. 153 f)

Ebenso stehen bei Wieland wohlbegründete Aussagen stets in Relation zu einem philosophischen System, das als ganzes Ausdruck der menschlichen Individualität und also subjektiv ist. Innerhalb eines solchen Systems hingegen können gewisse philosophische Aussagen sehr wohl als objektiv begründet und also als wahr charakterisiert werden78: Die Wahrheit ist, wie alles Gute, etwas verhältnißmäßiges. Es kann vieles für die menschliche Gattung wahr seyn, was es für höhere oder niedrigere Wesen nicht ist; und eben so kann etwas 76 77

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Für eine realistische Wahrheitstheorie hat Wezel auch im Belphegor nur Hohn und Spott parat (vgl. Wezel, B, I, S. 213). Vgl. Rorty, 1989, S. 21. Rorty gibt an anderer Stelle jedoch zu bedenken: „When the notion of ‚description of the world’ is moved from the level of criterion-governed sentences whithin language games to language games as wholes, games which we do not choose between by reference to criteria, the idea that the world decides which descriptions are true can no longer be given a clear sense.“ (ebd., S. 5) Vgl. hierzu Müller, 1971, S. 96 f u. S. 113. Im Zusammenhang der Frage nach dem Referenzobjekt des Relativismus werden wir auf dieses Problem nochmals zu sprechen kommen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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von dem einen Menschen mit innigster Überzeugung als wahr empfunden und erkannt werden, was ein andrer mit gleich starker Überzeugung für Irrthum und Blendwerk hält. (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 42)79

Aus dem pragmatischen Wahrheitsbegriff folgt demnach die Einsicht in die unhintergehbare Wahrheitspluralität insbesondere in metaphysicis. Aus dieser Einsicht ergibt sich wiederum das Gebot der Toleranz: In metafysischen und ästhetischen Dingen, das ist, in Sachen wo das meiste auf Einbildung und Sinnesart ankommt, wäre das billigste, einen jeden im Besitz und Genuß dessen, was er für Wahrheit hält, ruhig und ungekränkt zu lassen, so lange er andre in Ruhe läßt. (Wieland, Werke, VIII, 24, 48)

Im Rahmen einer solchen pragmatischen Wahrheitstheorie löst sich der Begriff der empirischen Tatsachen auf, denn: „we can only compare languages or metaphors with one another, not with something beyond language called ‚fact‘“80, und „Tatsachen und Theorien sind viel enger verknüpft, als es das Autonomieprinzip wahrhaben will“81. Auch Wieland begreift dieses nach Goethe Höchste, „daß alles Faktische schon Theorie ist“82: Fakta sind alles, was man daraus machen will, sagte Danischmend: aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie etwas anders; und in zehn Fällen gegen Einen ist das vermeinte Faktum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese. (Wieland, Werke, III, 8, S. 103)

„Das Wahrste von allem, was jemahls wahr genannt wurde“ ist deshalb laut Wieland, dass „jeder Sterbliche gerade so viel Wahrheit auffassen kann, als er zu seiner eigenen Nothdurft braucht“ (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 41). Diese Wahrheit jedoch ist nicht etwas Fernabliegendes, das nur nach großen Anstrengungen gefunden werden kann, sondern etwas Alltägliches und Nahebeiliegendes, das jedermann aufzufassen in der Lage ist. So sagt Archytas in der 3. Fassung des Agathon: Die Wahrheit [...], die für alle wahr und allen unentbehrlich ist, die den Menschen zu seiner höchsten Bestimmung, zu dem was für ihn das höchste Gut ist, führen soll, kann nicht in dem Brunnen des Demokritus versenkt liegen, sie kann kein Arkanum seyn, dessen Besitz die Natur einigen Wenigen ausschließlich anvertraut hätte, und welchem zu Liebe man nach Memfis oder Sais, oder zu den Gymnosofisten am Ganges reisen müßte. Sie muß uns allen nahe genug

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Vgl. auch Wielands an anderer Stelle formulierte Maxime: Es „trage jeder seine Meinung oder seinen Widerspruch, mit seinen Gründen, bescheiden und gelassen vor, ohne einen andern zu verunglimpfen oder zu verspotten, welcher vernünftige Gründe zu haben glaubt anders zu denken“ (Wieland, AA, Bd. 15, S. 133). Vgl. Rorty, 1989, S. 20. Vgl. Feyerabend, 1991, S. 43, wo es weiterhin heißt: „Nicht nur hängt die Beschreibung jeder einzelnen Tatsache von Theorien ab [...], sondern es gibt auch Tatsachen, die nur mit Hilfe von Alternativen zu der zu prüfenden Theorie zutage gefördert werden können und die nicht zur Verfügung stehen, wenn solche Alternativen ausgeschlossen sind.“ Goethe, 1981, Bd. 12, S. 432 (Nr. 488).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil liegen, um durch bloße Aufmerksamkeit auf uns selbst, durch bloßes Forschen in unsrer eignen Natur, so weit das Licht in uns selbst den Blick des Geistes dringen läßt, gefunden zu werden. (Wieland, Werke, I, 3, S. 392)

Für einen solchen Wahrheitsbegriff, der die Theorie an die Praxis bindet, stellt jedoch der Roman – und nicht ein philosophisch argumentierender Text – die angemessene Diskursform dar, insofern er die Möglichkeit bietet, jede philosophische Aussage zu kontextualisieren: Der Roman erweist sich damit als literarische Gattung, die die Möglichkeit zur Überprüfung der Theorie in einer potentiellen Praxis gibt. Er stellt fiktive Lebenszusammenhänge her, de83 nen die Theorien kompatibel sein müssen.

Die Konsequenzen des pragmatischen Paradigmenwechsels in der Erkenntnis-, Rationalitäts- und Wahrheitstheorie sind also für den philosophischen Roman der Spätaufklärung weitreichender, als in seinen diskursiven Passagen deutlich wird. Im Roman nämlich sehen die Spätaufklärer das geeignete Medium, nicht mehr das Denken und seine Ergebnisse allein, sondern auch den Hervorgang dieses Denkens sowie seine Anwendung im alltäglichen Lebenszusammenhang zur Darstellung zu bringen. Vor diesem Hintergrund wird das Postulat der pragmatischen Integration des Denkens in das erzählte Geschehen formuliert, mit der zugleich die Forderung nach Anschaulichkeit erfüllt werden könne.84 Blanckenburg, der die wohl avancierteste Romantheorie seiner Zeit entwickelt hat, schreibt in diesem Sinne: Und schicklich sind, wie gedacht, diese Sentenzen, diese Auspinnungen moralischer Lehrsätze, diese Beobachtungen über das Thun und Lassen des Menschen allein, wenn in dem Gange des Werks dadurch eine Wirkung hervorgebracht wird, die uns den Zusammenhang aufkläret. Alsdenn sind diese Betrachtungen nicht mehr Einschiebsel, sondern sind fürs Ganze so 85 nothwendig, als irgend ein andrer Theil.

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Gössl, 1987, S. 13. Zum Postulat der pragmatischen Integration vgl. Hahl, 1971, S. 31 ff. Die Forderung nach Anschaulichkeit nennt Hahl dabei wenig glücklich das „Darstellungsprinzip“. Blanckenburg, Versuch, S. 405. Auch Engel, der Vater der zweiten belangvollen Erzähltheorie dieser Zeit, folgt demselben Postulat der pragmatischen Integration, wenn er die Unterscheidung zwischen philosophischer und dramatischer Handlung einführt: „Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen philosophischer und dramatischer Handlung ist der: daß die letztere, weil sie auf eine Veränderung der äußeren Verhältnisse abzweckt, nicht ohne Mitwirkung oder Hinzukunft anderer Gegenstände, und im Drama besonders nicht ohne Einführung anderer Personen, zu Stande kommen kann; da hingegen die erstere, die philosophische Handlung, in manchen Fällen, nichts als die Wirksamkeit einer einzigen nachdenkenden Seele fordert. Dieser Fall aber ist dann, wann die abgezweckte Veränderung in dem philosophischen Kopfe selbst liegt, wann er nicht andere, sondern sich unterrichten, nicht für andere, sondern für seinen eigenen Gebrauch einen Gedanken berichtigen, weiter führen, widerlegen, bestätigen will.“ (Engel, 1964, S. 207 f)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Erst die pragmatische Integration der Reflexionen86 in fiktionale Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge gibt „dem Gedanken seine individuelle Bestimmung“87. Mit einer derartigen Kontextalisierung und Individualisierung bestreitet der Roman der professionellen Philosophie ihren Objektivitäts- und Systemanspruch.88 In den Worten Wezels: Nicht das Sinnliche, wie man gewöhnlich sagt, sondern das Individualisirte in den Ideen ist eins von seinen [des Romans] Hauptmerkmalen: je mehr oder weniger er dieses hat, je größer oder geringer muß die Kritik seinen Werth ansetzen [...]. (Wezel, Epistel, S. 161)

Dadurch erhält die Erkenntnis in den Augen der spätaufklärerischen Romanciers ihre existentielle Gründung im Menschen, dessen „Empfindungssystem“ auch im realen Leben auf das Denken des Menschen den größten Einfluss habe: Wenn Empfindung das Nachdenken nicht zuweilen ablöst, so sammelt sich um unsre Gedanken so ein trüber Zirkel, wie der Hof um den Mond, der ihre Strahlen auffängt oder ihnen eine 89 ganz falsche Farbe giebt [..]. (Wezel, SE 3, S. 75)

Diese Korrespondenz zwischen dem Einfluss der Affektivität auf die intellektuellen Vorgänge im realen Menschen und der pragmatischen Integration des Denkens in den fiktionalen Lebenskontext der Protagonisten lässt den Roman zur bevorzugten Gattung innerhalb der Tradition der anderen Vernunft werden. Dabei sind sich die Spätaufklärer darüber im Klaren, dass sich durch die pragmatische Integration auch der Wahrheitsan-

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Diese Reflexionen können im Übrigen ebenso sehr von den Romanfiguren wie vom Erzähler vorgebracht werden. Allerdings ist es verfehlt, den ersten bloße Relativität, den letzteren hingegen Objektivität zuzuschreiben, wie Hahl es tut (vgl. Hahl, 1971, S. 38); relativiert werden vielmehr beide im fiktionalen Erzählkontext. Vgl. Engel, 1964, S. 58. Schon nach Breitinger „können wahre Sätze in dem Mund einer Person sehr tadelhaft sein, wenn sie nicht in solchen Umständen steht, daß sie solche gedencken kann.“ Und auch nach Garve kann Kritik nur dann geäußert werden, „wenn überhaupt da allgemeine abstrakte Urteile sind, wo lauter particulaire Ideen, solche, die sich bloß auf die Umstände und das Geschäffte der Redenden beziehen, erfordert wurden.“ (Beides zit. nach: Hahl, 1971, S. 26) Müller, 1971, S. 76 stellt entsprechend die Nähe der Romane Wielands zum Essay fest: „Der Essayismus wird in Wielands Altersromanen gewissermaßen zur Lebensform, indem nicht mehr der Autor die Gelegenheit wahrnimmt, das Erzählte zum Anlaß einer essayistischen Abschweifung zu nehmen, sondern die Figuren selbst der ‚Aufforderung zum Nachdenken‘ folgen.“ Vgl. auch Wezel, TK, III, S. 206 f: „Ist unser Kopf nicht eine bloße Wand, auf welche unser Herz und unser Körper nach Gefallen die Farbe der Zufriedenheit und Unzufriedenheit werfen? – Man schreibe darauf die verborgenen Geheimnisse der Natur, ihren ganzen schönen vollkommnen Plan, man zeichne alle reiche und mannichfaltige Quellen der menschlichen sublunarischen Glückseligkeit – genug man male Leibnitzens beste vollkommenste Welt darauf! –, sollte man nun nicht denken: ey, der Mann muß froh, muß zufrieden seyn! – Weit gefehlt! Die Hauptsache kömmt darauf an, was für ein Licht unser Empfindungssystem auf unsre Begriffe wirft! Ist dieses ein heller, lichter Glanz? – gut! So sind wir zufrieden! – ist es ein düstrer, trüber Schimmer? – wehe! unsrer Zufriedenheit!“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

spruch der philosophischen Aussagen in fiktionalen Texten ändert.90 So muss selbst der treue Platon-Schüler Speusippos in Wielands Aristipp bekennen, dass auch die platonische Philosophie von der Affektivität abhängt und dadurch relativiert wird: Die Filosofie Platons kommt mir nie fantastischer vor, als wenn ich mich in den Wogen des alltäglichen Lebens herumtreibe. [...] Wie hingegen in mir selbst und um mich her alles still ist, und meine Seele, aller Arten irdischer Fesseln ledig, sich in ihrem eigenen Element leicht und ungehindert bewegen kann, erfolgt gerade das Gegentheil; [...] ich bedarf in diesen Augenblicken eben so wenig eines andern Beweises der Wahrheit seiner Filosofie, als einer der etwas vor seinen Augen sieht, einen Beweis verlangt daß es da sey. (Wieland, Werke, XI, 36, 91 S. 276 f)

Vor dem Hintergrund dieser Relativierung der Philosophie und ihres Erkenntnis- und Wahrheitsanspruchs scheint den Spätaufklärern ihre vom Postulat der pragmatischen Integration geleitete Darstellungsform durchaus gerechtfertigt. Nur auf diese Weise meinen sie die Funktion philosophischer Theorien in der Lebenswirklichkeit angemessen präsentieren zu können. Im Agathon wird dies in der den gesamten Roman prägenden Auseinandersetzung zwischen dem Materialisten Hippias und dem Idealisten Agathon beispielhaft vorgeführt92, ohne dass sich der Erzähler – gemäß der Einsicht, dass es „so viele besondere Denk- und Sinnesarten als [..] verschiedene Erziehungen und Stände in der menschlichen Gesellschaft“ (Wieland, A, S. 551) gebe – eindeutig für eine der beiden Alternativen entscheidet oder gar der Autor hierbei greifbar würde. Der „Wettkampf der Weltanschauungen, bei dem die Realität als Schiedsrichter aufgerufen ist zu klären, welche der Parteien Recht behalten wird“93, bleibt im Agathon ebenso unentschieden wie die philosophisch weitaus radikalere Auseinandersetzung zwischen Belphegor, Fromal und Medardus im Belphegor Wezels, in der die unterschiedlichen Weltauffassungen zu bloßen lebensnotwendigen Illusionen relativiert werden. Die Entwicklung philosophischer Anschauungen erscheint hier als gänzlich kontingent, sodass man für sie zwar Ursachen, aber keine Gründe anzugeben vermag: Wer sich eine von den beiden Vorstellungsarten dieses Zusammenhangs wählt, wählt diejenige, die ihm nach seiner Lage Thätigkeit zur Handlung und Beruhigung in der Widerwärtigkeit mittheilt; und er hat wohl gewählt: aber wessen Gewalt ist es überlassen, eine solche Wahl zu 90

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Vgl. z.B. Knigge: „[W]enn er [der Dichter] ihnen [den Figuren] die kühnsten Meinungen und Grundsätze in den Mund legt, darf niemand ihn zur Verantwortung ziehn, in so fern diese Meinungen und Grundsätze nur zu dem Charakter der Personen passen.“ (Zit. nach Hahl, 1991, S. 33) Eine derartige Relativierung auf den Empfindungsapparat muss sich die Philosophie Platons im Übrigen bereits im Agathon gefallen lassen. Vgl. dazu Thome, 1978, S. 165. Gössl, 1987, S. 56. Die Nähe der Auseinandersetzung von Hippias und Agathon zu derjenigen von Belphegor und Fromal stellt Gössl selbst her: „Die Strukturanalogie zum Gespräch Hippias – Agathon ist [..] höchst bedeutsam. Der fatalistische Materialist Fromal, der als illusionsloser Kenner der Realität auftritt, fordert den idealistischen Schwärmer Belphegor zu einer Wette oder Probe auf, bei der sich entscheiden muß, welche Weltsicht die angemessenste ist. Die Realität selbst wird wieder zum Schiedsrichter aufgerufen.“ (Ebd., S. 106)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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treffen? Allmählich erzeugt sich aus Kenntnissen, Schicksalen und Beobachtungen darüber ein gewisser lichter Schimmer der größern Wahrscheinlichkeit, der eine von jenen Meinungen in seinem Kopfe hervorstechender macht [...]. (Wezel, B, II, S. 283)

Für die Kontextualisierung des (philosophischen) Denkens erscheint also den Spätaufklärern der Roman als die angemessene Diskursform. In ihm findet eine Perspektivierung aller diskursiven Inhalte statt.94 Da die Menschen nicht gleich sind und sich schon in ihrer körperlichen Ausstattung stark unterscheiden95, da sie nicht nur in unterschiedlichen Lebenskontexten stehen, sondern sich in jedem einzelnen Leben die Situationen und damit die Handlungskontexte fortlaufend ändern, ist ein solcher Perspektivismus, wonach wir „nicht alle durch ein und eben dasselbe Schlüsselloch in die Welt gucken [können und sollen]“ (Wieland, Werke, III, 8, S. 128), in den Augen der Spätaufklärer die allein adäquate Haltung. Die schon von Goethe in seiner Grabrede etwas missbilligend konstatierte Problemoffenheit Wielands und dessen Selbstcharakterisierung als „Cameleon“, die sowohl den seit Friedrich Schlegel gängigen Urteilen über die vorgebliche Standpunktlosigkeit Wielands als auch der Charakterisierung seiner Romane durch den vagen Begriff der Multiperspektivität den Weg bereiteten96, drückt Wieland selbst im Teutschen Merkur aufs Deutlichste aus: Meine natürliche Geneigtheit, alles […] von allen Seiten und aus allen Gesichtspunkten anzusehen, und ein herzlicher Widerwillen gegen das mir allzu einseitige Urteilen und Parteinehmen ist ein wesentliches Stück meiner Individualität. Es ist mir geradezu unmöglich, eine Par97 tei gleichsam zu heiraten.

Diese „natürliche Geneigtheit“ zum Perspektivismus prägt sich auch in der Erzählhaltung der Wielandschen Romane aus – vor allem in ihrer, im weitesten Sinne, dialogischen Struktur, aber auch in dem ironischen Spiel mit dem Leser, das im Fußnotenapparat des Danischmend vorgeführt wird98. Bei Wezel99 ist dieser Perspektivismus ebenfalls nicht nur in den diskursiven Passagen seiner Romane herrschend:

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Vgl. auch Rorty, 1993, S. 89. Vgl. Wezel, SE 3, S. 18 f: „[K]einer unter allen den Spiegeln, die jemals Bilder von diesem Erdkreise auffangen, wird dem andern völlig gleich geschliffen seyn; Eine Sache wird nie in einem völlig gleich abgemalt stehn, wie in dem andern; und doch werden alle Geschöpfe, die mit solch einem Spiegel versorgt sind, so handeln, als wenn auf eines jeden Fläche die nämliche Vorstellung erschiene. [...] Wie jene Spiegel nicht in Euch allen auf gleiche Art geschliffen sind, die Sachen nicht auf gleiche Art abbilden, wie das, was ihr Worte nennen sollt, jene Theilchen, die ich den Zungen zu Gebietern gab, niemals Ein bestimmtes Bild allein, sondern eine schwankende Mischung von verschiedenen, die sich wie die Farben des Regenbogens in einander verlieren, in euern Spiegeln hervorrufen werden, so sollt ihr nie dasselbe Ding auf dieselbe Art sehen, und doch oft dasselbe auf dieselbe Art zu sehen glauben.“ Vgl. auch Wezel, TK, II, S. 156. Zu den gängigen Urteilen über Wieland vgl. die Zusammenstellung von Erhart, 1991, S. 1 ff. Zit. nach Jacobs, 1965, S. 45. Vgl. auch Wieland, Werke, XI, 32, S. 277. Vgl. insbes. Wieland, Werke, III, 8, S. 48-55 u. 66-71. Freilich ist auch dieses Spiel, wie wir noch sehen werden, eine spezielle Variante des dialogischen Prinzips. Hohendahl merkt hierzu an, dass

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil Ja die Welt und alle Sachen in der Welt, und also auch die menschliche Seele, sind Würfel mit einer unendlichen Menge Seiten, worunter auf einer jeden eine andre Vorstellung der Sache abgemahlt ist. Die Vorsicht, das Schicksal, oder wie es ein jeder nach seinen Begriffen sonst nennen will, wirft für einen jeden Menschen insbesondre diese Würfel; und von diesem Wurfe hängt es ab, welche Seite er sehn und folglich auch, welche Vorstellung der Sache er haben soll. Von einigen Menschen geschieht dieser Wurf nur einmal, und sie sehn ewig die nemliche Seite davon; bey einigen wird er oft wiederholt, und theils lernen sie verschiedene Seiten auf diese Art kennen, theils sehen sie oft eine andre. Der Weise, das heißt, der Mann von Genie und lebhaft geübten Seelenkräften, hat allein die Begünstigung, sich diese Würfel oft selbst zu 100 werfen, oder verschiedene Seiten auf einmal zu überschauen [...]. (Wezel, SE 3, S. 67)

Vielmehr lässt sich schon die Grundstruktur des Belphegor i.S. einer Versuchsanordnung, in der „weitgehend depersonalisierte Protagonisten [...] verschiedene weltanschauliche Perspektiven und philosophische Programme verkörpern“101, „deren pragmatische Leistungsfähigkeit innerhalb der kausalen Weltmaschinerie überprüft wird“102, als Ausdruck einer perspektivistischen Haltung interpretieren. Entsprechend sind auch die „Reaktionen und Räsonnements aller drei Hauptfiguren als perspektivisch gebrochene, durch die jeweilige subjektive Verfassung bedingte Deutungen ihrer Erfahrungen zu verstehen, ohne daß eine Figur zur Normfigur oder gar zum ‚Sprachrohr‘ einer vermeintlichen Autorintention würde“103. Mit dem für den gesamten skeptischen Diskurs typischen Perspektivismus104 einher geht die Forderung nach Toleranz, welche für Wezel wie für Wieland den „wahren Weltbürger“ ausmacht.105 Da niemals zwei Menschen „völlig gleichförmig denken“, in den Anmerkungen des Danischmend die Fiktion als Fiktion entlarvt werde (vgl. Hohendahl, 1969, S. 103). 99 Auf den Sonderfall Klinger werden wir im Zusammenhang mit dem Relativismus zu sprechen kommen. Dass Klinger ebenfalls dem Perspektivismus zuneigt, zeigt ein Brief vom 4.11.1797, in dem es über den Romanzyklus heißt: „Wie! er sollte nicht sehen, daß jede Seite des vielfachen Gemähldes just wie sie ist, die rechte ist? daß jede die rechte, die wahre ist? Und daß sie sich alle in einem Punkt der Perspective vereinigen?“ (Klinger, 1896, S. 36) 100 Es scheint nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass die Würfelmetapher später von Nietzsche – bekanntlich dem Hauptvertreter des Perspektivismus – an prominenter Stelle verwendet wird (Nietzsche, 1988, Bd. 3, S. 122; vgl. Ulrichs, 2004, S. 145 ff). 101 Jaumann, 1994, S. 227. 102 Ebd., S. 245. 103 Hofmann, Michael: „Agathons unglücklicher Bruder“, in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 75. 104 Vgl. Kremer, 1990, S. 287: „Die pragmatische Perspektive auf konkrete Alltagswelten sichert dem skeptischen Diskurs eine praktische Toleranz, die ihn vor einer dogmatischen Überhöhung einer bestimmten Weltanschauung bewahrt und andererseits dafür Sorge trägt, daß unterschiedliche Weltbilder gleichberechtigt nebeneinander bestehen können.“ 105 Vgl. Wezel, TK, IV, Anhang 1, S. 62*: „Ein wahrer Weltbürger muß diesen großen Staat [i. e. die Welt] auf allen Seiten kennenlernen, die er nach seinen Umständen nur kennen lernen kann, und ihn ja niemals auf Einer allein zu lange oder zu oft betrachten: das Urtheil darüber fällt alsdenn immer partheiisch aus; die Erde wird zum Himmel oder zur Hölle; da sie doch keins von beiden für sich allein ist.“

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

99

bleibt nichts anderes übrig, als „den Dissentienten die Erlaubnis zu geben, mit ihnen zugleich Recht zu haben; und diese ganze Diät so kalt und ohne die geringste Erhitzung zu beobachten, als wenn gar keine Gewisheit in der Welt möglich wäre.“ (Wezel, TK, I, S. 23). Wielands Aristipp lässt sich geradezu als Verkörperung einer solchen Toleranz auffassen: Ich liebe, wie du weißt, die Vielseitigkeit; ich kann zu gleicher Zeit die verschiedensten Dinge treiben, und mich mit den ungleichartigsten Menschen so gut vertragen, daß jeder mich für seinesgleichen, oder wenigstens für ein Subjekt von ganz guter Hoffnung gelten läßt. (Wieland, Werke, XI, 34, S. 140)

Für Aristipp folgt die Haltung der Toleranz unmittelbar aus der Position des Perspektivismus: Es gibt schwerlich ein besseres Mittel, die Urteilskraft zu schärfen und sich vor Einseitigkeiten und Unbilligkeit gegen anders Denkende zu verwahren, als wenn man jede Sache von allen ihren Seiten und in verschiedenstem Lichte betrachtet. (Wieland, Werke, XI, 32, S. 277)

Toleranz ist allerdings immer eine prekäre Angelegenheit, insofern die Notwendigkeit der Überzeugtheit von seiner Meinung gegen das Wissen um deren Einseitigkeit ausbalanciert werden muss: Niemand kann einer Meinung seinen Beifall geben, wenn er sie nicht für wahrer hält als alle andre; und gleichwohl muß er, um tolerant zu seyn, keine für ausgemacht wahr halten. (Wezel, 106 TK, III, S. 131)

Wieland sichert die perspektivistische Position durch eine pragmatische Wahrheitskonzeption ab, der gemäß die Wahrheit „etwas verhältnißmäßiges“ sei und also „etwas von dem einen Menschen mit innigster Überzeugung als wahr empfunden und erkannt werden [könne], was ein andrer mit gleich starker Überzeugung für Irrthum und Blendwerk hält.“ (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 42). Konsequenterweise findet der Perspektivismus bei Wieland nicht in einem Konzept zeitloser Wahrheit, sondern im narrativen Ideal einer toleranten Kommunikation als eines freien Austauschs freier Menschen ihren utopischen Zielpunkt: Die Wahrheit ist weder hier noch da – Sie ist, wie die Gottheit und das Licht worin sie wohnt, allenthalben: ihr Tempel ist die Natur, und wer nur fühlen, und seine Gefühle zu Gedanken 106

Vom skeptischen Verdacht freilich bleibt bei Wezel auch die Toleranz nicht verschont – selbst in ihr noch lassen sich egoistische Motive finden: „Wenn die Eigenliebe, das heißt, das eigne Gefühl unsrer Kräfte und Vollkommenheiten, mit einem sanften Temperamente verbunden ist, so wird sie ein duldsames friedfertiges Geschöpf; wo es aber die Gefährtinn eines unruhigen Blutes ist, da wird sie zum zänkischen Weibe. In dem ersten Falle gab ich die Toleranz gegen die von den unsrigen verschiedenen Meinungen, für einen Abkömmling der Eigenliebe aus: sie ist es auch im Grunde, oder vielmehr die Eigenliebe selbst, ein verfeinerter Stolz. (Wezel, TK, III, S. 130) Auch der Pessimismus, dem Wezel nach Meinung vieler Interpreten in seinen Romanen huldigt, verfällt im Tobias Knaut der perspektivistischen Kritik und wird auf physiologische Gegebenheiten relativiert (vgl. Wezel, TK, I, S. 21 f).

100

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

erhöhen, und seine Gedanken in ein Ganzes zusammenfassen und ertönen lassen kann ist ihr Priester, ihr Zeuge, ihr Organ. Keinem offenbart sie sich ganz; jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten, oder nur den Saum ihres Gewandes – aus einem andern Punkt, in einem andern Lichte; jeder vernimmt nur einige Laute ihres Göttermundes, keiner die nehmlichen – Und was haben wir also zu thun? [ ... ] lasset uns in Frieden zusammen gehen, oder, wenn wir des Gehens genug haben, unter den nächsten Baum uns hinsetzen, und einander offenherzig und unbefangen erzählen, was jeder von ihr gesehen und gehört hat, oder gesehen zu haben 107 glaubt [ ... ]. (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 49 f)

An dieser Stelle wird deutlich, als wie eng die Spätaufklärer den Zusammenhang zwischen Perspektivismus, pragmatischem Wahrheitsbegriff und narrativer Form ansahen. Entsprechend betrachteten sie den Roman als die einer solchen Position angemessene Diskursform. Hierbei lässt sich mit guten Gründen vermuten, dass Wieland, insofern er die Haltung der Toleranz an gewisse rationale Mindestanforderungen knüpft, dem Ethnozentrismus, wie ihn Rorty beschreibt, seine Zustimmung nicht verweigert hätte.108 Indem die verschiedenen Perspektiven gegeneinander gehalten werden und sich die Menschen, im Bewusstsein ihrer Einseitigkeit, um Toleranz gegenüber anderen ebenso berechtigten Sichtweisen bemühen, entsteht in den Romanen der Spätaufklärung jene „Schwebe des Urteils“, die bereits die pyrrhonische Skepsis als Konsequenz der aporetischen Situation angestrebt hat: Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen 109 und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.

Dieser Skeptizismus, den Blumenberg als therapeutische Auffassung der Philosophie beschreibt110, beschränkt sich auf die ‚Oberfläche‘ und hält alle metaphysischen Fragen nicht etwa für negativ entscheidbar, sondern für unbeantwortbar und damit in letzter Instanz für sinnlos – ein Agnostizimus, der dennoch „dem Ernst der Frage treu“ bleibt.111 Lichtenberg, der den Menschen in seiner unstillbaren Neugierde als „Ursachen-Tier“ beschreibt, fasst die skeptisch-agnostische Haltung folgendermaßen zusammen: Die Natur scheint uns Sterblichen gleichsam tiefsinnige Untersuchungen zu verbieten und mit Fingern auf dieses Verbot zu deuten; denn was meinte sie anders, als dieses, daß, da es nicht einmal nötig ist, uns selbst zu kennen, es viel weniger nötig sei zu wissen, was die unvernünf112 tigen Tiere, die Steine und die Sterne sind.

Dies ist ganz im Sinne der Skeptiker Wieland, Wezel und Klinger gesprochen. Wezel, für den „ein weiser Scepticismus die einzige Partie [ist], die ein verständiger Mann 107

Vgl. hierzu auch Wieland, Werke, VIII, 24, S. 48. Vgl. dazu Rorty, 1988, S. 27 f (zit. in Kap. 3.3). 109 Sextus Empiricus, 1985, S. 94. 110 Blumenberg, 1966, S. 315. 111 Vgl. Jacobs, 1965, S. 103. 112 Lichtenberg, 1994, Bd. 1, S. 142 f (B 378). 108

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

101

erwählen könne“ (Wezel, TK, III, S. 133) und dessen Romane in der aporetischen Situation der Kakerlakischen Philosophie113 enden, lässt seine Reflexionsfigur Selmann, der den Skeptizismus gegenüber dem akademischen Philosophen Alfimandus vehement verteidigt, mit der Einsicht sterben: Wir irren [...] in einem Labirinthe von Ungewißheit herum; wir tappen wie Blinde nach der Wahrheit, suchen sie funfzig, sechzig Jahre hindurch und haben am Ende – einen Schatten. (Wezel, TK, III, S. 202)

Wezel, für den „die ganze Philosophie Illusion“ (Wezel, B, II, S. 103) ist, charakterisiert denn auch den gesamten Tobias Knaut als skeptizistisches Experiment, wenn er die Geschichte seines Helden als „Geschichte des menschlichen Verstandes“ bezeichnet: „er gieng aus, gieng – gieng – gieng und – kam wieder an den Ort, wo er ausgegangen war“ (Wezel, TK, II, S. 149). Dabei bringt Wezel den Skeptizismus in enge Verbindung mit der Einsicht in die Perspektivität aller Erkenntnis, indem er ihn als Sublimierung einer Notwendigkeit interpretiert: Der Scepticismus entsteht aus zwey Extremen: entweder ist unser Genie so wirksam, daß wir jede Seite eines Gegenstandes gleich deutlich, gleich lebhaft zugleich übersehn; oder es ist so schwach, daß wir ein jede nur einzeln und nach und nach erblicken, ohne sie jemals alle oder doch die vorzüglichsten zusammen zu übersehen: in beiden Fällen müssen wir gleich unentschlossen seyn, welche Seite des betrachteten Gegenstandes wir für die wahre halten sollen. – Jener ist der Scepticismus des großen Genies, dieser des kleinen: jener macht tolerant, dieser so unduldsam, als eingebildete Unfehlbarkeit [...]. (Wezel, TK, III, S. 133 ff)

Im Belphegor, in dem „nach der Destruktion der experimentell erprobten Haltungen kein archimedischer Punkt mehr zu erkennen ist, der als Kriterium für die kritische Analyse anzusehen wäre“114, und der entsprechend als skeptischer Roman par excellance angesehen werden kann, erscheinen philosophische Theorien als nie letztbegründbare und nur unter affektiver Beteiligung als begründet erscheinende Illusionen, die „allzeit [...] blos unsre Erfindung [… bleiben], die wir nie zu einiger Evidenz erheben können“ (Wezel, B, II, S. 282), bis uns schließlich „der große mächtige Tod mit der Keule auf den Kopf“ (ebd., S. 191 f) schlägt: Alle Meynungen, die jemals von Philosophen erdacht sind, oder künftig erdacht werden, sind nichts als verschiedene Vorstellungsarten von den Dingen: die Dinge selbst kennt niemand: z.B. den Lauf der Welt stellen sich einige als die Wirkung eines blinden Zufalls, andre als die Folge einer festgeketteten Nothwendigkeit, eines Fatums, andre als die abgezweckte Anordnung einer nach Plan und Absicht handelnden Vorsicht vor: jede unter diesen Vorstellungsarten hat Gründe für sich, aber keine so viele, daß sie die Beweise der übrigen und alle Zweifel ganz vernichtete: es sind Vorstellungen von dem Laufe der Welt, aus verschiedenen Gesichts113

Der Kakerlak nämlich endet mit der Einsicht: „Der Mensch soll nicht wissen, sondern nur vermuthen, nicht genießen, sondern nur Genuß hoffen und träumen, nicht glücklich seyn, sondern sich glücklich dünken –.“ (Wezel, K, S. 195) Einen Ausnahmefall stellt der Entwicklungsroman Hermann und Ulrike dar. 114 Hofmann, a.a.O., S. 72.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

punkten genommen: wer nun unter diesen eine für die einzige wahre hält, der setzt dem Gewichte ihrer Gründe etwas wissentlich oder unwissentlich hinzu – welches meistentheils unsre Leidenschaften und Ideen ohne unser Bewußtseyn thun – und illudirt sich, in so fern dieses zur Überzeugung ausschlaggebende Etwas nicht die reine Wirkung ist. Glauben kann man in dieser Welt nie ohne Illusion. (Wezel, B, II, S. 103 f)

Auch Wieland lässt Agathon am Ende einen „bescheidenen Skepticismus“ (Wieland, A, S. 582) zur Lebenslehre erheben. Wie Erhart betont, handelt es sich bei diesem skeptizistischen Experiment jedoch keineswegs um ein unverbindliches ästhetisches Spiel als vielmehr um eine Darstellung der ungesicherten menschlichen Existenz durch Aufweis der unauflösbaren Widersprüchlichkeit der Perspektiven.115 So werden Wielands Romane – als „Modelle einer Spätzeit, die den Ordnungssynthesen der Vergangenheit nicht mehr vertraut, sich der Bildung neuer Ordnungen jedoch verweigert“116 – zu Alternativen zum harmonistisch interpretierten Bildungsroman der Goethezeit. In ihnen beschreibt Wieland die auch von Hume117 festgestellte paradoxe Lage des Menschen, dass das einzige, was mit unserem Bemühen um Wissenserweiterung wächst, das Wissen um unsere Unwissenheit ist, daß man immer weniger von den Dingen begreift je mehr man davon weiß; daß gegen Eine lichte Stelle die wir in der unermeßlichen Nacht der Natur erblicken, zehen tausend in Dämmerung, und zehn Mahl zehn tausend im Dunkeln vor uns liegen. (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 51)

Auch Wezel betont dieses proportionale Wachstum von Wissen und Unwissenheit: Die Anzahl der allgemeinen Wahrheiten, die dem menschlichen Verstande bestimmt wurden, ist unendlich klein: je kleiner der Umfassungskreis unsers Denkens ist, je größer scheint sie uns, und bey dem kleinen Geiste ist jede einzelne Erfahrung ein allgemeines Gesetz [...]. (Wezel, Versuch, S. 429 f)

Vorrangiges Ziel Wielands und Wezels ist es, dass der Zweifel nicht zur Verzweiflung wird, dass der Skeptizismus also zugleich „bescheiden“ und „glücklich“ macht, indem er den Menschen sich damit begnügen lässt, sich angesichts der Unbeantwortbarkeit metaphysischer Fragen auf die Bewältigung der Lebenswelt zu beschränken. Erst eine solche „wohlthätige Art des Zweifels“ erzeugt jene „vernünftige Toleranz“, die den Seelenfrieden ermöglicht: Wer zwischen beiden [demjenigen, der sich ein eigenes System baut, und dem bloßen Eklektizisten] mit denkenden und empfindenden Kräften mitten inne steht, gelangt allein zu dem Zustande der Ruhe, eines glücklichen Skepticismus, des stetigen Zweifels: er erschöpft 115

Vgl. Erhart, 1991, S. 223. Ebd., S. 402. 117 Vgl. Hume, 1913a, S. 29: „The most perfect philosophy of the natural kind only staves off our ignorance a little longer: as perhaps the most perfect philosophy of the moral or metaphysical kind serves only to discover larger portions of it. Thus the observation of human blindness and weakness is the result of all philosophy, and meets us at every turn, in spite of our endeavours to elude or avoid it.“ 116

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

103

seinen Glauben niemals ganz, sondern hebt immer etwas für sein Gegentheil auf [...]. Nur einiges ist ihm gegenwärtig Wahrheit, aber alles kann ihm dazu werden. Diese wohlthätige Art des Zweifels gebiert vernünftige Toleranz, macht der Belehrung fähig, gebiert Friede mit sich selbst und mit andern Menschen. (Wezel, Versuch, S. 327.)

Selbst Klinger, der sich immer wieder mit Rousseau und Kant zu helfen versuchte, führt in seinen Protagonisten Mahal118 und Faust119 Figuren vor, die mit dem Bedürfnis nach Beantwortung der letzten Fragen antreten, bald aber erkennen müssen, dass der Mensch „zur Dunkelheit, wenigstens zum Helldunkel geboren“ (Klinger, Werke, 6, S. 293) ist und dass alle Bemühungen um Abhilfe nur „unsern Mangel und unser Bedürfniß beweiset, was wir verloren haben, [...] wieder herzustellen“ (ebd., S. 327). So muss der Teufel dem Metaphysiker Faust die Maxime mit auf den Weg geben: „Ziehe deinen Geist von dem Unmöglichen ab, und halte dich an das Faßliche.“ (Klinger, Faust, S. 42) Entsprechend charakterisiert Klinger seinen gesamten Romanzyklus als auf einer agnostischen Grundhaltung120 beruhendes Experiment, als dessen Ergebnis die Nutzlosigkeit aller metaphysischen Fragen erscheint: Wir, die wir den Glauben (mit dem wir es nicht zu thun haben), den Heilbalsam der heutigen Philosophie, weder brauchen wollten noch konnten, wir mußten, nach völliger Anerkennung der allgewaltigen Nothwendigkeit, unsre verwickelten Darstellungen endlich und zu allerletzt auf die Fragen […] zurückführen: Warum? Wozu? Wofür? Wohin? Wir ließen sie den Genius der Menschheit selbst thun; er erhielt keine Antwort, vermuthlich darum, weil eine zu klare dem, diesem Genius untergeordneten Geschlechte doch zu nichts nützen würde, wenn es dasselbe nicht gar um alle Selbständigkeit und dadurch um allen Werth brächte. (Klinger, Werke, 121 3, S. V f)

Wenn der Schein allerdings doch einmal aufgehoben wird, dann – so beschreibt es Klinger im Faust der Morgenländer – ist ein voluntaristischer Nihilismus das einzige Wissen, das der Mensch noch erlangen kann – ein Wissen, das ihn aber existentiell gefährdet: Durch diese leise Berührung zog nun der Geist den letzten Schleier der Täuschung vor den Sinnen Abdallahs weg. Und Himmel und Erde, und Licht und Luft und Raum schienen ihm ein fürchterliches, düstres Leere – gefüllt mit gestaltlosen Wesen – ein blutgefärbtes Nichts, in dem ein grausendes, neblichtes Etwas schwimmt – das sich trennet – verbindet – sich selbst verschlingt – sich dann wieder selbst erzeugt. [...] [S]o drang plötzlich und ohne Theile die ganze Schöpfung auf den Bebenden ein, und füllte zuckend, strebend, kämpfend, wirbelnd, sich auflösend und wieder schaffend seine Seele. Nichts war jetzt mehr außer ihm – er ward alles selbst – und das verworrene, ungeheure Gewühl dehnte sein Haupt ins Ungeheure aus – er 118

In den Reisen vor der Sündfluth (vgl. etwa Klinger, Werke, 6, S. 28). Vgl. Klinger, Faust, S. 40. 120 Zum Agnostizismus Klingers vgl auch Klinger, Werke, 4, S. 11: „Nie sprach der Greis mit ihm von jenem unfaßlichen Wesen, das die Menschen Gott nennen. Weder dogmatische Machtsprüche, noch metaphysische Spitzfindigkeiten konnten die Vernunft des Jünglings einengen und seine Einbildungskraft verwirren, Alles, was er darüber dachte, war, daß sich darüber nicht denken und reden ließe.“ 121 Vgl. hierzu auch die beinahe gleichlautende Stelle im Genius (Klinger, Werke, 10, S. 263 f). 119

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

konnte sich nicht mehr von ihm trennen – sich nicht mehr von ihm unterscheiden – und jetzt schwebte er wirbelnd in dem ungeheuern All, das mit ihm ohne Stütze und Haltung dahin 122 sauste. (Klinger, Werke, 7, S. 216 f)

Der Phänomenalismus erscheint hier als untrennbarer Bestandteil der agnostischen Position. Der Mensch lebt für den Skeptiker nur an der Oberfläche, die Wirklichkeit hingegen bleibt ihm verborgen – und keine metaphysische Spekulation vermag bis zu dieser vorzudringen.123 Allenfalls kann in einer unio mystica ein Blick hinter die Erscheinungen geworfen werden; jedoch handelt es sich hierbei um eine transrationale Grenzsituation und nicht um ein rationales Wissen. Ansonsten gilt laut Wezel: „Wer nach diesem Vorzuge einer uneingeschränkten Gewisheit strebt, will auf flachem Boden den Gipfel einer egyptischen Piramide erreichen.“ (Wezel, TK, II, S. 163) Der Skeptizismus beschränkt den Menschen auf das für ihn Notwendige und Nützliche, er befolgt, wie Wieland es ausdrückt, „den großen Grundsatz unsers Meisters“, des ‚Pragmatikers‘ Sokrates, „bloß über die menschlichen Dinge menschlich zu filosofieren, und die göttlichen, als über unsern Verstand gehend, unbesorgt den Göttern zu überlassen“ – auch wenn wir uns damit zu einer Unwissenheit bekennen müssen, die sich nur dadurch auszeichnet, dass wir uns ihrer bewusst sind.124 Hohn und Spott hält Wieland hingegen für metaphysische Spekulationen bereit: Wie er in der Rede des Diogenes über den „Mann im Monde“125 oder in dem Abenteuer Don Sylvios mit dem Salamander, das buchstäblich im Dreck (nämlich in einem Froschgraben) endet126, mit ironischer Noblesse vorführt, sind „Hoffnungen, Vermuthungen, Hypothesen“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 106) alles, was ein derartiges Bemühen hervorbringt. Bestenfalls gelangt, wie Wezel hinzufügt, der Mensch zu einem üblen Anthropomorphismus, indem er die Götter nach seinem Ebenbilde schafft127 und „sich das Unsichtbare vorstellt, wie das Sichtbare ist, das er kennt“ (Wezel, RK, S. 251). Nichtsdestoweniger erkennen die Spätaufklärer das metaphysische Bedürfnis grundsätzlich an. Denn das Erkenntnisstreben des Menschen ist unendlich, es hat „kein geringeres Maß als den hermetischen Zirkel“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 290): 122

Was sich an dieser Stelle andeutet, wird in den Nachtwachen von Bonaventura zu Ende geführt, die darum als eine nihilistische Radikalisierung des Agnostizismus angesehen werden können, insofern hier der Widerstreit von Aufklärungsbedürfnis und Aufklärungsbedürftigkeit in totaler Verunsicherung endet: „Kannst du es nimmer lösen, warum alle deine Geschöpfe träumend glücklich sind, und nun der Mensch wachend dasteht, und fragend – ohne Antwort zu erhalten? – Wo liegt der Tempel des Apollo – wo ist die Stimme, die einzig antwortende? Ich höre nichts, als Widerhall, Widerhall meiner eigenen Rede – bin ich denn allein?“ (Bonaventura, 1990, S. 107) 123 Vgl. hierzu Blumenberg, 1966, S. 477. S.a. Wezel: SE 3, S. 20: „Nur den Göttern ist es verstattet in dem Spiegel jener ewigen Göttin alle Dinge zu sehen, wie sie sind, und ihr sollt durch die Gläser, die ich euch gab, jede Sache sehn, wie sie euch durch euer Glas scheint.“ 124 Vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 224. 125 Vgl. Wieland, Werke, IV, 13, S. 129-146. 126 Vgl. Wieland, Werke, IV, 11, S. 149-162. 127 Vgl. Wezel, RK, S. 249.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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[D]er Mensch ist der Schöpfer seiner Thorheiten! Er will die Erde zum Garten und sich zum Engel umschaffen: er will die Sterne messen, er will die Geheimnisse des Schicksales enträthseln, und ist sich selbst ein unauflösliches Räthsel: er will die Gränze von Wahrheit und Irrthum bestimmen, und weiß nicht, was Wahrheit ist: er dreht sich in einem Kreise von Meinungen herum, daß ihm schwindelt, und am Ende hat er Schwindel im Kopfe und Staub in den Augen. – Der Mensch wagte zu viel: er sollte nichts wissen, und wollte alles wissen. (Wezel, TK, III, S. 210 f)

Das unendliche Erkenntnisstreben kollidiert also mit dem endlichen Erkenntnisvermögen des Menschen – ein Widerspruch, der niemals aufgelöst werden könne.128 Aus der Tatsache, dass auf der einen Seite, ein angeborner instinktmäßiger Drang [steht], uns über diese sichtbare Welt, den für unsern Geist allzu engen Kreis der Sinne, Bedürfnisse und Leidenschaften ins Unendliche emporzuschwingen; auf der andern die Unmöglichkeit, jemahls (wenigstens in diesem Erdenleben) aus den Schranken heraus zu kommen, die unserer Vorstellungskraft von 129 innen und außen gesetzt sind (Wieland, Werke, X, 32, S. 23) –

aus dieser Tatsache kann man zwar die Forderung ableiten, dass der Mensch sich auf praxisrelevantes Wissen beschränken sollte, doch wird man in den Augen der Spätaufklärer damit nichts an dem unbezwinglichen metaphysischen Bedürfnis ändern.130 Die Konsequenzen aus dieser Antinomie zieht Wieland am Ende der dritten Fassung seines Agathon, in der er bezüglich des Problems der metaphysischen Spekulation eine versöhnliche Position formuliert.131 Archytas legt dar, dass das menschliche Erkennt128

Vgl. hierzu auch Wieland, Werke, XI, 36, S. 290. Auch Klinger ist sich über den Widerspruch zwischen unendlichem Erkenntnisstreben und endlichem Vermögen des Menschen im Klaren, weiß zu dessen Auflösung allerdings ebenso wenig wie Wieland und Wezel etwas Stichhaltiges beizutragen (vgl. z. B. Klinger, Werke, XI, S. 154 f). 130 Dieses unendliche Streben ließe sich mit Blick auf Klinger als ‚faustisch‘ bezeichnen: „Ich will des Menschen Bestimmung erfahren, die Ursach des moralischen Übels in der Welt. [...] Du sollst mir den Grund der Dinge, die geheime Springfeder der Erscheinungen der physischen und moralischen Welt eröffnen.“ (Klinger, Faust, S. 40) Bemerkenswert ist, dass Klingers Faust vor allem nach der „Ursach des moralischen Übels in der Welt“ fragt, also das Theodizee-Problem lösen will. 131 Die Entwicklung, die zu den drei Fassungen des Agathon geführt haben und die sich über einen Zeitraum von nahezu dreißig Jahren erstreckt hat, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Bekanntlich unterscheiden sich die erste und dritte Fassung bezüglich des Romanschlusses, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Archytas-Figur bzw. seiner Philosophie. Im Zusammenhang unserer Interpretation kann dies jedoch vernachlässigt werden, da sich im Hinblick auf den diskursiven Gehalt der abschließenden Reflexionen des Romans kein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Fassungen erkennen lässt. Anders sieht es freilich hinsichtlich der Funktion der Figurenreflexionen für das erzählte Geschehen aus: Indem Archytas am Ende des Romans Gelegenheit bekommt, seine Philosophie ausführlich darzulegen, nimmt er zugleich eine Deutung der Entwicklungsgeschichte Agathons vor. Dadurch jedoch, dass Agathons Lebenserfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang gestellt werden, harmonisiert Wieland in der dritten Fassung vieles von dem, was in der Erstfassung noch dekonstruiert, zumindest aber offen gelassen wird – aus der kontingenten Entwicklungs- wird in mancher Hinsicht eine notwendige Bildungsgeschichte. 129

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

nisvermögen zwar begrenzt sei, dass daraus aber nicht folge, dass jegliche metaphysische Reflexion überflüssig sei und wir uns auf eine bloß sinnliche Lebensführung zu beschränken hätten: [N]ichts ist gewisser, Agathon, als daß den heiligen Schleier, der das Geheimniß der Natur verhüllt, kein Sterblicher aufzudecken vermag [...]. Aber hieraus mit den Hippiassen zu folgern, was über uns sey, gehe uns nichts an, wäre der rasche Schluß einer zum Dienst der Sinnlichkeit erniedrigten Vernunft [...]. (Wieland, Werke, I, 3, S. 380)

Vielmehr habe, so Archytas weiter, die Vernunft „eine edlere Bestimmung [..], als die bloße Verschönerung unsers animalischen Lebens“: Zwar sei der Mensch „weniger zum Forschen als zum Thun geboren“ (ebd.), dennoch könne er wissen, „wie und wodurch er mit dem großen Ganzen, dessen Theil er ist, zusammenhängt, und wie er handeln muß, um seiner Natur gemäß zu handeln, und seine Bestimmung im Weltall zu erfüllen“ (ebd., S. 381). Trotz der Unergründlichkeit der äußeren Natur liege nämlich „unserm innern Sinn eine unsichtbare Welt in uns selbst aufgedeckt“ – die „Welt unsrer eigenen Gefühle, Gedanken, Ahnungen, Triebe und Bestrebungen, in deren Mitte unser geistiges Ich, wie ein Gott im Chaos, Gesetze gibt“. Innerhalb dieser Innenwelt fassen wir, führt Archytas aus, die spekulative „Idee eines alles umfassenden allgemeinen Systems und eines alles belebenden, allem gesetzgebenden, alles erhaltenden und regierenden Geistes“ (ebd., S. 382), die nicht mehr täuschungsanfällig sei. Doch trotz dieser metaphysischen Orientierung kann Archytas „sagen, daß ich zu meiner Theorie der Lebensweisheit auf einem ganz praktischen Wege gekommen bin“ (ebd., S. 384): Mein entschiedener Widerwille gegen alles was nach Sofisterey schmeckte, und gegen alle Spekulazionen, die mir ins praktische Leben keinen Einfluß zu haben schienen, oder das Gemüth nur in einen Labyrinth von Zweifeln führten, um es ihm dann selbst zu überlassen, wie es sich wieder heraus finden könnte, hatte mich immer von subtilen Nachforschungen über 132 bloß intelligible Gegenstände entfernt. (Wieland, Werke, I, 3, S. 390)

Dennoch hat die Metaphysik ihre Berechtigung. Es ist bemerkenswert, dass Archytas selbst noch das spekulative Denken pragmatisch legitimiert, insofern seiner Auffassung nach gewisse metaphysische Anschauungen – so etwa diejenigen einer kosmischen Ordnung oder göttlichen Weltregierung – den Menschen als „Regulativ ihres Lebens“

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Auch in der ersten Fassung sieht der Erzähler als die „zuverlässigste Probe über die Güte der Philosophie des weisen Archytas“ dessen „moralische[n] Charakter“ an und bemerkt: „Diese Probe, es ist wahr, geht bei einem System von metaphysischen Speculationen nicht an; aber die Philosophie des Archytas war ganz practisch.“ Entsprechend schränkt Archytas „seine Nachforschungen über die bloß intellectualischen Gegenstände lediglich auf diese einfältigen Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefühl erreichen kann“ (Wieland, A, S. 566). Nicht anders verhält sich am Ende des Romans Agathon: Er beschäftigt sich in Tarent mit Astronomie, philosophischem Studium des Altertums sowie mit der „Dichtkunst, deren höhere Theorie sich in den geheimnisvollesten Tiefen der Philosophie verliert“ (ebd., S. 581), übt sich durch seinen Verzicht auf die schöne Danae in Resignation und erlangt schließlich die Haltung eines „bescheidnen Scepticismus“ (ebd., S. 582).

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(ebd., S. 391) notwendig und eben aufgrund ihrer lebenspraktischen Nützlichkeit gerechtfertigt seien. Ebenfalls auf Ausgleich bedacht, wenn er sich auch zu der versöhnlichen Haltung eines Archytas nicht durchzuringen vermag, ist der Faust-Roman Klingers. Im Vergleich zu Goethes Faust ist jedoch ein entscheidender Unterschied zu konstatieren: Geht er zunächst auch von der klassischen Faust-Situation aus, wonach der Protagonist, der durch eine „strebende stolze Kraft des Geistes“ und ein „hohes feuriges Gefühl des Herzens“ charakterisiert wird, die Unendlichkeit seiner kognitiven Bedürftigkeit mit der Beschränktheit seines Vermögens konfrontiert sieht, so erkennt man am Fragenkatalog des Klingerschen Faust bald, dass es sich durchgängig um Fragen der praktischen Vernunft handelt. Ob es sich um den „Grund des moralischen Übels“, um das „Verhältniß des Menschen mit dem Ewigen“, um das Wesen Gottes oder um die Bestimmung des Menschen bzw. den Sinn des Lebens handelt (vgl. Klinger, Faust, S. 53 f) – Fausts letzte Fragen gehen allesamt auf moralische Probleme. Wenn auch der Ausgangspunkt für den Teufelspakt der unerträgliche Zustand des universellen Zweifels ist, so bezieht sich dieser Zweifel doch stets auf „Zweck, Ordnung und Zusammenhang in der moralischen Welt“ (ebd., S. 137).133 Der Faust-Stoff erhält dadurch eine besondere Prägung: Im gesamten Roman werden vor allem die moralischen und gesellschaftlichen Formen des Bösen vorgeführt, statt dass spekulative Fragen nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, gestellt würden. Dies geht am Ende so weit, dass sich der Teufel selbst als Rousseau-Anhänger entpuppt, der Faust darüber belehrt, dass er „die Maske der Gesellschaft für seine [des Menschen] natürliche Bildung“ (ebd., S. 210) genommen habe und dass der größte Teil der Übel sozialen und moralischen Ursprungs sei. Gleichwohl bleiben auch die Fragen der praktischen Vernunft in Klingers Roman unbeantwortet, sodass schließlich das Einzige, was Faust zu erlangen vermag, jene agnostische Position ist, die Klinger in seinen Betrachtungen folgendermaßen pointiert: Um zu enden, sag‘ ich Ihnen ein für allemal, daß es eben so verwegen ist, das Daseyn Gottes zu leugnen, als es unmöglich ist, es darzuthun. (Klinger, Werke, 11, S. 192)

Ungeachtet dieses resignativen Bewusstseins über die Unvermeidlichkeit metaphysischer Spekulation bei gleichzeitiger Einsicht in das Unvermögen dazu stellen die Spätaufklärer dem allgemeinen Wahn unverdrossen ihre relativistische Theorie entgegen. Der Relativismus erscheint ihnen als die einer perspektivistischen Erkenntnistheorie allein angemessene Metatheorie, insofern er nicht nur aus der Tatsache, dass es verschiedene gleichberechtigte Sichtweisen gibt, die Folgerung zieht, dass eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen unmöglich ist, sondern auch im Toleranzgebot ein 133

Als das Grundproblem des Faust-Romans Klingers erscheint folglich die Theodizee, die, nachdem sie unter Annahme sowohl des Determinismus als auch des Freiheitspostulats durchgespielt wurde, schließlich auf einen dritten möglichen Fall führt: Welt und menschliches Leben könnten auch völlig kontingent sein (vgl. Klinger, Faust, S. 113 u. 138) – eine Position, wie wir sie schon aus Wezels Belphegor kennen.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Postulat formuliert, das, so Selmann im Tobias Knaut, dem Umstand gerecht wird, dass, wo jede nur denkbare Position bloß eine Partei darstellt, niemand jemals als Schiedsrichter wird auftreten dürfen: Ein Mensch, wurden wir einig, kann niemals kompetenter Richter über die Wahrheit desjenigen seyn, wodurch ein Andrer von seiner Meinung abweicht: denn zween Leute, die verschieden denken, sind Partheien; und ist es wohl jemals erlaubt gewesen, daß eine von beiden 134 Partheien über ihren eigenen Rechtshandel entschied? (Wezel,TK, II, S. 155)

Angesichts der Vielfalt der Meinungen135 erscheint die Toleranz als einzig mögliche Haltung – selbst dann, „wenn mein Nachbar eine Wollust darinne fände, mit bloßen Füßen muthwillig im Kothe herumzuhüpfen“. Allzu oft verbirgt sich, so Wezel weiter, hinter der Verspottung solcher Verhaltensweisen nur der Wunsch, bei dem Tänzchen mitzuhalten, „wenn nur der verzweifelte Philosophenbart nicht einen so lächerlichen Kontrast machte“ (Wezel, TK, IV, S. 60 f). Als das einzig wirklich Lächerliche erscheint dem Relativisten die Behauptung des Philosophen, als einziger Recht zu haben, doch, wie Selmann weiter argumentiert: Wer dies sagen kann, der muß die Vollmacht haben, daß er allein bestimmen soll, was Wahrheit ist; und wer hat diese? – So lange diese niemandem gegeben ist, muß man, däucht mich, es geduldig ansehen, daß ein jeder nicht so denken kann als wir, wie es hergegen auch andre 136 ertragen müssen, daß wir nicht so denken als sie. (Wezel, TK, III, S. 153)

Dabei kann jede Position durchaus der jeweiligen Lebenssituation angemessen sein und innerhalb einer Gemeinschaft als objektiv gültig erscheinen. Doch darüber hinaus ihre absolute Wahrheit zu behaupten, wäre für das Bestehen der Gemeinschaft überaus gefährlich. Entsprechend lässt Wieland seine Reflexionsfigur Aristipp sagen: Jeder hat für seine eigene Person Recht; aber sobald sie miteinander hadern, und sich um den ausschließlichen Besitz der Wahrheit, wie Hunde um einen fetten Knochen, herumbeißen, dann haben sie alle Unrecht [...]. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 370)

Allerdings gilt diese Relativität auch für die ‚Theorie‘ des Relativismus selbst, die deshalb allein als „eine Faustregel, die einen Standpunkt umreißt, ohne ihn genau zu beschreiben“137, nicht jedoch als ein philosophisches System formuliert werden kann, da sie sonst in einen Zirkel geriete.138 Der Relativismus dient der Lösung von alltäglichen Lebenskonflikten und Problemen der Praxis; er ist deswegen ebenso opportunistisch 134

Vgl. auch Feyerabend, 1989, S. 81 f: „Die streitenden Parteien – nennen wir sie A und B – brauchen keine gemeinsamen Elemente zu besitzen (Bedeutungen, Intentionen, Propositionen), die sich aus dem Zusammenhang lösen und unabhängig vom Prozeß des Streitens analysieren lassen. [...] Nötig ist [nur], daß A den Eindruck einer Gemeinsamkeit mit B hat und entsprechend handelt.“ 135 Wieland bemerkt dazu: „In der That haben diejenigen ihren Geschmack nicht der Natur abgelernt, in deren Augen die Mannigfaltigkeit in der fysischen und sittlichen Gestalt der Erdbewohner eine Unvollkommenheit ist.“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 63; vgl. auch Feyerabend, 1989, S. 91. 136 Vgl. in ähnlichem Sinne Feyerabend, 1989, S. 108. 137 Feyerabend, 1989, S. 69. 138 Zum Zirkelproblem im Zusammenhang mit dem Relativismus vgl. auch Kap. 3.1 dieser Arbeit.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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wie der hinter ihm stehende Perspektivismus selbst.139 Anders jedoch als im Perspektivismus ist das Referenzobjekt des Relativismus nicht eine einzelne Meinung, sondern stets ein ganzes Netz von Überzeugungen, wie es in einer Tradition, einer philosophischen Theorie oder einem Lebenskonzept realisiert ist.140 In Wielands Romanen stehen deshalb stets ganze philosophische Systeme, in deren Rahmen die Protagonisten ihre einzelnen Erfahrungen und Erlebnisse zu deuten versuchen, im Zentrum des Interesses.141 Und auch bei Klinger wird die relativistische Position in Bezug auf ganze Lebenskonzepte formuliert. Anders jedoch als bei Wieland und Wezel geschieht dies weniger dadurch, dass verschiedene philosophische Systeme innerhalb eines Romans gegeneinander ins Treffen geführt werden, als dass es sich in der Makrostruktur des Romanzyklus spiegelt, dessen innere Widersprüchlichkeit Klinger selbst in der Vorrede thematisiert: Daher nur der bloß scheinbare Widerspruch dieser Werke unter- und gegeneinander, welcher manchen Leser irre leiten könnte; und darum scheint oft das folgende Werk niederzureißen, was das vorhergehende so sorgfältig aufgebaut hat. Beides ist hier Zweck; und da uns die moralische Welt in der Wirklichkeit so viele verschiedne, oft bis zur Empörung widersprechende Seiten zeigt, so mußte eine jede, weil jede in der gegebenen Lage die wahre ist, so und nicht anders aufgefaßt werden. Hier muß nun die Erfahrung und nicht die Theorie das Urteil sprechen; denn die Widersprüche selbst zu vereinigen oder das Rätsel selbst zu lösen, geht über unsere Kräfte und mußte über unsere Kräfte gehen. Auch dieses sollte hervorspringen. (Klin142 ger, Werke, 3, S. IV)

Dieser Beziehung auf philosophische Systeme zum Trotz üben die hier behandelten Autoren eine zum Teil vehemente Kritik am Herrschaftsanspruch der Philosophie, deren Systeme ihnen als unerlaubte Verallgemeinerungen individueller Erfahrungen, als 139

Vgl. hierzu Wieland, Werke, XI, 34, S. 140; s a. Feyerabend, Paul (1991), S. 249. Vgl. Feyerabend, 1989, S. 107 f: „Meinungen, die nicht an Traditionen gebunden sind, befinden sich jenseits der menschlichen Existenz, sie sind nicht einmal Meinungen, während jeder verständliche Inhalt von den konstituierenden Prinzipien abhängt, in denen er auftritt. Meinungen können ‚objektiv‘ sein in dem Sinne, daß sie keinen Hinweis auf diese Prinzipien enthalten. Sie klingen dann, als seien sie aus dem Wesen der Welt selbst hervorgegangen, während sie doch nur die Eigenheiten eines speziellen und beschränkten Vorgehens reflektieren: die Werte einer Tradition, die absolute Werte befürwortet, mögen absolut sein, die Tradition selbst ist es nicht; die Physik mag ‚objektiv‘ sein, die Objektivität der Physik ist es nicht.“ Rorty, der eine ganz ähnliche Position vertritt, stellt diesen Sachverhalt vielleicht noch klarer dar, wenn er die Frage nach Relativität oder Objektivität von Meinungen mit Hilfe des Wittgensteinschen Begriffs des Sprachspiels zu beantworten versucht und dabei die Unterscheidung Davidsons zwischen Ursachen und Gründen zur Anwendung bringt (vgl. Rorty, 1989, S. 5 ff u. S. 47 ff). 141 Vgl. dazu Müller, 1971, S. 113, zit. im vorangegangenen Kap., sowie S. 196. Dasselbe gilt für Wezel, in dessen Belphegor es nicht um die Bestätigung oder Widerlegung dieser oder jener Überzeugung geht, sondern um die Gründe für ganze Weltdeutungsmodelle, die um die Themen Schicksal, Vorsehung, Zufall und Notwendigkeit kreisen. 142 In der Konsequenz dieser relativistischen Position mag es liegen, dass Klinger nach dem Abschluss des Romanzyklus nurmehr noch Aphorismen publiziert hat. 140

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

„Fehlsprünge vom einzelnen aufs Ganze“ (Wezel, TK, III, S. 162) erscheinen. Zwar wird die Systematisierung individueller Erfahrungen von den Spätaufklärern als unvermeidlich und für die Lebensbewältigung schlechthin notwendig angesehen143, doch die daraus entstehenden philosophischen Systeme, die letztlich „nur Fragmente, abgeschriebene Fragmente“ (Wezel, SE 3, S. 24) bleiben, sind ebenso individuell wie die Nasen, mit denen Wieland sie gerne vergleicht: Es ist mit der Filosofie, denke ich, wie mit den Nasen; das, was eine Nase zur Nase macht, ist 144 bey allen dasselbe, und doch hat jedermann seine eigene. (Wieland, Werke, XI, 33, S. 222)

Und wenn auch das „System seiner Ideen [...] bei einem Philosophen wenigstens die Hälfte seines geliebten Selbst ausmacht“ (Wieland, A, S. 328), so stößt doch ein daraus abgeleiteter Herrschaftsanspruch gerade bei Wieland auf unnachgiebige Kritik: Auch die Filosofie ist in gewissem Sinn etwas individuelles, und für jeden ist nur diejenige die wahre, die ihn glücklicher und zufriedener macht als er ohne sie wäre. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 293)

Seine radikale Kritik führt Wieland exemplarisch in der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Politeia im vierten Buch des Aristipp vor, die er selbst einmal als „das wichtigste und beste morceau meines ganzen Werkes“145 bezeichnet hat. Indem Wieland dort gegen den idealen Philosophenstaat seine liberale Lehre vom Primat des Individuums vor dem staatlichen System stellt und für die Pluralität der Lebensformen argumentiert, spricht er der Philosophie zugleich das Recht ab, über die richtige Weise zu leben allein eine Entscheidung zu fällen. Kritisiert wird im Aristipp zwar Platon, gemeint ist aber Kant, dessen Transzendentalphilosophie von Wieland, wie seine Debatte mit Reinhold zeigt, aufgrund ihres hohen Geltungsanspruchs und ihrer von ihm als Sprachvergewaltigung empfundenen Expertensprache geradezu als Gegenaufklärung aufgefasst wird.146 Im Don Sylvio ist der Ton noch schärfer, hier wird der mit transzendentalen Spekulationen befasste Philosoph zu einem ‚Kürbiskopf‘: Denn so ungünstig auch immer die Figur und Organisazion eines Kürbisses zu Beobachtungen seyn mag, so geschickt ist sie hingegen zu transcendentalen Betrachtungen; und mit allem dem entdeckt man doch in hundert Jahren nach und nach eines oder das andere, was entweder

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Vgl. Wieland, Werke, III, 8, S. 222 f: „Dieß war nun einmahl sein System; und wer die Menschen kennt, weiß, daß ein Mann lieber alles was er hat, und das Hemd auf dem Leibe oben drein, fahren läßt, und nackend und bloß mit seinem System davon läuft, eh’ er um die ganze Welt zu gewinnen sein System fahren ließe.“ 144 Vgl. auch Wieland, Werke, III, 8, S. 81: „Es giebt freylich Nasen von so besonderer Figur und Proporzion, daß die Schönheit der menschlichen Gattung nicht viel dabei gewinnen würde, wenn man sie zu Modellen machen wollte.“ 145 So Wieland in einem Brief an seinen Verleger Goeschen (zit. nach: Reemtsma, 1992, S. 37). 146 Zur Parallelisierung von Platon und Kant vgl. Reemtsma, 1992, S. 126 ff.

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unsere schon gefaßten Hypothesen bestätigt, oder uns auf die Spur einer neuen bringt. (Wie147 land, Werke, IV, 12, S. 235)

Auch Wezel ist nur dann bereit, „ein Glas auf die Gesundheit der Philosophie“ (Wezel, TK, III, S. 88) zu leeren, wenn die Philosophen die Individualität ihrer Erkenntnisse nicht leugnen und den Bezug zur Lebenswirklichkeit wahren: Die Philosophen sollten zu dem Endzwecke nichts thun als Tagebücher ihrer Erfahrungen liefern, ihrer Erfahrungen von sich selbst [...]. [...] Da aber die Philosophen einmal Liebhaber vom Bauen sind, so mögen sie immer Systeme daraus bauen, nur müssen sie ihre Gebäude für nichts weiter als eine Sammlung individueller Erfahrungen halten, von denen folglich andre individuelle Erfah148 rungen verschieden und ebenso richtig seyn können. (Wezel, SE 3, S. 72 f)

Dieser anti-systematische Impetus, der sich auch in Klingers Romanzyklus zeigt149, äußert sich zugleich in der Forderung nach Popularität.150 Die Verschriftung der individuellen Erfahrungen und ihre Zusammenfassung in einem philosophischen System, die Wieland im Diogenes dadurch parodiert, dass er seinen Protagonisten dessen unmaßgebliche Gedanken auf die Innenwand der Tonne schreiben lässt151, hat den Forderungen nach Verständlichkeit und Deutlichkeit zu genügen. Auch Wezel formuliert dies mit Nachdruck: [I]ch habe einen wirklichen Plageteufel – den Teufel der Deutlichkeit, der mich ärger quält, als der Dämon, der jene Säue ins Wasser trieb. Ich könnte manchmal so hübsch ruhig etwas bey der Erde weg glauben: aber nein! so lange mein Verstand das Ding nicht aus der Finsterniß des Ausdrucks herausgezogen, und in der völligsten Helle und Klarheit des Tages hingestellt hat,

147

Die Behauptung Reemtsmas, dass sich Wielands Satire auf Kant bezieht, ist nicht haltbar, da sich der Don Sylvio schon aus chronologischen Gründen gar nicht gegen Kants Transzendentalphilosophie richten kann. 148 Vgl. hierzu auch die Bemerkung in Silvans Bibliothek: „Nie müsse eure Nachkommenschaft dahin gelangen, ein allgemeines vollkommenes System der Kenntnisse aufzubauen, die ihnen ihr Aufenthalt auf diesem Planeten darbietet; ewig sollen sie sammeln und verlieren: ein jeder dem andern erzählen, was er mit Mühe von der Oberfläche der Dinge aufgelesen hat, und nie – hier verstummte er [...].“(Wezel, SE 3, S. 23) 149 Vgl. Klingers Brief vom 26.12.1798: „[W]o wäre ein System, da sich alles in Schweigen u Verstummen auflöst? Plan, zusammenhängender, auf diesen Zweck geführter Plan ist in den Werken; aber wahrlich kein philosophisches System.“ (Klinger, 1896, S. 47) 150 Diese Forderung, die auch zwischen Kant und Garve lebhaft diskutiert wurde, haben die literarischen Spätaufklärer mit den Vertretern der Popularphilosophie gemeinsam. 151 Vgl. Wieland, Werke, IV, 13, S. 3-5. Wenn Diogenes wenig später eine kostbare „Schreibtafel von Elfenbein“ zum Geschenk erhält, so verweist zwar ihr Verwendung für den satirischen Entwurf seiner idealen Republik auf den Herrschaftsanspruch der Philosophie, doch die Erwähnung des Umstands, dass sie jederzeit wieder auswischbar sei, trägt wiederum dem anti-systematischen Impetus hinreichend Rechnung.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

so lange quält und ängstigt mich der leidige Dämon, daß mir zuweilen die Geduld mit ihm 152 vergeht. (Wezel, Versuch, S. 464)

Vor diesem Hintergrund erscheint die Expertensprache der philosophischen „Vokalenwürger“, die nichts lehrt „als einen zierlichen Knix machen und sehr artige Komplimente herplaudern“ (Wezel, TK, II, S. 38), nur als eine Weise Probleme zu generieren, die ohne sie gar nicht aufträten. Wenn deshalb im Tobias Knaut die „Sprachwerkzeuge“ des sich zum Weltweisen aufspreizenden Helden beschädigt sind und alle philosophischen Ambitionen im Stammeln enden153, so äußert sich hierin auch Kritik an der Prätention der Philosophie, mit ihren Abstraktionen das ‚eigentliche Sein‘ auszusagen. Einer solchen esoterischen Geheimsprache stellen die literarischen Spätaufklärer ihr Urbanitätsideal entgegen, dessen Realisierung vor allem in der Diskursform des Romans gelinge. Auf Verständlichkeit angelegt zielt der philosophische Roman auf eine möglichst umfassende Verständigung der Diskursteilnehmer. Das Urbanitätsideal impliziert jedoch keineswegs, dass jede Auffassung in einer Diskussion gleichermaßen berücksichtigt werden müsste. Sich an eine Gemeinschaft zu binden, deren Werte man nur für relativ gültig hält, macht die Paradoxie des Relativismus aus. Das wusste bereits Protagoras. Diese Paradoxie bewusst in sein Lebenskonzept aufzunehmen, zeichnet aber nach Schumpeter den zivilisierten Menschen aus: To realise the relative validity of one’s convictions and yet stand for them unflinchingly, is 154 what distinguishes a civilized man from a barbarian.

Um eine derartige Einstellung des ‚perforierten Ernstes‘ zu ermöglichen, muss man allerdings die These vertreten, „that a belief can still regulate action, can still be thought worth dying for, among people who are quite aware that this belief is caused by nothing deeper than contingent historical circumstances“155. Genau diese Denkfigur wird von den Spätaufklärern in der Lehre von der Lebensnotwendigkeit der Illusion entwickelt. Im Bewusstsein, dass gewisse philosophische Erkenntnisse im menschlichen Gesellschaftsleben nicht realisierbar sind, ja dass sich Wissen überhaupt im praktischen Lebenskontext nur allzu oft als Hindernis herausstellt, wird die Illusion – als „dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist“156 – zur überlebenswichtigen Orientierungshilfe: [D]er Mensch muß allemal, wenn er lebhaft und mit Feuer handeln soll, in einem gewissen Grade nach Illusion handeln [...]. Ein menschliches Wesen, das alle Illusion, das heißt, wo ein Klumpen dunkler unentwickelter Ideen auf die Federn unsrer Thätigkeit zudrücken, ganz auf152

Vgl. auch die Äußerung Aristipps: „[S]o schreib‘ es meiner zur andern Natur gewordenen Maxime zu: im Filosofieren immer verständlich zu bleiben, und vor allem mich immer selbst zu verstehen.“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 291) 153 Vgl. Wezel, TK, I, S. 15 f. S. hierzu auch Kremer, Detlef: „Spätaufklärung als Groteske“, in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 21. 154 Zit. nach: Rorty, 1989, S. 46. 155 Rorty, 1989, S. 189. 156 Kant, 1983, S. 65 [A 149].

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heben wollte oder nie darein gerathen könnte, wäre ein unthätiger stoischer Weise. (Wezel, 157 TK, IV, S. 154)

Wie Wezel im Belphegor nicht müde wird zu beschreiben, ist die Erkenntnis dessen, was der Mensch wirklich ist – nämlich „nur ein verächtlicher Haufen Unrath“ (Wezel, B, I, S. 79) –, zu niederschlagend. Um im Leben bestehen zu können, bedarf es nicht der pessimistischen Einschätzung, dass die Welt ein Krieg aller gegen alle sei, in dem „jeder des andern Feind ist [...] und der Mensch ein listiger oder gewaltthätiger Räuber“ (Wezel, B, I, S. IV), als vielmehr des Glaubens an die moralische Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen158: Um in dieser Welt sich zu freuen, daß man ein Mensch ist, um sich und seinem Geschlechte Würde zu geben, um auf seine Natur stolz zu seyn, muß man sich illudiren: man muß die Augen verschließen, keinen Blick außer sich thun, und dann in süßen Schwärmereyen dahinträumen. Itzt, da meine ganze Seele von ihrer Höhe und anschauenden Kraft heruntergesunken ist, itzt will sie nicht mehr träumen: aber wohl mir! ich werde bald zu einem andern Traume hinüberschlummern. ( Wezel, B, II, S. 101)

So erscheint die „Kunst der Illusion“ als „die einzige probate Kunst des Erdbodens“ (Wezel, B, I, S. 169), die uns in die Lage versetzt, diejenige Meinung auszuwählen, die unter den gegebenen Umständen „den größten Trost, die größte Zufriedenheit verschaft“ (Wezel, SE 3, S. 54).159 Es ist dabei bemerkenswert, dass selbst die Lehre von der Lebensnotwendigkeit der Illusion bei Wezel von der relativierenden Kontextualisierung nicht verschont bleibt. Im Tobias Knaut führt er sie nämlich im Modus ihres Missbrauchs durch den herrschsüchtigen Eupator vor, der sie zur Absicherung seiner patriarchalischen Macht über die von ihm ‚reformierte‘ Landbevölkerung benutzt: Eupator freute sich unendlich, über dieses letzte, weil, nach seinem Ausdrucke, die Illusion die einzige Angel ist, um welche sich die menschliche Glückseligkeit herumdreht. Wenn also, setzte er hinzu, jemand ein Mittel wüßte, den ganzen Staat in die Illusion zu versetzen, daß sein Regent der beste ist, wenn er es auch gleich nicht wäre – kurz, alle insgesamt zu bereden, daß ihre Regierung, Gesetze und Einrichtungen sie glücklich machen, es sey im Grunde oder nicht, der verstünde die Regierungskunst. (Wezel, TK, IV, S. 150)

Diese pragmatische Sichtweise trifft man auch bei Wieland an. So wie sich im Belphegor die Zwerge auf der Jagd nach den goldenen Vögeln, also nach Chimären 157

Vgl. auch Wezel, TK II, S. 164. Fromal ist hierbei nur in dem Sinne als Normfigur anzusehen, als er den „Versuch [unternimmt], über einen totalen Illusionsverdacht zum Abbau der Sicherheit aller im Roman vertretenen Positionen zu kommen“. (Vgl. Müller, 1976, S. 205 f) 159 Was bei Wezel, Wieland und Klinger die „Kunst der Illusion“ ist, tritt uns bei Kant im Konzept der regulativen Ideen entgegen, wonach die gesamte Metaphysik als „eine individuell und sozial lebensnotwendige Illusion oder Fiktion“ zur Erhaltung des persönlichen Glücks und der Sicherheit der Gesellschaft erscheint. Mit der Legitimation metaphysischer Ideen aus praktisch-ethischen Gesichtspunkten vollzieht demnach Kant ebenfalls eine pragmatische Wende. (Vgl. dazu Kondylis, 1990, S. 349) 158

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

befinden160, so werden die Abenteuer des Don Sylvio durch eine Schmetterlingsjagd ausgelöst und über ein vermeintliches Feenbild in Gang gehalten. Die satirische Darstellung dieser Abenteuer relativierend erinnert der Erzähler daran, „daß es eine zwiefache Art von Wirklichkeit gibt“ – diejenige, „die wirklich außer uns“ ist, und jene „andere, die bloß in unserm Gehirn“ sich vorfindet und dennoch „die Triebfedern der meisten Handlungen des menschlichen Geschlechts“ beinhalten (Wieland, Werke, IV, 11, S. 84 f).161 Zwar geht Wieland nicht so weit wie LaMettrie und de Sade, für die, da die Gesellschaftsmoral auf Vorurteilen und Irrtümern beruht, der Philosoph seine außermoralischen Resultate gänzlich ausklammern muss, will er sich und die Gesellschaft, von deren Bestehen er profitiert, nicht gefährden162; aber auch Wieland schreibt eine „Apologie der Vorurtheile“163, mit der er die soziale Bedeutung der Illusionen betont: Wie das Abenteuer mit dem milchweißen Stein im Agathodämon zeigt164, kann manchmal nur die geschickte Benutzung von Vorurteilen den gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten. Im skeptischen Diskurs der Spätaufklärung finden sich daneben Ansätze, auf diese Weise auch die Religion zu legitimieren: Angesichts des trostlosen anthropologischen Befundes, wonach das homo homini lupus est allgemeine Geltung beanspruchen kann, seien die vom aufgeklärten Menschen als Täuschungen durchschauten Tröstungen der Religion oft die einzigen Mittel, den sozialen Zusammenhalt zu garantieren. So schreibt Wieland: So lange sinnliche Triebe und Leidenschaften oder, mit einem Worte, so lange die Thierheit bei dem größten Haufen die Vernunft noch gefangen halte, sei Täuschung ihrer Sinne und Einbildungskraft eine unentbehrliche Hilfsquelle, der Religion und den Gesetzen – als den einzigen Mitteln der Humanisierung des rohen Menschen – Eingang, Ansehen und Uebergewicht bei ihnen zu verschaffen. (Wieland, Werke, X, 32, S. 87)

So erscheint die Religion als „wichtigste Stütze der Erziehung zur Tugend, Pflichterfüllung und Humanität“ bzw. als „wesentlichste Angelegenheit eines Staates“ (Wieland, AA, XIV, S. 370) – wenn sie auch auf der anderen Seite als bloße Illusion durchschaut wird.165 Auch Klinger ist von der Unentbehrlichkeit der Illusion derart überzeugt, dass er mit der Täuschung das Vermögen zu handeln, ja sogar den moralischen Wert des Menschen

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Vgl. Wezel, B, II, S. 167-172. Vgl. zur Unentbehrlichkeit der Illusion auch Wieland, A, S. 207. 162 Vgl. Kondylis, 1981, S. 507 f. 163 Vgl. Wieland, Werke, X, 31, S. 16. 164 Vgl. Wieland, Werke, X, 32, S. 113-130. 165 Vgl. hierzu auch den Aristipp, wo im Zusammenhang der Platonkritik ebenfalls die Notwendigkeit der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt betont wird. 161

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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schwinden sieht.166 So kommt für ihn die vollständige Aufhebung aller Täuschung dem Tode gleich: „Ich liebe meine Kinder, und habe ihnen die Täuschung zur Gefährtin gegeben. Ohne sie erstarrte euer Geist, und der Frost des Todes beschlich Euer Herz.“ [...] Ach wohl ist alles Täuschung unter der Sonne! Doch ist ein schöner Traum, der um den Schleier der Wahrheit schwärmt, und zu Zeiten hindurchblickt, angenehmer. (Klinger, Werke, 10, S. 184 f)

Mahal – der rastlose Forscher in den Reisen vor der Sündfluth – muss erkennen, dass „jeder neue Zusatz der Kenntniß neuer Schmerz“ (Klinger, Werke, 6, S. 233) ist, und gelangt am Ende seiner Ausfahrt zu der „Überzeugung, daß das Wissen Gift ist“ (ebd., S. 299). Der Faust der Morgenländer schließlich muss sich von einem Geist belehren lassen, dass ihm die Wahrheit, selbst wenn sie ihm erreichbar wäre, zu nichts taugt: Der in ewiger Täuschung wandernde und träumende Mensch lechzte nach der kalten, trostlosen und erstarrenden Wahrheit; Thor, was wärt ihr ohne diese Täuschung, der Zauberquelle eures Daseyns, ohne die Begeisterung, den idealischen Sinn, durch die ihr allein hervorgebracht habt, was Großes und Herrliches durch euch geschehen ist! (Klinger, Werke, 7, 167 S. 212)

Hinter diesen Aussagen verbirgt sich die Überzeugung, dass die Theorie – auch die skeptische – in der Lebenspraxis zuweilen als glücksverhindernd ausgeblendet werden muss: Die ganze Gewisheit der Uhr und menschlicher Ideen besteht in der momentanen Ueberredung des Besitzers; und wollte er, um zu handeln, so lange warten, bis wider die Wahrhaftigkeit seiner Uhr und seiner Ideen nichts mehr eingewendet werden könnte; so versichre ich Sie – er bewegte in seinem ganzen Leben kein einziges Glied am Leibe. (Wezel, TK, II, S. 164)

Gemäß dieser Charakterisierung der Welt als Wille zum Weiterwursteln schauen die Spätaufklärer auch auf das Phänomen der – die metaphysische Spekulation vertretenden – Schwärmerei mit anderen Augen. Ohne dass sich dadurch an ihrer Haltung gegenüber der Metaphysik etwas änderte, ohne auch die Gefahren der Schwärmerei zu leugnen, nehmen sie im Rahmen einer Theorie der lebensnotwendigen Illusionen gegenüber dem Problem der Schwärmerei eine tolerante Position ein. In diesem Kontext ist die Unterscheidung Wielands zwischen Schwärmerei und Enthusiasmus zu sehen: Während die Schwärmerei als „Krankheit der Seele, eigentliches Seelenfieber“ bestimmt wird, qualifiziert er den Enthusiasmus als „ihr wahres Leben“.168 Zwar kommt im philosophischen Roman der Spätaufklärung die gesamte Pathogenese der Schwärmerei zur Darstellung169, sodass er als „ein wahres Kompendium der Schwärmerkunde“ erscheint170, 166

Vgl. Klinger, Werke, 10, S. 196: „Löste sich das Räthsel, so verschwände der Zauberduft, der deine Stirn umspielt. – Deine – Aller Täuschung verschwände, und mit ihr euer Werth, eure Kraft.“ 167 Vgl. dazu auch Klinger, Werke, 10, S. 263 f. 168 Zit. nach: Engel, Manfred: „Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethezeit“, in: Schings (Hrsg.), 1993, S. 472. 169 Als Symptomatik der Schwärmerei treten innerhalb des spätaufklärerischen Romans gesteigerte Imaginationsaktivität, manisch-depressive Verhaltensmuster, Melancholie und Misanthropie auf; am Beispiel des Schwärmers werden hier jedoch vor allem generelle Probleme verhandelt wie das

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

doch streben die Spätaufklärer zugleich eine Synthese von Vernünftigkeit und Schwärmerei an: Nicht das Scheitern, sondern die Versöhnung des schwärmerischen Subjekts mit der Welt soll dargestellt werden171 – dass dies freilich, wie der Agathon Wielands zeigt, nicht gelingt, steht auf einem anderen Blatt.172 Immerhin jedoch geraten damit die positiven Aspekte der Schwärmerei in den Blick: Wenn es auch Schwärmereien waren, rief er seufzend aus, wenn es auch bloße Träume waren, in die mein halbabgeschiedener, halbvergötterter Geist sich wiegte – – welch eine selige Schwärmerei! Und wie viel glücklicher machten mich diese Träume [...]. (Wieland, A, S. 207)

So enthält die Schwärmerei ein Glücksversprechen.173 Hierbei dienen vor allem Liebe und Religiosität als Katalysatoren der Versöhnung zwischen der „Poesie des Herzens“ und der „Prosa der Verhältnisse“. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Spätaufklärer die Schwärmerei nicht teils satirisch zu entlarven, teils analytisch zu erklären versuchen.174 Nicht allein der Beschreibung solcher Schwärmerkuren, sondern dem Urbanitätsideal und der Popularitätsforderung im Allgemeinen ist in den Augen der Spätaufklärer insbesondere ein Darstellungsmittel angemessen – der „polyperspektivische[] bewegliche[] Dialog[]“.175 In ihm gelangt der Relativismus zu seinem adäquaten Ausdruck. Denn im Dialog ist der „Funktionszusammenhang, der alle im Gespräch eingesetzten Worte relativiert, d.h. sich gegenseitig korrigieren und in der Schwebe halten läßt“176, wichtiger als die Frage nach der Richtigkeit der jeweiligen Aussagen. Im Gespräch wird der verhandelte Gegenstand jedoch keineswegs nur subjektiviert, sondern in ihm wird zugleich die Relativität der verschiedenen Sichtweisen auf eine Weise durchschaubar gemacht, wie dies in einer monologischen Argumentation niemals gelingen kann:

Missverhältnis zwischen der Geist- und Tiernatur des Menschen, die Vergänglichkeit der Physis oder die Determination des Menschen durch Anlagen und Umwelt (vgl. ebd., S. 479 f). 170 Ebd., S. 479. 171 Vgl. ebd., S. 487 ff. Die These Engels, dass durch das Aufkommen der idealistischen Philosophie und deren Betonung der Rolle der Einbildungskraft eine Rehabilitation des Schwärmers vollzogen wurde, scheint mir jedoch zu weit zu gehen. 172 Vgl. hierzu Erhart, 1991. 173 Besonders deutlich wird dies im Belphegor Wezels, in dessen Vorwort die Vorteile der Schwärmerei beschrieben werden (vgl. Wezel, B, I, S. VII). 174 Solche psychologischen Erklärungen der Schwärmerei und Religiosität finden sich z.B. im Agathodämon (Wieland, Werke, X, 32, S. 182-213) sowie im Don Sylvio (Wieland, Werke, IV, 11, S. 13-17). Für den Fall des letzteren ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Schwärmerkur Don Sylvios erst durch praktische Erfahrungen, nämlich durch eine Europareise vollendet wird (vgl. Wieland, Werke, IV, 12, S. 340). 175 Vgl. Kimpel, 1977, S. 132. 176 Vgl. Bauer, 1969, S. 117. Bauer folgert hieraus weiter: „Einen Sachverhalt dialogisch klären, heißt darum weniger, ihn eindeutig festlegen, als vielmehr, die verschiedenen Deutungen in ihrer Relativität durchschauen.“ (ebd., S. 165 f)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

117

Der Erfolg dieses experimentierenden Umgangs mit den Gegenständen ist allgemein ein Zustand des Schwebens zwischen den Dingen, der Distanz und des Zweifels, der jedoch ebenso177 wohl eine leere Freiheit wie die aktive, der Erkenntnis dienliche Freiheit einschließt.

Eine solche skeptizistisch begründete Dialektik als „attempt to play off vocabularies against one another, rather than merely to infer propositions from one another“178, ist denn auch Hauptcharakteristikum des Urbanitätsideals Wielands. Innerhalb des Romans wird folgerichtig die gesellige Konversation zum durchgängigen Strukturmerkmal. Dabei erdichtet Wieland, für dessen Vorbild Shaftesbury das (Selbst-)Gespräch die Abkehr von der systematischen Philosophie und die Realisierung des ‚Virtuosentums‘ repräsentiert179, „allererst die Gesellschaft, für die er schreiben möchte“.180 Dieses „Rokoko-Element des Spiels“181 manifestiert sich jedoch nicht allein in den philosophischen Dialogen der Protagonisten, sondern vor allem als Spiel des Erzählers mit dem Leser, das nicht bloß als intellektueller Austausch zur Bestätigung des gemeinsamen Wertgefüges angesehen werden darf182, als vielmehr dem „freien Austausch“ zwischen Traditionen und Lebensformen dient183: [S]o läßt sich doch wohl als etwas Ausgemachtes annehmen: ein erdichteter Dialog sey desto vollkommener, je mehr er einem unter geistreichen und gebildeten Personen wirklich vorgefallenen Gespräch ähnlich sieht. In einer solchen gesellschaftlichen Unterhaltung stellt jeder seinen Mann; jeder hat seinen eigenen Kopf mitgebracht, hat seine Meinung, und weiß sie, wenn sie angefochten wird, mit starken oder schwachen, aber doch wenigstens mit scheinbaren, Gründen zu unterstützen. Wird gestritten, so wehrt sich jeder seiner Haut so gut er kann; oder sucht man einen Punkt, welcher Allen noch dunkel ist, ruhig und gemeinschaftlich aufzuhellen, so trägt jeder nach Vermögen dazu bey. Glaubt einer die Wahrheit, welche gesucht wird, gefunden zu haben, so hört er die Zweifel, die ihm dagegen gemacht werden, gelassen an, und die daraus entstehende Erörterung dient entweder die gefundene Wahrheit zu bestätigen und anerkennen zu machen, oder den vermeinten Finder zu überführen, daß er sich geirret habe 184 [...]. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 41 f) 177

Ebd., S. 173 f. Rorty, 1989, S. 78. 179 Vgl. z.B. Shaftesbury, Werke, Bd. 1, 2, S. 196. 180 Vgl. Jacobs, 1965, S. 66 ff. Eine ideale Erzählgesellschaft beschreibt Wieland beispielsweise zu Beginn seiner Novellensammlung Hexameron (vgl. Wieland, Werke, XII, 38, S. 3 ff). 181 Schönert, 1969, S. 88. 182 Vgl. ebd., S.89 f. 183 Vgl. hierzu Feyerabends Unterscheidung zwischen freiem (auf antizipatorischen Überlegungen und einer pragmatischen Grundhaltung beruhendem) und gelenktem (unter dem Maßstab einer gegebenen Tradition stehendem) Austausch (Feyerabend, 1980, S. 71). 184 Die hier implizierte Forderung nach realistischer Natürlichkeit des Dialogs richtet sich gegen Platon, dem Aristipp vorhält, in der Politeia bloß einen dramatisierten Monolog geschrieben zu haben, der zudem an mangelnder Stringenz der Argumentation, einem „Mißverhältnis der Teile zum Ganzen“ und an einem in chaotischer Unübersichtlichkeit endenden digressiven Stil kranke (vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 125 f). Dennoch spricht sich Aristipp für die Notwendigkeit einer künstlerischen Bearbeitung des realen Dialogs aus. So verlangt er, „daß ein Dialog in Rücksicht auf Erfindung, Anordnung, Nachahmung der Natur u.s.f. in seiner Art ebenso ein dichterisches Kunst178

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Durch diesen Dialogismus werden nicht nur die „Gattungsgrenzen zwischen Drama einerseits, Roman und philosophischem Gespräch andererseits“185 überschritten, sondern es äußert sich darin zugleich der auch von der zeitgenössischen Popularphilosophie186 unternommene Versuch, „mit Hilfe des Dialogs die Grenze zwischen der Philosophie und den schönen Wissenschaften zu verwischen“187, ja, letztlich das Bestreben, jenseits aller Weltdeutungsmodelle zu einer urbanen Toleranz zu gelangen, die angesichts unauflösbarer Meinungsverschiedenheiten gelassen den Sterneschen „Lillabullero“ pfeift. Einen reinen Dialogroman hat allerdings nur Klinger mit Der Weltmann und der Dichter geschrieben.188 Das Dialogische als Erzählprinzip realisiert sich jedoch nicht nur in solchen Makrostrukturen wie dem Dialog- oder Briefroman. Auf der Mikroebene ist jedoch zwischen Figurendialogen auf der einen und dem Dialog zwischen Erzähler und Leser auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dieser letztere kann weiter differenziert werden in Dialoge zwischen dem fiktiven Erzähler und dem fiktiven Adressaten und solche zwischen dem impliziten Autor – als dem „Subjekt des Werkganzen“ bzw. dem „organisierenden Prinzip des Textganzen“ – und dem impliziten Leser – als „Empfänger des Werkganzen“.189 Laut Sill gibt es drei hierarchisch gestaffelte Kommunika-

werk ist und seyn soll, als eine Tragödie oder Komödie; und ist er dieß, so muß er allen Gesetzen, die ihren Grund in der Natur eines aus vielen Theilen zusammengesetzten Ganzen haben, und überhaupt den Regeln des Wahrscheinlichen und Schicklichen in Ansehung der Person sowohl als der Zeit, des Ortes und anderer Umstände, eben so wohl unterworfen seyn als diese“ (ebd., S. 35). Entsprechend bestimmt Aristipp die „Kunst des Dialogendichters“ als die Fähigkeit, „seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu verstecken“ (ebd., S. 126) 185 Winter, 1974, S. 67. 186 Als wichtigster Repräsentant dieser Aufwertung des Dialogs im Rahmen der Popularphilosophie ist Engel zu nennen, der die Hauptvorteile des Dialogs vor der Erzählung darin sieht, dass im Dialog „mehr Handlung möglich“ und er darum „zur Schilderung von Charakteren unendlich fähiger“ sei (vgl. Engel, 1964, S. 68 ff). Daher lässt sich im Dialog, so Engel weiter, auch das psychologische Interesse besser befriedigen: „Die Erzehlung nehmlich kann von dem jedesmaligen Zustande einer handelnden Seele; sie kann auch von dem ganzen genauen Zusammenhange aller in ihr vorgehenden Veränderungen nie eine so specielle, bestimmte, vollständige Idee geben, als das Gespräch.“ (ebd., S. 233) Darüber hinaus gewährleistet für Engel der Dialog die Lebendigkeit der Darstellung: „In der Erzehlung ist die Handlung bereits geschehen; in dem Gespräche geschieht sie eben jetzt im gegenwärtigem [sic!] Augenblicke [..].“ (ebd., S. 131 f) 187 Winter, 1974, S. 74 f. Vgl. auch Bauer, 1969, S. 255: „Gesprächsdichtung ist eine unruhige, aus dem eigenen Gegenstand heraus gefährdete Kunst. Sie ist keine Kunst geringeren Grades, aber sie ist immer (außer in spielerischen Sonderformen) mehr als nur Kunst.“ 188 Selbst der Peregrinus Proteus, welcher unter den Romanen Wielands der Form des Dialogromans am nächsten kommt, enthält noch erzählende Elemente. 189 Sill, 1997, S. 78, wo es, den impliziten vom realen Leser unterscheidend, heißt: „Indem der reale Leser im Rezeptionsvorgang Zug um Zug die Textintentionalität erschließt, nähert er sich dem impliziten Leser, ohne jedoch jemals mit ihm identisch sein zu können. Denn die vollständige Erschließung aller Sinnpotentiale eines Textes ist nicht möglich.“

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

119

tionsniveaus innerhalb des literarischen Textes, die durch den systemtheoretischen Begriff der Beobachtung näher charakterisiert werden können: Die Beobachter auf der Ebene 1 und die Erzählinstanz auf der Ebene 2 werden ihrerseits der Beobachtung ausgesetzt. Ihre beobachtungsleitenden Unterscheidungen werden durch diese Beobachtung offengelegt, ihre blinden Flecken ausgeleuchtet, ohne daß dieser ‚Beobachter‘ auf der Ebene 3 seinerseits an eine beobachtungsleitende Unterscheidung gebunden wäre, basiert seine Beobachtung doch nicht auf einer weiteren, explizit ausformulierten Instanz, sondern auf der Simultanpräsenz aller, in einer spezifischen Art und Weise organisierten und in 190 einer bestimmten Erzählstruktur realisierten bedeutungstragenden Elemente des Textes.

Die Beobachter auf der Ebene 1 (die handelnden Figuren) werden zwar ihrerseits vom Erzähler, als einem Beobachter zweiter Ordnung, beobachtet191, doch die „hierarchiehöchste ‚Sender‘-Instanz des impliziten Autors“ ist als „Beobachter aller horizontal und vertikal verschränkten Beobachtungsverhältnisse“ noch oberhalb der Erzählerinstanz anzusiedeln: Obwohl also die erzählte Welt als Ganze abhängig ist von der Erzählinstanz, ist sie in ihrer Bedeutungsvielfalt keineswegs identisch mit der Summe jener Beobachtungen zweiter Ord192 nung, die die Position des Erzählers konstituiert.

Besonders schön kann die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den Ebenen 2 und 3 anhand des Agathon verdeutlicht werden, insofern sich der Erzähler hier nicht an ein homogenes Publikum in toto wendet, sondern sich in einem beständigen Perspektivenwechsel auf ganz verschiedene (fiktive) Leserschichten mit ganz verschiedenen Erwartungen bezieht. Indem der Erzähler auf diese Weise mit dem Leser in einen polyperspektivischen Dialog tritt, nimmt er auch selbst völlig unterschiedliche Charaktere an. Erst die Gesamtheit dieser wechselnden Erzählerhaltungen macht den impliziten Autor aus, der entsprechend vom impliziten Leser auch erst aus der Gesamtheit des Werkes konstituiert werden kann. Demnach wird gerade am Agathon verständlich, warum die Systemtheorie die Literatur insgesamt als „Beobachtung zweiter Ordnung sui generis“ bestimmt.193 Eine detaillierte Interpretation dialogischer Erzählweisen innerhalb des philosophischen Romans der Spätaufklärung kann im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht geleistet werden. Für die verschiedenen Formen des dialogischen Erzählens sollen hier nur einige repräsentative Beispiele gegeben werden: Sowohl im Don Sylvio194 als auch im Agathon dienen die Anreden des Erzählers an den Leser häufig der Legitimation der eigenen Erzählstrategien bzw. der Sicherung der

190

Ebd., S. 83. Ebd., S. 81. 192 Ebd., S. 82. 193 Ebd., S. 83. 194 Vgl. z.B. Wieland, Werke, IV, 11, S. 260 sowie Wieland, Werke, IV, 12, S. 5 ff, 70 u. 131 f. 191

120

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Glaubwürdigkeit des erzählten Geschehens195. Ein besonderes Anliegen ist es den Erzählern beider Romane, die Reflexionen innerhalb des Romans zu rechtfertigen: Wie? Rufen hier einige Leser, schon wieder Betrachtungen? Allerdings, meine Herren; und in seiner Situation würde es ihm nicht zu vergeben gewesen sein, wenn er keine angestellt hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bei gewissen Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet als Agathon; vielleicht würdet ihr sehr wohl tun, ihm diese kleine Gelegenheit abzulernen. (Wieland, A, S. 366)

Im Tobias Knaut Wezels, für den ein ganz ähnlicher Befund gilt, wird deutlich, dass der Erzähler-Leser-Dialog vor allem der Rechtfertigung des digressiven Erzählstils dient, ja dass das digressive Erzählen geradezu als Folge des dialogischen Erzählverfahrens entsteht: Ich wäre selber so froh, als es meine Leser nur immer seyn könnten, wenn die Erzählungskanäle in meinem Kopfe häufiger oder doch wenigstens länger wären; aber so sind die Lebensgeister kaum darinnen – husch! sind sie wieder heraus, und gleich in eine moralische Röhre hinein – und nun könnte ein Schiff durch den königlichen Kanal in Languedok gehen, in Toulouse seinen Zoll bezahlen, die Garonne durchlaufen, bey Bordeaux seine Schiffsfahrer aussteigen, und sich ihren übelverdauenden Magen mit so vielen Flaschen, als sie bezahlen können, kuriren lassen, und wohl gar noch ins abendländische Meer hinausfahrenm ehe meine Lebensgeister mit ihrem Wege durch den moralischen Kanal fertig sind. Aber was ist zu thun? Ich werde ein paar Röhren zustopfen müssen, wenn ich nicht will, daß sich meine Leser die Köpfe schwindlicht schlafen. (Wezel, TK, I, S. 70 f)

Im Danischmend wird das ironische Gesprächsspiel zwischen Erzähler und Leser dadurch auf die Spitze getrieben, dass der Dialog über die das Erzählte witzig kommentierenden Fußnoten realisiert wird. Diese Fußnoten brechen nicht nur die Fiktionalität des Erzählten ironisch, sondern lassen den Leser zugleich an einem (scheinbar) gelehrten Austausch teilhaben.196 Der Danischmend radikalisiert damit das, was der Goldene Spiegel durch die Darstellung einer asymmetrischen, durch die Gewaltandrohungen des Sultans beständig gefährdeten Kommunikationssituation auf der Figurenebene begonnen hat, und zeigt deutlich, dass die spätaufklärerischen Romane keineswegs nur gelingende, ‚herrschaftsfreie‘ Dialoge vorführen. Vornehmlich idealen Gesprächssituationen widmet sich hingegen – ähnlich wie der Agathodämon – der Aristipp. Dabei stehen sowohl die – als ausgesprochen „nüchtern“ charakterisierten – „Aristippschen Orgien“ der weiblichen Hauptfigur Lais197 als auch die „Gastmähler“ Aristipps198 in kritischem Bezug zu den Dialogen Platons. Im Zusammenhang mit der ausführlichen Kritik der Politeia gipfelt dies darin, dass mit dem Dialog die Dialogtheorie gleich mitgeliefert

195

Dies geschieht freilich oft auf ironische Weise. Auf das Phänomen der Fiktionsironie werden wir noch im Kap. 2.1.5 ausführlich zu sprechen kommen. 196 Vgl. Wieland, Werke, III, 8, S. 48-55 u. 66-71. 197 Vgl. etwa Wieland, Werke, XI, 34, S. 147 ff sowie S. 269 ff. 198 Vgl. z.B. Wieland, Werke, XI, 35, S. 149 ff.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

121

und durch relativistische Positionen gerechtfertigt wird. Der philosophische Roman der Spätaufklärung vollzieht an dieser Stelle eine autoreflexive Wendung. Das dialogische Erzählprinzip kann sich jedoch auch auf der Handlungsebene zeigen. Insbesondere Klingers Faust-Roman und Wezels Belphegor verwenden nicht nur ausgiebig dialogische Erzählverfahren, sondern pflegen darüber hinaus durch die ununterbrochene Aneinanderreihung schrecklicher Szenen, die diese Romane zu wahren parforce-Ritten durch die beste der Welten macht, einen Episodenstil, der durchaus als eine Spielart des perspektivistischen Erzählens auf der Ebene des Erzählgeschehens und damit als eine weitere perspektivistische Makrostruktur neben der Dialogtechnik angesehen werden kann. Aufgrund der Verwendung dieser beiden Verfahren – der Episoden- und der Dialogtechnik – erwecken sowohl der Faust als auch der Belphegor den Eindruck von Thesenromanen – ein Begriff, der jedoch nur dann sinnvoll verwendet werden kann, wenn zugleich der polyperspektivische und relativistische Charakter dieser Romane berücksichtigt wird.199 Noch stärker in der Konsequenz einer relativistischen Position liegt der Wielandsche Typus des Briefromans200, der weniger ein ‚Gespräch zwischen abwesenden Personen‘ darstellt, sondern den Perspektivismus gerade dadurch radikaler fasst als andere dialogische Erzählformen, dass er in der Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich die Subjektivität der Sichtweisen bereits auf der Ebene der einzelnen Person aufzeigt: Die Perspektive des Schreibers verändert sich so stetig, wie sein an die Erfahrung in der Zeit gebundener Erlebnis- und Wissenshorizont sich verändert. Der Ausgang der Geschichte ist für den nur im Zeitpunkt der jeweiligen Briefniederschrift begegnenden und nur so vom Roman festgehaltenen Ich-Erzähler ebenso ungewiß wie für den Leser. Die Perspektivität, die bereits dem einzelnen Brief eigen ist, sowie die Multiperspektivität, die sich schon bei nur einem Brief des einen und einem Gegenbrief des anderen ergibt, wird bei einer zeitlichen Folge von Briefen bzw. Briefwechseln noch einmal überschritten auf eine durch die zeitliche Veränderung des erzählenden Ichs ausgelöste neue Multiperspektivität. Die zwischen den Briefen liegende Zeit wird zum dramaturgischen Movens, und selbst wenn nur eine Person berichtet, 201 ergibt sich eine zeitlich bedingte Multiperspektivität.

199

Sie sind also gerade nicht in dem Sinne ‚Thesenromane‘, dass in ihnen eine klar umrissene, eindeutige philosophische Position durch ein fiktionales Erzählgeschehen illustriert wird. 200 So schreibt Manger im Hinblick auf den hier vor allem gemeinten Aristipp: „Die alleinige und totale Wirklichkeit der Briefe Aristipps und seiner Zeitgenossen macht irgendwelche Handlung hinter- beziehungsweise vordergründig. Das Medium des Briefes im Roman als eines digressiven Exkurses verselbständigt sich im lückenlosen Wechsel zwischen Absendern und Empfängern zu einer Verdichtung innerer Handlung ohnegleichen. Die Welt existiert und oszilliert in der Meinungsvielfalt ihrer Individuen, und zwar allein darin. [...] Der objektiven Wirklichkeit nähert sich das pluralistische Meinungsbild gerade dadurch an, daß die Einzelstimmen subjektiv sich behaupten.“ (Manger, 1991, S. 103 f) 201 Honnefelder, 1975, S. 109. Wie er dabei richtig erkennt, kommt der Brief als ein fiktives authentisches Dokument auch der Psychologisierungstendenz der aufklärerischen Literatur entgegen.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Der Briefroman, der das Urbanitätsideal bzw. das Ideal der literarischen Öffentlichkeit vielleicht am besten realisiert202 und der durch das Vorherrschen des Rechtfertigungskontextes des Handelns vor dem Handeln selbst als das geeignete Medium zur Darstellung von Subjektivität erscheint, verwirklicht darum den Dialogismus überzeugender als eine auktoriale Erzählweise. Denn in letzterer muss, wie etwa der Tobias Knaut und der Agathon zeigen, die Multiperspektivität durch den Dialog zwischen dem Erzähler und seinen Figuren einerseits und dem Leser und dem Erzähler andererseits erst mühsam hergestellt werden, bis „die Romanwirklichkeit und diese beiden Relationen zusammen die dargestellte Wirklichkeit ergeben“.203 Im Briefroman hingegen wird die für die philosophische Reflexion nötige Distanz des Lesers zum erzählten Geschehen viel müheloser hergestellt.204 Müller ist deshalb nur beizustimmen, wenn er über Wieland schreibt: Die späten Romane vollenden die im Agathon und Don Sylvio vorgebildete Subjektivierung des Erzählens. Es gibt nicht mehr die eine totale Sicht der Wirklichkeit, vermittelt durch den allwissenden Erzähler, sondern nur noch verschiedene einander ergänzende Aspekte: jeder kann nur sagen, was er von seinem Standpunkt aus für wahr hält. In der Konsequenz dieser 205 Entwicklung liegt der Wielandsche Typus des Briefromans [...].

Als Paradebeispiel für den spätaufklärerischen Briefroman hat deshalb Wielands Aristipp zu gelten. In ihm wird nicht nur die Form des polyperspektivischen Briefromans auf virtuose Weise mit anderen dialogischen Formen verschränkt, sondern zugleich in einer autoreflexiven Wendung eine Theorie des urbanen Dialogs entwickelt, in dem prinzipiell alles Gesprächsthema werden kann. Gerade der Aristipp zeigt deutlich, dass 202

Vgl. hierzu Habermas, 1996, S. 113 f: „In der Sphäre der kleinfamilialen Intimität verstehen die Privatleute sich als unabhängig auch noch von der privaten Sphäre ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit – eben als Menschen, die zueinander in ‚rein menschliche‘ Beziehung treten können; deren literarische Form ist damals der Briefwechsel. Das 18. Jahrhundert wird nicht zufällig zu einem des Briefes; Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität. [...] Diese, als der innerste Hof des Privaten, ist stets schon auf Publikum bezogen.“ 203 Vgl. Preisendanz, 1969, S. 86. 204 Vgl. hierzu Jacobs, 1965, S. 37: „Größere Distanz zur Welt des Romans gewinnt auch der Leser, der gar nicht dazu kommt, sich allzu intensiv auf sie einzulassen: durch dauernde Anreden und durch die eingeschalteten Anmerkungen des Erzählers wird er in kritischer Entfernung gehalten.“ Aus dieser Distanzierung durch dialogische Techniken erklärt sich auch die zunehmende Emanzipation des philosophischen vom empfindsamen Roman. Darum ist es nicht verwunderlich, dass das Elysium im Peregrinus bzw. ein abgelegenes Bergtal im Agathodämon den idealen Hintergrund für das tolerante Gespräch darstellt – wird doch so auch topographisch deutlich, dass die Entlastung vom Handlungsdruck Voraussetzung eines funktionierenden Dialogs ist. 205 Müller, 1971, S. 195. Gemäß der für Wieland typischen „Tendenz zum Allgemeinen“, der gemäß das Ziel die „Integration aller besonderen Erfahrungen und Erlebnisse in die philosophische Überzeugung“ ist, gilt zugleich: „Im Gegenteil bemühen sich die Briefschreiber und Sprecher jeweils, die Begrenztheit ihrer subjektiven Perspektive zu überwinden, andere mögliche Standpunkte einzunehmen, das Besondere in allgemeine Zusammenhänge einzuordnen und ihre Erlebnisse für allgemeingültige Urteile auszuwerten.“ (Ebd., S. 196)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

123

die Spätaufklärer den philosophischen Roman als die dem pragmatischen Paradigma angemessene Diskursform ansehen. Denn es lässt sich behaupten, dass das dialogische Erzählen eine einfache Form der diskurslogischen Konsequenz darstellt, wonach Diskursinhalt und Diskursform in ein wechselseitiges Begründungsverhältnis geraten. Die Positionen des pragmatischen Paradigmas artikulieren sich nämlich im philosophischen Roman der Spätaufklärung zugleich auf diskursiver und erzähltechnischer Ebene. Mehr noch: beide Ebenen werden in ein Entsprechungsverhältnis gebracht und autoreflexiv aufeinander abgebildet. Am dialogischen Erzählprinzip wird insofern auf relativ einfache Weise greifbar, was ebenso für das Korrespondenzverhältnis zwischen funktionalistischer Rationalitätstheorie mit ihrem Begriff der anderen Vernunft und dem Erzählprinzip der pragmatischen Integration gilt. Zu einem vollen Verständnis dieses Verhältnisses gelangen wir jedoch erst, wenn wir die handlungs- und moraltheoretischen Aspekte des pragmatischen Paradigmas und deren diskurslogischen Konsequenzen für das Romanerzählen der Spätaufklärung näher betrachtet haben.

2.1.3 Dieses wunderbare Kompositum. Die pragmatische Wende in der Handlungs- und Moraltheorie und der Kontextualismus Ich will gehen und nach Vergnügen laufen wie der Bettler nach dem Glück. Ich will in’s 1 Freie!

So wie Schopenhauer betont, dass die ‚Philosophie des Ernstes‘ dort beginnt, wo sie praktisch wird und als Moralphilosophie auftritt2, so stehen auch innerhalb der Tradition der anderen Vernunft die moralischen Fragen im Mittelpunkt des Interesses. Hier findet das pragmatische Paradigma zu seinem eigentlichen Anliegen. Wie gesehen wird im Rahmen dieses Paradigmas die Beschäftigung mit philosophischen Problemen in Beziehung zur alltäglichen Lebenswelt gesetzt und die Theorie an die Praxis gebunden. Die damit einhergehende Integration der Vernunft in den affektiven Gesamthaushalt des Menschen lässt folglich nicht nur das Problem der Erkenntnis, sondern vor allem die Frage nach der Genese des Verhaltens in einem ganz neuen Licht erscheinen: Die Analyse der Handlungsmotivation wird zum zentralen Thema des aufklärerischen Denkens. Namentlich geht es darum, den Einfluss der Affekte auf das Handeln zu bestimmen. Mit der pragmatischen und funktionalistischen Erkenntnistheorie korrespondiert also innerhalb des pragmatischen Paradigmas eine neue Handlungs- und Moraltheorie, die zum einen die Genese menschlichen Verhaltens – insbesondere des moralischen – nicht primär aus der Vernunft als vielmehr aus der Triebstruktur herleitet und hierbei den Leib-Seele-Dualismus aufzulösen trachtet, zum andern die Geltung moralischer Urteile in analoger Weise limitiert. Führt Letzteres zu einem den situativen Kontext der Entscheidungen und Handlungen berücksichtigenden Partikularismus, so wird bei der Suche nach dem Fundament der Moral (i.S. einer Identifizierung der Motivationsbasis moralischen Handelns) die Orientierung an der Natur des Menschen qua Triebstruktur deutlich. Dabei ist es nachrangig, ob dieser Ansatz zu der optimistischen Variante der Moral-senseEthik, die den Menschen als soziales Wesen mit ‚sympathetischen‘ Neigungen sieht, oder – die pessimistische, den Menschen als eigennütziges Tier betrachtende Spielart – zu einer deskriptiven oder normativen Theorie des Egoismus führt. In Verbindung mit der pragmatischen Erkenntnistheorie entwickelt sich daraus ein Relativismus der Werte, in dessen Rahmen der Toleranz eine zentrale Bedeutung zukommt. So wird innerhalb des pragmatischen Paradigmas auch die praktische Philosophie funktionalistisch und kontextualistisch behandelt. Nicht nur wird die Abhängigkeit der jeweiligen Entscheidungen und Handlungen von den gegebenen Umständen – und nicht von allgemeinen, der Situation enthobenen Grundsätzen – aufgewiesen, sondern diese deskriptive Theorie wird ergänzt durch eine normative: Entscheidungen und Handlungen sollen sich auch gar nicht nach vermeintlich allgemeingültigen Imperativen richten, 1 2

Wezel nach Lutze: Ein vergessener Dichter, S. 212; zit. nach Schmitt, 1984, S. 275. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 357.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

125

sondern stets die konkrete Situation berücksichtigen. Nur dadurch werden sie nicht bloß erfolgreich und dem Handlungskontext angemessen, sondern allererst moralisch wertvoll. Dies bedeutet, dass alle moralischen Bewertungen – wie die Entscheidungen und Handlungen selbst – situations- und kontextabhängig sind: Der moralische Wert einer Handlung bemisst sich nach dem jeweiligen Kontext, in dem sie steht; er liegt nicht, als intrinsischer Wert, von vornherein fest. Entsprechend erscheint die Frage nach dem ‚Guten an sich‘ als sensu strictu sinnlos; sie ist – so legt es insbesondere Wieland im Aristipp dar3 – bloß Ausfluss eines unsäligen Abstraktionsstrebens, das die Individualität jeder Handlungssituation misskennt. Und was für die einzelne Handlung seine Gültigkeit hat, gilt ebenfalls auf der Ebene der Lebenskonzepte: Auch das Leben als ganzes hat bei verschiedenen Menschen eine jeweils besondere Prägung, die nicht durch eine abstrakte Morallehre verwischt werden darf. Von diesem „Eines schickt sich nicht für alle“ sind die literarischen Spätaufklärer so tief durchdrungen, dass man hierin das Kerntheorem des pragmatischen Paradigmas und damit zugleich den Hauptgrund für ihre Diskurswahl sehen kann, insofern auf dieser Basis die Forderung nach einer individualisierten Darstellung des (moralischen) Handelns bzw. verschiedener Lebenskonzepte und nach Kontextualisierung beider in fiktionalen Handlungszusammenhängen formuliert wird. Hierauf beruht nicht nur die Nähe des philosophischen sowohl zum psychologischen als auch zum Entwicklungsroman, sondern letztlich das ethische Potential von Literatur überhaupt.4 Wird die Frage nach der Geltung moralischer Werte und Urteile auf derart partikularistische Weise beantwortet, so äußert sich die funktionalistische Sichtweise des pragmatischen Paradigmas auch in der Antwort auf die Frage nach der Motivation moralischen Handelns: Wie schon die Intellektualität wird auch die Moralität in die Biostruktur integriert und damit aus der Perspektive des ganzen Menschen betrachtet. Gemäß der Einsicht Humes, dass die Vernunft keine motivierende Kraft besitze5, und in Opposition zu den Bemühungen Kants, mit dem Achtungstheorem Humes Lehre zu transzendieren6, rekurriert man auf ein als moralisch identifiziertes Gefühl, einen als

3 4

5 6

Vgl. Wieland, Werke, XI, 34, S. 145-171. Wie wir in Kap. 3.3 genauer sehen werden, verharrt die Behauptung, dass die Literatur insofern eine ethische Bedeutung hat, als in ihr konkrete Vorbilder vorgeführt werden, nur auf der Oberfläche. Vielmehr artikuliert sich in ihr ein pragmatischer Funktionalismus, dessen Aussagen über die bloße Vorbildlichkeit der Protagonisten weit hinausgeht. Letzteres interessiert in unserer Untersuchung nur am Rande; gefragt wird vielmehr nach den moralphilosophischen Implikationen des literarischen Werkes, d.h. welchem ethischen Modell die Literatur selbst schon durch ihre Struktur verpflichtet ist und, darüber hinaus, welche diskursiven Aussagen sie über moraltheoretische Probleme trifft und in welchem Verhältnis diese wiederum zu ihrer formalen Struktur stehen. Auch an dieser Stelle wird also deutlich, dass die Untersuchung einen werk-, nicht einen rezeptionsästhetischen Ansatz verfolgt. Vgl. Hume, 1978, S. 414 f; zit. in Kap. 2.1.1. Vgl. Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, der Analytik 3. Hauptstück, insbes. A 133 ff.

126

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

moralisch zu charakterisierenden Trieb, einen moral sense.7 Dieser moralische Trieb steht in enger Beziehung zu den sozialen Trieben, wenn er am Ende nicht gar mit ihnen identisch ist. Auch die Mitleidsethik erweist sich aus dieser Perspektive als eine Spielart der Moral-sense-Lehre. Indem das Fundament der Moralität in der Affektivität verortet wird, ist die Moral für die Vertreter des moralphilosophischen Funktionalismus auf die tiefstmögliche Weise, nämlich in der menschlichen Natur gegründet. Es wird damit eine Naturalisierungstendenz verfolgt, die den Bereich des Normativen beschneidet, wenn nicht ganz aufhebt, insofern die Moralität nun ebenfalls zur natürlichen Ausstattung gehört und es daher im Grunde nichts vorzuschreiben gibt, sondern nur bereits Vorhandenes zu kultivieren. So wird die moralische Bildung qua Charakter- und ‚Herzensbildung‘ zum zentralen Anliegen aller aufklärerischen Erziehungsprogramme.8 Hieraus gewinnt im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur der Bildungsroman seine spezifische Dignität, sondern vor allem der Pädagogik wächst dadurch eine wichtige Aufgabe zu: das ‚philosophische‘ wird zu einem ‚pädagogischen Jahrhundert‘.9 Somit ist nicht zu leugnen, dass die Moralität dadurch, dass sie in die Affektivität des Menschen integriert wird, in ihrem Einfluss limitiert ist. Da der moralische Trieb nur ein Trieb unter vielen anderen ist, nimmt die Moralität – anders als im Falle ihrer rationalen Begründung – keine Sonderrolle ein. Gleichwohl steht sie – darüber sind sich auch die Vertreter des pragmatischen Paradigmas im Klaren – sozial in hohem Ansehen. Dies führt die Aufklärer zu der Einsicht, dass der Heuchelei alle Wege offen stehen: Oft genug ist es nur der bare Egoismus, der sich moralisch maskiert, um besser seine Ziele zu erreichen, oft genug ist der moralische Trieb zu schwach, um ein wirksames Gegengewicht zu bieten. Es handelt sich hier also um eine Funktionalisierung der Moral im negativen Sinne. Dagegen tritt die Entlarvungspsychologie auf, die sich somit als die Kehrseite des Funktionalismus in der praktischen Philosophie erweist. In ihr konzentriert sich eine Skepsis, welche die Moralität als so leicht instrumentalisierbar ansieht, dass sie angesichts des ‚kolossalen‘ Egoismus chancenlos bleibt.10 So artikuliert sich auf dem Gebiet der Moralphilosophie das pragmatische Paradigma auf zwei Weisen: Zum einen in der Form der Moral-sense-Lehren, wonach der Mensch 7

8 9 10

Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Rationalität im moralischen Handeln keinerlei Rolle spielt: Dass die Vernunft keine motivierende Kraft besitzt, heißt für die Anhänger der Moral-senseTheorie nicht, dass sie nicht bei der Entwicklung dauerhafter moralischer Einstellungen oder ‚Tugenden‘ eine wesentliche Funktion hat. Schon bei Hutcheson setzen sowohl richtige moralische Urteile als auch moralisch wertvolle Handlungen immer Vernunfterkenntnisse – etwa die Erkenntnis kausaler Zusammenhänge, die Abschätzung der Handlungskonsequenzen oder die Berücksichtigung des Handlungskontextes – voraus. Wie Schopenhauer später deutlich macht, spielt die Rationalität hierbei jedoch nur die Rolle einer technischen oder instrumentellen Fertigkeit (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 3, S. 571). Vgl. dazu Engbers, 2001, S. 19-31. In den Augen der Spätaufklärer geht die Erziehung jedoch vor allem auf die Berichtigung der moralisch relevanten Erkenntnis, nicht auf die Ausbildung des moral sense selbst. Zur Bildungsproblematik des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen vgl. Ulrichs, 2011. Als literarische Form der Entlarvungspsychologie tritt vor allem die Satire auf.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

127

zusätzlich zu seinen egoistischen auch moralische Triebe besitzt – einen ‚moralischen Sinn‘, eine natürliche Disposition zum Mitleid oder auch nur einen sublimierten Trieb zur Geselligkeit; zum andern in Form der Egoismustheorien, die das Vorhandensein moralischer Dispositionen leugnen und alle Handlungen auf das Streben nach dem Eigenwohl zurückführen, wobei diese Theorien sowohl in einer deskriptiven, den Egoismus logisch oder psychologisch begründenden als auch in einer normativen Variante auftreten.11 Nach diesen letzteren Theorien ist die Beachtung von sozialen, rechtlichen oder moralischen Konventionen nur Mittel zum Zweck – nämlich einer besseren Befriedigung egoistischer Bedürfnisse.12 Hierbei bleibt die Möglichkeit der Verselbständigung dieser Konventionen zunächst unberücksichtigt: Dass die gemäß einem Klugheitsgebot beachteten Konventionen im Laufe der Zeit eine solche Eigenständigkeit gewinnen, dass sie schließlich um ihrer selbst willen Beachtung finden, wird erst später erkannt.13 Beiden Formen des pragmatischen Paradigmas – den Moral-senseLehren wie den Egoismustheorien – gemeinsam ist aber die Integration der Moralität in das Gesamt menschlicher Lebensäußerungen. Nimmt man den theoretischen und praktischen Funktionalismus zusammen, ergibt sich eine holistische Theorie, in der man insofern einen existenzphilosophischen Ansatz erkennen kann, als hier ein Kontextualismus des In-der-Welt-Seins formuliert wird, wonach sich sowohl das Erkennen als auch das Handeln an der konkreten Lebenswelt orientieren. Ohnehin bilden die theoretischen und praktischen Aspekte des pragmatischen Paradigmas eine derart unlösliche Einheit, dass für die Spätaufklärer Philosophie und Lebensform geradezu Wechselbegriffe darstellen.14 Ausdruck dieser Einheit von theoretischem und praktischem Funktionalismus ist der Relativismus, für den die jeweils zentralen Werte einer Kultur nicht absolut begründet werden können. Diese Haltung impliziert für die Vertreter des pragmatischen Paradigmas zugleich, wie wir gesehen haben, die Toleranz gegenüber anderen Lebenskonzepten, Kulturen und Traditionen als einer unhintergehbaren Minimalmoral, wie sie sich im spätaufklärerischen Urbanitätsideal ausdrückt.15 Dies setzt allerdings die Möglichkeit voraus, einen – 11

12

13 14 15

Es sollte klar sein, dass an dieser Stelle idealtypische Formen moralphilosophischen Denkens beschrieben werden. Im 18. Jahrhundert treten hingegen, wie wir noch sehen werden, vielfältige Mischformen auf, die begrifflich oft nicht scharf formuliert werden. Allerdings unterscheidet bereits Kant zwischen logischem, ästhetischem und moralischem Egoismus (vgl. Kant, 1983, S. 38 ff [AA 128 ff]). Es sei an dieser Stelle nochmals an die in Kap. 2.1.2 zitierte Empfehlung manipulativer Techniken bei der Verfolgung des eigenen Vorteils durch den Sophisten Hippias erinnert (vgl. Wieland, A, S. 96). Wir werden auf dieses Problem im Zusammenhang mit den staatsphilosophischen Reflexionen der Spätaufklärer nochmals zurückkommen (vgl. Kap. 2.1.4). Dabei ist nochmals festzuhalten, dass es im philosophischen Roman der Spätaufklärung um die Darstellung ganzer Lebenskonzepte, weniger um einzelne Handlungsanweisungen geht. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, wird der philosophische Roman dadurch in die Nachbarschaft des Brief- und Dialogromans gerückt. Insofern das Ideal des freien Dialogs es

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

von Wieland so genannten – kosmopolitischen Standpunkt oberhalb der im Wettstreit stehenden Wertesysteme einnehmen zu können, der aber nicht identisch ist mit der Gottesperspektive, von der aus jeder Streit ‚objektiv‘ entschieden werden könnte. Mit der zentralen Bedeutung, die moralphilosophischen Fragen innerhalb des pragmatischen Paradigmas zugeschrieben werden, geht das intensive Interesse der Spätaufklärer an der Psychologie einher. Das ist nicht verwunderlich, muss doch innerhalb einer moralphilosophischen Perspektive, für die das Problem der Genese menschlicher Handlungen wesentlich ist, zuallererst eine Handlungstheorie formuliert werden und dabei die Innenperspektive des Handelnden Berücksichtigung finden. Dies wirkt sich auch auf den Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus, dessen Neigung zur Psychologisierung oft festgestellt worden ist. Hier findet eine zunehmende „Auseinandersetzung mit den Entwürfen einer modernen, selbstbewußten Subjektivität“ statt, die „die Einheit des Subjekts in ein dunkles Geflecht heterogener Antriebskräfte auf[löst]“.16 Die Beschäftigung mit den sogenannten Trieblehren legt davon auf diskursiver Ebene beredtes Zeugnis ab. Wichtiger aber als diese explizite Thematisierung der empirischen Psychologie, die im philosophischen Roman einen breiten Raum einnimmt, ist deren narrative Umsetzung in den Charakterdarstellungen und Handlungsbeschreibungen. Gerade durch die Psychologisierung des erzählten Geschehens – wie sie etwa Moritzens Anton Reiser vorführt – entsteht der moderne Roman, der somit ohne die pragmatische Wende in der Handlungs- und Moraltheorie undenkbar wäre. Eine psychologisch orientierte Handlungstheorie hat sich aber zunächst mit dem zentralen Problem des 18. Jahrhunderts, dem Leib-Seele-Dualismus zu befassen, insofern das Verstehen der Beziehung zwischen den mentalen und physiologischen Vorgängen Voraussetzung aller Handlungserklärungen ist. Nur dadurch kann, so die Hoffnung der Spätaufklärer, der Konflikt zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘ einer Lösung näher gebracht werden. Das commercium-Problem erscheint den Spätaufklärern letztlich zwar als unauflösbar, dennoch halten auch sie die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele für das zentrale Problem: Inzwischen ist der Einfluß dieser körperlichen Ursachen auf unsre moralische und intelectuelle Vollkommenheit so gewiß, so mächtig, so allgemein, daß ich fest überzeugt bin, die Psychologie müsse bey diesem Einflusse anfangen, und könne nur alsdann erst gedeihen, wenn unsre Kenntniß desselben genauer und vollständiger ist. (Wezel, Versuch, S. 431)

Wezel, der vom französischen Materialismus stark beeinflusst war, verweigerte sich dennoch dessen Behauptung, „man müsse die Sittenlehre ebenso behandeln wie alle anderen Wissenschaften und eine neue Moral ebenso entwickeln wie eine experimentelle Physik“17. Einem solchen Reduktionismus, wonach „der moralische Mensch nichts

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ermöglicht, nicht allein verschiedene Denk-, Handlungs- und Lebenskonzepte als gleichberechtigte Alternativen vorzuführen, sondern zugleich den zentralen Wert der Toleranz zu realisieren, wird das Dialogische zum Grundprinzip des Romans. Kremer, 1990, S. 285 f. Helvetius, 1973, S. 75.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

129

anderes [sei] als dieses physische Wesen, betrachtet unter einem bestimmten Gesichtspunkt“18, hielt Wezel in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen entgegen, dass alles dafür spräche, die Existenz einer Seele anzunehmen: Alle diese Bemerkungen machen es wahrscheinlich, daß ein Etwas in uns ist, das, unabhängig von den Eindrücken der äußerlichen Gegenstände und vom Zwange des Mechanismus, Wirkungen hervorbringen und das Spiel der Organe unter gewissen Einschränkungen zurückhalten oder beschleunigen kann; und dieses Etwas, diese dritte Ursache der Wirkungen im Menschen, wollen wir Seele nennen. (Wezel, Versuch, S. 58)

Denn zwar kommt für Wezel „das Spiel des Mechanismus“ auch im Falle des menschlichen Systems „dem Spiele der Feder und der Räder in einer Uhr gleich“, sodass ein mechanizistischer Ansatz, der den Menschen als ‚Maschine‘ begreift, zu vielfältigen Einsichten führen kann19, doch sei zugleich „Etwas in uns, das, unabhängig von den Eindrücken der äußerlichen Gegenstände und vom Zwange des Mechanismus, Wirkungen hervorbringen [...] kann“ (ebd., S. 58). Darum haben wir laut Wezel die Existenz einer Seele anzunehmen. Doch über diese Existenzannahme hinaus lasse sich dazu ebenso wenig sagen wie zum wechselseitigen Einfluss von Körper und Seele: dass er gegeben ist, lasse sich nicht leugnen, wie er jedoch genau geschieht, sei wohl niemals zu erklären: Unsere Einsichten haben viel dadurch erlangt, daß man den Menschen in zwey große Hälften zerschnitt, den körperlichen Theil dem Anatomiker und Physiologen überließ, und den geistigen dem Philosophen zu seinem Antheile gab: allein man schien zulezt ganz zu vergessen, daß beides Theile Eines Ganzen sind und folglich in der genausten Verbindung mit einander stehen müssen. [...] Der Mensch war also im eigentlichen Verstande in zwey Hälften zerrissen: gleichwohl sagte uns unser Selbstgefühl sehr deutlich, daß zwar zwischen den Bewegungen des Magens, wenn die Speisen ihn zu ihrer Bearbeitung reizen, und zwischen den Bewegungen der Seele, wenn Gründe oder Leidenschaften sie zu Entschlüssen reizen, ein großer Unterschied seyn muß, daß aber doch beide Arten, sowohl die geistigen als körperlichen Veränderungen, wechselweise bald näher, bald entfernter auf einander wirken. / Dieses Band zwischen den beiden getrennten Theilen des Menschen wieder anzuknüpfen, war die Absicht einer Wissenschaft, die man Anthropologie nennte, die zwischen dem Geistigen und Körperlichen im Menschen die Gränzen festsetzen und uns belehren sollte, wie viel der Körper zu den Verrichtungen des Geistes beyträgt, und wie dieser Beytrag geschieht. (Wezel, Versuch, S. 10 f)

Diese Absicht kann jedoch niemals vollständig realisiert werden.20 Auch Wieland, der die „Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet“ und sich von dieser „Arzneykunst für die Seele“ die Aufhebung des Leib-Seele-Dualismus erhofft21, 18 19

20

21

Holbach, 1960, S. 11. Dabei kann in den Augen Wezels jedoch nur einem holistischen Ansatz, der den Menschen als Systemganzes auffasst, Erfolg beschieden sein – gilt doch allemal: „Alles im [menschlichen] Mechanismus hängt auf das genauste zusammen: alles in uns ist in unaufhörlicher Wirksamkeit [...]“ (Wezel, Versuch, S. 52) Wie wir bereits im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, entscheidet sich der Erzähler im Tobias Knaut aus pragmatischen Gründen für die Annahme einer Seele (vgl. Wezel, TK, III, S. 153 f; zit. in Kap. 2.1.2). Vgl. Wieland, Werke, VIII, 24, S. 67 ff.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

kommt über die Feststellung dieser Paradoxie nicht hinaus. So lässt er seine Reflexionsfigur Aristipp sagen: Die Art und Weise, wie unsre Seele mit ihrem Körper zusammenhängt, ist eines der unerforschlichen Geheimnisse der Natur; ich weiß nichts davon: aber [...] daß dieses Ich ein von meinem Körper ganz verschiedenes Etwas ist, dieß weiß ich so gewiß, als ich mir selbst bewußt bin. (Wieland, Werke, XI, 34, S. 115)

Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele für die Spätaufklärer keineswegs ein akademisches Problem, das man getrost der Fachphilosophie überlassen könnte. Vielmehr verberge sich dahinter der existentielle Konflikt zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘, der nicht nur die Menschen des 18. Jahrhunderts umtrieb.22 Die Hoffnung Agathons, „die Harmonie zwischen seinem Kopf und seinem Herzen vollkommen wieder herzustellen“ (Wieland, A, S. 546), darf sonach nicht aufgegeben werden: [S]o pflegen auch die Lücken in unsern moralischen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwischen dem Kopf und dem Herzen immer größer und gefährlicher zu werden, je länger wir es aufschieben sie mit der erforderlichen Aufmerksamkeit zu untersuchen, und eine richtige Verbindung und Harmonie zwischen den Teilen und dem Ganzen herzustellen. (Wieland, A, S. 372)

Gemäß der Einsicht in die existentielle Bedeutung dieses Konflikts nimmt auch Archytas in der dritten Fassung des Agathon eine Deutung des Schicksals der Hauptfigur nach Maßgabe der Begrifflichkeit der Herz-Kopf-Problematik vor. Ausgehend von der Doppelnatur des Menschen, wonach er als „Vogel [erscheint], der an der Leimruthe hängen blieb“ (Wieland, Werke, I, 3, S. 393), behauptet Archytas, dass „die höchste denkbare Vollkommenheit der Menschheit [...] in einer völligen, reinen, ungestörten Harmonie dieser beiden zu Einer verbundenen Naturen“ (ebd., S. 394) bestehe. Dies sei die Aufgabe, die an jeden Menschen, also auch an Agathon gestellt sei. Freilich artikuliert sich in der Auflösung dieses Problems durch Archytas – vielleicht mehr noch als in dem ironisch gebrochenen Schluss der Erstfassung – eine enorme Verlegenheit. Denn ob der „rastlose[] Kampf der Vernunft mit der Sinnlichkeit“, „dieser innerliche Krieg“ (ebd., S. 396) erst unter der Bedingung überwunden werden kann, „daß der thierische Theil meines Wesens von dem geistigen, nicht umgekehrt der letztere von dem erstern, regiert werde“ (ebd., S. 394), kann vor dem Hintergrund der sonst von Wieland vertretenen skeptizistischen Position bezweifelt werden.

22

Sehr eindrücklich beschreibt Klinger in seinen Betrachtungen diesen Konflikt zwischen ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ als ein Problem, mit dem sich jeder reflektierte Mensch auseinander zu setzen habe: „Über sich selbst brütend dasitzen, heißt noch nicht über sich denken. Dieses fordert eine klare, aufrichtige Korrespondenz zwischen einem Dinge, das das Verstecken, Verbrämen, Verzieren und das Dunkel überhaupt liebt und einem andern Dinge, das sich nicht eher bethören und betrügen läßt, als bis wir gar nichts mehr werth sind; dann ist ohnedem die Abrechnung geschlossen. Diese zwei Dinge nun sind das Herz und der Geist – oder der Verstand – die Vernunft – jede Benennung kömmt ihm zu.“ (Klinger, Werke, 12, S. 9)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

131

Auch Klinger betrachtet die Harmonie zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘ als unabdingbare Voraussetzung nicht nur eines glücklichen, sondern auch eines moralisch gelingenden Lebens.23 Wenn hingegen, wie bei dem Helden der Geschichte eines Teutschen, „[d]as Band, welches einst sein Herz mit seiner Vernunft so harmonisch verknüpfte [...], zerrissen“ (Klinger, Werke, 4, S. 219) ist, markiert dies mehr als bloß seelische Krankheit – es zeigt ein moralisch wertloses Leben an. Ebenso dramatisch behandelt Klinger im Faust die Frage nach der Existenz der Seele. In einer besonders schrecklichen Szene, die selbst aus dem allgemeinen Grauen dieses Romans hervorsticht, beschreibt er einige Wissenschaftler, die bei ihrem Versuch einer Anatomisierung der Seele selbst vor Folter nicht zurückschrecken: Einige Wunderärzte, Doktoren der Medicin, Philosophen und Naturkündiger, hatten eine geheime Gesellschaft geschlossen, Untersuchungen über den Nervensaft, den Mechanismus des Körpers, und der Würkung der Seele auf die Materie, anzustellen. Um ihrer Neugierde und ihrem Forschungsgeist Gnüge zu leisten, lockten sie unter allerley Vorwand arme, unbedeutende Leute nach einem von der Stadt abgelegenen Haus [...]. Hier banden sie diese Unglücklichen mit Stricken auf einen langen Tisch, legten ihnen ein Querholz in den Mund, lösten ihnen eine Haut nach der andern ab, entblößten ihre Muskeln, Nerven, ihr Herz, Gehirn und zerlegten sie bey lebendigem Leibe, mit eben der Kälte und Aufmerksamkeit, als man einen unempfindlichen Leichnam anatomirt. Um recht hinter das, was sie suchten zu kommen, nährten sie diese Elenden gewaltsam mit stärkenden Brühen, und ließen sie viele Tage lang unter Messerschnitten und langsamen Zerreißen der Bande des Lebens, des peinlichsten Todes sterben. (Klinger, 24 Faust, S. 154 f)

Bei Wezel nimmt die Suche nach dem Sitz der Seele wesentlich freundlichere, nämlich komische Züge an – um jedoch ebenso erfolglos im Schlamm zu enden: 25

In dieser schwatzenden Laune hatte er [Selmann ] seinem Begleiter tausend artige Sachen vorgesagt, und trug eben izt, da von den Göttern der zweite Fall meines Helden beschlossen war, eine merkwürdige Auflösung des Problems von dem Sitze der Seele vor. Tobias neigte sich mit stieren Augen und voller Begierde über den Kopf seines Pferdes hin, um keins von Selmanns Worten, der wegen des engen Weges voran reiten mußte, zu verlieren. Je enger der Weg wurde, je mehr entfernte sich der Dozent, je mehr wurde bey dem Zuhörer diese Neigung des Kopfes nothwendig; der Weg ging außerdem bergunter, und war, bösen Eigenschaften nicht zu gedenken, 23

Vgl. hierzu Klinger, Werke, 7, S. 25 f: „Nun sage mir, [...] ob es besser für den Menschen ist [...], den warmen (versteht sich und auch guten) Eingebungen des Herzens im Leben und Wirken zu folgen; oder bloß dem kalten Verstande, der [...] immer weislich den Nutzen voraus berechnet. Auf welcher Seite liegt wohl der größte Gewinnst für den Menschen und die Menschen, und durch welches wird er glücklicher? Antworte mir nicht: durch den rechten Gebrauch der beiden; wer weiß dies nicht?“ Auf den Zusammenhang zwischen der Harmonie von Kopf und Herz einerseits und echter Moralität andererseits kommen wir später nochmals zu sprechen. 24 Die Verbindung der Suche nach dem Sitz der Seele mit Fragen der Moral stellt der Teufel selbst her: „Ich hoffe, nun begreifst du den Fingerzeig, den ich dir damals gab, als ich das Haus über die Naturkündiger zusammenstürzte. Ich sagte dir, so wie diese in das Fleisch der Lebenden schneiden, um unergründliche Geheimnisse zu erforschen, so wüthest du in der moralischen Welt, durch meine zersthörende Hand.“ (Klinger, Faust, S. 215) 25 Der Name der Romanfigur ist also offenbar von Wezel mit Bedacht gewählt.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ungemein steinigt. Tobias beugte sich immer mehr vor – pump! stürzte sein Roß auf die Knie, und der Reuter flog, wie ein Bliz, über den Kopf hin. (Wezel, TK, III, S. 59 f)

Diese Passage, die man als Allegorie auf die rationale Psychologie lesen kann, macht deutlich, was Wezel von dergleichen metaphysischen Spekulationen hält: in seinen Augen ist die Frage nach dem Sitz der Seele unbeantwortbar und eine Antwort auf sie letztlich nutzlos. Solchen Bemühungen setzt er im Tobias Knaut die Parodie „Das allegorische Seeleninstrument“ (Wezel, TK, IV, Anhang 2, S. 74* f) entgegen. Im Kakerlak schließlich führt Wezel mit der Blunderbuss-Episode eine besonders amüsante Darstellung des Leib-Seele-Dualismus vor. Hier werden, um dem ungenügsamen Helden das ersehnte Glück zu verschaffen, die Seelen des asketischen Philosophen Kakerlak und des trunksüchtigen Edelmannes Blunderbuss von einer Fee vertauscht. Die Folge dieses anthropologischen Experiments ist jedoch, dass beide in tiefste Zerrissenheit stürzen und ein Pfarrer bemüht werden muss, um die Seele des Asketen aus dem Körper des Trunkenboldes zu exorzieren, während das andere, ebenso disharmonische commercium unterweilen in einem Weinfass über sein Missgeschick jammert. Nach vielerlei Verwicklungen kommen die Protagonisten zu der Erkenntnis: Es ist [...] mit Leib und Seele wie mit Futter und Oberzeug an einem Kleide: Beides muß nach Einem Maße und nach einem Muster zugeschnitten sein, sonst passen sie nicht zusammen. (Wezel, K, S. 107)

Bei aller Skepsis gegenüber der Möglichkeit psychologischer Erklärungen sowie vor allem der Auflösung des Leib-Seele-Dualismus bleiben die hier untersuchten Autoren dem pragmatischen Paradigma jedoch auch in dem Sinne treu, dass für sie die Rationalität integraler Bestandteil des Menschen ist. Überzeugt davon, dass die Affekte die eigentlichen Triebkräfte darstellen und die Vernunft dem gegenüber nur eine instrumentelle Funktion besitzt – denn „die Vernunft begeistert nicht zur Thätigkeit: das ist das Geschäfte der Fantasie“ (Wezel, TK, III, S. 259) –, schreibt Wezel zu Beginn seines Versuchs: Mit der ganzen Aufmerksamkeit auf den denkenden Theil des Menschen gerichtet, behandelte man die Empfindungen fast verächtlich [...]; gleichwohl machen sie beinahe die Hauptsache im Menschen aus. (Wezel, Versuch, S. 133)

Der Mensch, der so beschaffen sei, „daß er nach dunklen, unentwickelten Ideen und nicht nach anatomirten Begriffen handeln soll“ (Wezel, TK, IV, Anhang 1, S. 59*), wird dabei für Wezel – insofern „nichts für den Menschen Triebfeder oder Bewegungsgrund [ist], was nicht Zweck sein kann“ – stets von drei ihm von der Natur eingepflanzten Zwecken motiviert, nämlich „Nutzen, Vergnügen, Ehre“ (Wezel, Versuch, S. 475). Wezel folgt in diesen Äußerungen der Auffassung der Materialisten, wonach „Lust und Schmerz“ – die Handlungszwecke mögen sein, welche sie wollen – „die einzigen Antriebe der moralischen Welt sind“26: 26

Helvetius, 1973, S. 221. Klinger, der der hedonistischen Lehre und der darin sich äußernden Egoismustheorie kritisch gegenübersteht, führt in der Geschichte eines Teutschen mit der Figur des Pädagogen Renot einen echten Helvetius-Schüler vor: „Lange drehten sich seine Gespräche um den

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

133

Wenn die physische Welt den Gesetzen der Bewegung unterworfen ist, so ist die moralische Welt nicht weniger den Gesetzen des Interesses unterworfen. Das Interesse ist auf der Erde jener mächtige Zauberer, der in den Augen aller Geschöpfe die Gestalt aller Gegenstände ver27 wandelt.

Auch Agathon muss am Ende seiner Schwärmerkur erkennen, dass die hedonistischen Maximen des Materialisten Hippias zumindest in deskriptiver Hinsicht zutreffen und dass „die Menschen [..] nicht [sind] wofür ich sie hielt, da ich sie nach mir selbst, nach den jugendlichen Empfindungen eines gefühlvollen Herzens, und nach einer noch ungeprüften Unschuld beurteilte“ (Wieland, A, S. 537). Mit dieser Einsicht geht zugleich eine Umwertung der Leidenschaften zu positiven Antrieben kulturellen Fortschritts einher, die sich bereits bei Hume, Voltaire, Helvetius und LaMettrie findet28: Leidenschaften sind nicht (wie die Stoiker irrig lehren) Krankheiten der Seele: sie sind ihr vielmehr was die Winde einem Schiffe sind, das keine Seefahrt von einiger Bedeutung ohne sie vollbringen kann. (Wieland, Werke, X, 32, S. 60)

Wezel, der im zweiten Teil seines Robinson Krusoe eine „Geschichte der Welt im kleinen“ (Wezel, RK, S. 8) vorzuführen beansprucht und Eigennutz und Ehrgeiz als die Triebkräfte des Zivilisationsprozesses identifiziert (vgl. Wezel, RK, S. 244 f), stimmt dieser Einschätzung zu: Leidenschaften machen nie unglücklich: sie sind ja die einzigen Principien unserer Thätigkeit; und kann man wohl von der Natur vermuthen, daß sie ein so ungeschicktes Mittel wählen wird, uns zur Thätigkeit, dem Zweck unsers Daseyns, anzutreiben? (Wezel, Versuch, S. 461)

Klinger geht sogar so weit, dass er – ganz im Sinne der kritischen Theorie – die Unterdrückung der Leidenschaften bzw. die Disziplinierung der inneren Natur als Fortsetzung des allgemeinen Naturkrieges im Binnenraum der menschlichen Seele ansieht:

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Lauf der Welt, um das, was sie in Bewegung setzt und in Bewegung erhält. Er zeigte von fern an, wie aus diesen Trieben allein alles Große, Gläubige, Glänzende und Nützliche, welches die Menschen gethan hätten und thäten, entspränge; wie diese Triebe sie zusammenhielten und wie sie eigentlich allein das Band der wechselseitigen Verhältnisse ausmachten.“ (Klinger, Werke, 4, S. 110 f) Obwohl der Roman an Rousseau orientiert ist, wird dieser Auffassung, wie später im Weltmann, nicht nur eine pragmatische Berechtigung in der Politik, sondern auch deskriptive Richtigkeit zugebilligt. Helvétius, 1973, S. 120. Der Erzähler im Tobias Knaut übt im Übrigen Kritik an der Übersetzung des Begriffs ‚interet‘ durch den seiner Meinung nach nicht gleichwertigen Terminus ‚Eigennutz‘ (vgl. Wezel, TK, IV, S. 155). Vgl. z.B. Cassirer, 1932, S. 47 ff. So schreibt Helvetius, 1973, S. 285: „So verdanken wir den starken Leidenschaften die Erfindung und die Wunder der Künste: solche Leidenschaften müssen als der produktive Keim des Geistes und als die mächtige Triebfeder angesehen werden, die die Menschen zu großen Taten bewegt.“ Aber auch Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 205 schließt sich einer solchen Aufwertung der Affektivität an: „Die Sittenlehrer mögen sagen, was sie wollen, der menschliche Verstand hat den Leidenschaften vieles zu verdanken, so wie von diesen ein jeder gesteht, daß sie dem Verstande vieles schuldig sind. Unsere Vernunft wird durch die Wirksamkeit der Leidenschaften vollkommener gemacht. Wir suchen Einsicht, weil wir genießen wollen.“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Traue dem Menschen nicht, in dem Kunst, Verstand, und Interesse, das Thierische seiner Natur so unterjocht und verdünstet haben, daß sogar die Zeichen seines Instinkts und seiner Sinnlichkeit verloschen sind. Wenn das, was in euch kocht und arbeitet, sich nicht mehr auf eurer Stirn, in euren Augen und Bewegungen zeigt, so seyd ihr eurer Natur entsprungen, und werdet die gefährlichsten Thiere der Erde; Mißgeburten, die die überfeine Kultur des Verstandes mit 29 der letzten Aufwallung der Wollust zeugt“ (Klinger, Faust, S. 104 f)

Die positive Bewertung der Affektivität, wie man sie sowohl in den poetischen als auch in den theoretischen Texten der Spätaufklärer allenthalben antrifft, hat sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Empfindsamkeitsbewegung herausgebildet. Die Emanzipation der Affekte gegenüber der Rationalität führte zu einer „Kultur des subjektzentrierten Gefühls“, die sich der Aufklärung als einer bloßen „Kultur der ‚subjektzentrierten Vernunft‘“ entgegenstellte.30 Viele Aufklärer sahen in dieser Emanzipation, die an die Vernunft die Forderung stellte, „die eigene Begrenztheit zu erkennen und dem Herzen ein Eigenrecht zuzugestehen“, das Hauptmerkmal einer „höhere[n] Aufgeklärtheit“31, die im ausgehenden 18. Jahrhundert durch den Begriff der ‚Bildung‘ bezeichnet wurde.32 Konsequenz der Emanzipation und Autonomisierung der Affektivität – „ein Vorgang, welcher der Emanzipation und Autonomisierung des Verstandes [...] genau parallel läuft“33 – war freilich, „daß das Gefühl zum Gegenstand seiner selbst und seiner selbst bewußt wird“34. Mit Bezug auf Schiller lässt sich diese Selbstreflexivität des Gefühls als ein sentimentalisches Selbstverhältnis bezeichnen – als ein „Fühlen des Fühlens“, in dem das Subjekt zu sich selbst in Distanz tritt35: Das Gemüth kann keinen Eindruck erleiden, ohne sogleich seinem eigenen Spiel zuzusehen, 36 und was es in sich hat, durch Reflexion sich gegenüber und aus sich herauszustellen.

Die Reflexivität des Gefühls lässt sich als eine Folge der Umkehrung des Verhältnisses von Affektivität und Intellektualität deuten, insofern ein solches sentimentalisches Selbstverhältnis voraussetzt, dass der Sphäre der Affektivität ein Eigenrecht zugebilligt wird. 29

Zur Selbstentzweiung als Folge des instrumentellen Weltverhältnisses vgl. auch Grimminger, 1982, S. 129. Auf die These der Spätaufklärer, dass die Unterdrückung der Sinnlichkeit im zivilisatorischen Zustand eine Fortsetzung des agonalen Naturzustandes im psychischen Binnenraum darstellt, werden wir im Zusammenhang der staatsphilosophischen Reflexionen der Spätaufklärung in Kap. 2.1.4 noch ausführlicher zu sprechen kommen. 30 Vgl. Pikulik, 2001, S. 30. 31 Ebd., S. 11. 32 Zum Verhältnis von Aufklärung und Bildung vgl. auch Ulrichs, 2011, insbesondere Kap. 1. 33 Pikulik, 2001, S. 22. Dieser Umstand veranlasst Pikulik die Empfindsamkeit als „Ausgang des fühlenden Herzens aus seiner Unmündigkeit“ zu bezeichnen. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 20 ff. Auch die vermischten Empfindungen Mendelssohns – der joy of grief, das Mitleid und das Gefühl des Erhabenen –, wie er sie in seinen Briefen über die Empfindungen von 1755 beschrieb, lassen sich als reflexive Gefühle verstehen, insofern in ihnen das objektbezogene „Missfallen an dem Gegenstande“ und das subjektbezogene „Wohlgefallen an der Vorstellung“ in ein reflexives Verhältnis zueinander treten. 36 Vgl. Schiller, Werke, Bd. 13, S. 452.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Statt die Affekte zu beherrschen erhält die Vernunft die Aufgabe, die Gefühle ‚vernünftig‘ zu durchdringen und den Menschen in ein reflexives Selbstverhältnis zu bringen.37 Mit der Aufwertung der Affekte zu einer autonomen Sphäre korrespondiert die zunehmende Bedeutung, welche die spätaufklärerischen Romanciers einer psychologisch plausiblen Darstellung von Handlungszusammenhängen zumessen. Schon Blanckenburg unterstreicht die Notwendigkeit einer psychologisch hinreichenden Erklärung des Handlungsgeschehens in narrativen Texten: Der Dichter, wenn er sich nicht entehren will, kann den Vorwand nicht haben, daß er das Innre seiner Personen nicht kenne. Er ist ihr Schöpfer: sie haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten; sie leben in einer Welt, die er geordnet hat. Mit dieser Voraussetzung werden wir nun, bey dem Wirklichwerden irgend einer Begebenheit, das ganze innere Seyn der handelnden Personen, mit all den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen müssen, wenn der Dichter sich nicht in den bloßen Erzehler 38 verwandeln soll.

Allerdings – das wird gerade in Blanckenburgs Romantheorie deutlich – beschränkt sich die Forderung nach Psychologisierung des Romangeschehens nicht auf die Darstellung einzelner Handlungen – und sei es selbst einer Haupt- und Staatsaktion; der Anspruch des im 18. Jahrhundert entstehenden modernen Romans geht vielmehr auf die psychologische Deutung eines Lebenszusammenhangs, wie sie den Entwicklungsroman charakterisiert – eine Gattung, zu der Wieland mit seinem Agathon, Wezel mit Herrmann und Ulrike sowie Klinger mit der Geschichte eines Teutschen exemplarische Werke beigetragen haben.39 Hierbei erlangt die Biographie eine zunehmende Bedeutung.40 37 38

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40

Inwiefern eine solche sentimentalische Selbstreflexivität Voraussetzung der ‚Transzendentalität‘ von Literatur ist, wird im folgenden Abschnitt ausführlich zu untersuchen sein (vgl. Kap. 2.2.5). Blanckenburg, Versuch, S. 264 f. Auch Engel stellt die Bedeutung der Psychologisierung des Erzählens heraus: „Der eigentliche Schauplatz aller Handlungen ist die denkende und empfindende Seele: und die körperlichen Veränderungen gehören nur in so ferne in die Reihe, als sie durch die Seele bewirkt werden, die Seele ausdrücken, in der Seele als Zeichen von den Absichten und Bewegungen einer andern Seele, Begriffe und Entschlüsse hervorbringen, oder irgend einen anderen gehörigen Eindruck auf sie machen.“ (Engel, 1964, S. 201) Ob es sich bei diesen Werken allerdings um klassische Beispiele des Bildungsromans handelt, ist eine andere, weitaus schwerer zu beantwortende Frage. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass selbst Texte wie der Tobias Knaut oder der Agathon, die das Konzept einer fortschreitenden Bildungsgeschichte zu dekonstruieren und insofern eher der Kategorie des ‚Anti-Bildungsromans‘ anzugehören scheinen, zumindest dem Gattungsbegriff des Entwicklungsromans zugerechnet werden können. Die Nähe des Romans zur (Auto-)Biographie stellt bereits Wezel in seiner Vorrede zu Hermann und Ulrike fest: „Der Verfasser gegenwärtigen Werkes war beständig der Meinung, daß man diese Dichtungsart [= den Roman] dadurch aus der Verachtung und zur Vollkommenheit bringen könne, wenn man sie auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiel näherte: so würde die wahre bürgerliche Epopee entstehen, was eigentlich der Roman seyn soll.“ (Wezel, HU, S. 9). Im Zusammenhang mit dem pragmatischen Roman werden wir auf die Bedeutung der Biographie in der Romantheorie der Spätaufklärer nochmals zu sprechen kommen (vgl. Kap. 2.1.5). Zum Genre der Autobiographie im 18. Jahrhundert vgl. auch Pfotenhauer, 1987.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Doch weder der psychologische noch der Entwicklungsroman sind Gegenstand dieser Untersuchung. Dennoch bleiben sie nicht gänzlich sotto voce. Entsprechend seines integrativen Grundcharakters nimmt nämlich der philosophische Roman der Spätaufklärung die Strukturmerkmale beider Gattungen in sich auf. Im Zuge dieser Integration wird allerdings das psychologische Element umgeformt. Damit ist nicht so sehr gemeint, dass psychologische Fragen in den diskursiven Passagen des philosophischen Romans explizit thematisiert werden, als vielmehr dass die psychologischen Erklärungsansprüche unter skeptischen Verdacht geraten und schlüssige Handlungserklärungen und Charakterdarstellungen deshalb den Spätaufklärern als unrealisierbar erscheinen. Der im Falle Wezels oft festgestellte „Schematismus in der Kennzeichnung von Personen, Situationen und Handlungsabläufen“41 beruht auch auf dieser Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer psychologisch konsistenten Darstellung. Wenn die drei Protagonisten in der Vorrede zum Belphegor mit der Wendung „Man nehme“ wie die Zutaten zu einem chemischen Experiment eingeführt werden oder Tobias Knaut als eine groteske „Säule“ (Wezel, TK III, S. 243 f) bezeichnet wird, die keinerlei eigenständige Aktivität zu entwickeln vermag, dann wird damit – wie auch mit der häufigen Verwendung von Maschinenmetaphern und Trieblehren – nicht nur ein Allgemeingültigkeitsanspruch formuliert, der die Protagonisten zu Veranschaulichungen anthropologischer Mechanismen macht, sondern es spiegelt sich darin auch die Hilflosigkeit bezüglich der Erklärung ihres Charakters bzw. ihrer Handlungen wider. Selbst Wieland, der den Anspruch erhebt, mit der „Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen“ (Wieland, A, S. 543) zu schreiben und der sich dabei ausgiebig psychologischer Reflexionen zur Deutung der Entwicklung seines Helden bedient, nimmt nur allzu oft Zuflucht zu jenen „General- und Specialkarten des Lebens“, als die er die „generalisierte[n] Begriffe vom Menschen“ bezeichnet (Wieland, Werke, X, 30, S. 494): Was eigentlich ein „moralisches Individual-Gemählde“ sein soll, wird manchmal zu einer „anthropologischen Kategorientafel“42 ohne individuelle Züge. Dennoch halten die literarischen Spätaufklärer zugleich an der psychologischen Fragestellung und vor allem an der Introspektion fest – nicht nur für den Erzähler des Tobias Knaut ist die „Selbsterkenntniß [..] das wichtigste unter Sonne und Mond“ (Wezel, TK, III, S. 112)43. Doch hegen sie größte Zweifel, ob sie je zu befriedigenden Ergebnissen werden gelangen können und der Mensch nicht ewig „sich selbst ein unauflösliches Räthsel“ (ebd., S. 210 f) bleiben werde:

41 42 43

Prütting, Lenz: „Nachwort zum Belphegor“, in: Wezel, 1984, S. 465. Schings, 1980, S. 256. Die Spätaufklärer bleiben hierbei der Philosophie Shaftesburys treu, der die Selbsterkenntnis zum Ideal erhoben hat: „How little regard soever may be shewn to that moral Speculation or INQUIRY, which we call the Study of ourselves; it must, in strictness, be yielded, That all Knowledge whatsoever depends upon this previous-one: ‚And that we can in reality be assur’d of nothing, till we are first assur’d of What we are OUR-SELVES.’ For by this alone we can know what Certainty and Assurance is.“ (Shaftesbury, Werke, Bd. 1, 2, S. 232)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

137

Von einem Dinge, das keine Ursache hat, läßt sich unmöglich eine angeben, oder man muß lügen, oder sich selbst hintergehn, und eine falsche dafür halten. Wenn in der Atmosphäre unsers Kopfs durch die beständige Gährung und wechselseitige Wirkung der Ideen, die darin herumschwimmen, ein Entschluß, wie ein Meteor, auffliegt, muß es dann nicht eben so unmöglich seyn, die besondern Ideen anzugeben, durch deren Stoß und Gegenstoß er entstund, als die Theilchen herzuzählen, die sich aneinander reiben, wenn eine Sternschnuppe oder ein Bliz durch die Luft fährt? (Wezel, TK, II, S. 145 f)

Dieser Gegensatz macht die eigentümliche Ambivalenz des philosophischen Romans aus: Einerseits benutzt er in seinen narrativen Passagen das psychologische Erklärungsmodell ausgiebig, andererseits unterwandert er in seinen diskursiven Passagen dieses Modell ständig, indem er eine radikale Skepsis an der Möglichkeit seiner Anwendung formuliert. Der Belphegor Wezels kann für diese Ambivalenz als Paradebeispiel gelten. Schon in der Vorrede findet sich ein Hinweis auf die schwer beschreibbare Widersprüchlichkeit des Menschen: Dieses wunderbare Kompositum, das wir Menschen nennen, ist im einzelnen und im Ganzen ein wahrer Janus, eine Kreatur mit zwei Gesichtern, eins abscheulich, das andere schön – eine Kreatur, bey deren Zusammensetzung ihr Urheber muß haben beweisen wollen, daß er die streitendsten Elemente vereinigen, Geselligkeit und Ungeselligkeit verknüpfen und auch ein Etwas formen kann, dessen Masse aus lauter Widersprüchen bereitet ist und durch diese Wi44 dersprüche besteht. (Wezel, B, I, S. XIII)

Diese Widersprüchlichkeit macht die psychologische Erklärung so ungeheuer schwierig, dass nichts als Resignation angezeigt scheint. Zugleich jedoch formuliert Wezel in derselben Vorrede eine Trieblehre, mit der er das menschliche Verhalten erklären zu können glaubt: Nach des Verfassers Theorie sind Neid und Vorzugssucht die zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Ständen der Menschheit und Gesellschaft, bey allen Charakteren allgemeinsten Triebfedern der menschlichen Natur und die Urheberinnen alles Guten und Bösen auf unserm Erd45 balle [...]. (Wezel, B, I, S. IX)

Im Belphegor korrespondiert also der Widerspruch zwischen Psychologisierung des Geschehens und Skepsis gegenüber deren Möglichkeit mit der Widersprüchlichkeit des Menschen selbst. Ähnliches gilt auch für den Agathon Wielands, in dem einerseits die psychische Entwicklung des Helden ausgiebig diskutiert wird, andererseits der Mensch

44

45

Auch für Klinger ist diese Widersprüchlichkeit des Menschen ein zwar drängendes, doch unauflösliches Problem: „Warum gab man mir, der zum Leiden gebohren ist, den Drang nach Glück? Warum dem zur Finsterniß gebohrnen, den Wunsch nach Licht? Warum dem Sclaven den Durst nach Freyheit? Warum dem Wurme das Verlangen zu fliegen?“ (Klinger, Faust, S. 219) Vgl. auch Wezel, B, I, S. 221. Dabei ist in dieser Trieblehre keineswegs ein Programm formuliert, das für den Roman selbst keine oder nur eine geringfügige Rolle spielt – wie das häufig in Vorreden der Fall ist; der Roman kann sogar als Belegsammlung für die Theorie von Neid und Vorzugssucht als Grundtriebfedern des Menschen im Krieg aller gegen alle angesehen werden.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

als ein „Abgrund“ erscheint, „dessen Tiefen wir oft nicht ergründen können“46, und bezweifelt wird, ob die Introspektion jemals zu plausiblen Ergebnissen gelangen kann: Die Veränderungen, die in unsrer innerlichen Verfassung vorgehen, müssen beträchtlich sein, wenn sie in die Augen fallen sollen; und wir fangen gemeiniglich nicht eher an, sie deutlich wahrzunehmen, bis wir uns genötigt finden, zu stutzen, und uns selbst zu fragen, ob wir noch eben dieselbe Person seien, die wir waren? (Wieland, A, S. 535)

Mit dieser ambivalenten Einstellung gegenüber der Möglichkeit und Notwendigkeit von psychologischen Analysen im Allgemeinen und der Selbsterkenntnis im Besonderen treten die spätaufklärerischen Romanciers in Distanz zum empfindamen Roman, ohne dessen Anspruch auf eine vernünftige Durchdringung der Gefühle aufzugeben. Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich an der Haltung der literarischen Spätaufklärer gegenüber der Egoismustheorie beobachten: Bei aller Skepsis gegenüber dem reduktionistischen Ansatz der Egoismustheorie, die das Vorhandensein altruistischer Motive als schlichten (Selbst-)Betrug abtut, und trotz der strikten Ablehnung eines normativen Egoismus47 bleiben die hier behandelten Autoren in doppelter Hinsicht an der ja ebenfalls unter dem pragmatischen Paradigma stehenden Egoismustheorie orientiert. Zum einen dient sie ihnen als theoretische Basis für eine umfassende Entlarvungspsychologie, die vorgeblich moralische Handlungen auf geheime egoistische Motive zurückführt, zum andern folgen sie ihr hinsichtlich des Determinismus, wonach alle Handlungen ihre – wenn auch vielleicht nicht immer feststellbaren – Ursachen haben, Willensfreiheit hingegen eine bloße Chimäre ist. So zeigt sich Fromal im Belphegor, trotz seiner Skepsis gegenüber einer näheren Bestimmbarkeit der Notwendigkeit, von der Richtigkeit des Determinismus überzeugt: Ich erblicke in den Begebenheiten der Erde und jedes einzelnen Menschen einen Zusammenhang, der sie so zusammenkettet, daß eine wirkt, und die andre gewirkt wird, um wieder zu wirken. Dieß ist das einzige, was ich mit Gewisheit sehe [...]. Dieser bemerkte Zusammenhang soll einen Namen bekommen: richte ich meinen Blick bloß auf Nothwendigkeit und Unwiderstehlichkeit dieses Zusammenhangs, [...] so nennen wir den Zusammenhang der Dinge, von dieser Seite betrachtet – Schicksal, Fatum. Betrachten wir ihn aber auf einer anderen, in so fern eine jede Wirkung die abgezielte Absicht von dem Urheber der Dinge bey der Anordnung 46

47

Holbach, 1960, S. 156. Vgl. auch Kant, 1983, S. 45 [A 133], wo empfohlen wird, „mit der Ausspähung und gleichsam studierten Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle sich durchaus nicht zu befassen [...], weil es der gerade Weg ist, in Kopfverwirrung vermeinter höherer Eingebungen und ohne unser Zutun, wer weiß woher, auf uns einfließenden Kräfte, in Illuminatism oder Terrorism zu geraten.“ Dies gilt nicht nur für Wielands Agathon, der zumindest in diesem Punkt der Egoismuslehre des Hippias nicht folgt, sondern auch für den mit der Egoismustheorie weitaus stärker sympathisierenden Tobias Knaut Wezels, der dadurch, dass er die Lehre von der Eigenliebe als der „einzige[n] allgemeine[n] Triebfeder der Menschen bey ihren Handlungen“ der Negativfigur Eupator in den Mund legt und ihre halb lächerlichen, halb traurigen Konsequenzen in dessen Reformutopie zeigt, also durch das Mittel der Kontextualisierung diese philosophische Theorie ad absurdum führt (vgl. Wezel, TK IV, S. 143 f).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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aller vorhergehenden Ursachen seyn konnte: so nennen wir es Vorsehung. In beiden Fällen bleibt der Zusammenhang derselbe, gleich nothwendig und unausweichbar, nur der Name und die Vorstellungsart wird geändert. (Wezel, B, II, S. 279 f)

„In dem großen Maschinenwerke der Welt“ (Wezel, SE 3, S. 65), die als „ein perpetuum mobile [erscheint], wo Stoß auf Stoß, Wirkung auf Wirkung unausbleiblich folgen“ (Wezel, B II, S. 281), ist es die vorherrschende „Daseinserfahrung des Individuums“, nichts als ein „getriebenes Rädchen einer unerbittlich ablaufenden machina mundi“48 zu sein. Wie Müller feststellt, ist die Frage, ob der Mensch bloß ‚Sklave der Notwendigkeit‘ oder willensfrei sei, „funktionalisiert in der Frage nach einer grundsätzlichen Sinngebung für das menschliche Handeln“. Für Holbach gleichen wir in unserem Glauben an die Willensfreiheit Schwimmern, die zwar mit der allgemeinen Strömung fortgerissen werden, dabei aber glauben, ihr „Schicksal in der Hand zu haben, weil [sie] die Angst, unterzugehen, zwingt, die Arme zu bewegen“49. Da hilft es kaum, sich wie Fromal zuzurufen: „Wohlan! wie leichte Späne, schwimmen wir auf dem Strome der Nothwendigkeit und des Zufalls fort: sinken wir unter – gute Nacht! wir haben geschwommen!“ (Wezel, B, I, S. 174). Denn „wenn die Leidenschaften die schwache Vernunft überbrüllen, wie das tosende Meer die Stimme des Steuermanns, dessen Schiff gegen die Klippen treibt“ (Klinger, Faust, S. 219), dann werden all unsere Freiheitsideen zuschanden und zu hilflosen Versuchen, „an der Kette des Geschicks [zu nagen], ob sie gleich die Ewigkeit geschmiedet hat“ (ebd.). Der Glaube frei zu sein, beruht nach Hume und Holbach auf der Verwechslung von Handlungs- und Willensfreiheit: Few are capable of distinguishing betwixt the liberty of spontaneity, as it is call’d in the schools, and the liberty of indifference; betwixt that which is oppos’d to violence, and that 50 which means a negation of necessity and causes.

Tobias Knaut begeht diesen Fehler in einer grotesk anmutenden Szene, in der er selbst „mitten in Ketten und im Gefängnisse“ glaubt, „die Fähigkeit [zu besitzen], alles zu thun, was ich will“ (Wezel, TK, IV, S. 6 f), und darauf seinen Glauben an die Willensfreiheit gründet. Als einziger Ausweg aus diesem Dilemma erscheint in Klingers Giafar die Kantische Zwei-Welten-Theorie, wonach der Mensch, wenn er auch als empirisches Wesen streng determiniert sei, als intelligibles und damit moralisches Wesen vollkommen frei bleibe: 48 49 50

Jaumann, 1994, S. 229. Vgl. hierzu auch Wezel, SE 3, S. 61. Vgl. Holbach, 1960, S. 164. Hume, 1978, S. 407. Vgl. auch Holbach, 1960, S. 147, wo die Täuschung der Willensfreiheit auf den Entscheidungskonflikt zurückgeführt wird: „Das Vermögen wählen zu können, beweist in keiner Weise die Freiheit des Menschen; er überlegt nur dann, wenn er noch nicht weiß, welchen von mehreren Gegenständen, die ihn bewegen, er wählen soll; er befindet sich dann in einer Verwirrung, die nicht eher aufhört, als bis sich sein Wille auf Grund der Idee des größten Vorteils entscheidet, den er in dem Gegenstand, den er wählt, oder in der Handlung, die er ausführt, zu finden glaubt.“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Weißt du, warum ich frei bin? Nicht darum weil ich alles kann, was ich will, sondern weil ich will, was ich soll. Auf dieses Sollen ist meine Freiheit eingeschränkt, daß sie das moralische Gesetz nicht verletze, das die Vernunft mich lehrt, das in die Tafel meines Herzens von ihr nur eingeschrieben ist. [...] Gibt mir dieses nicht zwei Standpunkte, nach denen ich mich betrachten muß? Als ein zur intellektuellen Welt gehöriges Wesen kann ich die Bestimmung meines Willens nicht anders als unter der Idee der Freiheit denken. Mit dieser ist die daraus fließende, sich selbst Gesetz zu sein, unzertrennlich verbunden; an beide schließt sich fest der allgemeine Grund der Sittlichkeit. Wäre ich nun bloß eine [sic!] Glied der intellektuellen Welt, so würden alle meine Handlungen dem Gesetze der Vernunft gemäß seyn. Da ich aber zugleich ein Glied der sinnlichen Welt bin, so muß mein Streben dahin gehen, daß sie ihm gemäß seyen. (Klinger, Werke, 5, S. 349)

Der Teufel belehrt Giafar allerdings darüber, dass diese „übersinnliche“ Lehre für die „sinnlichen Söhne der Erde“ nichts tauge und „nur eine Satyre mehr zur Beschämung dieses Geschlechts“ (ebd., S. 362) darstelle. Die in Klingers Faust vorherrschende deterministische Theorie hat hingegen für Faust die Konsequenz, die Verantwortung für alle Handlungen vom Menschen auf den Schöpfergott zu übertragen und damit, angesichts des Bösen in der Welt, eine Theodizee unmöglich zu machen.51 Diese heimliche Exkulpationsstrategie des Deterministen stößt im Tobias Knaut Wezels auf scharfe Kritik: Die gute Großmutter Natur! was für wunderliches Zeug werden die Menschen nicht endlich ihren alten Schultern zu tragen geben! Die Menschen begehen Thorheiten über Thorheiten; und, wie die Schulknaben, wenn der Präceptor fragt: wer hats gethan? – einer wälzt die Schuld auf den andern, bis sie zuletzt auf einem armen, unschuldigen Abwesenden liegen bleibt – so lassen wir die Natur die Schuld aller unsrer Fehltritte tragen, weil sie sich nicht so gut verantworten kann, als wir. (Wezel, TK, I, S. 66)

Angesichts der Unauflösbarkeit des Problems der Willensfreiheit begnügt sich Wezel mit der Auffassung, dass der Mensch in seinen Handlungen zuweilen frei, zu anderen Zeiten hingegen determiniert sei – eine vielleicht etwas billige, aber im Rahmen des pragmatischen Paradigmas folgerichtige Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit: Also ist nach dieser Allegorie die Seele frey, das heißt, sie ist es zu gewissen Zeiten und ist es zu andern nicht; in manchen Fällen erscheint sie uns als eine Königinn, die nur ihren Zepter neigen darf, um ihr Verlangen vom Körper ausgerichtet zu sehn, als eine Selbstherrscherinn, deren Wille Gesez ist: in andern als eine dürftige blödsinnige Sklavinn, die von der Gnade des Körpers lebt, oder gar wie eine Drahtpuppe, die von ihm regiert wird. (Wezel, SE 3, S. 69)

Der Skeptiker Wezel lässt sich jedoch nicht darin täuschen, dass der Determinismus, der auch für Wielands Aristipp einen gewissen Trost verspricht (vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 32), vor allem der Sinngebung dient, indem er die neben Determinismus und Libertarianismus bestehende dritte Möglichkeit ausschaltet, dass die Welt letztlich

51

Vgl. Klinger, Faust, S. 112 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

141

nichts als eine ungeheure Zufälligkeit darstellen könnte, der wir keinerlei Sinn mehr abzugewinnen vermögen: Was für ein Plan ist es aber, Menschen so anzulegen, daß aus ihrem ersten Triebe der Selbsterhaltung Leidenschaften aufwachsen, die solche barbarischen Grundsätze erzeugen? Was sind diese in jenem vorgeblichen Plane? Zweck oder Mittel? – Zweck können sie nicht seyn: denn welche Idee, Kreaturen zu schaffen, damit sie einander fressen! – Mittel ebensowenig: denn wozu führen solche Unthaten im Ganzen oder im Einzelnen? – Entweder müßte also hier in dem Plane der Begenbenheiten ein thörichter Zweck oder ein thörichtes Mittel angenommen werden, oder die ganze Sache muß ein zufälliger, nicht intendirter Umstand seyn; und, und! – vielleicht war die ganze Reihe meines, deines Lebens, die Begebenheiten der ganzen Erde nichts als dieses – (Wezel, B, II, S. 226 f)

Der zweite Aspekt, unter dem die Theorie des Egoismus für die literarischen Spätaufklärer relevant wird, ist die Entlarvungspsychologie, der gemäß die Moralität eine bloße Maske ist, unter der die Menschen ungezwungen ihre Eigeninteressen verfolgen.52 Für Wezel, bei dem der Mensch zum Kampfplatz zwischen Egoismus und Altruismus wird, ist die Nötigung zur Maskierung gar die einzige positive Wirkung des Mitleids: [D]er Kampf ist noch nicht geendet, noch nicht entschieden, der Mensch noch immer der Fechtplatz, wo diese beiden Gegner um die Obergewalt ringen, abwechselnd bald die eine, bald die andre Parthey auf kurze Zeit einen Vortheil erjagt, den oft der nächste Augenblick wieder zernichtet. Doch ist es dem Mitleide so weit geglückt, daß es dem Neide und seinem Gesellschafter die Verbindlichkeit aufgezwungen hat, nie anders als unter einer von ihm geborgten Maske zu erscheinen; und diese Masken sind – unsre Tugenden. (Wezel, B, I, S. 210)

Diese Maskierung, welche die Moral zur Heuchelei und die Eigenliebe zu „eine[r] feine[n] verschlagne[n] Dirne“ (Wezel, TK, IV, S. 127 f) werden lässt, scheint im Zustand der Zivilisation unumgänglich geboten, da eine ungeschminkte Verfolgung der eigenen Interessen nicht zum Ziel führte. Der Maskierung des Egoismus dient, wie Wezel in seinen Pädagogischen Schriften ausführt, jedoch weniger das Mitleid, sondern vielmehr die „Politesse“, die die wahren Handlungsmotive zu verhehlen sucht. Die Politesse, die Wezel als „unentbehrliches Surrogat der Tugend für all diejenigen“ bestimmt, die „weder ihr Verstand noch ihr Herz fähig macht, die geselligen Tugenden aus moralischen Bewegungsgründen auszuüben“ (Wezel, Versuch, S. 607), erscheint damit als das „Gegenmittel wider diese unendlichen Entzweyungen“ (ebd., S. 521), die das Menschengeschlecht im Kulturzustand charakterisieren.53 Obgleich eine zutiefst zweideutige Verhaltensweise, da sie „auf der einen Seite die Herrschaft des Vorurtheils und der Leidenschaften einschränkte, auf der andern Falschheit, Betrigerey, List, Weichlichkeit und andre Laster zeugte“ (ebd., S. 521 f), sollte mit der Politesse doch der „Anfang der moralischen Bildung“ (ebd., S. 573) gemacht werden. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen müssen die Spätaufklärer Helvetius also recht geben, „daß das Gefühl der Selbstliebe die einzige Basis ist, auf der man die Grundlagen einer nützlichen Moral er52 53

Zur Entlarvungspsychologie vgl. Jaumann, 1994, S. 214. Vgl. hierzu: Brain, 1990, S. 190, wo die Politesse als „a surrogate for real virtue“ bezeichnet wird.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

richten könnte“54 – zumindest scheint es die Grundlage der Gesellschaftsmoral. Deren Entlarvung beschreibt der Erzähler im Tobias Knaut mit Hilfe der Theatermetapher: Ja freilich, sobald man die Maschine entdeckt hat, wodurch menschliche Tugenden regiert werden, so geht es, wie bey der Illusion des Theaters: so bald wir die Stücke und das Bret zu genau sehen, auf welchem der Gott herabgelassen wird, der so pompöse Gottesbefehle um sich herumdonnert, so schwindet die Illusion, und unsre Bewunderung verwandelt sich in eine Verwunderung, daß wir den verkappten Weltrichter bewundern konnten. Das ist eben die zu genaue Zergliederung, vor welcher ich so oft schon gewarnt habe, und die nicht eher zu verstatten ist, als wenn sie den Stolz der Sterblichen demüthigen soll. (Wezel, TK, II, S. 105)

Allerdings wird auch in Wezels Romanen nicht jede Verhaltensweise auf egoistische Motive reduziert. Die Analyse des Verhaltens mit Hilfe der Egoismustheorie dient in ihnen vielmehr einem strategischen Zweck, nämlich das „Maschinenwerk“ der Tugend zu zergliedern und damit allzu selbstbewusste Ansprüche der Menschen zu zerstören – also ein nichts weniger als amoralisches Unternehmen, das über das etwaige Vorhandensein altruistischer Motive bereits eindeutig entschiede.55 Dies gilt mit noch größerer Sicherheit für Wieland, für den, wie schon in der Charakterisierung der Büchse der Pandora als „Schminkbüche“ deutlich wird (Wieland, Werke, V, 14, S. 230 f), die Heuchelei ebenfalls die Grundlage der Gesellschaft ist und der im Agathon entsprechend seinen Erzähler die Entlarvung vermeintlich moralischen Verhaltens rechtfertigen lässt: Unsre Tugend, oder diejenigen Würkungen, welche das Ansehen haben, aus einer so edlen Quelle zu fließen, haben insgeheim geheime Triebfedern, die uns, wenn sie gesehen würden, wo nicht alles, doch einen großen Teil unsers Verdienstes dabei entziehen würden. (Wieland, A, S. 233)

Die Entlarvungspsychologie findet darum „gerade in der aufklärerischen Satire das vorzügliche Mittel [..], Prätentionen auf die Tugend zu decouvrieren“56 oder, um es mit dem Erzähler im Tobias Knaut zu sagen, „den menschlichen Tugenden alle die prächtigen Lumpen ab[zu]reißen, die ihr Nichts bedecken“ (Wezel, TK, I, S. 218). Die Satire ist zwar immer auf ein Normensystem bezogen57 und hat die Möglichkeit zu moralischem Verhalten zur Voraussetzung58, sieht aber dennoch in den gewöhnlichen Hand54 55

56 57 58

Helvetius, 1973, S. 221. Vgl. dazu Wezel, TK, IV, S. 153: „Wer aus einer gutmeinenden stolzen Schwäche die Vorstellung nicht ertragen kann, daß es doch im Grunde die Eigenliebe ist, die ihn dazu hinzog, den wollen wir in dieser Illusion nicht stören; nur halte er es nicht für gefährlich oder eine Blasphemie wider die Tugend, wenn andre ehrliche Leute hart genug sind, die Zergliederung ihrer Handlungen und Triebe bis auf den lezten Grad zu verfolgen, zu dem sie durchdringen können, und sich nicht schämen, zu gestehn, daß das Maschinenwerk ihrer Tugend auf die Art in Bewegung gesezt wird, wie es die Natur anlegte.“ Es lässt sich die Vermutung äußern, dass an dieser Stelle deutlich gemacht werden soll, dass die egoistische Motivation einer Handlung noch nichts über deren Wert aussagt. Müller, 1976, S. 199. Vgl. Schönert, 1969, S. 50 ff. Das gilt auch für die sich von Swift herschreibende Weltsatire, die in ihrem universellen Ansatz zwar „keine Möglichkeit einer Normenrealisation“ mehr bietet, trotzdem aber auf moralische Nor-

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lungen nur das Eigeninteresse am Werk und orientiert sich insofern am Reduktionismus. Somit beruft sich die spätaufklärerische Satire als einer literarischen Entlarvungstechnik vor allem auf anthropologische Triebtheorien, als deren allgemeinste Form die Theorie des Egoismus gelten kann. Deren konsequente Anwendung lässt den Menschen als eine bloße Marionette oder Maschine erscheinen, bei der die Triebkräfte durch den Einzelnen hindurchgreifen und dessen Autonomie so radikal in Frage stellen, dass sich unter der Gewalt heteronomer Kräfte am Ende gar die personale Identität auflösen kann. Im Hintergrund der skeptischen Satire steht, so weit ist Schönert Recht zu geben59, eine intellektualistische Auffassung der Moral, insofern die moralische Verfehlung als eine Dummheit erscheint, deren Entlarvung sich an die „blödsichtigen Kauze [richtet], welche Gesichter und Masken nicht zu unterscheiden wissen“ (Wieland, Werke, III, 8, S. 111). Entsprechend erhofft man sich von der satirischen Entlarvung der Irrtümer des Menschen zugleich seine Besserung. Wie angesichts dessen nicht anders zu gewärtigen, besitzt die Satire für die Spätaufklärer eine große Attraktivität. Bei Wezel – wie im übrigen auch in Klingers Faust – verwandelt sich die Satire allerdings oftmals in die Groteske, in der „die zentralen Positionen der Aufklärung [..] in ihr Gegenteil verkehrt“60 werden und der Normenbezug zwar nicht gänzlich ausgesetzt, wohl aber unsicher wird bzw. durch die Bindung des Satirischen an eine Vernunftnorm und damit an die intellektuelle Freiheit ersetzt wird.61 Während sich also die herkömmliche Satire – ob strafend oder scherzend – in den Augen der meisten Aufklärer in bestimmten (religiösen, politischen, moralischen und auch ästhetischen) Grenzen zu halten hatte und stets moralisch gebändigt blieb62, überschritt Wezel – auch zum Leidwesen Wielands63 – diese Grenzen spätestens mit dem

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men bezogen bleibt. Kremer ist deshalb zu widersprechen, wenn er diesen Normbezug leugnet (Vgl. Kremer, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 15). Vgl. Schönert, 1969, S. 54. Kremer, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 11; S. 22 heißt es dort über den Belphegor: „Lückenlos wird der gesamte semantische Katalog der Aufklärung für nichtig erklärt. Fortschritt wird auf einen Kreislauf zurückgeführt, in dem der Rückschritt stets mitgedacht wird. Wo die Aufklärung auf Moral setzt, sieht Wezels Groteske nur Macht am Werk, Recht erscheint als probate Tarnung von Gewaltverhältnissen, Sinn als strategische Metapher zur Verschleierung des Zufalls. Der Rousseausche Naturzustand wird mit Hobbes als Krieg aller gegen alle interpretiert, der bon sauvage kann in dieser grotesk zugerichteten Welt nur Kannibale sein.“ Vgl. Schönert, 1970, der S. 227 über Belphegor, Faust und die Nachtwachen schreibt: „Die desillusionierende Kraft wird zwar voll ausgenutzt, die Satire reagiert ‚formal‘ richtig; sie ist aber in ihren Bezugspunkten, ihren ‚Normen‘ im Text selbst nicht mehr gefüllt. Der Bereich des Normativen läßt sich nicht formulieren, kommunizierbar ist lediglich die ‚energeia‘ des Erkennenwollens, die in allen drei Romanen unrelativiert bleibt.“ Vgl. hierzu etwa Gottlieb Wilhelm Rabeners Vorbericht vom Mißbrauch der Satire, in: Rabener, 1751-55, S. VI. Allerdings kann an dieser Stelle keine Theorie der Satire entwickelt werden (vgl. dazu Košenina, 2003). Vgl. den Brief Wielands an Wezel vom 22.7.1776, in dem er über den Belphegor schreibt: „Was zum Henker ist Sie nun wieder angekommen, diesen neuen Frevel an der armen Menschheit zu be-

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Belphegor. Dabei beruht die Problematik der skeptischen Satire Wezels weniger auf der Radikalität seines Zynismus, als vielmehr darauf, dass in ihr alle Positionen fragwürdig geworden sind: sie agiert gleichsam aus dem Nirgendwo der totalen Verunsicherung.64 Die Satire wird dadurch zu einer Utopie ex negativo. Ihr Ansatz ist radikal: ihrem entlarvenden „Sehrohr“ entgeht keine Schwäche; und er ist universell: die Satire kennt prinzipiell keine Grenzen in der Wahl ihrer Bezugsobjekte.65 Dennoch kann dieser Zweifel durchaus „wohltätig“ sein, insofern ein solcher „glückliche[r] Skepticismus“ zur „vernünftige[n] Toleranz“ führt.66 Denn die Skepsis Wezels schließt auch den Zweifel an der Stichhaltigkeit einer egoistischen Handlungstheorie ein – mit der Konsequenz, dass es sich, wenn sie die Welt als vom Egoismus bestimmt vorführt, letztlich nur um eine hypothetische oder experimentelle Darstellung handelt. Die skeptische Satire stellt somit nur eine literarische Technik der Entlarvung dar, die sich der Wertung des Entlarvten enthält.67 Dem gegenüber hält es der nicht minder bedeutende, jedoch wesentlich gemäßigtere Satiriker Wieland mit Hume, der das Vorhandensein altruistischer Handlungen für unleugbar hält und der Überzeugung ist, dass der Egoismus nur deswegen eine solche Plausibilität besitzt, weil er Erklärungen von ungemeiner Einfachheit bietet: To the most careless observer there appear to be such dispositions as benevolence and generosity; such affections as love, friendship, compassion, gratitude. These sentiments have their causes, effects, objects, and operations, marked by common language and observation, and plainly distinguished from those of the selfish passions. And as this is the obvious appearance of things it must be admitted, till some hypothesis be discovered, which by penetrating deeper into human nature, may prove the former affections to be nothing but modifications of the latter. All attempts of this kind have hitherto proved fruitless and seem to have proceeded entire-

gehen, diesen verwünschten Belphegor. [...] Denn mit Ihrer Erlaubnis, es ist beynahe kein wahres Wort an Ihrer ganzen Menschenfeindlichen Theorie; und Sie haben aus der Menschl. Natur und der Geschichte der Menschheit ein so verzogenes, verschobenes, affentheurliches und Naupengheurliches Unding gemacht, daß unser Herr Gott gewiß seine Arbeit in ihren Gemählden nicht erkennen wird. Für diese Sünde ließt Ihnen nun auch der Merkur [...] wie billig, den Text derb und tüchtig. Nehmen Sie’s auf wie’s gemeynt ist, und lassen Sie’s ums Himmelswillen das leztemal seyn, daß ich Sie öffentl. beschwören muß, einmal weise zu werden, und, da Sie einer der allgemeinsten, nützlichsten und unterhaltendsten Schreibern unsrer Zeit seyn könnten, nicht immer fort lieber Pfuscharbeit zu machen, über der Sie Sich am Ende doch nach und nach ausgeben [...].“ (vgl. Schüddekopf, 1900, S. 99 ff) 64 Vgl. Schönert, 1970, S. 227 sowie Hammerschmid, 2002, S. 55 ff. 65 Ob eine solche skeptische Satire allerdings zu Recht noch Satire genannt werden kann, ist eine Frage, die vielleicht schon Wezel umgetrieben hat – jedenfalls ließe sich seine Bemerkung im Vorwort zum 2. Band der Satirischen Erzählungen, dass der Titel eigentlich unpassend sei, auch auf diese Weise deuten. 66 Vgl. Wezels Rezension im Deutschen Museum von 1776, in: Wezel, Versuch, S. 326 f. 67 Zur skeptischen Satire der Spätaufklärung vgl. auch: Ulrichs, 2004, S. 113-151.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

145

ly from that love of simplicity which has been the source of much false reasoning in philoso68 phy.

Zwar setzt Wielands Aristipp mit seiner gegenüber dem Sophisten Hippias geäußerten Bestimmung der Tugend als eines „moralischen Heldenthum[s]“, das „in freywilliger Aufopferung besteht“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 57), einen hohen Maßstab an, doch ist er zugleich, trotz aller Skepsis, überzeugt, dass es auch tatsächlich Handlungen gibt, die ein solch strenges Kriterium rein altruistischer Motivation erfüllen. Die Egoismustheorie – zumal in einer normativistischen Variante – stößt bei Wieland auf entschiedene Ablehnung, obgleich sie die meisten menschlichen Handlungen richtig erkläre.69 In diesem Sinne beschreibt Krates in dem späten Briefroman Krates und Hipparchia das menschliche Leben als einen beständigen Kampf zwischen natürlichen Trieben und moralischen Pflichten: Ohne Zweifel ist Selbsterhaltung die Grundlage aller Forderungen, welche die Natur in allen ihren Beziehungen auf uns macht. Ich muß dasein, um die Pflichten erfüllen zu können, womit ich der Natur verhaftet bin. Aber dazu wurden stärkere Springfedern als das bloße Pflichtgefühl erfordert. Dazu hat uns die Natur mit Trieben versehen, deren Wirkung so mächtig ist, daß es selbst den Weisesten und Besten nicht immer leicht ist, sie zu beherrschen, und den Pflichten, mit welchen sie immer im Streit liegen, zu unterwerfen. Sie kann sich in jedem Menschen sicher auf die Stärke dieser Triebe und auf ihre Hinlänglichkeit zu dem, wozu sie uns gegeben sind, verlassen. Aber es ist Selbsttäuschung, wenn der Mensch Triebe zu Pflichten adeln will, und so oft dies geschieht, liegt unfehlbar irgend eine verschleierte Begierde, sich aus eigennützigen Bewegursachen einer wirklichen Pflicht zu entziehen, im Hinterhalt. 70 (Wieland, Werke, XII, 39, S. 246 f)

Selbst in Wezels Belphegor nimmt Fromal mit der Fähigkeit zum Mitleid durchaus eine altruistische Triebfeder im Menschen an71, fraglich ist nur die Größe ihres Einflusses. 68

Hume, 1913b, S. 140 f. Vgl. auch S. 53. Vgl. dazu Hofmann, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 81 f: „Nicht die Entlarvungspsychologie selbst, der sich auch der Erzähler des Agathon-Romans bedient, ist in dessen Augen der problematische Kern von Hippias‘ Lehre, sondern deren Funktionalisierung im Sinne einer ‚strategischen‘ Rationalität, die keine Skrupel kennt, das eigene Wohlergehen zur ausschließlichen und durch die Wertekritik vermeintlich legitimierten Maxime des eigenen Handelns zu machen.“ 70 Vgl. auch Wieland, Werke, XI, 34, S. 57. Die Ablehnung der Egoismustheorie durch Klinger wird in seiner Satire über das Land Gin als Land der Ichvergötzung deutlich, welche sich zugleich gegen eine Auffassung des Staatsvertrages als auf dem wohlverstandenen Egoismus aller beruhend richtet (vgl. Klinger, Werke, 6, S. 201 ff ). 71 An einer interessanten, auf Nietzsche vorausweisenden Stelle im Euphrosinopatorius,leitet Wezel den Altruismus aus der Idee der Natureinheit ab und lehrt die ‚Tugend der großen Verschwendung‘: „Der ewige Zirkel der materiellen Natur ist – Element; das Element wird zu subtiler Materie, dann zu gröberer, wird zur Pflanze, durch den Genuß der Pflanze zum Thiere, zum vernünftigen und unvernünftigen, und wenn dieses zerstört wird – zum Elemente; und nun fängt der Kreislauf von neuem an. – Was ist bey einem solchen Ueberflusse, der wegen der beständigen Verwandlung ein unendlicher Ueberfluß wird, Oekonomie nöthig? [... W]äre in einem solchen Falle Oekonomie nicht der Fehler und Verschwendung Tugend?“ (Wezel, SE 3, S. 63 f) 69

146

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Hier ist er radikaler Pessimist angesichts einer „rasenden Gattung von Geschöpfen [...], die nicht verdienen, daß eine Sonne über ihnen aufgeht“, weil sie nicht nur „den allgemeinen Krieg mit Thieren anderer Art“ führen, sondern „nicht einmal die heiligen Bande [scheuen], die sie zu Einem Geschlechte verknüpfen“ (Wezel, B, I, S. 146): Die Eigenliebe und das Mitleid wurden dem neugeschaffnen Menschen zu Begleitern gegeben, ihn durch den mannichfaltigen Kampf dieses Lebens hindurchzuführen: jene sollte seine Thätigkeit anspornen, ihm den nöthigen Stoß geben, um sich selbst, wie um seinen Mittelpunkt, zu bewegen, dieses ihm Einhalt thun, wenn ihm in dem Kreise seines Umlaufs eins seiner Geschöpfe im Wege stünde, daß er es nicht unbarmherzig in seinen Wirbel hinriß: jene sollte überhaupt ihn antreiben, dieses zurückhalten, jene thätig, wirksam, diese gerecht, gütig machen. Nach einer kurzen Bekanntschaft mit den Menschen entsprungen aus dem Kopfe der erstern zwey Kinder – Neid und Vorzugssucht, die das Amt der Mutter übernahmen und von nun an die Führerinnen der Menschen wurden. Sie entzündeten einen ewigen Krieg unter dem Menschengeschlechte, verdrängten die Gefährtinn ihrer Mutter, das Mitleid, von ihrem Geschäfte und machten die Menschen zu grimmigen grausamen Tigern, worunter der Stärkre den 72 Schwächern fühllos zerfleischte. (Wezel, B, I, S. 209 f)

Trotz dieser Analyse, die, auch nach Einbeziehung des Mitleids, der Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität treu bleibt und ein agonales Menschenbild zeichnet, zeigt sich Fromal gegenüber der Möglichkeit einer Genealogie der Triebe skeptisch: Freund, nichts ist schwerer und willkührlicher, als die Genealogie von den Trieben der menschlichen Seele. Ich weis, welche in ihr liegen, aber welche die Natur gepflanzt hat, und welche aus diesen aufgewachsen sind, das ist mir völlig unbekannt: ich denke aber, daß zu allen, was in der Seele liegt, die Natur eine Anlage mitgetheilt haben muß. So viel weis ich auch, welche unter diesen Trieben die zu allen Zeiten, unter allen Völkern, unter allen Menschen allgemeinen gewesen sind; diese, schließe ich, müssen ihm eben so wesentlich als Augen, Nasen, Ohren seyn; aber wie nie zwey Nasen, zwey Augen einander völlig gleich sehn, so hat der Neid, die Vorzugssucht bey verschiedenen Nationen, bey verschiedenen Menschen, in verschiedenen Ständen der Menschheit und der Gesellschaft eine verschiedene Mine: die Grundzüge aber sind bey allem eins. (Wezel, B, I, S. 212)

In der Eupator-Episode des Tobias Knaut verfällt selbst die egoistische Triebtheorie, auf der die satirische Erzählweise doch maßgeblich beruht, der skeptischen Satire. In Analogie zu seiner Sicht auf das Verhältnis von Körper und Seele kann man also sagen: Dass die Affekte und Leidenschaften die motivierenden Triebkräfte menschlicher Handlungen sind, dessen ist sich Wezel sicher; wie dies geschieht und in welcher genauen Hierarchie die einzelnen Triebkräfte stehen, hält er jedoch für nicht aufklärbar:

72

Vor dem Hintergrund dieses pessimistischen Menschenbildes wird für Wezel ein gesellschaftliches Sanktionssystem unerlässlich, denn „das Wohl des Individuums und der Gesellschaft fordert [...] Einschränkungen: und diese Einschränkungen geben seinen Begierden [„Nutzen, Vergnügen, Ehre“] drey entgegengesetzte Betrachtungsarten der Dinge – Schaden, Misvergnügen, Schande. Dies sind die zwey Gewichte, die unsre Thätigkeit zu beleben und zu ordnen, die zwey antreibenden und zurückhaltenden Principien unsers Wollens und Thuns, die allenthalben bald einzeln, bald zusammen wirksam seyn müssen.“ (Wezel, Versuch, S. 459)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

147

Ich habe nichts mit Grundtrieben, Neigungen und Abneigungen zu thun: ich kann auch, offenherzig gesprochen, die Spekulationen darüber nicht wohl leiden, weil sie die Seele so ganz willkührlich in Stücken zerschneiden, und weil die Bestimmungen eines jeden dieser Triebe so schwankend, ihre Gränzen so ineinander laufend und ihre Wirksamkeit so verschlungen ist, daß man sehr bald bloßen Wortschatten nachjagt und Nebel für Realität greift. (Wezel, Ver73 such, S. 458)

Darum meint er zwar aufgrund empirischer und historischer Erkenntnisse gewisse Grundtriebe als anthropologische Konstanten annehmen zu dürfen; dies ist aber bereits alles, was sich sagen lässt: jede nähere Charakterisierung gerät in unauflösliche Schwierigkeiten. Hierin trifft er sich mit Klinger, dessen Mahal auf seiner Forschungsreise zwar lernt, „die Quelle des menschlichen Thuns“ zu identifizieren, aber „ihren Ursprung kann [er] nicht entdecken“: alles, was er gewinnt sind bedeutungslose Wortzeichen zur bloßen Benennung der Triebe (vgl. Klinger, Werke, 6, S. 155). Auch bei Wieland erscheint der Mensch als nicht-festgestelltes Tier, bei dem die Natur nur die Anlagen mitgibt, die sozialen Umstände aber alles aus ihm machen können: Der Mensch, so wie er der plastischen Hand der Natur entschlüpft, ist beynahe nichts als Fähigkeit. Er muß sich selbst entwickeln, sich selbst ausbilden, sich selbst diese letzte Feile geben, welche Glanz und Grazie über ihn ausgießt, – kurz, der Mensch muß gewisser Maßen sein 74 eigener zweyter Schöpfer seyn. (Wieland, Werke, V, 14, S. 60)

Auch Wezel, für dessen Erzähler im Tobias Knaut das menschliche Leben immer „dieselbe Komödie“ ist, bei der sich nichts ändert „als der Schauplatz, die Dekoration, die Namen und der Anzug der handelnden Personen“ (Wezel, TK, I, S. 90), ist der Überzeugung, „daß die Moralität sich in ihm nur stufenweise mit dem Wachsthume gesellschaftlicher Verbindungen entwickelt“ (Wezel, Versuch, S. 380). Und selbst Klinger schreibt in seinen Betrachtungen: So wenig man dem nachrechnen kann, der den Menschen zu so verschiedenen Zwecken so gebildet hat, so gewiß ist der reine Mensch eine bloße Null, die die Gesellschaft erst durch Entwicklung zweckmäßiger, sinnlicher Triebe, die ihm der Moralist zum Vorwurf machen muß, um sie zu zügeln, zur Zahl macht. (Klinger, Werke, 11, S. 85)

Vor dem Hintergrund dieser Auffassung vom Menschen als einer – in seiner ‚Weltoffenheit‘ nicht nur moralischen – Null wird verständlich, welch große Bedeutung in den Augen der Spätaufklärer dem Geschäft der Erziehung zukommt. Ebenso verständlich 73

74

Zur Skepsis Wezels gegenüber der Möglichkeit von Triebtheorien vgl. seine Bemerkung: „Von Kräften muß man blos reden, um zu beweisen, daß man nicht davon reden kann.“ (Wezel, Versuch, S. 30) Vgl. auch Wieland, Werke, II, 7, S. 145 f: „Der Mensch, antwortete Dschengis, kommt unvollendet, aber mit einer Anlage zu bewundernswürdigen Vollkommenheiten aus den Händen der Natur. Die nehmliche Bildsamkeit macht ihn gleich fähig, sich in Form eines Gottes – oder die Mißgestalt eines Ungeheuers aufdrucken zu lassen. Alles hängt von den Umständen ab, in welche er beym Eintritt in die Welt versetzt wurde, und von den Eindrücken, die sein wächsernes Gehirn in der ersten Jugend empfing.“

148

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

wird aber auch, warum ihnen die Selbsterkenntnis als eine schwer zu erlernende Kunst erscheint, die in sehr verschiedenen Graden zugemessen wird: Selbstkenntniß ist also eine Wissenschaft, eine Kunst, zu welcher die Natur eben so wohl, als zur Dichtkunst, eine eigene Kraft der Seele schenken, eine eigene Stimmung der Organen veranstalten muß; die man erweitert, sich geläufiger macht, indem man durch Uebung und Fleis dieses Talent stärkt; die verschiedene Menschen in verschiedenen Graden erlangen, weil die Grade ihres Talentes und ihrer Uebung verschieden sind. Wer kann es in dieser Rücksicht einem Menschen anrechnen, wenn ihm in sich selbst alles Finsterniß ist? oder wenn er seine An75 triebe oder Bewegungsgründe mißkennt? (Wezel, TK, III, S. 116 f)

Anders als etwa bei Schopenhauer, für den der „Weg nach innen“ der Königsweg der Metaphysik war76, unterliegt in den Augen der Spätaufklärer die Selbsterkenntnis denselben Restriktionen wie die Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit: auch hier lassen sich nur Vermutungen formulieren. Darüber hinaus bezweifeln sie die Sinnhaftigkeit einer umfassenden Selbsterkenntnis; vielmehr stellt sich hier ebenfalls die Frage nach deren Nutzen. So steht auch das psychologische Denken der Spätaufklärer unter dem pragmatischen Wahrheitsbegriff.77 Bis allerdings „ein Hell oder ein Euler in der Atmosphäre der Seele eben so genaue Beobachtungen anstellte, als diese großen Astronomen es in der physischen thun“ (Wezel, TK, II, S. 145 f), und mit einem endgültigen genealogischen Triebmodell die „Dezentrierung des Ichs“78 zur Vollendung gebracht haben, ist noch gute Weile. Bis dahin halten es die Spätaufklärer – wie schon in Wezels Versuch deutlich wird, der in einer Betrachtung des Menschen als eines tätigen Wesens gipfeln sollte (vgl. Wezel, Versuch, S. 36 f) – mit Lichtenberg, für den die Annahme eines Ich ein praktisches Bedürfnis darstellt: Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt, 79 Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.

Die Befriedigung dieses Bedürfnisses begegnet zumindest der Gefahr, dass sich die IchIdentität aufgrund detaillierter (Selbst-)Analysen in eine „fremdbestimmte[] Mechanik aus

75

Vgl. hierzu auch die Passage im Tobias Knaut: „Solche Betrachter ihrer selbst müssen die Wahrnehmung gemacht haben, daß der tiefsinnigste und seichteste Kopf, der erleuchteste Weise und der unwissendste Idiot bey dergleichen Unternehmungen über sich selbst, besonders wenn sie die Zergliederung eines Seelenzustandes betreffen, welchen man kaum verlassen hat, gleich seichte verfahren. [...] Der Unterschied ist nur, daß der sogenannte Weise sich betrügen läßt und es zur Weilen hinter drein merkt, der Idiot hingegen sich betrügen läßt und hinter drein bis auf den Tod behauptet, daß er nicht betrogen ist.“ (Wezel, TK, III, S. 112) 76 Vgl. dazu Kap. 2.2.2 dieser Untersuchung. 77 Vgl. dazu Wezel, TK, III, S. 153 f; zit. in Kap. 2.1.2. 78 Vgl. Rorty, 1988, S. 40 f. 79 Lichtenberg, 1994, Bd. 2, S. 412 [K 76].

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

149

dumpfen Triebfedern und Kräften“ auflöst.80 Wohin es hingegen führt, wenn dieses Bedürfnis nicht gestillt wird, zeigen die Nachtwachen Bonaventuras, die in Radikalisierung der Wezelschen Skepsis81 die Ich-Analyse bis zum totalen nihilistischen Konkurs treiben und geradezu als existentialistische Variante der Wissenschaftslehre Fichtes erscheinen: Hu‘ das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte, ihr Masken, und ich mich selbst anschauen will – alles verhallender Schall ohne den verschwindenden Ton – nirgends 82 Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts, das ich sehe!

Das Ich wird zwar erst im romantischen Identitätsroman und in der idealistischen Subjektivitätsphilosophie zum zentralen Problem. Es ahnte allerdings bereits den Spätaufklärern, dass das praktische Bedürfnis der Ich-Annahme nicht mehr in herkömmlicher Weise befriedigt werden konnte, sondern dass angesichts der Bestimmung des Menschen als eines nicht-festgestellten Tiers sowie vor dem Hintergrund eines pragmatischen Begriffs vom Ich dieses Ich nur mehr noch als narrativer Schwerpunkt bestimmt werden kann, das sich immer dann „ändert, sobald es eine andere Geschichte darüber erzählt, wer es selbst ist“.83 Die moralphilosophischen Überlegungen innerhalb der Tradition der anderen Vernunft bauen auf den Ergebnissen auf, zu denen die an der Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität orientierte Handlungs- und Motivationstheorie gelangt ist. Sie stellen den harten Kern des pragmatischen Paradigmas dar. Man ist sich auch zur Zeit der Spätaufklärung darüber im Klaren, dass diese Fragen von größter Bedeutung nicht nur für das Leben des Einzelnen, sondern auch und gerade für das Gedeihen der Gesellschaft sind. In dem Bewusstsein, dass der Mensch ein Gesellschaftswesen ist, das ohne sozialen Zusammenschluss nicht überleben kann, sah man in den „moralischen Begriffe[n] eines Volks die bestimmten Zeichen seiner Rohheit, Kultur, Regierungsverfassung, seines edlen Zustands und seiner Verderbniß“ (Klinger, Werke, 5, S. 32). Wie Koselleck schreibt, war die Aufklärung deswegen zwar scheinbar unpolitisch, doch obwohl die Aufklärer ihre Überlegungen „in der politischen Anonymität“ der Moralphilosophie vorbrachten, formulierten sie zugleich Theorien von großer politischer Brisanz: „Unpolitisch zu sein [war] ihr Politicum.“84 Entsprechend den beiden Möglichkeiten, das Naturkonzept zu interpretieren – entweder in normativistischer Weise durch die Identifikation von Sein und Sollen oder 80 81

82

83 84

Vgl. Kremer, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 16. Was Kremer über Wezel schreibt, geht m.E. zwar zu weit, zumindest aber in die richtige Richtung: „Was äußerlich als das autonome Ich erscheint, zerfällt unter einem grotesken Blick in exzentrische Details, die ein marionettenhaftes Eigenleben entfalten.“ (ebd., S. 20) Bonaventura, 1990, S. 92. Vgl. auch S. 122, wo der Protagonist in den ursprünglich nicht einsichtigen Zirkel der Reflexion eintritt: „Ich hatte jetzt aufgehört, alles andere zu denken, und dachte nur mich selbst! Kein Gegenstand war ringsum aufzufinden als das große schreckliche Ich, das an sich selbst zehrte und im Verschlingen stets sich selbst wiedergebar.“ Vgl. hierzu Rorty, 1993, S. 9 ff u. (1989), S. 23 ff. Vgl. Koselleck, 1959, S. 123.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

durch deren strikte Trennung, wie sie der Materialismus vornimmt85 –, entwickelten sich auch auf dem Felde der Moralphilosophie zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze: Zum einen entstand eine relativistische, sich auf die Egoismustheorie berufende Position, die alle moralischen Werte für gesellschaftlich bedingt hielt und entsprechend zu konventionellen Setzungen erklärte, zum andern konstituierte sich die Moral-senseEthik, die von den ‚sympathetischen‘ Regungen ausging und überzeugt war, dass uns bereits von Natur Moralität eingeschrieben sei. Beide Positionen sind jedoch gleichermaßen an der Affektivität des Menschen orientiert und i.S. einer Bindung an besondere Umstände partikularistisch. Die Vernunft übernimmt hingegen nur instrumentelle Funktionen – entweder im Dienst der Eigeninteressen, die in ‚wohlverstandener‘ Weise befriedigt werden, oder unter Leitung eines moralischen Sinns, dessen Ansprüche zwar mit Hilfe der Vernunft verallgemeinert und zu einem universell gültigen Moralsystem erweitert werden können, der jedoch seine motivierende Kraft nicht aus der Rationalität bezieht. Die Differenz zwischen beiden Positionen beruht entsprechend auf einem unterschiedlichen Menschenbild, insbesondere auf der Uneinigkeit darüber, ob dem Menschen von Natur altruistische Neigungen zukommen und, wenn ja, wie wirkungsmächtig diese im alltäglichen Zusammenleben sind, beruht also letztlich auf der Frage, ob man ihn pessimistisch als ‚Raubtier‘ oder optimistisch als von Natur aus gut, weil auf altruistische Moralität angelegt anzusehen hat. Die literarischen Spätaufklärer vertraten allerdings keine eindeutige Position. Vielmehr schwankten sie beständig zwischen den Möglichkeiten, die sich innerhalb des pragmatischen Paradigmas hinsichtlich der Moralität des Menschen eröffneten. Hieraus entsteht der Eindruck der Widersprüchlichkeit ihrer Überlegungen. Obwohl sie jedoch keine klare Entscheidung zugunsten einer Moralphilosophie trafen, lässt sich dennoch eine Grundhaltung identifizieren. Zwar waren sie untereinander und mit sich selbst uneins darüber, wie groß der Einfluss altruistischer Motive auf das menschliche Handeln sein mochte, welche genaue Rolle die Vernunft dabei spielte und in welchem Maße die gesellschaftlichen Umstände auf die Moral einwirkten; doch dass es so etwas wie altruistische Regungen gebe, dass die Rationalität im Rahmen einer vorgängigen moralisch ausgerichteten Affektivität nur eine dienende Funktion innehabe und dass der soziale Einfluss auf die Moral kaum zu überschätzen sei –, darüber herrschte Einigkeit. Diese Gemeinsamkeiten sollte man im Gedächtnis behalten, wenn man sich der verwirrenden Widersprüchlichkeit ihrer moralphilosophischen Aussagen stellt. Denn gerade sie zeigen die Einheitlichkeit des pragmatischen Paradigmas. Im philosophischen Roman der Spätaufklärung gerät entsprechend die Moral und die ihr zugrunde liegende Handlungstheorie unter einen anderen Blickwinkel als in allen rationalistischen Begründungsversuchen der Ethik. Die Sympathie Wielands, Wezels und selbst des Kantianers Klinger für die Moral-sense-Lehre, ja für die Mitleidsethik einerseits und ihr Interesse an der Egoismustheorie andererseits stehen in der beschrie85

Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1.1; s.a. Kondylis, 1981, S.343 ff u. S. 490 ff.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

151

benen Linie des pragmatischen Paradigmas, in dem nicht mehr in der Vernunft, sondern in der Triebstruktur, im Empfindungsapparat das Fundament der Moral gesucht wurde. So heißt es an einer repräsentativen Stelle in Klingers Geschichte Raphaels de Aquillas über den Protagonisten: Die moralische Erziehung des jungen Raphaels floß aus diesem Verhältnisse; er bedurfte keines Lehrers, der ihm Dinge zur Pflicht machte, die wenn sie nicht aus der Natur unsers Wesens keimen, selten mehr sind, als kalte Regeln, die der Verstand, um gewisser Vortheile willen, anerkennt. (Klinger, Werke, 5, S. 4)

Diese ‚natürliche‘ Moral wird vor allem von Wieland aus den sozialen Trieben hergeleitet: der Mensch sei „zur Geselligkeit gemacht“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 204 f), sodass er „nur seine Augen aufzuheben, und einen anderen Menschen zu erblicken [braucht], um die süße Gewalt des sympathetischen Triebes zu fühlen, der ihn zu seines gleichen zieht“ (ebd., S. 144). Dieses „sympathetische Gefühl“ sei, so Wieland, nicht nur „die Grundlage alles Rechts“ (ebd., S. 205), sondern auch das Fundament der Moral: Denn alles, was wir seit etlichen tausend Jahren aus gemeiner Erfahrung von unserer Gattung wissen, nöthigt uns, den Trieb der Geselligkeit und das Verlangen nach Gegenständen, denen wir uns mittheilen können, für ein wesentliches Stück der Menschheit zu halten. (Wieland, Werke, V, 14, S. 147)

Doch bleibt die Einstellung der Spätaufklärer zum Problem des Altruismus widersprüchlich. Denn trotz der Überzeugung von der ursprünglichen Geselligkeit und der natürlichen Moralität des Menschen vermögen sie die Augen nicht vor der oft grausamen Realität zu verschließen. Besonders greifbar wird dies in Wezels Belphegor – diesem Werk „ehrwürdigsten Gott=, Welt= und Menschen=Hasses“86, in dem ein wahres Pandämonium vorgeführt wird: [I]st das der Mensch, der edle, freundschaftliche, gesellige Mensch, dies empfindende, denkende, mitleidige Thier, wie ich mir ihn sonst abmahlte? So viel ich ihrer bis hieher gesehn habe, alle waren Raubthiere; alle laurten auf einander, sich mit List oder Gewalt zu schaden: einer war, wo nicht der Feind des andern, doch nur so lange sein Freund, als er unter ihm war, und gleich weniger, so bald er über ihn stieg: alles misbrauchte seine Stärke zur Unterdrükkung. (Wezel, B, I, S. 76)

Doch auch Wieland führt im Danischmend mit der Figur des „alten Kalenders“ eine Figur vor, die mit solch ‚bösem Blick‘ auf die Menschenwelt schaut und der der Titelheld oft nur scheinbare Argumente entgegenzusetzen vermag: Setzen wir einmahl den Fall, es gäb‘ eine Art von Geschöpfen, – in welchem Planeten du willst – die mit einer so schlechten Anlage auf die Welt käme, daß unter tausenden kaum Eines, und auch dieß nicht anders als durch die sorgfältigste und mühsamste Kultur, unter einem Zusammenfluß der günstigsten Umstände, wovon nicht Einer fehlen dürfte, zu einem merkli-

86

So das bekannte Diktum Arno Schmidts, in: Schmidt, 1990, S. 200.

152

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

chen Grade von Werth zu bringen wäre: was würden wir von der ganzen Art halten? (Wieland, 87 Werke, III, 8, S. 100 f)

Trotz dieser Einsicht in die traurige Faktizität hält gerade Wieland an der Überzeugung von einer dem Menschen als Naturanlage einwohnenden Moralität fest. Die in dieser Auffassung deutlich werdende Orientierung am ‚ganzen Menschen‘ wird nun von den Spätaufklärern durch eine partikularistische Theorie ergänzt. Insofern ihr zufolge der moralische Wert einer Handlung von ihrem jeweiligen Kontext abhängt, kommt diese Theorie mit der Moral-sense-Lehre in ihrem kontextualistischen Grundansatz überein und kann entsprechend als deren Seitenstück angesehen werden. So schreibt Wezel: Ich habe bereits vorhin gesagt, daß unser Medium bei dieser geistigen Betrachtung die Moral ist: ich habe auch bereits bey einer andern Gelegenheit gesagt, daß es so viel Moralen als Gesichter giebt: und wer sich von seinen eigenen Begriffen auf einige Zeit losmachen, und die moralischen Begriffe, Urtheile, und darauf gegründete Handlungsarten, seiner Nebenmenschen mit kalter Gleichgültigkeit betrachten kann, wird in meiner Behauptung etwas mehr als bloße Paradoxie finden. Es ließe sich mit einem a posteriori oder a priori deutlich erweisen, daß auch hier allgemeine Wahrheit einen kleinen Theil ausmacht, und das übrige alles von Verfassung, Zeit, Ort, gesellschaftlichem Zustande, herrschenden und persönlichen Vorurtheilen, persönlichem Charakter, innern und äußern Zuständen abhängt. (Wezel, Versuch, S. 446)

Eine Moralphilosophie hingegen, die diesen Handlungskontext nicht berücksichtigt, verfällt nicht nur bei Hippias der unnachgiebigen Kritik. Sie sei nämlich, so der Sophist im Agathon, der conditio humana unangemessen und weltfremd: Die Idealisten, wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren Ideen umschmelzen wollen, bilden ihre Lehrjünger zu Menschen, die man nirgends für einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist. (Wieland, A, S. 104)

Dies wird mit Hilfe des Perspektivismus und unter dem Einfluss der Milieutheorie Helvetius‘ bei Wezel, aber auch, in gemäßigter Form, bei Wieland und Klinger zu einer relativistischen Philosophie ausgebaut, deren ethisches Ideal in der urbanen Toleranz formuliert ist. Die Frage nach dem ‚Guten an sich‘, die in der im Aristipp zur großen Heerschau aufgerufenen antiken Philosophie die Denker ebenso umtrieb wie die Philosophen des 18. Jahrhunderts, löst sich auf in der Frage nach dem ‚Guten für uns‘. Die moralischen Werte werden relativiert auf Individuen und einzelne Gesellschaften, der „Universalitätsschwindel“ (Wezel, PS, S. 193) hingegen ist zugunsten einer partikularistischen Theorie aus der Moralphilosophie verbannt. Die relativistische Position geht von der empirischen Tatsache der Pluralität der Lebens- und Gesellschaftsformen aus, der man sich in der Aufklärung – wie die im 18. Jahrhundert ungemein populäre Reiseliteratur zeigt – zunehmend bewusst wird. Der Relativismus der Spätaufklärung sieht das angesichts dieser Pluralität besonders drängende Unternehmen einer moralphilosophischen Letztbegründung als nicht durchführ87

Auch bei Klinger nehmen nicht nur die Teufel diese radikal pessimistische Perspektive ein.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

153

bar an.88 Stattdessen fokussiert er die Funktion der Werte nicht nur im Leben des Einzelnen, sondern vor allem in der jeweiligen Gesellschaft und fragt nach den individuellen und gesellschaftlichen Interessen, die hinter diesen Werten stehen. Der Relativist versucht demnach den ‚Wert der Werte‘ zu bestimmen, die zu bloßen konventionellen Setzungen werden, welche bestimmten Zwecken wie Schutz und Sicherheit der Gesellschaftsmitglieder dienen.89 Dabei hat die Vernunft zunächst nur die Funktion der besseren Befriedigung der Eigeninteressen, erst in einem zweiten Schritt wird ihr im Konzept des aufgeklärten Interesses eine weitere wichtige Aufgabe zugewiesen. Dies geschieht in der Belehrung des Menschen über seine ‚wahren‘ Interessen. Im ‚aufgeklärten‘ oder ‚wohlverstandenen‘ Interesse sollen Eigen- und Allgemeinwohl in einer vom Gesetzgeber organisierten Erziehung miteinander versöhnt werden. Abgesehen davon hat die Rationalität im Rahmen des Relativismus nur die Aufgabe der deskriptiven Analyse. Das, was im Falle des Individuums die psychologische tut, das soll für die Sozietät die historische und soziologische Genealogie der Moral leisten: die Aufdekkung der geheimen utilitaristischen Erwägungen hinter den Wertsetzungen einer Gemeinschaft.90 Der radikale Aufklärer Hippias, der sich selbst als „Weltbürger“ bezeichnet, formuliert diesen Ansatz in großer Klarheit: Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so fern sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet. (Wieland, A, S. 103)

Das einzige allen Gesellschaften und allen Menschen gemeinsame Band sieht Hippias in dem Wunsch nach Befriedigung der Bedürfnisse: Es ist wahr, die Gesetze sind bei dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein was bei einem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein, als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein 88

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Wie Titzmann sagt, musste im 18. Jahrhundert die für die Aufklärer herausfordernde „Erfahrung gemacht werden, daß die Anwendung der Vernunft zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen kann – einerseits als soziale Erfahrung mit anderen Gruppen in der eigenen Kultur, andererseits als ethnologische Erfahrung mit fremden Kulturen. Der zentrale Punkt der Integration fremden Denkens ist dabei offenkundig das System der Normen und Werte: zu den Konstanten der europäischen Aufklärung gehört der Versuch, die eigenen Normen und Werte als außerzeitliche Universalien – und nicht als sozial, historisch, kulturell relative und variable Größen – zu denken. Dementsprechend können die Moralbegründungen variieren [...], die Moralinhalte sucht man im wesentlichen konstant zu halten.“ (Titzmann, 1990, S. 246) Es ist allerdings einschränkend zu sagen, dass der Funktionalismus, der das Problem vom Wert der Werte zu lösen sucht, im strengen Sinne nur auf Basis der Egoismustheorie, nicht der Moral-senseEthik formulierbar ist. Vgl. zu diesem Komplex Kondylis, 1981, S. 494 ff u. insbes. S. 503 ff, wo die radikalen, stark an Nietzsche gemahnenden Konzeptionen von LaMettrie und de Sade dargestellt werden.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden und genieße so viel Vergnügen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die Natur dem Menschen gegeben hat [...]. (Wieland, A, S. 102 f)

Diese hedonistische Maxime, die Hippias dem in seinem „moralischen Enthusiasmus“ an der Moral-sense-Ethik orientierten Agathon entgegenhält91, überrascht wenig, werden doch im Rahmen des relativistischen Reduktionismus auch die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ auf die Begriffe Lust und Unlust zurückgeführt und damit auf die Affektivität des Menschen relativiert.92 Auch für Aristipp – sicherlich eher eine Wielandsche Normfigur als der Sophist Hippias – ist die Frage nach dem höchsten Gut „etwas lächerliches, bey deren Auflösung das Meiste auf Ort, Zeit und Umstände ankommt“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 156). Nicht genug damit, dass er die pragmatische Gegenfrage stellt: „wozu soll‘s?“ (ebd., S. 154), sondern er hält dafür, dass jede Person „ihr eigenes höchstes Gut“ habe, das er zwar „zum allgemeinen zu erheben“ (ebd., S. 147) versuche, das aber letztlich immerdar individuell verschieden bleibe. Diese Individualisierung der moralischen – wie im übrigen auch der ästhetischen – Werte, die mit dem Hinweis auf die Perfektibilität der Gattung abgesichert wird93, relativiert sie auf Lust und Unlust, wodurch auch „die moralischen Empfindungen [...] mit unserm physischen Wohlseyn [...] verknüpft“ (Klinger, Werke, 5, S. 31) sind und „die Wollust eine gute That zu thun“ zur „größte[n] aller Wollüste“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 35) wird.94 Doch nicht allein aufgrund dieser ‚hedonistischen‘ Orientierung gerät die Morallehre innerhalb der Aristippschen Philosophie zur Eudaimonologie; auch darin, dass das ethische Ideal Aristipps – wie schon des Archytas im Agathon – in der Harmonie zwischen Herz und Kopf bzw. Leib und Seele seinen maßgeblichen Grund hat, wird deutlich, 91

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Gerade an der Auseinandersetzung zwischen Hippias und Agathon wird deutlich, welch verschiedene moralphilosophische Ansichten das Grundkonzept der Natur und das aus ihm sich entwickelnde pragmatische Paradigma abdeckt. Kritisch ließe sich fragen, ob sich die Bedeutung des Naturbegriffs vor dem Hintergrund solch unterschiedlicher Auslegungen nicht zu etwas Ungreifbarem verflüchtigt. Vgl. Kondylis, 1981, S. 390. S. dazu Hobbes, 1985, S. 120: „But whatsoever is the object of any man‘s Appetite or Desire; that is it which he for his part calleth Good: And the object of his Hate and Aversion, Evill; and of his Contempt, Vile, and Inconsiderable. For these words of Good, Evill, and Contemptible, are ever used with relation to the person that useth them: There being nothing simply and absolutely so; nor any common Rule of Good and Evill, to be taken from the nature of the objects themselves [...].“ „Es giebt kein andres höchstes Gut (wenn man es so nennen will) für den Menschen, als, ‚das zu seyn und zu werden, was er nach dem Zweck der Natur syen soll und werden kann: aber eben dieß ist der Punkt, den er nie erreichen wird, wiewohl er sich ihm ewig annähern soll. Wo über jeder Stufe noch eine höhere ist, giebt es kein Höchstes – als täuschungsweise [...].“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 169 f) Vgl. auch Reemtsma, 1992, S. 132 ff. Hippias treibt diesen Individualismus noch weiter, indem er die menschliche Vollkommenheit als Übereinstimmung mit sich selbst bestimmt und behauptet, daß jeder Mensch das moralische Gesetz seines Denkens und Handelns in sich selbst trage (vgl. hierzu Müller, 1971, S. 93).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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dass im Aristipp die grundsätzliche Frage nach dem guten Leben im Kontext der Glückseligkeitslehre steht. Entsprechend werden die moralphilosophischen Überlegungen bei Wieland stets im Rahmen von Erziehungskonzepten erörtert, welche die moralische Vervollkommnung des Menschen als unabschließbar erscheinen lassen – wenn dabei auch die Aporie zwischen einer Auffassung des Menschen als eines nicht-festgestellten Tiers und einer Ansicht, die ihn als determiniertes Wesen betrachtet, nicht aufgelöst wird.95 Auch macht gerade der Aristipp deutlich, dass der Zielpunkt der moralphilosophischen Überlegungen der literarischen Spätaufklärer letztlich die Staatsphilosophie ist, in deren Rahmen etwa die Frage nach der Priorität der Sitten vor den positiven Gesetzen gestellt wird oder die Überlegungen zum Guten und Rechten als bloßen Konventionen die Frage nach der Möglichkeit des Kontraktualismus veranlassen. So entpuppt sich die Relativität der Werte im Aristipp als ein gesellschaftstheoretisches Problem. Vor dem Hintergrund einer derartigen eudaimonologischen Morallehre erscheint auch bei Wezel jede auf der Vernunft beruhende Pflichtethik als ein die Lebenskräfte und letztlich auch die Moralität niederhaltender Rigorismus: Die heiterste, frölichste Moral ist gewiß die beste; und die sauerste, trübsinnigste die schlimmste, die, wie von einer guten Moral neulich jemand verlangte, nur bittre, herbe Arzneyen verschreibt: ich danke für eine solche Kur. – Auch kann ich mir unmöglich einbilden, daß derjenige der das kleinste Insekt mit seiner vollkommnen Glückseligkeit versorgte, den Menschen allein auf diesen Planeten gesezt haben solle, um ängstlich an sich herum zu schnitzeln und sich zu beunruhigen, daß er keine Papenhovische Statue aus sich zimmern kann. (Wezel, SE 3, S. 53 f)

Zwar ziehen die Spätaufklärer aus dem Relativismus nicht die radikale Konsequenz der Materialisten, die die „Humanität des Nihilismus“ im ‚Alles verstehen heißt alles verzeihen‘ finden und die mit ihrer Maxime, „stets um so nachsichtiger [zu] sein, je aufgeklärter“96 man ist, keinen qualitativen Unterschied zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen mehr machen97; doch sie leiten hieraus zumindest die Folgerung ab, dass die Formulierung allgemeiner Grundsätze angesichts der Pluralität der Lebenswelt schlichtweg sinnlos ist. Vielmehr seien nicht nur für jede einzelne Gesellschaft oder für jeden einzelnen Menschen, sondern für jede besondere Situation jeweils andere Maximen erforderlich: Hat es aber mit dem menschlichen Leben diese Bewandtniß, so ist klar, daß es, um den einzelnen Menschen mit Nutzen und Erfolg zu sagen, wie sie seyn, wie sie handeln sollen, noch lange nicht genug ist, wenn man ihnen sagt: seyd weise, klug, vorsichtig, fromm, nüchtern, 95

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Auch wenn die Perfektibilität der menschlichen Gattung für Wieland außer Frage steht, kehrt diese Aporie auf der Ebene der Geschichtsphilosophie wieder, wobei Wieland die gegensätzlichen Positionen mit Hilfe der Metapher der Spirale, mit der er das lineare Fortschrittsmodell mit einem organizistischen Geschichtsdenken versöhnen will, zu synthetisieren versucht (vgl. dazu Kap. 2.1.4). Helvetius, 1973, S. 154. Zur „Humanität des Nihilismus“ vgl. Kondylis, 1981, S. 506 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

keusch, gerecht, wohltätig, u.s.w. [...] Die Schwierigkeit ist, diese einzelnen Menschen zu belehren, wie sie – in jedem Zeitpunkt ihres Lebens – in dem besonderen Zusammenhang der innern und äußern Umstände, worin sie sich in jedem dieser Punkte befinden [...] es anzufangen haben, um so weise, fromm, gerecht und gut zu seyn, als es unter allen besagten Umständen möglich ist. (Wieland, Werke, X, 30, S. 495)

Und auch im Tobias Knaut Wezels heißt es in diesem Sinne: Ein Weiser muß feste Maximen haben, von denen er nie abweicht, sagt mancher moralischer Gesezgeber und dünkt sich es zu thun: aber wie thut ers? – wie ökonomische Frauenzimmer, die immer dasselbe Kleid behalten und ihm bey jeder Veränderung der Mode einen neuen Schnitt geben lassen: – der nämliche Stoff bleibt, aber die veränderte Form! – es ist nicht mehr dasselbe Kleid. (Wezel, TK, IV, S. 69)

Schließlich stimmt selbst Klinger in diesen Chor ein, wenn er in seinen Betrachtungen äußert: Soll man also weder Maxime noch Grundsätze haben? Das sage ich nicht; ich sage nur, daß der Mann, der sie zum Glückmachen brauchen will, nicht vergessen muß, daß, so wenig zwei Blätter der größten Eiche oder alle Bäume eines ganzen Waldes sich einander gleichen, eben so wenig gleichen sich zwei Lagen im menschlichen Leben, und daß es nicht mit der Maxime 98 allein gelingt, sich in diese ungleichen Lagen hinein zu schicken. (Klinger, Werke, 11, S. 90)

Solch ein moralischer Partikularismus, nach dem „es so viel Moralen als Gesichter giebt“ und „die moralischen Begriffe, Urtheile, und darauf gegründete Handlungsarten [...] von Verfassung, Zeit, Ort, gesellschaftlichem Zustande, herrschenden und persönlichen Vorurtheilen, persönlichem Charakter, innern und äußern Zuständen“ (Wezel, Versuch, S. 446) abhängen, stellt sich gegen alle Verallgemeinerungsbemühungen. Der „horchende Wahrheitsager“ in Wezels satirischer Erzählung Silvans Bibliothek fasst entsprechend die relativistische, im moralischen Partikularismus gipfelnde Position folgendermaßen zusammen: Unsre Begriffe vom Guten und Bösen, vom Begehrungswerthen und Verabscheuungswürdigen wachsen allmählich aus der Reihe von Eindrücken empor, die der Körper und äußerliche Veranlassungen auf uns machen; also im Grunde aus unsern Neigungen: und worinne besteht die Moral, als in den Begriffen, was zu fliehen und was zu begehren ist? – Noch mehr! Nicht allein von den besondern natürlichen Anlagen des Menschen hängen seine moralischen Grundsätze ab; auch der äußerliche Grund ändert sie nothwendig. Ein Mann, der in der großen Welt und für dieselbe erzogen wird, hat ganz andre Ingredienzen zu seiner Glückseligkeit, als der im Mittelstande, und dieser andre als der in der niedrigsten Klasse [...]. Wenn die früh entstandenen Anlagen, das äußerliche Verhältniß jedem Menschen Besondere moralische Grundsätze geben und auch verlangen; wenn von denen, die ihm der Unterricht aufzwingt, nur diejenigen bleiben, die mit jenen beiden Stücken übereinkommen: was geschieht da anders, als daß jeder eine Moral nach dem Systeme seiner Neigungen bekommt und ausübt? – eure allgemeine Moral lernt, und seine eigene ausübt? (Wezel, SE 1, S. 51 f) 98

Trotz der großen Wertschätzung, die Klinger der Kantischen Ethik entgegenbringt, lehnt er entsprechend den kategorischen Imperativ ab und lässt ihn an einer Stelle sogar als Popanz persönlich auftreten (vgl. Klinger, Werke, 10, S. 122). Hierauf werden wir sogleich noch näher eingehen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Die Moral-sense-Ethik hingegen, die man, insofern sie die Moral in der normativistisch begriffenen und harmonistisch gedeuteten Natur verankert, als die tiefstmögliche Fundierung der Moral verstehen kann99, ist zwar von ihrem Grundansatz her ebenso partikularistisch, doch nimmt sie über die bloß konventionellen Setzungen hinaus eine altruistische Neigung an. Schon Voltaire bezieht hier eine klare Position: Wenngleich das, was man in einem Landstrich Tugend nennt, gerade das ist, was in einem andern Laster heißt, wenngleich die meisten Regeln über Gut und Böse ebenso verschieden sind wie die Sprachen, die man spricht, und die Kleidung, die man trägt, so scheint es mir nichtsdestoweniger gewiß, daß es natürliche Gesetze gibt, in bezug auf welche die Menschen in allen Teilen der Welt übereinstimmen müssen. [...] Wie er [= Gott] den Bienen einen mächtigen Instinkt gegeben hat, vermöge dessen sie gemeinsam arbeiten und sich ernähren, so hat er dem Menschen bestimmte Gefühle verliehen, deren sie sich niemals entäußern können: und sie sind 100 die ewigen Bande und die ersten Gesetze der menschlichen Gesellschaft.

Auf eine nicht näher spezifizierte Weise hängt dieses moralische Gefühl auch für Wieland mit dem „Trieb der Geselligkeit“ zusammen, den er „für ein wesentliches Stück der Menschheit“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 147) hält und der den wahren Weltbürger ausmache: Der Weltbürger allein ist einer reinen unparteyischen, durch keine unächte Zusätze verfälschten Zuneigung zu allen Menschen fähig. Ungeschwächt durch Privatneigung schlägt sein warmes Herz desto stärker bey jeder Aufforderung zu einer Handlung der Menschlichkeit und Güte. Seine Zuneigung, sein Empfindlichkeit breitet sich über die ganze Natur aus. (Wieland, Werke, IV, 13, S. 113)

Wie Hume101 lehnt Wieland sowohl den Hobbesschen als auch den Rousseauschen Naturzustand mit dem Hinweis auf die dem Menschen von Natur zukommende Geselligkeit und Moralität ab.102 So hält Wieland das Vorhandensein altruistischer Regungen für unbestreitbar.103 Der sie repräsentierende moralische Sinn, der „[u]nter allen Kennzeichen der Wahrheit [...] unläugbar das sicherste“ ist – „vorausgesetzt, daß ein Mensch überhaupt gesund und des Unterschieds seiner Empfindungen und Einbildungen sich bewußt ist“ (Wieland, Werke, VIII, 24, S. 44) –, dieser Sinn kann verschiedene Gestalten annehmen – seine Hauptformen sind das Wohlwollen, das schon für Hume auf der Ähnlichkeit aller Menschen beruht und von der Einbildungskraft abhängt104, und die 99

Vgl. Kondylis, 1981, S. 396. Voltaire: Traité de Métaphysique, Ch. IX, zit. nach: Cassirer, 1932, S. 327 f. 101 Vgl. Hume, 1978, S. 484 ff. Vgl. dazu auch Kondylis, 1981, S. 497 ff. 102 Vgl. hierzu Reemtsma, 1992, S. 54 f. Auf die Wielandsche Rousseau-Kritik kommen wir im nächsten Kap. 2.1.4 zu sprechen. Der Einfluss Shaftesburys ist hier unverkennbar. 103 Das gilt, wie wir schon sahen, auch für Wielands Agathon, über den Thomé schreibt: „Die Möglichkeit ethischen Handelns ist eine feststellbare Eigenschaft des empirischen Menschen, wie Gravitation oder Irritabilität Eigenschaften der empirischen Materie sind. Ihre Auswirkungen beschreibt der Erzähler unter den Strukturen von Beobachtung und Kausalität, ohne sie erklären zu wollen.“ (Thomé, 1978, S. 193) 104 Vgl. Hume, 1978, S. 369 ff. 100

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Fähigkeit zum Mitleid, das von vielen Aufklärern hoch geschätzt wurde105 und erst durch Kant in Misskredit geriet. Wohlwollen und Mitleid sind für Wezel jedoch intellektuelle Vermögen und lassen sich entsprechend ausbilden: Wohlwollen ist so sehr ein Talent wie Imagination; Witz; Genie, wird eben sowohl, wie diese, durch Erfahrung, Selbstübung und Unterricht gestärkt, und hat eben sowohl seine Stümper, seine mittelmäßigen Künstler, seine Virtuosen. Es muß also bey seiner Entwicklung das nämliche getan werden können, was sich bey den Talenten des Kopfes thun läßt [...]. (Wezel, Versuch, S. 525)

Die moralische Dummheit begnügt sich dem gegenüber, wie die Geschichte mit der „Tobaksdose“ im Tobias Knaut zeigt (vgl. Wezel, TK, IV, S. 223 ff), mit plumper Selbstbespiegelung: Wo es dem Protagonisten eigentlich um den Anderen um seiner selbst willen gehen sollte, da sieht er nur sich selbst in einem vervielfältigenden Spiegel – eine durchaus bedenkliche Allegorie auf die Fallstricke der moralischen Identifikation. Wie hingegen das Mitleid als ein imaginativer Akt erfolgreich verläuft, beschreibt der Erzähler an anderer Stelle: [M]itten unter der Erzählung von den Leiden, besonders dem Mangel des fremden Mannes trieb die Fantasie ihre gewöhnliche Taschenspielerey: in der neblichten Düsternheit, die in seinem Kopfe regierte, und nichts deutlich unterschieden ließ, schob sie wie ein Wind alle Vorstellungen von den Leiden und der Verlegenheit des Erzählenden dicht an den Gedanken von sich selbst, daß Tobias Knaut nicht anders urtheilen konnte als: ich habe das gelitten und werde das leiden! – Dieses Urtheil machte, daß er und der wirklich Leidende so gut als eine Person in seinem Gehirne wurden: es erfolgte eine so starke Empfindung, als wenn sie wahrhaftig eine Person wären. Sollten bey einer solchen Bewandniß die Füße einen Augenblick still stehen und nicht vielmehr hurtig forteilen, diesen Schmerz so bald als möglich wegzuschaffen? (Wezel, TK, IV, S. 216 f)

Auf eine „Taschenspielerey“ anderer Art verweist der Belphegor, in dem der Verdacht formuliert wird, dass das Mitleid bloß der Verbrämung der baren Unmoral dient, angesichts derer Belphegor in der allgemeinen Existenzkatastrophe zum „Märtyrer seines guten Herzens“ (Wezel, B, I, S. 26) wird: Indessen war die Dosis Mitleid, die die Natur ursprünglich mitgetheilet hatte, in Bewegung gesezt worden, diese brachte etliche Ideen von Unmenschlichkeit, Grausamkeit, Barbarey und dergleichen in die Köpfe; man schämte sich des Mordens ein wenig. man gab ihm einen Namen, der sich mit jenem Gefühle vertrug, und die Rotten mordeten mit ruhigem Gewissen fort, weil das einen hübschen Namen führte, um dessentwillen sie oft gar etwas verdienstliches zu thun glaubten. (Wezel, B, I, S. 197)

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Vgl. z.B. Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 221: „Es ist also gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl und der wechselseitigen Erhaltung des ganzen Geschlechts zuträglich ist, indem es bei einer jeden einzelnen Person die Wirksamkeit der Eigenliebe mäßigt. Diese Empfindung bringt uns dazu, daß wir einem jeden Leidenden ohne Überlegung Hilfe leisten; sie vertritt in dem Stande der Natur die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend, und hat noch dieses voraus, daß niemand in Versuchung kommt, ihrer süßen Stimme den Gehorsam zu versagen.“

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Trotz ihrer Orientierung am Partikularismus erkennen die Moral-sense-Ethiker die Notwendigkeit, den moralischen Sinn mit Hilfe der Vernunft zu verallgemeinern, um sich vom beschränkten persönlichen Standpunkt zu lösen. Auch die Spätaufklärer sind sich bewusst, dass die Berufung auf den – oft unzuverlässigen – moralischen Sinn nicht hinreichend ist. Agathon wird klar, dass sein „Gefühl für die Tugend [...] nur ein sehr zweideutiges Kennzeichen der Wahrheit“ (Wieland, A, S. 369) darstellt. Hier besteht die Notwendigkeit der rationalen Kontrolle. Aufgabe der Vernunft ist es, den unbeständigen moralischen Sinn zu einer moralischen Haltung zu verallgemeinern, die in jeder Situation Bestand hat, und dadurch den Affekthaushalt des Menschen im Sinne einer eudaimonologischen Ethik rational zu organisieren. Diese Notwendigkeit zur Universalisierung moralischer Normen beschreibt bereits Hume: The notion of morals implies some sentiment common to all mankind, which recommends the same object to general approbation, and makes every man, or most men, agree in the same opinion or decision concerning it. It also implies some sentiment, so universal and comprehensive as to extend to all mankind, and render the actions and conduct, even of the persons the most remote, and object of applause or censure, according as they agree or disagree with that rule of right which is established. These two requisite circumstances belong alone to the sentiment of humanity here insisted on. [...] He must here therefore, depart of his private and particular situation and must choose a point of view, common to him with others; he must move some universal principle of the human frame, and touch a string to which all mankind have an accord and symphony. If he mean, therefore, to express that this man possesses qualities, 106 whose tendency is pernicious to society, he has chosen this common point of view […].

Dennoch ist die Vernunftethik für die Spätaufklärer nicht akzeptabel, da sie keinen Rückhalt in der menschlichen Affektivität besitzt. Die Vernunft allein kann zu keiner einzigen Handlung motivieren – erst recht zu keiner moralischen: Morals excite passions, and produce or prevent actions. Reason of itself is utterly impotent in 107 this particular. The rules of morality, therefore, are not conclusions of our reason.

In Klingers Geschichte eines Teutschen erscheint bereits die rationale Kontrolle der Moral als deren Verhinderung. Die Vernunft könne hier nur schädliche Wirkungen haben: Wenn ich bei jeder That, die mein Herz für gut und gerecht erkennt, so verfahren soll, so wägend und berechnend, – wird dann auch nur Eine so kräftig und rein aus ihm hervorspringen, wie sie seyn muß, um diesen Namen ganz zu verdienen? [...] [W]enn ich einmal angefangen habe, die Tugend zu zerstückeln, um gerade so viel zu thun, daß auch nicht das Mindeste mehr geschehe, als eben die Verhältnisse erlauben – dann, Hadem, ist es mit mir und der Tugend aus. Dann bin ich ein recht guter Handelsmann, der sein Kapital wohl anzulegen versteht; aber kein Mensch, wie Sie einen aus mir bilden wollten. (Klinger, Werke, 8, S. 79 f)

Die literarischen Spätaufklärer setzen sich mit dieser ambivalenten Einstellung zur Rolle der Vernunft zwischen die beiden bequemen Lehnsessel von Vernunft- und Moral-

106 107

Hume, 1913b, S. 110 f. Hume, 1978, S. 457. Vgl. auch Wieland, Werke, VIII, 24, S. 44.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

sense-Ethik. Was Erhart für den Agathon feststellt108 – dass es sich bei dieser ‚Schwärmerkur‘ um eine Dekonstruktion der Moral-sense-Ethik handle, ohne dass dies zu einer Entscheidung für das Konzept der Eigenliebe oder gar für die Vernunftmoral führte –, gilt auch für Klinger, dessen Romanzyklus in moralphilosophischen Fragen in die totale Aporie führt, insofern er sich um eine ‚Falsifikation‘ sowohl der rationalen als auch der Moral-sense-Ethik bemüht.109 So wie im Giafar der Held an den eigenen moralischen Ansprüchen seines ‚Herzens‘ scheitert, weil „seine Vernunft eingeschläfert und nur seine Sinne berührt“ (Klinger, Werke, 5, S. 137) sind, so führt Klinger im Faust der Morgenländer in der Figur des Abdallah, der einen Geist beschwört, um die Folgen seiner Handlungen vorauszuwissen und dadurch rein rational entscheiden zu können110, einen Menschen vor, der an einer konsequentialistischen Vernunftethik scheitert: Jede That, die sein Geist entwarf, jeden Wunsch, den sein Herz schuf, jede Aeußerung des Willens, dieses oder jenes zu unternehmen oder auszuführen, zernichtete und zerbließ der kalte Athem seines unermüdeten Verfolgers durch die Aufzählung ihrer widrigen Folgen.[...] Die Folgen jeder That sind vermischt und außer unsrer Macht. Nur der reine Zweck, die lautere Absicht, die innere Stimmung des Handelnden, die durch das Herz gefühlte, durch den Verstand geleitete Anerkennung des Guten, drücken dem Werthe unsers Wirkens oder Nichtwir111 kens das Siegel auf. (Klinger, Werke, 7, S. 168 f)

Der ‚reine Wille‘ also soll – unbesehen der Handlungsfolgen – die Sache der Moral entscheiden. Eine solche deontische Ethik führt Klinger in die Nähe von Kant, mit dessen Hilfe er die Konzeptionen von Vernunft- und Moral-sense-Ethik zu versöhnen sucht. Hierbei soll der reine Wille, so argumentiert Giafar, in „die Gränzen, in die ich eingeschlossen bin“, zurückführen, da nur „das Gegenwärtige [..] der Kreis meines Wirkens“, für die Zukunft hingegen „mein Auge zu stumpf“ sei (Klinger, Werke, 4, S. 337), d.h. eine zugleich deontische und partikularistische Ethik alle Anstrengungen krönen. Dieses hölzerne Eisen soll darüber hinaus die Harmonie von Kopf und Herz wiederherstellen und den Menschen zur „absoluten Tugend“ führen.112 Allerdings gelangt Klinger über das bloße Postulat nicht hinaus:

108

Vgl. Erhart, 1991, S. 139. Vgl. Müller, 1992, S. 199. 110 Vgl. Klinger, Werke, 7, S. 58, v.a. aber S. 32, wo es über das Ziel Abdallahs heißt: „Er, der diese Wahrheit bisher für seine einzige Leiterin erhielt, jede gute That nur darum unternahm, weil sein Herz ihm sagte, daß sie gut sey, will nun seiner Thaten Ursprung und Folgen bloß nach dem kalten, sparsamen, vor und hinter sich blickenden Verstande abwägen. Maß, Regel und Gewicht sollen über die Wärme seines Herzens bestimmen, und er fühlt in seinem Wahne nicht, daß sie ihm das seyn werden, was der Frost der Blüthe ist.“ 111 Vgl. hierzu auch Müller, 1992, S. 274 u. Titzmann, 1990, S. 271. 112 Zur Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Tugend vgl. Müller, 1992, S. 190 f.; S. 187 heißt es dort: „Das Konzept der ‚absoluten Tugend‘ kann nur der realisieren, bei dem Harmonie zwischen ‚Herz‘ und ‚Verstand‘ besteht. Moral und Anthropologie bedingen sich also gegenseitig.“ S a. Titzmann, 1990, S. 272. 109

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Das Herz erschaffe die That, der Verstand überlege und rathe, Güte und Weisheit umschließen beide, dann geht der Sterbliche sichern und festen Tritts einher, das übrige ist des Schicksals. 113 (Klinger, Werke, 7, S. 247)

Mit derlei Postulaten gelangt man jedoch aus der Aporie nicht hinaus. Entsprechend zeigt sich die Ambivalenz der Konzeption Klingers in der widersprüchlichen Haltung gegenüber der Kantischen Ethik, deren kategorischer Imperativ aus der Perspektive der normativen Moral als „das Erhabenste, was die erleuchtete Vernunft aufgestellt hat“, vom empirischen Standpunkt hingegen als „die giftigste Satyre gegen die Menschen“ erscheint (vgl. Klinger, Werke, 6, S. 272), insofern sie den Menschen in seiner Sinnlichkeit missachtet: Denn da diese menschliche Figur ohne Sehnen, Nerven, Fibern, Galle, Leber, Drüsen, Herz, Blut, Zellgewebe, Zwerchfell, Nieren und Schamtheile war, so stellte sie den kategorischen Imperativ wahrer, vollkommener und erhabener dar, als man ihn bisher, selbst auf teutschem Boden, seinem mütterlichen Lande, gesehen hatte. [...] Er war so leer von allem sinnlichen, irdischen, thierischen, leidenschaftlichen Ausdrucke, daß auch nicht die geringste Spur von Lust, Unlust, Furcht oder Hoffnung auf demselben zu sehen war. (Klinger, Werke, 10, S. 114 122)

Dennoch orientiert sich Klinger an Kants Zwei-Welten-Theorie, wenn er die Moralsense-Ethik in Richtung einer Autonomiemoral zu überschreiten versucht, wonach die Menschen in ihrer intelligiblen Freiheit „Könige der Schöpfung“ und „Werkmeister der sogenannten moralischen Welt“ seien (vgl. Klinger, Faust, S. 217) und durch ihr „moralisches Daseyn eine neue Schöpfung“ (Klinger, Werke, 5, S. 43) hervorbrächten, die sie selbst zu überdauern vermag: Jede dunkle, ferne, unfaßliche Macht drückt unsre Stärke nieder, zermalmt die Kräfte, die uns zum freien Gebrauch gegeben sind. Was ist für mich außer dieser Welt? Ich erfülle den Kreis meines Wirkens durch die Vernunft, strebe so zu handeln, daß der Beweggrund meines Handelns Gesetz für alle sein mag. Der Erfolg ist nicht in meiner Gewalt; aber meine Handlung ist 115 vollendet durch den Zweck, durch reinen Willen. (Klinger, Werke, 5, S. 339)

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Vgl. dazu auch Klinger, Werke, 11, S. 82 f: „Gefühl und Vernunft sind die Sonne und der Mond am moralischen Firmament. Immer nur in der heißen Sonne würden wir verbrennen, immer nur im kühlen Mond würden wir erstarren.“ Der Behauptung Müllers: „Klinger integriert in seiner Konzeption der ‚Harmonie von Herz und Vernunft‘ als Grundlage für ‚Tugend‘ die Grundansätze der beiden zentralen ethischen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts, nämlich der Konzeptionen der Vernunftethik und der moral-sense-Theorien.“ (Müller, 1992, S. 202 f) vermag ich deshalb nicht zuzustimmen: das Bemühen sieht man wohl, allein es fehlen die Gründe. 114 Vgl. auch Klinger, Werke, 5, S. 362. 115 In der Geschichte eines Teutschen materialisiert sich das „Land der reinen, erhabenen Tugend“ in einer von heiligen Schauern umwehten Felsenhöhle. Erstaunlicherweise führt den Protagonisten, der auch noch ‚Ernst‘ heißt, Rousseau selbst in Gestalt seines Erziehers Hadem in dieses Land, wo er denn auch sogleich einen Siegerkranz niederlegt (vgl. Klinger, Werke, 8, S. 8 ff).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Diese „absolute Tugend“ als eine „Tugend in völliger Unabhängigkeit von äußeren Rahmenbedingungen“116, die sich um die Handlungsfolgen nicht schert und nur auf den „reinen Willen“ sieht, ist allerdings, wie vor allem der Giafar zeigt, bestenfalls in der Privatsphäre realisierbar. Der politische Raum, der bei Klinger „als eine nichtvernünftige und nicht-moralische Ordnung“117 erscheint, wird hingegen von der „relativen Tugend“ i.S. einer pragmatischen Weltklugheit beherrscht. Dort aber hat sie, wie der Roman Der Weltmann und der Dichter zeigt, ihre volle Berechtigung.118 Vor diesem Hintergrund erscheint jene absolute Tugend nicht nur als Abnormität, sondern, wenn man sich den Agnostizismus Klingers in Erinnerung ruft, zugleich als trotziger Aktivismus, dem zufolge die metaphysischen Fragen, die sonst nur „tiefes, zermalmendes Schweigen“ erwartet, „nichts [...] beantwortet als unsre moralische Kraft, und auch sie nur ganz durch reines, thätiges Wirken“ (Klinger, Werke, 3, S. VI f)119: Mein Sohn, ich vermag nicht die Zweifel, die dir auf deinem Wege aufstoßen, aufzulösen, verhüllt sind uns Ursache, Mittel und Zweck; und nichts kann diesen Zweifeln ihr Gift nehmen, als Güte des Herzens, Wohlwollen und Erinnerung guter Thaten. Ich lernte von deinem Vater und meine eigene Erfahrung hat seine Lehre bestätigt: daß Nachsinnen über unfaßliche Dinge unsre Begriffe über die faßlichen selbst verwirrt; daß es uns in Unthätigkeit versenkt, um den Gebrauch unserer Kräfte bringt, bis Reue, Ekel und Mißbehagen uns als traurige Gefährten übrig bleiben. [...] Nie werde dein Loos, den Verstand auf Kosten des Herzens zu erweitern; aber hüte dich – bloß empfinden zu wollen. (Klinger, Werke, 4, S. 63)

So verstattet der „Mann von Kraft, Charakter, der aus selbstgeschaffenen Grundsätzen handelt […], keiner Macht außer ihm Gewalt über sich“ (Klinger, Werke, 12, S. 136) – weder dem „Schicksal“ noch dem „Zufall“ noch auch dem Nihilismus, der dem aufgeklärten Menschen von allen Seiten droht und den Klinger anthropologisch begründet: Des Menschen Stellung ist aufrecht, damit seine Augen in das Leere blicken und sein Geist da etwas für sich hindenke, wo vielleicht gar nichts für ihn ist und sein wird. (Klinger, Werke, 11, S. 119)

Davor, dass er einer solchen nihilistischen Resignation und Handlungsunfähigkeit verfällt, kann den Menschen nach Klinger allein die Autonomiemoral bewahren: [D]er Mensch [ist], durch seinen innern Sinn und freien Willen, Herr und Schöpfer seines Schicksals, Vollender seiner Bestimmung [..]. Er kann durch seine Thaten, durch sein Wirken 116

Müller, 1992, S. 204. Titzmann, 1990, S. 256. 118 In den Figuren des Weltmanns und des Dichters werden die beiden Konzeptionen von relativer und absoluter Tugend vorgeführt und schließlich als gleichermaßen berechtigte Haltungen akzeptiert: „Ich begreife es, und fühle, daß sich jeder von uns aus sich herausgebildet hat – daß jeder selbst gefunden, was ihm tauglich war; und auch nur so konnte es sich ausründen. Ich fühle zugleich, daß jeder von uns auf seiner Stelle darum so fest steht, weil er sie selbst gefunden hat; und so soll fernerhin keiner den Genuß des anderen stören.“ (Klinger, Weltmann, S. 160) Auch in dieser Toleranz wird jedoch letztlich bloß die Ratlosigkeit Klingers deutlich. 119 Vgl. Kremer, 1990, S. 306. 117

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

163

den Gang der moralischen Welt stören, zerreißen oder befördern. Nach seiner Lage und seinem Wirkungskreise ganze Völker glücklich oder unglücklich machen, und das ganze Menschengeschlecht zusammen von dem Bettler bis zu dem König, jeder nach seinem Einfluß, ist der Werkmeister der sogenannten moralischen Welt. (Klinger, Werke, 5, S. 35)

Wichtig ist aber, dass Klinger auch die Autonomiemoral anthropologisch absichert, insofern für ihn die Harmonie zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘ Voraussetzung moralischen Handelns ist. Nur durch ein derart ‚gesundes‘ Selbstverhältnis ist für Klinger – und ähnliches ließe sich auch für Wieland und Wezel sagen – gewährleistet, dass ein moralisch gutes Leben zugleich auch ein glückliches ist: im eudaimonologischen Konzept des gelingenden Lebens sollen Glück und Moralität zuletzt miteinander versöhnt werden. Wo jedoch einerseits Anthropologie und Ethik in solch engen Begründungszusammenhang gestellt werden wie in einem eudaimonologischen Moralkonzept und andererseits die Moralität als zur natürlichen Grundausstattung des Menschen gehörig angesehen wird, da treten pädagogische Fragen in den Vordergrund. Denn nach Überzeugung der Spätaufklärer ist Bildung vor allem moralische Bildung.120 Dem zufolge haben ihre moralphilosophischen Reflexionen bedeutende Auswirkungen auf ihre Erziehungskonzepte, damit aber auch auf das Verhältnis des philosophischen zum sogenannten Bildungsroman.121 Nicht anders als auf dem Gebiet der Moralphilosophie changieren Wieland, Klinger und Wezel auch in diesen Fragen beständig zwischen einer radikalen Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Erziehung überhaupt, einer auf der ursprünglichen Güte des menschlichen Herzens beruhenden Entfaltungstheorie sowie einer pädagogischen Konzeption, die aus jedem Menschen alles machen zu können glaubt. Dennoch sollte man über diese Widersprüche nicht vergessen, dass die literarischen Spätaufklärer die Auffassung teilen, dass der Einfluss der Erziehung auf den Menschen enorm ist und man der Entwicklung pädagogischer Modelle nicht genügend Gewicht geben kann.122 Dies zeigt sich nicht nur an dem Umstand, dass sie jeweils nicht unbedeutende Beiträge zum Genre des Bildungs- und Entwicklungsromans123 beigetragen

120

Die Frage nach der Rolle der Erziehung in Staat und Gesellschaft wird in Kap. 2.1.4 behandelt. Vgl. hierzu Schönert, 1969, S. 87, wo er den gesamten empfindsamen Roman als eine Realisation der Moral-sense-Ethik versteht und behauptet, dass sich beide in dem Anliegen einer „Bildung des Herzens“ vereinen. 122 Dies gilt nach Wezel gerade für die frühkindliche Phase, in der „der erste Boden und sogleich auch der erste Nahrungsstoff für unsern Charackter“ (Wezel, TK, I, S. 45 f) geliefert werden. 123 Die begriffliche Unterscheidung von Bildungs- und Entwicklungsroman ist ein schwieriges Problem, das im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht weiter behandelt werden kann. Brenners schematische Entgegensetzung von Entwicklungsroman als der Darstellung einer „Assimilation ans Gegebene“ und Bildungsroman als Darstellung der „Entwicklung subjektiver Autonomie“ mag zwar zur ersten Orientierung hilfreich sein, erscheint aber angesichts der komplexen literaturgeschichtlichen Entwicklungen als viel zu grob – zumal sie an den Texten kaum belegbar sein dürfte (vgl. Brenner, 1981, S. 94). 121

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

haben, sondern dass sie auch da, wo sie radikale Zweifel an pädagogischen Konzepten äußern, stets an deren grundsätzlichen Positionen orientiert bleiben.124 Wieland, der seine Sympathie mit der Entfaltungstheorie nicht verhehlen kann125, aber zugleich dem ungeheuren Einfluss des sozialen Kontextes auf die (moralische) Bildung mit seiner Theorie vom Menschen als nicht-festgestelltem Tier Rechnung tragen will, versucht beide Ansätze durch eine nachgerade metaphysische Theorie zu vermitteln: Die Natur schickt uns, wie es scheint, mit lauter unbestimmten Anlagen in die Welt, und was daraus werden soll, hängt größtentheils von äußerlichen Umständen ab, über welche wir, in den Jahren wo ihr Einfluß gerade am meisten entscheidet, die wenigste Gewalt haben. Indessen würde doch, glaube ich, ein Gott, der das ganze, uns unsichtbare Gewebe der innern Anlagen eines Menschen zu durchschauen vermöchte, das, wozu ihn diese Anlagen vor allem andern bestimmen, unfehlbar entdecken; denn in der Natur giebt es nichts wirklich unbestimmtes. Je lebendiger also das Selbstgefühl bey einer Person ist, desto mehr ist zu vermuthen, daß sie, wenn die äußern Umstände ihr völlige Freyheit lassen, sich selbst für diejenige Lebensweise bestimmen werde, zu welcher sie durch ihre ganze Naturanlage vor allen andern geschickt gemacht ist. (Wieland, Werke, XI, 35, S. 304)

Die sich in dieser „transcendenten Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen“126 äußernde Widersprüchlichkeit führt auf direktem Wege in die Skepsis. Diese Skepsis lässt Wezel nicht nur mit dem Belphegor und dem Tobias Knaut zwei „negative Bildungsromane“127 schreiben, sondern ihn auch die mit dem Partikularismus korrespondierende Forderung nach einer konsequenten Individualität der Erziehung stellen: Allgemeine Erziehung für die Welt, ohne Betrachtung der Zeit und des Ortes, das heißt der Staatsverfassung und des Nationalcharakters, wie ihn Natur und Schicksal bilden, ist Schimäre: wer eine solche in Ausübung zu bringen denkt, ist ein Tischler, der Bretter theilen will, wie ein Geometer seine Linien ohne Breite. Bildung für die ganze Welt, wie allgemeine Menschen124

Vgl. dazu die Äußerung des Archytas, welche die gesamte Entwicklung Agathons als eine sinnvoll geordnete zusammenfassen soll: „Ein Mann von mehr als gewöhnlicher Fähigkeit, sagte Archytas, hat zu tun genug, an seiner eigenen Besserung und Vervollkommnung zu arbeiten; er ist am geschicktesten zu dieser Beschäftigung, nachdem er durch eine Reihe beträchtlicher Erfahrungen sich selbst und die Welt kennen zu lernen angefangen hat; und indem er solchergestalt an sich selbst arbeitet, arbeitet er würklich für die Welt, indem er dadurch um soviel geschickter wird, seinen Freunden, seinem Vaterland, und den Menschen überhaupt, nützlich zu sein, und es sein nun mit vielem oder wenigem Gepränge, in einem größern oder kleinern Cirkel, auf eine öffentliche oder nicht so merkliche Art, zum allgemeinen Besten mitzuwürken.“ (Wieland, A, S. 581). Bei Wezel manifestiert sich die Bedeutung, die er pädagogischen Fragen zumisst, nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Pädagogischen Schriften, mit denen er sich für eine Anstellung am Dessauer Philanthropin empfehlen wollte. 125 Vgl. z.B. Wieland, Werke, XI, 35, S. 52 f. Auch Klinger (vgl. Klinger, Werke, 4, S. 4) und Wezel (vgl. z.B. Wezel, Versuch, S. 430 f) liebäugeln zuweilen mit dieser Konzeption. 126 So der Titel eines Essays von Schopenhauer (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 4, S. 201-224). 127 Vgl. Kremer, 1982, S. 94.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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liebe, eine große Idee, wenn wir sie denken, und ein kleines Nichts, wenn wir sie ausführen wollen. (Wezel, Versuch, S. 57)

Erst eine partikularistische Pädagogik vermag (vielleicht) die „menschliche Maschine“ ins „Gleichgewicht“ zu bringen (Wezel, Versuch, S. 310) und jene „wohltemperierte[] Seele“ (Wezel, RK, S. 8) entstehen zu lassen, in der „die größte Summe menschlicher Kräfte in dem besten Ebenmaße entwickelt“ ist (Wezel, Versuch, S. 425), sodass ein moralisch wertvoller Mensch entsteht – gleich welcher ethischen Konzeption er sich auch verschreiben sollte.128 Aus der großen Bedeutung, welche die literarischen Spätaufklärer pädagogischen Fragestellungen zugemessen haben, erklärt sich auch der enge Bezug, in dem der philosophische zum Bildungs- und Entwicklungsroman steht. Das gilt auch dort, wo er den Charakter eines „Anti-Bildungsromans“ annimmt, in dem die Bildungskonzepte des „pädagogischen Jahrhunderts“ dekonstruiert werden – wie dies vor allem im Tobias Knaut Wezels, aber auch schon im Agathon Wielands der Fall ist. Dies zeigt sich auch an der Tatsache, dass Blanckenburg seinen Versuch über den Roman, mit dem er das Genre des Entwicklungsromans theoretisch begründet hat, insbesondere anhand des Agathon entwickelt. Nach Blanckenburg sind nicht nur „das Innre des Menschen“ bzw. die „Gefühle und Handlungen der Menschheit, der eigentliche Innhalt der Romane“, sondern er bestimmt darüber hinaus als „das Eigenthümliche des Romans“, dass er das „Werdende seines Helden“ darstelle. Der Zielpunkt des Romans ist weniger die „Vollendung einer Begebenheit“ als vielmehr die „Vollendung eines Charakters“129. Somit beschreibt Blanckenburg das „Programm des Figuren- bzw. Charakterromans mit der Zentralstellung des einen Helden als ‚causa finalis‘ des Erzählens“130, wodurch der Roman in die Nähe zur Biographie gerät.131 Allerdings hält Blanckenburg, wie schon Wieland in seiner Vorrede zum Agathon (vgl. Wieland, A, S. 7), den „Gebrauch der so genannten ganz vollkommenen Charaktere“ für „undichterisch“. Vielmehr gehe es nicht um eine Darstellung des Menschen als einer „Maschiene des Dichters“, sondern um „die möglichen Menschen der wirklichen Welt“.132 Wie später für Hegel so ist auch bereits für Blanckenburg das Verhältnis von autonomem Subjekt und den Begebenheiten der Außenwelt das zentrale Thema des Romans, wobei die individuelle Bildungsgeschichte des Protagonisten als ein Kommunikationsverhältnis von Subjekt und Welt erscheint.133 128

Dieses geradezu Humboldtsche Ideal einer allseitigen Bildung hat Wezel später in seinem Roman Hermann und Ulrike literarisch zu realisieren versucht. 129 Blanckenburg, Versuch, S. 254. 130 Frick, 1988, S. 353. 131 Vgl. dazu auch die Vorrede zu Wezels Hermann und Ulrike (Wezel, HU, S. 11). 132 Blanckenburg, Versuch, S. 257. 133 Vgl. Frick, 1988, S. 353 ff. Bereits Dilthey betonte den Einfluss der Monadologie von Leibniz auf die Entstehung des Bildungsromans und begann damit, laut Laufhütte, mit der Historisierung des Phänomens des Bildungsromans (vgl. Laufhütte, 1991, S. 301).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Wie Erhart ausführlich gezeigt hat134, geht dies jedoch, zumindest in der ersten Fassung des Agathon, nicht ohne Verwerfungen vonstatten. Zwar formuliert der Erzähler den hohen Anspruch, mit der „Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen“ (Wieland, A, S. 543) zu schreiben, sodass der Agathon geradezu zum Roman des „Humanus“ wird, wie ihn Hegel später forderte.135 Doch dass selbst in dem als Entwicklungsroman par excellance geltenden Agathon zunehmend Zweifel am Bildungskonzept aufkommen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Zufall in diesem Roman eine gewichtige Rolle spielt. Entsprechend seiner vielfältigen Kontingenzerfahrungen kommt Agathon sein Leben zuweilen wie „ein ungefähre[s] Spiel der träumenden Phantasie“ (ebd., S. 34) vor, angesichts dessen er grundsätzliche Zweifel an der Gesetzmäßigkeit der (moralischen) Welt bekommt (vgl. ebd., S. 36 f).136 Dies hat zur Folge, dass er eher einem Proteus als einem konsequent durchgeführten und zielstrebig entwickelten Charakter gleicht. So heißt es gegen Ende des Romans: [Agathon] schien nach und nach ein andächtiger Schwärmer, ein Platonist, ein Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wollüstling; und war keines von allen, ob er gleich in verschiedenen Zeiten durch alle diese Classen ging, und in jeder eine Nüance von derselben bekam. [...] Aber von seinem Charakter, von dem was er würklich war, worin er sich unter allen diesen Gestalten gleich blieb, und was zuletzt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die ganze Folge seiner Umstände davon abgeschieden sein wird, übrig bleiben mag – davon kann dermalen die Rede noch nicht sein. (Wieland, A, S. 470 f)

Noch deutlicher wird die Skepsis gegenüber einer sinnvoll angelegten Entwicklung in Wezels Tobias Knaut. Dies lässt sich der – erst im dritten Buch des Romans erfolgenden – Beschreibung des Protagonisten entnehmen, der zu allem anderen eher angetan scheint als zu einer allseitigen Bildung: Der ganze Tobias ist eine Säule, vier Fuß drey Zoll hoch, in der Gestalt eines Pagoden. Das Fußgestelle ist gleich einem Paar Menschenbeinen gestaltet, worunter jedes einen auswärts laufenden Halbzirkel macht, die oben an den Knieen und unten an den Knöcheln zusammenschließen. Der Schaft stellt einen dicken breiten Menschenleib vor, der die sämtlichen Kordilleras im Modelle auf dem Rücken trägt, aus welchem an beiden Seiten Armen herabhängen, die sich mit den Krallen eines Habichtes endigen; – wirklich hatten seine Finger mit diesen eine so starke Ähnlichkeit, daß seine Mutter alle mögliche Ursachen aufsuchte, um sich dies Phänomen zu erklären, und alle Mittel anwandte, ihm diese Verunstaltung zu benehmen; nichts half! – Endlich das Kapital! dies war ein spitzer Kopf, – nur sparsam mit Haaren bestreuet – das Ebenbild des Thersites; und izt, nach der unglücklichen Feuersbrunst, ganz kahl, wie ein gesengtes Stoppelfeld! eine platte, zween Finger breite Stirn, eine keilförmige Nase, worauf die beliebte Warze prangte, aufgeworfne blasse Lippen, eine Farbe, die aus gelb und schwarz zusammengesezt seyn mußte, große eißgraue Augen, die aus einer beständig aufgesperrten Eröffnung das fürchterlichste Weiße hervorgaffen ließen, und von hochgezerrten Au-

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Erhart, 1991, passim. Hegel, Werke, Bd. 14, S. 237. 136 Allerdings versucht der Erzähler diese Kontingenzen immer wieder in einen sinnvollen Weltlauf einzuordnen (vgl. z.B. Wieland, A, S. 17). 135

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

167

genbrauen, wie von einem Wetterdache, beschützt wurden: – Dies sind ohngefähr die hervorstechendsten Partien des Kopfes. (Wezel, TK, III, S. 243 f)

Als Ziel- und Gipfelpunkt der Entwicklung solch einer „monströsen“ Karikatur ist gewiss kein „vollkommener Charakter“ zu erwarten, sondern bestenfalls ein „Sonderling“: [S]o ist der völlige Tobias Knaut fertig, alles, was Natur und Schicksal aus ihm machen wollten – er hat in der Leiter menschlicher Geschöpfe die Sprosse erlangt, die er erlangen sollte. Noch ist es in der Gewalt des Schicksales ihn zum Marktschreyer, zum Seiltänzer, zum paradoxen Philosophen, zum paradoxen Staatsmann, zum paradoxen Gesellschafter, zu – allen Arten von Sonderlingen zu machen, der er nach seinen Fähigkeiten werden kann: aber sey es welche Gattung es wolle – ein Sonderling wird er gewiß. (Wezel, TK, IV, S. 242)

So werden im Agathon und Tobias Knaut auf je unterschiedliche Weise die aufklärerischen Bildungskonzepte dekonstruiert. Zwar ginge es zu weit, die philosophischen Romane der Spätaufklärung als „Anti-Bildungsromane“ zu bezeichnen, doch mit der „Intention auf Selbstbestimmung“, die laut Brenner das dominierende Moment der aufklärerischen Literatur sei137, wird hier so gründlich aufgeräumt, dass es nicht verwunderlich scheint, wenn Protagonisten wie Tobias Knaut oder Agathon aus ihren z.T. drastischen Lebenserfahrungen nichts zu lernen vermögen. Dem Autonomiepostulat der Aufklärung wird ein statischer Schematismus der Charakterdarstellung auf eine Weise entgegengestellt, die den philosophischen Roman eher als einen Experimental- denn als einen Bildungsroman erscheinen lässt.138 Was dies für die staats- und geschichtsphilosophischen Überlegungen der literarischen Spätaufklärer für Konsequenzen hat, wird im folgenden Kapitel zu erörtern sein.

137 138

Brenner, 1981, S. 7. Im Tobias Knaut wird diese Autonomiemoral zudem in der Gestalt des grotesk überhöhten Stoizismus des Protagonisten karrikiert. Die Entwicklungslosigkeit des Helden im Belphegor wiederum zeigt sich vor allem daran, dass er am Ende des Romans mit demselben schwärmerischen Enthusiasmus in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zieht, mit dem er schon die zwei wohlabgezielten Hinterntritte der schönen Akante am Eingang des Romans vergessen wollte (vgl. Wezel, B, II, S. 309 f).

2.1.4 In dem großen Maschinenwerke der Welt. Die pragmatische Wende in der Staats- und Geschichtsphilosophie und das utopische Denken der Spätaufklärung I understand better the meaning of his stare, that could not see the flame of the candle, but was wide enough to embrace the whole universe, piercing enough to penetrate all the hearts that beat 1 in the darkness. He had summed up – he had judged. „The horror!“ He was a remarkable man.

Auf der Basis der handlungs- und moraltheoretischen Überlegungen wird innerhalb des pragmatischen Paradigmas die Staats- und Gesellschaftsphilosophie formuliert. Auch sie trägt den Charakter der Ambivalenz: Auf der einen Seite geht das staatsphilosophische Denken der Spätaufklärung von den ‚sympathetischen‘ Neigungen des Menschen aus und bestimmt den Menschen als ein Gesellschaftswesen, das außerhalb eines sozialen Zusammenschlusses nicht überlebensfähig ist: Human nature cannot by any means subsist whithout association of individuals; and that association never could have place, were no regard paid to the laws of equity and justice. Disorder, confusion, the war of all against all, are the necessary consequences of such a licentious conduct. But nations can subsist without intercourse. They may even subsist, in some degree, under a general war. The observance of justice, though useful among them, is not guarded by so strong a necessity as among individuals; and the moral obligation holds proportion with the 2 usefulness.

Auf der anderen Seite wird die Grundlage von Staat und Gesellschaft in einem Vertrag gesehen, der auf dem wohlverstandenen Egoismus aller beruht, also gerade auf denjenigen Triebfedern, die gemeinhin als antisozial eingeschätzt werden. So verschieden diese beiden Ansätze auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so gehen doch beide auf das naturrechtliche Denken zurück, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte. Galt dem mittelalterlichen Denken das Recht noch als etwas, das seine Legitimation aus einer höheren, ‚göttlichen‘ Ordnung bezog, änderte sich diese Auffassung im neuzeitlichen Rechtsdenken radikal: Recht wurde nun aufgefasst als ein gemachtes, das vom Monarchen erlassen, also zwar von oben gesetzt wurde, jedoch durchaus Menschenwerk war. Auf der Basis des Naturrechts entstand entsprechend ein systematisches Recht, das sich aus der weltlichen Natur des Menschen begründete. Insofern diese Natur, wie es schon die Begründer des naturrechtlichen Denkens – Hugo Grotius und Samuel Pufendorf – gegen Hobbes taten, als prinzipiell rational angesehen wurde, kann man das Natur- auch als Vernunftrecht bezeichnen. Laut Pufendorf sind die Menschen im Naturzustand frei und gleich – der Begriff der Würde rührt hierher –, sie sind soziale Wesen, die sich aufgrund ihrer Schwäche zu

1 2

Conrad, 1989, S. 112 f. Hume, 1913b, S. 40.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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einer rechtlichen und staatlichen Gemeinschaft zusammenschließen.3 Im Rahmen der aufklärerischen Naturrechtsdebatte wird der Mensch jedoch nicht nur als ein von Natur aus geselliges, sondern zugleich als ein durch und durch bedürftiges Wesen bestimmt, dem zur Befriedigung eben dieser Bedürfnisse der soziale Zusammenschluss unentbehrlich ist. Um eine solche Bedürfnisbefriedigung einer möglichst großen Zahl zu erreichen, gehen die Menschen untereinander einen Vertrag ein, in dem sie sich gegenseitig ihre Rechte und Pflichten bestimmen. Diese kontraktualistischen Auffassungen, die insbesondere von Hobbes, Locke und später von Rousseau inspiriert wurden, beherrschten im 18. Jahrhundert zunehmend das staatsphilosophische Denken: ausgehend von vertraglichen Vereinbarungen zwischen Privatpersonen wagte man sich bis zur Frage nach der rechtlichen Legitimation des gesamten Staatswesens, ja, bis zum völkerrechtlichen Problem des Verhältnisses zwischen verschiedenen Staaten vor. Im Zuge dessen wurde das Volk als der eigentliche Souverän angesehen. Solche Gedanken wandten sich offen gegen den Anspruch der absolutistischen Fürsten auf das Gottesgnadentum ihrer Herrschaft. Man kann dabei das vertragsrechtliche Denken durchaus als Ausdruck eines neuen Menschenbildes ansehen, da die Fähigkeit zum Vertragsabschluss die Erziehung zu einer mündigen Persönlichkeit voraussetzt, die dazu in der Lage ist, verantwortlich zu handeln und Verträge einzuhalten. Ergänzt wird dieser kontraktualistische Ansatz durch einen konventionalistischen Rechtsbegriff und durch die Auffassung der Strafe als einer sozialen Sanktion, die als abschreckende Maßnahme den Menschen zur Einhaltung der Rechtsnormen motivieren soll. Der Zweck des Staats- oder Gesellschaftsvertrages ist jedoch die bessere Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder; er beruht daher auf deren Egoismus, der jedoch, insofern er durch die wechselseitige Anerkennung der Vertragsteilnehmer begrenzt ist, kein uneingeschränkter, sondern ein ‚wohlverstandener‘ ist. Der Staat ist in diesem Sinne keine Anstalt zur moralischen Besserung des Menschengeschlechts, sondern eine zweckgebundene Institution, die sich auf die Zustimmung aller Beteiligten und nicht auf eine transzendente Instanz gründet. Gründung und Erhalt des Staates können deshalb als eine praktische Anwendung des Funktionalismus durch ein Kollektiv angesehen werden: Die Menschen, die sich in einer Gesellschaft oder einem Staat zusammenschließen, verzichten auf eine vollständige Befriedigung ihrer egoistischen Bedürfnisse – oder, rechtsphilosophisch formuliert, auf eine umfassende Wahrung ihrer ‚natürlichen Rechte‘ –, um in dieser Bescheidung ihre wesentlichen Bedürfnisse umso besser zu stillen. Die Regeln des Zusammenlebens dienen in dieser Sichtweise nur dem Zweck einer erfolgreicheren Befriedigung des Egoismus aller; sie sind also gesellschaftlich funktionalisiert, einen intrinsischen Wert besitzen sie hingegen nicht. Nur durch solch einen vertraglich fixierten Ausgleich der Ansprüche könnten die Bedürfnisse der Einzelnen überhaupt befriedigt werden, wohingegen eine rücksichtslose Verfol3

Dem wohl wichtigsten Schüler Pufendorfs, Christian Thomasius, und dessen Werk Fundamenta iuris naturae et gentium von 1705 ist es maßgeblich zu verdanken, dass das Naturrecht in ganz Europa salonfähig wurde.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

gung aller Triebziele unter Hintansetzung der Rechte anderer vielleicht einem einzelnen ‚starken‘ Individuum für eine gewisse Zeit gelingen möge, in der Regel aber zu einem anarchischen Zustand führe, in dem – zumindest langfristig – keiner auf seine Rechnung komme.4 Der staatliche Zusammenschluss ist also eine reine Klugheitsentscheidung, die sich zu einem kurzfristigen Triebverzicht zugunsten langfristiger Triebbefriedigung bereit erklärt, jedoch keine altruistische Entscheidung aus Moralität. Man sieht, wie in der kontraktualistischen Staatsphilosophie zwei konträre Menschenbilder zusammengefügt werden: Soziale, sympathetische und moralische Neigungen auf der einen und das egoistische Bedürfnis nach umfassender Triebbefriedigung sowie nach Schutz und Sicherheit auf der anderen Seite führen im Verein dazu, dass die Menschen einen Vertrag eingehen. Das vertragstheoretische Denken ist also zwar mit einem pessimistischen Menschenbild vereinbar, aber es schließt ebenso wenig eine optimistische Bestimmung des Menschen als eines von Natur aus geselligen und mit einem moralischen Sinn begabten Wesens aus. In dieser Tradition des naturrechtlichen und vertragstheoretischen Denkens stehen auch die literarischen Spätaufklärer. Die pragmatische Betrachtung des Menschen als eines Triebwesens, dessen Vernunftgabe im alltäglichen Zusammenleben nur dazu dient, seine Bedürfnisse besser zu befriedigen, und auf dessen Moralität – sofern überhaupt vorhanden – kein Verlass ist, führte auch sie auf die Notwendigkeit, ein Staatsmodell zu entwickeln, das diesem anthropologischen Befund gerecht würde. Dabei konnten sie sich auf eine lange Tradition berufen, die ihren Ursprung in der griechischen Sophistik hat und in Machiavellis, vor allem aber in der Hobbesschen Staatsphilosophie ihren systematischen Ausdruck erhielt. Wie Hobbes gehen die literarischen Spätaufklärer von einem Zustand aus, der sich noch immer in dem Verhältnis zwischen den Staaten wiederfindet5 und den aufzuheben oder zumindest zu mäßigen Sinn und Zweck der Staatsgründung ist: dem Krieg aller gegen alle, in dem das ‚Recht‘ des Stärkeren herrscht.6 Um diesen unerträgli4

5

6

Man mag darin den Gedanken Freuds von der Optimierung der Triebbefriedigung durch Triebverzicht, wie er ihn in Das Unbehagen in der Kultur formuliert, wiedererkennen; gleichwohl ist das Theorem wesentlich älter und lässt sich über das 18. Jahrhundert hinaus wesentlich weiter zurückverfolgen. Vgl. Helvetius, 1973, S. 275, wo er behauptet, „daß sich die Völker in ihrem Verhältnis zueinander genau in derselben Lage befinden wie die ersten Menschen, ehe sie sich zur Gesellschaft zusammenschlossen“. Mit einem zynischen „Es ist ja immer so gewesen“ rechtfertigt im Belphegor ein Richter seine Unrechtsurteile mit dem Hinweis auf diesen Kriegszustand: „Der Stärkere hat von Ewigkeit her den Schwächeren zum Sklaven gehabt, ein Mensch hat beständig über den andern herrschen wollen, und wer den andern hat niederwerfen können, der ist der Herr gewesen. Es war ja immer so, wie wir in Historienbüchern finden, daß der Schwache, wenn er so dumm war, sich von den Mächtigen nicht alles gefallen lassen zu wollen, gehangen, geköpft, gerädert wurde.“ (Wezel, B, I, S. 48 f) Diesem Legitimationsversuch begegnet Wieland mit dem Hinweis, dass von Recht und Unrecht zu sprechen im Naturzustand nicht erlaubt ist, da dieser dem im Staatsvertrag festgelegten Rechtssystem vorausliegt: „Wenn der Unterschied zwischen Recht und Unrecht erst durch Verträge und verabredete Gesetze bestimmt werden muß, so giebt es in dem Zustande der natürlichen Freyheit,

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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chen Zustand abzuschaffen, schließen die Menschen einen Vertrag, der sie voreinander schützen und die gemeinschaftliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse sowie die gerechte Verteilung der Ressourcen ermöglichen soll: Im Stande der freyen Natur erlaubt sich (sagen sie) der Stärkere Alles, wozu er durch irgend ein Naturbedürfniß oder irgend eine Leidenschaft, Lust oder Unlust getrieben wird; aber in diesem Stande giebt es, genau zu reden, keinen Stärkern als für den Augenblick; denn der Stärkste wird sogleich der Schwächste, sobald mehrere über ihn kommen, wiewohl er jedem einzelnen überlegen wäre. Jener angebliche Naturstand ist also ein allgemeiner Kriegsstand, bey welchem sich am Ende, wo nicht Alle, doch gewiß die Meisten so übel befinden, daß sie sich in Güte zu einem gesellschaftlichen Leben auf gleiche Bedingungen verbinden, oder irgend einem Mächtigen gezwungen unterwerfen müssen, falls sie sich ihm nicht aus Achtung und Zutrauen, mit oder ohne Bedingung, freywillig untergeben. [...] Die eiserne Nothwendigkeit zwingt sie also, wider ihren Willen, zum gesellschaftlichen Verein, als dem einzigen Mittel, ihr Daseyn und jeden daher entspringenden Genuß unter Gewährleistung der 7 Gesetze in Sicherheit zu bringen. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 59 ff)

Der Gesellschaftsvertrag gründet sich demnach auf eine Klugheitsentscheidung und nicht auf moralische Erwägungen. Insofern der Staat der wechselseitigen Sicherung seiner Mitglieder dient, ist er keine moralische, sondern eine Schutzanstalt, die den allgemeinen Kriegszustand beenden soll. Folgerichtig ist die Gerechtigkeit „ein Zaum, den bloß die Nothwendigkeit den Menschen über den Hals geworfen habe“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 61). Grundlage eines solchen Staatsvertrages ist also der Egoismus – nicht der einfache, brutale, der mit einem Sprung ans Ziel will, sondern der wohlverstandene Egoismus solcher Menschen, die bereits so weit von ihrer Vernunft Gebrauch machen, dass sie die Vorteile eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses vor dem Naturzustand erkennen. Auch wenn dies zu kurzfristigem Triebverzicht führt und die Befriedigung gewisser Bedürfnisse gänzlich beiseite gelassen werden muss, so sehen sie doch ein, dass man so langfristig besser auf seine Kosten kommt.8 Hintergrund dieser Theorie ist folglich ein pessimistisches Menschenbild, in dessen Rahmen allerdings nicht notwendigerweise die Existenz altruistischer Neigungen geleugnet, sondern nur behauptet werden muss, dass, selbst wenn solche Regungen im Menschen vorhanden sein sollten, sie doch eine zu labile Basis für eine staatlich organisierte Gesellschaft bildeten. Sehr wohl ist es allerdings möglich, dass moralische Neigungen das gesellschaftliche Zusammenleben befördern. Staatstheoretisch dürfen sie allerdings nicht in Betracht genommen werden, da ein auf die Moralität gebauter Staat angesichts der Triebausstattung des Menschen keinen Bestand hätte. Entsprechend

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der den gesellschaftlichen Vereinigungen vorhergeht, kein Unrecht.“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 59) Zum Grundgedanken der Hobbesschen Vertragstheorie vgl. Hobbes, 1985, S. 223 ff. S.a. Hume, 1913b, S. 40. Vgl. dazu Kondylis, 1981, S. 414 ff. Auch für Wieland hat „die Unentbehrlichkeit aller bürgerlichen Verfassungen und Regierungen keinen andern Grund [..], als die Schwäche und Verkehrtheit des armen Menschengeschlechts.“ (Wieland, Werke, XI, 33, S. 322)

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muss auch der auf dem Schutz- und Sicherungsbedürfnis und nicht auf der unzuverlässigen Moralität beruhende Staatsvertrag mit einem „starkwirkende[n] Specifikum“ (Wezel, SE 3, S. 70), nämlich der Furcht, gegen die von innen drohenden Gefahren abgesichert werden. Diese Absicherung erfolgt über Gesetze, die dem Bürger bei deren Übertretung mit negativen Sanktionen drohen und ihn durch Strafe vor der Auflösung des Vertrages, der in diesen Gesetzen verbrieft ist9, abschrecken sollen. Im Faust der Morgenländer lässt Klinger den Großvizir dieses Staatsdenken, das von der Notwendigkeit einer ‚Politik der starken Hand‘ überzeugt ist, in den Worten zusammenfassen: [D]as alles kommt von dem in den Menschen eingewurzelten Bösen her, und darum muß man sie mit einem eisernen Scepter beherrschen, und zum Guten, das ist zum Gehorsam, peitschen. (Klinger, Werke, 7, S. 91)

Nicht allein hinsichtlich der Motivationstheorie, die den Egoismus zumindest als die primäre Triebfeder des menschlichen Handelns ansieht, sondern auch in der Interpretation der sozial geltenden Werte sowie des zu ihrer Absicherung errichteten Straf- und Sanktionssystems als bloß konventioneller, auf utilitaristischen Erwägungen basierender Setzungen steht also das spätaufklärerische Staatsdenken unter der Leitung des pragmatischen Paradigmas. Das ‚Recht‘ der Stärkeren, ihr Wille zur Macht kann von den Schwächeren nur unter Kontrolle gebracht werden, wenn sie sich in einer Gesellschaft zusammenschließen und ein Rechts- und Strafsystem begründen, vor dem alle Menschen gleich sind. Weitaus radikaler als diese auf Hobbes zurückgehende Auffassung, wonach der gesellschaftliche Zusammenschluss den allgemeinen Kriegszustand beendet, nimmt sich die skeptische Position Wezels aus. Wie Müller sagt, übernimmt Wezel im Belphegor „Hobbes‘ anthropologische Prämissen, ohne sie mit der Konstruktion eines das Leben schützenden, durch Vertrag beschlossenen Rechtszustands zu verbinden“ und gelangt, indem er die Zivilisation nur als eine verfeinerte Fortsetzung des natürlichen Kriegszustandes charakterisiert, zu einer „Konstruktion, die Hobbes’ Prämissen gegen die Möglichkeit eines Vertragsabschlusses überhaupt wendet“, der den Kriegszustand ja beenden sollte10: Alles, alles nützen die Menschen, um den Naturkrieg fortzusetzen, von dem unsre Kultur nichts als eine veränderte gemilderte Form ist [...]. (Wezel, B, I, S. 216).

In dem damit universell gewordenen Krieg aller gegen alle bleibt Belphegor nur die auch von Wieland geteilte Einsicht, dass die Menschen, die sich „um ihrer Sicherheit willen in große Gesellschaften vereiniget“ haben, gerade „in ihnen unvermerkt alles das was sie in Sicherheit bringen wollen [verlieren]“ (Wieland, Werke, II, 7, S. 144 f). Dieser agonalen 9

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Vgl. Wieland, Werke, VIII, 25, S. 273: „Eine Konstituzion von wenigen, auf die allgemeine Vernunft und auf die Natur der bürgerlichen Gesellschaft gegründeten Artikel, ist das unfehlbare, leichte und einzige Mittel, allen heilbaren Übeln der politischen Gesellschaft abzuhelfen, die möglichste Harmonie zwischen dem Regenten und den Unterthanen herzustellen, und den Wohlstand der Staaten auf einer unerschütterlichen Grundlage zu befestigen.“ Vgl. Müller, 1976, S. 184 f.

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Konzeption gemäß ist die Verfeinerung der Kampfmittel das Grundcharakteristikum der Zivilisation, die somit als eine bloße Fortsetzung des Naturkrieges mit anderen Mitteln : erscheint. In einer solchen Welt ist des Hauens und Stechens kein Ende [M]an führt dort [= im zivilisierten Europa] den Krieg der Natur klüger, [...] man führt ihn unter der Aufsicht des Mitleids; aber geführt wird er, nur mit andern Waffen und auf andre Art als ehemals. [...] [D]ie verschiedenen Stufen, die die Menschheit durchwandert hat, [sind] nichts als verschiedene Formen von Kriege, die nur die Veränderung der Waffen und des 11 Manövre unterscheidet. (Wezel, B, I, S. 211)

Wenn es darum – ein wahrhaft denkwürdiger Romananfang – zu Beginn des Belphegor heißt: Geh zum Fegefeuer mit deinen Predigten, Wahnwitziger! – rief die schöne Akante mit dem jachzornigsten Tone, und warf den erstaunten, halb sinnlosen Belphegor nach zween wohlabgezielten Stößen mit dem rechten Fuße zur Thüre hinaus. (Wezel, B, I, S. 3),

dann wird der Protagonist auf solch unsanfte Weise in eine Welt hinausgestoßen, in der einem Hören und Sehen – und zwar nicht zum Vorteil der übrigen Sinne – vergehen. Ehe dies jedoch geschieht, erblickt er allüberall das bellum omnium contra omnes in mehr oder minder sublimierten Formen. So lautet der abschließende Befund Fromals: Was ist der ganze Lauf der Welt vom Anbeginn, als eine Prügeley um den elenden Erdenkloß, der gewiß alle ohne Kopfzerschmeißen ernähren würde, wenn sie nur gut einzutheilen gewußt hätten? (Wezel, B, I, S. 194)

Doch nicht genug damit, der allgemeine Kriegszustand wird zudem vom Einzelnen internalisiert: Nicht allein gegen die äußere, sondern auch gegen die innere Natur wird ein bald offener, bald versteckter Krieg geführt. Diese Internalisierung führt nicht nur zu Leibfeindlichkeit und Unterdrückung der Sinnlichkeit12, sondern auch zu dem im 18. Jahrhundert vieldiskutierten Konflikt zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘, zu jener inneren Zerrissenheit, für den der Leib-Seele-Dualismus wie auch die Auffassung der Moral als Kampf zwischen vernünftiger Pflicht und begehrlicher Neigung der theoretische Ausdruck sind. Auch der „Wille zur Wahrheit“ erscheint diesem bösen Blick nur als ein sublimierter Wille zur Macht: Literarische und philosophische Fehden innerhalb der Gelehrtenrepublik, aber auch – positiv gewendet – die „Streitkultur“ der Aufklärung, ihr polemischer Grundcharakter sind bloß andere Artikulationen des allgemeinen Kriegszustandes. Bei all dem handelt es sich nicht erst für Nietzsche, sondern auch schon für Wezel um eine bloße Gestaltänderung des Willens zur Macht, der sich in Philosophie und Wissenschaft als „Wille zur Wahrheit“ maskiert. Entsprechend wird im Belphegor

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Eine ebenso agonale „Geschichte der Erde im Kleinen“ bietet der 2. Teil des Robinson Krusoe, wobei am Ende – mit dem ironischen Verweis auf die Verwendung der Robinsonade als Kanonenfutter – in einer autoreflexiven Wendung der Bogen zum Gelehrtenkrieg geschlagen wird. In diesem Zusammenhang ist auch die körperliche Demontage der Protagonisten im Belphegor zu sehen.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

die Wahrheitssuche nicht als reine Forschung, sondern als Militäraktion beschrieben.13 Der „battle of the books“ in Wezels satirischer Erzählung Silvans Bibliothek wird zum metaphorischen Ausdruck eines allumfassenden Krieges, der selbst auf wissenschaftlichem Gebiet mit äußerster Rücksichtslosigkeit geführt wird – wo allein rationale Argumente herrschen sollten, regiert ebenfalls nur die rohe Gewalt. Dieser zugleich anthropologische und historische Befund bedeutet freilich auch, dass der Gelehrtenkrieg gänzlich unvermeidlich ist. Das einzige, was verhindert werden kann, ist die Ausartung des Streites in einen mit allen Mitteln geführten Krieg aller gegen alle. Mittel dieser Vermeidungsstrategie ist der aufgeklärte Perspektivismus. Denn nur wenn man sich der Begrenztheit des eigenen Erkenntnisvermögens bewusst ist, kann man sich der Selbstanmaßung erwehren, die eigene Meinung für die allein wahre zu halten. Der Perspektivismus resp. Relativismus ist also nicht nur explikative Theorie zur Deutung des Kriegszustandes, sondern enthält zugleich den Gegenentwurf, der zu einem Ende des Krieges – oder zumindest zu einem vernünftigen Umgang mit ihm – führe. So wird der Gelehrtenkrieg bei Wezel nicht allein in einer agonalen Weltkonzeption gegründet, sondern zugleich in einen erkenntnistheoretischen Begründungszusammenhang eingebettet. Perspektivismus und Relativismus werden damit zu den der conditio humana allein angemessenen philosophischen Theorien. Bei all diesen pessimistischen Überlegungen Wezels sollte man aber den experimentellen Charakter seiner Werke in Erinnerung halten. Der Perspektivismus Wezels ist seinem oft betonten Pessimismus vorgängig – die pessimistische, wie die optimistische, Sichtweise ist bei ihm zunächst nur Ausdruck der physiologischen, psychischen und soziohistorischen Verfasstheit der Protagonisten.14 Anders als Schopenhauer15 führt Wezel den Pessimismus als eine Auffassung ein, die eine optimistische Alternative nicht grundsätzlich ausschließt; ja, er gründet diesen Perspektivismus in dem anthropologischen Befund von der fundamentalen Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens.16 Dennoch ist es zugleich offensichtlich und sollte unstrittig sein, dass Wezel deutliche Tendenzen zu einer pessimistischen Weltsicht zeigt. Doch die Skepsis der literarischen Spätaufklärer versucht noch auf andere Weise als über die Bestimmung des Kultur- als Fortsetzung des Naturzustandes Sand in die Staatsmaschine zu streuen. Es regt sich hier ein Unbehagen, das ein Denken, welches den Staat als bloße Zwangs- und Notgemeinschaft betrachtet, als überaus inhuman empfindet. Besonders Klinger, der im Rafael, im Giafar und in der Geschichte eines

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Vgl. Wezel, B, I, S. 213 ff; zit. in Kap. 2.1.2. Klar zum Ausdruck kommt diese Vorgängigkeit u.a. in der pädagogischen Schrift Welche Seite der Welt soll man jungen Leuten zeigen?, in: Wezel, Versuch, S. 442-456. Bei Schopenhauer wird der Pessimismus metaphysisch legitimiert. Dies ist notwendig, weil er psychologische, physiologische und vor allem soziologische oder historische Erklärungen aus erkenntnistheoretischen Gründen ablehnt. Wezel befindet sich hier eher in der Nähe zu Nietzsche. Vgl. dazu Wezel, B, I., S. XIII; zit. in Kap. 2.1.3.

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Teutschen Protagonisten vorführt, die gegen solch ein kaltes „System“17 aufbegehren und in ihrem Scheitern erkennen müssen, dass sie sich ihre Moralität nur außerhalb der politischen Wirklichkeit bewahren können, äußert dem gegenüber vehemente Kritik. In den Reisen vor der Sündfluth führt er mit dem Philosophenstaat Gin eine auf dem wohlverstandenen Egoismus beruhende Staatskonzeption vor: Die größte Kunst besteht hauptsächlich darin, seinen Vortheil so zu berechnen, daß die andern den ihrigen dabei finden, und dann ist man Herr des Spiels. Sieh, so ist Ichheit oder Selbstheit jedes Menschen Gott! [...] Da dieß aber alle denken, so wird dadurch das Spiel des Lebens befördert, und alles ruht dadurch auf einem so einfachen Grund, der gleich in die Sinne eines jeden fällt, das ganze Geheimnis enthüllt und alle Schwierigkeiten löset. [...] Der Glücklichste ist der, der seinem Ich am besten thun kann, am besten zu thun versteht, der aller andern Ich zum Besten seines Ichs zu gebrauchen weiß. Der geliebteste ist der, der dieses Spiel am feinsten zu übertünchen gelernt hat. (Klinger, Werke, 6, S. 209 ff)

Wie wenig diese Konzeption funktioniert, zeigt nicht nur das Schicksal Gins selbst, sondern vor allem die nächste Station auf der Reise des Protagonisten: Mit dem Land der Faraker, das sich als Steigerung des Philosophenstaates interpretieren lässt, wird von Klinger ein totaler Überwachungsstaat beschrieben, der mit seinen gläsernen Wohnhäusern und seiner grotesk aufgeblähten Bürokratie an Kafka erinnert (vgl. ebd., S. 235 ff). Über das etwas diffus bleibende Unbehagen Klingers hinaus ist als Zeichen der spätaufklärerischen Skepsis auch die bereits von Rousseau betonte18, von Hobbes hingegen strikt abgelehnte Forderung nach der Möglichkeit einer Aufkündigung des Staatsvertrages zu nennen, die Wieland als ein den bürgerlichen Rechten vorgängiges Menschenrecht des „Weltbürgers“19 auffasst: Frey, unabhängig, gleich an Rechten und Pflichten, setzt die Natur ihre Kinder auf die Welt, ohne irgend eine andere Verbindung als das natürliche Band mit denen, durch die sie uns das Leben gab, und das sympathetische, wodurch sie Menschen zu Menschen zieht. Die bürgerlichen Verhältnisse meiner Ältern können mich meines Naturrechts nicht berauben. Niemand ist befugt, mich zu zwingen daß ich mich desselben begeben soll, solange ich keine Ansprüche an die Vortheile einer besonderen Gesellschaft mache. Kurz, es hängt von meiner Wahl ab, ob ich 17

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In der Geschichte eines Teutschen fasst der Onkel des Helden dieses Staatsmodell in den Worten zusammen: „Jeder Staat, er sey groß oder klein, besteht durch ein Ding, an das alles gefesselt ist und gefesselt bleiben muß, das alles durch feste, unabänderliche Ordnung in Abhängigkeit von sich hält. Dieses Ding, Ernst, heißt System; und nach ihm muß sich ein jeder von uns bequemen, er sey und heiße wie er wolle. Es ist unser Aller gewaltiger Herr und Herrscher. Der Fürst selbst muß sich ihm unterwerfen [...].“ (Klinger, Werke, 7, S. 42) Der Rousseauist Ernst, der gegen dieses System aufbegehrt, endet folgerichtig im geistigen Bankrott. Vgl. dazu auch Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 255. Die Möglichkeit der Vertragsaufkündigung ist bekanntlich eines der großen Themen seines Werkes über den Gesellschaftsvertrag. Der Weltbürger wird von Wieland als der Mensch in seinen natürlichen Rechten begriffen (vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 179 f); insofern korrespondiert seine Unterscheidung zwischen Staatsund Weltbürger mit der von Mendelssohn getroffenen zwischen Bürger und Mensch, die im ausgehenden 18. Jahrhundert großen Einfluss ausübte (vgl. Mendelssohn, 1971 ff, Bd. 6, 1, S. 116 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

als Bürger irgend eines einzelnen Staates, oder als ein Weltbürger leben will. (Wieland, Werke, IV, 13, S. 111 f)

Mit der Auffassung, dass bei Missbrauch der Staatsgewalt die Bürger das Recht auf Kündigung des Gesellschaftsvertrages haben, korrespondiert die Auffassung Aristipps, wonach dem Menschen vor dem Bürger der Vorrang gebührt und „der Einzelne [...] nicht mehr eingeschränkt werden [darf], als es der letzte Zweck des Staates, mit Rücksicht auf die äußeren Umstände, unumgänglich nöthig macht“ (Wieland, Werke, XI 36, S. 180): Der Mensch ist also nicht, wie man gemeiniglich zu glauben scheint, dem Bürger, sondern der Bürger dem Menschen untergeordnet. Hingegen steht die Pflicht des Bürgers gegen den Staat, und des Staates gegen den Bürger in genauem Gleichgewicht. (Wieland, Werke, XI, 33, S. 205)

An dieser Stelle kommt ein Staatskonzept zum Ausdruck, wonach das Wohl des Einzelnen Priorität vor dem Allgemeinwohl genieße bzw. letzteres sich über das Wohl des Einzelnen allererst definiere und entsprechend „der Staat [..] um des Bürgers willen da [sei], nicht der Bürger um des Staats willen“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 179). In der Konsequenz dessen liegt das von Aristipp entschieden gegen Platon verfochtene Widerstandsrecht des Einzelnen: Gegenüber einem ungerechten Staat besitzt der Mensch qua Weltbürger das Recht auf Kündigung des Gesellschaftsvertrages. Dennoch kann für den Erzähler des Agathon von jedem Menschen die „Teilnehmung an der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft“ eingefordert werden, da ohne eine solche „die anmaßliche Welt-Bürgerschaft gewisser Leute bloße Großsprecherei oder höchstens eine Art von Don-Quischotterie ist“ (Wieland, A, S. 549). Gemäß diesem Postulat sieht man Agathon als Staatsmann um eine Besserung der politischen Lage bemüht. Selbst im Belphegor sieht man die Protagonisten nicht nur auf etwas lächerliche Weise afrikanische „Negerfürsten“ mimen, sondern auch in ernsthafterer Form politische Projekte realisieren. Entsprechend zieht die Titelfigur am Ende des Romans in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (vgl. Wezel, B, II, S. 309 f). Die Forderung nach politischer Freiheit war freilich im 18. Jahrhundert eine Utopie. Vollends auf utopisches Gebiet begeben sich die literarischen Spätaufklärer mit dem Versuch, das realistische, auf den Egoismus rekurrierende Staatsmodell durch ein idealistisches Konzept zu ergänzen, wonach der Staat auf einer sittlichen Grundlage beruhe. Wie sich insbesondere im Goldenen Spiegel und im Aristipp Wielands, aber auch in der Erzählung Die Schule der Maohi von Wezel zeigt, sollte sich ein Staat gerade deshalb nicht auf Gesetze, sondern auf Sitten gründen, weil nur so die Stabilität des Staates gesichert werden könne, insofern ein gesellschaftlicher Zusammenschluss erst dann, wenn er auf individuellen Überzeugungen und nicht auf bloßen Konventionen beruht, eine dauerhafte Grundlage besitze.20 20

Auch hier wird der Einfluss Shaftesburys auf die Spätaufklärung deutlich: Für Shaftesbury ist die kosmische Harmonie Grundlage des Allgemeinwohls (i.S. einer Harmonie des sozialen Zusammenlebens), denn in beiden Fällen sind alle Kräfte auf Erhalt des Ganzen gerichtet. Nun besitzt der

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Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Gegensatz von Ideal und Realität orientieren sich die Spätaufklärer an den Materialisten. Während Hobbes von der Notwendigkeit einer vollständigen Delegation der Macht an den Staat aufgrund der prinzipiellen Deckungsungleichheit von Privat- und Allgemeininteresse überzeugt ist, streben die Materialisten zum Erhalt der Gesellschaft eine unablässige Aufklärung der Menschen über ihre wahren Interessen an, in denen Privat- und Allgemeininteresse miteinander versöhnt sind: Alle Menschen streben nur nach ihrem Glück, und niemand kann sie von diesem Streben abhalten. Es wäre sinnlos dies zu versuchen und gefährlich, wenn es gelänge. Folglich kann man die Menschen nur dadurch tugendhaft machen, daß man das persönliche Interesse an das allgemeine knüpft. Legt man dieses Prinzip zu Grunde, so ist evident, daß die Sittenlehre nur dann eine nichtige Lehre ist, wenn man sie nicht mit Politik und Gesetzgebung verknüpft. Daraus ziehe ich die Schlußfolgerung: Wenn sich die Philosophen der ganzen Welt nützlich erweisen wollen, müssen sie die Gegenstände von dem Standpunkt betrachten, von dem sie der 21 Gesetzgeber betrachtet.

Eine solche Aufklärung ist ihrer Meinung nach oberste Aufgabe der Erziehung, welche zwar vom Gesetzgeber organisiert werden muss, im Grunde aber die Gesetzgebung überflüssig machen soll. In Orientierung an dieser Position lässt Wezel in der satirischen Erzählung Die Erziehung der Moahi das großangelegte Projekt zweier Staatsreformer in einer „Pflanzschule für Lehrer“ (Wezel, SE 1, S. 209) gipfeln; und wenn die Reform am Ende auch scheitert, so zeigt sich daran doch deutlich, für wie wesentlich die Spätaufklärer die Erziehung gehalten haben.22 Dies gilt noch mehr für Wieland, der in dem Versuch, den Staat durch Erziehung auf eine sittliche Grundlage zu stellen, mit der Regierung Tifans im Goldenen Spiegel ein Alternativmodell vorgestellt hat.23 Da „ein Volk, das durch Sitten regiert wird, keine Gesetze vonnöthen“ habe, könne man „nicht ernstlich genug daran arbeiten, die Menschen vernünftig und sittig zu machen“ (Wieland, Werke, IV, 13, S. 195): Der Wohlstand eines Staates, die Glückseligkeit einer Nazion hängt schlechterdings von der Güte der Sitten ab. [...] Die Erziehung allein ist die wahre Schöpferin der Sitten; [...]. Die Erziehung [...] ist die erste, die wichtigste, die wesentlichste Angelegenheit des Staates, die würdigste, die angelegenste Sorge des Fürsten! Alles übrige wird ein Spiel, wenn die öffentliche Erziehung die möglichste Stufe ihrer Vollkommenheit erreicht hat. Die Gesetze gehen alsdann 24 von selbst [...]. (Wieland, Werke, II, 7, S. 294 ff)

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Mensch laut Shaftesbury aufgrund seines moral sense und seines Geschmackssinns ein ursprüngliches Verlangen nach harmonischem Zusammenleben. Dieses Verlangen zu fördern ist Ziel und Zweck der Bildung. (vgl. Engbers, 2001, S. 11-18) Helvetius, 1973, S. 182. Vgl. dazu Kondylis, 1981, S. 518 u. 535 sowie Baruzzi, 1973, S. 107. Vgl. Wezel, SE 1, S. 184. Vgl. dazu auch Wipperfürth, 1995, S. 72 f. Vgl. auch Wieland, Werke, XI, 33, S. 356: „Alle bürgerliche Gesellschaften haben den unheilbaren Radikalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die – es größtentheils ebensowenig können. Man kann unsre Regierer nicht oft genug da-

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Der Staat als moralische Anstalt ist in der Perspektive der Spätaufklärer darum immer zugleich eine Erziehungsanstalt. Doch ist dies nur ein Ideal, mit dem man sich, wie die Spätaufklärer sehr wohl wissen, in einen offenen Widerspruch zu den realen Verhältnissen begibt. Das Ideal einer Gründung der Gesellschaft auf Sitten und Moralität25 soll aber die Auffassung von der Gründung des Staates auf einen Vertrag und damit auf den wohlverstandenen Egoismus aller nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Diese Wendung mag vor dem Hintergrund eines pessimistischen Staatsdenkens überraschen – gehörte es doch zu den wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung, Recht und Moral von einander getrennt zu haben.26 Doch die enorme Bedeutung, welche die Spätaufklärer der Erziehung zumaßen, ließ sie die Hoffnung auf eine sittliche Grundlegung des Staatswesens nicht aufgeben. Entsprechend tritt die zentrale Stellung pädagogischer Konzepte im spätaufklärerischen Denken erst auf staatsphilosophischem Gebiet in voller Deutlichkeit hervor.27 Dem Ideal einer Gründung des Staates auf sittlicher Erziehung steht allerdings die skeptische Auffassung Wielands gegenüber, dass die „Trägheit“ i.S. der „Leichtigkeit uns an eine gewisse Lebensweise zu gewöhnen“, als „die einzige Grundlage, worauf dermahlen die Sicherheit der meisten Staaten beruht“ (Wieland, Werke, X, 31, S. 324 f), anzusehen ist. Doch auch die Gewohnheit kann laut Wezel durch Erziehung vermittelt werden: Der Mensch lernt durch Gewohnheit und Übung das Böse; auf dem nämlichen Wege muß er auch das Gute lernen, und wer nicht allmählich hierdurch dazu gleichsam unvermerkt gezwungen wird, den zwingt kein Gesez dazu. Die Erziehung muß Gesetze entbehrlich machen – so weit dies angeht. (Wezel, SE 1, S. 185 f)

In dem Bewusstsein, dass Gesetze „nicht die Quellen, sondern Resultate des allen Menschen natürlichen Gefühls von Recht und Unrecht“ sind (Wieland, Werke, XI, 36, S. 83), zeigt sich die Überzeugung der Spätaufklärer, dass der Mensch von Natur aus moralisch ist. Demnach beruht das positive Recht auf der Moralität des Menschen. Daher lässt sich sagen, dass hinter dem Ideal einer sittlichen Grundlegung des Staates die Position der Moral-sense-Ethik steht. So kehrt auf staatstheoretischem Gebiet der innerhalb der Moralphilosophie des pragmatischen Paradigmas aufgetretene Gegensatz zwischen ethischem Egoismus und der Überzeugung von der natürlichen Moralität wieder. Auch hier gerät die Position der Spätaufklärer in die ihr eigentümliche Ambivalenz.

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ran erinnern, daß bürgerliche Gesetze ein sehr unvollkommenes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft ist, die in jedem Menschen regieren sollte.“ Hegels Unterscheidung zwischen (subjektiver) Moralität und (objektiver) Sittlichkeit und seine Gründung des Staats auf letztere wird im spätaufklärerischen Staatsdenken noch nicht getroffen. Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Pufendorf und wird insbesondere von Thomasius systematisch begründet; sie spielt aber auch bei Kant und nahezu allen seinen Nachfolgern eine zentrale Rolle. Dabei sind jedoch Aufklärung und Erziehung bei Wieland sozial, berufsständisch und geschlechtlich differenziert, woraus sich auch der Begriff einer spezifischen Volksaufklärung ergibt (vgl. dazu Albrecht, 1997, S. 32).

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Dies wird deutlich, wenn man betrachtet, auf welche Weise im Aristipp das Ziel der sittlichen Erziehung bestimmt wird. Sie soll, so Aristipp in seiner Platonkritik, die Einsicht vermitteln, dass „jede Beleidigung eines Menschen [..] ein Übel für das ganze Menschengeschlecht, und also auch (ungeachtet des augenblicklichen Vortheils, den der Beleidiger daraus ziehen mag) ein wahres Übel für diesen selbst [sei], indem er dadurch alle andere Menschen reitzt und berechtigt, sich auch gegen ihn herauszunehmen, was er sich gegen einen von ihnen erlaubte“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 85).28 Im Hintergrund einer solchen Betrachtung des Unrechts steht also eine Generalisierungsmaxime, die sich auf die goldene Regel zurückführen lässt. Diese Regel, auf die nach Überzeugung Aristipps jeder Gesellschaftsvertrag beruht, ist aber im Grunde die Maxime des wohlverstandenen Egoismus. Man kann darin das Bemühen erkennen, die Ansprüche sowohl des auf der Egoismustheorie beruhenden Kontraktualismus als auch der von der natürlichen Moralität ausgehenden Betrachtung des Staates als einer sittlichen Erziehungsanstalt zu vermitteln. In den Augen Wielands besitzt darüber hinaus die Religion eine zentrale Bedeutung für den Erhalt des Staates. Dies wird besonders im Agathodämon sichtbar, wobei nach Auffassung des Titelhelden sogar Aberglauben und religiöse Täuschungen zur Beförderung des Allgemeinwohls eingesetzt werden dürfen.29 Doch selbst Aristipp streicht die Notwendigkeit der Religion für den sozialen Zusammenhalt heraus.30 So erscheint die Religion als „wichtigste Stütze der Erziehung zur Tugend, Pflichterfüllung und Humanität“31, damit aber ist – neben den „gute[n] Sitten“ selbst – „eine Religion, welche die Sitten unterstützt [...] die wesentlichste Angelegenheit eines Staates“ (Wieland, AA XIV, S. 370). Ein Staat lässt sich nach Überzeugung der Wielandschen Reflexionsfigur Danischmend jedoch nur dann auf eine sittliche Grundlage stellen, wenn er von überschaubarer Größe ist: Eine sehr kleine und von der übrigen Welt abgeschnittne Gesellschaft erhält sich ohne Mühe bey der angebornen Einfalt und Güte der Natur. Hingegen ist es eine schlechterdings unmögliche Sache, daß etliche Millionen, welche zusammen in Einem Staate von mäßiger Größe, oder etliche hundert tausend, welche in Einer Stadt zusammen gedrängt leben, einander nicht in ziemlich kurzer Zeit sehr verderben sollten, wofern der Gesetzgeber nicht ganz besondere Sorge getragen hat, dem Übel des Zusammenstoßes der Interessen, und dem noch größeren Übel der sittlichen Ansteckung durch weise Einrichtungen zuvor zu kommen. (Wieland, Wer32 ke, II, 7, S. 147)

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In diesem Sinne bestimmt Aristipp die Gerechtigkeit als die Bereitschaft, „[j]edem das Seinige [...] zu lassen (Wieland, Werke, XI, 36, S. 86). Vgl. die dortige Geschichte um den milchweißen Stein (Wieland, Werke, X, 32, S. 113-130). Vgl. z.B. Wieland, Werke, XI, 36, S. 75 ff. Albrecht, 1997, S. 39. Man könnte also sagen, dass die literarischen Spätaufklärer die Existenz altruistischer und sozialer Neigungen zwar betonen und auf ihrer Basis das Ideal einer sittlichen Grundlegung des Staates formulieren, dass sie diese aber als ein zu schwaches Fundament für den Erhalt größerer Staaten

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Entsprechend vermögen im Goldenen Spiegel allein die in patriarchalischen Kleinfamilien organisierten „Kinder der Natur“ auf hohem moralischen Niveau zu leben, wohingegen im Großreich Schechian der sittliche Verfall eintritt, sobald Tifan die Macht seinen Söhnen überlässt. Dennoch will Wieland die Hoffnung auf Realisierung dieses Ideals nicht aufgeben und erwartet eine Verbesserung des Menschen von einer besseren Staatsverfassung.33 Die Gefahr der Größe für die sittliche Qualität eines Staatsgebildes wird noch entschiedener in Wezels Belphegor betont: Wir haben diesen Platz angebauet, bepflanzt, wir haben uns in kleine Gesellschaften getheilt; wir haben glücklich, ruhig und im Frieden zusammen gelebt, weil wir klein an Anzahl und unsre Nahrung hinreichend war: aber fürchterliche Aussicht, wenn dieser kleine Trupp zu einer Größe anwachsen sollte, die den Eigennutz anfachen und die schöne Ruhe dieses Winkels in eine kriegerische Scene verwandeln würde! Aber vielleicht sehe ich noch selbst den Tod diesen ganzen Schauplatz leer machen, und dann möge ein andrer tugendhafter Trupp ihn finden und bewohnen, aber nie zu einem Volke werden! (Wezel, B, II, S. 100)

Nur in einem überschaubaren Staatsverband besteht die Hoffnung, dass durch Erziehung die Bürger zu moralisch integren Staatsträgern werden. Wie aber diese Versittlichung mit Hilfe der Erziehung zu bewerkstelligen ist, darum kreist das Staatsdenken der Spätaufklärer. Sie sehen vor allem in zwei Projekten die Möglichkeit einer Umwandlung des staatlichen Zwangsverbandes in einen durch Erziehung begründeten sittlichen Verein. Zum einen erhoffen sie sich von der Kontrolle der Staatsgeschäfte durch die öffentliche Meinung, die Wieland für „ein furchtbares Gericht“ (Wieland, Werke, X, 31, S. 48) hält, eine Aufklärung über die wahren Interessen der Bürger. In Orientierung am Kantischen Prinzip der Publizität34, wodurch die „Umfunktionierung der [...] literarischen Öffentlichkeit“ zu einer nun auch politischen vollbracht werden soll35, soll der öffentliche Gebrauch der Vernunft die Versöhnung von Allgemein- und Privatinteresse ohne den Zwang von Gesetzen befördern und schließlich, wie es bei Wezel heißt, in „eine Republik [führen], wo jedes Mitglied das Recht hat, sich über die geringste Unordnung und Verletzung der Gesetze zu beschweren, jedes das Recht hat, Vorschläge zur Besserung zu thun“ (Wezel, SE 3, S. 75). Allerdings formuliert Wieland in diesem Zusammenhang einen verständlichen Zweifel: Was man für die öffentliche Meinung ausgiebt, ist immer die Meinung und der Wunsch einer kleinen Anzahl von Köpfen, denen daran gelegen ist, das Volk zum Werkzeug ihrer Absichten

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und Gesellschaften ansehen – zu diesem Zwecke bedarf es vielmehr der stabileren Grundlage des wohlverstandenen Egoismus aller. Vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 172 f. Das Prinzip lautet bei Kant: „Alle auf das Recht der Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität vertragen, sind unrecht.“ (Kant, 1974, Bd. 11, S. 246). Dieses Prinzip dient bei Kant zur Vermittlung von Politik und Moral, wobei er im Ewigen Frieden zwei Postulate formuliert – nämlich dass die bürgerliche Verfassung jedes Staates republikanisch und das Verhältnis der Staaten untereinander pazifistisch sein möge. Vgl. Habermas, 1996, S. 116; s. a. ebd., S. 118 f.

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zu machen, und die daher ihr möglichstes thun, das Feuer das sie anblasen, allgemein zu machen. (Wieland, Werke, X, 31, S. 308)

Wie Kant36 hält es daher auch Wieland für unumgänglich, das Prinzip der Publizität einzuschränken. So heißt es in seiner Vorrede zum Teutschen Merkur von 1773: Die gelehrte Republik in Deutschland hat seit einiger Zeit die Gestalt einer in Tumult entstandnen Demokratie gewonnen, worinn ein jeder, den der Kitzel sticht, oder der sonst nichts zu thun weiß, sich zum Redner aufwirft, wohl oder übel über die Angelegenheiten des Staats spricht, und, wenn es nicht durch Verdienste geschehn kann, durch Ränke, Cabalen und 37 verwegne Streiche, sich wichtig zu machen sucht.

Dennoch steht für Wielands Danischmend fest, dass es zu verheerenden Folgen führt, „wenn diese Freyheit [des öffentlichen Vernunftgebrauchs] durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird“: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen [...]. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werden? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? (Wieland, Werke, II, 6, S. 258 f)

Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Durchsetzung des Publizitätsprinzips im 18. Jahrhundert verbunden sind, gewinnt die zweite Alternative einer erzieherischen Einwirkung auf das Staatswesen an Attraktivität, nämlich das Projekt der Fürstenerziehung. Im Hintergrund dieses Vorhabens steht gerade bei Wieland die Präferenz für die Regierungsform der Monarchie38, die er trotz aller Bedenken für die beste hält. So lässt er Aristipp feststellen: Ich wollte weiter nichts damit sagen, als daß unumschränkte Gewalt immer mit der Gefahr des Mißbrauchs verbunden ist, sie mag nun in den Händen eines einzigen, oder eines Senats, oder eines ganzen Volkes sein. [...] Aber es ist immer zu vermuthen, daß ein einzelner Regent die Macht, alles zu thun was er will, weniger, seltner und leidlicher mißbrauchen werde, als ein so vielköpfiges Ungeheuer von vielen Tausenden, an Verstand, Erziehung, Einsicht, Erfahrenheit, Vermögen, u.s.w. so sehr ungleichen und von den verschiedensten Triebfedern in Bewegung 39 gesetzten Menschen. (Wieland, Werke, XI, 33, S. 319 f) 36 37

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In seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung? In: Der Teutsche Merkur, Bd. 1/1, S. XII. In der Kritik am Konzept der Gelehrtenrepublik als eines „Staats im Staat“ artikuliert sich bereits Skepsis am Aufklärungsauftrag der Intellektuellen (vgl. Pott, 2001, S. 224). Es ist aber zu bedenken, dass für Wieland die Herrschaft der Vernunft „die reinste und vollkommenste Monarchie“ ist (vgl. Wieland, Werke, X, 31, S. 14). Vgl. auch Wieland, Werke, VIII, 25, S. 215 ff u. II, 7, S. 217. Allerdings hält auch Wieland – seinem Skeptizismus gemäß – die Frage nach der besten Regierungsart für nicht entscheidbar, lässt er doch Aristipp sagen: „Jede Regierungsart hat ihre eigene Vorzüge und Gebrechen; wiegt man sie gehörig gegen einander, so gleichen sich, wechselweise, diese durch jene und jene durch diese aus, und was übrig bleibt, ist so unendlich wenig, daß es die Mühe nicht verlohnt, darum zu hadern.“ (Wieland, Werke, XI, 33, S. 323) Aristipp setzt sich in seiner Kritik der Politeia ausführlich mit

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Entsprechend dieser Orientierung am einzelnen Herrscher erhält das staatsphilosophische Denken der Spätaufklärer eine individualistische Prägung, da die Verfassung des Staates nunmehr von der moralischen Qualität des Monarchen abhängt und dessen Erziehung zur entscheidenden Aufgabe der Aufklärung wird.40 Die Bildung des Herrschers folgt dabei demselben Ideal der seelischen Gesundheit als eines Gleichgewichts von Herz und Kopf wie die der normalen Bürger. In der Tradition Platons wird eine Verbindung von Staat und Individuum hergestellt, die in dem psychischen Gleichgewicht des Herrschers die Garantie für die sittliche Qualität des Staatswesens findet. Indem sich der philosophische Roman der Spätaufklärung des Themas der Fürstenerziehung annimmt, stellt er sich in die Tradition des frühaufklärerischen Staatsromans, um dieses Genre allerdings radikal umzuformen. So erscheint – als die „literarische Offensive der Aufklärung [...] in die Sphäre der Politik“41 – den Spätaufklärern der Staatsroman als die geeignete Diskursform für ihr an der aufgeklärten Monarchie orientiertes Staatsdenken. Nicht nur der Goldene Spiegel Wielands oder die demselben Strukturprinzip einer dialogisierten Belehrung des Fürsten folgenden Romane Reisen vor der Sündfluth und Faust der Morgenländer von Klinger sind hier zu nennen, sondern auch die Entwicklungsromane Herrmann und Ulrike, Agathon und die Geschichte eines Teutschen. In all diesen Romanen geht es um die Bildung politisch tätiger Protagonisten. Allerdings zeigt sich im Falle des Goldenen Spiegels sowohl darin, dass der Sultan Schach-Gebal bei allen moral- und staatsphilosophischen Gesprächsthemen einzuschlafen pflegt, als auch in dem Umstand, dass der negativen historischen Analyse in der Haupthandlung kein positiver geschichtlicher Gegenentwurf in der Rahmenhandlung entgegengestellt wird42, die Tatsache, dass die literarische Spätaufklärung dem skeptischen Diskurs die Treue hält. Angesichts des Ideals einer sittlichen Grundlegung des Staatswesens und der Betonung der Rolle der Erziehung sollte man erwarten, dass die Spätaufklärer Rousseaus Konzept des Naturzustandes mit Zustimmung rezipiert hätten, insofern sich sowohl die Vorstellung vom bon sauvage als auch das Modell des Staates als einer moralischen Erziehungsanstalt gleichermaßen auf der Überzeugung von der natürlichen Moralität

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der Platonischen (und auch Aristotelischen) Lehre von den Staatsformen und den entsprechenden Dekadenztheorien auseinander, ohne aber zu endgültigen Ergebnissen zu kommen (vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 234 ff). Auch im Goldenen Spiegel wird das Problem der besten Staatsverfassung intensiv diskutiert, wobei Danischmend darauf hinweist, dass eine sittliche Grundlage des Staates, wie sie in einer Monarchie vorliegt, aufgrund der Bindung an einen Herrscher auch einer größeren Gefahr des Verfalls ausgesetzt ist (vgl. Wieland, Werke, II, 6, S. 258 ff). Auf Wielands Präferenz für die Monarchie weist Müller, 1971, S. 128 f hin. Auch Fohrmann erkennt dieses Junktim zwischen Subjekt und Staatsverfassung: „Der ideale Staat ist nicht so sehr eine strukturelle Organisationsleistung. Es geht weniger um den Staat als um den idealen Menschen.“ (Fohrmann, 1982, Bd. 3, S. 30 ff) Schings, Hans-Jürgen: „Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung“, in: Koopmann (Hrsg.), 1983, S. 152. Vgl. hierzu Segeberg, 1974, S. 156 ff.

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gründen und damit genau jene Naturalisierungstendenz zeigen, die das pragmatische Paradigma insgesamt auszeichnet. Wenn man bei ihnen hingegen Kritik an Rousseaus Denken formuliert fände, so sollte man wiederum gewärtigen, dass sie sich auf den zweiten Argumentationsstrang innerhalb des staatsphilosophischen Denkens der Spätaufklärung beriefen – also auf die ihres Erachtens realistische Beschreibung von Staat und Gesellschaft als auf einem Vertrag und also auf dem wohlverstandenen Egoismus aller beruhend. Es mag überraschen, dass sich die Verhältnisse wesentlich komplexer gestalten. Zumindest für den Fall Wielands ist festzustellen, dass er die beiden genannten Optionen nicht wählt: Wieland lehnt Rousseaus Konzept des Naturzustandes zwar ab, begründet seine Kritik aber nicht mit einer kontraktualistischen Theorie, sondern damit, dass er Rousseau gerade die Vernachlässigung der sozialen und moralischen Neigungen des Menschen vorwirft. Wenn wir uns aber der Konzeption des Naturzustandes zuwenden, verlassen wir das Gebiet der Staatsphilosophie im engeren Sinne und betreten dasjenige der Geschichtsphilosophie, auf deren Entstehung im 18. Jahrhundert Rousseaus Überlegungen großen Einfluss ausübten. Die Spätaufklärer fanden an diesem Konzept eine beständige Reibungsfläche, wenn sie sich mit Sinn und Unsinn der menschlichen Geschichte auseinander setzten. Zwar weist bereits Rousseau selbst darauf hin, dass der von ihm mit bon sauvages bevölkerte Naturzustand „nicht mehr zu finden, vielleicht niemals dagewesen ist, und künftig auch, allem Ansehen nach, nie vorkommen wird“43, sodass Mähl Recht zu geben ist, wenn er den Naturzustand als „transzendentales Apriori der Geschichtsbetrachtung“44 ohne faktischen Beschreibungsgehalt bezeichnet. Doch wie immer Rousseau sein Konzept verstanden wissen wollte – und dass es bei ihm in seiner Funktion zumindest ambivalent ist, kann als unstrittig gelten –, mit Sicherheit kann behauptet werden, dass es im 18. Jahrhundert vor allem als Beschreibung des historischen Ursprungszustandes, also als „vérité historique“ und nicht als „raisonnement hypothétique et conditionel“ rezipiert worden ist und entsprechend seinen Einfluss vornehmlich auf dem Feld der Geschichtsphilosophie ausgeübt hat. Darin nämlich, dass der Naturzustand als dem Zustand der Zivilisation vorhergehend vorgestellt wird, zeigt sich jene Tendenz zur Verzeitlichung der Utopie, durch die man die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts charakterisieren kann.45 Hierbei findet sich sowohl eine (durch Rousseau vertretene) optimistische als auch eine (mit dem Namen 43 44 45

Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 182. Vgl. Mähl, 1982, S. 66. Bereits Hume verweist auf die Verwandtschaft zwischen der „poetical fiction of the golden age“ und der „philosophical fiction of the state of nature“ (in der pessimistischen Variante) und betont damit den utopischen Charakter dieser Vorstellung: „This poetical fiction of the golden age, is in some respects, of a piece with the philosophical fiction of the state of nature; only that the former is represented as the most charming and peaceable condition, which can possibly be imagined; whereas the latter is painted out as a state of mutual war and violence, attended with the most extreme necessity.“ (Hume, 1913b, S. 21 f)

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Hobbes verbundene) pessimistische Variante des Naturbegriffs.46 Das Konzept des Naturzustandes ermöglicht zwar in beiden Varianten die Entstehung der Geschichtsphilosophie, insofern vom Naturzustand der Zivilisationsprozess utopisch oder antiutopisch in die Zukunft verlängert und die menschliche Geschichte als Verfall oder Fortschritt gedeutet werden kann; doch erst die Überlegungen Rousseaus haben diesen geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozess wirkungsmächtig werden lassen. Trotz seiner enthusiastischen Beschreibung des unverdorbenen Naturzustandes war jedoch auch Rousseau, indem er das „Postulat der totalen Vollstreckung des im Kulturprozeß wirksamen Gesetzes“ formulierte, von der „Nichtumkehrbarkeit der Geschichte“ überzeugt.47 Vor dem Hintergrund eines positiv gewerteten Naturzustandes wurde die Geschichte aber zu einem gewaltigen Verfallsprozess, in welchem die Kultur dem Menschen mehr Nach- als Vorteile gebracht habe.48 Das Übel wird in diesem Geschichtsbild zu einem gesellschaftlichen Ereignis, der von Natur aus gute Mensch hingegen von einer etwaigen Schuld weitgehend entlastet. Diese Auffassung scheint in den Augen Klingers eine derartige Überzeugungskraft zu besitzen, dass er selbst den Teufel als einen Rousseau-Anhänger argumentieren lässt: Du hast die Maske der Gesellschaft für seine natürliche Bildung genommen, und nur den Menschen kennen gelernt, den seine Lage, sein Stand, Reichthum seine Macht und seine Wissenschaften, der Verderbniß geweiht haben, der seine Natur an eurem Götzen, dem Wahn, zerschlagen hat. (Klinger, Faust, S. 210)

Und auch Mahal, der Protagonist in den Reisen vor der Sündfluth, erblickt im Wissen die „Quelle der Verderbniß“ (Klinger, Werke, 6, S. 297).49 Da das Erkenntnisstreben

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Hier wird also, nach der Unterscheidung Spaemanns, der dritte Geltungsbereich des Naturbegriffs betreten (vgl. Kap. 2.1.1). 47 Vgl. Blumenberg, 1966, S. 488. 48 Am Anfang des von Rousseau als verheerend beschriebenen Zivilisationsprozesses steht die Einführung des Eigentums: „Der erste, welcher ein Stück Landes umzäumte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört.‘“ Hierbei handelt es sich um einen Gewaltakt, der erst durch Bearbeitung in eine rechtmäßige Handlung umgewandelt wird: „Was konnte der Mensch anders tun, um sich das Eigentum über ein Ding anzumaßen, das er nicht gemacht hat, als daran zu arbeiten? Die Arbeit gab dem Ackersmann ein Recht auf die Früchte eines Feldstücks, das er bestellt hat, und folglich, wenigstens bis zur Ernte, auch auf den Grund selbst, und ununterbrochener Besitz von Jahr zu Jahr verwandelte sich in ein Eigentum.“ (Rousseau, 1978, Bd. 1, S. 230 u. 241) 49 Vgl. dazu auch Klinger, Werke, 10, S. 172: „[Aber] kaum bevölkerte sich die Erde, als jeder von uns nach seinen Kräften und seiner Bestimmung an der Erleuchtung, Aufklärung und Humanität ihrer Bewohner arbeitete. Wie weit wir sie gebracht haben, beweist die allgemeine, Alle ersäufende Sündfluth, die aber, wie es scheint, zu weiter nichts diente, als die Erde einmal richtig

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jedoch in der Natur des Menschen angelegt sei, erscheint auch bei Klinger die Kulturentwicklung als gänzlich unvermeidlich. Entsprechend interessieren ihn weniger der Naturzustand selbst als vielmehr die Übergangs- und Konfliktsituationen zwischen Natur- und Kulturzustand, wie sich beispielsweise an der Geschichte der Sultanate der Denklinge, Schönlinge und Mullahs50 zeigt oder an dem Konkurrenzverhältnis zwischen den Nachkommen Seths, die in Einfalt und Unschuld ihr naturnahes Leben im Gebirge führen51, und den Nachkommen Kains, die unterdessen in den „blühenden Thäler[n]“ mit ihren „reichen Felder[n]“, „duftenden, schattigten Gärten“ und glänzenden Städten den Zivilisationsprozess vorantreiben52. Weitaus weniger von diesem Geschichtsmodell überzeugt zeigen sich hingegen Wieland und Wezel. Sie üben an ihm eine so vehemente Kritik, dass sie sich zuweilen des Arguments als überflüssigen Aufwands entledigen. In Wezels Belphegor erscheinen die „unverdorbnen Kinder der Natur“ nur deswegen als „sehr religiöse Leute“, weil sie es für „höchstsündlich [halten], einen Menschen zu essen, ohne ihn vorher den Göttern geopfert zu haben“ (Wezel, B, II, S. 212): der bon sauvage ist ein Kannibale. Der Naturzustand ist, wie gesagt, nur eine weniger differenzierte Form des Krieges aller gegen alle, sodass in Fromals „Geschichte der Erde im Kleinen“ „unsre Kultur nichts als eine veränderte gemilderte Form [des Naturkrieges] ist“ (Wezel, B, I, S. 216)53: Lange Zeit waren den Sterblichen Weiber, Felder, Hütten, Berge, Thäler, Gewalt, Herrschaft gut genug, sich deswegen die Kehle abzuschneiden: sie zankten sich um ein grobes Etwas, doch izt prügelten sie sich um ein feines Nichts, um eine Idee, um – die Ehre. War das nicht eine Verfeinerung, eine Erhebung ihrer Kräfte? – sie konnten sich izt schon umbringen, ohne etwas anders dabey zur Absicht zu haben, als die Ehre – sich umgebracht zu haben. (Wezel, B, I, S. 196 f)

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durchzuwässern, und auf lange Zeit schmutzig zu machen. Kaum war sie abgetrocknet, kaum wieder ein wenig mit Menschen angefüllt, so trieben wir unser voriges Spiel.“ Die Mullahs kommen dem Rousseauschen bon sauvage noch am nächsten; dabei werden sie zwar als „besser als die andern“ bezeichnet, dennoch sind sie „ein wildes ungesittetes Volk“, das „wie die Thiere des Waldes und die Pflanzen der Erde“ (Klinger, Werke, 6, S. 329) lebt – „ein dummes, gesundes, glückliches, starkes Volk“ (ebd., S. 277). Vgl. dazu auch Müller, 1992, S. 158 ff, der auf den Zusammenhang mit Schillers geschichtsphilosophischen Überlegungen hinweist. Vgl. Klinger, Werke, 6, S. 21: „Seths Nachkommen wohnten auf dem alten Gebirge, verblieben Gott getreu, lebten in Einfalt und Unschuld, nährten sich von den Früchten der Erde und von der Milch ihrer Heerden. [...] Unter ihnen waren weder Weise, Künstler, Richter noch Sultane, jeder sorgte nur für das Nöthigste, keiner vernünftelte über sein Daseyn, und jeder war sich selbst Richter und Sultan, weil jeder in dem reinen Menschensinn wandelte, den auch wir zu Zeiten ahnen, wenn wir [...] nach dem unschuldigen Glücke der Beschränktheit seufzen.“ Vgl. Klinger, Werke, 6, S. 22 f. Wie bei Rousseau beginnt auch bei Klingers Kain-Nachfahren der Zivilisationsprozess mit der Einführung des Eigentums. Kremer spricht von einer „Verlagerung des Kampfes [...] in psychische Binnenräume“ (Kremer, 1982, S. 117). Denselben Befund stellt Segeberg, 1974, S. 155 bei Klinger fest; dem lässt sich aber nur bedingt zustimmen.

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So korrespondiert in Wezels Belphegor die anthropologische Bestimmung des Menschen als eines Raubtiers mit der geschichtsphilosophischen These vom Kampf aller gegen alle, wobei die Vorstellung von der natürlichen Güte nur mehr noch als weltfremde Illusion erscheint: So lange ein Mann, dem die Natur gleich viel Feuer in die Einbildungskraft und in die Empfindung gelegt hat, die Erfahrungen zu seinen Begriffen blos aus seinem guten Herzen und dem kleinen Zirkel simpathisirender Freunde hernimmt, so lange wird er sich mit schönen Illusionen hintergehen, der Mensch wird ihm ein Geschöpf höherer Ordnung, geschmückt mit den auserlesensten moralischen Vollkommheiten, und die Welt der reizende Aufenthalt der Harmonie, der Zufriedenheit, der Glückseligkeit seyn. Man stoße ihn aus seiner idealen Welt in die wirkliche; man lasse ihn die vergangnen Zeiten, die Geschichte der Menschheit und der Völker durchwandern; man werfe ihn in den Wirbel des Eigennutzes, des Neides und der Unterdrückung, in welchem seine Zeitgenossen herumgetrieben werden: wie wird sich die ganze Scene in seinem Kopfe verwandeln! – die blumichten Thäler und lachenden Auen, voll friedsamer freundlicher Geschöpfe, die ihr Leben in gutherziger Eintracht dahintanzen, werden zurückfahren, und statt ihrer Wälder und Gebirge mit zusammengerotteten auflauernden Haufen hervorspringen, worunter jeder des andern Feind ist und nur durch Besorgniß für sein Interesse abgehalten wird, es öffentlich zu seyn, wo jeder Auftritt das Theater mit Blute besudelt, in jedem eine Grausamkeit begangen wird: – das wird ihm izt die Welt, und der Mensch ein listiger oder gewaltthätiger Räuber seyn, der auf sein Ich eingeschränkt, mit verschiedenen Waffen wider die übrigen ficht, keinen irgend worinne über sich dulden, und gern über alle seyn will – 54 eine Maschine des Neides und der Vorzugssucht. (Wezel, B, I, S. III f)

Während sich aber Wezel am Hobbesschen Modell des bellum omnium contra omnes orientiert, ist Wielands Kritik noch grundsätzlicher. Zunächst hält er Rousseau entgegen, dass „die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach von Anfang in Gesellschaft lebten“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 142)55 und dass in Rousseaus Konzept entsprechend die sozialen Neigungen des Menschen vernachlässigt würden; die Vorstellung vom edlen Wilden, der einsam die Wälder durchstreift, um seine einfachen Bedürfnisse zu befriedigen, hält er für eine bloße Schimäre. Sodann weist er wie Klinger darauf hin, dass die Erhaltung der „Einfalt und Güte der Natur [...] eine schlechterdings unmögliche Sache [...] in Einem Staate von mäßiger Größe“ (Wieland, Werke, II, 7, S. 147) und die zivilisatorische Entwicklung also gänzlich unvermeidlich sei. Schließlich wirft Wieland Rousseau vor, mit seinem Konzept des Naturzustands eine petitio principii begangen zu haben, insofern das „Problem, die natürliche Beschaffenheit des Menschen

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Vgl. auch Wezel, B, I, S. 79 f: „Traurig, höchsttraurig! wenn unsre hohe große Idee von dem Menschen mit jedem Tag mehr zusammenschmilzt! und vielleicht zulezt gar nur ein verächtlicher Haufen Unrath übrig bleibt! Wie wohl war mir, Freund, da in der Einsamkeit meine geschäftige Fantasie und mein Herz aus allen moralischen Vollkommenheiten einen Koloß zusammensezten und ihn den Menschen nannten: [...] Ein fantastischer Traum, aber wahrhaftig süß! Wenn ich izt ausgeträumt habe, wenn dies wachen heißt, so habe ich unendlich verloren, daß ich nicht mein ganzes Leben in dem Schooße der Einbildung verschlummerte.“ Vgl. auch Wieland, Werke, V, 14, S. 147.

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durch Erfahrung zu ermitteln unter Bedingungen, die diese natürliche Beschaffenheit längst beseitigt haben“56, unweigerlich in einen Zirkel führe: Ohne Zweifel ist die Erfahrung das kürzeste und sicherste Mittel, hinter das Geheimnis unserer Natur zu kommen [...]. Und welches sind die Mittel, diese Erfahrungen im Schooße der Gesellschaft anzustellen?‘ fragt Rousseau. – Das mögen die Götter wissen! – Denn wenn diese Mittel so gewählt werden müssen, daß wir gewiß seyn können, der Natur die Antwort, welche sie uns geben soll, nicht selbst untergeschoben zu haben, so – müssen wir die menschliche Natur schon sehr genau kennen; und eben weil wir sie gern kennen möchten, sollen diese Versuche angestellt werden. (Wieland, Werke, V, 14, S. 185 f)

Zudem sei es, so Wieland, vollkommen unnötig, den Naturzustand – etwa mit KasparHauser-Experimenten – ermitteln zu wollen, da die menschliche Geschichte bereits seit Jahrtausenden ein umfassendes Experiment mit dem Naturzustand vorgenommen habe und darum die Frage nach ihm in pragmatischer Perspektive völlig sinnlos sei: In ganzem Ernst, es wäre sehr unnöthig, dem größten oder kleinsten Monarchen in Europa die geringste Mühe mit Experimenten zu machen, welche uns wahrlich wenig neues lehren würden. Das große Experiment wird auf diesem ganzen Erdenrunde schon viele tausend Jahre lang gemacht; und die Natur selbst hat sich die Mühe genommen, es zu dirigieren [ ... ]. (Wieland, Werke, V, 14, S. 203)

Wieland ist überzeugt, dass der Zivilisationsprozess – weit entfernt, eine Verfallsgeschichte darzustellen – für die allseitige Ausbildung der menschlichen Kräfte unabdingbar ist: Ohne Vereinigung kleiner Gesellschaften in große, ohne Geselligkeit der Staaten und Nazionen unter einander, ohne die unzähligen Kollisionen der mannigfaltigen Interessen aller dieser größern und kleinern Systeme der Menschen, würden die edelsten Fähigkeiten unsrer Natur ewig im Keim eingewickelt schlummern. (Wieland, Werke, V, 14, S. 283)

Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Wieland die Kultur, da sie notwendig aus unserer Natur folgt, als unsere „andere Natur“ bestimmt.57 Auch Agathon erkennt am Ende, dass die „Kunst“ – hier der stellvertretende Ausdruck für ‚Kultur‘ – „die Hälfte unsrer Natur und der Mensch ohne Kunst das elendeste unter allen Thieren“ (Wieland, Werke, I, 3, S. 422) sei. Von der Forderung nach einer Rückkehr zur Natur hält Wieland überhaupt nichts, eine Verbesserung des Menschen erhofft er sich ausschließlich von einer besseren Staatsverfassung (vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 172 f). Da jedoch Ungleichheit und Unfreiheit für Wieland in der bürgerlichen Ordnung nicht nur unvermeidlich, sondern für den Fortschritt sogar notwendig sind, sieht er in der Zielsetzung der „Sanscullotten“, den Natur- mit dem Kulturzustand zu vereinigen, nur den „Wahnwitz in dem fantastischen Projekt“ (Wieland, Werke, VIII, 25, S.204). Die französische Revolution betrachtete Wieland darum mit größter Skepsis.58 56 57 58

Blumenberg, 1979, S. 417. Vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 56 u. 63 f. Die Erfahrung der französischen Revolution und ihres unseligen Verlaufs unterstützte allerdings zweifellos das anti-utopische und pessimistische Geschichtsbild der Spätaufklärer.

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Doch nicht allein Rousseaus Konzept des Naturzustandes geriet in Verdacht. Vielmehr zogen die literarischen Spätaufklärer die Legitimität aller geschichtsphilosophischen Modelle mit universalistischem Anspruch in Zweifel. In dieser Skepsis gegenüber den Konzepten der Geschichtsphilosophie, ja schon gegenüber der im 18. Jahrhundert sich etablierenden Redeweise von der ‚Universalgeschichte‘, deren Subjekt die Menschheit sei, drückt sich die relativistische und anti-utopistische Grundhaltung der Spätaufklärer aus. Indem die fortschrittsgläubige Geschichtsphilosophie als Verzeitlichungsform des Utopismus aufgefasst wird, verdächtigt man sie der Realitätsferne. Dies zeigt sich an dem Vorwurf, dass es sich dabei nur um eine säkularisierte Form der Theodizee handle, die das Übel in der Welt mit dem Hinweis auf den geschichtlichen Fortschritt bagatellisiere. Ohne diesen Fortschritt schlechthin zu leugnen, beharren die Spätaufklärer auf dem Eigenwert der geschichtlich gewordenen Kulturen. Einer solchen relativistischen Position entspricht in ihren Augen eher ein organizistisches Modell, wonach die einzelnen historischen Phasen den Prozessen des Aufblühens, der Reife, des Alterns und Verfalls und schließlich des Sterbens verglichen werden.59 Allerdings gilt ihnen auch diese Vorstellung nicht als letztgültiges Erklärungsmodell. Vielmehr wird das spätaufklärerische Denken gerade auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie von einer agnostischen Haltung beherrscht, die sich definitiven Aussagen verweigert. Wenn es entsprechend um die Frage geht, was die Geschichte überhaupt in Gang bringt, so erkennen die Spätaufklärer in der historischen Entwicklung nicht das Walten der Vernunft, sondern sehen – gemäß der Lehre vom Primat der Affekte vor der Rationalität – die Leidenschaften als Triebkräfte des Geschichtsprozesses an.60 Dabei charakterisieren sie diese Triebkräfte jedoch als ambivalent, insofern sie gleichermaßen aufbauend wie zerstörend wirken können. Wezel, der in „Zufall, Not, Leidenschaft, Witz die vier Hauptursachen aller Erfindungen“ (Wezel, RK, S. 219) dingfest zu machen meint und ihre Wirkung in seinem Roman Robinson Krusoe verfolgt61, stellt im Belphegor die verheerenden Aspekte der menschlichen Affekte als geschichtlichen Triebkräften dar:

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Ein solches zugleich organizistisches und kulturrelativistisches Modell der Geschichte wurde im 18. Jahrhundert v.a. von Herder vertreten (vgl. dazu Bollacher, 1987, S. 114-124). Allerdings gibt auch Herder den Glauben an den geschichtlichen Fortschritt keineswegs auf: „Ohne diesen letzten Zweck einer Bildung und Förderung der Humanität im Menschen ist das Studium seiner Geschichte von einem sehr untergeordneten, oder gar zweifelhaften Werth.“ (Herder, 1877 ff, Bd. 18, S. 529) Zum Paradigma des Organizismus s.a. Ulrichs, 2006b, S. 256-290. 60 Blumenberg, 1979, S. 415 sieht entsprechend „das ungelöste Hauptproblem der Aufklärung“ in der Kontingenz der Vernunft: „Wenn Vernunft eine Konstante der menschlichen Ausstattung ist, auf die man sich fortan sollte verlassen können, läßt sich nur schwer einsehen, weshalb sie nicht eine Konstante der menschheitlichen Geschichte seit jeher gewesen war.“ 61 So erscheinen in Wezels Robinson Krusoe Faulheit und Bequemlichkeit als die radikalen Übel des Menschengeschlechts und als die größten Hindernisse des geschichtlichen Fortschritts (vgl. etwa Wezel, RK, S. 244).

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Wenn die menschliche Thätigkeit von zwo solchen Federn [= Neid und Vorzugssucht] in Bewegung gesezt wird, so ist allgemeiner Krieg in jedem Verstande eine unvermeidliche Folge: jeder will über den andern, und jeder beneidet den andern, wenn er über ihn ist, es sey, worinne es wolle: dies ist ein unläugbares Faktum seit der ersten Existenz der Menschen.“ (Wezel, B, I, S. 208)

Zugleich aber werten die hier behandelten Autoren die bisher abschätzig betrachteten Leidenschaften zu vitalen Antrieben kulturellen Fortschritts um und zeigen damit, dass sie sich auch auf geschichtsphilosophischem Gebiet am pragmatischen Paradigma orientieren.62 So schreibt Klinger in seinen Betrachtungen: Die Leidenschaften, das Interesse, die Furcht, der Haß, die Rachsucht, die Eitelkeit, welche die Menschen von und gegen einander stoßen, diese bringen die Dinge hervor, die oft in der Ge63 schichte in Bewunderung und Erstaunen setzen. (Klinger, Werke, 11, S. 49)

Obwohl die Spätaufklärer demnach den Menschen in seiner Affektivität als denjenigen ansehen, „der die Geschichte macht“64, stehen sie der Fortschrittsidee skeptisch gegenüber. Einer solchen Säkularisierung der Theodizee, welche die innerweltliche Gerechtigkeit durch historische Sinngebung wiederherzustellen versucht65, können sie ihre Zustimmung ebenso wenig erteilen66 wie der Kantischen Idee, wonach die Höherentwicklung des Menschengeschlechts der Geschichte als eine Naturtendenz aufgetragen wird67. Insbesondere Wezel tendiert zu einer pessimistischen Sicht auf die Geschichte. Dies wird vor allem im Belphegor in drastischer Weise vorgeführt. Hier zeigt die Wendung „Einem Blutbade entgiengen sie, um in ein andres zu gerathen“ (Wezel, B, II, S. 62

Vgl. dazu Cassirer, 1932, S. 47 f. Vgl. auch die Bemerkung Danischmends im Goldenen Spiegel, mit der zugleich der Bogen zur staatsphilosophischen Problematik geschlagen wird: „Ein sehr kleines Volk kann durch Gesinnungen und Sitten in den Schranken der Mäßigung und des Mittelstandes erhalten werden, woran seine Glückseligkeit gebunden ist. Aber ein großes Volk hat Leidenschaften vonnöthen, um in die starke und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden, welche zu seinem politischen Leben erfodert wird. Alles, was der weiseste Gesetzgeber dabey thun kann, ist, den Schaden zu verhüten, welchen das Übermaß oder der unordentliche Lauf dieser Leidenschaften dem ganzen Staate zuziehen könnte.“ (Wieland, Werke, II, 6, S. 140) 64 Vgl. Blumenberg, 1966, S.43: „Die Übertragung des Strukturschemas von ästhetischen, theoretischen, technischen und moralischen Fortschritten auf die Gesamtvorstellung von der einen Geschichte setzt voraus, daß der Mensch sich in dieser Totalität als allein zuständig betrachtet, daß er sich für den hält, der ‚die Geschichte macht‘.“ 65 Zum Grundansatz der Leibnizschen Theodizee mit ihrer Unterscheidung zwischen physischem, moralischem und metaphysischem Übel vgl. Leibniz, 1925, S. 110 f. Auf die mit der Theodizee in einem Begründungszusammenhang stehende Theorie der möglichen Welten werden wir in Kap. 2.1.5 ausführlich zu sprechen kommen. 66 Vgl. etwa Klingers Bemerkung in den Betrachtungen: „Ist die Geschichte eine Satyre auf die Menschen, so seh’ ich noch nicht ein, wie es eine auf das seyn kann, was man Vorsehung nennt. – Die Vorsehung in einem solchen theologischen Sinn in die Geschichte zu mischen, dieses ist Ketzerei, und recht grobe Ketzerei.“ (Klinger, Werke, 11, S. 59) 67 Vgl. dazu Kondylis, 1981, S. 642 sowie Habermas, 1996, S. 188. 63

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

64) die Universalität der pessimistischen Diagnose an. In einer Welt, in der „ein Theil der Menschheit [..] zu Tode gequält [wird], damit der andre sich zu Tode frißt“ (Wezel, B, I, S. 276), erscheint jedes Unternehmen zur Besserung des Menschengeschlechts als sinnlose Projektemacherei.68 Da hilft es auch nichts, dass Belphegor und Akante, um für ihren „Vorsatz, das weibliche Geschlecht in allgemeine Freiheit zu setzen“, in die nötige Begeisterung zu gelangen, „eine große Schachtel mit Opium“ konsumieren: Prügel sind alles, was sie ernten (vgl. Wezel, B, II, S. 152 ff). Wie sowohl an der Universalität der Raumstruktur des Belphegor und der temporalen Ausdehnung des Romanhorizonts als auch an der Negation aller utopischen oder idyllischen Auswege aus der Misere sichtbar wird, erhebt Wezel mit seinem Befund Anspruch auf Universalität: das Grauen erscheint als von gesellschaftlichen Umständen weitgehend unabhängig. Wenn Akante bei der Erzählung ihrer Lebensgeschichte jegliche Rücksicht auf die historische Chronologie fahren lässt und in ihrem Lebensbericht auf atemberaubende Weise Länder und Jahrhunderte durcheilt (vgl. Wezel, B, I, S. 90 ff), so ist dies kein historischer Fehler, sondern nur Kennzeichen des Anspruchs, „eine Geschichte der Erde im kleinen“ (Wezel, B, I, S. 190) darzustellen.69 Folglich wird damit die Glaubwürdigkeit des Erzählunternehmens keineswegs in Frage gestellt, sondern im Gegenteil gerade erhöht. Wie im Faust die gesamte diesseitige Welt als „Hölle“ (Klinger, Faust, S. 149) erscheint, die ihre Bewohner „längst [...] zertrümmert und zum Chaos gemacht“ hätten (ebd., S. 121), wenn sie nur die Macht des Teufels besäßen, so entpresst sie Selmann am Ende seiner Bettlerreise über diesen „Sammelplatz von Tigern“ nur noch den Seufzer: „alles ist leer, alles widrig!“ (Wezel, TK, III, S. 202). Mag es auch die Bestimmung der Menschheit sein, durch Negativität zum Positiven zu gelangen (vgl. Klinger, Werke, 10, S. 174), so wird für Klinger wie für Wezel jede Theodizee – sei sie auch geschichtsphilosophisch begründet – angesichts des Übels in der Welt zu barem Zynismus:

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Das gilt auch für den technischen Fortschritt, wie in einem Gespräch zwischen Belphegor und seinem fortwährend Projekte entwerfenden amerikanischen Freund deutlich wird: „Die Industrie rottet eben so viele Laster aus als sie giebt – / Was ist da gewonnen? – / Was bei jedem Wechsel auf unserem Planeten gewonnen wird – man tauscht ein andres Uebel ein.“ (Wezel, B, II, S. 252) Vgl. hierzu Jaumann, 1994, S. 223 ff. S.a. Wezel, Versuch, S. 320, wo Wezel, diesem Anspruch gemäß, „die wirkliche Welt“ als Gegenstand der Literatur bezeichnet: „In der Dichtkunst ist alles Natur, was der wirklichen Welt, vom Kaiser bis zum niedrigsten Bettler, so ähnlich sieht, als ein gutes Porträt dem Originale: es ist schöner als das wirkliche Gesicht, und doch so ähnlich, daß mans für kein andres erkennt. Ist denn in der richtigen Zeichnung eines unschuldigen Bauermädchens mehr poetische Natur, als in der eben so richtigen Zeichnung eines Petimaitre aus Versailles? Die ganze Sache ist nichts als eine Vermischung desjenigen, was man im gemeinen Leben Natur nennt, mit dem, was in der Poesie Natur ist, und dann deklamirt man, als wenn dieses und jenes eins wäre.“ Dass auch Klinger in seinen Romanen einen ähnlichen Universalitätsanspruch erhebt, zeigt sich z.B. im Genius an dem vereinten Aufstand von Jakobinern, Adel und Klerus gegen die Herrschaft des Teufels in der Hölle (vgl. Klinger, Werke, X, S. 251 ff). Davon dass „die Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen“ (Wieland, A, S. 543) sein soll, war bereits die Rede.

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Ha, Teufel, reiße meine Brust auf und schreibe mit dem kochenden Blut meines Herzens deine schöne Theodicee, die du mir eben vorgesagt, in jene dunkle Wolke. Mag sie ein Philosoph copieren und die Menschen damit narren. (Klinger, Faust, S. 249)

Wie Wezel in seinen Pädagogischen Schriften schreibt, möchte man in Anbetracht der traurigen Faktizität zum „Rebell gegen den Schöpfer“ (Wezel, Versuch, S. 450) werden. Das einzige Geschichtsmodell, das für Wezel diesem düsteren Befund gerecht zu werden scheint, ist eine Beschreibung der Welt als ein „perpetuum mobile, wo Stoß auf Stoß, Wirkung auf Wirkung unausbleiblich folgen, der Gerechte und Ungerechte von einem Steine zerquetscht wird, [...] – kurz, wo aus dem verwirrten streitenden Haufen der Weltkräfte eine Wirkung nach der anderen hervorsteigt, und jede der ihr angewiesnen Regel allein folgt“ (Wezel, B, II, S. 281). Wie Kremer feststellt, handelt es sich bei einem solchen Modell um eine „skeptische Sicht der Geschichte als eines mechanischen, richtungs- und subjektlosen Kräftespiels“, wie sie am deutlichsten im Euphrosinopatorius entwickelt wird.70 Denn auch ein pessimistisches Bild der Geschichte ist in Wezels Augen kein objektiv gültiges. Das zeigt sich nicht bloß daran, dass er bei seinem Vergleich von römischer und deutscher Geschichte allein an letzterer jedweden sinnvollen Plan vermisst. Nur angesichts der deutschen Kleinstaaterei, über die er im Belphegor mit der Beschreibung der afrikanischen Staaten eine so bissige Satire verfasst hat71, also aufgrund historisch kontingenter Verhältnisse verfällt Wezel in Schwermut: Wie armselig ist dagegen der Plan der Teutschen Geschichte! An dem römischen hat das Schicksal mit der Empfindsamkeit eines Meisters, an diesem mit der matten Anstrengung eines erschöpften Genies gearbeitet. [...] Es ist eine Scene voll Tumult, aber leer an Handlung: alle Personen schreyen und toben, strampeln mit Händen und Füßen, Kaiser ziehen nach Italien und aus Italien, ins gelobte Land und aus dem gelobten Lande, Herzoge und Grafen brechen sich und ihren Unterthanen die Hälse; und wenn man fragt, warum und wozu die viele Bewegung, der viele Lärm? – Um nichts und zu nichts! (Wezel, Versuch, S. 296 f)

Wezels Skepsis gegenüber einer pessimistischen Geschichtsschreibung hat ihren Grund aber vor allem in dem Bewusstsein, dass auch sie nur eine subjektive Perspektive ist, die mehr über das Subjekt, das sie einnimmt, als über den Gegenstand selbst aussagt:

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Vgl. Kremer, 1982, S. 110. Kremer bezeichnet den Euphrosinopatorius denn auch als „das dichteste Konzentrat einer mechanischen, nicht-teleologischen Geschichtskonzeption innerhalb der spätaufklärerischen Skepsis“ (ebd., S. 49). Vgl. Wezel, B, I, S. 252-272 u. B, II, S. 5-43: In der Tatsache, dass Medardus, Fromal und Belphegor als Negerfürsten tätig werden, ohne es einen Deut besser zu machen, zeigt sich einmal mehr die Universalität des anthropolgischen Befundes, der die Geschichte bei Wezel zu einem solch langweiligen, abwechslungslosen Schauspiel macht. Als Satire auf die deutsche Kleinstaaterei erscheint auch der Robinson, in dem es heißt: „Des alten Robinsons Plan, daß allmählich eine Stadt auf seiner Insel entstehen sollte, wurde ganz aus den Augen gesetzt, das Band zwischen den Einwohnern zerrissen und der ganze Haufe in so viele kleine Gesellschaften zerstückt, als es Herren gab, und diese Herren lagen in unaufhörlichem Kriege widereinander.“ (Wezel, RK, S. 228)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Wer die Erde zum Garten, zur Heimath der Glückseligkeit macht, ist ein Schwärmer oder ein Unwissender; wer sie als eine Wüste ein Jammerthal schildert, ist ein Milzsüchtiger oder ein 72 Bösewicht. Sie ist ein Mittel zwischen beiden, ein what d’ye call it – (Wezel, B, II, S. 298)

Auch Wieland, den der Belphegor empörte73, lässt den Geschichtspessimismus, der ihm so fremd nicht ist, wie das Bild vom klassischen Aufklärer will74, nicht uneingeschränkt gelten. Wenn die Analyse des alten Kalenders im Danischmend, welche die Geschichte als einen sinnlosen Zirkel erscheinen lässt75, in den Sätzen gipfelt: [D]ie Grimassenmacher, Quacksalber, Gaukler, Taschenspieler, Kuppler, Beutelschneider und Klopffechter theilen sich die Welt; – die Schöpse recken ihre dummen Köpfe hin und lassen sich scheren; – die Narren schneiden Kapriolen und Burzelbäume dazu, – und die Klugen gehen davon und werden – Einsiedler, oder, wenn sie nichts bessers wissen, Kalender. (Wieland, Werke, III, 8, S. 121 f),

dann wird diese im Romangeschehen ohnehin figurengebundene Sichtweise noch dadurch relativiert, dass Danischmend auf sie mit dem Hinweis reagiert, dass dieses „vermeinte Faktum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese“ (Wieland, Werke, III, 8, S. 103) sei.76 Nichtsdestoweniger ist Wielands Einstellung zur Fortschrittsidee ambivalent. Zum einen findet sich bei ihm der Glaube an die unendliche Perfektibilität der Gattung, wonach „nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit, [..] Grenzen gesetzt“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 168 f) sind und „mit jeder Stufe, die wir erstiegen haben, [..] sich höhere zeigen, die noch zu ersteigen sind“ (Wieland, Werke, X, 32, S. 325)77 – ein Glaube, der mit der Überzeugung von der Irreversibilität der Aufklärung korrespondiert78 und ohne den die 72

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78

Vgl. Wezel, Versuch, S. 296: „Ich behaupte dreist, daß, trotz aller Beschwerden, unsre Zeiten nicht so verderbt sind, als man sie ausschreyt, und die Deutschen jetzo besser sind, als jemals. [...] Wenn man aber das Gute, das unsre Vorfahren in jedem einzelnen Zustande hatten, in eine Wagschale legt, und unser Gutes in die andre, so wie das Böse; so glaube ich sicher, daß der Ausschlag der Mehrheit im ersten Falle auf unsrer Seite, und im letztern auf der Seite unsrer Vorfahren seyn wird.“ S.a. Wezel, SE 3, S. 54: „Wozu also die ewigen Klagen über Verderbniß und Sitten? Sie heißen doch weiter nichts, als – gegenwärtig haben nicht alle Menschen meine Denkungsart, meinen Charakter, meine Sitten: was ich herzlich bedaure.“ Vgl. den bereits in Kap. 2.1.3 zitierten Brief Wielands an Wezel vom 22.7.1776. Vgl. dazu Wieland, Werke, II, 6, S. 227, wo er „die Gewißheit“ äußert, „daß nichts so unsinniges und lächerliches erträumt werden kann, welches nicht zu irgend einer Zeit oder auf irgend einem Theile des Erdenrundes von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen für wahr, ernsthaft und ehrwürdig wäre angesehen worden“. Vgl. Wieland, Werke, III, 8, S. 104 f. Vgl. hierzu auch Erhart, 1991, S. 222. Dieser Glaube findet sich auch bei Kant (vgl. Kant, 1983, S. 281 [A 324]). Allerdings bezeichnet Kant das Ziel des menschlichen Fortschritts – die „weltbürgerliche Gesellschaft“ – zugleich als „regulatives Prinzip“, also mitnichten als eine ‚Tendenz der Natur‘ (vgl. ebd., S. 290 [A 331]). Vgl. etwa Wieland, Werke, VIII, 25, S. 250: „Eher wollte ich mich erkühnen dem Herkules eine Keule, als einem Volke, das sich des Gebrauchs seiner Vernunft einmahl bemächtigt hat, diese furchtbarste aller Waffen wieder aus der Hand zu winden.“ Allerdings äußert Wieland zugleich

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

193

gesamte Geschichte als „eine so schale, so burleske, so sinn- und zwecklose tragikomische Pastoral-Farce“ (Wieland, Werke, V, 14, S. 287 f) erschiene, dass es nicht zu ertragen wäre. Zum andern aber liege, wie Danischmend sagt, „ohne Zweifel“ die „Tendenz zum schlechter werden so tief in der menschlichen Natur, daß ihre Wirkung durch keine menschliche Veranstaltung gänzlich aufgehoben werden kann“ (Wieland, Werke, II, 7, S. 320). Diese Ambivalenz zeigt sich bei Wieland auch in der Feststellung der paradoxalen Struktur der Aufklärung, die man späterhin als ‚Dialektik‘ bezeichnen sollte: Weit gefehlt daß die Vernunft die Grenzen ihrer Herrschaft immer weiter ausdehnen, und ihre ewigen Feinde, Unwissenheit, Trägheit des Geistes, Willkürlichkeit und Egoisterey, endlich gänzlich verdrängen werde; haben wir nicht stets gesehen, daß der Zeitpunkt der höchsten Verfeinerung und der äußersten sittlichen Verderbniß immer ein und eben derselbe war? daß die Epoke der höchsten Aufklärung immer derjenige war, wohin alle Arten von spekulativen Wahnsinn und praktischer Schwärmerey am stärksten im Schwange gingen? (Wieland, Werke, VIII, 25, S. 211 f)

Entsprechend ist Wieland überzeugt, dass „Aberglaube und Schwärmerey unter dem größten Theile der Menschen mit der Aufklärung unter dem kleinsten Theile immer gleichen Schritt hält“ (Wieland, AA XIV, S. 329 f), sodass „zugleich [...] neben einem ziemlich hohen Grade von Kultur und Verfeinerung auf der einen Seite, auf der andern mehr Finsterniß in den Köpfen, mehr Schwäche, Leichtgläubigkeit und Hang zu allen Arten von Schwärmerey“ (Wieland, AA XV, S. 127) herrsche. Diesem dialektischen Charakter der Geschichte ist zwar mit einer Fortschrittsidee nicht zu begegnen, aber auch ein durchweg pessimistischer Befund wird ihr nicht gerecht. Vielmehr entwickelt Wieland – im Rahmen eines organizistischen Geschichtsmodells – für die Erfassung all der historischen Ambivalenzen die Metapher der Spirale, mit deren Hilfe der immer mögliche Rückschritt mit dem unleugbaren Fortschritt zusammengedacht werden soll. Diese Metapher, die somit die Lehre von den anthropologischen Konstanten mit dem Fortschrittsgedanken und dem Kulturrelativismus zu vermitteln versucht, führt zu einer Theorie historischer Parallelsituationen79: In dieser Ordnung der Natur wird sich die Menschheit vielleicht noch lange fortdrehen, und von Zeit zu Zeit neu geboren werden, wachsen, blühen, reifen, abnehmen, verderben, und dann wieder auferstehen, und wieder blühen, und wieder verderben; bis die Erde endlich ihre

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Zweifel am Erfolg der Aufklärung: „Wahre und gründliche Aufklärung des menschlichen Verstandes kann nur durch beynahe unmerkliches Zunehmen des Lichtes, langsam und stufenweise bewirkt werden. Aber eben deswegen wird eine allgemeine, oder wenigstens über den größern Theil der Menschen verbreitete Erleuchtung nie Statt finden. Die Mittel dazu sind zu beschränkt, liegen in den Händen einer zu kleinen Anzahl, hangen zu sehr vom Zufall, und (was noch schlimmer ist) von der Willkühr der Machthaber ab, deren größerm Theil alles daran gelegen zu seyn scheint, daß es nicht hell um sie her werde.“ (Wieland, Werke, X, 31, S. 43) Vgl. hierzu auch Müller, 1971, S. 125. Es handelt sich demnach bei Wielands Konzept zwar um einen Syntheseversuch, der das Fortschrittskonzept und das organizistische Modell zusammendenken soll, aber da dies nur in metaphorischer Form geschieht, bleibt die Skepsis gegenüber den universalistischen Entwürfen der Geschichtsphilosophie bewahrt.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Zeit erfüllt hat, und eine Begebenheit, die alle übrigen verschlingt, die Scene schließen wird. Ich will damit nicht sagen, daß diese kreisförmige Bewegung, womit sich die menschlichen Dinge umwälzen, ein wahrer Zirkel sey. Man hat vielmehr Ursache (wie mich däucht) zu glauben daß es keiner sey. [ ... ] Aber hier ist es hohe Zeit zu schweigen! – Denn der Natur heiligen Schleier aufzudecken, in ihr inneres Räderwerk zu schauen, und zu zeigen – wie eins ins andre greift, und wie sie am Ende doch nur eine unmerklich fortrückende Spirallinie machen, die alles ewig dem allgemeinen Mittelpunkt nähert, – dieß ist eine Aufgabe, deren Auflösung ganz andere Organen und einen ganz andern Gesichtskreis als den unsrigen zu erfor80 dern scheint. (Wieland, Werke, V, 14, S. 326 ff)

Aber schon dies ist laut Wieland zu viel gesagt. Die verdrießliche Skepsis der Tradition der anderen Vernunft verlässt uns auch dort nicht, wo der menschliche Geist ganz zu Hause zu sein scheint: bei der Geschichte. Indem Wielands Metapher der Spirale das organizistische Geschichtsmodell mit dem Fortschrittskonzept versöhnt, stellt sie den vielleicht prägnantesten Ausdruck für die Skepsis der Spätaufklärer gegenüber allen geschichtsphilosophischen Modellen dar. Diese skeptische Haltung ist aber die eigentliche Pointe des spätaufklärerischen Geschichtsdenkens, nicht jedoch die jeweiligen Stellungnahmen zu den verschiedenen historischen Modellen, nicht ihre Präferenz für oder gegen den Fortschrittsoptimismus, für oder gegen Verfallsmodelle, für oder gegen organizistische Geschichtstheorien.81 Dass sie eine Neigung zu letzteren zeigen, hängt damit zusammen, dass sich dieses Geschichtsmodell, das den Eigenwert auch vermeintlich rückständiger Kulturen und Epochen betont, am besten mit dem Relativismus vereinbaren lässt. Dabei ist die spätaufklärerische Skepsis gegenüber großangelegten historischen Erklärungsmodellen zugleich Ausfluss einer anti-metaphysischen, lebensweltlich orientierten Haltung, die sich gegenüber allen universalistischen Ansprüchen ablehnend verhält. Sie impliziert jedoch weder, dass die Spätaufklärer das Ideal des Fortschritts, der Aufklärung und Perfektibilität des Menschengeschlechts aufgeben82, noch gar, dass sie den histori80

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Vgl. auch Wieland, Werke, XI, 36, S. 224 f, wo Aristipp sagt: „der Hang alles, was um, über und unter uns ist, ergründen zu wollen, [...] gehört zu dem ewigen Streben ins Unbegränzte, welches das große Triebrad der unbestimmbaren Vervollkommnung ist, deren höchsten Punkte das Menschengeschlecht sich in einer Art von unermeßlichen Spirallinie langsam und unvermerkt anzunähern scheint. Werden wir jehmals dieses Ziel erreichen? Oder bewegen wir uns (wie der Ägyptische Hermes gesagt haben soll) in einem Zirkel, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist? Und ist vielleicht gerade dieß die einzige Möglichkeit, wie wir uns immer bewegen, d.i. nie zu seyn aufhören können?“ Dies ist auch das Ergebnis der Wielandstudie Wipperfürths. Legt man die Kantische Unterscheidung der drei Formen der Geschichtsschreibung zugrunde (vgl. Kant, 1974, Bd. 11, S. 352 ff), so kann man das spätaufklärerische Geschichtsdenken als eine Mischung aus der „terroristische[n] Vorstellungsart der Menschengeschichte“, die diese als eine permanente Rückentwicklung zum Bösen deutet, den „Eudämonismus“, die die Geschichte als eine permanente Fortentwicklung zum Guten betrachtet, und den „Abderitismus“ i.S. eines fatalistischen „Indifferentismus“ bezeichnen. Vgl. dazu etwa Selmanns Bemerkung im Tobias Knaut: „Daß niemand gegenwärtig dahingekommen ist [= an das letzte Ziel der „moralischen Laufbahn“ der Menschheit], niemand gegenwärtig dahin kommen kann, und das itzige und viele künftige Menschenalter nicht dahin kommen werden, das behaupte ich dreist; aber es auf die ganze Dauer des menschlichen Ge-

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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schen Charakter menschlicher Existenz leugnen83. Die fundamentale Kontingenzerfahrung des Menschen als eines durch und durch geschichtlichen Wesens ist vielmehr wesentlicher Bestandteil des Kontextualismus des pragmatischen Paradigmas. Diese Kontingenz lässt sich laut Klinger vielleicht im nachhinein in eine sinnvolle Ordnung bringen, nicht jedoch in einer utopischen Konstruktion für alle zukünftigen Entwicklungen aufheben: Da nun bisher die sogenannten Geschichtsschreiber der Menschheit in diesem Sinne die allerwidersprechendsten Fakta immer zu einem zweckmäßigen Ganzen verbunden und nur schöne, tröstende und schmeichelnde Ideale aufgestellt haben, so muß der ernste Denker noch immer diese Geschichte denen ablauern, die auf dem Erdenrund den unendlichen Stoff dazu hergegeben haben und noch hergeben. [...] Vielleicht auch, daß er einen Faden der Verknüpfung entdeckt; nur das Ende dieses Fadens wird sich immer mehr für ihn im fernen Dunkel verlieren, je eifriger und aufrichtiger er es zu fassen strebt. Aber man kann ihn rückwärts suchen und so den Ausgang durch dieses Labyrinth finden. (Klinger, Werke, 12, S. 239)

So erscheint zuletzt der Zweifel als das einzige, was den Geschichtsphilosophen vor der Verzweiflung der Nachtwachen bewahren kann: [E]s ist doch spaßhaft und der Mühe wert, dieser großen Tragikomödie, der Weltgeschichte, bis zum letzten Akte als Zuschauer beizuwohnen, und du kannst dir zuletzt das ganz eigne Vergnügen machen, wenn du am Ende aller Dinge über der allgemeinen Sündflut auf dem letzten hervorragenden Berggipfel als einzig Übriggebliebener stehst, das ganze Stück, auf deine eigene Hand, auszupfeifen und dich dann wild und zornig, ein zweiter Prometheus, in 84 den Abgrund stürzen.

Angesichts dieser Haltung erstaunt es wenig, dass das utopische Denken in der Spätaufklärung keine steile Karriere zu machen vermochte. Was bezüglich der Vergangenheit vielleicht noch möglich ist – „die allerwidersprechendsten Fakta [..] zu einem zweckmäßigen Ganzen“ zu verbinden –, das ist für die literarischen Spätaufklärer bezogen auf die Zukunft gänzlich zum Scheitern verurteilt. Dennoch begegnen uns in ihren Texten allenthalben Formen des utopischen Denkens. Dieses erstaunliche Faktum verlangt nach einer Erklärung.

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schlechts läugnen zu wollen, dies wäre ebenso verwägen, als wenn jemand vor dreytausend Jahren versichert hätte, daß die Menschen nie andre Waffen als Bogen und Spieß gebrauchen würden.“ (Wezel, TK, I, S. 224 f) Die Reflexion auf die Geschichtlichkeit des Menschen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Konjunktur hat und in Herders Kulturrelativismus ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, ist Teil jenes Prozesses der ‚Anthropologisierung‘ des philosophischen Diskurses, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Der Behauptung Marquards, wonach die Anthropologie als Konkurrenztheorie zur Geschichtsphilosophie aufgetreten sei (vgl. Marquard, 1973, S.27), kann ich deshalb nicht zustimmen. Es handelt sich m.E. hierbei nur um einen vordergründigen Gegensatz, da bei beiden Modellen der Mensch im Zentrum der Untersuchung steht und nur die Frage ist, welche Rolle die Geschichtlichkeit des Menschen spielt. Bei dieser Historizität handelt es sich aber um einen Tatbestand, den auch die Spätaufklärer betonen, wie ihre Ansätze zu einer ‚historischen Anthropologie‘ zeigen (vgl. dazu etwa Wieland, Werke, X, 30, S. 140 f; zit. in Kap. 2.1.1). Bonaventura, 1990, S. 32.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Dass die Reflexion auf die Geschichtlichkeit des Menschen und die entsprechende Auseinandersetzung mit staats- und geschichtsphilosophischen Modellen im philosophischen Roman der Spätaufklärung auch diskursiv eine gewichtige Rolle spielen, erklärt sich schon aus der besonderen Sensibilität für alle Formen von utopischem Denken, die mit dem Entwurf von fiktionalen Welten verbunden ist.85 So ist es nicht verwunderlich, dass das Problem des Utopischen die Spätaufklärer umtrieb. Dennoch tritt es innerhalb ihrer Romane explizit zumeist in Gestalt von negativen oder ironisch entlarvten Utopien auf. Auch dies ist vor dem Hintergrund des Umstands, dass sich bei den Spätaufklärern mehr und mehr ein pessimistisches oder vielmehr skeptisches Geschichtsbild durchsetzt, nicht erstaunlich. Damit einher geht eine zum Teil vehemente Kritik an allen utopischen Entwürfen. Sie entzündet sich, wie gezeigt, an Rousseaus Konzept des Naturzustandes, erhält allerdings ihren wohl profiliertesten Ausdruck in der geradezu ausschweifenden Platon-Kritik im 4. Buch des Aristipp, die mit dem Konzept eines idealen Staates gründlicher aufräumt als Poppers Offene Gesellschaft. Doch auch die zum Teil idyllisch anmutenden, in der Tradition von Voltaires Eldorado86 und „il faut cultiver notre jardin“87 stehenden Schilderungen von idealen Gesellschaften, wie sie im Goldenen Spiegel und im Diogenes Wielands, in den Reisen vor der Sündfluth Klingers oder im Tobias Knaut und Belphegor von Wezel auftreten, gehören in diesen Zusammenhang. Denn aufgrund ihres Ausnahmecharakters und ihrer Fragilität stehen sie eher in der kritischen Absicht eines anti-utopischen Denkens, als dass sie tatsächlich Gegenentwürfe darstellten. Die literarische Aufklärung, die so frohgemut mit dem Entwurf von noch besseren als der besten aller möglichen Welten begonnen hatte, kulminiert schließlich in den negativen Utopien Wielands, Wezels und Klingers. Als wichtigstes Mittel dieses anti-utopischen Denkens stellt sich dabei die satirische Erzählweise dar. Ehe aber dies näherhin gedeutet werden kann, muss genauer betrachtet werden, auf welche Weise das utopische Denken innerhalb der philosophischen Romane der Spätaufklärung in Erscheinung tritt. So erfolgt, erstens, die Auseinandersetzung mit der utopischen Philosophie auf drei Ebenen: Zum einen beschäftigen sich die literarischen Spätaufklärer kritisch mit der utopischen Philosophie im engeren Sinne, also etwa, wie in Wielands Aristipp, mit der einen idealen Staat entwerfenden Politeia Platons. Zum andern üben sie Kritik an der utopischen Philosophie im weiteren Sinne , d.h. an geschichts- und staatsphilosophischen Modellen, vor allem an Fortschrittsideologien und allen Versuchen, im Bereich der Geschichte eine säkularisierte Theodizee zu formulieren. Und zum dritten setzen sie sich mit der utopischen Philosophie im weitesten Sinne auseinander, indem sie Metaphysik und Religion als ‚bloße Fiktionen‘ entlarven, dabei das Missverhältnis von me85

86 87

Insofern auch der Romancier fortwährend mit dem Entwurf von fiktionalen Welten befasst ist, kann man den Utopisten, in Anspielung auf das Diktum Schillers, deshalb als ‚Halbbruder des Romanciers‘ bezeichnen. Vgl. Voltaire, 1976, S. 329-339. Ebd., S. 390.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

197

taphysischem Bedürfnis und metaphysischem Vermögen betonen und das spekulative als eine Form des utopischen Denkens kritisieren, dem sie ihr pragmatisches Philosophieverständnis entgegenstellen. Zweitens lässt sich in den philosophischen Romanen eine Auseinandersetzung mit der utopischen Literatur beobachten. Hier lassen sich vier Formen unterscheiden: Zum ersten kann der konkrete Einfluss der Lektüre utopischer Literatur zum Thema werden, wie z.B. im Falle des Don Sylvio, in dem die verheerende Wirkung einer extensiven Märchenlektüre dargestellt wird. Zum zweiten treten in den spätaufklärerischen Romanen konkrete literarische Utopien und idyllische Darstellungen auf – wie etwa das tarentinische Exil am Ende des Agathon, die „Kinder der Natur“ im Goldenen Spiegel (vgl. Wieland, Werke, II, 6, S. 98-124), das Eupator-Projekt im Tobias Knaut (vgl. Wezel, TK, III, S. 142 ff) oder das Gebirgstal des Derwischs (vgl. Wezel, B, II, S. 66116) sowie das Land der Zwerge im Belphegor (vgl. Wezel, B, II, S. 167-193). Dabei wird zumeist nicht nur deren Struktur und Funktionsweise, sondern auch deren Zerstörung gezeigt, die entweder aufgrund von äußeren Faktoren (wie beispielsweise im Falle der Derwisch-Episode im Belphegor) oder aufgrund einer inneren Notwendigkeit (wie bei dem allmählichen Verfall der Inselstaaten im Robinson Krusoe oder dem Konkurs des Eupator-Projekts im Tobias Knaut) erfolgt.88 Drittens erscheint in den philosophischen Romanen dasjenige, was man die utopische Figurendarstellung nennen könnte: Indem Schwärmer, Projektemacher und Eskapisten aller Art zu Protagonisten gemacht und deren – mehr oder minder erfolgreiche – „Kuren“ dargestellt werden, verflüchtigt sich das Utopische in die Innenwelt des Menschen – wie es z.B. im Don Sylvio und Agathon, aber auch beim Titelhelden des Belphegor Wezels oder bei der Hauptfigur der Reisen vor der Sündfluth Klingers der Fall ist. Viertens schließlich erfolgt innerhalb der philosophischen Romane eine intensive Auseinandersetzung mit dem utopischen Erzählen, das nunmehr selbst zum Thema des Romans wird – als Beispiele hierfür können der Agathon, der Diogenes und der Goldene Spiegel Wielands sowie Wezels Robinson Krusoe gelten. Wie bereits angedeutet, können nun sowohl philosophische als auch literarische Utopien entweder in der Außen- oder in der Innenwelt angesiedelt werden. Geschieht das erste, so können sie entweder räumlich (an einem möglichst fernen Ort) oder zeitlich (entweder in der Vergangenheit89 oder in einer nahen oder fernen Zukunft) verortet werden.90 Wird das Utopische in der Innenwelt der Protagonisten situiert, so hat dies

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Die Utopien können, wie in den Reisen vor der Sündfluth oder im Goldenen Spiegel, zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit im Gewand historischer Faktizität auftreten. Sie bleiben dennoch literarische Utopien. Die bekannteste Form einer solchen in die Vergangenheit versetzten Utopie ist die Vorstellung vom ‚goldenen Zeitalter‘ in seiner klassischen Ausprägung bei Hesiod und Ovid. Vgl. dazu Grimminger, 1982, S. 125.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

zur Konsequenz, dass Schwärmer zu Protagonisten werden.91 Dabei halten die Spätaufklärer beim Entwurf von Utopien deren innere Konsistenz allein nicht für hinreichend; vielmehr ist ihrer Auffassung nach sowohl zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit als auch zur Sicherung der Relevanz der utopischen Darstellung zusätzlich eine (kausale) Herleitung des utopischen Zustands aus der bestehenden Wirklichkeit notwendig, sodass sich innerhalb der fiktionalen Welt des Romans zwei Wirklichkeitsebenen mehr oder minder deutlich voneinander abgrenzen. Diese „doppelte Fiktionsstruktur“92 ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Utopien innerhalb der Romane eine spezifische, noch näher zu charakterisierende Funktion zu übernehmen vermögen. Die kritische Reflexion auf das utopische Denken und Erzählen innerhalb der philosophischen Romane der Spätaufklärung bedient sich dabei ganz unterschiedlicher Mittel: Neben der eigentlich diskursiven Auseinandersetzung in Form von Figuren- und Erzählerreflexionen ist hier vor allem die Offenlegung der utopischen Erzählstrategien zu nennen. Das dabei eingesetzte Mittel ist in erster Linie die Fiktionssignale aussendende und zugleich parodierend zurücknehmende Fiktionsironie, wie sie z.B. zu Beginn des 11. Buches der ersten Fassung des Agathon, beim Einsatz der „Zauberrute“ während des Entwurfs und schließlich der ‚Unsichtbarmachung‘ der Insel im Diogenes (vgl. Wieland, Werke, IV, 13, S. 161 f u. 201) oder in den Bemerkungen über Entstehung und Schicksal der „Robinsonia“ am Ende von Wezels Robinson Krusoe greifbar wird. Konsequenz dieser Fiktionsironie ist, dass mehrere Erzählebenen entstehen. Wie sich nicht nur an der mehrschichtigen Herausgeberfiktion, sondern auch an den kunstvoll ineinander verschränkten Erzählsträngen sowohl des Goldenen Spiegels als auch des Danischmend Wielands zeigt, werden diese Erzählebenen auf vielfache Weise aufeinander abgebildet: So spiegeln sich die Erzählung über die „Kinder der Natur“, die Chronik der Könige von Schechian sowie die Geschehnisse um den Philosophen Danischmend im Reich Schach Gebals wechselseitig, alle zusammen aber zeigen die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts in einem nicht immer goldenen Spiegel.93 Durch eine solche Offenlegung der utopischen Erzählstrategien mit Hilfe der (Fiktions-)Ironie, mit der über die Erwägung narrativer Alternativen ein Möglichkeitsspektrum eröffnet94 und zugleich das pragmatische Erzählen parodiert wird, stellt sich eine Selbstbezüglichkeit des Textes her. Damit gelangen wir zur Pointe unserer Ausführungen: Die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des utopischen Denkens und Erzählens steht innerhalb der philosophischen Romane der Spätaufklärung stellvertretend für die Reflexion 91

92 93 94

Vgl. hierzu Hohendahl, 1969, S. 99, wo er behauptet, dass im Agathon das Utopische „als innere, zur Außenwelt kontrastierende Wirklichkeit des Helden“ auftrete – mit der Konsequenz, dass die Geschichte Agathons zu einem Prozess der Desillusionierung werde. Vgl. Mähl, 1982, S. 60 f. Darüber hinaus spiegelt sich auch das gar nicht ideale Autor-Leser-Verhältniss in dem Verhältnis zwischen Danischmend und Schach Gebal (vgl. hierzu Wipperfürth, 1995, S. 57). Vgl. z.B. das Ende der 1. Fassung des Agathon oder die Reflexion des Diogenes über die Zeugung der Inselbewohner.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

199

auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens überhaupt und ist somit wesentlicher Ausdruck der Autoreflexivität dieser Texte. Ermöglicht wird dies dadurch, dass sich innerhalb der philosophischen Romane Utopie und dargestellte Wirklichkeit als zwei Welten von unterschiedlichem ‚Fiktionalitätsgrad‘ gegenüberstehen. Die Utopie wird zum Austragungsort einer transzendentalen Reflexion, deren eigentlicher Gegenstand die Fiktionalität des Romans selbst ist. Durch diese Autoreflexivität wird aber der Erzählprozess zu einem durch und durch bewussten Vorgang. So lässt sich bei den literarischen Spätaufklärern ein enormes Interesse nicht allein für staats- und geschichtsphilosophische Probleme im Allgemeinen, sondern für alle Formen des Utopischen beobachten. Dies aber nimmt innerhalb ihrer Romane die Gestalt der Entwicklung konkreter literarischer Utopien an – nicht nur weil sie die Möglichkeit bieten, die Frage nach der (geschichtlichen) „Bestimmung des Menschen“ in dem erforderlichen Konkretionsgrad zu untersuchen, sondern vor allem weil durch die Entwicklung solcher Utopien innerhalb des literarischen Textes genau jene interne Differenz geschaffen wird, die für die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens notwendig ist. Zudem gehört das utopische Denken, wie der Agathodämon darlegt, zur anthropologischen Grundausstattung: Diese Ungenügsamkeit unsers Geistes mit dem, was uns die Welt der Erscheinungen und Täuschungen, welche man sich irrigerweise als die wirkliche vorzustellen gewohnt ist, darbietet, erstreckt sich nicht allein auf alle einzelne Gegenstände der Natur, für sich, oder bloß in ihrem besonderen Verhältniß gegen uns betrachtet: auch der Zusammenhang und die Ordnung dieser Dinge [...] vermag uns, aus ebendemselben Grunde, nie mehr als eine vorüber gehende Befriedigung zu geben. Immer fehlt etwas daran was wir wünschen; immer finden wir irgendeine Erwartung getäuscht; alles sollte sich, meinen wir, besser schicken und in einander fügen, alles leichter und schneller zum Zweck eilen, reiner zusammen klingen, kurz schöner und vollkommener seyn, als es nach unsern Maßstab ist. Daher diese lieblichen Träume der Dichter und Filosofen von einem goldenen Weltalter, von Götter- und Heldenzeiten, von Unschuldswelten, Atlantiden und Platonischen Republiken, womit die Menschen sich von jeher so gern haben einwiegen lassen, und die so oft man sie im Ernst zur Wirklichkeit bringen wollte, allemahl so viel Unheil angerichtet haben. Es ist ein wunderbares Etwas in uns, das immer geneigt ist, die Dinge außer uns als bloßen Stoff zu behandeln, und sich unaufhörlich beschäftigt, Welten nach seinem eigenen Entwurf und zu seinem eigenen Zweck darauf hervor zu rufen. (Wieland, 95 Werke, X, 32, S. 24 ff)

Für Wezel wiederum wird der utopische Eskapismus in dem Krieg aller gegen alle, in dem man „entweder mit der Welt rasen, oder [s]ich von ihr trennen“ (Wezel, B, II, S. 105) muss, zu einer Lebensnotwendigkeit.96 Ungeachtet dieser pragmatischen Rechtfertigung des Utopischen erscheint es Wezel als zutiefst zweifelhaft. Die Kritik erhebt sich dabei, wie gesehen, auf dem Boden einer agnostischen Geschichtsphilosophie. Für sie 95 96

Vgl. dazu Wieland, Werke, XI, 36, S. 224 f, wo Aristipp das utopische Bedürfnis mit dem unendlichen Erkenntnisstreben des Menschen in Verbindung bringt. Vgl. hierzu auch die Theorie von den lebensnotwendigen Illusionen, die in Kap. 2.1.2 dargestellt wurde.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

gehört eine Erkenntnis der (geschichtlichen) „Bestimmung des Menschen“ zwar zweifellos zu den „hübsche[n] Sachen“ (vgl. Wezel, TK, I, S. 222), letztlich lässt sich darüber aber nichts weiter sagen: „– Aber was ließe sich thun, um die Menschen dem Ziele näher zu bringen?“ / Darüber läßt sich nichts bessers vorschlagen als - - - - - - - - - - und in der fortgesezten Lebensgeschichte 97 Tobias Knauts werde ich noch vieles darüber sagen, wie auch - - - - - (Wezel, TK, I, S. 226)

Die Unmöglichkeit, über die Bestimmung des Menschen etwas in Erfahrung zu bringen, berührt sich mit der bedrohlichen Erkenntnis der totalen Kontingenz der Welt, die möglicherweise nichts als „ein zufälliger, nicht intendirter Umstand“ (Wezel, B, II, S. 226 f) ist.98 Wenn sich über die Geschichte überhaupt eine empirische Erkenntnis gewinnen lässt, dann ist es nach Überzeugung der Spätaufklärer diejenige, dass man aus dem Menschen alles machen kann99 – dies bietet aber sicherlich keinen Anlass zu utopischen Entwürfen. Folgerichtig erscheint das utopische Denken bei Wezel als Ergebnis von Erfahrungsmangel und Realitätsferne.100 So hat der Autor des Belphegor Risse zu vollkommnen Republiken und vollkommnen Welten fertig, in denen sichs aber vielleicht, wenn sie durch eine schaffende Kraft zur Wirklichkeit gebracht würden, sehr schlecht wohnen ließe: wenn es seyn soll, kann er auch träumen. Bis hieher hat er aber mehr Beruf ge101 fühlt, zu sagen, was ist, als was er wünschte oder seyn sollte. (Wezel, B, I, S. XII)

97

Vgl. dazu Kremer, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 16. Dieselbe Auffassung findet sich auch in Klingers Faust: „Faust, du hast zwey Fälle gesetzt, wie, wenn es noch einen dritten gäbe? Nehmlich, daß ihr auf die Erde geworfen wärt, wie Staub und das Gewürme, ohne Vorsicht und Unterschied. Einem dunklen Wirrwarr überlassen [...].“ (Klinger, Faust, S. 113) 99 Diese Verbindung zur Bestimmung des Menschen als eines nicht-festgestellten Tiers stellt Klinger selbst her: „Der Mensch kann alles aus sich machen und man kann alles aus ihm machen; dieses scheint mir der Haupttext für den zu seyn, der das kühne Werk unternimmt, eine Geschichte der Menschheit zu schreiben.“ (Klinger, Werke, 12, S. 238) 100 Vgl. Wezel, Versuch, S. 361: „So hat jeder unter uns in seinen jüngeren Jahren über alle Dinge geträumt, sich republikanische, arkadische, demokratische, theokratische, patriarchalische Verfassungen gedacht, wie es der Zufall haben wollte: so haben wir alle unsere Ideale in den Kopf bekommen, die mit zunehmender Erfahrung immer schwächer und im Anfange bey manchen Menschen so stark auf ihr Urtheil wirken, daß ihnen alles anekelt. Vor dem Einflusse dieser individuellen Vorurtheile, sie mögen politische Verfassungen, Familieneinrichtungen, menschliche Glückseligkeit, oder was es nur sey, betreffen, kann sich derjenige am wenigsten sichern, der seine Erfahrungen nur in einem kleinen Zirkel an einerley Gegenständen, unter einerley Beziehungen macht.“ 101 Schon im Agathon heißt es: „In der Tat hat man zu allen Zeiten gesehen, daß es den speculativen Geistern nicht geglückt hat, wenn sie sich aus ihrer philosophischen Sphäre heraus und auf irgend einen großen Schauplatz des würksamen Lebens gewagt haben. Und wie hätte es anders sein können, da sie gewohnt waren, in ihren Utopien und Atlantiden zuerst die Gesetzgebung zu erfinden, und erst wenn sie damit fertig waren, sich so genannte Menschen zu schnitzeln, welche eben so richtig nach diesen Gesetzen handeln mußten, wie ein Uhrwerk durch den innerlichen Zwang seines Mechanismus die Bewegungen macht, welche der Künstler haben will. Es war leicht genug zu 98

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Die geschichtliche Entwicklung ist jedoch unhintergehbar. Sie wird – das weiß schon Wieland – gerade von denjenigen Momenten vorangetrieben, die in der Utopie ausgeschlossen sind.102 So wirft Diogenes bei der Erschaffung seiner Republik seinem Gesprächspartner Platon vor, „daß du, um das allgemeine Interesse deines idealistischen Staates zu befördern, alle die Empfindungen vernichtest, wodurch das allgemeine Beste für einen jeden einzelnen interessant wird“ (Wieland, Werke, IV, 13, S. 179). Damit aber wird, so der Erzähler im Belphegor, das Unterfangen, „künstliche Spinneweben [...] aus seinem Gehirne zu erzeugen“ (Wezel, B, II, S. 261), zu nutzloser Projektemacherei.103 Wieland schreibt in diesem Sinne: Wir haben der Utopien, Severambien, Mezzoranien, unbekannten Inseln und Planetenwelten schon so viele, und sie sehen einander, vermöge der Natur der Sache, so ähnlich, daß ich mir keine langweiligere und unnützere Beschäftigung denken kann, als sich hinzusetzen und auch so ein Weltchen aufzustellen, wo alle Leute vernünftig sind, der ganze Staat vernunftmäßig eingerichtet ist, und Tag für Tag, Jahr aus Jahr ein, alles so vernünftig zugeht, daß wir andern vom Weibe gebornen, unter Wahnbegriffen, Vorurtheilen und bösen Beyspielen erwachsenen, leidenschaftlichen, sofistisierten und egoistischen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts schlechterdings nichts damit anzufangen wissen. (Wieland, Werke, X, 31, S. 360)

Gemäß ihrer pragmatischen Grundhaltung und ihrer partikularistischen Moralphilosophie sind für die Spätaufklärer deshalb die Handlungsanweisungen utopischer Entwürfe unbrauchbar, da sie keinerlei Adaptionsmöglichkeit bei den Problemen der alltäglichen Lebenspraxis bieten. So richtet sich Aristipp gegen Platons Politeia mit den Worten: Der Mensch läßt sich nicht, wie eine regelmäßige geometrische Figur, in etliche scharf gezogene gerade Linien einschließen; und es sind vielleicht noch Jahrtausende einer anhaltenden, eben so unbefangenen als scharfsichtigen Beobachtung unsrer Natur vonnöthen, bevor es möglich seyn wird, nur die Grundlinien zu einem ächten Modell der besten gesellschaftlichen Verfassung für die wirklichen Menschen zu zeichnen; und selbst dieses Modell würde für jedes besondere Volk, durch dessen eigene Lage und die Verschiedenheit der Zeit- und Ortsumstän-

sehen (und doch sahen es diese Herren nicht) daß es in der würklichen Welt gerade umgekehrt ist. Die Menschen in derselben sind nun einmal wie sie sind; und der große Punct ist, diejenige die man vor sich hat, nach allen Umständen und Verhältnissen so lange zu studieren, bis man so genau als möglich weiß, wie sie sind. Sobald ihr das wißt, so geben sich Regeln, wornach ihr sie behandeln müßt, wenn ihr euern Zweck erhalten wollt, von sich selbst; dann ist es Zeit moralische Projecte zu machen [...].“ (Wieland, A, S. 412) 102 Vgl hierzu auch Fohrmann, 1982, S. 24 ff. 103 So äußert sich der „Projektemacher“ im Belphegor folgendermaßen: „Von jeher war es meine Lieblingsbeschäftigung, über die Gebrechen der Regierungen nachzudenken und Plane zu ihrer Verbesserung auszusinnen: keine darunter sind ausgeführt worden, aber die Welt befände sich gewiß wohl dabey, wenn sie alle ausgeführt wären.“ (Wezel, B, II, S. 254). Und später: „Belphegor nannte kein Gebrechen der Welt, wofür sein Gesellschafter nicht ein Recept wußte: [...] Doch ließ sich seine Kur niemals unter einen Fürsten, einen Minister oder einen ganzen Staatskörper herab und war so ziemlich den Verfassern politischer Systeme gleich, die Fürsten und Königen vorschreiben, was sie thun sollen, um uns zu lehren, was sie nicht thun.“ (Wezel, B, II, S. 260 f)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

de, auch verschiedentlich bestimmt und abgeändert werden müssen. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 176 f)

Zwar sind sich auch die literarischen Spätaufklärer darüber im Klaren, dass utopische Entwürfe Ordnungsmodelle darstellen, die gerade durch ihren generellen Geltungsanspruch, ihre Abstraktheit und Uniformität104 den Anspruch realisieren wollen, einen kritischen Maßstab für die Beurteilung der gegenwärtigen Wirklichkeit zu bieten105 – ist doch auch für Wieland „die ewige Bedingung aller Utopienschöpfer“, „in unsern Einrichtungen an keine andere Regel als an Vernunft und Gerechtigkeit gebunden zu seyn“ (Wieland, Werke, X, 31, S. 354). Aber sie glauben nicht, dass dieses Ziel mit den Mitteln der Utopie erreicht werden kann: Die Utopie muss zu viele relevante Umstände unberücksichtigt lassen und widerspricht zu sehr den gerade für den Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts so wichtigen Regeln der Wahrscheinlichkeit, als dass sie für die Spätaufklärer noch attraktiv sein könnte.106 Wenn daher, wie bei Klinger, das utopische Element in den Vordergrund tritt, erscheint es nur folgerichtig, dass es die Form der räumlichen Utopie annimmt, sich damit aber zugleich der Reiseliteratur annähert – nicht nur weil für den Rousseau-Anhänger Klinger eine Gattung besonders reizvoll ist, die sich unter Leitung eines optimistischen Naturbegriffs auf der Suche nach der unverdorbenen Menschheit befindet107, sondern vor allem deshalb, weil die Gestalt des Reisenden den funktionalen Wert einer Sicherung der Glaubwürdigkeit besitzt.108 Dies gilt zumal vor dem Hintergrund der Tatsache, dass andere Zwecke des Reisens,

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Vgl. hierzu Gustafsson, Lars: „Negation als Spiegel. Utopie aus epistemologischer Sicht“, in: Vosskamp (Hrsg.), 1982, Bd. 1, S. 287. 105 Zur kontextuellen Bedeutung und zum Gegenwartsbezug von Utopien vgl. ebd., S. 282 f; s.a. Mähl, 1982, S. 53 f, wo dieses Problem in Bezug auf Georg Paschs De fictis rebuspublicis behandelt wird. Klinger schneidet, wie er in einer Fußnote zu den Reisen vor der Sündfluth schreibt, fünf Kapitel aus seinem utopischen Roman heraus, weil sie der Gegenwart des 18. Jahrhunderts zu ähnlich seien (vgl. Klinger, Werke, 6, S. 260). 106 In diesem Sinne schreibt Hohendahl über das Verhältnis der Spätaufklärung zur „Mischform“ der Utopie: „Vom Standpunkt der Philosophie erscheint das epische Geschehen als ungeeignet, weil es bloße Fiktion ist, vom Standpunkt der Dichtung erscheint das Utopische als ungeeignet, weil es der epischen Wahrscheinlichkeit widerspricht.“ (Hohendahl, 1969, S. 84; vgl. hierzu auch das folgende Kap. 2.1.5) 107 Vgl. Kondylis, 1981, S. 354. Allerdings gilt dies für Klingers Mahal nur mit Einschränkungen, da er auf seiner Reise nicht den bon sauvage, sondern nur Narren antrifft: „Gleich einem reisenden Philosophen, der auf Menschenkenntniß auszieht, und bei andern weislich damit anfängt, war es ihm gleichviel, an welchem Landstrich er landete, überzeugt, daß, wohin auch der Wind ihn blasen möchte, er immer Thoren finden würde; vorausgesetzt, daß das Land von Menschen bewohnt sey.“ (Klinger, Werke, 6, S. 233) 108 Vgl. Hohendahl, 1969, S. 80. Die Reisemetapher spielt in vielen philosophischen Romanen der Spätaufklärung eine zentrale Rolle – vor allem der Belphegor und der Tobias Knaut Wezels, aber auch der Agathon und der Aristipp Wielands sowie der Faust Klingers machen von ihr ausgiebig Gebrauch.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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wie das Sammeln von Erfahrung, für Klinger nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben (vgl. Klinger, Werke, 6, S. 323). Weitaus gebrochener erscheint die Utopie bei Wezel. Die Idylle, mit der der Belphegor scheinbar das Ende der Schrecken findet und die in den Augen vieler Interpreten Voltaires il faut cultiver notre jardin wiederholt, wird allein durch eine abgemilderte Form der Sklaverei ermöglicht. Die „friedliche[] Lebensart der ersten Väter, des arkadischen Dichterlandes und des Landmanns in den Zonen der Freiheit“ (Wezel, B, II, S. 301) funktioniert nur unter Ausschluss des Missliebigen: [N]iemand ließ die Subordination fühlen, und niemand fühlte sie, und jeder, der sich eines solchen Glücks unwerth machte, wurde aus der Gesellschaft verbannt und an einen Herrn verkauft, der ihn den Unterschied zwischen hartem und leichtem Joche lehrte. (Wezel, B, II, S. 304)

Das Landleben „in dem Stande der Gleichheit, wie er nie war und Philosophen ihn träumten, in der bloßen Familienunterwürfigkeit der Natur“ gerät bei näherem Hinsehen zur Parodie auf Klischees der utopischen Literatur. Sie soll den Leser genauso narren wie Belphegor und Akante die säuselnde Musik und die goldenen Vögel, die das Land der Zwerge umschwirren. Ist die dornige Hecke, die dieses Utopia umschließt, erst einmal durchbrochen, so wird deutlich, dass hier dieselben Gesetze herrschen wie in der Wirklichkeit: man balgt sich um einen Platz auf dem Sofa des Herrschers oder um die höchsten Stelzen, wenn man nicht gar nach der Universalsprache forscht.109 Mit anderen Utopien räumt Wezel freilich gründlicher auf: Endet schon die Insel des Robinson in der totalen Zerstörung und seine Beschreibung buchstäblich als Kanonenfutter110, so wird auch mit dem Derwisch-Idyll im Belphegor tabula rasa gemacht: eine Horde goldgieriger Barbaren fällt in das Tal ein und macht es dem Erdboden gleich. Von der Wirklichkeit des Krieges aller gegen alle eingeholt, muss Belphegor erkennen, dass der Eskapismus im universellen Grauen unmöglich ist.111 Wenn hingegen, wie in der EupatorEpisode des Tobias Knaut, die Realisation eines utopischen Projekts einmal gelingt, dann wird es unter den Händen Wezels zu einer Satire auf die goldene Zeit der Patriarchen112: Hatte Eupator [...] sehr wenig Glück, als er seinen politischen Plan im Großen ausführen wollte, so gelang es ihm doch unendlicher besser im Kleinen. [...]. [E]r brauchte in seiner Einsiedeley eine Zeitverkürzung: der Fuhrmann, wenn er sich zur Ruhe begeben hat, flicht 109

Vgl. Wezel, B, II, S. 167-193. Vgl. Wezel, RK, S. 259: „Nichts blieb übrig als die Spuren der Bevölkerung, Steine mit Aufschriften, verschüttete Pantoffeln, Trinkgefäße und Nachttöpfe, vermoderte Strümpfe, verstreutes Geld, zerbrochene Waffen, umgestürzte Heiligenbilder, damit demnächst ein amerikanischer Antiquar alle diese Altertümer ausgraben und der Akademie der Wissenschaften in Kanada oder der Sozietät der Altertümer unweit Hudson Bai mit vielen Zitaten aus den alten teutschen, französischen und englischen Schriftstellern beweisen kann, daß hier einmal Europäer wohnten.“ Zum Schicksal des Werkes selbst vgl. ebd., S. 260. 111 Vgl. Wezel, B, II, S. 66-116; s. dazu auch Joerger, 1981, S. 192. 112 Vgl. dazu Tronskaja, 1969, S. 164. 110

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Peitschenriemen, und der Staatsmann – baut Monarchieen, im Kopfe oder in Natur. (Wezel, TK, III, S. 142 f)

Auch bei Wieland, dessen Umgang mit dem Utopischen mildere, wenn auch nicht minder kritische Züge trägt, ist die Realisation utopischer Entwürfe – wie die Psammis-Episode im Goldenen Spiegel zeigt (vgl. Wieland, Werke, II, 6, S. 98-124) – nur im überschaubaren Rahmen möglich oder dient zur bloßen Kompensation des politischen Scheiterns – wie es bei Danischmends patriarchalischem Projekt im „Tal von Jemal“ der Fall ist (vgl. Wieland, Werke, III, 8, S. 457-464). Im Agathon schrumpft Utopia gar auf das Innenleben des Protagonisten zusammen, der als Schwärmer „in einem unbekannten Lande“ (Wieland, A, S. 117) lebt, der aber im Prozess seiner Desillusionierung die Zerstörung dieses Landes erleben muss.113 Die Tarent-Utopie schließlich, mit der der Agathon endet, steht, wie schon Jacobs feststellte114, unter dem ironischen Vorbehalt des Erzählers: Bis hierher scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den hauptsächlichsten Stükken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt, welche, unparteiisch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts bessers als eine Werkel-TagsWelt (wie Shakespeare sie irgendwo nennt) gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin so viel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absíchten 115 sind bereits erreicht [...]. (Wieland, A, S. 552)

So verfällt im Agathon auch das Happyend, für das es ohnehin keine Notwendigkeit gebe, da die Absichten des Herausgebers „bereits erreicht“ seien, dem ironischen Erzählerkommentar: Freilich ist ein solcher Zusammenfluß glücklicher Umstände allzuselten, um wahrscheinlich zu sein. Aber wie soll sich ein armer Autor helfen, der (alles wohl überlegt) nur ein einziges Mittel vor sich sieht, aus der Sache zu kommen, und dieses ein gewagtes? Man hilft sich, wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte. (Wieland, A, S.556 f)

So deutet sich gegen Ende der ersten Fassung des Agathon an, was im Goldenen Spiegel und im Diogenes mit großer Virtuosität durchgeführt wird: das ironische Spiel mit utopischen Entwürfen. Während sich die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Utopie im Goldenen Spiegel auf die Rahmenhandlung beschränkt, in der 113

Vgl. Hohendahl, 1969, S. 99. Vgl. Jacobs, 1965, S. 73. Welche Schwierigkeiten Wieland mit dem Romanschluss hatte, zeigt sich an seiner jahrzehntelangen Arbeit am Agathon-Projekt, dessen drei Fassungen jeweils ein anderes Ende haben. 115 Diese Bemerkung, durch die der Romanschluss ausdrücklich als Utopie angekündigt wird, fehlt bezeichnenderweise in der 3. Fassung des Agathon, welche die Tarentepisode wesentlich ungebrochener darstellt. 114

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Danischmend gegenüber dem Sultan Sinn und Zweck seiner Erzählung von Tifans Reich zu rechtfertigen versucht116, und dabei die „doppelte Fiktionsstruktur“ zwischen dem figmentum verum der erzählten historischen Welt und dem figmentum heterocosmicum der utopischen mit verschiedenen Illusionierungstechniken – wenn auch ironisch gebrochen – verschleiert werden soll117, wird im Diogenes dieses Spiel so weit getrieben, dass der Entwurf utopischer Modelle – und damit fiktionaler Welten überhaupt – für den Leser in seinen Bedingungen durchschaubar wird und die „Bewußtheit des utopischen Verfahrens, des Spiels oder Experimentierens mit ‚Möglichkeiten‘“ seinen Höhepunkt erreicht118: Ich will mir einbilden, ich wär‘ ein weiser Zauberer, der mit Hülfe einer magischen Ruthe alle seine Ideen realisieren könnte; und hätt‘ eine noch unbewohnte Insel vor mir liegen, welche groß und fruchtbar genug wäre, einige hundert tausend Männer, mit den dazu gehörigen Weibern und Kindern, auf jeden Mann höchstens zwey Weiber und sechs Kinder gerechnet, hinlänglich zu ernähren. (Wieland, Werke, IV, 13, S. 161 f)

Nachdem Diogenes sich beim Entwurf seiner Republik, obwohl in ihr „alles natürlich zugehen soll“ (ebd., 13, S. 177), ironisch über die Realität hinweggesetzt hat119, verrät er, dass die Erfindung ihrer Staatsverfassung ihm „keine halbe Stunde Zeit gekostet“ 116

Vgl. Wieland, Werke, II, 7, S. 169 f: „[I]ch muß gestehen, je weiter wir in der Geschichte Tifans kommen werden, desto weniger wird sie die Miene einer Geschichte aus dieser Welt haben. Aber dem ungeachtet kann ich mirs nicht aus dem Kopfe bringen, daß sie eine so wahre Geschichte ist, als immer die Geschichte von Azorn oder Isfandiarn. Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sey. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke) nicht unter den itzt lebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal seyn.“ Hohendahl merkt in diesem Zusammenhang an, dass Wieland, der im Goldenen Spiegel das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Utopie reflektiere, „das Historische als Fiktion preis[gebe], um auch das Utopische als Fiktion behandeln zu können.“ (Hohendahl, 1969, S. 103) 117 Vgl. Mähl, 1969, S. 60 f:.Mähl sieht eine enge Verbindung zwischen der Forderung einer ‚narratio verisimilis‘ und der „doppelten Fiktionsstruktur“, insofern Wieland im Goldenen Spiegel versucht, „den Übergang vom ‚wahren‘ zum ‚hypothetisch Möglichen‘, oder von der epischen Fiktion der Erfahrungswelt als dem ‚figmentum verum‘ zur utopischen Fiktion der Planeten- oder Inselwelt als dem ‚figmentum heterocosmicum‘ durch raffinierte Illusionierungstechniken so unmerklich zu gestalten, daß beide dem gleichen Postulat der Wahrscheinlichkeit zu unterliegen scheinen“. Hohendahl weist dem gegenüber darauf hin, dass der Realitätsanspruch der Darstellung der ‚historischen‘ Welt (also der Fiktionalitätsebene 1) gerade dadurch verstärkt werde, dass innerhalb der Fiktion eine zweite Fiktionalitätsebene eingezogen wird, auf der utopische Modelle verhandelt werden: „Während [im Goldenen Spiegel] die Utopie eine bloß mögliche, wenn auch immanent konsistente Welt darstellt, entspricht die historische Welt den Gesetzen der Natur, und zwar strenger als die tatsächliche Wirklichkeit selbst [nämlich als „Grundmuster geschichtlicher Entwicklung überhaupt“].“ (Hohendahl, 1969, S. 104 f) Dadurch aber bekomme „die erzählte Geschichte die Funk-tion eines Beispiels“, „an dem sich typische Strukturzusammenhänge und Abläufe erklären lassen“ (ebd., S. 106). 118 Vgl. Mähl, 1969, S. 64 ff. 119 Vgl. ebd., S. 163: „Der Henker möchte eine Republik machen, wenn man die Leute nehmen müßte wie man sie fände.“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

(ebd., S. 193) habe, um seinen Inselstaat schließlich wie eine „bloße Schimäre“ für alle Zeiten unsichtbar zu machen.120 Hier zeigt sich, wie weit der philosophische Roman der Spätaufklärung mit seiner autoreflexiven Erzählstrategie geht: Indem auf die Bedingungen der Möglichkeit des utopischen Verfahrens reflektiert wird, erweist er sich als ein transzendentaler Metaroman, der in eins mit dem Erzählten das Erzählen selbst ständig mitthematisiert. Der Aristipp Wielands schließlich, der den Platonischen Staat rücksichtslos demontiert und damit die Kritik am utopischen Denken bis zum Äußersten treibt121, eröffnet seinem Helden zwar das ferne und erst ganz zuletzt wiedergefundene Cyrene als finalen Fluchtort, der, wie Aristipp sagt, „immer das letzte Ziel meiner Wanderungen [bleibt], das Ithaka der freywilligen Odyssee, die ich – nicht dichte – sondern lebe“ (Wieland, Werke, XI, 34, S. 261 f). Aber als er sich endlich im Idyll eingerichtet hat (um dort seine Platonkritik zu schreiben!), ziehen auch schon dunkle Wolken auf.122 Wenn jedoch nicht einmal ein solcherart gedichtetes Leben wie dieses Ithaka ungetrübt bestehen kann, dann darf vermutet werden, dass Wieland erheblichen Zweifel gehabt hätte, ob die Kunst überhaupt, wie Adorno es später wollte, die Utopie nach dem Scheitern aller philosophischen Entwürfe weiterzutragen vermöchte. Die Antwort auf die Frage, warum das utopische Denken und Erzählen in den philosophischen Romanen der Spätaufklärer eine so zentrale Rolle spielt, wenn es doch zugleich nur ironisch behandelt wird, lautet also: weil es eine zentrale Funktion für die Erzählweise dieser Romane hat. Durch die Verwendung von Utopien entsteht innerhalb der philosophischen Romane eine doppelte Wirklichkeitsstruktur: der Ebene des Utopischen steht die Ebene der erzählten historischen Wirklichkeit gegenüber. Durch diese „doppelte Fiktionsstruktur“ wird es möglich, dass die Utopie stellvertretend für die fiktionale Erzählwelt einsteht und somit die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Utopie zum stellvertretenden Ausdruck für die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens wird. Wo Utopienreflexion war, da soll Fiktionsreflexion werden. Was dies aber für Konsequenzen hat, kann erst nach Darstellung der Ästhetik der möglichen Welten deutlich gemacht werden.

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Vgl. ebd., S. 201: „Zu Folge dieser Zärtlichkeit für meine Geschöpfe, und damit ich ihnen, so viel an mir ist, alle Gelegenheit ihre Vervollkommbarkeit zu entwickeln abschneide, – kann ich demnach nicht umhin, zu ihrem Besten noch einen Schlag mit meiner Zauberruthe zu thun, und die ganze Insel auf immer und ewig – unsichtbar zu machen. Alle Mühe, die sich eure Seefahrer jemahls um ihre Entdeckung geben möchten, würde verloren seyn; sie würden sie in Ewigkeit nicht finden.“ 121 Es sei hier nochmals darauf verwiesen, dass auch Klinger in der Kopha-Episode der Reisen vor der Sündfluth mit dem Philosophenstaat seine Abrechnung macht. 122 Vgl. Wieland, Werke, XI, 36, S. 378 ff.

2.1.5 Die Nachahmung der möglichen Welten. Die pragmatische Wende der Ästhetik und die Autoreflexivität im philosophischen Roman der Spätaufklärung Mich däucht ich flog, beschwingt, an meines Schutzgeists Seiten 1 In eine neue Welt durchs Reich der Möglichkeiten [...].

Wie wir gesehen haben, ist die Auseinandersetzung mit staats- und geschichtsphilosophischen Problemen sowie mit dem utopischen Denken für die literarischen Spätaufklärer vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten von Belang. Denn die Utopie als das Herzstück der Staats- und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts nimmt in den philosophischen Romanen Rolle und Funktion der Fiktion ein, sodass die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Utopie bzw. die kritische Auseinandersetzung mit utopischen Geschichtsmodellen zum stellvertretenden Ausdruck für die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Fiktionalität, damit aber zum Kennzeichen der Autoreflexivität des philosophischen Romans und zum Wegbereiter von Autonomieästhetik und Transzendentalpoesie wird. Spätestens an dieser Stelle schlägt also die Beschäftigung mit dem diskursiven Gehalt des philosophischen Romans in eine Analyse seiner formalen Merkmale um. Das folgende Kapitel spielt daher insofern eine Sonderrolle, als in ihm zwar noch von materialen oder diskursiven Aspekten ausgegangen wird, im Grunde aber die formalen oder strukturellen Aspekte im Zentrum der Betrachtung stehen, da hier die diskurslogischen Konsequenzen aus dem diskursiven Gehalt des pragmatischen Paradigmas gezogen werden. Der philosophische Roman der Spätaufklärung stellt deshalb gerade in seinen formalen Merkmalen eine Syntheseleistung ersten Ranges dar. Dies aber korrespondiert mit der Stellung der Ästhetik innerhalb der dem pragmatischen Paradigma verpflichteten Philosophie des 18. Jahrhunderts. Die ästhetische Theorie, die im Zeitalter der Aufklärung allererst begründet wurde, bemühte sich nämlich ebenfalls um eine Integration der neuen Orientierungsmodelle von Erkenntnis-, Handlungs- und Gesellschaftstheorie, indem sie – unter beständiger Gefahr der Preisgabe ihrer Eigenständigkeit – Ergebnisse anderer Disziplinen in sich aufzunehmen bemüht war. Aufgrund dieses integrativen Charakters manifestiert sich auf dem Gebiet der Ästhetik der Paradigmenwechsel am deutlichsten. Hier entstand ein neues Verständnis von Kunst, insbesondere von Literatur, die – zum ersten – in den „unteren Erkenntnisvermögen“ von Anschauung und Einbildungskraft fundiert wurde, womit die Ästhetik einen bedeutenden Beitrag sowohl zur „Rehabilitation der Sinnlichkeit“2 als auch zur Aufwertung der Subjektivität leistete. Zum zweiten erneuerte die ästhetische Theorie der Aufklärung die aristotelische Mimesis-Lehre, indem sie die Literatur als Nachah1 2

Wieland, Werke, XIII, S 1, S. 248. Vgl. Kondylis, 1981, S. 19.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

mung menschlicher Handlungen und ihrer Genese deutete und dadurch auf eine am Vorbild der Naturwissenschaft und ihrer deterministischen Interpretation der Welt orientierte psychologische Grundlage stellte.3 Und zum dritten erweiterte die aufklärerische Ästhetik dieses Konzept der Naturnachahmung durch die von Leibniz entwickelte und schon von Wolff, später dann von Baumgarten und den ‚Schweizern‘ auf die Kunst applizierte Theorie der möglichen Welten. Danach entwirft die Literatur eine autonome, kausal in sich geschlossene und nur der Konsistenzbedingung unterliegende Welt, sodass der Dichter buchstäblich zum zweiten Schöpfer wird.4 Durch die Abkoppelung der Theorie der möglichen Welten von der Theodizee wird der Roman als Darstellung einer besseren Welt als der realen ermöglicht. Es entstand eine (aufgrund des mimetischen Bezugs auf das Ganze der Welt) ‚holistische‘ Mimesistheorie, die später zur Grundlage der idealistischen Kunstphilosophie mit ihrer organizistischen Auffassung des Kunstwerks wurde. Indem die Ästhetik des 18. Jahrhunderts die Konzepte der Mimesis und der Poiesis – mit Hilfe ebenjenes Begriffs der möglichen Welten – vereinigte, integrierte sie sowohl das wissenschaftliche Kausalitätsdenken als auch das utopische Denken von Staats- und Geschichtsphilosophie und präsentierte sich als eine Disziplin, die mit den avancierten Formen der zeitgenössischen Philosophie Schritt zu halten vermochte. Der integrative Grundcharakter ist also dem philosophischen Roman und der Ästhetik gemeinsam. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass der Roman im ausgehenden 18. Jahrhundert zur neuen Leitgattung aufstieg. Ermöglicht wurde diese Entwicklung, die vom galanten über den empfindsamen und den komischen schließlich zum philosophischen Roman führte, durch die Offenheit der Gattung des Romans – eben jenes Romans, in dessen „Weite“, wie Jean Paul sagte, „alle Formen liegen und klappern können“5. Nirgendwo sonst als in einer Gattung, die sich noch nicht so weit etabliert hatte, dass ihre welterschließenden Funktionen durch ästhetische oder rhetorische Regeln eingeschränkt waren6, konnte der Paradigmenwechsel, konnte die pragmatische Wende auch diskurslogisch vollzogen werden. Nur hier, wo selbst die disparatesten Elemente

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Zur Vorbildlichkeit der Naturwissenschaft sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. Fulda, 1996, S. 59 ff, Esselborn, 1994 und Thomé, 1978. Die Auffassung vom Künstler als zweitem Schöpfer, die vor allem von Baumgarten und den Schweizern vertreten wurde, findet sich noch bei Lessing. So schreibt er in seiner Hamburgischen Dramaturgie: „[D]as Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein [...].“ (Lessing, 1985 ff, Bd. 6, S. 577) Wir werden auf diese Thematik noch zu sprechen kommen. Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 248. So bezeichnet Schönert den Roman als eine offene Form, die noch „frei von poetologischen Erwartungen und außerhalb einer einengenden Gattungssystematik“ ist (Schönert, 1969, S. 75). Und Koopmann verweist auf das „sonderbare[] Nebeneinander von ausgebreiteter Romanpraxis und fehlender Romantheorie“ im 18. Jahrhundert (Koopmann, Hans: „Vom Epos und vom Roman“, in: ders. (Hrsg.), 1983, S. 16), was allerdings – nicht nur im Hinblick auf Blanckenburgs Versuch über den Roman – nur von begrenzter Gültigkeit ist.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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integriert werden konnten, war eine autoreflexive Grundstruktur realisierbar.7 Zudem war der Roman im 18. Jahrhundert – im Gegensatz zum Epos – zwar „am meisten verachtet“ und in seiner Regellosigkeit anrüchig, er wurde aber zugleich „am meisten gelesen“ (Wezel, HU, S. 9) – ein Vorteil, der die selbst für enttäuschte Aufklärer attraktive Breitenwirksamkeit garantierte und somit die Popularphilosophie auch in dieser Hinsicht hinter sich lassen konnte. Dabei orientierten sich die literarischen Spätaufklärer am Konzept des pragmatischen Romans. Will man jedoch dieses Konzept, das für die Romantheorie des 18. Jahrhunderts von so großer Bedeutung gewesen ist, als das begreifen, was es für die damalige Zeit war: ein revolutionärer Neuansatz, so hat man zuvor zwei einflussreiche Theorien zu berücksichtigen – zum einen das Konzept der möglichen Welten und zum andern die unter dem Vorbild der Naturwissenschaften einer entscheidenden Wandlung unterworfene Mimesistheorie. Erst diese beiden Konzepte zusammen ermöglichen die Entstehung des pragmatischen und, auf dessen Basis, auch des philosophischen Romans und führen zu jener Aufwertung der Literatur, die diese neben Philosophie und Wissenschaft zu einer gleichermaßen berechtigten Erkenntnisleistung werden lässt. Zuvörderst aber muss man sich mit der Erinnerung an das Unternehmen einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“8 die Generalvoraussetzung dieses Prozesses ins Gedächtnis rufen: Indem den ‚unteren Erkenntnisvermögen‘ nicht mehr bloß die Rolle des Materiallieferanten für Verstand und Vernunft, sondern eine eigenständige Bedeutung zugeschrieben wurde, stellte sich die Ästhetik an die vorderste Front jener geistigen Bewegung, die wir als Tradition der anderen Vernunft bezeichnet und mit dem Begriff des pragmatischen Paradigmas zu charakterisieren versucht haben. Allerdings bedeutet jene „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ keineswegs, dass nunmehr die sinnliche Empfindung bzw. das Lustgefühl sans phrase ins Zentrum der (ästhetischen) Erkenntnis rückt. Vielmehr war man sich im 18. Jahrhundert darüber einig, dass die Sinnlichkeit nur insofern im Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen stehe, als von ihr jede Erkenntnis, auch und vor allem die der Kunst zugeschriebene ihren Ausgang nehme, war sich mithin darin einig, dass die sinnlichen Empfindungen ausschließlich in bereits verarbeiteter Form in Betracht kämen, wenn man sich auch Art und Umfang dieser Verarbeitung jeweils verschieden vorstellte. Die Sinnesdata allein, so meinte man, ergeben keine Erkenntnis, auch keine anschauliche; was hierfür gelten soll, setzt bereits ein synthetisches Vermögen voraus. Als dieses synthetische Vermögen identifizierte man den Geschmack und die Einbildungskraft.9 Was der Verstand für die Erkenntnistheorie und der 7 8 9

Die Offenheit der Romangattung ist jedoch nicht nur Voraussetzung für die Entwicklung des philosophischen Romans, sondern dieser ist zugleich das Musterbeispiel für diese Offenheit. Kondylis, 1981, S. 19. Vgl. Kant, 1983, S. 179 [A 240 f]: „Im Geschmack (der Auswahl) aber, d.i. in der ästhetischen Urteilskraft, ist es nicht unmittelbar die Empfindung (das Materiale der Vorstellung des Gegenstandes), sondern wie es die frei (produktive) Einbildungskraft durch Dichtung zusammenpaart, d.i. die Form, was das Wohlgefallen an demselben hervorbringt: denn nur die Form ist es, was des An-

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

moralische Sinn in der Moralphilosophie leisten, das sollen Geschmack und Einbildungskraft in der Ästhetik sein: die synthetischen, dennoch aber sinnlichen Vermögen, welche die auf ihrem Feld jeweils relevanten Erkenntnisse konstituieren.10 Nur dadurch wird der ästhetischen Erfahrung jene Allgemeingültigkeit garantiert, ohne die sie keinen Anspruch auf Erkenntnis erheben und entsprechend keine eigenständige Disziplin begründen kann.11 Dies muss man im Gedächtnis behalten, wenn man von der „Rehabilitation der Sinnlichkeit“, dem Primat der Affektivität vor der Rationalität oder der Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen spricht. Nur vor diesem Hintergrund wird begreiflich, warum bereits Baumgarten zwischen den Erkenntnissen der ratio und des analogon rationis12, als das er das ästhetische Erkenntnisvermögen bezeichnete, bloß einen graduellen Unterschied der Deutlichkeit sah13 und beiden jeweils eine eigene Wahrheit zuordnete. Nur so wird schließlich einsichtig, mit welchem Recht die Schweizer von der ‚Wahrheit der Einbildungskraft‘ sprachen, die ihrer Auffassung nach in der Poesie angestrebt würde – im Gegensatz zur in Philosophie und Wissenschaft intendierten ‚Wahrheit des Verstandes‘.14

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spruchs auf eine allgemeine Regel für das Gefühl der Lust fähig ist.“ Bei Hume soll die Überbrükkung der Kluft von Sinnlichkeit und Geist mit Hilfe des Geschmacks über die „common sentiments of human nature“ erfolgen. Wie bei Shaftesbury ist auch hier die vollkommene Funktionstüchtigkeit der menschlichen Seele – ihre ‚Gesundheit‘ – Voraussetzung einer solchen Objektivitätssicherung (vgl. dazu auch Kondylis, 1981, S. 320 f). Geschmack und Einbildungskraft stehen dabei sowohl zur sinnlichen Wahrnehmung als auch zur Lust in Beziehung, ohne sich allerdings auf diese reduzieren zu lassen (vgl. ebd., S. 315 ff). Die Verbindung von Ästhetik und Moral wird nicht nur von Shaftesbury durch die Verknüpfung von Geschmack (taste) und moral sense in dessen Virtuoso-Ideal hergestellt, sondern auch von Kant hervorgehoben, wenn er den Geschmack als „Moralität in der äußeren Erscheinung“ (Kant, 1983, S. 184 [A 244]) bezeichnet und schreibt, dass „der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität“ habe; hierbei wird diese Verbindung gerade über den (All-)Gemeingültigkeitsanspruch moralischer und ästhetischer Urteile geschlagen (vgl. ebd., S. 183 [A 244]; s.a. Kondylis, 1981, S. 323 f). Wie wir insbesondere im Kap. 2.2.5 sehen werden, übernimmt die Einbildungskraft in der nachkantischen Philosophie eine wesentlich umfassendere Funktion. Auf die Unterscheidung Baumgartens zwischen ästhetischem Geschmack und rationaler Kritik kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf das weitaus schwierigere Problem des Verhältnisses von Geschmack und Urteilskraft bei Kant (vgl. dazu Schmidt, 1982, S. 192). Georg Friedrich Meier bezeichnet in seinen Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften das analogon rationis als „Inbegriffe aller sinnlichen Kräfte der Seele“. (Meier, 1754-59, Bd. 3, S. 2) Vgl. hierzu Schmidt, 1982, S. 193. Vgl. Breitinger, 1966, Bd. 1, S. 60 f: „[E]s giebt zwo Gattungen des Wahren in der Natur, eines hat alleine in der gegenwärtigen Welt Plaz, das andere aber findet sich nur in der Welt der möglichen Dinge; jenes können wir das historische, und dieses das poetische Wahre nennen: Beyde dienen zwar zu unterrichten aber das letztere hat noch den besonderen Vortheil, daß es uns zugleich durch das Verwundersame einnimmt und belustigt, da es Dinge, die nicht würklich sind, in unsere Gegenwart bringet; und eben hierinnen lieget der Grund des Ergetzens, das von der Materie der poetischen Schildereyen herrühret.“

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

211

Während jedoch Bodmer und Breitinger die „Logik der Phantasie“15 ausschließlich auf dem Felde der Kunst, insbesondere der Literatur realisiert sahen, schlug Baumgarten eine Verbindung zum sensus communis und sah die ästhetische Erkenntnis als grundlegend auch für die Alltagserfahrung an. Er stellte die von ihm neu begründete Disziplin der Ästhetik damit in den Kontext jenes existentiellen Erkenntnisbegriffs, der das pragmatische Paradigma insgesamt auszeichnet.16 Alle drei jedoch stehen im Zuge einer Entwicklung, in der auf dem Felde der Ästhetik nicht mehr die „Logik der Inhalte“, wie noch bei Gottsched, sondern eine „Logik der Verfahren“ von Relevanz ist17 und entsprechend nicht mehr primär die Vermittlung diskursiver Inhalte, sondern die formale Struktur der Vermittlung selbst von Interesse wird. Dieser Bedeutungswandel lässt sich sowohl bei der Frage nach der künstlerischen Nachahmung als auch im Konzept der möglichen Welten beobachten. In der Konsequenz der auf solche Weise die Anschaulichkeit in den Vordergrund rückenden, die unteren Erkenntnisvermögen aufwertenden und den sensus communis zu seinem Recht verhelfenden Ästhetik steht die Bestimmung der Kunst als Ort der ungeteilten Subjektivität.18 Vor allem in der Literatur sollte dadurch, dass sowohl die Affektivität als auch die Anschauung sowie Geschmack und Einbildungskraft in die ästhetische Erkenntnis einbezogen wurden, der ganze Mensch angesprochen werden. In diesem Anliegen, das die Ästhetik mit der Anthropologie verbinden sollte19, wurde jenes Ideal der Versöhnung zwischen Herz und Kopf in den „wohltemperierten Seelen“ (Wezel, RK, S. 8) verfolgt, das im pragmatischen Paradigma der Spätaufklärung eine so entscheidende Rolle spielte.20 Im Kunstwerk realisiert sich also, wie Grimminger schreibt, die „Utopie des ganzen, mit sich selbst ‚organisch‘ versöhnten Subjekts“ – in ihm soll ein „harmonischer ‚consensus‘ aller Teile zum Ganzen, des Stoffs in der Form, der sinnlichen Erscheinung in der vernünftigen Ordnung“ hergestellt werden.21 Bei Wieland setzt in diesem Sinne der Mensch in der Kunst die Natur mit anderen Mitteln fort – nicht bloß um die nicht verwirklichten Absichten der Natur zu realisieren, son15 16

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Vgl. Schmidt, 1982, S. 143. Vgl. ebd., S. 186 u. S. 147, wo es heißt: „[U]nter der Beibehaltung der allgemeinen Hierarchie der Erkenntniseinstellungen (obere und untere Erkenntnisvermögen) wird ihre Bewertung […] relativiert; die jeweiligen Erkenntniseinstellungen werden auf spezifische Zwecke und Funktionen bezogen, in deren Rahmen sie ihre (relative) Eigenständigkeit und Legitimität besitzen; für die ‚Phantasie‘ bzw. das analogon rationis ist dies vor allem der lebensweltliche Bereich des sensus communis und die Logik der mimetischen Künste, die sich aufgrund ihrer rhetorisch-didaktischen Wirkungsabsichten an diesen lebensweltlichen Habitualisierungen und Erkenntnismustern orientieren.“ Blumenberg weist in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Figur des ‚Idiota‘ bei Cusanus hin, der Kunstfertigkeit mit praktischem Alltagswissen verbindet (vgl. Blumenberg, 1981b, S. 58). Zur Unterscheidung dieser beiden Logiken vgl. Schmidt, 1982, S. 28 f. Vgl. Herrmann, 1970, S. 270. Vgl. dazu Pfotenhauer, 1987, S. 1. Vgl. die Ausführungen in Kap. 2.1.2 und 2.1.3. Grimminger, 1982, S. 142.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

dern vor allem um dadurch seine eigenen Mängel zu kompensieren22 und zu einer Versöhnung mit sich selbst und der Natur zu gelangen.23 Die Kunst ist entsprechend jenes Feld menschlicher Welterschließungsbemühungen, auf dem die eine derartige Versöhnung anstrebende Utopie der Aufklärung bewahrt werden soll.24 Hier beginnt eine Entwicklung, die schließlich zu Schillers ästhetischem Bildungsprogramm führen sollte, in dem das Glücksversprechen einer harmonischen Selbstentfaltung sowie einer Aufhebung der Entfremdung des Menschen seinen gültigen Ausdruck erhielt25 – ein Ideal, das sich bis in die kritische Theorie verfolgen lässt. Trotz aller utopischen Bestrebungen ist aber für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts der Bezugspunkt die Natur, die in ihrer Gesetzmäßigkeit vorbildlich und nachzuahmen sei. Für die Spätaufklärer gehört, wie schon für Aristoteles, der Trieb zur Nachahmung zur anthropologischen Grundausstattung. Deshalb ist in ihren Augen die Mimesis nicht bloß für künstlerische Tätigkeiten der Maßstab, sondern bereits im alltäglichen Leben die „mächtige Meisterinn, die an unserm Charakter die meisten Meißelstiche thut“ (Wezel, TK, III, S. 38).26 Und wenn dieses Nachahmungsbedürfnis auch, wie z.B. am Erbauen von Leimhütten durch den „zweiten Schöpfer“ Tobias (vgl. Wezel, TK, I, S. 48 ff) oder an dessen Ambitionen als Prediger (vgl. ebd., S. 74 ff) deutlich wird, nicht frei von Lächerlichkeiten ist27, so erscheint sie doch selbst Wezel als derart grundlegend, dass seiner Auffassung nach auch „jedes sogenannte Originalbild des Dichters [...] im Grunde eine Nachahmung“ (Wezel, SE 3, S. 47) darstellt. In allen mimetischen Ansprüchen der Literatur ist für das ästhetische Denken der Spätaufklärung die Naturwissenschaft insofern Vorbild, als es, wenn es um die Nachahmung der Natur geht, stets deren Gesetzmäßigkeiten sind, an denen sich der Dichter

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Vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 56, an welcher Stelle er behauptet, dass die Kunst „die Anlagen der Natur anbaut, den Keim ihrer verborgenen Kräfte und Tugenden entwickelt, und dasjenige schleift, poliert, zeitiget oder vollendet, was die Natur roh, wild, unreif und mangelhaft hervorgebracht hat“. Vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 63 f. Vgl. Ueding, Gert: „Popularphilosophie“, in: Grimminger (Hrsg.), 1980, S. 629. Nach Grimminger artikuliert sich in Schillers Programm der ästhetischen Erziehung das „Bedürfnis der – und wenn auch schon beschädigten – Subjektivität, den Unterdrückungszusammenhang der Vernunft in Teilbereichen des Daseins aufzuheben“ (vgl. Grimminger, 1982, S. 138; s.a. Berghahn, Klaus L.: „Ästhetische Reflexion als Utopie des Ästhetischen. Am Beispiel Schillers“, in: Vosskamp (Hrsg.), 1982, Bd. 3. S. 146-171 sowie Ulrichs, 2010a. Auf einen wichtigen Aspekt weist in diesem Zusammenhang Grimminger hin, wenn er die Mimesis allgemein als die „Tendenz des menschlichen Subjekts, sich an ein Objektives zu verlieren, sich ihm konkret anzuähneln, anstatt abstrakt entgegenzusetzen“ beschreibt, was schließlich zur „Entdeckung der Verwandtschaft zwischen dem Subjekt und einem sinnlich gegebenen Objekt“ führe (vgl. Grimminger, 1982, S. 136). Vgl. auch die im Belphegor beschriebenen grotesken Verhältnisse am Hof des Neguz, in deren Darstellung die Nachahmung als anthropologisches Grundbedürfnis rücksichtslos parodiert wird (Wezel, B, I, S. 280-288).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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zu orientieren habe.28 Hierbei sei es vor allem ihr Kausalitätsprinzip, das die naturwissenschaftliche Erkenntnis für die Kunst maßgeblich mache.29 Allerdings geht es nach Überzeugung der Spätaufklärer speziell der Literatur nicht um den kausalen Zusammenhang innerhalb der Gesamtnatur, sondern um die Gesetze der menschlichen Natur und um die Motivation von Handlungen.30 Doch auch im Hintergrund einer solchen psychologisch orientierten Mimesistheorie steht noch die Vorstellung von einer vorbildlichen Ordnung des Kosmos, aus deren Rahmen nichts herausfallen könne. In ihrem nihil novum dicere artikuliert sich entsprechend die Unmöglichkeit der künstlerischen Überschreitung der Natur angesichts ihrer gesetzmäßigen Geschlossenheit.31 Dabei soll die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen literarischer Darstellung und dargestelltem Gegenstand keine buchstäbliche Kopie sein, sondern auf konventionellen Festlegungen beruhen.32 Eine solche Repräsentation ist jedoch erst dann glaubwürdig, wenn sie angemessen und vollständig ist; dies wiederum ist nur möglich, wenn das Prinzip der „Selektivität“ beachtet wird, d.h. wenn innerhalb der mimetischen Darstellung die relevanten Merkmale des darzustellenden Objekts ausgewählt werden.33

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Dass die Naturwissenschaft in den Augen der Spätaufklärer vorbildlich ist, lässt sich auch daran erkennen, dass die Schwärmerkur im Don Sylvio Wielands vom „Philosophen“ Don Gabriel mit Darlegungen aus der empirischen Naturlehre begonnen wird (vgl. Wieland, Werke, IV, 12, S. 6971). Man kann Jaumann deshalb nur beipflichten, wenn er die Aufklärungspoetik als Versuch bezeichnet, „die beginnende Trennung von Natur, Wissenschaft und Kunst aufzufangen und noch einmal in einem erkenntnistheoretisch und ästhetisch gleichermaßen verankerten Mimesiskonzept zu synthetisieren“ (Jaumann, 1994, S. 251). Vgl. dazu Preisendanz, 1969, S. 89 f. Zur Vorbildlichkeit der Naturordnung vgl. z.B. Shaftesbury, Werke, Bd. 1,1, S. 286: „Now whether the writer be Poet, Philosopher, or of whatever kind, he is in truth no other than a Copist after NATURE. His Stile may be differently suited to the different Times he lives in, or the different Humour of his Age or Nation: His Manner, his Dress, his Colouring may vary. But if his Drawing be uncorrect, or his Design contrary to Nature; his Piece will be found ridiculous, when it comes thorowly to be examin’d. For Nature will not be mock’d. The Preposession against her can never be very lasting. Her Decrees and Instincts are powerful; She has strong Party abroad; and as strong a one within ourselves [...].“ Den Einfluss dieses Denkens auf Wieland wird z.B. Wieland, Werke, II, 7, S. 125 f deutlich. So bestimmen van Fraasen und Sigman die Repräsentation eines Objekts richtig als „producing another object which is intentionally related to the first by a certain coding convention which determines what counts as similiar in the right way“ (Van Fraasen/Sigman, 1993, S. 74). Miller unterscheidet dabei zwischen Imitation – als „a copy that in one way or another advertises the fact that it is a copy“ –, Mimesis (die sich dadurch auszeichne, dass sie „exposed to knowledge“ oder, mit Heidegger zu sprechen, „in die Offenheit des Anwesens entlassen“ sei) und Reproduktion i.S. von „producing a simulacrum of the original production“ (vgl. Miller, 1993, S. 158). Vgl. Van Fraasen/Sigman, 1993, S. 74 f. Dabei geben sie allerdings zu bedenken: „[R]epresentation as such is too poor, too meager a concept to allow us to say much about any art at all.“ (ebd., S. 80) Darüber waren sich auch schon, wie wir sogleich sehen werden, die Spätaufklärer im Klaren.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Die Vorstellung vom Universum als einer harmonischen Ordnung kommt auch in der Metapher vom ‚Buch der Natur‘ zum Ausdruck, mit der die wissenschaftliche Darstellung der Welt als eines kausalen und gesetzmäßigen Systems in Richtung eines sinnerfüllten, in – dem Menschen lesbaren – Zeichen niedergelegten Naturbegriffs überschritten wird.34 Die Leitmetapher vom ‚Buch der Natur‘, die sich gegen das Konzept einer Weltmaschine stellt und erst ins Wanken gerät, als der Mensch, wie Jean Paul es ausdrückt, zum „große[n] Gedankenstrich der Natur“35 wird, der „in der Natur [...] immer nur Anfangsbuchstaben von Wörtern“ zu lesen vermag36, kommt bereits in der Forderung Gottscheds nach einer ‚natürlichen Schreibart‘ als einer „Schrift der Dinge selbst“ zum Ausdruck.37 Sie steht aber – bei Gottsched so gut wie späterhin – im Kontext der Mimesistheorie, die das Ganze der Natur abzubilden versucht. Doch bereits die Mimesistheorie selbst erhält aufgrund der Doppeldeutigkeit des Naturbegriffs eine ambivalente Bedeutung. Diese Ambivalenz, die schließlich zur Entstehung des Konkurrenzmodells der Poiesis führt, beruht auf dem Doppelsinn von Natur als natura naturans und natura naturata, der gemäß Nachahmung nicht mehr nur Reproduktion eines vorgegebenen (eidetischen) Bestandes, sondern Nachvollzug des produktiven Vermögens der Natur durch den Menschen bedeutet.38 In diesem Sinne beschreibt Blumenberg den an der natura naturans orientierten Mimesisbegriff: 34

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Vgl. Blumenberg, 1981a, S. 10: „Der Wunsch, die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ‚Lesbarkeit‘ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen, ist gewiß kein naturwüchsiges Bedürfnis [...]. Dennoch gehört dieser Wunsch zum Inbegriff des Sinnverlangens an die Realität, gerichtet auf ihre vollkommenste und nicht mehr gewaltsame Verfügbarkeit.“ Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 9. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass für Jean Paul die Aufklärung eine Epoche „poetische[r] Materialisten“ ist, für die die „Dichtung ein Kopierbuch des Naturbuchs“ gewesen sei (ebd., Bd. 5, S. 34 u. 38). Wie wenig dies zutrifft, sollte bereits deutlich geworden sein. Vgl. Lichtenberg, 1994, Bd. 2, S. 394 (J 2154): „Wir sehen in der Natur nicht Wörter sondern immer nur Anfangsbuchstaben von Wörtern, und wenn wir alsdann lesen wollen, so finden wir, daß die neuen sogenannten Wörter wiederum bloß Anfangsbuchstaben von andern sind[.]“ Vgl. Jaumann, 1994, S. 161 f. Hiermit einher gehen bei Gottsched sowohl die Forderung nach Popularität als auch das Ideal der Simplizität. Blumenberg, 1981b, S. 55, wo die Kunst aus diesem Grunde als die „eigentlich metaphysische Tätigkeit dieses Lebens“ bezeichnet wird. Bereits bei Baumgarten lässt sich ein solcher doppelter Naturbegriff finden, insofern man sein „intrinsecum mutationum in universo principium“ als natura naturans deuten kann. Entsprechend erscheint auch bei ihm die Mimesis als Nachahmung des schöpferischen Prinzips der Natur: „Natura et poeta producunt similia.“ (Baumgarten, Meditationes, § 110; vgl. auch Franke, 1972, S. 91 ff). Eine solche Vorstellung wird aber ebenso in der Romantheorie Blanckenburgs deutlich, wenn es heißt: „Wenn der so gepriesene Grundsatz der Nach-ahmung irgend einen Sinn hat, als der: verfahret in der Verbindung, der Anordnung eurer Werke so, wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt.“ (Blanckenburg, Versuch, S. 313) Auch Wieland steht unter dem Einfluss eines derart doppeldeutigen Naturbegriffs, wenn er behauptet, dass „die Kunst [...] im Grunde nichts anders ist, als die Natur selbst“ (Wieland, Werke,

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Der werksetzende und handelnde Mensch stellt sich in die Konsequenz der physischen Teleologie: er vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr – nicht sein – immanentes Sollen. Τεχνη und φυσισ sind gleichsinnige Konstitutionsprinzipien, das eine bewirkt von außen, 39 was das andere von innen zustande bringt.

Diese Auffassung von der produktiven Natur stellt die notwendige Bedingung für den Übergang von der klassischen Mimesistheorie zum Konzept der Poiesis dar. Die hinreichende Bedingung wird hingegen erst im Kontext der Theorie der möglichen Welten formuliert. Die Fortsetzung des produktiven Vermögens der Natur durch den Dichter bleibt jedoch so lange eine bloße Nachahmung, als die Schöpfungen der Natur als vollständig und nicht ergänzungsbedürftig angesehen werden. Erst wenn diese ontologische Voraussetzung überschritten wird – wie dies innerhalb des Konzepts der möglichen Welten geschieht –, kann zu Recht die Rede sein vom Menschen als einem zweiten Schöpfer, der mit seinen Kunstwerken mehr tut als bloß den vorgegebenen ontischen Bestand der Welt nachzuahmen. Wie wir noch genauer sehen werden40, üben die Auffassung von der Natur als eines produktiven Vermögens und das darauf beruhende Verständnis der Mimesis als einer Nachahmung dieser Produktivität durch den Künstler41, durch die Vermittlung vor allem von Karl Phillip Moritz einen ungeheuren Einfluss auf die Kunstphilosophie der Romantik und des Deutschen Idealismus aus. Darüber hinaus ist hierfür aber, wie Blumenberg gezeigt hat, eine Wandlung des in der Antike entwickelten Wirklichkeitsbegriffs der „momentanen Evidenz“ zu einem Konzept von Wirklichkeit als „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ erforderlich42 – wie er auch im Totalitätsanspruch des Romans vorausgesetzt wird:

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V, 14, S. 56), und fortfährt: „Die Natur selbst ist es, welche durch die Kunst ihr Geschäft in uns fortsetzt [...].“, gleichzeitig aber von der Kunst als einer Täuschung spricht (ebd., S. 62; vgl. hierzu auch Müller, 1971, S. 150). Blumenberg, 1981b, S. 73 f. Vgl. dazu vor allem das Kap. 2.2.4. Insofern stellen Mimesis und Poiesis nur dann einen Gegensatz dar, wenn die Natur als bloßes Produkt (als natura naturata) aufgefasst wird. Auch Eldridge weist darauf hin, dass das Poiesiskonzept letztlich an die Mimesisvorstellung gebunden bleibt, da poiesis so viel wie „making of any imitative representation (mimesis)“ bedeute. (Eldridge (Hrsg.), 1996, S. 7) Gleichzeitig behauptet er jedoch, die Poesie versorge uns mit „concepts with indeterminate truth-conditions“ bzw. mit „new, indeterminate ways of looking at new things that can help to support creative, reflective judgements of our experiences and lead us toward new ways of making sense.“ (Ebd., S. 19) Eine solche Bestimmung des Vermögens der Poesie ist jedoch nur unter Voraussetzung der Applikation der Theorie der möglichen Welten auf die Kunst formulierbar. Vgl. dazu Blumenberg, 1966, S. 496 u. (1969), S. 10 ff. Nachdem er dort festgestellt hat, dass „in der Geschichte unserer ästhetischen Theorie [..] diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zur ‚Wirklichkeit‘ zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden“ ist, entwikkelt Blumenberg vier historische Wirklichkeitsbegriffe – nämlich als „Realität der momentanen Evidenz“, als „garantierte Realität“ (nach dem cartesianischen Schema der dritten Instanz), als „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ und schließlich als „Realität als Widerstand“. Die klassische Theorie der Nachahmung ist laut Blumenberg in dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz fundiert (vgl. ebd., S. 14 f).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Die Frage nach der Möglichkeit des Romans als eine ontologische, d.h. als eine die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff aufsuchende, zu stellen, bedeutet also, nach der Herkunft eines neuen Anspruchs der Kunst zu fragen, ihres Anspruchs, nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Ei43 ne Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.

Damit einher geht eine Wandlung des Begriffs der Wahrheit von Kunst, wonach nicht mehr der materiale Gehalt des Kunstwerks interessiert, sondern dadurch, dass die innere Konsistenz der von der Kunst geschaffenen Welt zum einzigen Kriterium ihrer Wahrheit wird, nur mehr noch der formale Wirklichkeitsausweis von Belang ist.44 Metaphysische Voraussetzung einer solchen Poiesiskonzeption, nach der der Mensch zum zweiten Schöpfer wird, ist die Vorstellung von seiner Gottesebenbildlichkeit. Allerdings ist hierfür der christliche Gottesbegriff erforderlich und nicht die platonische Vorstellung von einem Demiurgen, der alle Möglichkeiten (die Ideen) ausschöpft und dadurch jede originäre menschliche Leistung ausschließt.45 Die christliche Metaphysik spricht Gott hingegen die Attribute der Allmacht und der Unendlichkeit zu, wonach ihm bei der Schöpfung der Welt unendlich viele und von ihm gleichermaßen realisierbare Möglichkeiten zur Verfügung stünden, während das als endlich gedachte wirkliche Universum dieses unendliche Universum der Seinsmöglichkeiten nicht ausschöpfe.46 Bei Leibniz heißt es in diesem Sinne: [D]ie existierende Welt ist zufällig, und unendlich viele andere Welten sind ebenso möglich und streben sozusagen ebenso wie sie nach der Existenz. Daher muß die Ursache der Welt auf alle Welten Rücksicht oder Bezug genommen haben, will sie eine von ihnen zur Existenz bestimmen. [...] Diese mit Verstand begabte Ursache muß außerdem in jeder Weise unendlich sein, ihre Macht, Weisheit und Güte müssen unbedingt vollkommen sein; denn sie umfaßt jede 47 Möglichkeit.

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Blumenberg, 1969, S. 19. Vgl. ebd., S. 20 f. 45 Vgl. Blumenberg, 1981b, S. 70. Die äußerste Originalität, die im Rahmen einer antiken Gottes- und Naturvorstellung möglich ist, ist nach Blumenberg die Realisierung der in den natürlichen Gegenständen zwar angelegten, aber noch nicht vollständig verwirklichten Naturabsichten (vgl. ebd., S. 73). 46 Möglich heißt nach Leibniz alles, was in sich widerspruchsfrei ist: „Alles einen Widerspruch Involvierende ist unmöglich und alles keinen Widerspruch Enthaltende ist möglich.“ (Leibniz, 1925, S. 234) 47 Leibniz, 1925, S. 100. Vgl. auch Breitinger, 1966, Bd. 1, S. 56: „Alleine da dieser Zusammenhang der würcklichen Dinge, den wir die gegenwärtige Welt nennen, nicht lediglich nothwendig ist, und unendlich vielemahl könnte verändert werden, so müssen außer derselben noch unzehlbar viele Welten möglich seyn, in welchen ein anderer Zusammenhang der Dinge, andere Gesetze der Natur und Bewegung, mehr oder weniger Vollkommenheit in absonderlichen Stücken, ja gar Geschöpfe und Wesen von gantz neuen und besondern Art Platz haben. Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit [...].“ 44

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Zwar hat Gott nach Leibniz die beste aller möglichen Welten geschaffen48, doch ist diese Welt hinsichtlich der unendlichen Möglichkeiten Gottes nicht vollständig. Deshalb ist diese metaphysische Konzeption die „ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit“ der Überschreitung der Naturnachahmung in Richtung der Originalität. Der Mensch kann nun als derjenige begriffen werden, der in seinen (Kunst-)Werken die nicht realisierten Möglichkeiten Gottes zur Existenz bringt.49 Diese Übertragung der Theorie der möglichen Welten auf das Gebiet der Kunst, insbesondere der Literatur ist bereits von Christian Wolff vorgenommen worden: Man kan solches auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen, so kan ich nicht anders sagen, als es sey möglich, daß dergleichen geschiehet. Fraget man aber, ob es würklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpffung der Dinge widerspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. [...] Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen erdichtete Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in 50 einer andern Welt sich zutragen kan.

Was Wolff hier zum Zweck der Veranschaulichung der Theorie der möglichen Welten nur andeutet, wird von Baumgarten und vor allem von Bodmer und Breitinger ausbuchstabiert. Dies zeigt sich bereits an der Unterscheidung Baumgartens zwischen den figmenta vera, heterocosmica und utopica.51 Während die figmenta vera als possibilis in mundo existente Ziel und Aufgabe der Geschichtsschreibung sind, hat es die Dichtung mit den figmenta heterocosmica zu tun, die possibilis in omnibus mundis possibilibus sind und dabei nur den Satz vom Grund sowie die Konsistenzforderung zu beachten haben52; die figmenta utopica schließlich, die Baumgarten als impossibilis in omnibus mundis possibilibus bezeichnet, werden als das schlechthin Widersinnige aus allen rational verfassten Diskursen ausgeschlossen.53 Entsprechend merkt er an, „daß der

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53

„Diese überlegene Weisheit konnte in Verbindung mit einer nicht weniger unendlichen Güte einzig und allein das Beste erwählen. [...] [G]äbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen.“ (Leibniz, 1925, S. 101) Vgl. Blumenberg, 1981b, S. 82 f. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 571. Vgl. Baumgarten, Meditationes, §§ 51-57. Die heterokosmischen Erfindungen besitzen auch insofern eine ordo maxime compositus, als durch sie autonome Welten – mit den Merkmalen der Stringenz, Geschlossenheit, inneren Wahrscheinlichkeit sowie der Harmonie und Übereinkunft im Einzelnen (vgl. Baumgarten, Aesthetica, § 518) – geschaffen werden: „Eine gänzlich neue poietische Welt ist weder ähnlich noch zusammenhängend noch irgendwie sonst verbunden mit anderen poietischen Welten.“ (Vgl. dazu Franke, 1972, S. 97 f) Entsprechend bestimmt Baumgarten das Widersprüchliche, Unbegründete und Zufällige als eine falsitas aesthetica; durch diesen „Inbegriff widersprechender Vorstellungen“ sind in seinen Augen die Utopie, der Traum und das „Land der Wünsche“ ausgezeichnet, nicht aber die Werke der Kunst (vgl. Franke, 1972, S. 102).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Dichter ein Schaffender, ein Schöpfer sei“, insofern er in seinem „Gedicht“ eine mögliche Welt entwerfe.54 Dadurch aber, dass in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts mit dem Konzept der möglichen Welten sowie der an dieses gebundenen Poiesis-Vorstellung einerseits und der Mimesistheorie andererseits zwei metaphysische Modelle von ganz unterschiedlicher Provenienz zusammengeführt werden, entsteht eine überaus komplexe Theorielage. Will man hier Klarheit schaffen, so muss man die Theorie der möglichen Welten ausführlich darstellen. Nur dadurch lassen sich die Probleme aufhellen, die mit allen Versuchen, das Kunstwerk aus seinem Verhältnis zur Wirklichkeit zu legitimieren, verbunden sind.55 Nun betonten schon Leibniz und Wolff die prinzipielle Differenz von göttlichem und menschlichem Intellekt: Während Gott eine intuitive, detaillierte und anschauende56, dabei aber deutliche und klare Erkenntnis aller möglichen Welten und ihrer Fundamentalbegriffe besitze, durch die der göttliche Geist „tota simul“57 eine infallibilis visio von allen Relationen und Interdependenzen sowohl der Substanzen als auch der Phänomene gewinne, habe der Mensch (bestenfalls) eine diskursive und allgemeine, dabei nur schrittweise und zudem undeutliche und zumeist auch dunkle Erkenntnis58 allein der Strukturen der wirklichen Welt und ihres Fundamentalbegriffs. Aus dieser Erkenntnis der wirklichen Welt könne der Mensch allenfalls ein abstraktes, bloß formales Wissen vom Vorhandensein anderer möglicher Welten folgern und dabei vermuten, dass sie in Analogie zu den in der wirklichen Welt herrschenden Prinzipien organisiert sind, wobei ihm aber die genauere Beschaffenheit der Fundamentalbegriffe dieser Welten unbekannt bleibe. Der menschliche Intellekt vermag jedoch laut Leibniz und Wolff nicht einmal die Vollkommenheit der wirklichen Welt adäquat zu erfassen59 – von den anderen möglichen Welten fehle ihm gar jede materiale Erkenntnis. Der göttliche Geist hin54 55 56

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Vgl. Baumgarten, Meditationes, § 68. Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Ulrichs, 2008. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 963: Gott hat „von allen Dingen eine anschauende Erkänntniß“. Dabei ist allerdings von wesentlicher Bedeutung, dass es sich nicht um einen Begriff von Anschauung i.S. von sinnlicher Wahrnehmung handelt, sondern um eine Art von intellektueller Anschauung. Trotz dieser Unterscheidung von sinnlicher und intellektueller Anschauung scheint jedoch ein gewisser Widerspruch in der Leibniz-Wolffschen Philosophie nicht vollständig auflösbar zu sein, da die intuitive und in spezifischer Weise anschauliche Erkenntnis einerseits innerhalb der Theorie der möglichen Welten bzw. des göttlichen Geistes hoch bewertet wird, während sie andererseits im Rahmen der Erkenntnistheorie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies letztere ändert sich im Rahmen der deutschen Philosophie erst mit der Ästhetik Baumgartens. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 952, wonach es „nöthig [sei], daß GOtt alle Welten auf einmahl sich deutlich vorstellen kan“. Da der Mensch allein vom Dass, aber nicht vom Was des der wirklichen Welt zugrundeliegenden Fundamentalbegriffs weiß, ist sein Wissen vom inneren Zusammenhang dieser Welt bloß ein wahrscheinliches Wissen auf der Basis unzureichender Gründe. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 950.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

219

gegen habe Zugang zum höchsten Gesamtsystem60; ja er sei mit diesem mundus intelligibilis als dem Ort sämtlicher möglicher Welten letztlich sogar identisch. Somit besitze der göttliche Intellekt wahres Wissen von der wirklichen wie auch von allen möglichen Welten. Indem der Verstand Gottes „eine deutliche Vorstellung alles dessen, was möglich ist, zugleich oder auf einmahl“61 habe, sei Gott als „der allervollkommenste Geist“ der „summus philosophus“62 bzw. als „allerhöchste Vernunft“ „allein ein vollkommener Weltweiser“63. Laut Gurwitsch lässt sich die Leibnizsche – und wir können mit gewissen Einschränkungen hinzusetzen: auch die Wolffsche – Philosophie als eine Transzendentalphilosophie mit dem göttlichen Intellekt als Subjekt auffassen – mit der Konsequenz, dass von Leibniz zu Kant keine Subjektivierung stattfindet, sondern nur eine Ersetzung an der Stelle des Subjekts.64 Allerdings stellt sich die Frage nach der Überschreitbarkeit der Grenzen menschlicher Erkenntnis. Basiert „unser Wissen von der qualitativen Beschaffenheit möglicher Welten [...] auf unser[em] Erfahrungswissen“ und also „auf der ‚cognitio historica‘ als der Erkenntnis dessen, was in dieser Welt ist und geschieht“, so fragt sich, ob eine „von Erfahrung geleitete Einbildungskraft [...] uns zur Vorstellung dessen, was anstelle des in der wirklichen Welt Geschehenen in einer andern hätte geschehen können“65, zu führen vermag, oder ob wir ewig in den Schranken unseres unvollkommenen Geistes eingeschlossen bleiben. Ehe jedoch diese Frage beantwortet werden kann, wollen wir zunächst die Ontologie der möglichen Welten näher betrachten. Wolff bestimmt die Philosophie bekanntlich als die „Wissenschafft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind“.66 Gegenstand der Wissenschaft ist entsprechend nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit.67 Hierbei trifft Wolff die Unterscheidung zwischen logischer und empirischer Möglichkeit: Dem sich durch Widerspruchslosigkeit auszeichnenden „schlechterdings Möglichen“ (possibile internum sive intrinsecum)68 steht „das Mögliche in dieser Welt“ 60 61 62

63 64 65 66 67 68

Vgl. Gurwitsch, 1974, S. 450. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 955. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 904: „Wenn nun der Zustand aller Welten und also nicht allein dieser, die würcklich vorhanden, sondern auch noch aller übrigen, die nur immer mehr seyn können, auf einmahl deutlich vorgestellet wird, sowohl dem Raume als der Zeit nach; so hat der Geist den allervollkommensten Grad, der möglich ist. Und demnach ist er auch der allervollkommenste Geist. Wir werden nach diesem erweisen, daß GOTT derselbe Geist ist. Und man siehet daraus, daß dieser Geist ein unendliches Wesen ist.“ Wolff, Deutsche Metaphysik, § 973. Vgl. Gurwitsch, 1974, S. 430 ff. Inwiefern die Redeweise von der Subjektivierung gerechtfertigt werden kann, ist auch im Hinblick auf die Romanpoetologie des 18. Jahrhunderts strittig. Vgl. Arndt, 1992, S. 190. Wolff, Deutsche Logik, § 1. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 991. So gilt, „dass möglich sey, was nichts widersprechendes in sich enthält“ (Wolff, Deutsche Metaphysik, § 12).

220

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

(possibile externum sive extrinsecum) gegenüber – jenes Mögliche, das im nexus rerum auch einmal wirklich werden kann.69 Anders als Leibniz bestimmt Wolff – entsprechend seiner stärkeren empirischen Orientierung – die Möglichkeit anderer Welten von unserem Erfahrungswissen im mundus adspectabilis aus. Dem gemäß spielt die Realmöglichkeit bei ihm die primäre Rolle: Dass andere Weltzusammenhänge möglich sind, lernen wir aus der Variabilität der Bestimmungen der wirklichen Dinge. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alles, was in der uns bekannten Welt unmöglich ist, nicht in einer anderen möglichen Welt sehr wohl möglich sein könnte.70 Der Begriff der Realität ist bei Wolff darum umfassender als derjenige der Wirklichkeit, die als Erfüllung des Möglichen bestimmt wird.71 Wesentlich ist dabei, dass aufgrund der durchgängigen Verknüpfung der Weltereignisse die Variation einer einzigen Begebenheit notwendig auf die Annahme einer ganzen möglichen Welt führe.72 Da nun „noch viel andere Verknüpfungen der Dinge seyn könten“, so ist stets „mehr als eine Welt möglich“.73 Der Weltbegriff wird also bei Wolff – und gleiches gilt für Leibniz – über die Idee der durchgängigen Verknüpftheit, über den nexus rerum gebildet: Die Welt wird bestimmt als „eine Reihe veränderlicher Dinge [..], die neben einander sind, und aufeinander folgen, insgesamt aber mit einander verknüpfet sind“74 und die zusammen „ein Gantzes“75 ausmachen. Eine Welt wird demnach begriffen als eine Organisation innerhalb von Raum und Zeit, vor allem aber nach dem Satz des zureichenden Grundes, wobei „eine Welt von der andern nicht anders als in der Art der Zusammensetzung unterschieden“76 sei. Ihr Unterworfensein unter den Satz des zureichenden Grundes gelte dabei sowohl in kausaler als auch in finaler Hinsicht, d.h. die Welt lasse sich zugleich in Ursache-Wirkungs- (causa efficiens) und in Mittel-Zweck-Verhältnissen (cau69

70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Wolff, Anmerkungen, § 6. Dies entspricht der Unterscheidung zwischen possibile absolute tale und possibile relative tale, auf deren Basis die notwendigen von den zufälligen Wahrheiten gesondert werden: „Dem im absoluten Sinne Möglichen entsprechen die für alle möglichen Welten geltenden notwendigen Wahrheiten (‚vérités néssecaires‘). [...] Dagegen ist bei den ‚possibilia‘ möglicher Welten deren Notwendigkeit eine lediglich auf den Weltzusammenhang bezogene, hypothetische und von dem besonderen Kausalgeschehen der jeweiligen Welt abhängige, und ihr Gegenteil in einer anderen Welt möglich. Die ihnen entsprechenden Wahrheiten sind als von einer jeweiligen Welt abhängige zufällig (‚vérités contingentes‘).“ (Arndt, 1992, S. 183). Parallel dazu unterscheidet Wolff zwischen dem schlechterdings Unmöglichen und ‚dem, was nur nach dem gegenwärtigen Zusammenhange der Dinge, oder in dieser Welt, nicht geschehen kan“ (Wolff, Deutsche Metaphysik, § 574). Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 572 f. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 14. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 567. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 569. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 544. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 550. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 552. Die verschiedenen Welten sind jedoch in keiner Weise miteinander verknüpft (vgl. ebd., § 949).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

221

sa finalis) beschreiben. Aufgrund dieser doppelten kausalen Verfasstheit vergleicht Wolff die Welt mit einem Uhrwerk bzw. einer Maschine, wobei die endlose Bedingtheit des Innerweltlichen auf ein Unbedingtes außerhalb dieser Reihe verweise.77 Wie schon bei Leibniz wird also das Prinzip der universellen Harmonie als Grundgesetz des Universums aufgefasst: Alles Innerweltliche steht in einem Zusammenhang, in dem sich alle Glieder gegenseitig qualifizieren. Dennoch ist die Welt bei Wolff in zweierlei Hinsicht kontingent: Zum einen sei das Faktum der Existenz der aktuellen Welt insofern grundlos, als sie als ganze abhängig von einer äußeren Ursache sei, die ihren Grund in sich selbst hat, nämlich von Gott als einem ens a se. Zum andern sei die existierende Welt nur eine unter vielen anderen, ebenso möglichen Welten. Trotz dieser Kontingenz folge in ihrem Ordnungssystems alles mit strenger Notwendigkeit. Diese „Notwendigkeit der Natur“ sei jedoch im Unterschied zur „metaphysischen“ oder „geometrischen Notwendigkeit“ nur eine hypothetische.78 Als ein Gesamtsystem ist die Welt für Leibniz und Wolff zugleich finalistisch organisiert: Für jede mögliche Welt und also auch für unser Universum gibt es nur ein Gesamtdekret Gottes, in dem alle Teildekrete einbegriffen sind. Laut Wolff existiert gerade aufgrund des inneren Zusammenhangs der Welt nur ein einziger „Rath=Schluß“ Gottes.79 Demnach ist die gesamte Ordnung jeder möglichen Welt letzten Endes einem einzigen Grundgesetz unterworfen. Einem solchen Fundamentalgesetz verdanke jedes dieser Weltsysteme seine Einheit und Systematizität; es manifestiere sich vom Standpunkt innerhalb der Welt (und also für die menschliche Erkenntnis) als Prinzip der Compossibilität80. Für Wolff besteht Gottes „Haupt=Absicht bey der Welt“ darin, „daß die Welt Gottes Vollkommenheit als in einem Spiegel vorstellet“; die Ordnung der Welt wird dadurch zu einer „Offenbarung der Herrlichkeit Gottes“.81 Welche Rolle kann nun angesichts einer solchen ontologischen Theorie die Kunst, insbesondere die Dichtung spielen? Vermag sie einen substantiellen Beitrag zur Über77 78

79 80

81

Vgl. z.B. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 556 f. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 578: „Was in der Welt geschiehet, das kommet nothwendig, in so weit es mit zu dem Wesen der Welt gehöret, welches nothwendig ist: hingegen in Ansehung seiner Würklichkeit bleibet es so zufällig als die Würklichkeit der Welt selber ist.“ In Analogie zum Möglichen und Unmöglichen unterscheidet Wolff zwischen dem schlechterdings Notwendigen und dem, „was nur unter einer gewissen Bedingung, [...] in Ansehung des gegenwärtigen Zusammenhanges der Dinge nothwendig ist“ (ebd., § 575). Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 998. Vgl. Gurwitsch, 1974, S. 218: „Als letzter zureichender Grund einer möglichen und in diesem Sinne kontingenten Welt begründet und konstituiert ihr Fundamentalbegriff die Einheit dieser Welt. Auf dem Grunde dieser Einheit steht jedes Innerweltliche in Beziehung zu jedem anderen. Wir deuten das Prinzip der Compossibilität als Prinzip der unter dem Fundamentalbegriff stehenden und auf ihm beruhenden durchgehenden gegenseitigen Bezogenheit.“ Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 1044 f. Wolff bestimmt die Wahrheit ontologisch als „Ordnung in den Veränderungen der Dinge“ (ebd, § 142), sodass es ohne den Satz des zureichenden Grundes keine Wahrheit geben kann (§ 144).

222

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

schreitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis zu leisten? Schon Wolff gesteht zu, dass durch die Kunst „der Mensch geschickt [sei], ein Ding ausser ihm zur Würcklichkeit zu bringen, was ohne ihm seine Würcklichkeit nicht erreichen würde“.82 Es ist klar, dass die Dichtung – will sie zur Erweiterung unseres (ontologischen) Wissens beitragen – solches nur dann erreichen kann, wenn sie unser (durch seine Diskursivität und Abstraktheit limitiertes) Wissen in intuitiver und anschaulicher Weise erweitert. Nur dadurch kann sie eine ‚Leiter zu Gott‘ werden, denn auch der göttliche Geist erfasst ja den mundus intelligibilis intuitiv und anschaulich, gleichsam in einem Nu. Auf diesem Wege gelangt man zu der Konsequenz, dass der Einbildungskraft und der Erfindungskunst als den intuitiven Erkenntnisvermögen eine besondere Rolle in der Dichtung zukommen muss.83 Jedoch müssen ihnen andere Erkenntnisvermögen unterstützend zur Seite stehen, da sie sich sonst auf eine bloß sinnliche Erkenntnis limitierten. Konsequenterweise entwickelt Wolff daher auch keine spezifisch ästhetischen Begriffe von Einbildungskraft und Erfindungskunst.84 Einbildungen werden bestimmt als „Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind“ und die Einbildungskraft als jene „Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen“.85 Die produktive Einbildungskraft, nach der „wir uns auch vorstellen können, was wir vorhin noch niemahls empfunden haben“86, manifestiere sich auf zweierlei Weise: Die „erste Manier“ oder „die Kraft zu erdichten“ bestehe in einer auf Assoziation beruhenden Kombinatorik; sie führt laut Wolff allein auf „etwas, so nicht möglich ist“, d.h. auf eine bloß „leere Einbildung“.87 „Die andere Manier der Einbildungs-Kraft [...] bedienet sich des Satzes des zureichenden Grundes, und bringet Bilder hervor, darinnen Wahrheit ist.“ Diese Form der Einbildungskraft nennt Wolff die ars inveniendi oder die „Kunst zu erfinden der Baumeister“, wobei sie jedoch auch für andere Künstler, ja für Wissenschaftler und Gelehrte von großer Relevanz sei.88 Die Erfindungskunst ist also in Wolffs Theorie ein rational kontrolliertes Vermögen; und entsprechend gelten für ihre fiktiven Produkte dieselben rationalen Prinzipien wie für die reale Welt. Folglich sind an der Erfindungskunst neben den niederen auch die höheren Erkenntniskräfte beteiligt. Nicht nur bediene sie sich bei ihren Erfindungen der Einbildungskraft, des Gedächtnisses und des Scharfsinns89; sondern auch der aus jenen dreien zusammengesetzte Witz 82 83 84 85 86 87 88

89

Wolff, Deutsche Ethik, § 366. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 238. Vgl. dazu auch Dürbeck, 1998, S. 46. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 235. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 241 Wolff, Deutsche Metaphysik, § 242 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 362: „Wenn man aus erkannten Wahrheiten andere heraus bringet, die uns noch nicht bekannt waren; so pfleget man zu sagen, daß wir sie erfinden. Und die Fertigkeit unbekannte Wahrheiten aus andern bekannten heraus zu bringen, heisset die Kunst zu erfinden.“ Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 249.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

223

(ingenium) als die „Leichtigkeit die Aehnlichkeiten wahrzunehmen“90, der Verstand als das „Vermögen das Mögliche deutlich vorzustellen“91, ja sogar die Kunst zu schließen, die der Vernunft als dem „Vermögen den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen“92, angehört, spielen laut Wolff in der Erfindungskunst eine gewichtige Rolle.93 Erst dadurch, dass die Erfindungskunst zu einer synthetischen Leistung niederer und höherer Erkenntnisvermögen erhoben wird, vermag sie die Limitationen der menschlichen Erkenntnis in rationaler Weise zu überschreiten94: Man muß sich aber in Acht nehmen, daß man nicht alles erdichtete für ungereimt hält, und für irrig ausgiebet: Denn die Fictiones oder Erdichtungen haben ihren grossen Nutzen in Wissenschaften, und insonderheit der Erfindungs=Kunst. Sie machen der Imagination oder Einbildungs=Kraft begreifflich, was durch Verstand und Vernunfft schwer zu erreichen ist, und im Erfinden leichte, ja möglich, was sonst nicht anders, als durch Umwege, oder wohl gar nicht heraus zu bringen wäre. Es ist aber freilich ein Unterscheid zwischen solchen Fictionibus und andern, die ungereimt heissen, und sie haben ihre gewisse Regeln, dergestalt, daß ich sagen kann, es sey eine besondere Ars fingendi oder Kunst zu erdichten, die nicht einen geringen 95 Theil der Erfindungs=Kunst abgiebet.

Auf der Grundlage dessen lässt sich nun die Frage beantworten, was nach Wolff die Erfindung von möglichen Welten in der Dichtung zur Überschreitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis beizutragen vermag: Zunächst lässt sich sagen, dass die Dichtung zur Entwicklung eines Begriffs vom Weltganzen beiträgt, und zwar eines strukturierten, vollständig verknüpften und geordneten Ganzen. Ist dem menschlichen Geist sonst nur ein abstraktes und formales Wissen von den möglichen Welten erreichbar, eine detaillierte Kenntnis der diesen möglichen Welten inhärenten Struktur hingegen prinzipiell verwehrt, so kann er in der Dichtung – zumindest in analogischer Weise – eine solche gleichsam ‚gottgleiche‘ Kenntnis von der Struktur der Alternativwelten erlangen. Diese möglichen Welten der Dichtung sind aber im Unterschied zu den „leeren Ganzheiten von Welten“, wie sie innerhalb der Modallogik angenommen werden, „‚individuelle‘ ausgestattete Welten“, die von Individuen erfüllt und durchgängig bestimmt sind.96 In diesem Sinne ist die Erkenntnis der Dichtung anschaulich. Die anschauliche Erkenntnis geht aber auf das Ganze einer Welt, und sie ist, insofern die fiktionalen Welten der Dichtung vom Menschen erfundene Welten sind, eine vollständige 90 91 92 93 94 95

96

Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 366 f. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 277. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 368. So heißt es bei Wolff, Deutsche Metaphysik, § 861: „Wo viel Witz, Scharfsinnigkeit und Gründlichkeit ist, da ist die Kunst zu erfinden in einem grossen Grade.“ Es lässt sich daher nur unter Einschränkungen behaupten , dass bereits bei Wolff der Prozess der Rehabilitation der Sinnlichkeit bzw. der Aufwertung der niederen Erkenntniskräfte einsetze. Wolff, Anmerkungen, § 26; vgl. auch §§ 112 f. In der Dichtung führt die Anwendung der Erfindungskunst schon für Wolff bis zur Konstruktion alternativer Weltsysteme, wie sein Vergleich mit den Romanen zeigt (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik I, § 571; bereits oben zitiert). Vgl hierzu Eco, 1979, S. 157 f.

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Erkenntnis. Dadurch aber bekommen wir erst einen anschaulich gefüllten Begriff von der Einheit einer Welt – letztlich auch der wirklichen Welt. Dies bedeutet, dass uns die künstlerische Darstellung möglicher Welten eine Einsicht in die Kontingenz der wirklichen Welt vermittelt und zugleich, indem sie den Prinzipien der Widerspruchsfreiheit und des zureichenden Grundes folgt, die von dieser Zufälligkeit unbeschadet bestehende innere Notwendigkeit aufzeigt, die in der wirklichen wie in den möglichen Welten alles miteinander verknüpft.97 Bieten die fiktionalen Welten der Dichtung aber eine anschauliche Darstellung der möglichen Welten, von denen wir sonst nur eine formale und abstrakte Erkenntnis besitzen, so ermöglicht die Erschaffung möglicher Welten eine Annäherung des menschlichen an den göttlichen Intellekt. Auf diese Weise wird die Erfindungskunst zu einer ‚Leiter zu Gott‘, dem „größten und vollkommensten Erfinder“.98 So lässt sich die These vertreten, dass es in der Dichtung nicht so sehr um die Nachahmung weder der wirklichen noch einer möglichen Welt, sondern um eine Nachahmung des göttlichen Geistes gehe: Durch die dichterische Erfindung möglicher Welten auf der Basis des mundus adspectabilis gelangen wir im Idealfall zu einer analogischen Repräsentation des mundus intelligibilis. Somit dient die fiktionale Welt des Romans dem Begreifen 1. der wirklichen Welt (in ihrer Kontingenz), 2. anderer möglicher Welten und 3. schließlich Gottes und des mundus intelligibilis. Auf diese dreifache Weise führt sie zur Erweiterung der Erkennt-nisgrenzen. In jedem dieser Fälle wird die Kunst durch die Adaption der Theorie der möglichen Welten zu einer eminent metaphysischen Beschäftigung.99 Dennoch ist die Applikation der Theorie der möglichen Welten auf die Literatur mit einer Zweideutigkeit behaftet: Einerseits ist das Ziel die Erschaffung einer eigenständigen möglichen Welt, andererseits erfolgt dies, gemäß dem Nachahmungspostulat, an dem Maßstab der wirklichen Welt. Schon bei Wolff steht die Theorie der möglichen Welten unter dieser Zweideutigkeit, insofern die Struktur der möglichen Welten nach Maßgabe der wirklichen entworfen wird.100 So wird der Dichter auf der einen Seite

97

Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 576 f: „Da die Welt anders hätte seyn können als sie ist; so gehöret sie unter die zufälligen Dinge und ist daher in Ansehung ihrer Würklichkeit nicht nothwendig. [...] In Ansehung ihres Wesens ist und bleibet sie wie alle übrige Dinge nothwendig. [...] Und demnach hebet die Nothwendigkeit der Natur, die ihnen zugeeignet werden muß, ihre Zufälligkeit nicht auf.“ (s.a. Wolff, Anmerkungen, § 193) 98 S.a. Arndt, 1992, S. 176: „Nur wenn die wirkliche Welt als eine ‚zufällige‘ unter anderen möglichen begriffen werden kann, bildet eben diese ‚Zufälligkeit‘ oder ‚Kontingenz‘ und ihre vernunftgemäße Auffassung durch die menschliche Seele [...] einen adäquaten Zugang zum göttlichen Wesen, eine ‚Leiter zu Gott‘.“ 99 Indem Wahrheit nicht mehr verstanden wird als adaequatio rei et intellectus, sondern als interne Kohärenz, hat dies Auswirkungen auf den Wahrheitsbegriff außerhalb der Kunst (vgl. hierzu Kap. 2.1.2). 100 Vgl. Grimm, 1983, S. 609: „Widerspruchsfreie ‚Zusammenstimmung‘ der Teile und zureichende Begründung verpflichten das Kunstprodukt von vornherein auf eine der vorhandenen Natur analo-

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

225

zwar zu einem zweiten Schöpfer, der eine autonome, kausal in sich geschlossene und nur der Konsistenzbedingung unterliegende Welt schafft, andererseits aber ist er an die rationalen Prinzipien gebunden, die in der wirklichen Welt herrschen.101 Analog zu den beiden Möglichkeitsbegriffen in der Wolffschen Metaphysik finden bei der Erfindung einer möglichen Welt durch die Dichtung also zweierlei Möglichkeitsbegriffe Verwendung, insofern es mit der Erfüllung des Postulats der internen Wahrscheinlichkeit allein nicht getan ist, sondern darüber hinaus die Darstellung auch im Hinblick auf die aktuale Wirklichkeit unserer Erfahrung möglich resp. wahrscheinlich sein soll – eine realistische Forderung, die einen externalistischen Möglichkeitsbegriff impliziert. Durch diese eigentümliche Verbindung des Mimesiskonzepts mit der Idee der Poiesis entsteht eine (aufgrund des Bezugs der Mimesis auf das Ganze der Welt) ‚holistische‘ Mimesistheorie. Bereits Baumgarten merkte an, dass der Dichter durch die Dichtungskraft „eine Welt gleichsam aus sich erschaffen“ könne102, wobei allerdings von der von ihm entworfenen möglichen Welt „dasselbe gelten [muß], was von der [wirklichen] Welt durch die Philosophen offenbar ist“.103 Nun sind zwar die rationalen Forderungen an die Poesie – dem Prinzip der Widerspruchslosigkeit und dem Satz des zureichenden Grundes zu genügen – von einem hohen Abstraktionsniveau und bieten dem Poeten einen großen Spielraum.104 Dennoch wird die Dichtung zugleich, nicht allein von Gottsched, auf eine Nachahmung der Natur verpflichtet: Die Fabel selbst, die von andern für die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders, als eine Nachahmung der Natur. Dieß wird sie nun durch die Ähnlichkeit mit derselben, und wenn sie diese hat, so heißt sie wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit ist also die Hauptei105 genschaft aller Fabeln; und wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie nichts.

ge Wirklichkeit, anders gesagt: die Verwirklichung des Möglichen kann sich nur nach den Gesetzen der bekannten Natur ereignen.“ 101 Vgl. dazu Eco, 1979, S. 165 f: „Eine erzählerische Welt entleiht [...] Eigenschaften der ‚realen‘ Welt. [...] Keine erzählerische Welt könnte vollkommen autonom neben der realen Welt bestehen, weil sie keinen maximalen und konsistenten Zustand angeben könnte, indem sie ex nihilo eine ganze Ausstattung von Individuen und Eigenschaften hervorbrächte. [...] Zu Recht bezieht also eine erzählerische Welt ihre Individuen und deren Eigenschaften von der ‚realen‘ Bezugswelt als Darlehen.“ 102 Aufgabe des Dichters sei es, so heißt es dort, „mundum a se quasi creare“ (Baumgarten, Aesthetica, § 34). 103 Vgl. Baumgarten, Meditationes, § 68. Laut Baumgarten handelt es sich bei jedem Kunstwerk um den Entwurf eines Musters der Weltordnung i.S. einer „zweckvollen Verfassung alles Wirklichen“; in ihm herrsche derselbe consensus phaenomenon wie in der Wirklichkeit – insofern stehe es stets in „Analogie zum zweckvoll geordneten Zusammenhang der Dinge“ (vgl. Franke, 1972, S. 78 f). 104 Vgl. Wetterer, 1981, S. 227. 105 Gottsched, 1972 f, Bd. 6, 1, S. 141.

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Wahrscheinlich ist nach Wolff ein Satz, der „einigen Grund, jedoch keinen zureichenden“ hat.106 An der Wahrscheinlichkeit findet bei Gottsched auch das Wunderbare seine Grenze. Allerdings trifft Gottsched in Anlehnung an Wolffs Gegenüberstellung von subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit107 eine wesentliche Unterscheidung108: Auf der einen Seite entwickelt er einen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der sich am Wissenshorizont des Publikums orientiert; eine Ähnlichkeitsbeziehung gibt es danach zu den historisch verschiedenen Kenntnissen des Publikums von der Natur und nicht zur objektiv vorhandenen Natur selbst.109 Auf der anderen Seite verwendet er einen strengeren Begriff einer wirklichkeits- und wahrheitsbezogenen Kategorie der vernünftigen Wahrscheinlichkeit.110 Allerdings handelt es sich hierbei um einen bloß formalen Wirklichkeitsausweis, bei dem nur die innere Kohärenz gewahrt sein muss. Die internen Bedingungen dieser hypothetischen Wahrscheinlichkeit werden vom Poeten selbst gesetzt. Wahrscheinlichkeit ist demnach für Gottsched ein formales Prinzip der inneren Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit der poetischen Erdichtung, und nachgeahmt wird in der Dichtung folglich eine mögliche Welt.111 Im Hinblick auf die wirkliche Welt ist solches in der Dichtung Wahrscheinliche zumindest logisch möglich.112 Für Gottsched ist letztlich dieser zweite Wahrscheinlichkeitsbegriff primär.113 106

Wolff, Deutsche Metaphysik, § 399. Vgl. dazu auch Cataldi Madonna, 1987, S. 104: „Der Grad der Wahrscheinlichkeit ergibt sich also aus dem Verhältnis zwischen der Anzahl der uns zur Verfügung stehenden Wahrheitsgründe und der Gesamtanzahl der Wahrheitsgründe für die gegebene Aussage; oder, in Wolffs Terminologie, aus dem Verhältnis zwischen unzureichendem Grund und zureichendem Grund.“ 107 Vgl. hierzu Wolff, Deutsche Metaphysik, § 401. Dabei beruht die objektive letztlich auf der subjektiven Wahrscheinlichkeit. Darum gibt es für Gott keine Wahrscheinlichkeit. 108 Zum Folgenden vgl. Wetterer, 1981, S. 94. 109 Auch Wezel legt Gewicht darauf, dass der Begriff der Wahrscheinlichkeit eine rezipientenabhängige Größe darstellt. Eco ergänzt dies durch den Hinweis auf die Veränderung der Wahrscheinlichkeitsansprüche des Lesers durch den Gattungsrahmen, der entsprechend die Glaubwürdigkeitskriterien bestimmt (vgl. Eco, 1979, S. 204). 110 Insofern Gottsched Vernunft und Natur identifiziert und die natürliche Ordnung entsprechend eine vernünftige ist, befolgt die Nachahmung der Natur immer rationale Prinzipien. Laut Brenner steht hinter einer solchen Reduktion der Welt auf allgemeingültige und invariable Prinzipien das Interesse an technischer Naturbeherrschung (vgl. Brenner, 1981, S. 37). 111 Vgl. Gottsched, 1972 f, Bd. 6, 1, S. 206: „Dem Dichter nun, stehen alle möglichen Welten zu Diensten. Er schränket seinen Witz also nicht in den Lauf der wirklich vorhandenen Natur ein. Seine Einbildungskraft, führet ihn auch in das Reich der übrigen Möglichkeiten, die der itzigen Einrichtung nach, für unnatürlich gehalten werden.“ 112 Der Begriff der Möglichkeit stimmt also stets mit den Vernunftprinzipien überein (vgl. Brenner, 1981, S. 40). Allerdings schwankt Gottsched beständig zwischen den Begriffen von logischer und empirischer Möglichkeit. 113 Laut Wetterer, 1981, S. 156 hat die Notwendigkeit eines Zusammenfallens von Publikums- und Wahrheitsbezug die Konsequenz, dass Gottsched auf die Utopie einer vernünftigen Öffentlichkeit verpflichtet ist, was wiederum damit kollidiert, dass die Poesie seiner Auffassung nach für den „großen Haufen“ gedacht ist.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

227

Dieselbe Mischung von literarischer Eigenständigkeit, die durch das Konzept der Erschaffung möglicher Welten durch den Dichter gesichert werden soll, einerseits und Orientierung an den Maßgaben der Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit im Rahmen des Mimesiskonzepts andererseits findet sich auch bei den Schweizern.114 Für sie gilt ebenfalls, dass trotz aller literarischen Freiheit, die den Dichter zu einem „zweyte[n] Baumeister, ein[em] rechte[n] Prometheus“ macht, der „den Namen des Poeten verdienet“115, zugleich über die Wahrscheinlichkeitsforderung die Dichtung an die von uns erkennbare Wirklichkeit gebunden werden soll. Auch „das Wunderbare“ wird nur als „vermummetes Wahrscheinliches“116 akzeptiert. So soll die Dichtung auf der einen Seite aus dem Zwang einer bloßen Abschilderung des Gegebenen entlassen werden, auf der anderen Seite in einem engen Realitätsbezug bleiben. Die rationalen Mindestanforderungen an die Literatur – innere Konsistenz und durch einen kausal hinreichenden Nexus verbürgte Wahrscheinlichkeit – sollen gewährleisten, dass die Dichtung etwas über die uns bekannte Welt aussagt, ohne dass sie sich auf eine bloße Nachahmung des Wirklichen reduziert: Weil aber die gegenwärtige Einrichtung der Welt der würcklichen Dinge nicht schlechterdings nothwendig ist, so hätte der Schöpfer bey andern Absichten Wesen von einer gantz andern Natur erschaffen, selbige in eine andere Ordnung zusammen verbinden, und ihnen gantz andere Gesetze vorschreiben können: Da nun die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen ist, so muß ihre Dichtung, die eine Art der Schöpfung ist, ihre Wahrscheinlichkeit entweder in der Übereinstimmung mit den gegenwärtiger Zeit eingeführten Gesetzen und dem Laufe der Natur gründen, oder in den Kräften der Natur, welche sie bey andern Absichten nach unsern Begriffen hätte ausüben können. Beydemahl bestehet die Wahrscheinlichkeit darinn, daß die Umstände mit der Absicht übereinstimmen, daß sie selber ineinander gegründet seyn, und sich zwischen den117 selben kein Widerspruch erzeige.

Einbildungskraft und Dichtung haben demnach laut Breitinger eine eigene Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit, die sich allein nach der internen Konsistenz des Erdichteten bemisst: „Das Wahrscheinliche muß demnach von der Einbildung beurtheilet werden [...]. Man muß also das Wahre des Verstandes und das Wahre der Einbildung wohl unterscheiden; es kan dem 114

Vgl. Breitinger, 1966, Bd. 1, S. 59 f, wo der Brückenschlag von der Mimesis- zur Poiesislehre mit Hilfe des Konzepts der möglichen Welten besonders deutlich wird: „[W]as ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Weltgebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht anders anzusehen als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme Ποιητου, eines Schöpfers, zu, weil er [...] die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet [...].“ 115 Vgl. Bodmer, 1769, S. 21. 116 Breitinger, 1966, Bd. 1, S. 132. 117 Ebd., S. 136 f.

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Verstand etwas falsch zu seyn düncken, das die Einbildung für wahr annimmt: Hingegen kan der Verstand etwas für wahr erkennen, welches der Phantasie als ungläublich vorkömmt 118 [...].“

Bezogen auf den Wahrheitsbegriff ließe sich diese Position so beschreiben, dass durch die Verknüpfung des Mimesis- mit dem Poiesis-Konzept die Auffassung von Wahrheit als Korrespondenz zugunsten eines Begriffs von Wahrheit als interne Konsistenz der fiktionalen Welt verabschiedet und dabei der Maßstab für die Beurteilung dieser Konsistenz aus unserer Wirklichkeit entnommen wird: nach diesem Richtmaß wird entschieden, ob es sich um eine mögliche oder eine unmögliche Welt handelt. Die mimetische Funktion der Dichtung verlagert sich hierbei auf eine höhere Ebene, indem nun deren mögliche Welt als ganze die wirkliche Welt spiegeln soll – sie wird im buchstäblichen Sinne ‚eine Welt im Kleinen‘. Es kann als unaufgelöster Problembestand auch noch der spätaufklärerischen Romanpoetologie angesehen werden, dass sie ebenfalls diese beiden Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsbegriffe verwendet und einerseits dem Postulat der internen Wahrscheinlichkeit folgt, andererseits aber die poetische Darstellung auf die Wirklichkeit unserer Erfahrung verpflichtet. Auch für Blanckenburg muss „des Dichters Welt ein kleinerer Zirkel in dem großen Runde“119 sein bzw. das „Werk des Dichters [..] eine kleine Welt ausmachen“, die zwar der wirklichen Welt ähnlich ist, dieser gegenüber jedoch den Vorteil der Überschaubarkeit bietet. Was wir in der realen Welt zwar beständig voraussetzen120, aber „unsrer Schwachheit wegen“ niemals vollständig erkennen können: die Gesetzmäßigkeit und kausale Geschlossenheit des Weltzusammenhangs, soll in der fiktionalen Welt der Dichtung, vornehmlich des Romans zu anschaulicher Erkenntnis gebracht werden.121 Die Geschlossenheit der Romanwelt geht nach Blanckenburg sogar so weit, dass sie sich mit einer aufgezogenen Uhr vergleichen lässt, die ohne jeden weiteren Eingriff des Erzählers abschnurre: [S]o versteht es sich von selbst, daß der Romandichter seine eigne Absichten, die er mit seinem Werk gehabt hat, so genau mit den in seinem Werke gebrauchten Mittel verbunden haben müsse, daß sie aus diesen erfolgen, ohne, dass wir seine Hand weiter im Spiele sehen. Er muß vorher die Materialien, das heißt, seine handelnden Personen und ihre verschiedenen Eigenschaften, aussuchen, zurechtputzen, nach Maaßgabe ihrer entworfenen Einrichtung zusammen setzen, – das Werk aufziehen, – und nun es seinen Weg gehen lassen. Der Dichter selbst gehört gar nicht mit ins Ganze seines Werks; er wäre was außerordentliches, das gleichsam in den Gang desselben hineingriffe. Der Künstler, der all‘ Augenblick über seiner Uhr stellen 122 muß, hat wahrlich keine gute Uhr gemacht.

118

Ebd., S. 138. Vgl. auch ebd., S. 60 f. Vgl. Blanckenburg, Versuch, S. 313 u. 442. 120 Vgl. dazu ebd., S. 313. 121 Vgl. ebd., S. 314. 122 Ebd., S. 339 f. 119

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In den Überlegungen Blanckenburgs wird zweierlei deutlich: Zum einen befähigt uns nur die erzählte Welt des Romans, einen anschaulich gefüllten Begriff vom Ganzen der Welt zu entwickeln. Zum andern ist diese erzählte Welt – wie die wirkliche Welt selbst – zugleich finalistisch – nämlich nach der Hauptabsicht des Dichters – und kausal organisiert. Erst die Befolgung des Satzes vom zureichenden Grunde in seinen beiden Gestaltungen ermöglicht eine adäquate Darstellung der wirklichen wie jeder möglichen Welt und ihrer internen Strukturen, insofern nur auf diesem Wege begreiflich wird, dass jede Welt zugleich notwendig und zufällig ist. Diese Verknüpfung teleologischer und kausaldeterministischer Elemente hat Blanckenburgs Romantheorie mit der LeibnizWolffschen Ontologie gemein. Wezel weist dem gegenüber darauf hin, dass man an die Literatur zwar die Forderung nach kausal hinreichender Begründung stellen müsse123, dass der Romancier aber keineswegs dazu in der Lage sei, einen vollständigen Kausalnexus anschaulich darzustellen. Wie sich z.B. an seiner Parodie des ab-ovo-Prinzips im Tobias Knaut zeigt, steht er einem solchen Ansinnen und damit der Möglichkeit eines pragmatischen Romans ausgesprochen skeptisch gegenüber: Man hat also angemerkt, daß man wo nicht alle doch die meisten gegenwärtig unerklärbaren Erscheinungen, die sich an vielen Menschen zum Erstaunen des Gelehrten und Ungelehrten zeigen, sehr leicht würde erklären können, wenn jemand eine genaue und umständliche Geschichte ihrer Schicksale im Mutterleibe, von dem ersten Augenblick ihres Daseyns bis nach ihrer Geburt, bekannt machte. Freilich ist die Foderung eine Foderung des Unmöglichen [...]. Wie unvollständig und oft wie wenig pragmatisch muß daher ohne meine Schuld diese Geschichte werden! (Wezel, TK, I, S.13 f)

Gleichwohl bleibt Wezel am Ideal des kausal geschlossenen Systems orientiert – nicht nur weil er ohne diese Orientierung den Wirklichkeitsbezug des Romans aufgegeben sieht, sondern auch weil damit die ästhetische Illusion des Rezipienten gefährdet wäre: Der Plan der wirklichen [Welt] ist groß, und niemand übersieht das Ganze. Hier ist freylich die Kette der Ursachen und Wirkungen nicht allezeit völlig sichtbar: allein der Dichter liefert nur ein kleines übersehbares Ganze, ein erdichtetes Ganze, das er uns für einen Theil des wirklichen ausgeben will: hier darf also nicht das mindeste Gelenke in der Kette der Ursachen und Wirkungen unsichtbar bleiben, nicht das kleinste Rädchen in dem ganzen Werke umlaufen, ohne daß es nicht vorher einen hinlänglich starken Stoß empfangen habe: wo er den Leser dieses vermissen läßt, so stört er seine Illusion, und folglich sein Vergnügen. (Wezel, Versuch, S. 293)

Diess zeigt sich noch deutlicher an seiner Unterscheidung zwischen Realisten und Idealisten.124 Allerdings löst er die enge Bindung der Literatur an die Wirklichkeit durch den 123 124

Vgl. hierzu Wezel, HU, S. 10. Diese Unterscheidung wird von Wezel in seiner Kritik des Oberon von Wieland getroffen: „Ein Theil der Dichter nimmt die Muster, nach welchen sie ihre Charaktere, Situationen und Begebenheiten erfinden, aus der wirklichen, gegenwärtigen und vergangnen Welt: sie richten sich bey der Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen ganz nach dem Gange des menschlichen Lebens, und

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Hinweis auf die Unerlässlichkeit des ‚poetischen Effekts‘ und gewährt so auch dem Realisten einen Spielraum: Der Realist erzählt nicht bloß, was er wirklich gesehen, gehört und empfunden hat, sondern das Gehörte und Empfundene dient ihm bloß zum Muster und Maaßstabe für seine Erfindung. Keinen Charakter, keine Geschichte kann er so brauchen, wie er sie in der Natur findet; denn es würde ihnen die poetische Wirkung fehlen: er erschafft also so gut wie der Idealist, wenn ja erschaffen werden soll, und bedarf bey seinem Erschaffen eine sehr scharfe Beurtheilung, wie er den höchsten Effekt hervorbringen, und doch seinem Originale, der Natur, treu bleiben soll; denn entfernt er sich zu sehr von ihr, aus Begierde, den Eindruck auf den Leser zu vergrößern, so zieht dieser den kleinen Schöpfer zur Rechenschaft, daß er über die Sphäre der Natur hinausgegangen ist. Alles dieß kann sich der Idealist ersparen, alles dieß hat er nicht zu fürchten: er braucht Ursachen und Wirkungen nicht mühsam abzuwägen, keine Begebenheit vorzubereiten, keine Situation anzuspinnen, für keine innere noch äußere Wahrscheinlichkeit der Charaktere zu sorgen [...]. So viel […] der Idealist von Seiten der Bequemlichkeit voraus hat, so viel verliert er wieder in Ansehung des Effekts. Es ist ihm mit aller Kunst nicht möglich, ein wahres hinreißendes Interesse hervorzubringen [...]. (Wezel, Versuch, S. 391 f)

Auch in Wezels Bestimmung der realistischen Literatur treffen wir also auf jene Ambivalenz, die nahezu die gesamte avancierte Ästhetik des 18. Jahrhunderts charakterisiert und in ihrer Orientierung an zwei gänzlich disparaten Modellen – der Mimesistheorie und dem Konzept der möglichen Welten – begründet liegt: Einerseits soll das „Erschaffen“ und die originelle „Erfindung“ des Dichters gesichert werden, andererseits bleibt die Vorgabe der Natur „Muster“ und „Maaßstab“. Auch der pragmatische Roman kann sich aus diesem Dilemma nicht befreien – ein Umstand, der ihn zum bevorzugten Angriffsobjekt der spätaufklärerischen Skepsis werden lässt, ohne dass der philosophische Roman sich aus seinem Bezugsrahmen gänzlich zu emanzipieren vermöchte. Wezel weist aber nicht allein darauf hin, dass die erzählte Welt nur eine „Abbildung in meinem Gehirne“ sei (vgl. Wezel, TK, IV, Anhang I, S. 56*) – eine Einsicht, in der er sich mit Wieland trifft125 –, sondern er legt zugleich Gewicht darauf, dass der Begriff der

gehen nur insofern über dasselbe hinaus, als es nöthig ist, um den Effekt auf den Leser und also auch sein Vergnügen zu vermehren: wir wollen sie Realisten nennen. Ein andrer setzt sich über alles hinweg, was wirklich ist oder gewesen ist, verschmäht den Lauf der Natur und der menschlichen Gegebenheiten, giebt seinen Charakteren einen Grad von Tugend oder Laster, den kein Sterblicher jemals haben kann, versetzt sie in Situationen, die nirgends auf der Erde statt finden, und läßt keine Begebenheit durch natürliche Ursachen bewirken: sie mögen Idealisten heißen.“ (Wezel, Versuch, S. 390 f) 125 Jaumann weist – unter Berufung auf Preisendanz und Blumenberg – darauf hin, dass bei Wieland (wie auch bei Wezel) gemäß seinem „Prinzip des Perspektivismus [...] eine subjektive Erfahrungswirklichkeit zum poetischen Gestaltungsmoment moderner Romantheorie“ erhoben wird. Hierdurch erhalte auch der Wirklichkeitsbegriff einer „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ den Charakter der Subjektivität. (Vgl. Jaumann, 1994, S. 191 f) Vgl. dazu die Bemerkung Millers: „Two signal forms of modern mimetic theory and practise conspicously displace the traditional notion of mimetic realism. One shifts from the imitation of an objective reality to the imitation of some subjective perspective on reality. The other thinks of fiction as imitation of the illusory

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Wahrscheinlichkeit eine relative Größe darstellt, die abhängig vom Erfahrungshorizont des Rezipienten ist: Die Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit sind freylich relative Dinge, in Beziehung auf denjenigen, der davon urtheilen will: so wie der Zirkel der Erfahrung bey einem Menschen enger oder weiter ist, als bey einem andern, so ist auch sein Begriff von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit enger oder weiter, und jeder Mensch thut bey der Beurtheilung derselben nichts anders, als daß er sein Gefühl zu Rathe zieht, ob eine Handlung, ein Charakter, eine Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen den innerhalb seiner Erfahrung liegenden Dingen von dieser Art analogisch ist. [...] Da uns also nun ein allgemeiner zuverläßiger Meridian für die Wahrscheinlichkeit fehlt, so ist nichts übrig, als daß jeder, wie bey Beurtheilung der Wahrheit, den Ausspruch seines Gefühls und seine Gründe sagt, ohne entscheiden zu wollen [...]. (Wezel, Versuch, S. 292 f)

Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass die Begriffe Konsistenz und Wahrscheinlichkeit keineswegs gleichbedeutend sind: Die Wahrscheinlichkeit einer Begebenheit kann in doppelter Beziehung beurtheilt werden: entweder betrachtet man die Begebenheit als die Wirkung eines Geistes – und in diesem Falle ist es genug, zu Beurtheilung ihrer Wahrscheinlichkeit, zu untersuchen, ob sie den übrigen geäußerten Grundsätzen, Neigungen, Leidenschaften, der Denkart und Handlungsweise desselben analogisch ist oder nicht – oder man betrachtet sie als ein bloßes Faktum, das die Wirkung einer vorhergehenden Ursache, und die Ursache einer folgenden Wirkung ist: in diesem Falle ist die Wahrscheinlichkeit der Dichterwelt und der wirklichen verschieden. (Wezel, Versuch, S. 293)

Wezel ist demnach bewusst, dass man der Literatur gegenüber zwar sehr wohl die Forderung nach intentional hinreichender Begründung und Geschlossenheit stellen kann126, dass der Romancier aber keineswegs, wie noch Blanckenburg meinte, dazu in der Lage ist, einen vollständigen Kausalnexus anschaulich darzustellen.127 Diese Einschränkung ist zu beachten, wenn man darauf hinweist, dass auch noch Wezel an dem Ideal der

collective ideology of a nationality or class at a certain historical moment.“ (Miller, 1993, S. 186) Mit gewissen Einschränkungen lässt sich dies bereits über den Roman der Spätaufklärung sagen. 126 Vgl. hierzu Wezel, HU, S. 10, wo unter Voraussetzung seiner intentional hinreichenden Begründung auch das „Wunderbare“ im Roman zugelassen wird: Das „Ungewöhnliche wird poetisch wahrscheinlich, wenn die Leidenschaften durch hinlänglich starke Ursachen zu einem solchen Grade angespannt werden, wenn die vorhergehende Begebenheit hinlänglich stark ist, die folgende hervorzubringen, oder die Summe aller hinlänglich stark ist, den Zweck zu bewirken, auf welchen sie gerichtet sind.“ 127 Vgl. dazu auch Preisendanz, 1969, S. 89 f: „Die innere und relative Möglichkeit, der hinreichende Grund des Geschehens, die Wahrscheinlichkeit der Fiktion bemessen sich nun gänzlich nach den Gesetzen der menschlichen Natur, die psychologische Erfahrungswirklichkeit wird die entscheidende Maßgabe des Möglichen.“ Entsprechend bestimmt Preisendanz die „poetische Wahrheit der Romanfiktion“ innerhalb der Spätaufklärung als „Vermittlung des Allgemeinen, der Gesetze der menschlichen Natur, und des Besondern, einer hypothetischen und experimentellen Geschichte“ (ebd.).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

kausalen Geschlossenheit orientiert bleibt, um den Wirklichkeitsbezug des Romans zu sichern.128 Die romantheoretischen Reflexionen Wezels stehen im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Konzept des pragmatischen Romans129, der einerseits zwar der spätaufklärerischen Skepsis nicht entgeht, andererseits aber für den philosophischen Roman maßgebliches Orientierungsmodell bleibt. Das Konzept des pragmatischen Romans ist jedoch im Zusammenhang mit der aufklärerischen Historiographie entstanden, in der ganz ähnliche Probleme verhandelt wurden wie in der Romantheorie.130 Der Begriff der pragmatischen Geschichtsschreibung, die sich bezeichnenderweise selbst auch als ‚philosophische‘ versteht131, hat ebenso wie der des pragmatischen Romans einen doppelten Sinn: Einerseits begreift sie sich als eine historische Darstellung kausal begründeter Handlungen (griech. πραγµατοι), deren hinreichende Motivation Ziel aller Bemühungen ist, andererseits will sie gerade dadurch, dass sie einen solchen historischen Kausalzusammenhang vorführt, politisch und moralisch belehrend auf ihre Gegenwart wirken.132 Die pragmatische Geschichtsschreibung ist also zugleich an einem pädagogischen Ideal und am Vorbild der Naturwissenschaften orientiert. Die Orientierung am wissenschaftlichen Kausalitätsbegriff soll ihr den Charakter der Systematik verleihen, wobei das beschriebene Kausalsystem als natürliches, d.h. in der Wirklichkeit tatsächlich auffindbares System aufgefasst wird. Gerade durch diese Systematizität soll der Mensch aufgeklärt werden.133 Wenn nun auch die Rede von der Triebfeder menschlicher 128

So gilt gerade für Wezels Verteidigung der realistischen Literatur, dass der empirische Wahrheitsanspruch des Romans nicht durch Faktentreue, sondern durch das Kriterium der internen (intentionalen) Wahrscheinlichkeit gesichert werden soll. 129 Zum pragmatischen Roman vgl. Fulda, 1996, S. 85 ff, Hahl, 1971, S. 48 ff und Schönert, 1969, S. 83 ff. 130 Wipperfürth weist darauf hin, dass die Anlehnung des Romans an die Geschichtsschreibung zugleich auch der gattungspoetischen Legitimation gegenüber dem Epos dient (vgl. Wipperfürth, 1995, S. 182). 131 Diese Gleichsetzung von ‚philosophisch‘ und ‚pragmatisch‘, die natürlich Wasser auf die ‚sich selbst mahlende Mühle‘ dieser Arbeit ist, wird bereits von Schelle vorgenommen, findet sich jedoch auch bei Engel (Engel, 1964, S. 11 ff; vgl. hierzu Hahl, 1971, S. 51 u. Fulda, 1996, S. 67). 132 Vgl. Hahl, 1971, S. 48 u. Fulda, 1996, S. 59 f. Diesen Doppelsinn des Begriffs ‚pragmatisch‘ gilt es auch in der vorliegenden Arbeit zu beachten: In der Redeweise vom ‚pragmatischen Paradigma‘ wird im modernen Sinn von Pragmatismus gesprochen, wonach dies so viel heißt wie ‚auf menschliche Praxis bezogen‘ – eine Redeweise, die im jeweiligen Kontext ihre nähere Bestimmung erfährt. Ein solcher Begriff ist jedoch weder an eine deterministische Theorie noch an ein didaktisches Ziel gebunden – wie im Falle der pragmatischen Geschichtsschreibung bzw. des pragmatischen Romans. 133 Vgl. dazu Fulda, 1996, S. 68. Engel weist entsprechend darauf hin, dass der pragmatische Roman der Aufklärung durch zwei Merkmale gekennzeichnet sei: erstens durch die Annäherung der Gattung an die pragmatische Geschichtsschreibung und zweitens durch den Wirkungsanspruch der Gattung (vgl. Engel, 1993, S. 98 f) Für Engel ist daher der pragmatische Roman der „Idealtypus des aufklärerischen Romans schlechthin“; den anthropologischen Roman fasst er dem gegenüber

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Handlungen innerhalb der pragmatischen Geschichtsschreibung die „häufigste Metapher für den eigentlichen Erkenntnisgegenstand in der Geschichte“134 darstellt, so sind sich die Aufklärer doch darüber im Klaren, dass darin das große Problem dieses historiographischen Ansatzes liegt. Denn dem Historiker liegen bei der Betrachtung der Vergangenheit zumeist nur Zeugnisse über den äußeren Geschehensablauf der Ereignisse vor, selten nur findet er Berichte über die Intentionen der Handelnden – und wenn er auf sie stößt, so ist ihnen mit äußerstem Misstrauen zu begegnen, da sie entweder auf Vermutungen anderer ebenso am Geschichtsverlauf beteiligter und entsprechend mit eigenen Intentionen ausgestatteter Personen oder auf der allzeit unverlässlichen Introspektion der Handelnden beruhen. Die Hauptaufgabe des pragmatischen Historiographen besteht deshalb in der Rekonstruktion der Intentionalität der Geschichtspersonen, die ihre Handlungen und damit den historischen Geschehensablauf erklärbar machen soll. Es ist dies jedoch eine Aufgabe, die, wie Wieland erkannte, als ausnehmend schwierig angesehen werden muss – zumal der Historiograph selbst ebenfalls an seine Subjektivität gebunden bleibt. So gibt Aristipp zu bedenken, dass zwey schlechterdings nicht wegzuräumende Hindernisse im Wege [stehen], um derentwillen es ewig unmöglich bleiben wird, eine ganz wahre, ganz zuverlässige Geschichte einer Reihe von Begebenheiten und Handlungen, die wir selbst gesehen haben, zu schreiben. Das erste dieser Hindernisse ist, daß es kein Mittel giebt, unmittelbar in das Innerste der Menschen zu schauen [...]. Aus Mangel eines solchen Sinnes bleiben die wahren Ursachen der Begebenheiten in ihren reinen Verhältnissen mit den Wirkungen immer zweydeutig und ungewiß; das äußerlich Geschehene liegt wie ein unaufgelöstes Räthsel vor uns, und der Geschichtsschreiber, der den Verstand seiner Leser zu befriedigen wünscht, sieht sich genöthigt zu den Künsten des Wahrsagers, Dichters und Mahlers seine Zuflucht zu nehmen. Aber ohne dieses Hinderniß wird es ihm schon dadurch unmöglich ganz wahr zu seyn, daß er unvermögend sich selbst aus dem festen Punkt seiner Individualität herauszurücken, Personen, Handlungen und Ereignisse niemahls sehen kann, wie sie sind, sondern nur wie sie ihm, aus dem Gesichtspunkt, woraus er sie ansieht, erscheinen. (Wieland, Werke, XI, 36, S. 332 f)

Für die Spätaufklärer ist deshalb der Vorteil des Romans vor der Geschichtsschreibung, dass der Erzähler stets „unmittelbar in des Innerste der Menschen zu schauen“ vermag und ihm entsprechend auch die Darstellung eines geschlossenen Kausalsystems durch Einbeziehung der gesamten Intentionalität seiner Protagonisten möglich ist. In Absetzung zur Biographie, die in diesem Zusammenhang als stellvertretend für die Historiographie insgesamt gelten kann, schreibt Blanckenburg über den Roman: Der Dichter soll und will ja mehr, als Biograph seiner Personen seyn. Der Biograph steht nicht auf der Stelle auf welcher der Dichter steht. Jener zeichnet auf, was er sieht und weiß, aber den Gesichtspunkt, aus dem er es ansehen soll, und den der allein kennt, der das Ganze dieses einzelnen Menschen übersieht, kann er nicht kennen; er weis die Beziehungen, die Verhältnisse nicht, die sich zwischen dem was er aufzeichnet und zwischen dem befinden, was seine Person

als „Grenz- und Krisenfall des ersten Typus“, d.h. des pragmatischen Romans auf (ebd., S. 131). Auf die gattungstheoretische Problematik werden wir in Kap. 3.2 noch ausführlich zurückkommen. 134 Fulda, 1996, S. 73.

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werden soll, oder werden kann. Er kann den Punkt nicht sehen, in dem alle einzelne Strahlen zusammen kommen und vereint werden sollen. [...] Mit dem Dichter verhält es sich ganz anders. Er ist Schöpfer und Geschichtschreiber seiner Personen zugleich. Er steht so hoch, daß er sieht, wohin alles abzweckt. Und in der Welt des Schöpfers, und vor den Augen des Schöpfers ist alles mit allem, Körper und Geisterwelt mit einander verbunden; alles ist zugleich Ursach 135 und zugleich Wirkung. Es ist nichts da, das allein nur eins von beyden wäre.

Wie schon für Aristoteles die Dichtung der Geschichtsschreibung prinzipiell überlegen war, ist auch für die Spätaufklärer der pragmatische Roman von ‚höherer Wahrheit‘: Er vermag eine ‚historische‘ Totalität herzustellen, die der Geschichtsschreibung niemals erreichbar ist.136 Was Wieland über seinen Agathon schreibt – dass nämlich „alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der glaubwürdigsten politischen Geschichtsschreiber“ (Wieland, A, S. 6) –, das gilt in den Augen der Spätaufklärung für jeden Roman von einiger Qualität. Dennoch bleibt, wie sich an der Bestimmung des Romans als einer „bürgerlichen Epopee“137 durch Wezel zeigt, die Geschichtsschreibung für den Romancier vorbildlich: Die bürgerliche Epopee nimmt durchaus in ihrem erzählenden Theile die Mine der Geschichte an, beginnt in dem bescheidenen Tone des Geschichtsschreibers, ohne pomphafte Ankündigung, und erhebt und senkt sich mit ihren Gegenständen: das Wunderbare, welches sie gebraucht, besteht einzig in der sonderbaren Zusammenkettung der Begebenheiten, der Bewegungsgründe und Handlungen. (Wezel, HU, S. 10)

Dies gilt auch von der Biographie, die für Wezel noch maßgeblicher ist als die Geschichtsschreibung, da er die Konzentration auf „nur eine Hauptperson [..], in deren Begebenheiten die Schicksale der übrigen eingeflochten sind“, als „in der Natur der Sache und des menschlichen Geistes unmittelbar gegründet“ sieht. In der biographischen Geschlossenheit liegt für ihn entsprechend die Hauptbedingung, die „eine Geschichte, wenn sie ein Ganzes seyn soll“, erfüllen muss (Wezel, Versuch, S. 287)138:

135

Blanckenburg, Versuch, S. 379 f. Vgl. hierzu Müller, 1971, S. 39. Dies zeigt sich auch an Wielands ironisch-kritischem Spiel mit Geschichtstheorien im Goldenen Spiegel sowie an seinem nicht minder spielerischen Umgang mit der Quellenfiktion, den wir bei ihm allenthalben antreffen (vgl. Erhart, 1991, S. 183). 137 Dieser berühmte Begriff stammt also keineswegs von Hegel (vgl. Hegel, Werke, Bd. 15, S. 392). Ob er ihn allerdings von Wezel übernommen hat, ist ungesichert. 138 Die ‚Wahrheit‘ der Charakterdarstellung wird für Wezel durch die Konsistenz der Individualität gewährleistet (vgl. Wezel, Epistel, S. 161). Zum Einfluss der Biographie auf den Roman vgl. auch Pfotenhauer, 1987, S. 24: „Der Roman, erzählt als jene innere Geschichte seines Helden im Verhältnis zu den äußeren Begebenheiten, verlangt nach stringenter psychologischer Motivierung, nach einem Kausalnexus der bedingenden Faktoren und des daraus sich ergebenden Entwicklungsganges. Der Roman nähert sich auch darin der Autobiographie. Nur – ihm bietet sich als Fiktion die Chance, die Konsistenz eines solchen Lebensganges erfindungsreich zu vergrößern. Er möchte die Authentizität des Selbstbiographischen ersetzen durch die Suggestivität der literarischen Geschlossenheit, der von der Kontingenz des Lebens unbehelligten Homogenität.“ 136

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Der Verfasser gegenwärtigen Werkes war beständig der Meinung, daß man diese Dichtungsart dadurch aus der Verachtung und zur Vollkommenheit bringen könne, wenn man sie auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiel näherte: so würde die wahre bür139 gerliche Epopee entstehen, was eigentlich der Roman seyn soll. (Wezel, HU, S. 9)

Auch Wielands Romane, die in gewisser Hinsicht ja durchaus als historische Romane aufgefasst werden können, zeigen trotz aller Ironie, mit der er die Geschichtsschreibung in seinen virtuosen Spielen mit der Quellenfiktion behandelt, eine hohe Wertschätzung der Historiographie, die dem Roman seine Glaubwürdigkeit und seinen realistischen Aussagegehalt sichern soll. Dies ist zu berücksichtigen, wenn Wieland in seiner Vorrede zum Agathon die „Wahrheit“ seiner Geschichte in ihrer inneren Wahrscheinlichkeit begründet sieht: Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiermit vorlegen, gefordert werden kann und soll, besteht darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Character nicht willkührlich, und bloß nach Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besonderen Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Character und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genauste beibehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird, niemals aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal 140 wirklich geschehen werde. (Wieland, A, S. 5 f)

Der pragmatische Roman steht jedoch laut Blanckenburg nicht nur unter dem Einfluss des Kausalitätsdenkens, sondern er hat zugleich einen teleologischen Rahmen, der die Erzählwelt als „ein verkleinertes Abbild eines zweckvollen Ganzen“ erscheinen lässt.141 Dem „explanatorischen Erzählbegriff“142 der Aufklärung zum Trotz findet sich bei Blanckenburg das Bewusstsein, dass der Roman nicht allein eine (kausale) „Wahrscheinlichkeit“ anzustreben habe, sondern dass auch der Romancier die von ihm ent139

Die Bedeutung des Lustspiels für den Roman besteht für Wezel, wie für viele Spätaufklärer, darin, dass es als ‚niedere Dichtungsart‘ den Bereich der alltäglichen Lebenswelt zum Gegenstand der Dichtung macht – und nicht mehr, wie Tragödie und höfischer Roman, die Haupt- und Staatsaktionen. In dieser Tradition liegt die Bezeichnung des ‚komischen Romans‘, die den Tom Jones von Fielding zum Maßstab für den deutschen Roman gemacht und Wezel entsprechend auch für Herrmann und Ulrike gewählt hat. 140 Zum Verhältnis der Vorrede zum Agathon selbst vgl. Erhart, 1991, S. 93 ff, für den der Roman das, was die Vorrede an Erwartungshaltungen aufbaut, anschließend dekonstruiert. 141 Blanckenburg, Versuch, S. 313. 142 Fulda, 1996, S. 89. Der „explanatorische Erzählbegriff“, der die innere Motivationsgeschichte berücksichtigt, wird von Fulda dem „pejorative[n] Erzählbegriff der Aufklärung“, der sich auf die Darstellung äußerer Begebenheiten reduziert, entgegengestellt (vgl. ebd., S. 85 ff). Greifbar wird dies z.B. an Engels Unterscheidung zwischen Beschreibung und Erzählung (vgl. Engel, 1964, S. 10).

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worfene mögliche Welt einem zweckvollen Plan zu unterwerfen habe, wenn sie sich zu einem Ganzen ründen solle, das in einem mimetischen Verhältnis zur wirklichen Welt steht.143 Wie Frick ausführt, erfolgt entsprechend das Romanerzählen für Blanckenburg zugleich ab ovo und ad finem144, wobei die „Teleologisierung“ des Erzählens vor allem dadurch geschieht, dass – in Orientierung an der Biographie – eine Zentralfigur als „teleologische Synthesis“ aufgefasst wird145: Die literarische Trias eines Romanautors, der im Medium kausal verknüpfter, aber zweckursächlich arrangierter welthafter Begebenheiten die individuelle Vervollkommnung einer als causa finalis und Synthesis aller Handlungselemente fungierenden Romanfigur realisiert, wiederholt mimetisch die ontologische Trias einer durch den göttlichen Schöpfer kausal und vernünftig organisierten Naturordnung, die auf die Perfektibilität des Menschen als Gattung und auf seine charakterliche Vervollkommnung als Individuum und „Jedermann der Theodizee“ 146 sinnvoll und teleologisch zugeordnet ist.

Für Engel stellt der Aufklärungsroman den Versuch einer „Engführung von Kausalität und Finalität“ dar. Er bemühe sich darum, „die ‚providentialistisch-teleologische Erklärungsebene in die empirische Kausalität zu integrieren“147, indem in ihm eine „Präsentation des pragmatischen Kausalnexus als eines ideellen (finalen) Nexus“ vollzogen werde148: Blankenburg versucht die philosophische Dignität des Romans zu erweisen, indem er ihn in die Tradition der Theodizee-Debatte stellt, und ihn ästhetisch aufzuwerten, indem er ihn mit dem Drama verknüpft [...]. Zur Theodizee eignet sich der Roman als vereinfachtes Weltmodell, in dem der Romanautor als ‚Schöpfer‘ die in der unüberschaubaren Wirklichkeit verborgene Identität von Kausalität (‚causae efficientes‘) und Finalität (‚causae finales‘) an der kausal motivierten und final verlaufenden Entwicklung seines Helden erfahrbar werden lassen kann, um so die prästabilierte Harmonie zwischen Individuum und Weltganzem aufzuzei149 gen.

Auch in der Spätaufklärung ist daher die teleologisch organisierte kosmische Ordnung noch Vorbild der Dichtung. So heißt es in Wielands Goldenem Spiegel: Die Erwägung der wunderbaren Ordnung, in welcher dieses aus einer so unendlichen Menge verschiedener Theile zusammen gesetzte allgemeine Ganze erhalten wird, leitet uns auf den

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Vgl. Blanckenburg, Versuch, S. 340 ff. Frick, 1988, S. 358. Dass diese beiden Prinzipien auch für Wielands Agathon gültig sind, wird von Michel ausführlich gezeigt (vgl. Michel, 2006, S. 77 ff und wieder S. 110 ff). 145 Frick, 1988, S. 356 f. 146 Ebd., S. 361. Noch bei Moritz, so Engel, wird „eine ‚innere‘ Zweckmäßigkeit“ des Romans angestrebt, „bei der der pragmatische Nexus in seiner Linearität sekundär erscheint gegenüber einer auf ästhetische Weise erzeugten Totalität als Komposition um einen ‚Mittelpunkt‘“ (vgl. Engel, 1993, S. 222). 147 Vgl. Frick, 1988, S. 100. 148 Ebd., S. 96. 149 Ebd., S. 93. 144

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Begriff eines besonderen Endzwecks für jede besondere Gattung, und eines allgemeinen 150 Zwecks für das ganze System der Schöpfung. (Wieland, Werke, II, 7, S. 125 f)

Dennoch ist der für Blanckenburg oft festgestellte und für die gesamte spätaufklärerische Romantheorie charakteristische Konflikt zwischen kausalem und teleologischem Denken weniger ein Zusammenstoß disparater metaphysischer Theorien von säkularem Ausmaß151, als eine schlichte Konsequenz erzähltechnischer Probleme. Selbst Wezel, dem man gewiss nicht den Vorwurf machen kann, einer teleologischen Metaphysik anzuhängen152, erkennt die technische Notwendigkeit eines erzählerischen Zwecks an: Mein Plan sollte dem Plan der wirklichen Begebenheiten ähnlich sein: alles ohne Ordnung scheinen und nichts ohne Endzweck sein. (Wezel, TK, I, S. XVI)

Dass aber in der Tat „alles ohne Ordnung“ scheine, dafür sorgen im Tobias Knaut die vielfältigen Digressionen, in denen sich Wezel – wie im übrigen auch Wieland – am Tristram Shandy von Sterne orientiert153: [D]er meiste Theil der Leser fordert eine fest zusammengeknüpfte, nie unterbrochne, in gleicher Linie fortgehende Reihe der Begebenheiten; und ich für meinen Theil finde nichts einschläferndes, als solche Erzählungen in gerader Linie. Lieber mache ich mir selbst zuweilen mit meinen Gedanken einen kleinen Ausweg, wenn ich sie lese; und der Erzähler, der mich immer bey der Hand hält, und nicht einen Finger breit vom geraden Wege weglassen will – von dem reiße ich mich gewiß los, ehe wir sechs Schritte mit einander gegangen sind. (Wezel, 154 TK, I, S. XVI)

Mit solch einem digressiven Erzählstil, mit dem man sich hilft, „wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte“ (Wieland, A, S. 557), wird die Erzähltechnik zu einer „grundsätzliche[n] Kritik des Pragmatismus“. Denn der philosophische Roman nimmt dadurch eine „Parodie der herkömmlichen Logik des Erzählens“ vor.155

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Allerdings zeichnet sich der Goldene Spiegel Wielands durch alles Andere eher aus als durch eine zweckvolle Organisation des Erzählganzen; vielmehr löst sich dieses in den mannigfaltigen Abschweifungen und Kommentaren sowohl des Erzählers als auch der Hauptfiguren der Rahmenhandlung auf. 151 Unbesehen dessen lässt sich mit Fulda sagen, dass Blanckenburgs Romantheorie durch den „Zusammenstoß zwischen einem an Leibniz orientierten teleologischen und einem von der Anthropologie inspirierten Kausalitätsprinzip“ charakterisiert ist (vgl. Fulda, 1996, S. 257). 152 Zur Belehrung sei hier nochmals Wezel zitiert: „An einem so dünnen Faden, an ein Haar, das man nicht anders, als durchs feinste Mikroskop erkennt, sind die Begebenheiten der Welt gereihet! [...] man setze eine einzige an einen andern Ort, und die ganze Schnur leidet eine Veränderung dabey.“ (Wezel, TK, I, S. 190) 153 Das hat Wezel den Vorwurf der Epigonalität eingetragen, gegen den er sich bereits in der Vorrede verwahrt (vgl. Wezel, TK, I, S. XIII). Vgl. hierzu auch Michelsen, 1972, S. 74 ff sowie (zu Wieland) S. 177 ff. 154 Vgl. dazu Wezel, TK, I, S. 70 f; zit. in Kap. 2.1.2. 155 Vgl. Fulda, 1996, S. 110 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Wie später für Jean Paul156 ist auch bereits für Wezel das Konzept des pragmatischen Romans so zweifelhaft geworden, dass er es nicht nur in Form der Satire behandelt – wie z.B. in der Parodie auf das ab-ovo-Prinzip im Tobias Knaut157 oder in der Parodierung des Titels Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne durch den gesamten Handlungsverlauf158 –, sondern dass er das Problem der kausalen Verknüpfung immer wieder in autoreflexiver Weise thematisiert: [D]ieses Glied will ich meinen Lesern von der Kette der Ursachen und Wirkungen in die Hand geben; wenn ich bis zu den ganz ersten zurückgehen wollte, so würde die Geschichte dieses einzigen Vorfalles so stark als die Geschichte der Menschheit werden, und mit dieser von Einem Datum anfangen. (Wezel, TK, I, S. 151)

Nicht nur bei Sterne, sondern auch bei Wezel und Wieland äußert sich hier die Skepsis, ob angesichts der Unentwirrbarkeit psychischer Phänomene und der Komplexität der Handlungsmotivationen eine kausale Analyse menschlicher Verhaltensweisen überhaupt möglich ist.159 In Wielands Agathon geht die Rechtfertigung des digressiven Erzählens, die das „Labyrinth von Parenthesen und Digressionen“ dem Leser erträglich machen soll, mit der Warnung vor einer Nachahmung dieses Erzählstils einher: Nicht als ob uns bange davor sei, man werde Ordnung und Zusammenhang in dieser unsrer pragmatisch-critischen Geschichte vermissen; sondern weil es in der Tat unendlich mal leichter ist Miscellanien zu schreiben, als ein ordentliches Werk [...]. (Wieland, A, S. 399)

So wird innerhalb des philosophischen Romans das teleologische durch das digressive Erzählen relativiert. Zugleich jedoch sehen die Spätaufklärer die interne Wahrscheinlichkeit der fiktionalen Welt nur dann gewährleistet, wenn der Kausalitätsforderung in vollem Maße Genüge getan wird. Der an der Geschichtsschreibung orientierte pragmatische Roman bleibt in dieser Hinsicht das Vorbild auch des philosophischen. Wie schon der Begriff selbst erkennen lässt, geht man im Konzept des pragmatischen Romans von der Mimesis menschlicher Handlungen aus, deren hinreichende – psychologische – Determination verlangt wird. Diese Forderung nach vollständiger Determination der dar156

„Je niedriger der Boden und die Menschen eines Kunstwerks und je näher der Prose: desto mehr stehen sie unter dem Satze des Grundes.“ (Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 246) 157 Vgl. dazu auch Gössl, 1987, S. 76. 158 Dies zeigt sich z.B. darin, dass die Protagonisten, wenn ein Wechsel des Schauplatzes nötig wird, mit Hilfe einer „Wasserhose“ (vgl. Wezel, B, I, S. 118 ff) oder einer schwimmenden Insel (vgl. Wezel, B, II, S. 193 ff) in einen anderen Weltteil befördert werden. Für Gössl begründet nicht „die pragmatische Integration aller Elemente der Erzählung [...] die Wahrscheinlichkeit dieses Romans [des Belphegors], sondern allein die theoretische Aussage“ (Gössl, 1987, S. 107). Dies wird durch unsere Interpretation bestätigt. 159 Das gilt auch für Wieland, über dessen Agathon Thomé, 1978, S. 211 schreibt: „Deshalb ist der Begriff der naturwissenschaftlichen Struktur des Erzählens mit Einschränkungen zu verstehen. Es geht nicht so sehr um eine dargestellte Kausalität im Geschehen selbst unter Verwendung zahlreicher wissenschaftlicher Detailkenntnisse, sondern um eine Reflexion der Kausalität durch den Erzähler.“

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

239

gestellten Handlungen impliziert aber – gemäß dem Postulat der pragmatischen Integration – deren Situierung in umfassenden Kontexten – zunächst in den des gesamten menschlichen Lebens (wodurch die Biographie zum Leitmedium des Romans wird), dann aber auch in das Ganze einer kausal geschlossenen Welt.160 So kann der pragmatische Roman als konsequente Applikation der Theorie der möglichen Welten auf dem Felde der Literatur angesehen werden. Zugleich wird das Konzept des pragmatischen Romans entwickelt, um der MimesisForderung in einem philosophisch haltbaren Sinn Genüge zu tun, indem nicht mehr eine Nachahmung bestimmter diskreter Entitäten, sondern des Weltganzen verlangt wird. Dies geschieht in Gestalt der Forderung nach kausaler Geschlossenheit sowie nach interner Kohärenz der erzählten Welt – ein Konzept, das, wie gesehen, in der Leibnizschen Theorie der möglichen Welten seine metaphysische Legitimation findet: Der literarische Entwurf einer konsistenten Welt nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit und dem Satz vom zureichenden Grunde korrespondiert mit der Beschreibung der wirklichen Welt nach den Prinzipien des nexus rerum und der Compossiblität durch Leibniz und Wolff. Im Hintergrund des Konzepts des pragmatischen Romans steht so zwar noch die mechanizistische Vorstellung einer kausal determinierten Welt, doch dadurch, dass die fiktionale Welt eine Nachahmung der Welt als ganzer wird, gerät die Ästhetik in Abhängigkeit von der Ontologie, deren Weiterentwicklung von nun an direkte Auswirkungen auf die ästhetische Theorie hat – ein Umstand, der für die Entwicklung der Romantheorie und -praxis um 1800 eine entscheidende Bedeutung gewinnen sollte. Nach Auffassung der Spätaufklärer dient die Literatur insofern der Erweiterung unserer Erkenntnisgrenzen, als nur sie uns einen Begriff vom Weltganzen zu geben vermag, während wir dazu in der realen Welt „unsrer Schwachheit wegen“ unfähig seien. Trotz aller Zweifel am pragmatischen Erzählen, die mit der Weigerung korrespondieren, die Möglichkeit einer totalen Kontingenz der Welt auszuschließen, bleibt also das Konzept des pragmatischen Romans Orientierungsmodell der philosophischen Romane der Spätaufklärung: Auch ihre Erzähler geben dem Leser ein „Glied [...] von der Kette der Ursachen und Wirkungen in die Hand“ (Wezel, TK, I, S. 151), wenn sie sich auch gleichzeitig in ausführlichen Digressionen ergehen. Die ambivalente Haltung der Spätaufklärer zum pragmatischen Erzählen wird vielleicht nirgends so deutlich wie im Don Sylvio von Wieland, in dem einerseits anhand der Schwärmerkur des Helden eine scharfe Kritik am Nachahmungsmodell geübt wird161, andererseits aber nicht nur die Natur über die „Schwärmerey“ schließlich den Sieg davonträgt, sondern vor allem – in einer letzten ironischen Wendung – der Roman selbst in einem Nachahmungsverhältnis zur Literatur, nämlich zum Don Quijote steht. Dabei wird der Nachahmungsbegriff im Don 160 161

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 2.1.2. Vgl. Schönert, 1969, S. 133 f, wo es heißt: „Wieland benutzt Don Sylvio, um prinzipielle Möglichkeiten der literarischen Nachahmung und die rechte Rezeption der nachgeahmten Wirklichkeit satirisch zu entwickeln. Die Torheit seines Helden besteht darin, die Kunstrealität ohne die nötigen ‚Transformationen‘ direkt auf die Wirklichkeit zu beziehen.“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Sylvio in zwei Bedeutungen verwendet: die ‚wahre‘ Nachahmung der Natur steht einer ‚falschen‘ gegenüber, welche nur in der Imitation vorgegebener literarischer Muster besteht.162 Dieser letzteren gilt die Kritik der Spätaufklärer, während das Postulat einer Mimesis der Natur für sie weiterhin seine Gültigkeit bewahrt – ist doch die Originalität der literarischen Darstellung durch das Poiesiskonzept gesichert, wonach der Dichter in seinem Roman eine autonome Welt schaffe.163 Damit aber wird wiederum deutlich, dass sich einfache Antworten in der Tradition der anderen Vernunft nicht finden. Doch gewährt sie in ihrer alles in der Schwebe haltenden Skepsis immerhin den Trost des Spielerischen, obgleich natürlich bloß als eine – Illusion164: „Das ganze Leben ist ein Spiel“, antwortete Kakerlak. „Das Kind spielt mit Puppen oder Trommeln, der Jüngling mit Hunden und Pferden, das Mädchen mit der Liebe, mit Stoffen und Bändern, die Großen mit Soldaten, Sternen, Stammbäumen, Ordensbändern, die Kleinen mit Titeln, Männer und Weiber mit Karten, Würfeln und Kegeln, der Weise mit Gedanken und Empfindungen. Wenn alles spielt, warum sollte ich allein es nicht tun?“ (Wezel, K, S. 194)

Fragt man jedoch, wie dieses narrative Spiel innerhalb des philosophischen Romans der Spätaufklärung des Näheren inszeniert wird, erkennt man, dass das digressive Erzählen nur dessen äußerliches Kennzeichen ist. Vielmehr artikuliert sich in den vielfältigen Digressionen eine Erzählhaltung, die vor allem durch die Struktur der Autoreflexivität gekennzeichnet ist.165 In Folge dieser autoreflexiven Erzählhaltung lässt sich eine zunehmende Subjektivierung des Erzählens beobachten, die sich durchaus in Parallele zur Entwicklung der Subjektivitätsphilosophie von Leibniz und Wolff bis zu Kant und seinen Nachfolgern setzen lassen.166 Dadurch aber wird dem Leser allererst ein Einblick in den Entstehungsprozess des Romanerzählens ermöglicht: Indem Erzählen und erzählte Welt gleichursprünglich präsentiert werden, wohnt der Rezipient der Erfindung der 162

Bereits Edward Young unterscheidet dies in seinen Conjectures on Original Composition: „Die Nachahmungen sind von doppelter Art. In einigen wird die Natur, in anderen werden die Autoren nachgeahmet. Wir nennen die erstern Originale und behalten den Namen der Nachahmung nur für die letztern.“ (Young, 1977, S. 15) 163 Darum konfligiert das Mimesiskonzept keineswegs mit der Vorstellung vom ‚Originalgenie‘, das im Sturm und Drang vertreten wurde. Dies lässt sich auch den Bemerkungen über Nachahmung und Originalität in Silvans Bibliothek entnehmen (vgl. Wezel, SE 3, S. 45 ff). Vgl. hierzu auch: Immer, 2003/2004, S. 151-180. 164 Vgl. Wezel, TK, IV, S. 3 f: „Indessen wäre es für mich hinreichende Genugthuung, wenn mein Buch etlichen meiner Nebenmenschen ein Paar lachende Stunden verschafft hätte: denn in diesem Wirbel von Thorheiten, leeren Wünschen, kindischen Bemühungen, geistlosen Freuden, ernsten maskirten Kleinigkeiten, langweiligen unbefriedigenden Ergötzlichkeiten, in welchen die Menschheit sich unwiderstehlich herumdreht, ist eine in der Einbildung verträumte oder verlachte Stunde eine wahre Glückseligkeit, und vielleicht unter den mannichfaltigen Illusionen, die wir uns für Glückseligkeiten auf unserm Planeten auszugeben belieben, die größte der Empfindung nach und die einzige, die nichts weiter seyn will, als was sie ist und alle sind – eine Illusion.“ 165 Auch Brenner fasst den digressiven Stil als äußeres Merkmal der Selbstdarstellung des Erzählers auf (vgl. Brenner, 1981, S. 186 f). 166 Vgl. Gurwitsch, 1974, S. 430 ff.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

241

möglichen Welten unmittelbar bei. Dies sollte für die weitere Entwicklung der Romanpoetologie wie auch der Romanpraxis entscheidend werden. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung kann, wie gesehen, die Beschäftigung mit dem utopischen Denken innerhalb des philosophischen Romans der Spätaufklärung betrachtet werden. In einer autoreflexiven Wendung führt diese Auseinandersetzung auf die im engeren Sinne ästhetische Frage nach dem Status fiktionaler Welten. So wird die fiktionsinterne Utopie zum Austragungsort für die Auseinandersetzung mit dem Problem der Fiktionalität selbst – mit der Konsequenz, dass der philosophische Roman durch eine doppelte Fiktionalitätsstruktur gekennzeichnet ist.167 Mit der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens, die sich unter Rückgriff auf die Theorie der möglichen Welten artikuliert, wird im philosophischen Roman eine Autoreflexivität erreicht, die den Erzählprozess selbst zu einem durch und durch bewussten Vorgang macht168 und den Kunstcharakter des Erzählwerks hervorhebt.169 Die alte Aristotelische Redeweise von der Kunst als einem ‚Wissen vom Können‘ bekommt von hier aus einen neuen Sinn. Die Selbstthematisierung des Erzählens steht sonach in enger Verbindung mit dem erzählten Geschehen; sie artikuliert sich vor allem in der Form der (Fiktions-)Ironie170, deren einfachster Ausdruck die Behandlung der Herausgeberfiktion ist.171 Eine solche Ironisierung der Herausgeberfiktion findet sich 167

Auch Fohrmann weist darauf hin, dass, indem neben den Utopien selbst zugleich die „Reflexion über die Bedingung ihrer Möglichkeit“ präsentiert wird, mehrere Fiktionsebenen entstehen (vgl. Fohrmann, 1982, S. 25). 168 Nach Hohendahl wird dies im Falle des Goldenen Spiegels dadurch erreicht, dass oberhalb der beiden Fiktionalitätsebenen der erzählten Welt – des (vermeintlich) Historischen und des Utopischen – zusätzlich eine Rahmenhandlung als Meta-Geschichte installiert wird, innerhalb derer das Verhältnis zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Utopie in autoreflexiver Weise thematisiert wird: „Die Erfindung einer Erzähler- und einer Zuhörerfigur erlaubt Wieland, das Verhältnis zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Utopie im Zusammenhang des epischen Kunstwerks selbst zu reflektieren.“ (Hohendahl, 1969, S. 107) 169 Laut Kimpel ist das narrative Spiel des spätaufklärerischen Romans mit der eigenen Fiktionalität ein „doppelte[s] Spiel“, insofern einerseits mit dem Postulat der Authentizität ein Realitätsanspruch erhoben, andererseits in dem beständigen Ausweis des eigenen Kunstcharakters ein Fiktionalitätsanspruch formuliert werde. Hierin spiegele sich „das komplexe Verhältnis von ‚histoire‘ und ‚fiction‘“, durch das bereits der Tom Jones von Fielding charakterisiert sei. (Vgl. Kimpel, 1977, S. 3) 170 Vgl. hierzu Mähl, 1982, S. 68 f. Gabriel trifft in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen fiktionaler und ironischer Rede: „Die intensionaluneigentliche [ironische] Rede tut so, als ob sie p meint (behauptet), meint (behauptet) aber q. Die extensional-uneigentliche [fiktionale] Rede tut so, als ob sie etwas behauptet, behauptet aber nichts, und tut so, als ob sie sich auf einen Gegenstand bezieht, bezieht sich aber auf keinen Gegenstand.“ Dabei seien beide gleichermaßen auf Durchschauung durch den Rezipienten angelegt und deshalb von Lüge und Täuschung strikt unterschieden (vgl. Gabriel, 1975, S. 52). Die Fiktionsironie ist entsprechend durch die ‚Wahrheits‘Bedingungen beider Redeweisen charakterisiert. 171 Nach Schwanitz benutzt die Literatur die Differenz zwischen Erzählung und Wirklichkeit als Kontrollinstanz ihres realistischen Anspruchs, der „durch die interne Plausibilisierung eines realistischen Stils [...] und durch Rahmungen [gesichert werden soll], indem ein Erzähler oder fiktiver

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

bereits in Wielands Agathon. So wird das vierte Kapitel des zehnten Buchs172 durch eine Einlassung des „Autor[s] des griechischen Manuscripts“ über die Rettung der Tugend Agathons eröffnet (vgl. Wieland, A, S.530 ff), woran sich eine „ein wenig milzsüchtige Declamation gegen diejenige Classe der Sterblichen, welche man große Herren nennt“, schließt. Dazu aber merkt der (pragmatische) Erzähler in ironischer Weise an: So viel man sehen kann, ist dieses Capitel eines von den merkwürdigsten, und sonderbarsten in dem ganzen Werke. Aber unglücklicher Weise, befindet sich das Manuscript an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen; und die andre Hälfte ist durch Feuchtigkeit so übel zugerichtet worden, daß es leichter wäre, aus den Blättern der Cumäischen Sibylle, als aus den Bruchstükken von Wörtern, Sätzen und Perioden, welche noch übrig sind, etwas Zusammen173 hängendes herauszubringen. (Wieland, A, S. 532)

Die Fiktionsironie wird aber von Wieland – und ähnliches gilt auch für Wezel – mit noch größerer Virtuosität angewandt, wenn er ein ästhetisches Spiel nicht bloß mit den vorgeblichen historischen Quellen des jeweiligen Romans174, sondern mit der Glaubwürdigkeit des gesamten fiktionalen Unternehmens vorführt – ein Spiel, das die philosophischen Romane der Spätaufklärung in ihrer autoreflexiven Erzählweise zu transzendentalen Metaromanen par excellance macht.175 Das Besondere der Fiktionsironie ist, dass sie sich nicht auf die Figuren und deren Verhaltensweisen oder auf diskursive Elemente des Erzählwerks bezieht, sondern auf die formalen Aspekte des Romans; sie ist damit Ausdruck einer „Wendung des Werks gegen sich selbst“, deren Karriere bereits mit dem Don Quijote beginnt: Subjektiv ist nur die Ironie, die sich auf den Stoff bezieht, mit dem der Dichter willkürlich verfahren kann; die Ironisierung jedoch, der die Form unterliegt, vernichtet diese nicht – wie die

Herausgeber durch Verweis auf Zeugenaussagen, kritisches Abwägen, Sichtung von Dokumenten und andere historisch-kritische Methoden den Leser von der Authentizität seines Berichts zu überzeugen suchte“ (Schwanitz, 1990, S. 155 f). Gerade diese narrativen Maßnahmen der Wirklichkeitssicherung werden aber im philosophischen Roman ironisch gebrochen. 172 Dieses Kapitel fehlt bezeichnenderweise in der letzten Fassung des Romans. 173 Vgl. auch den Versuch des Erzählers, ein Selbstgespräch Agathons dadurch als historisch verbürgt zu rechtfertigen, dass er auf die Behauptung des griechischen Verfassers verweist, es gründe „auf eine Art von Tagebuch“ des Protagonisten (vgl. Wieland, A, S. 33). Auf besonders virtuose, weil mehrschichtige Weise wird die Herausgeberfiktion im Goldenen Spiegel sowie im Danischmend angewandt. Laut Brenner ist der Verweis auf die Fakten der Geschichte innerhalb einer solchen Quellenfiktion als Ausdruck einer realistischen Mimesislehre zu deuten (vgl. Brenner, 1981, S. 208). Wird dieser Realitätsanspruch ironisch gebrochen, so ist darin auch eine Distanzierung vom Nachahmungspostulat impliziert, ohne dass dieses damit endgültig verabschiedet würde. 174 Ein solches ironisches Spiel mit der Quellenfiktion wird etwa in Wielands Koxkox und Kikequetzel als Erzähler-Leser-Gespräch inszeniert (vgl. Wieland, Werke, V, 14, S. 32 f). 175 So lässt sich das, was Hillebrand über Wielands Romane sagt, auf die fiktionsironisch gebrochenen Romane der Spätaufklärer insgesamt beziehen: „Daß der Erzähler ständig seine Darstellung zum Gegenstand ironischer Reflexion macht, zeugt schon von der produktiven Bewußtseinsstufe, daß es hier nämlich keineswegs mehr um einfache Nachahmung geht, sondern um genuine Neuschöpfung von Wirklichkeit.“ (Hillebrand, 1993, S. 111 f)

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

243

subjektive Ironie den Stoff –, sondern sie greift die Form an, ohne sie zu zerstören. Das Werk bleibt so in seiner Endlichkeit und Bedingtheit erhalten, verweist aber zugleich durch die iro176 nische Selbstreflexion aufs Unendliche und Unbedingte hinaus [...].

Träger dieser Fiktionsironie ist der Erzähler. In dessen Verzicht auf den Absolutheitsanspruch seiner Kommentare, der mit der ironischen Brechung der Fiktionalität verbunden ist, wird in den Romanen Wielands und Wezels die prätendierte Empirizität des Erzählers sichtbar.177 Die Brechung der Fiktionalität ist keineswegs Ausdruck subjektiver Willkür, sondern verweist auf die ‚transzendentale‘ Gesetzmäßigkeit des Entwurfs fiktionaler Welten: Hinter dem empirischen Subjekt des Erzählers verbirgt sich das transzendentale; die in der Darstellung zum Ausdruck kommende subjektive Willkür kann nicht verbergen, daß nach wie vor objektive Gesetze ihren Gültigkeitsanspruch erheben, neben dem andere Erklärungsversu178 che keinen Bestand haben können.

Wie Mähl anhand der Republik des Diogenes gezeigt hat, werden durch die Fiktionsironie diejenigen Erzählstrategien aufgedeckt, mit denen nicht nur das utopische, sondern das gesamte fiktionale Erzählen gewöhnlich seine Glaubwürdigkeit zu sichern versucht: [D]ie Fiktionsironie Wielands stellt die ältere utopische Erzähltradition gleichsam auf den Kopf, indem sie die hypothetischen Annahmen, die ‚Axiomatik‘ der entworfenen Inselrepublik freiwillig aufdeckt und als Denkspiel dem Subjekt des Erzählers (und des intendierten Lesers) 179 überantwortet.

Das jedoch bedeutet, „daß mit der Brechung des Wahrheitsanspruchs der utopischen Fiktion in die Utopie selbst nunmehr auch die Reflexion über die Bedingungen [...] der Möglichkeit utopischen Erzählens aufgenommen wird“.180 Das Ziel „einer solchen reflexiv gebrochenen und ironisch umspielten ‚Utopie‘“ sei jedoch – neben dem Entwurf von Normen zur „Kritik der zeitgenössischen Gegenwart“ – die „Einübung des Lesers in ein Möglichkeitsdenken, das als mentales Aufbrechen verfestigter Bewußtseinsstrukturen gedeutet werden kann“.181 All dies jedoch gilt nicht allein für das utopische, sondern für das fiktionale Erzählen insgesamt, sodass die Utopienreflexion im Grunde eine Form der Autoreflexivität ist. 176

Brenner, 1981, S. 67. Laut Schwanitz wird im Don Quijote auch bereits das Problem des Wirklichkeitsbezugs von Literatur thematisiert (vgl. Schwanitz, 1990, S. 156). 177 Vgl. Brenner, 1981, S. 189. 178 Ebd., S. 211. Was Brenner über Diderots Jacques le Fataliste sagt: „Die Fülle von Möglichkeiten des Handlungsablaufs, die hier – in deutlicher Parodie des ‚Romans‘ im pejorativen Sinne – aufgezählt werden, verweist auf die prinzipielle Offenheit des dargestellten Geschehens. Sinngebung wird denunziert als Veranstaltung des – schlechten – Romanciers“ (ebd., S. 168), das lässt sich auch auf den philosophischen Roman der Spätaufklärung, insbesondere auf den Tobias Knaut Wezels und das Ende des Agathon anwenden. 179 Mähl, 1982, S. 68. 180 Ebd., S. 69. 181 Ebd., S. 70.

244

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Bei der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens handelt es sich jedoch bereits um eine Autoreflexivität zweiter Stufe. Höherstufig ist diese Autoreflexivität deshalb, weil sie über eine bloße Inbezugsetzung von einzelnen diskursiven Inhalten und formalen Elementen, also über jene Autoreflexivität erster Stufe, durch die die diskurslogischen Konsequenzen des pragmatischen Paradigmas gezogen werden, hinausgeht und auf die generelle Problematik des Verhältnisses zwischen fiktionaler und wirklicher Welt reflektiert. Durch diese Form der Autoreflexivität wird im philosophischen Roman der Spätaufklärung das Erzählte und das Erzählen als etwas gleichursprünglich Gegebenes präsentiert. Entsprechend werden bei dieser Selbstthematisierung des Erzählens die ästhetischen Grundlagen des fiktionalen Erzählens – vor allem im Hinblick auf dessen ontologische Voraussetzungen – artikuliert. Durch die Adaption des Konzepts der möglichen Welten wird das Verhältnis von Mimesis und Poiesis als eine ‚transzendentale‘ Relation zwischen erzählter Welt und Erzähler als dem Schöpfer dieser Welt gedeutet. Die Darstellung einer fiktionalen Welt ist danach immer auch eine Darstellung des Schöpfers dieser Welt: mundus adspectabilis und mundus intelligibilis fallen so zuletzt in einem etwas anderen Sinne zusammen. So gerät die Ästhetik bzw. Romantheorie dadurch, dass die fiktionale Welt des Romans eine Nachahmung der Welt als ganzer wird, in eine unmittelbare Abhängigkeit von der Ontologie. Zunächst führt der kontextualistische Ansatz des pragmatischen Romans mit Notwendigkeit auf die Auffassung sowohl der Welt als auch des Kunstwerks als eines einheitlichen, kausal geschlossenen Ganzen. Durch das autoreflexive Erzählen mit den Mitteln der Fiktionsironie wird jedoch innerhalb des philosophischen Romans das Konzept des pragmatischen Romans zugleich überschritten. Wie z.B. der Tobias Knaut Wezels zeigt, sind sich die Spätaufklärer sehr wohl bewusst, dass der pragmatische Roman etwas an sich Unmögliches will – nämlich die Darstellung der ‚schlechten‘ empirischen Unendlichkeit i.S. einer endlosen kausalen Verknüpfung aller dargestellten Handlungen und Gegenstände. Insofern ist der philosophische Roman bereits einem ‚höheren‘ Totalitätsbegriff verpflichtet. Während hinter dem Konzept des pragmatischen Romans noch die mechanizistische Vorstellung einer kausal geschlossenen Welt steht, verweist die autoreflexive Grundstruktur des philosophischen Romans schon auf einen organizistischen Welt- und Kunstbegriff. Denn mit seiner Autoreflexivität ist er durch ein Merkmal ausgezeichnet, mit dem laut Schelling und den Romantikern auch die Welt als ganze zu charakterisieren ist. Diese autoreflexive Struktur wiederum kennzeichnet deren Auffassung nach maßgeblich den Organismus, nach dessen Analogie das Universum beschrieben wird. Im frühromantischen Konzept der Transzendentalpoesie übernimmt entsprechend die Autoreflexivität eine mimetische Funktion, insofern sie nun selbst in einem Abbildverhältnis zur Struktur des Weltganzen steht. Dies unterscheidet den transzendentalpoetischen Roman um 1800 vom philosophischen der Spätaufklärung. So weit eine solche Auffassung auch über die skeptizistischen und pragmatischen Ansichten der Spätaufklärer hinausgeht, so hat doch der philosophische Roman durch die Implementierung autoreflexiver Strukturen in das Erzählen bedeuten-

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

245

den Einfluss nicht allein auf das organizistische Kunstverständnis der Romantiker, sondern zuletzt auch auf die metaphysischen Auffassungen der Deutschen Idealisten. Darüber hinaus entfaltete schon der pragmatische Roman große Wirkungen auf die Formulierung der Autonomieästhetik um 1800: Indem er sich als eine Synthese der Mimesislehre mit dem Konzept der möglichen Welten darstellt, werden darüber alle moralischen Forderungen an die Kunst, wenn sie nicht ausdrücklich abgelehnt werden, vernachlässigenswert. Nicht die beste der Welten, sondern nur eine weitere, in sich konsistente Alternativwelt, die zudem in ihrer Gesetzmäßigkeit mit der uns zugänglichen empirischen Welt identisch sein soll, wird in der Literatur erschaffen. Die Moralität der Kunst hingegen wird bestenfalls, wie bei Klinger, durch die „moralische Kraft“ des Produzenten gewährleistet182, ansonsten nährt man die Hoffnung, dass bereits eine realistische Schilderung dessen, was moralisch der Fall ist in dieser gleichermaßen tugend- wie lasterhaften Welt, dem Guten im (lesenden) Menschen förderlich ist. Hierdurch soll die Kunst einerseits freigehalten werden von moralischen Ansprüchen, andererseits jedoch durch Erweiterung des (Leser-)Horizonts im Rahmen einer ästhetischen „Exploration des Seins“183 einer „moralischen Grundlagenforschung“184 dienen.185 Dieser autonome Charakter des pragmatischen Romans wird innerhalb des philosophischen Romans durch das autoreflexive Erzählen erheblich verstärkt, insofern sich der Roman durch seinen permanenten Selbstbezug gegen alle ‚systemexternen‘ Elemente – zu denen gerade die moralischen Ansprüche an die Literatur gehören – konsequent abschließt. Zwar bleibt die moralische Problematik auch für die Spätaufklärer zentraler Bezugspunkt für ihre literaturtheoretischen Überlegungen, doch die Forderung, dass die Literatur einem ethischen Ideal genügen solle, wird strikt abgewiesen. Auch insofern ist es nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass der philosophische Roman durch seine Autoreflexivität einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der Autonomieästhetik um 1800 leistet.186

182

Vgl. Klinger, Werke, 3, S. VI f. Kundera, 1987, S. 22; vgl. auch Rorty, 1989, S. XVI u. 92 f). 184 Erhart, 1991, S. 131. 185 Vgl. Wezel, Versuch, S. 285 f sowie Blanckenburg, Versuch, S. 253. 186 Der Behauptung Brenners, die Fiktionsironie widerspreche der Autonomieästhetik, wird hier also die Auffassung entgegengestellt, dass der autoreflexive und fiktionsironische philosophische Roman durch die Herausbildung eines selbstreferenten Systems die Autonomieästhetik gerade ermöglicht (vgl. Brenner, 1981, S. 69). Der moralphilosophischen Problematik widmet sich das Kap. 3.3. 183

2.1.6 Der philosophische Roman der Spätaufklärung als paradigmatische Diskursform ... ruchlos die Fiktion zu demontieren

1

Auf vier Ebenen wurden das pragmatische Paradigma und dessen diskurslogische Konsequenzen im philosophischen Roman der Spätaufklärung betrachtet. Was uns dabei entgegentrat, war ein beständiges Für und Wider der Positionen, ein permanentes Schwanken zwischen verschiedenen Auffassungen, waren unaufgelöste Ambivalenzen und Widersprüche, die sich aber durchaus zu einem einheitlichen Orientierungssystem zusammenfügten. Im Zuge dessen erkannten wir zugleich, dass die spätaufklärerischen Romanciers aus dem pragmatischen Paradigma diskurslogische Konsequenzen zogen, aufgrund derer ihnen nicht nur der Roman als die dem neuen Paradigma angemessene Diskursform erschien, sondern durch die vor allem die formalen Erzählmittel des Romans in ein Entsprechungsverhältnis zu seinem diskursiven Gehalt gebracht wurden: Das pragmatische Paradigma verlangte nach einer narrativen Struktur, in welche die philosophischen Reflexionen eingebettet sind. Innerhalb des philosophischen Romans reflektieren demnach die diskursiven Passagen zugleich die spezifischen Mittel des Romanerzählens und damit die Gründe der Diskurswahl. So entsteht das Phänomen der Autoreflexivität, durch das der diskursive Gehalt und die Erzählmittel in ein Begründungsverhältnis geraten. Exemplarisch vorgeführt haben wir dies anhand der Korrespondenz zwischen den perspektivistischen und relativistischen Positionen auf der einen und den dialogischen Erzählformen auf der anderen Seite. Im polyperspektivischen Dialog fanden die literarischen Spätaufklärer die ihrem Urbanitätsideal angemessene Äußerungsform. Das Dialogische als Erzählprinzip manifestiert sich jedoch innerhalb der philosophischen Romane auf mannigfache Weise – zum einen in Makrostrukturen wie dem Dialog- oder Briefroman, zum andern in verschiedenen Dialogformen, die vom Figurendialog bis zum Dialog zwischen Erzähler und Leser reichen. Das dialogische Erzählprinzip kann sich jedoch auch auf der Handlungsebene spiegeln, sodass der insbesondere von Wezel und Klinger angewandte Episodenstil zu einer Spielart des perspektivistischen Erzählens auf der Ebene des Erzählgeschehens wird. Im Zusammenhang mit der in Brief- und Dialogform vorgetragenen Kritik der Politeia in Wielands Aristipp, aber auch in den dialogisch organisierten Erzähler- und Figurenreflexionen im Tobias Knaut wird mit dem Dialog die Dialogtheorie gleich mitgeliefert, die dialogische Form also durch perspektivistische und relativistische Positionen gerechtfertigt. An dieser Stelle vollzieht der philosophische Roman der Spätaufklärung eine autoreflexive Wendung, insofern sich die Positionen des pragmatischen Paradigmas zugleich auf diskursiver und erzähl1

Vgl. Mallarmé, 1992, S. 274.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

247

technischer Ebene artikulieren. So stellt das dialogische Erzählen eine einfache Form der Diskurslogik dar, wonach Diskursinhalt und Diskursform aufeinander abgebildet werden. Am dialogischen Erzählprinzip wird insofern sichtbar, was ebenso für das Korrespondenzverhältnis zwischen funktionalistischer Rationalitätstheorie und dem Erzählprinzip der pragmatischen Integration gilt. Aber auch die vielfältigen ‚Naturalisierungstendenzen‘ innerhalb der Handlungs- und Moraltheorie des pragmatischen Paradigmas stehen mit den Techniken der narrativen Kontextualisierung in einem Begründungsverhältnis: So befinden sich die im philosophischen Roman diskursiv verhandelten Triebtheorien, speziell die Egoismustheorie, und die Entlarvungstechniken der skeptischen Satire, vor allem aber der kontextualistische Grundansatz von Partikularismus und Moral-sense-Theorie und die Kontextualisierung von Handlungs- und Entscheidungsabläufen innerhalb der fiktionalen Erzählwelt, insbesondere im Rahmen von Entwicklungsgeschichten in einem solchen Begründungszusammenhang. Angesichts dieser Korrespondenz zwischen Funktionalismus und narrativer Kontextualisierung wird begreiflich, warum die spätaufklärerischen Vertreter der Tradition der anderen Vernunft im Roman die angemessene Diskursform dafür sahen, nicht mehr das Denken und seine Resultate allein, sondern auch den Hervorgang dieses Denkens sowie seine Anwendung im alltäglichen Lebenszusammenhang, nicht mehr nur die abstrakten Grundsätze moralischen Handelns, sondern den gesamten Handlungskontext narrativ zur Darstellung zu bringen. Ähnliches gilt für die Staats- und Geschichtsphilosophie sowie für die ästhetische Theorie: Auch die Kritik am utopischen Denken und die Darstellung von utopischen Zuständen, die diskursive Auseinandersetzung mit dem Naturzustand und die Schilderung des Kriegs aller gegen alle, die Beschäftigung mit dem Ideal der sittlichen Grundlegung des Staates mit Hilfe der (Fürsten-)Erziehung und die Form des philosophischen Staatsromans sowie zuletzt der Diskurs über das deterministische Weltbild und das kausale und teleologische Erzählen im pragmatischen Roman bzw. die Kritik an diesem Weltbild und die Parodie des pragmatischen Romans mit den Mitteln des digressiven Erzählens – all diese diskursiven und formalen Elemente stehen innerhalb des philosophischen Romans in einem autoreflexiven Verhältnis. An diesem Phänomen der Autoreflexivität lässt sich erkennen, dass nicht die einzelnen Positionen des skeptischen und pragmatischen Diskurses die eigentümliche Leistung des philosophischen Romans ausmachen. Hier wird vielmehr nur der außerhalb der Literatur, nämlich in der avancierten Philosophie stattfindende Paradigmenwechsel nachvollzogen – ein Eklektizismus (gegenüber der Philosophie), zu dem sich ein zweiter (gegenüber den narrativen Mitteln des Romans) gesellt. Darum sind nicht sein materialer Gehalt, sondern die formalen, diskurslogischen Konsequenzen, die aus dem neuen Paradigma gezogen werden, das Wesentliche am philosophischen Roman. Der philosophische Aussagegehalt in den diskursiven Passagen ist natürlich für die Feststellung des Reflexionsniveaus der analysierten Texte unverzichtbar; und ohne eine solche Feststellung wäre wiederum die Rede von der konsequenten Anwendung des neuen Paradigmas auf die Diskursform selbst haltlos, damit aber eine Gattungsästhetik

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

des philosophischen Romans unmöglich. Doch der entscheidende ‚Beitrag zur geheimen Philosophiegeschichte der Menschheit‘2, den der philosophische Roman der Spätaufklärung leistet, besteht darin, dass sein diskursiver Gehalt auf die Diskursform selbst angewandt wird. Dennoch sollte man sich im Klaren darüber bleiben, dass es unmöglich ist, aus der Beschreibung dieser diskursiven Elemente allein eine Gattungsbestimmung des philosophischen Romans abzuleiten. Die Analyse des Aussagegehaltes gibt nur die notwendigen Bedingungen für eine solche Gattungsbestimmung an; hinreichend werden sie erst durch den Nachweis, dass jener philosophische Gehalt die rational rekonstruierbaren Gründe enthält, die für die Wahl des poetischen und nicht des argumentativen Diskurses entscheidend sind, dass er also autoreflexiv bezogen wird auf die Diskursform selbst. Umgekehrt ist es ebenso wenig legitim, vom Vorhandensein bestimmter Gattungsmerkmale des Romans zurückzuschließen auf dessen ‚philosophischen‘ Charakter, indem man diese Merkmale mit Hilfe von philosophischen Theorien als deren diskurslogische Umsetzung interpretiert, ohne dass diese Theorien in den Texten selbst greifbar würden. Vielmehr muss Beides gleichermaßen vorhanden sein: der philosophische Diskursgehalt so wohl wie die diesem angemessene Diskursform, und Beides muss in autoreflexiver Weise aufeinander bezogen sein, will man zu Recht von einem philosophischen Roman sprechen.3 Durch die Notwendigkeit, permanent diese Wechselbeziehung herzustellen, tritt die Interpretation in einen hermeneutischen Zirkel von ganz eigentümlichem Charakter ein. Ihr Hauptergebnis ist, dass das herausragende Gattungskennzeichen des philosophischen Romans in seiner Autoreflexivität besteht. Diese Form der Autoreflexivität zwischen den diskursiven und den formalen Elementen des Romans nennen wir die Autoreflexivität erster Stufe. Die Entscheidung für den Roman als die dem neuen Paradigma angemessene Diskursform ist daher rational wohlbegründet. Sie hat aber auch diskursive Konsequenzen für das pragmatische Paradigma selbst. Denn obwohl die spätaufklärerischen Romane in ihrem philosophischen Gehalt eklektisch bleiben, lässt sich zu Recht von einer Radikalisierung der pragmatischen Wende innerhalb des philosophischen Romans sprechen. Denn die Entscheidung für eine bestimmte Diskursform hat auch auf den Gehalt dieses Diskurses einen beträchtlichen Einfluss; die Logik der Diskursform führt zu Verschärfungen der philosophischen Aussagen, die ohnedem nicht denkbar wären. 2 3

Vgl. Wielands Beyträge zu einer geheimen Geschichte der Menschheit. In: Wieland, Werke, V, 14. Dabei kann sich der diskursive Gehalt des philosophischen Romans auch auf metaphorische Weise in den Darstellungsgegenständen spiegeln. Hierfür finden sich besonders im Aristipp Wielands vielfach Beispiele. So wird das Urbanitätsideal Aristipps auch anhand des Demos-Gemäldes des Parrhasius (Wieland, Werke, XI, 33, S. 270 ff) sowie anhand der Darstellung der Olympiade als einer friedlichen Völkerversammlung (ebd., S. 19 ff) oder die Skepsis des Protagonisten gegenüber aller metaphysischen Spekulation gleich am Romaneingang in der ironischen Beschreibung des Meeresgötter (ebd., S. 3 ff) zum Ausdruck gebracht. Diese metaphorische Spiegelung ergänzt die diskursive (in den formalen Merkmalen spiegelt sich der philosophische Gehalt) und die narrative Spiegelung (die verschiedenen Fiktionalitätsebenen werden aufeinander gespiegelt).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

249

Entsprechend wird mit Termini wie Perspektivismus, Pragmatismus, Kontextualismus oder Relativismus zwar ein Begriffsapparat entwickelt, der die Gründe der Entscheidung für die Romanform als philosophisch gute Gründe erweist und die Diskurswahl entsprechend zu einer rationalen macht, doch sind diese Gründe nicht identisch mit spezifischen Gattungsmerkmalen des philosophischen Romans. Denn der Autor, der sich aufgrund solcher Positionen für den Roman entscheidet, findet diesen als Gattung bereits vor. Er macht sich dessen Elemente bloß aus einer rational rekonstruierbaren Intentionalität heraus für seine Zwecke nutzbar. Kehrt man nämlich die Blickrichtung um und betrachtet das autoreflexive Verhältnis zwischen den diskursiven Passagen und den formalen Merkmalen des philosophischen Romans aus der Perspektive der letzteren, so stößt man auf eine zweite Form des Eklektizismus. Denn wenn auch die Offenheit der Romanform sowie ihr im ausgehenden 18. Jahrhundert noch junges Alter dies nur mit gewissen Einschränkungen gültig sein lässt, so ist doch unbestreitbar, dass die Spätaufklärer die Diskursform des Romans bereits als eine etablierte Gattung vorfindet. In dieser Perspektive ist es das Entscheidende am philosophischen Roman, dass in seinen diskursiven Passagen die implizite Philosophie eines jeden Romans thematisiert wird. Durch diese Reflexion auf die Grundlagen des Romanerzählens werden die philosophischen Positionen, die sich bisher nur in den formalen Merkmalen des Romans überhaupt niedergeschlagen haben, nunmehr reflexiv aus dem Modus ihrer Impliziertheit gelöst und diskursiv in Figurenrede und Erzählerreflexion artikuliert.4 Damit werden die diskursiven Aussagen und die formalen Mittel des Romans auch in umgekehrter Richtung aufeinander abgebildet, sodass durch die daraus entstehende Übereinstimmung formaler und diskursiver Elemente das Werk den Charakter der Abgeschlossenheit erhält. Dadurch leistet der philosophische Roman einen bedeutenden Beitrag zur Gattungsbildung. Darüber hinaus wird durch diese Reflexion auf die implizite Philosophie des Romans überhaupt das Erzählen allererst zu einem bewussten Vorgang – ein Bewusstwerdungsprozess, der die Gattung des Romans maßgeblich verändern sollte. Damit sind wir bei der zweiten Form der Autoreflexivität angelangt, durch die sich der philosophische Roman der Spätaufklärung auszeichnet und für die die Autoreflexivität erster Stufe das strukturelle Vorbild darstellt. Wir haben gesehen, dass dem Phänomen des Utopischen innerhalb des philosophischen Romans eine Schlüsselstellung zukommt, insofern die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des utopischen Erzählens stellvertretend für die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens überhaupt steht. Dem gemäß stellt sich durch die Offenlegung der utopischen Erzählstrategien mit Hilfe der Fiktionsironie eine Selbstbezüglichkeit des

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Die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik ist somit eine doppelte: zum einen setzt sie diesen Bewusstwerdungsprozess innerhalb des philosophischen Romans fort und macht dessen Hintergrundannahmen explizit, zum andern bringt sie die explizierten diskursiven und formalen Elemente in ein Begründungsverhältnis. Daher ist ihre zentrale Interpretationskategorie diejenige der Autoreflexivität.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

literarischen Textes her.5 Dadurch entsteht im philosophischen Roman eine „doppelte Fiktionsstruktur“6, wonach sich mit der utopischen und der ‚historischen‘ Welt zwei Erzählwelten von unterschiedlichem ‚Fiktionalitätsgrad‘ gegenüberstehen.7 Die Utopie wird zum Austragungsort einer transzendentalen Reflexion, deren eigentlicher Gegenstand die Fiktionalität des Romans selbst ist. Zur Zeit der Spätaufklärung artikuliert sich diese auf die Fiktionalität bezogene Autoreflexivität vor allem im Rahmen der Theorie der möglichen Welten. Danach vermag die Dichtung zur Überschreitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis einen substantiellen Beitrag zu leisten, indem die fiktionale Welt dem Begreifen 1. der wirklichen Welt, 2. anderer möglicher Welten und schließlich 3. Gottes und des mundus intelligibilis dient. In jedem dieser drei Fälle wird die Kunst durch die Adaption der Theorie der möglichen Welten zu einer eminent metaphysischen Beschäftigung. Allerdings ist diese Applikation auf die Literatur ein ambivalentes Unterfangen: Einerseits ist das Ziel die Erschaffung einer eigenständigen möglichen Welt, andererseits erfolgt dies auch noch für die Spätaufklärer gemäß dem Nachahmungspostulat. So wird der Dichter auf der einen Seite zwar zu einem zweiten Schöpfer, der eine autonome Welt schafft, andererseits aber ist er an die rationalen Prinzipien gebunden, die in der wirklichen Welt herrschen. Durch diese eigentümliche Verbindung des Mimesiskonzepts mit der Idee der Poiesis im Rahmen der Theorie der möglichen Welten entsteht eine ‚holistische‘ Mimesistheorie, wobei das Verhältnis von Mimesis und Poiesis als ‚transzendentale‘ Relation zwischen erzählter Welt und Erzähler gedeutet wird.8 Auch der pragma5

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8

Nach S. J. Schmidt unterscheidet die Systemtheorie zwischen Selbstherstellung, Selbsterhaltung, Selbstorganisation und Selbstreferentialität. Natürlich können Kunstwerke – wie auch das System der Literatur insgesamt – nur durch letztere charakterisiert werden (vgl. Schmidt, 1989b, S. 50 f). Vgl. Mähl, 1982, S. 60 f. Diese interne Differenzierung der Erzählwelt des Romans in mehrere Fiktionalitätsebenen ließe sich auch mit Hilfe des Systemtheorie beschreiben, nach der sich im Prozess der Systemdifferenzierung die Differenz von System und Umwelt innerhalb der Systeme wiederholt: „Das Gesamtsystem benutzt dabei sich selbst als Umwelt für eigene Teilsystembildungen.“ (Luhmann, 1987, S. 311) Dass dies auch hier seine Gültigkeit hat, lässt sich daran erkennen, dass im philosophischen Roman die Utopie stellvertretend die Funktion des Fiktionalen übernimmt und an der systeminternen Differenz zwischen utopischer und historischer Erzählwelt Probleme der Differenz zwischen fiktionaler und wirklicher Welt (der ‚Umwelt‘ des Romans) verhandelt werden. Dass sich dem autoreflexiven Erzählen das Problem des Wirklichkeitsbezugs in verschärfter Form stellt, ist vor systemtheoretischem Hintergrund durchaus verständlich – gilt doch laut Luhmann: „[E]in System, das sich an seiner Differenz zur Umwelt orientiert, orientiert sich damit auch an sich selbst als Komponente dieser Differenz“ (Luhmann, 1987, S. 311). Wenn Luhmann daher schreibt: „Selbstreferenz kann in den aktuellen Operationen des Systems nur realisiert werden, wenn ein Selbst (sei es als Element, als Prozeß oder als System) durch es selbst identifiziert und gegen anderes different gesetzt werden kann“ (ebd., S. 318), so setzt dies wiederum den Bezug zu einer systemexternen Umwelt voraus. Insofern sei, so Luhmann, die „Umwelt ein notwendiges Korrelat selbstreferentieller Operationen“ (ebd., S. 315). Damit wird begreiflich, warum Autoreflexivität und Reflexion auf das Verhältnis zwischen Erzähl- und wirklicher Welt im philosophischen Roman Hand in Hand gehen.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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tische Roman befindet sich in dieser Zweideutigkeit – ein Umstand, der ihn zur bevorzugten Zielscheibe der spätaufklärerischen Kritik werden lässt, ohne dass sich der philosophische Roman aus seinem Bezugsrahmen gänzlich befreite. Dennoch kann der pragmatische Roman als die konsequenteste Applikation der Theorie der möglichen Welten angesehen werden, wobei mit ihm der Mimesisforderung in einem philosophisch haltbaren Sinne Genüge getan werden soll, indem eine Nachahmung der Welt ‚im Kleinen‘ verlangt wird. Dadurch jedoch gerät die Ästhetik in Abhängigkeit von der Ontologie, deren Weiterentwicklung von nun an direkte Auswirkungen auf die ästhetische Theorie hat. In Folge der Autoreflexivität lässt sich eine zunehmende Subjektivierung und Bewusstheit des Erzählens beobachten, durch die insbesondere die Romane Wielands, Wezels und später Jean Pauls charakterisiert sind. Der Rezipient wirft gleichsam einen Blick in die Werkstatt des „zweiten Schöpfers“.9 Mit der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens wird zugleich der Kunstcharakter des Erzählwerks unterstrichen. Das narrative Spiel mit der Glaubwürdigkeit des fiktionalen Unternehmens vor allem mittels der Fiktionsironie macht also den philosophischen Roman der Spätaufklärung zu einem transzendentalen Metaroman.10 Diese Autoreflexivität zweiter Stufe i.S. einer Selbstthematisierung des fiktionalen Erzählens geht über das Entsprechungsverhältnis einzelner diskursiver Inhalte und formaler Elemente hinaus, insofern sie das allgemeine Problem des Verhältnisses zwischen fiktionaler und wirklicher Welt reflektiert. Durch diese Form der Autoreflexivität werden das Erzählte und das Erzählen stets zusammen präsentiert. Das sollte einen enormen Einfluss auf die Entwicklung des frühromantischen Konzepts der Transzendentalpoesie haben.11 9

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Schwanitz merkt dazu an: „Wenn aber das Erzählen sich selbst erzählen will, weiß man nicht mehr, ob es zum Erzählten gehört oder zum Erzählen. Die Differenz zwischen Erzähltem und Erzählen bricht zusammen [...].“ (Schwanitz,1990, S. 160) Dies zeige sich vor allem in Sternes Tristram Shandy. Laut Schwanitz ist das autoreflexive Erzählverfahren vor allem mit dem Problem der Darstellung von Zeit und Zeitlichkeit konfrontiert. So sei es das Hauptanliegen des autoreflexiven Erzählens, die ständige Interferenz zwischen Erzähltem und Erzählen durch die Entwicklung einer neuen Erzähltechnik zu vermeiden, insbesondere die Zerstörung des Zeitzusammenhangs durch die Entwicklung eines Typus von Geschichte, in dem sich das Erzählte und das Erzählen zur Einheit schließen, zu verhindern (vgl. Schwanitz, 1990, S. 166 f). Dieses Erzählproblem werde v.a. dadurch gelöst, dass die „Erzählsituation“ gestrichen wird, indem permanent zwischen der Verengung der Erzählperspektive auf die Erlebnisgegenwart der Figur und ihrer Erweiterung zum alles überblickenden auktorialen Erzähler gewechselt und die „Prozessualität der Zeit als fortlaufende Verschiebung von Vergangenheit und Zukunft in das Erzählte“ (ebd., S. 174) durch die Verzögerung des Zusammenfallens von Figuren- und Erzählerperspektive integriert wird (vgl. ebd., S. 177). Dadurch wird, so könnten wir den Gedankengang weiterführen, die Nähe des philosophischen Romans der Spätaufklärung zum Entwicklungsroman begreiflich. In diesem Zusammenhang ist auf Hamburgers Begriff der Erzählfunktion hinzuweisen – vornehmlich um das Missverständnis zu vermeiden, als stünde innerhalb des (philosophischen) Romans der Erzähler dem Erzählten wie das Subjekt dem Objekt oder wie der Sprecher seiner Aussage gegenüber (vgl. Hamburger, 1968, S. 113). Mit Hamburger wäre die Erzählweise des philosophischen

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Im Zuge dessen gerät, wie gesagt, die Ästhetik bzw. Romantheorie in unmittelbare Abhängigkeit von metaphysischen Modellen. Deshalb kann es nur mehr noch wenig überraschen, dass die Autoreflexivität zweiter Stufe im frühromantischen Konzept der Transzendentalpoesie eine mimetische Funktion übernimmt, insofern das Kunstwerk und insbesondere der Roman gerade durch seine autoreflexive Struktur zu einem Abbild der Welt im Ganzen wird. Wird nämlich die Natur als eine autoreflexive Struktur in Analogie zum Organismus bestimmt und das Kunstwerk in einem mimetischen Verhältnis zur Welt im Ganzen gesehen, so folgt hieraus, dass das Kunstwerk ebenfalls als ein Organismus betrachtet werden muss. So wird in den Augen der Frühromantiker, Kantisch gesprochen, die ästhetische Idee zum Repräsentanten der Vernunftidee von der Einheit und Totalität der Natur12: Als eine Darstellung des Absoluten erhält das Kunstwerk den Charakter des Mimetischen in der höchsten Potenz.13 Damit wird die Kunst um 1800 endgültig zur metaphysischen Tätigkeit aufgewertet. Anders als der pragmatische Roman, der einer mechanizistischen Weltsicht verpflichtet ist, orientiert sich somit das Konzept der Transzendentalpoesie an einem organizistischen Modell von Welt und Kunstwerk. Dies korrespondiert mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung am Ende des 18. Jahrhunderts. Denn die Krise der Metaphysik führte nicht allein zur Herausbildung des pragmatischen Paradigmas, sondern zugleich zur Verabschiedung des Mechanizismus als eines universellen Erklärungsmodells. An dessen Stelle tritt das Orientierungssystem des Organizismus.14 Wie wir schon im Zusammenhang mit der Parodierung des pragmatischen Romans mit Hilfe des digressiven Erzählens gesehen haben, nimmt der philosophische Roman der Spätaufklärung hierbei eine Zwischenstellung ein, insofern er einerseits sich noch am mechanizistischen Modell orientiert, andererseits jedoch mit seiner autoreflexiven Erzählweise auf den Organizismus verweist.15 Diskursiv manifestiert sich diese Zwischenstellung besonders deutlich in Wezels philosophischer Satire Euphrosinopatorius.16 Während Wezel in Silvans Bibliothek die mit einer umfassenden Dissoziation der Diskursformen einhergehende Krise der Metaphy-

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Romans der Spätaufklärung als „fluktuierende Erzählfunktion“ zu bezeichnen, insofern in ihm ein beständiger Wechsel zwischen verschiedenen Erzählformen (wie Dialog, Bericht, erlebter, direkter und indirekter Rede etc.) stattfindet (vgl. ebd., S. 142). Vgl. Kant, KU, B 192 f u. B 240. Darauf gehen die Kap. 2.2.3 und 2.2.4 ausführlich ein. Die hier vorgelegte Interpretation wendet sich damit gegen die einflussreiche Auffassung von Preisendanz, dass sich die Frühromantiker vom Nachahmungsprinzip endgültig abgekehrt hätten (vgl. Preisendanz, 1978). Der Begriff des „Organizismus“ stammt im Übrigen von Morse Peckham. Die Behauptung Zelles, dass die „Dichotomie zwischen einer organischen und einer mechanischen Betrachtungsweise des Kunstwerks“ bereits ab 1750 zu beobachten sei, setzt diesen Wechsel vom Mechanizismus zum Organizismus jedoch m.E. zu früh an (vgl. Zelle, 1997, S. 515). Auch diese Erzählung zeigt den ambivalenten Charakter des skeptischen Diskurses, indem sie sich einerseits am Ideal des sokratischen Dialogs orientiert, andererseits dieses Ideal durch ihre Kritik am aufklärerischen Auftrag zugleich unterläuft. Zur folgenden Interpretation vgl. auch Ulrichs, 2004, S. 142 ff.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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sik in Form einer Bücherschlacht vor Augen führt, erfolgt die Darstellung dieser Krise im Euphrosinopatorius auf hintergründigere Weise, indem die im ausgehenden 18. Jahrhundert gängigen Welterklärungsmodelle gegeneinander geführt werden, ohne dass eine Entscheidung zugunsten eines dieser Modelle gefällt würde. Somit markiert der Euphrosinopatorius einen Übergang, an dem das alte metaphysische Modell des Mechanizismus bereits seine Orientierungsfunktion eingebüßt, das neue des Organizismus sich aber noch nicht so weit etabliert hat, dass es diese Leitfunktion übernehmen könnte. Dennoch deutet sich das Konzept des Organizismus in der Beschreibung der Natur als eines allgemeinen Kreislaufs bereits an: Was ist bey einem so weitläuftigen Werke, wie eine Welt, Ökonomie nöthig? – Ein Stück Materie enthält viele tausend Elemente, die sich in viele tausend Formen zusammensetzen und verändern können. Ist es kein Mensch, so ist es ein Thier, eine Pflanze, oder es schwimmt in den Vorrathskammern der Natur herum und wartet, bis es durch Zusammenstoßen, Gährung oder eine andre Ursache ein Theil von etwas für Menschen sichtbarem wird. Der ewige Zirkel der materiellen Natur ist – Element; das Element wird zu subtiler Materie, dann zu gröberer, wird zur Pflanze, durch den Genuß der Pflanze zum Thiere, zum vernünftigen und unvernünftigen, und wenn dieses zerstört wird – zum Elemente; und nun fängt der Kreislauf von neuem an. – Was ist bey einem solchen Ueberflusse, der wegen der beständigen Verwandlung ein unendlicher Ueberfluß wird, Oekonomie nöthig? Wie wollte ich einen Sparsamen belachen, der einen großen Kasten Metall besäße, das sich auf seinen Willen und durch eine eigne Bewegung immerfort bald in Dukaten, bald in Kupfermünze, bald in Silbergeld verwandelte? wäre in einem solchen Falle Oekonomie nicht der Fehler und Verschwendung Tugend? (Wezel, SE 17 3, S. 63 f)

Dem gegenüber steht die Auffassung der Welt als eines bis ins Kleinste determinierten Räderwerks, in dem ein Rad so genau in das andere greift, dass dem Menschen nichts von der „berühmte[n] Freiheit des Willens“ (ebd., S. 66) bleibt, da auch der geringste Verbesserungsversuch das gesamte Weltgetriebe in eine heillose Unordnung brächte: Die Welt, lehrte er mich zu einer andern Zeit, ist ein System von Handlungen und Begebenheiten, wovon die eine, wie ein Kammrad, in die andre greift: das Wasser, das diese Räder treibt, ist die Gewohnheit, die bald so unaufhaltsam strömt, daß die Räder mit unglaublicher Geschwindigkeit herumlaufen, bald so langsam fließt, daß diese sich kaum zu bewegen scheinen. Der Strom ändert oft seinen Lauf, läßt in seinem alten Bette wenig und endlich gar kein Wasser zurücke; und wenn er sich an einem neuen Orte durchgearbeitet hat, so wird seine Fluth allemal natürlicher Weise schneller, und die Räder, die es eben trift, laufen! So hurtig! – Dieser jedesmalige neue Strom ist die Mode, der Zufall, oder wie man es in verschiedener Rücksicht noch anders nennen könnte. – Die Bewegung theilt ein Rad dem andern so genau mit, daß oft 17

Nicht von ungefähr gemahnt nicht allein der Begriff von der „Tugend der Verschwendung“, sondern vor allem die Beschreibung der Natur als eines ewig in sich pulsierenden, grenzenlos dynamischen Zyklus‘ an die romantische Naturphilosophie so wohl wie an Auffassungen Nietzsches. Dass auch Klinger eine solche dynamische und organizistische Naturauffassung nicht fremd war, zeigt die in Kap. 2.1.2 zitierte Passage aus dem Faust der Morgenländer (vgl. Klinger, Werke, 7, S. 216 f). Selbst bei Wieland finden sich entsprechende Auffassungen, wie seine mehrfache Verwendung der Metapher vom hermetischen Zirkel zeigt (vgl. z.B. Wieland, Werke, XI, 36, S. 290).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

eins sich darum so und nicht anders umdreht, weil ein durch einen weiten Raum davon entferntes sich so und nicht anders umgedreht hat. (Wezel, SE 3, S. 61)

Doch dieses Modell vom „großen Maschinenwerke der Welt“ kann nicht mehr überzeugen – es erscheint, wie Euphrosinopatorius es „mit einem gähnenden Accente“ formuliert, als „ein sehr einförmiges, langweiliges Werk“: Wenn man deiner ewig so tacktmäßig fortlaufenden Welt eine Viertelstunde zugesehn hätte, so schliefe man ein und verlangte sie weiter nicht zu sehen; denn wie alles in der ersten Minute gieng, so wird es in der lezten gehen. – Gut, daß du unsern Planeten nicht nach einem so ausstudierten Plane, einem so regularly cold, so regelmäßig kaltem Plane gebaut hast! (Wezel, SE 3, S. 62)

Bei „einem so weitläuftigen Werke, wie eine Welt“ ist keinerlei abgemessene „Ökonomie nöthig“; diese ist hier vielmehr „der Fehler und Verschwendung die Tugend“. Jede Auffassung, die „aus dem erhabnen großen Schauspiele der Welt“ „ein einschläferndes eiskaltes Drama machen“ will, wird der Realität ebenso wenig gerecht wie die materialistische Ansicht der Seele als einer Maschine oder gar als eines „Behältnisses“. Letztlich vermag der Skeptiker Euphrosinopatorius keine Entscheidung zugunsten des organizistischen Modells zu fällen; dem steht der Perspektivismus gerade in spekulativen Fragen entgegen, dem Welt, Geist und Freiheit – wie später Nietzsche18 – als Würfel erscheinen.19 Doch auch in dieser philosophischen Satire Wezels wird die Verunsicherung der metaphysischen Positionen nicht nur in der diskursiven Form einer Engführung verschiedener Welterklärungsmodelle vorgeführt. Der Übergangscharakter des Euphrosinopatorius manifestiert sich vielmehr vor allem darin, dass die metaphysischen Konzepte nur mehr noch in metaphorischer Form präsentiert werden: Was vordem Veranschaulichungsmodelle für vermeintlich gesicherte Theorien waren, denen man eine explikative Kraft zuschrieb, sinkt herab zu bloßen Metaphern, die mit ironischer Skepsis zu behandeln sind. So begnügt sich der Euphrosinopatorius nicht allein damit, die Metaphern von der Welt als eines Räderwerks und von der Seele als einer Maschine 18

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Nietzsche verwendet in der Morgenröthe die Würfelmetapher im Zusammenhang mit seiner Kritik an einer Zwei-Welten-Theorie, die neben dem „Reich der Zufälle“ noch ein „Reich der Zwecke und des Willens“ annimmt, also in einem anderen, gleichwohl verwandten Kontext: „Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht!“ (Nietzsche, 1988, Bd. 3, S. 122.) Dieses Schwanken zwischen Determinismus und Kontingenzerfahrung zeichnet auch Wezels Gedankengänge aus. Vgl. Wezel, SE 3, S. 66 f; zit in Kap. 2.1.2. Vgl. dazu die ebenfalls bereits in Kap. 2.1.2 zitierte Unterscheidung zwischen zwei Formen des Skeptizismus im Tobias Knaut (Wezel, TK, III, S. 133 ff.). Darüber hinaus lässt sich an dieser Stelle eine eigentümliche Verknüpfung der erkenntnistheoretischen Position des Perspektivismus mit einer universellen Kontingenztheorie beobachten.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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bzw. eines an den Nürnberger Trichter erinnernden Behältnisses mit den organizistischen Metaphern eines Naturkreislaufs oder mit dem Bild der Seele als eines Würfels zu konfrontieren. Die Pointe ist vielmehr, dass die großen Welterklärungsmodelle hier nur mehr noch Geltung als Metaphern besitzen, die ohne Ironie nicht mehr verwendet werden können. Dadurch aber erleiden sie einen umfassenden Funktionsverlust. Entsprechend kann man den Euphrosinopatorius als eine reine Bewegung nicht der Begriffe, sondern der Metaphern bezeichnen – eine Bewegung, in der sich alle sicheren Positionen auflösen. So erscheint in Wezels Satire die Krise der Metaphysik weniger als eine Katastrophe menschheitlichen Ausmaßes, sondern als Ermöglichungsbedingung für eine ironisch lustvolle Behandlung des Paradigmenwechsels. Zwar nimmt Wezel hierbei eine dezidiert kritische Position ein, für die jede metaphysische Weltauffassung nur eine Illusion ist; aber zugleich bemüht er sich um ein spielerisches Verhältnis zu den verschiedenen Weltbildern. Damit jedoch nimmt er ein weniger, wie Bourdieu will, groß- als vielmehr weltbürgerliches Verhältnis zur Kultur ein.20 Der eigentliche Ort eines solchen spielerischen Umgangs mit den großen ‚metaphysischen Erzählungen‘ ist aber in den Augen Wezels die Literatur. Auf diese Weise handelt es sich beim Euphrosinopatorius in mehrfacher Hinsicht um einen Schlüsseltext, in dem ein epochaler Paradigmenwechsel zum Ausdruck kommt.21 Nicht nur zeigt Wezels Satire dieselben Tendenzen, die sich kurze Zeit später auch in den ästhetischen Überlegungen von Herder, Moritz und den Gebrüdern Schlegel manifestieren22, sondern sie steht zugleich repräsentativ für die Gattung des philosophischen Romans der Spätaufklärung, der ebenfalls eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen den diskursiven Formationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts einnimmt: Zwischen pragmatischem und transzendentalpoetischem Roman, zwischen Mimesis- und Poiesiskonzept, zwischen mechanizistischem und organizistischem Welt- und Kunstbegriff steht er an einem wichtigen geistesgeschichtlichen Übergang und erhält dadurch seinen eigentümlich ambivalenten Charakter. Dabei ist der philosophische Roman in höchstem Maße integrativ. Er ordnet sich Elemente und Techniken ein, die auch den herkömmlichen Roman auszeichnen und bereits zu verschiedenen Gattungsbestimmungen wie satirischer, psychologischer, pragmatischer, anthropologischer, Entwicklungs- oder Briefroman geführt haben. Doch 20 21

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Bourdieu, 2005, S. 122 ff. Insofern ist der Euphrosinopatorius das Seitenstück zu Silvans Bibliothek: Was dort auf allegorische Weise in Form eines eskalierenden Gelehrtenstreits dargestellt wird – die allgemeine Dissoziierung der Diskurswelt als intellektuelle Krise der Achsenzeit –, führt Wezel im Euphrosinopatorius auf diskursive Weise vor. Die Behauptung, dass dieser Text als ein Schlüsseltext (i.S. eines Textes des Übergangs zwischen zwei paradigmatischen Modellen) aufgefasst werden kann, wäre darum gewiss nicht verwegen, wenn ihn nicht das Schicksal zunächst des Unbeachtetseins und dann des Vergessenwerdens ereilt hätte. Doch letztlich erklärt der Umstand, dass er als Schlüsseltext einen paradigmatischen Übergang markiert, sogar dieses Vergessen. Dies wird in den Kap. 2.2.3 und 2.2.4 dargelegt. Vgl. auch Ulrichs, 2006b, S. 256-290.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

all diese Bestimmungen charakterisieren die Texte, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, nicht hinreichend, sondern reduzieren sie auf Aspekte, die ihrerseits eingeordnet sind in eine allgemeine Struktur, welche sich material vom pragmatischen Paradigma herschreibt und formal durch die Kategorie der Autoreflexivität näher gekennzeichnet wird. Dieser autoreflexiven Grundstruktur ist aber m.E. allein der Gattungsbegriff des philosophischen Romans angemessen. Zwar ist der philosophische Roman sowohl nach der Seite seiner formalen Mittel als auch hinsichtlich seines diskursiven Gehalts eklektisch, er kann aber aufgrund der spezifischen Weise, in der er narrative und diskursive Elemente in eine autoreflexive Beziehung setzt, durchaus Originalität beanspruchen.23 Aus diesem doppelten Eklektizismus i.S. einer Nutzbarmachung der von zwei Seiten vorgegebenen Elemente ergibt sich also, dass das herausragende Gattungskennzeichen des philosophischen Romans nicht in einem einzelnen – formalen oder materialen – Merkmal, sondern in seiner Autoreflexivität als eines nachgerade dialektischen Abbildungsverhältnisses zwischen diskursiven Passagen und formalen Erzählmitteln besteht. Dies ist das m.E. allein Charakteristische des philosophischen Romans der Spätaufklärung: Nicht dass überhaupt philosophische Aussagen getroffen werden, ist das Wesentliche, sondern dass er solche trifft, die sich in einem Rückbezug anwenden lassen auf die Diskursform selbst und die somit auch die Entscheidungsgründe für die Diskurswahl implizieren. Dem entsprechend lässt sich der philosophische Roman nicht auf einen bestimmten Aussagegehalt oder eine eigentümliche Beziehung zur externen Realität reduzieren; vielmehr sichert ihm die Autoreflexivität gegen solche heteronomen Funktionsbestimmungen seinen autonomen Status24 und damit seine ästhetische Qualität.25 23

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Dirscherl ist mit dieser Einschränkung recht zu geben, wenn er den philosophischen Roman – allerdings nur die formale Seite seines eklektischen Charakters beschreibend – als eine reaktive Gattung bezeichnet (wobei nochmals darauf hingewiesen sei, dass er zwar nicht den philosophischen Roman, sondern den Roman der Philosophen behandelt, dass sich die Charakterisierung als „reaktive Gattung“ aber auf jenen übertragen lässt (vgl. Dirscherl, 1985, S. 13; zit. in Kap. 2.1.1). Auch Brain beschreibt Wezel als einen reaktiven Schriftsteller, begründet diese Diagnose jedoch ebenso wenig (vgl. Brain, 1990, S. 50). Nach S. J. Schmidt sind selbstreferentielle Systeme genau dann autonom, wenn „deren Zustände wesentlich durch die Interaktion ihrer Komponenten (also ‚von innen‘) und nicht wesentlich durch die Beeinflussung durch ihre Umwelt (also ‚von außen‘) bestimmt werden“ (Schmidt, 1989b, S. 54). Laut Luhmann muss „alle Einheit, die ein System operativ benutzt, durch das System selbst konstituiert werden“. Insofern produziere und reproduziere ein autopoietisches System die Elemente, aus denen es besteht, durch diese Elemente selbst – mit der Konsequenz, dass sie in dieser Hinsicht „geschlossene Systeme [darstellen], da nur das System selbst die rekursive Operation als selbstreferentiell qualifizieren kann“; andererseits aber sei die „Umwelt ein notwendiges Korrelat selbstreferentieller Operationen“. (Vgl. Luhmann, 1987, S. 313 f) Diese Bemerkungen lassen sich mit entsprechenden Modifikationen auch auf das autonome Kunstwerk übertragen. Zu dieser Bestimmung der ästhetischen Qualität über die Kategorien der Autonomie und Autoreflexivität ließe sich eine gewisse Parallele in der Betonung der spezifisch ästhetischen Funktion des Kunstwerks durch die russischen Formalisten und tschechischen Strukturalisten erkennen – mit

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

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Aus all diesen Gründen sollte man nicht auf den Gattungsbegriff des philosophischen Romans verzichten.26 Gewiss bleibt er ein schillernder Begriff, und dem Versuch einer Rekonstruktion der rationalen Intentionalität von Literatur droht allemal das Verdikt der unerlaubten Intellektualisierung. Dennoch halte ich dafür, dass ohne eine derartige Rekonstruktionsleistung die interessantesten Texte der Spätaufklärung nicht adäquat erfasst werden können. Doch erst dort, wo die pragmatische Wende bewusst vollzogen und explizit nachweisbar ist, kann die Kategorie des philosophischen Romans sinnvoll verwendet werden. Dies aber ist bei den drei Autoren Wieland, Wezel und Klinger durchaus erfüllt, sodass man sie zu Recht als die Gründerväter einer Tradition der anderen Vernunft bezeichnen kann. Lässt man sich auf sie mit der nötigen Intensität ein, so kann man Wezel nur zustimmen, wenn er schreibt: Wir thaten daher sehr wohl, daß wir in unsere unterhaltende Schriften Philosophie ausstreuten, theils um den Geschmack der Leser allmälich dahinzulenken, theils um Philosophie und die 27 Musen wieder zu Freunden zu machen. (Wezel, Epistel, S. 169)

Durch die Herausbildung einer autoreflexiven Grundstruktur ermöglicht der philosophische Roman die Entwicklung sowohl zur Autonomieästhetik der Weimarer Klassik als auch zur Transzendentalpoesie der Romantik – und zwar auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Moral28. Sichtbar wird dies in der Ablehnung des aufklärerischen Auftrags der Literatur durch die Spätaufklärer. So heißt es im Tobias Knaut: Keine von den Ideen, die wir durch den Arm in die Feder, durch die Feder auf Schreibepapier, von dem Schreibepapier durch die Hand des Setzers und Druckers auf Druckpapier und von dem Druckpapiere in die Köpfe unsrer Leser übergehen lassen; unter allen diesen, sage ich, 29 kömmt keine einzige unverändert an ihrem bestimmten Orte an. (Wezel, TK, I, S. 88)

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dem Unterschied freilich, dass in unserem Interpretationszusammenhang nicht von der Selbstbezüglichkeit der poetischen Sprache, sondern von autoreflexiven Makrostrukturen narrativer Texte die Rede ist (vgl. hierzu auch Olechnowitz, 1981, S. 220 ff). Der Gattungsästhetik des philosophischen Romans widmet sich eingehend das Kapitel 3.2. Auch bei Wieland findet sich diese Auffassung, mit der die Überzeugung von der Nähe des Romans zur Philosophie begründet werden soll, wenn er schreibt, dass „sogar Philosophie und selbst Philosophie von der esoterischen Art sich mit dieser popularen, von aller Prätension so weit entfernten Dichtart sehr wohl vertrage; und daß sie eine sehr gute Art sey, gewisse Wahrheiten, die sich nicht gerne ohne Schleyer zeigen, in die Gesellschaft einzuführen“. In dieser Begründungsfigur kommt noch die frühaufklärerische Auffassung, die Literatur habe es mit der ‚Wahrheit in einem schönen Gewande‘ zu tun, bzw. die Metapher von der Dichtung als einer „überzuckerten Pille“ zum Ausdruck (zitiert nach: Müller, 1971, S. 178). Insbesondere das Konzept des pragmatischen Romans artikuliert diese Bildung eines autonomen Systems einer fiktionalen Welt nach der Seite der moralisch-pädagogischen Wirkung. Den moralphilosophischen Aspekten der Autonomieästhetik widmet sich ausführlich Kap. 3.3. Die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Aufklärung zeigt sich im Tobias Knaut darüber hinaus daran, dass die „Sprachwerkzeuge“ des Protagonisten, also das aufklärerische Organon schlechthin, am meisten gelitten haben, sodass er nicht einmal seine Grundbedürfnisse – ganz zu schweigen von seiner stoischen Lebensphilosophie – angemessen artikulieren kann (vgl Wezel, TK, I, S. 15 f).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Der philosophische Roman leistet also durch seine autoreflexive Erzählweise einen entscheidenden Beitrag zur Gattungsbildung des Romans. Deshalb markiert der historische Moment der Entstehung des philosophischen Romans den Zeitpunkt der Entstehung des modernen Romans.30 Der „Halbbruder“ des Dichters, wie noch Schiller den Romancier nannte, wird zum Oberhaupt der literarischen Familie. Indem wir so die Herausbildung der autoreflexiven Struktur des Romans in der Achsenzeit von 1770 bis 1820 untersuchen, kommen wir zugleich einem Verständnis dessen näher, was ein literarisches Kunstwerk überhaupt charakterisiert. Damit jedoch brächten wir ein systematisches (kunst-)philosophisches Problem genau dadurch einer Lösung näher, dass wir es in einer exemplarischen historischen Problemsituation betrachten. Darüber hinaus lässt sich auch die Entwicklung, die der philosophische Roman der Spätaufklärung im Hinblick auf das Verhältnis von Philosophie und Literatur auslöst, als exemplarisch ansehen. Denn dadurch, dass der philosophische Roman durch seine autoreflexive Struktur einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der Kunst als einer autonomen Sphäre leistet, ermöglicht er es zugleich, dass sich Philosophie und Literatur von nun an ‚auf Augenhöhe‘ begegnen konnten. Die Spätaufklärer waren sogar davon überzeugt, dass der Roman der Philosophie überlegen sei, insofern durch die pragmatische Kontextualisierung philosophischer Denk- und Lebensmodelle innerhalb einer fiktionalen Erzählwelt eine narrative Prüfung dieser Modelle durchgeführt werden könne, deren Konkretionsgrad ein argumentativer Text niemals zu erreichen vermöge.31 Deshalb verwundert es wenig, dass Wieland in seiner Vorrede zum Agathon – nachdem er darauf hingewiesen hat, dass der Protagonist „kein Modell eines vollkommen tu-

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Auch den Agathodämon Wielands kann man als eine Darstellung des Problems der mangelnden Wirkung des Aufklärungsprojekts und der Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, verstehen. Schließlich artikuliert sich bei Klinger die Skepsis gegenüber der Wirkungsmacht erzählender Literatur z.B. in der Bemerkung in den Reisen vor der Sündfluth: „[D]u weißt ja, daß ich mir erzählen lasse, um nicht zu denken.“ (Klinger, Werke, 6, S. 60) Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.2. Unter Zuhilfenahme der Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung führt Mussil dazu aus: „Vormoderne Kunst unterscheidet und bezeichnet Dinge. [...] Moderne Kunst führt dagegen Unterscheidungen vor, die dem Betrachter nur in der Beobachtung zweiter Ordnung, also durch das Unterscheiden und Bezeichnen von Unterscheidungen zugänglich werden. Das Kunstwerk ist jetzt nicht mehr nur ein Ding bzw. die Nachahmung von Dingen, sondern im wesentlichen Unterscheidung, Form.“ (Mussil, Stephan (1993), S. 193) Entsprechend sei zwischen vormoderner und moderner Literatur ein „Übergang von Repräsentation zu Setzung, von der Nachahmung einer Welt vorhandener Dinge zur Konstruktion von Formen, die Welt erzeugen“, festzustellen (vgl. ebd., S. 197) Gegen diese Ausführungen ist allerdings zu sagen, dass durch die Autoreflexivität keineswegs ausgeschlossen ist, dass sich das literarische Werk in einem mimetischen Bezug zur Wirklichkeit befindet. Dies gilt gerade, wie wir noch genauer ausführen werden, für den transzendentalpoetischen Roman um 1800. So bezeichnet auch Erhart Wielands späte Romane als „Versuche, die vakant gewordenen Stellen einer aus den Wissenschaften verbannten Tradition in die Literatur zu übernehmen“, und gibt die Position der Spätaufklärer dadurch wieder, dass ihrer Auffassung nach eine Individualethik nur noch im ästhetischen Bereich, vor allem im Roman möglich sei (vgl. Erhart, 1991, S. 376).

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

259

gendhaften Menschen“, sondern das „Bild eines wirklichen Menschen“ darstelle (Wieland, A, S. 7), dessen Charakter „auf verschiedene Proben gestellt werden sollte“ (ebd., S. 10) – den exemplarischen Charakter des Romans dadurch begründet, dass er behauptet, dass der gesamte Roman in Analogie zu der „Beweisführung“ des Diogenes32 als eine narrative Widerlegung des philosophischen Systems des Hippias zu verstehen sei: So wird „das ganze Werk [...] als eine Widerlegung desselben“ (ebd.) bzw. der Protagonist Agathon selbst als „eine lebendige Widerlegung seines Systems“ (ebd., S. 117) bezeichnet.33 Damit jedoch weist Wieland den Roman als Konkurrenzunternehmen zur Philosophie aus. Dass dies mit einer nie dagewesenen Intellektualisierung des Romanerzählens einhergeht, darüber waren sich die Spätaufklärer freilich im Klaren.34 Dennoch sollte dieser hohe Anspruch des Romans in einem durchaus lustvollen narrativen Spiel und ohne philosophischen Bierernst eingelöst werden. So schreibt Wezel in der ersten Vorrede zum Tobias Knaut: Verlangte man nun alsdann nichts als lauter blos nützliche Bücher von mir; Bücher, worinnen das Paar Wahrheiten einnehmend vorgetragen würde, die der menschliche Verstand in den Augenblicken eilfertig aufliest, da er sich unter der Sonne in einem Zirkel von einem höchstens fingerlangen Diameter herumdreht; Bücher, die das wenige, was man bey einer so hurtigen Umdrehung, wodurch noch oben drein der Kopf leicht wirblicht, und die Aufmerksamkeit gehindert wird, bey einem flüchtigen Umsehen beobachten kann, mit so einer Deutlichkeit und Ueberredung lehrten, daß mancher Gutmeinende Regeln seines Verhaltens und Ersparung vieler Fehltritte daraus lernen könnte; Bücher die durch den Werth der Sachen, und nicht durchs Kleid reizten, die unmittelbar zu dem Verstande und dem Herzen redeten, ohne die Phantasie zu ihrem Sprecher zu gebrauchen; Bücher, voll Solidität, voll Tiefsinn, Scharfsinn, Empfindung und – ach, wer weis was das begehrliche Publikum noch weiter verlangen möchte? eine solche Foderung würde allerdings für mich so unerwartet als bestürzend seyn. (Wezel, TK, I, S. V)

Ein derartiger Begriff vom philosophischen Roman als einem narrativen Spiel verweist auf die Position Schillers, der den Bereich des Ästhetischen bekanntlich durch das Spiel charakterisiert. Als ein solches ist die Kunst für ihn der Ort der ungeteilten Subjektivität, wo dasjenige, was sich mit Henrich als antinomisches „Grundverhältnis“35 des Menschen bezeichnen lässt, zu seinem adäquaten Ausdruck komme, indem es spiele32

33 34 35

Diese Beweisführung beschreibt Wieland folgendermaßen: „Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes den Sophisten, welcher leugnete, daß keine Bewegung sei: Diogenes ließ den Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen.“ (Wieland, A, S. 10 f) Vgl. dazu Frick, 1988, S. 383 ff. Vgl. die repräsentative Anrede des Erzählers an den Leser, mit der im Agathon die ausgiebigen Reflexionen gerechtfertigt werden (Wieland, A, S. 366; zit. in Kap. 2.1.2) Vgl. hierzu Henrich, 1982, v. a. S. 20 f, 91 f sowie S. 154 f. Mit dem Grundverhältnis ist die von Jedermann zu machende Erfahrung gemeint, dass sich der Mensch als Subjekt und damit als tragender Mittelpunkt seiner Welt begreift und zugleich als eine einzelne Person unter vielen anderen. Auf die Deutung des Grundverhältnisses im Rahmen der Metaphysik des Deutschen Idealismus werden wir ausführlich in Kap. 2.2.2 eingehen. Vgl. dazu auch Ulrichs, 2010a.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

risch artikuliert werde. Das Spiel bringt laut Schiller die Antinomie von Stoff- und Formtrieb in die Schwebe: alles erscheint hier, wie Schiller sagt, „klein und leicht“. Im Spiel der Kunst befinden sich Vernunft und Sinnlichkeit in Harmonie, im Spiel bin ich zugleich als Subjekt und Person beteiligt und damit als ganzer Mensch angesprochen. Der Spieltrieb übernimmt die Aufgabe der Vermittlung zwischen den beiden Seiten des Menschseins, die Schiller mit den Begriffen Stoff- und Formtrieb beschreibt.36 Erst indem sich der Mensch zugleich als abhängig von der natürlichen, sinnlich gegebenen Welt und als freies und selbstbestimmtes Subjekt begreift, ist er, so Schiller, ein ganzer Mensch. Diese schlechthin metaphysische Leistung vollbringt für Schiller allein die Kunst.37 Erst vor diesem Hintergrund wird die oft zitierte Aussage verständlich: [D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (Schiller, Werke, Bd. 20, S. 358 f )

Ein solches ästhetisches Spiel, in dem der Mensch „ganz Mensch“ sein könne, wird aber gerade durch die autoreflexive Erzählweise des philosophischen Romans der Spätaufklärung inszeniert. In ihm verlieren nicht nur diskursive Aussagen die Schwere philosophischer Beweisführungen, sondern hier beugt sich vor allem das Erzählen transzendental auf sich selbst zurück. In diesem Sinne schreibt Bourdieu: Die „ruchlose Demontage der Fiktion“ […] führt allemal zu der Entdeckung […], daß die Grundlage des Glaubens (und des Vergnügens, das dieser im Fall der literarischen Fiktion gewährt) in der illusio besteht, in der Teilnahme am Spiel als solchem, in der Hinnahme der Grundvoraussetzung, der zufolge das literarische oder wissenschaftliche Spiel der Mühe wert sind, gespielt und ernst genommen zu werden. Die literarische illusio, jene ursprüngliche Hingegebenheit ans literarische Spiel, die den Glauben an die Bedeutsamkeit oder den Reiz der literarischen Fiktionen fundiert, ist die fast immer unbemerkt bleibende Voraussetzung des ästhetischen Vergnügens, das zum Teil stets in dem Vergnügen besteht, am Spiel teilzunehmen, an der Fiktion Anteil zu nehmen, mit den Voraussetzungen des Spiels ganz übereinzustimmen; was auch Bedingung der literarischen Illusion und des Glaubenseffekts (eher als des „Reali38 tätseffekts“) ist, den der Text hervorrufen kann.

Der Hinweis auf das narrative Spiel des autoreflexiven Erzählens bringt auch zum Ausdruck, dass die Tradition der anderen Vernunft in ihren Anfängen anti-systematisch, relativistisch und skeptizistisch gewesen ist. Gleichwohl begnügt sie sich nicht mit einer Haltung, die es sich in der Aporie des Agnostizismus gemütlich macht, sondern sie bemüht sich zugleich um eine Begründung ihrer Auffassungen mit Hilfe ebenjenes pragmatischen Paradigmas, das sowohl die Erkenntnis als auch die Moral an der lebensweltlichen Praxis orientiert und im Zuge dieser Kontextualisierung der Philosophie einen existenzphilosophischen Charakter verleiht. Deshalb handelt es sich keineswegs um einen Irrationalismus, sondern teils um den Nachweis der irrationalen Grundlage 36 37 38

Vgl. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 347 f. In diesem Sinne bezeichnet Schiller den ästhetischen Zustand als ‚mittlere‘ und ‚freie‘ Stimmung, „in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind“ (vgl. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 375). Bourdieu, 1999, S. 515 f.

2.1 Das pragmatische Paradigma und der philosophische Roman

261

des Rationalismus, teils um die existentielle Gründung der Vernunft im affektiven Gesamthaushalt des Menschen. Beides geschieht gerade mit dem Zweck der rationalen Durchdringung der Lebenswelt: Indem die literarischen Spätaufklärer den Blick auf „das Andere der Vernunft“39 richten, sind sie bestrebt, nicht diesem um seiner selbst willen zu seinem Recht zu verhelfen, sondern das Konzept einer anderen Vernunft zu entwickeln, die den Anforderungen des Lebens besser gewachsen ist als die reine. Eine irrationale Theorie kann es hingegen gar nicht geben – zumal nicht im 18. Jahrhundert; dies verhindert schon die Notwendigkeit einer rationalen Artikulation des Irrationalismus, ohne die man in der „weltbürgerlichen Gesellschaft“40 der literarischen Öffentlichkeit schlicht chancenlos bleibt. So nimmt es bei näherem Hinsehen keineswegs wunder, dass am Anfang der Tradition der anderen Vernunft der Roman steht. Damit soll nicht behauptet werden, dass es sich bei dem anti-systematischen Grundcharakter des philosophischen Romans um zufälliges Beiwerk handelt, um eine Kinderkrankheit, die zuverlässig wieder verschwinden wird, sobald hellere, weil systematische Köpfe sich der Materie widmen. Vielmehr ist die relativistische Haltung der hier in Rede stehenden Autoren wohlbegründeter Bestandteil des neuen Paradigmas sowie der ihm angemessenen Diskursform. Was aber in aller Deutlichkeit festgehalten werden muss, ist Folgendes: Keine neue Tradition, kein neues Paradigma genügt von Anfang an allen Forderungen nach argumentativer Stringenz, logischer Kohärenz oder strenger Rationalität41 – solches zu verlangen, käme einer Selbstliquidation des Geistes gleich. Dies hat gerade für die Tradition der anderen Vernunft und das pragmatische Paradigma seine Gültigkeit, und es gilt auch für die Philosophie und Literatur um 1800, denen wir uns nunmehr zuwenden wollen.

39 40 41

So lautet bekanntlich der Titel des Werkes der Böhme-Brüder (vgl. Böhme, 1985). Vgl. Kant, 1983, S. 290 [A 331], wo er die „weltbürgerliche Gesellschaft“ als regulatives Prinzip bezeichnet. Das gilt für die ‚hard sciences‘ ebenso wie für philosophische Theorien und künstlerische Innovationen, und es gilt nicht bloß für den Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern für alle Stadien ihrer Entwicklung.

2.2 Das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie und die Kunstphilosophie um 1800 2.2.1 Die metaphysische Wende der Romantiker und Deutschen Idealisten Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie beginnen.

1

Der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Kunst, zwischen ‚Dichten‘ und ‚Denken‘ – er trieb auch die Generation der Romantiker um. Und so sehr sie sich auch als Avantgarde verstanden, als eine revolutionäre intellektuelle Elite, mit der die Moderne eigentlich erst beginnen sollte, verfolgten die Romantiker doch letztlich ein Ideal, um das sich schon Platons Denken drehte – das Ideal einer Versöhnung des ‚Guten, Schönen und Wahren‘. Doch um diese ‚Ideen‘ vereinigen zu können, bedarf es eines Vergleichspunkts. Um uns zunächst dem Verhältnis des ‚Schönen‘ zum ‚Wahren‘ zuzuwenden2, lässt sich sagen: Soll ‚das Schöne‘ auch ‚wahr‘ sein, so muss die Kunst – als die Realisierungsform dieses Schönen – Erkenntnis vermitteln. Beantwortet man aber die Frage, ob die Kunst legitimerweise einen Erkenntnisanspruch erheben kann, in irgendeiner Weise positiv, so ist man damit auf eine Intellektualisierung der Kunst festgelegt, die keineswegs selbstverständlich ist. Die Alternative einer emotivistischen Ästhetik wird dadurch von vornherein ausgeschlossen. Bei allen Differenzen im Detail ist jedoch die Überzeugung von der Intellektualität der Kunst den Frühromantikern und Deutschen Idealisten gemeinsam, und sie teilen diese Auffassung, wie wir sahen, auch mit den Spätaufklärern. So wird bereits im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus dieses Verhältnis des ‚Schönen‘ zum ‚Wahren‘, damit aber der Kunst zur „Anstrengung des Begriffs“3 in Wissenschaft und Philosophie problematisiert. Danach soll durch die Idee des Schönen die Versöhnung genau jener Zerrissenheit erreicht werden, die das moderne Leben beherrsche: Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind – Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philos. Man kann in nichts geistreich, seyn selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonniren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentl. den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen, – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen u. Register hinausgeht. / Die Poësie bekömmt dadurch e höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – 1 2 3

F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 261. Dem Verhältnis des ‚Schönen‘ zum ‚Guten‘ widmet sich, indem es nach den moralphilosophischen Implikationen der ästhetischen Theorie der ‚Achsenzeit‘ fragt, das Kap. 3.3. Vgl. Hegel, Werke, Bd. 3, S. 56.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

263

Lehrerin der (Geschichte) Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, 4 die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften u. Künste überleben.

Was in diesem Gründungsdokument des Deutschen Idealismus programmatisch als Utopie formuliert wird, lässt sich als mehr oder weniger verborgener Impetus auch der späteren Denkbemühungen der Deutschen Idealisten bezeichnen. So kann man selbst Hegels Philosophie vom absoluten Geist, innerhalb derer Kunst, Religion und Philosophie als dessen drei Gestalten bestimmt werden5 und in deren Konsequenz Hegels These vom Ende der Kunst steht6, als eine systematische Ausfaltung dieses Verhältnisses zwischen dem ‚Guten, Schönen und Wahren‘ verstehen. Dies gilt, obwohl er die Kunst gegenüber Philosophie und Religion als eine Gestalt des absoluten Geistes abwertet, die das höchste geistige Bedürfnis des Menschen nicht mehr befriedige.7 Noch deutlicher wird dieses Versöhnungsbemühen bei Schelling, der in der Identitätsphilosophie die ideellen Potenzen des Guten (Handeln, Moral), Wahren (Wissen, Philosophie) und Schönen (Können, Kunst) mit den reellen Potenzen des dynamischen Prozesses, der Materie und des Organismus auf nicht immer rational nachvollziehbare Weise parallelisiert.8 Man kann diese Bemühungen um eine Versöhnung der höchsten ‚Ideen‘ noch aus einer anderen Perspektive betrachten, indem man den Blick vom ‚göttlichen Platon‘ weg hin zum ‚erstaunlichen Kant‘ wendet: Bekanntlich war die nachkantische Philosophie angetreten, die Kantischen Dualismen, wie sie zum einen in der 2-Stämme-Lehre der Erkenntnis und zum andern in der Aufspaltung der Vernunft in die theoretische und praktische manifest werden, durch die Auffindung einer gemeinsamen Basis derselben zu überwinden. Kants Lösungsvorschlag, der in der Urteilskraft die Vermittlungsinstanz zwischen Sinnlichkeit und Verstand sowie zwischen reiner und praktischer Vernunft identifizierte, wurde als theoretisch ebenso ungenügend empfunden wie der von Fichte und den Frühromantikern emphatisch aufgenommene Hinweis Kants auf die Einbildungskraft als die gemeinsame Wurzel aller Erkenntnisvermögen9. Dennoch hat Kant seinen Nachfolgern die Richtung gewiesen. Man kann nämlich die Ausführungen im Systemprogramm auch so verstehen, dass sich in ihnen die Hoffnung auf eine Versöhnung der Erkenntnisvermögen so wohl wie auf eine Überwindung der Spannung zwischen Theorie und Praxis durch die Kunst artikuliert. Diese Hoffnung führte zu verschiedenen Systementwürfen, nicht zuletzt zu demjenigen Hegels, in dessen Lehre von den drei Gestal4

5 6 7 8 9

Zit. nach: Frank, 1989, S. 120. Bekanntlich herrscht über die Frage der Autorschaft des Systemprogramms seit Langem Streit; doch gerade die Unmöglichkeit, diesen Text Schelling, Hölderlin, Hegel oder allen gemeinsam zuzuschreiben, zeigt die Verbreitung des alten Versöhnungsideals in der damaligen Intellektuellengeneration aufs Anschaulichste. Hegel, Werke, Bd. 10, S. 366 ff. Vgl. Hegel, Werke, Bd. 13, S. 23 u. 25. Vgl. ebd., S. 142. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 400 ff. Wir werden hierauf im Kap. 2.2.4 noch ausführlich zu sprechen kommen. Vgl. dazu Küster, 1979.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

tungsformen des absoluten Geistes der Versuch der Herstellung einer versöhnenden Einheit durch interne Differenzierung der Sphäre des absoluten Geistes bewahrt ist. Nun ist bei allen Differenzen sowohl in den Begründungsverfahren als auch in der Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie den spekulativen Systemen nach Kant der Bezug auf dasjenige gemeinsam, was im Deutschen Idealismus das „Absolute“ genannt wird: Sie alle wollen nach einem Durchgang durch das kritische Unternehmen Kants, wie schon Kant selbst, die Metaphysik restituieren. Selbst Schopenhauer, der nur Spott für den Deutschen Idealismus übrig hatte und das „Absolutum“ teils als verkappten ontologischen Gottesbeweis persönlich auftreten lässt10, teils im „Wolkenkuckucksheim“ verortet11 –, selbst Schopenhauer formuliert trotz aller transzendentalphilosophischen Kautelen in seiner Willensmetaphysik eine Theorie des Absoluten und versucht die Kantischen Vernunftideen der Totalität und Einheit der Natur substantiell zu füllen und deren bloß regulativen Gebrauch zu überschreiten. Uneinigkeit hingegen herrscht nicht nur über die Beschaffenheit des Absoluten – hier können Hegel und Schopenhauer in der Tat als Antipoden genannt werden –, sondern schon über die Frage, ob überhaupt und, wenn ja, in welcher Weise wir einen epistemischen Zugang zu einem wie immer beschaffenen Absoluten besitzen. Hier stehen sich die Frühromantiker und der frühe Schelling sowie später Schopenhauer auf der einen und Hegel sowie der Schelling der identitätsphilosophischen Periode auf der anderen Seite gegenüber: Während die Erstgenannten der Kunst solch einen privilegierten Zugang zum Absoluten zuschreiben, zeichnen die letzteren allein das philosophische Denken als dasjenige Vermögen aus, welches das Absolute zu erfassen in der Lage ist. Doch schon bei Kant ist das Problem des Verhältnisses zwischen dem ‚Schönen‘ und dem ‚Wahren‘ virulent. Nicht allein motiviert es die Theorie der ästhetischen Urteilskraft, wonach das Geschmacksurteil einen – letztlich uneinlösbaren – Anspruch auf „Gemeingültigkeit“ erhebt12, es stellt sich vor allem als die Frage nach dem Verhältnis der ästhetischen zur Vernunftidee dar. Dieses Verhältnis bestimmt Kant mit Hilfe seines Symbolbegriffs als ein Repräsentations- oder Analogieverhältnis: die inexponible ästhetische Idee repräsentiert symbolisch die indemonstrable Vernunftidee. Das Kunstwerk als Realisation solcher ästhetischen Ideen durch das Genie trägt dem zufolge – so lässt sich Kants Konzept weiterdenken, und so wurde es tatsächlich weitergedacht13– den Charakter der Unausdeutbarkeit, die sich als die jedem Rezipienten entgegentretende Mehrdimensionalität des Kunstwerks äußert. In Folge des Verhältnisses zwischen ästhe-

10 11 12 13

Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 3, S. 50 ff. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 3, S. 122. Vgl. Kant, KU, B 23. Bei Schelling erscheint das Kunstwerk so, „als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre“; entsprechend sei es „einer unendlichen Auslegung fähig“ (vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 619 f).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

265

tischer und Vernunftidee lässt sich die Unausdeutbarkeit des Kunstwerks als Analogon der Unerklärbarkeit der Einheit und Totalität der Natur deuten.14 Diese Auffassung Kants wird für die ästhetischen Theorien der Frühromantiker und des jungen Schelling von größter Bedeutung: Das künstlerische Werk bietet für sie den einzig möglichen epistemischen Zugang zum „Absoluten“. Was der Anstrengung des spekulativen Begriffs nicht erreichbar ist, das vermöge die Kunst: eine (ästhetische) Erkenntnis vom Subjekt und Objekt umgreifenden Seinsganzen zu geben. Für die Generation der Frühromantiker um Hölderlin, Novalis und Friedrich Schlegel ist die Annahme eines dem Fichteschen Ich vorausliegenden „Seyns“15 als einer vor-urteilsmäßigen Syntheseleistung von absoluter Identität für die Erklärung des Selbstbewusstseins, ja schon für die bloße Selbstzuschreibung – und erst recht für ein tieferes Verständnis der äußeren Realität – zwar einerseits unvermeidlich, andererseits jedoch ist ein solches dem relativen Ich vorausliegendes Absolute jedem reflexiven Zugang unverfügbar und insofern unvordenklich: Wir müssen es zwar stets voraussetzen, können es jedoch niemals unmittelbar erfassen. Allein in der Kunst, insbesondere in der Poesie könne dieser „unendliche Mangel an Sein“16 in höchst vermittelter Weise zur Darstellung gelangen und dadurch kompensiert werden. Laut Manfred Frank begründet diese Annahme, „daß Selbstsein einem transzendenten Grunde sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewußtseins auflösen lasse“, eine scharfe Unterscheidung zwischen Idealismus und Frühromantik: Während im Deutschen Idealismus das Bewusstsein als „ein selbstgenügsames Phänomen [gelte], das auch noch die Voraussetzungen seines Bestandes aus eigenen Mitteln sich verständlich zu machen vermöge“, gehe die Frühromantik von der Überzeugung aus, dass der Grund von Selbstsein ein der Reflexion unerreichbares Rätsel sei, das nur von der Kunst aufgelöst werden könne.17 Dennoch wird die im Rahmen einer Theorie des Absoluten ontologisch formulierte Auffassung, dass die Kunst eine ausgezeichnete Weise des Weltzugangs sei, entsprechend der transzendentalidealistischen Orientierung sowohl des Deutschen Idealismus als auch der Frühromantik zugleich subjektivitätsphilosophisch ausgedrückt18: Die äs14 15 16 17

18

Vgl. Kant, KU, B 240 ff und B 256 ff. Auf das Problem des Verhältnisses zwischen ästhetischer und Vernunftidee werden wir in den Kap. 2.2.3 und 2.2.4 zurückkommen. Richtungsweisend war hierbei der Aufsatz Hölderlins Urtheil und Seyn (Hölderlin, 1943 ff, Bd. 4, 1, S. 216 f). Vgl. dazu auch Henrich, 1992. So, nach einem Ausdruck Schellings, der Titel einer Schellingstudie Franks (vgl. Frank, 1975). Vgl. Frank, 1994, S. 108. Das Absolute besitzt laut Frank für die Frühromantiker trotzdem nur „den Status einer regulativen Idee [...], ohne welche sich endliches Denken nicht als Bruchstück und Stückwerk begreifen, durch die es sich aber nicht einfach über diese seine Bedingtheit hinwegsetzen kann“ (ebd.) Die bei näherem Hinsehen etwas grobe Unterscheidung zwischen Deutschem Idealismus und Frühromantik kann dennoch eine erste Orientierung in den komplexen Konstellationen der Achsenzeit um 1800 geben. Inwieweit sich ontologische und subjektivitätsphilosophische Perspektive in den Augen der Romantiker und der Deutschen Idealisten nicht widersprechen, wird nach einer eingehenderen Darstellung der Theorie des objektiven Idealismus deutlich werden (vgl. v.a. Kap. 2.2.2 und 2.2.5).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

thetische Anschauung objektiviert – nach Schelling19 – die intellektuelle Anschauung (zusamt der Geschichte des Selbstbewusstseins), oder: was in der Konstitution der wirklichen Welt noch auf unbewusste Weise geschieht, das erscheint – so Novalis20, aber auch Schelling21 – bei der Erschaffung der möglichen Welt der Kunst als eine bewusste Tätigkeit.22 Die Einbildungskraft spielt dabei sowohl für den Kunst- als auch für den Weltbegriff eine grundlegende Rolle.23 In beiden Formulierungen – der ontologischen wie der subjektivitätsphilosophischen – wird aber der Kunst nicht nur überhaupt die Fähigkeit zur Erkenntnisvermittlung zugeschrieben, sondern sie erbringt in den Augen der Frühromantiker eine Erkenntnisleistung, die von keiner anderen Diskursform erreicht werden kann: Die Kunst erscheint als eine ausgezeichnete Weise des Weltzugangs, weil sie auf eine noch näher zu klärende Weise die höchste Erkenntnis zu vermitteln vermag. Gemäß jener Differenzierung gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Kunst resp. Literatur zu beschreiben: Man kann sie entweder unter einer ontologischen Perspektive als Darstellung des Absoluten bzw. als Repräsentation der Einheit und Totalität der Welt betrachten – eine Betrachtungsweise, die schließlich zur organizistischen Welt- und Kunstauffassung führt – oder unter subjektivitätsphilosophischen Aspekten interpretieren, wobei sie als Ausdruck spezifischer Subjektivitätskonzepte aufgefasst wird.24 Im Folgenden wollen wir daher eingehend betrachten, in welcher Weise man um 1800 diese beiden Zugangsweisen zu vermitteln versucht. In beiden Varianten – der ontologischen wie subjektivitätsphilosophischen – erscheint die Kunst als eminent metaphysische Tätigkeit. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum für die Zeit um 1800 nicht mehr von Ästhetik, sondern allein von Kunstphilosophie resp. von Kunstmetaphysik die Rede sein kann: die philosophische Theorie der Kunst, wie sie von den Frühromantikern sowie von Schelling und Hegel und später von Schopenhauer formuliert wurde, war metaphysisch verfasst und nicht mehr wie die Ästhetik der Aufklärung an die sinnliche Erkenntnis gebunden.25 19 20 21 22 23

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25

Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 625. Vgl. hierzu auch Engel, 1993, S. 448. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 349 u. 626. Auch bei Friedrich Schlegel heißt es bündig: „Im Idealismus wird die Empirie als ein Kunstwerk betrachtet.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 249) Dies begründet Novalis‘ Philosophie des magischen Idealismus, wonach gilt: „Magie ist = Kunst, die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen“ (NO 2, S. 546), und verweist auf das Konzept der produktiven Einbildungskraft. Dem gemäß werden wir uns dem transzendentalpoetischen Roman in den Kapiteln 2.2.4 und 2.2.5 zunächst unter einer ontologischen und dann unter einer subjektivitätsphilosophischen Perspektive nähern, wobei die erste einen eher ‚formästhetischen‘, die letztere hingegen einen eher ‚gehaltsästhetischen‘ Ansatz verfolgt. Den beiden alternativen Auffassungsweisen widmen sich auch die beiden Aufsätze des Verfassers: Ulrichs, 2006b u. 2010b. So bittet Schelling in seiner Philosophie der Kunst von 1802 den Leser, „diese Wissenschaft der Kunst mit nichts von all dem zu verwechseln, was man bisher unter diesem Namen oder irgend ei-

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Nicht zuletzt aufgrund dieser Versuche einer Restituierung der Metaphysik auf kritischen Grundlagen, die sich insbesondere auf den Feldern der Kunst und Kunstphilosophie manifestieren, erweckt die Zeit um 1800 den Eindruck einer revolutionären Epoche, die mit der Aufklärungstradition radikal bricht. Henrich charakterisiert sie in geradezu emphatischer Weise: Das rapide Aufkommen und der eruptive Gang der nachkantischen klassischen deutschen Philosophie stellen ein Rätsel dar, das zur Antwort auf die Frage ‚Wieso war möglich, was geschah?‘ herausfordert. [...] Man kann diesen Vorgang metaphorisch als die Explosion einer Supernova beschreiben. Es gibt nichts Vergleichbares in der Geschichte der Philosophie, allenfalls im klassischen Athen. [...] Während die Supernova aber das Ende eines Sterns anzeigt, war der eruptive Prozeß, der 1789 begann, der Aufgang einer Denkart und der Beginn einer 26 Epoche.

So berechtigt in vielerlei Hinsicht diese Kennzeichnung ist, so darf man über die zweifellos revolutionären Neuansätze der Romantiker und Deutschen Idealisten nicht verkennen, dass sie in einer tiefen Kontinuität mit den Auffassungen der (Spät-)Aufklärung stehen. Nun ist die romantische Philosophie laut Bates durch vier verschiedene, in engem Zusammenhang stehende Merkmale gekennzeichnet: [1.] the idea that reason is not the most fundamental mode of human being in the world but that something else, variously characterized as practice, doing, passion, feeling, etc., is; 2. the idea that there is a kind of division in the self, so that one may not know himself fully […]; 3. the idea that the individual self is not a given entity, but a goal to be sought in a process, potentially progressive, in which the self constitutes itself […]; 4. the fact that many of the subsequent authors who express these themes do so, not in tradi27 tional […] philosophical forms, but in other literary genres […].

Nach dem im Abschnitt 2.1 Dargelegten fällt es nicht schwer zu erkennen, in welch engem Bezug diese Kernelemente der romantischen Philosophie zu in der Spätaufklärung entwickelten Positionen stehen, sodass eine Zuordnung des hier ‚romantisch‘ genannten Denkens zur Tradition der anderen Vernunft als durchaus berechtigt erscheint. So konnten wir die Überzeugung, dass die Rationalität ein gegenüber dem Praktischen und der Affektivität des Menschen nur sekundäres Phänomen darstellt, bereits als das zentrale Theorem des pragmatischen Paradigmas identifizieren. Desweiteren sahen wir die literarischen Spätaufklärer sich mit der ‚Kopf-Herz-Problematik‘ auseinandersetzen – eine Auseinandersetzung, die sie ebenfalls zu der Auffassung von der tiefen Zerris-

26 27

nem andern als Aesthetik oder Theorie der schönen Künste und Wissenschaften vorgetragen hat“ (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 381). Und auch Hegel verwendet am Anfang seiner Vorlesungen über die Ästhetik den Namen der „Ästhetik“ nur darum noch, „weil er als bloßer Name für uns gleichgültig und außerdem einstweilen so in die allgemeine Sprache übergegangen ist, daß er als Name kann beibehalten werden“; der „eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft“ sei, so Hegel, „Philosophie der Kunst“ (Hegel, Werke, Bd. 13, S. 13). Henrich, 1991, S. 217 f. Bates, Stanley: „The Mind’s Horizon“, in: Eldridge (Hrsg.), 1996, S. 167.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

senheit der menschlichen Natur führte und die Konsequenz ziehen ließ, dass es eine dem Bewusstsein abgewandte Seite des Menschen geben müsse. Zum Dritten verweist die spätaufklärerische Präferenz für narrative Strukturen, verweist schon die Etablierung des Bildungsromans durch die Spätaufklärer, verweisen zuletzt ihre vielfältigen geschichtsphilosophischen, pädagogischen und anthropologischen Reflexionen auf die Vorstellung, dass die Personalität des Menschen keine gegebene, feststehende Entität, sondern eine aufgegebene, in einer allmählichen Entwicklung sich erst konstituierende Zielgröße sei. Schließlich ist die Auszeichnung der Kunst, insbesondere der Literatur als der privilegierten Diskursform Spätaufklärern und Romantikern gemeinsam. Sicherlich werden die spätaufklärerischen Positionen von den Frühromantikern und Deutschen Idealisten in vielerlei Hinsicht überschritten. Deutlich wird dies insbesondere darin, dass die subjektivitätsphilosophischen Reflexionen um 1800 stets auf ein dem Selbstbewusstsein transzendenten Grund abzielen, während die Spätaufklärer sich auf die Formulierung empirischer Handlungs- und Subjektivitätstheorien beschränken. Doch ist zugleich die Kontinuität in ihren Auffassungen unverkennbar. Darum ist es das Ziel der folgenden Überlegungen, die scheinbar in einem schroffen Gegensatz stehenden – und auch sich selber in einen solchen stellenden – Vertreter der Spätaufklärung und der Romantik in eine geistesgeschichtliche Kontinuität zu bringen, ohne dass die Differenzen verschwiegen werden sollen. Bereits an dem Verhältnis zur klassischen Metaphysik lassen sich sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen Spätaufklärung und Frühromantik erkennen. Beide gehen zwar von derselben Ausgangsbasis aus – der Überzeugung von der Unmöglichkeit einer begrifflichen Metaphysik und der schon bei Kant virulenten Ambivalenz zwischen Anerkennung der Legitimität des metaphysischen Bedürfnisses und Beschränkung der metaphysischen Spekulation auf den Modus der regulativen Ideen –, verfolgen aber gänzlich verschiedene Ziele, wobei die (metaphysischen) Ansprüche der Romantiker an die Kunst vielleicht eine Überforderung der Kunst und die (pragmatischen) Ansprüche der Spätaufklärer an die Philosophie eine Unterforderung der Philosophie darstellen. Man muss allerdings betonen, dass die Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik von den Spätaufklärern explizit abgelehnt wird, ihr Konzept vom philosophischen Roman als einem transzendentalen Metaroman aber, wie wir im Rahmen der Theorie der möglichen Welten gezeigt haben, implizit auf ihr beruht: Auf diskursiver Ebene wird das pragmatische Paradigma als konsequente Überwindung der Metaphysik angesehen, auf formaler Ebene manifestiert sich hingegen, ohne dass sich die Spätaufklärer dessen immer bewusst sind, die Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik. Explizit formuliert wird diese Auffassung jedoch erst von den romantischen Theoretikern – eine Tatsache, die die These von der Nachgängigkeit der ästhetischen Theorie gegenüber der ästhetischen Praxis eindrucksvoll bestätigt. So wird die Überzeugung von der Unmöglichkeit einer begrifflichen Metaphysik bzw. die Auffassung von der Kunst als Ersatzmetaphysik zur Brücke zwischen Aufklärung und Romantik.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

269

Doch selbst wenn man sich den begrifflich verfassten metaphysischen Theorien des Deutschen Idealismus zuwendet, lässt sich behaupten, dass auch diese am pragmatischen Paradigma orientiert sind. Gleichwohl wandelt sich dieses pragmatische Orientierungssystem um 1800 erheblich: Anders als im Falle des skeptizistischen, am common sense orientierten Pragmatismus der Spätaufklärer entwickelt sich hier eine Metaphysik und Subjektivitätsphilosophie, die sich insofern als pragmatisch bezeichnen lässt, als sie nicht nur vom Primat des praktischen vor dem theoretischen Selbstbewusstsein ausgeht, sondern sowohl das Ich als Tathandlung als auch die Natur als Subjekt bzw. als natura naturans und also ebenfalls in einem Tätigkeitssinn bestimmt. Wenn demnach Schelling das Absolute nach dem Modell des Ich als Subjekt-Objekt-Integral erfasst oder Schopenhauer die Welt als Wille beschreibt, dann handelt es sich gewissermaßen um einen Idealismus, der dem pragmatischen Paradigma eine spekulative Grundlegung gibt. Dabei werden freilich wesentliche Elemente des pragmatischen Paradigmas in seiner spätaufklärerischen Spielart getilgt, während andere zentrale Bestandstücke erhalten bleiben. Zudem wechselt der hauptsächliche Bezugsbereich der philosophischen Spekulation: nicht mehr die menschliche, sondern die Gesamtnatur steht nun im Mittelpunkt des Interesses. Allerdings wird letztere mit Hilfe eines Analogieschlusses nach Maßgabe der Bestimmung der menschlichen Natur erfasst. Dabei gehen zumindest die Frühromantiker sowie Schelling und Schopenhauer vom irrationalen Grund beider Seinsbereiche aus.28 So ließe sich das gesamte pragmatische Paradigma – eingeschlossen seine metaphysischen Varianten innerhalb der idealistischen Systemphilosophie – als (Selbst-) Kritik der Aufklärung betrachten, wobei die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Intellektualität das zentrale Gelenkstück dieses kritischen Unternehmens darstellt.29 Natürlich wurden innerhalb des spekulativen Denkens um 1800 die Ansätze der Spätaufklärung weit überschritten. Dies gilt sowohl für die naturphilosophischen als auch für die subjektivitätstheoretischen Konzepte, und ebenso gilt es für die ästhetische Theorie. Am deutlichsten wird das im Rahmen der Begründung des Organizismus.30 Dabei wurde sowohl Kants Geniebegriff als auch seine Bestimmung des Verhältnisses 28

29 30

Die Behauptung von Kurz, dass in Hölderlins Urtheil und Seyn „das Prinzip der Vernunft nicht preisgegeben, [...] jedoch als abhängig-unabhängig begriffen“ sei, kann daher als zutreffend für das gesamte pragmatische Denken angesehen werden. Seine fernere Interpretation, dass für Hölderlin „vernünftig ist, was die Kräfte der Natur ordnet, ihnen Gesetze mitteilt und sich zugleich aus dem tragenden Zusammenhang der Natur begreift“, verweist auf die These, dass die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Intellektualität das Gelenkstück dieses Denkens darstellt. (Vgl. Kurz, 1988, S. 274) Vgl. hierzu Hölderlin, 1943 ff, Bd. 3, S. 83: „Aber aus blosem Verstand ist nie Verständiges, aus bloser Vernunft ist nie Vernünftiges gekommen.“ So wird von Friedrich Schlegel die Achsenzeit um 1800 insgesamt als „organisches Zeitalter“ charakterisiert, wobei die Moderne in seinen – wie in Fichtes, Schillers oder Schellings – Augen durch den Verlust der im Altertum herrschenden organischen Einheit gekennzeichnet ist und die Aufgabe der Romantik entsprechend in der Überwindung dieser Zerrissenheit besteht (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 248 f).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

von ästhetischer und Vernunftidee für die nachfolgende Generation wegweisend, insofern beide Theoreme die bei Kant nicht ausgeführte Analogisierung von Kunstwerk und Organismus ermöglichten. Doch mit der Bestimmung des Kunstwerks als Organismus begnügte man sich in der nachkantischen Periode keineswegs. Vielmehr lässt sich sagen, dass um 1800 das Paradigma des Organizismus entstand, wonach nicht nur das Kunstwerk, sondern auch das Universum, der Staat31, die Geschichte32 und das philosophische System dem Organismus verglichen wurden.33 Natürlich müssen bei der Übertragung des Organismuskonzepts von der Empirie auf die Metaphysik, die Kunst oder das philosophische System wesentliche Bestimmungsmerkmale des Organismus als eines biologischen Phänomens fallen gelassen werden. Damit aber die Übertragung dennoch als sinnvoll erscheint, müssen andererseits zentrale Merkmale erhalten bleiben. Nach Überzeugung der Frühromantiker und Deutschen Idealisten sollte die Bestimmung von Universum, Kunstwerk oder Staat als Organismus jedoch mehr sein als eine bloße Metapher. Daher ist es notwendig, jene zentralen, bei der Analogiebildung konstant gehaltenen Merkmale zu identifizieren. Und daher auch ist es für das Verständnis der Bestimmung des Kunstwerks als Organismus unumgänglich, zuvor das metaphysische Organismuskonzept näher zu betrachten. Es wird deutlich werden, dass die Auffassung des Kunstwerks als eines Organismus Voraussetzung dafür ist, dass dieses Kunstwerk die einzig angemessene Repräsentation der Einheit der Natur darstellt, wobei sich zeigen wird, dass auch in der Metaphysik um 1800 das Modell der Autoreflexivität an zentraler Stelle Verwendung findet. Was nun näherhin das Verhältnis der frühromantischen Transzendentalpoesie zum philosophischen Roman der Spätaufklärung anbelangt, so hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass die den philosophischen Roman charakterisierende Autoreflexivität erster Stufe zum Modell der Autoreflexivität zweiter Stufe wird. Die letztere findet sich zwar, indem die Spätaufklärer auf (fiktions-)ironische und selbstreferente Erzählweisen 31 32

33

Vgl. etwa Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 505 f. Maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des organizistischen Geschichtsmodells hatte Herder. In dessen Versuch, mit Hilfe des Organismusmodells eine „Universalgeschichte der Bildung der Welt“ (Herder, 1877 ff, Bd. 4, S. 353) zu schreiben, spiegelt sich „das Bemühen, die Geschichte der Menschheit und ihrer Kultur genetisch aus der Geschichte der Natur als dem Wirkungszusammenhang des Seienden herzuleiten und von den Verhältnissen der naturgegebenen Totalität auf die Verhältnisse der Menschheitsgeschichte zu schließen“ (vgl. Bollacher, 1987, S. 114). Über den Wegbereiter Herder schreibt Wetzels: „Die Organismusmetaphorik wird von Herder [...] auf weite Bereiche außerhalb der Natur übertragen: das organische Kunstwerk; eine organische Anthropologie; eine am organischen Wachstumsmodell orientierte Weltgeschichte, eine organisch gewachsene Sprache“ (Wetzels, 1987, S. 181). Dabei sei für Herder – wie später für Schelling – der Organismus- dem Mechanismusbegriff „weniger entgegengesetzt als übergeordnet“, weswegen „die [Metapher der] Maschine ihren legitimen und respektierten Platz“ in seinen Schriften erhalte. Dennoch schätzte Herder den „heuristische[n] Wert des Organismusmodells“ als eher gering ein und sah in ihm nur „eine gewisse Ordnungsfunktion einzelner Teile innerhalb eines Ganzen [...] zur Deutung des Phänomens der Veränderung, des Wechsels, der Entwicklung in der Zeit“ (ebd., S. 182).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

271

zurückgreifen, auch schon im philosophischen Roman, aber erst innerhalb des transzendentalpoetischen Romans wird sie zu einer autoreflexiven Erzähltechnik systematisch ausgefaltet.34 Entsprechend ist der transzendentalpoetische Roman nur als selbstreferentes System zu fassen, in dem Erzählen und Erzähltes gleichursprünglich präsentiert werden. Dabei tritt allerdings die ‚materiale Selbstreferentialität‘, d.h. der permanente Wechselbezug zwischen diskursiven Passagen und formalen Elementen, wie er den philosophischen Roman der Spätaufklärung kennzeichnet, mehr und mehr zugunsten dieser ‚formalen Selbstreferentialität‘ zurück.35 Gemeinsam ist aber beiden, dem philosophischen wie dem transzendentalpoetischen Roman, dass sie durch ihre Autoreflexivität einen entscheidenden Beitrag zur Gattungsbildung des Romans leisten.36 So implementieren die literarischen Spätaufklärer die autoreflexive Struktur in den Roman. Wenn man aber die Autoreflexivität erster Stufe, welche die diskursiven Passagen eines Romans und seine formalen Strukturmerkmale in ein Verhältnis der wechselseitigen Begründung bringt, als Ausdruck einer tieferliegenden Autoreflexivität betrachtet, wie sie im Konzept der Transzendentalpoesie als ein Schweben zwischen Subjektivem und Objektivem i.S. einer transzendentalen Erzähltechnik beschrieben wird, dann wird begreiflich, wie berechtigt es ist, von der Pionierrolle des philosophischen Romans der Spätaufklärung gegenüber dem transzendentalpoetischen Roman der Frühromantik zu sprechen. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass im Konzept der Transzendentalpoesie diese erzähltechnische Autoreflexivität zweiter Stufe eine mimetische Funktion erhält, insofern gerade durch seine Autoreflexivität das Kunstwerk zum Abbild der Welt als eines autoreflexiven Organismus wird. Wenn aber auch der einer holistischen Mimesistheorie verpflichtete philosophische Roman Voraussetzung für eine solche ontologische Funktionalisierung der Autoreflexivität zweiter Stufe ist, so wird doch im Konzept der Transzendentalpoesie ein neuer, nämlich metaphysischer Anspruch erhoben. Diese Überlegungen führen zu der These, dass die Autoreflexivität des Erzählens wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Autonomieästhetik ist.37 Die Autonomieästhetik ist bekanntlich vor allem von Karl Phillip Moritz und Friedrich Schil34

35 36 37

Dies erfolgt für die Frühromantiker, insbesondere für Friedrich Schlegel in engem Bezug zum Grundansatz der Transzendentalphilosophie: Wie in dieser vollzieht sich auch in der Transzendentalpoesie eine permanente Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis – hier der poetischen, dort der philosophischen (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, 2; S. 204). Dies hat auch eine geringere Diskursivität des transzendentalpoetischen Romans zur Konsequenz. Es ließe sich sagen, dass das Konzept des pragmatischen Romans die Bildung eines autonomen Systems nach der Seite der moralisch-pädagogischen Wirkung artikuliert (vgl. dazu Kap. 3.3). Damit wird der Behauptung Kremers widersprochen, dass die Autonomieästhetik die „theoretischen Voraussetzungen einer Selbstreferenzialisierung der Literatur“ schaffe (vgl. Kremer, 1993, S. 16). Vielmehr verhält es sich umgekehrt: die Autoreflexivität ist die Voraussetzung für die Entstehung der Autonomieästhetik. Ebenso ist seine Auffassung, dass die Frühromantik die „Reflexion zu einem großen Teil in eine Selbstreflexion des ästhetischen Materials und der künstlerischen Produktion“ verwandle (ebd., S. 17), der literarhistorischen Ungenauigkeit zu zeihen, da dies bereits der philosophische Roman der Spätaufklärung leistet.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ler begründet worden. Moritz bestimmt das Kunstwerk mit Hilfe des Begriffs „des in sich selbst Vollendeten“, wonach es allen äußeren Zwecken, insbesondere etwaigen Nützlichkeitsforderungen entrückt ist und eine „innere Zweckmäßigkeit“ besitzt.38 In dem Aufsatz Die metaphysische Schönheitslinie fasst er seinen Ansatz folgendermaßen zusammen: Die allmähliche Neigung der Gedanken gegen einander, oder die allmähliche Verwandlung der äußern Zweckmäßigkeit in die innre, oder kürzer das in sich selbst Vollendete, scheinet daher der eigentlich leitende Zweck des Künstlers bei seinem Kunstwerke zu sein. Der Künstler muß suchen, den Zweck, der in der Natur immer außer dem Gegenstande liegt, in den Gegenstand selbst zurückzuwälzen, und ihn dadurch in sich vollendet zu machen. Dann sehen wir ein Ganzes, wo wir sonst nichts als abzweckende Teile erblickten. [...] Der Zweck aller dieser Begebenheiten fällt in sie selbst zurück; wir vergessen ihren Zusammenhang mit dem großen Lauf der Dinge, und glauben eine Welt, ein Ganzes von Begebenheiten im Kleinen zu sehen. (Moritz, Werke, Bd. 2, S. 952)

Hier wird deutlich, wie stark Moritz von der spätaufklärerischen Ästhetik beeinflusst war: Wie Blanckenburg und Wezel bestimmt er das Kunstwerk als „eine Welt [...] im Kleinen“ – eine Position, die sich ebenso bei Goethe und Schiller findet. Damit aber stehen sie alle in der Tradition der Leibniz-Wolffschen Theorie der möglichen Welten. Für Schiller ist die Kunst jedoch zugleich – hier zeigt sich der Einfluss Kants und Fichtes – ein ausgezeichnetes „Medium der transzendentalen Selbsterfahrung des Menschen“39, wodurch Schillers Variante der Autonomieästhetik einen anderen Akzent bekommt: Nicht nur genießt bei ihm, in Produktion wie Rezeption des Kunstwerks, die Form gegenüber dem Stoff absolute Priorität, sondern im ästhetischen Zustand erfährt sich der Mensch zudem in der Totalität seiner Vermögen und damit als freies Wesen. Dies bedeutet für Schiller nicht, dass die Kunst sich vollständig von der Mimesis löst; vielmehr ist bei ihm das Kunstwerk zwar eine vollkommen in sich geschlossene ‚kleine Kunstwelt‘, doch zugleich erscheint die ästhetische Produktion als eine Tätigkeit des Geistes, die in innigster Verbindung mit der Natur steht. Allerdings geht es schon bei Schiller nicht mehr um eine Nachahmung der natura naturata, sondern um eine mimetische Fortsetzung der natura naturans durch das Medium des Genies.40 Über seine mimetische Funktion im Rahmen eines organizistischen Weltbegriffs hinaus ist jedoch der transzendentalpoetische Roman um 1800 zugleich Ausdruck spezifischer Subjektivitätskonzepte. Dies überlagert die ontologische Funktion der Autoreflexivität. Parallel zur Etablierung narrativer Konzepte in der Philosophie des Deutschen Idealismus, der sich um die Formulierung einer ‚pragmatischen Geschichte des Selbstbewusstseins‘ bemüht, versuchen die Romanciers um 1800 haltbare Subjektivitätskonzepte zu entwickeln, die mit der avancierten Philosophie Schritt zu halten vermögen. 38

Vgl. etwa Moritz, Werke, Bd. 2, S. 946. Vgl. Engel, 1993, S. 65. 40 Dies ist, wie gegen viele Andere, auch gegen Engel zu sagen, der an dieser Stelle seiner – ansonsten sehr fruchtbaren – Überlegungen keine hinreichende analytische Schärfe an den Tag legt (vgl. ebd., S. 66 f u. 77 f). 39

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

273

Nicht zuletzt aus der Bedeutung, die derlei narrativen Konzepten innerhalb des Deutschen Idealismus zugeschrieben wird, speist sich ihre Überzeugung, dass die literarische Diskursform des Romans den philosophisch argumentierenden Texten mindestens ebenbürtig ist. So wird der Transzendentalroman sowohl als Geschichte des Bewusstseins als auch als adäquate Darstellung des Absoluten zu einer „Fortsetzung und Vollendung der idealistischen Systemprogramme mit anderen – poetischen – Mitteln“41: Gleich ob man den transzendentalpoetischen Roman als „narrative Exposition von Strukturen des Bewußtseins und/oder des […] ‚Absoluten‘“42 auffasst, gleich ob man ihn also subjektivitätsphilosophisch oder ontologisch interpretiert, in beiden Fällen wird die Literatur zum Konkurrenzunternehmen der Philosophie. Anders als im Falle der Spätaufklärer werden daher im Folgenden Kunstphilosophie und Romanpraxis um 1800 nicht am Leitfaden verschiedener disziplinärer Bereiche, sondern vor allem unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: dem formästhetischen (mit seinem Zielpunkt des Kunstwerks als autoreflexiven Organismus) und dem gehaltsästhetischen, bei dem das Kunstwerk als Ausdruck eines spezifischen Subjektivitätskonzepts verstanden wird. Dieser Interpretationsansatz folgt aus der These, dass es sich bei der die transzendentalpoetischen Romane charakterisierenden Autoreflexivität zweiter Stufe um eine formale oder erzähltechnische Autoreflexivität handelt, während der philosophische Roman der Spätaufklärung vor allem durch eine materiale Autoreflexivität gekennzeichnet ist, die nicht ohne eine eingehende Analyse seines diskursiven Gehaltes dargestellt werden konnte. Entsprechend werden wir die transzendentalpoetischen Romane um 1800 unter den Aspekten der Autoreflexivität, der organizistischen Welt- und Kunstauffassung sowie des realdialektischen Verhältnisses zwischen Subjektivem und Objektivem betrachten, wobei auch den transzendentalpoetischen Romanen eine mimetische Funktion zugeschrieben und die Literatur um 1800 in einer engen Beziehung zu den ontologischen Modellen der Achsenzeit betrachtet wird (vgl. Kap. 2.2.4). Sodann wird der transzendentalpoetische Roman als Ausdruck spezifischer Subjektivitätskonzepte analysiert und untersucht, inwieweit es gerechtfertigt ist, von einem Radikalisierungsprozess zu sprechen, in dessen Zuge sich aus dem Bildungs- der Identitätsroman entwickelt (vgl. Kap. 2.2.5). Unter beiden Aspekten gilt es zu prüfen, inwieweit die Literatur zu Recht den Anspruch erheben kann, sich als Ersatzmetaphysik zu verstehen. Wie man sich diese Auffassung der Kunst als der metaphysischen Tätigkeit κατ εξοχην genauer zu denken hat, lässt sich aber nur verstehen, wenn man die in einem Begründungszusammenhang mit der Ästhetik stehende Metaphysik qua Ontologie einer näheren Untersuchung unterwirft. Nur dadurch wird das Konzept der Transzendentalpoesie begreiflich, auch wenn man sich damit auf ein Abstraktionsniveau begibt, das die konkreten Probleme der Ästhetik und Romantheorie kaum zu berühren 41 42

Vgl. ebd., S. 466. Ebd., S. 9.

274

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

scheint. Doch wird sich zeigen, dass allein auf diesem Umweg die ebenfalls sehr abstrakten Ausführungen der Frühromantiker zur Kunst jene philosophische Grundlegung erhalten, die für die poetologische Konkretisierung der Rede von der Kunst als metaphysischer Tätigkeit erforderlich ist. Deshalb werden wir, ehe wir uns den transzendentalpoetischen Romanen um 1800 zuwenden, die metaphysischen Konzepte der romantischen und idealistischen Philosophie darlegen (Kap. 2.2.243) und sodann (in Kap. 2.2.3) auf das Konzept der Transzendentalpoesie eingehen. Das Kapitel 2.2.6 fasst die Ergebnisse dieses Abschnitts zusammen. Dass nun aber Jean Paul in unserer Untersuchung als Hauptvertreter der Transzendentalpoesie betrachtet wird, mag den Ununterrichteten überraschen, wird sich jedoch im Gang der Interpretation mehr und mehr begründen. Ausgeklammert werden hingegen nicht nur die Lucinde von Friedrich Schlegel und der Heinrich von Ofterdingen von Novalis, sondern auch der Wilhelm Meister Goethes. Diese Textauswahl hat nicht allein ökonomische Gründe: Während die Lucinde und der Ofterdingen – wie auch Tiecks Sternbalds Wanderungen – bereits auf den Typus des Künstlerromans vorausweisen und damit ein nochmals neues Feld eröffnen, lassen sich Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zwar ebenfalls als „Übergangswerk zwischen dem anthropologischen Roman und dem neuen Genre des Transzendentalromans“ deuten, zugleich aber geht es im Wilhelm Meister „weniger um eine theoretische Lösung des Grundkonflikts zwischen Subjekt und Objekt“44 als vielmehr um die „Einheit von Natur und Geist, Kausalität und Freiheit“ im Rahmen einer – bereits religiös anmutenden – Begründung von Weltvertrauen45. Dies jedoch sind Themen, die den Rahmen dieser Untersuchung endgültig sprengten. Neben den Romanen Jean Pauls werden Ludwig Tiecks William Lovell, die Nachtwachen Bonaventuras sowie der Kater Murr E.T.A. Hoffmanns behandelt. Friedrich Schlegel und Novalis werden hingegen nur als Theoretiker berücksichtigt. Ihnen gesellen sich von Seiten der Philosophie insbesondere Schelling und Schopenhauer, während Hegels Reflexionen nur gestreift werden. Es ist aber zu betonen, dass wir auf Philosophie und Literatur um 1800 ‚nur‘ aus der Perspektive der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge des 18. Jahrhunderts blicken. Daher stehen im Folgenden fünf Aspekte im Zentrum unseres Interesses: 1) das kritische Verhältnis der Frühromantiker und Deutschen Idealisten zur begrifflichen Metaphysik – mit der Konsequenz, dass die Kunst als Ersatzmetaphysik aufgefasst wird; 2) die Veränderung des pragmatischen Paradigmas, die vom skeptizistischen Pragmatismus der Spätaufklärer zur pragmatischen Metaphysik und Subjektphilosophie um 1800 führt; 43

44 45

Dabei sollte klar sein, dass die spekulative Philosophie um 1800 – in Form einer realdialektischen und hermeneutischen Metaphysik – in keiner Weise erschöpfend, sondern nur im Hinblick auf die kunstmetaphysische resp. romantheoretische Problematik betrachtet wird. Engel, 1993, S. 316. Vgl. ebd., S. 318.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

275

3) die Autoreflexivität erster Stufe im philosophischen Roman als Modell der Autoreflexivität zweiter Stufe in den transzendentalpoetischen Romanen und deren mimetische Funktion im Rahmen einer organizistischen Welt- und Kunstauffassung; 4) die ontologischen und moralphilosophischen Voraussetzungen der Autonomieästhetik und die Rolle des philosophischen Romans der Spätaufklärung; 5) die Bedeutung narrativer Konzepte in der Philosophie und Literatur um 1800 und die Gründe für die Präferenz der Romantiker für die Diskursform des Romans – im Vergleich zu den Gründen für die Diskurswahl der literarischen Spätaufklärer. Ohne die Ergebnisse der Untersuchung vorwegnehmen zu wollen, kann an dieser Stelle bereits so viel gesagt werden, dass sowohl das pragmatische Paradigma der Spätaufklärung als auch das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie und die idealistischen Systementwürfe – wie im Übrigen auch die Bildungsbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts46 – gleichermaßen als potenzierte Aufklärung aufgefasst werden können. In diesem Unternehmen einer Selbstaufklärung der Aufklärung, die an der Überwindung ihrer eigenen Einseitigkeiten arbeitet, vereinigen sich Spätaufklärung und Frühromantik sowie die nachkantische Philosophie, die darum in eine Kontinuität zu stellen und einer Tradition der anderen Vernunft zuzuordnen durchaus berechtigt scheint. Dies gilt trotz der wortreichen Abwertung der Aufklärung durch Jean Paul47, Novalis48, Friedrich49 und August Wilhelm Schlegel50. Vielmehr ist gegen diese Kritik, die der Profilierung einer neuen Intellektuellengeneration gegenüber ihren Vorläufern dient, festzustellen, dass die Generation um 1800 auf vielfältige Weise von der Aufklärung beeinflusst ist. Ihre Kritik ist also im Grunde eine Selbstkritik der Aufklärung. Diese aber findet mindestens bereits in der Spätphase der Aufklärung statt, die durch die „Tendenz, den Anspruch und die Forderungen der Vernunft über sich selbst aufzuklären“, charakterisiert ist51. Insofern die ständige Auseinandersetzung mit 46 47 48

49

50 51

Zum Verhältnis von Aufklärung und Bildungsbewegung vgl. Ulrichs, 2011. Bei Jean Paul werden die literarischen Aufklärer als „poetische Materialisten“ kritisiert. Vgl. dazu Schings, 1980, S. 263. Als ein Beleg unter vielen sei die Auffassung des Novalis zitiert, dass das moderne Zeitalter der Aufklärung die Welt „zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle [mache], die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey“ (NO 3, S. 515) Bei Friedrich Schlegel erscheinen die Aufklärer als „Virtuosen der goldnen Mittelmäßigkeit“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 102). Pikulik spricht zu Recht davon, dass eines von Schlegels Hauptanliegen die Kritik an der „seichten Aufklärung“ und deren Wirkung, der ‚Entzauberung der Welt‘, sei (vgl. Pikulik, 1992, S. 21). So macht A.W. Schlegel der aufklärerischen Wahrheitssuche den Vorwurf der Inkonsequenz und Halbheit (vgl. Pikulik, 1992, S. 23). Vgl. Kurz, 1988, S. 259. Kurz weist darauf hin, dass bereits für Wieland höchste Verfeinerung und äußerste Verderbnis reziproke Phänomene innerhalb einer Dialektik der Aufklärung waren und entsprechend die „Epoche der höchsten Aufklärung“ bei ihm als diejenige erscheint, worin „alle Arten von Spekulation, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei am stärksten im Schwange gingen“ (vgl. ebd., S. 261 f).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

der Aufklärung zum Selbstverständnis des Deutschen Idealismus und von Klassik und Romantik gehört, stehen diese demnach „in der Kontinuität der Selbstkritik der Aufklärung“.52 Unter Bezug auf Hölderlins Begriff der „höheren Aufklärung“53 stimmt auch Vietta dieser Diagnose zu, wobei die Romantik gerade deshalb als Selbstkritik der Aufklärung aufzufassen sei, weil sie den Versuch unternehme, „den Geltungsanspruch der absoluten und systematischen Vernunft“ und „die Tendenz zur gottgleichen Absolutsetzung des setzenden Subjekts“ durch den „Hinweis auf die Endlichkeit des Ich, die Rezeptivität des Denkens, die Bedeutung des Herzens und des Gefühls, die Vermitteltheit des Menschen durch Natur und das ihn umgebende Universum“ einzuschränken.54 Dies sei jedoch in der europäischen Aufklärung bereits vorgezeichnet.55 Pikulik schließlich bestimmt Aufklärung bündig als eine „progressive Bewußtseinserweiterung“.56 Dabei sei der „konventionelle[n] Aufklärung des 18. Jahrhunderts“ i.S. einer Bewusstseinsaufklärung „eine andere Aufklärung“ i.S. einer „Aufklärung des ‚Anderen‘“ an die Seite zu stellen.57 Insofern er eine solche Aufklärung wiederum als „Gang ins Unbewußte“ bestimmt, der vor allem in der Poesie unternommen werde, erscheint die „Romantik als Aufklärung sui generis, die durch Philosophie und Wissenschaft, also begriffsorientierte Disziplinen nicht ersetzbar ist“.58 Während für Neumann vor allem Jean Paul und E.T.A. Hoffmann die Hauptvertreter einer derart radikalisierten Aufklärung sind59, stellen für Brinkmann die Nachtwachen Bonaventuras den Schlüsseltext für diese zunehmend nihilistische Aufklärung dar. Für ihn sind die Nachtwachen nicht nur „Summe der Kehrseite der Frühromantik“, sondern zugleich „Summe“ ihrer Zeit60 – dies aber gerade deshalb, weil sie eine „potenzierte Aufklärung“ darstellten: Das ganze Geschäft dieses Nachtwächters also heißt Aufklärung [...] – so etwas wie potenzierte Aufklärung: dieser Mann klärt auch über die Aufklärung noch auf. [...] Dieser Mann ist 61 Aufklärer und zugleich ihr schärfster Gegner.

Eines der zentralen Ziele der folgenden Analysen ist es zu zeigen, dass sich dies letztlich über alle hier verhandelten Texte sagen lässt. 52 53 54 55 56 57 58 59

60 61

Ebd., S. 262 f. Vgl. Hölderlin, 1943 ff, Bd. 4, S. 277. Vgl. Vietta, Silvio: „Frühromantik und Aufklärung“, in: Vietta (Hrsg.), 1983), S. 48. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Pikulik, 1997, S. 87. Ebd., S. 81. Ebd., S. 89 f. Vgl. Neumann, 1997, S. 109, wo er das ‚serapiontische Prinzip‘ E.T.A. Hoffmanns als eine spezifisch romantische Aufklärung beschreibt, die zum einen dem „Prinzip der Bezauberung durch das Phantastische, Dunkle und Rätselhafte“, zum andern dem „Prinzip einer Aufhellung des bisher Unsichtbaren (namentlich aber der psychischen Realität) durch die Sonde einer exakten und schonungslosen Beobachtungswissenschaft“ folgt. Laut Neumann kommt Jean Paul eine „Schlüsselrolle [...] für diese Begründung und Ausbildung einer ‚Romantik als Aufklärung‘“ zu (ebd., S. 110). Vgl. Brinkmann, 1966, S. 137 u. 153. Ebd., S. 149 f.

2.2.2 Der Weltorganismus. Eine neue Metaphysik auf kritischen Grundlagen Ist es aber erlaubt, also von dergleichen Dingen zu reden, so möchte man vielleicht sagen, daß Gott wohl die ganze Natur oder die ganze Welt auf ähnliche Art, wie wir ein Kunstwerk, anse1 hen möge.

Mit guten Gründen lässt sich behaupten, dass die Deutschen Idealisten in dem Bemühen um eine Restituierung der Metaphysik vielfach auf Ansätze der klassischen Metaphysik zurückgreifen, ohne hinter die Errungenschaften Kants zurückfallen zu wollen. Im Zentrum dieser Bemühungen steht die Übertragung des Organismuskonzepts auf das Universum. Wenn man einmal davon absieht, dass Schelling bereits in der alten Vorstellung von der ‚Weltseele‘ das Organismuskonzept angedeutet sah2, ist hier neben Spinozas Konzeption3 vor allem die Monadologie von Leibniz zu nennen. In ihr meinten die Idealisten eine Philosophie zu identifizieren, die zum einen eine Theorie von der Substanz als Subjekt beinhalte, zum andern mit ihrem Repräsentationsmodell die Vorform einer organizistischen Ontologie darstelle.4 Ohne hier auf Leibniz gebührend eingehen zu können, kann es als Grundproblem der Monadologie bezeichnet werden, dass einerseits die Monade eine eigenständige Substanz darstellen soll, die als unum per se fensterlos ist und sich allein aus einem inneren Prinzip verändert, andererseits ein offenes System sei, das als „lebendiger Spiegel“ alle

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Wackenroder, 1991, Bd. 1, S. 69. Vgl. etwa Schelling, Werke, Bd. 3, S. 109 ff. oder Bd. 1, S. 704. Ansätze einer solchen organizistischen Metaphysik finden sich bereits bei Aristoteles, Nikolaus von Kues und Giordano Bruno. Die Spinozistische Philosophie hatte nicht nur wegen ihrer Unterscheidung von natura naturans und natura naturata, die Spinoza aus der spätscholastischen Philosophie entnahm und die für die Auffassung der Natur als Produktivität im objektiven Idealismus grundlegend wurde, sondern vor allem mit ihrer systematischen Ausführung der aus dem Neuplatonismus überkommenen Alleinheitslehre auf die Deutschen Idealisten einen kaum zu überschätzenden Einfluss. Am Ende dieser Entwicklung, die mit Jacobi und dem Pantheismusstreit begann, stand eine Auffassung des Absoluten als einer autoreflexiv verfassten Struktur, wie sie Schelling und Hegel beschreiben. Allerdings entwirft Hegel mit seinem ‚absoluten Idealismus‘ eine Theorie, die – als spekulative Philosophie des Geistes – in einem radikalen Gegensatz zum pragmatischen Paradigma mit seiner Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität steht und das Verhältnis des Mentalen zum Materiellen wiederum umkehrt. So hält Leibniz dafür, dass „alle Materie vor allem organisch ist und daß jeder beliebige kleine Ausschnitt, auf den man sie zusammendrängt, stellvertretend kraft der wirklichen Verminderung zum Unendlichen, das sie einschließt, die wirkliche Erweiterung zum Unendlichen enthält, das außerhalb ihrer im Universum ist, das heißt, daß jeder kleine Ausschnitt auf unendlich viele Weise einen lebendigen Spiegel enthält, der das ganze unendliche Universum, das mit ihm existiert, ausdrückt.“ (Leibniz, 1965, S. 379)

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anderen Monaden, ja, das gesamte Universum widerspiegelt.5 Soll aber ein infiniter Verweisungszusammenhang vermieden werden, kann die Monade nicht nur ein solcher Spiegel, sondern muss auch etwas an sich selbst sein. Aus diesem Dilemma kann die Organismustheorie einen Ausweg bieten, die sich in Leibnizens ‚Einschachtelungsthese‘ bereits andeutet. Danach sind in der Welt vom Größten bis ins Kleinste auf unendliche Weise organismische Strukturen ineinander geschachtelt.6 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Wiederholung ad infinitum, sondern um eine hierarchische Ordnung, die den ontischen Reichtum der Welt maximiert.7 Mit dieser Vorstellung hatte Leibniz den stärksten Einfluss auf die Organismustheorien um 1800, in denen der einzelne Organismus ebenfalls als ein Spiegel des Universums aufgefasst wurde.8 Trotz dieser Beeinflussung der Deutschen Idealisten durch Spinoza und Leibniz ist jedoch der Metaphysikbegriff, der um 1800 entwickelt wurde, ein vollkommen anderer als derjenige der klassischen Metaphysik. Diese Konzeption zeigt sich nämlich dadurch geprägt, dass sie auf die Prätention von ‚Wissenschaftlichkeit‘, also auf den alten Anspruch der Metaphysik auf ‚apodiktische Gewissheit‘ verzichtet9 und sich als eine hermeneutische Theorie versteht, die sich zugleich aus empirischen Erkenntnisquellen speist: Mein Zweck ist vielmehr, die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anderes als Naturwissenschaft. Es ist wahr, dass uns Chemie die Elemente, Physik die Sylben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, dass es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen. (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 658)

Obwohl ein derartiger Metaphysikbegriff das kritische Unternehmen Kants voraussetzt, werden gleichzeitig die Kantischen Restriktionen in doppelter Weise überschritten: Einerseits soll es sich nicht um eine bloß formale Metaphysik aus Begriffen a priori

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Vgl. Rutherford, 1995a, S. 136: „Since every organic body is affected by the entire universe through relations which are determinate with respect to each part of the universe, it is not surprising that the soul, which represents to itself the rest in accordance with the relations of its body, is a kind of mirror of the universe, which represents the rest in accordance with (so to speak) its point of view – just as the same city presents, to a person who looks at it from various sides, projections which are quite different.“ Vgl. Leibniz, 1979, §§ 66-69. So ist jede Monade zwar eine Welt für sich, befindet sich aber durch ihre wechselseitigen Perzeptionen in vielfältigen intermonadischen Relationen, deren universelle Harmonie jedoch nur der göttliche Geist zu erkennen vermag (vgl. Rutherford, 1995a, S. 149 f). Erst ein solcher „Panorganismus“ könne, so Leibniz, erklären, inwiefern wir uns in der besten der Welten befinden, in der eine universelle Harmonie genau in dem Sinne herrscht, dass nur in ihr eine perfekte Koordination der Perzeptionen aller Monaden bzw. ein Maximum an Kompossibilität gewährleistet ist (vgl. Rutherford, 1995b, S. 229 f). Für Leibniz konstituiert eine Mehrzahl von Monaden nur dann einen Organismus als unum per se, wenn sie durch ein substantielles Band vereinigt sind – sonst ist es ein bloßes Aggregat (vgl. Rutherford, 1995a, S. 161). Klar ausgedrückt wird dies von Schopenhauer (vgl. Werke, Bd. 2, S. 211); es gilt aber auch für Schelling.

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handeln, andererseits soll in ihr die Vernunftidee von der Einheit und Totalität der Natur in einer Weise realisiert werden, die über deren regulativen Gebrauch hinausgeht. Um zu verstehen, was ein solcher spekulativer Ansatz im Einzelnen bedeutet, wollen wir die philosophischen Systeme Schellings und Schopenhauers genauer betrachten. Dabei greifen wir auf Schopenhauer, der ja bereits am äußersten Ende der ‚Achsenzeit‘ steht, vor allem deshalb zurück, weil dessen Philosophie gegenüber derjenigen Schellings den Vorteil der größeren Klarheit und argumentativen Stringenz bietet. Dennoch soll der Rückgriff auf Schopenhauer in erster Linie dazu dienen, das spekulative Denken des jungen Schelling als des Hauptvertreters der romantischen Philosophie besser zu verstehen. Damit wollen wir nicht behaupten, dass sich die philosophischen Systeme Schellings und Schopenhauers einfachhin identifizieren ließen; es wird sich aber zeigen, dass sowohl ihr Metaphysikbegriff als auch der Grundansatz ihrer spekulativen Theorien einander so ähnlich sind, dass das Unterfangen, beide Philosophien sich wechselseitig erhellen zu lassen, zu fruchtbaren Ergebnissen führt. In Absetzung vom formalen Metaphysikbegriff Kants bestimmt Schopenhauer seine Metaphysik als eine „aus empirischen Erkenntnisquellen“ oder als die „Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt“10, insofern sie beständig auf die Ergebnisse der positiven Wissenschaften zurückgreift. Anders aber als diese, zu denen sie daher auch nicht in ein Konkurrenzverhältnis trete, versucht sie laut Schopenhauer keine dem Satz vom Grunde folgenden Erklärungen zu geben, sondern bemüht sich um eine Auslegung dessen, was die Erfahrung insgesamt (inklusive der empirischen Wissenschaften) an Daten zur Verfügung stellt: sie bleibt also trotz ihrer empirischen Orientierung eine hermeneutische Wissenschaft, die es zudem nicht mit Einzelproblemen zu tun hat, sondern auf das Ganze einer umfassenden Weltinterpretation geht. Dafür steht die Metapher vom „Buch der Natur“, dessen Schrift wir zu lesen und zu deuten lernen müssen.11 Mit der Orientierung an der Empirie ist zugleich der Verzicht auf den Anspruch der vorkritischen Metaphysik auf apodiktische Gewissheit verbunden: Schopenhauer glaubte keineswegs, mit seiner Willensmetaphysik die letzten Welträtsel gelöst zu haben; vielmehr verstand er seine Philosophie als eine der Immanenz, die sich innerhalb des Relationsgefüges von Erscheinung und Ding an sich bewege.12

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Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 210; vgl. auch ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 212: „Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst GEDEUTET, AUSGELEGT werden können.“ Vgl. Schopenhauer, 1978, S. 291: „Meine Philosophie redet nie von Wolkenkukuksheim, sondern von dieser Welt, d.h. sie ist immanent, nicht transcendent. Sie liest die vorliegende Welt ab wie eine Hieroglyphentafel (deren Schlüssel ich gefunden habe, im Willen) und zeigt ihren Zusammenhang durchweg. Sie lehrt, was die Erscheinung sei, und was das Ding an sich. Dieses aber ist Ding an sich blos relativ, d.h. in seinem Verhältniß zur Erscheinung: – und diese ist Erscheinung bloß in ihrer Relation zum Ding an sich. Außerdem ist sie ein Gehirnphänomen. Was aber das Ding an sich

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Nicht wesentlich anders formuliert der frühe Schelling seinen Metaphysikbegriff. Auch er hält die Sphäre der Erfahrung für unübersteiglich13 und versteht seine Naturphilosophie als eine hermeneutische Ergänzung der Naturwissenschaft, deren Eigenrecht er nirgends bestreitet. Demnach tritt für Schelling die metaphysische Betrachtungsweise, die er später auch als die ‚vertikal‘ ausgerichtete „absolute Erkenntnisart“ bezeichnet, niemals in Konkurrenz zur ‚horizontal‘ vorgehenden Betrachtungsart der positiven Wissenschaften.14 Allerdings erwecken manche Textpassagen den Eindruck, dass Schelling seine Philosophie der Natur als der positiven Wissenschaft grundsätzlich überlegen ansieht. So meint er, dass nur sein eigener Naturbegriff den dynamischen und organischen Phänomenen angemessen sei, während die mechanistische Naturwissenschaft seiner Zeit auf diesen Gebieten versagen müsse.15 Als eine solche hermeneutische und gleichwohl auf empirischen Erkenntnisquellen beruhende Metaphysik sind die philosophischen Systeme Schellings und Schopenhauers dialektisch verfasst. D.h. sie gehen in den beiden Betrachtungsrichtungen vom Menschen zur Natur und von der Natur zum Menschen vor. Damit entsprechen sie der antinomischen Struktur dessen, was Henrich das „Grundverhältnis“ genannt hat.16 Mit diesem Grundverhältnis ist die von jedermann mehr oder minder deutlich zu machende Erfahrung gemeint, dass sich der Mensch als Subjekt und damit als tragender Mittelpunkt seiner Welt begreift und zugleich als eine einzelne Person unter vielen anderen – d.h. sowohl unter anderen Personen, die sich gleichermaßen als Subjekte auffassen, als auch unter einem Viel anderer Entitäten –, als ein Einzelner also, der innerhalb der eigenen Spezies und erst recht im Weltganzen eine bloß verschwindende Bedeutung hat.17 Das Grundverhältnis kann somit als genau jene ‚Urerfahrung‘ bezeichnet werden, die hinter jeder in diesem Sinne dialektischen Metaphysik steht. Denn der Gegensatz der beiden Selbstverhältnisse als Subjekt und Person ist nicht ohne Weiteres aufzulösen und verlangt daher nach einer Deutung. Diese Deutung muss entsprechend der

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außerhalb jener Relation sei, habe ich nie gesagt, weil ich’s nicht weiß: in derselben aber ist’s Wille zum Leben.“ Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 278: „Wir wissen nicht nur dieß oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen.“ Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 124, wo er das Grundprinzip der empirischen Wissenschaften folgendermaßen beschreibt: „Jedes einzelne Seyn ist bestimmt durch ein anderes einzelnes Seyn, welches gleichfalls wieder durch anderes einzelnes Seyn bestimmt ist, u.s.f. ins Endlose.“ Dies führt laut Schelling auf den Begriff der empirischen Unendlichkeit, wobei das Kausalgesetz als „der höchste Ausdruck der Negation, des Nichtseyns der einzelnen Dinge“ bestimmt wird (vgl. Erg.Bd. 1, S. 392 ff). Solche Textpassagen finden sich in nahezu allen naturphilosophischen Schriften Schellings, insbes. in den späteren aus der Phase der Identitätsphilosophie. Vgl. hierzu Henrich, 1982, v.a. S. 20 f, 91 f sowie 154 f. Eine eindrückliche Schilderung dieses Sachverhaltes findet sich bei Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 11 ff.

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antinomischen Struktur der Grunderfahrung ebenfalls in zwei Richtungen erfolgen: Sie muss zum einen den Sachverhalt auslegen, dass die gesamte Welt in meinem Kopfe ist, also vom (‚ideellen‘) Subjekt ausgehend zu dem gelangen, was für dieses Subjekt ist (die Gesamtheit der Natur als Objekt), zum anderen aber eine Interpretation des Umstands leisten, dass dieser Kopf, in dem sich die ganze Welt darstellt, wiederum in der Welt ist und von der Natur in irgendeiner Form hervorgebracht wurde, d.h. vom (‚reellen‘) Objekt ausgehend zu dem fortschreiten, was in dieser Hinsicht zwar ebenfalls ein Objekt unter anderen ist, aber die besondere Eigenschaft hat, Träger eines erkennenden und handelnden Subjekts zu sein: zur Person: Wenn es nun Aufgabe der Transcendentalphilosophie ist, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären: beide Wissenschaften sind also Eine, nur durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Auf18 gaben sich unterscheidende Wissenschaft.

Diese Deutung muss desweiteren eine metaphysische sein, wenn Metaphysik diejenige Wissenschaft ist, die auf das Ganze des Seins und seinen Grund geht, und sie muss sich als eine spekulative erweisen, insofern Spekulation ursprünglich so viel heißt wie eine Übersicht über das Ganze zu erlangen.19 Was hiermit in Frage steht, ist nichts Geringeres als eine Bestimmung der „Stellung des Menschen im Kosmos“20, wie dies die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts genannt hat. Das aber heißt, dass zugleich und in eins mit einer Klärung der Begriffe von Subjekt und Person ein Weltbzw. Naturbegriff entwickelt werden muss, der nicht derjenige der empirischen Wissen-

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Schelling, Werke, Bd. 2, S. 272. Vgl. hierzu auch § 1 des Systems des trancendentalen Idealismus und §§ 1-4 der Einleitung zu einem ersten Entwurf der Naturphilosophie. In demselben Sinne schreibt Schopenhauer: „Es giebt zwei von Grund auf verschiedene Betrachtungsweisen des Intellekts, welche auf der Verschiedenheit des Standpunkts beruhen und, so sehr sie auch, in Folge dieser, einander entgegengesetzt sind, dennoch in Übereinstimmung gebracht werden müssen. – Die eine ist die subjektive, welche, von innen ausgehend und das Bewußtseyn als das Gegebene nehmend, uns darlegt, durch welchen Mechanismus in demselben die Welt sich darstellt, und wie aus den Materialien, welche Sinne und Verstand liefern, sie sich darin aufbaut. (...) Die dieser entgegengesetzte Betrachtungsweise des Intellekts ist die objektive, welche von aussen anhebt, nicht das eigene Bewußtseyn, sondern die in der äußern Erfahrung gegebenen, sich ihrer selbst und der Welt bewußten Wesen zu ihrem Gegenstande nimmt, und nun untersucht, welches Verhältniß der Intellekt derselben zu ihren übrigen Eigenschaften hat, wodurch er möglich, wodurch er nothwendig geworden, und was er ihnen leistet. Der Standpunkt dieser Betrachtungsweise ist der empirische: sie nimmt die Welt und die darin vorhandenen thierischen Wesen als schlechthin gegeben, indem sie von ihnen ausgeht.“ (Werke, Bd. 2, S. 316 f). Diese doppelte Betrachtungsweise lässt sich auch in der von Novalis als ‚Umkehrungsmethode‘ bezeichneten Verfahrensweise wiedererkennen, „die uns beim Studium der Natur auf uns selbst, auf innere Beobachtung und Versuch, und beim Studium unserer Selbst, auf die Außenwelt, auf äußre Beobachtungen und Versuche verweist“ (vgl. NO 3, S. 429). Vgl. Henrich, 1999, S. 94 f. So auch der Titel des einflussreichen Hauptwerks von Max Scheler.

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schaften (oder der Kantische in der Kritik der reinen Vernunft) ist, da er den Menschen als Subjekt und Person einbeziehen soll.21 Schelling und Schopenhauer führen nun diese doppelte Betrachtungsweise in ihrer Metaphysik konsequent durch. Gemäß ihrer idealistischen Grundausrichtung wird sie zunächst im Bereich der Erkenntnistheorie erprobt, in der sie sich als antinomischer Gegensatz von transzendentalem Idealismus und – letztlich zum Materialismus führenden – Realismus offenbart. Diese Antinomie bezeichnet der junge Schelling als „die einfachste, begreiflichste – ursprünglichste Antithese aller philosophierenden Vernunft“ (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 262): Wer über Idealismus und Realismus, die beiden widersprechendsten theoretischen Systeme, nachgedacht hat, fand von selbst, daß beide nur in der Annäherung zum Absoluten stattfinden konnten, daß sie aber beide im Absoluten vereinigt, d.h. als widersprechende Systeme aufhören müssen. [...] Man unterscheidet Idealismus und Realismus in objektiven und subjektiven. Objektiver Realismus ist subjektiver Idealismus, und objektiver Idealismus ist subjektiver Realismus. Diese Unterscheidung muß wegfallen, sobald der Widerstreit zwischen Subjekt und Objekt wegfällt, sobald ich nicht mehr das, was ich ins Objekt real, in mich selbst nur ideal, und was in mich real, ins Objekt nur ideal setze, kurz, sobald Objekt und Subjekt identisch sind. (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 254)22

Auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie ist die Antinomie für Schelling und Schopenhauer jedoch unauflöslich. Hier erscheint ihnen allein die idealistische Option durchführbar: Der Idealismus, wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein ebenso leeres und abgezogenes System, als das Leibnizische, Spinozische, oder irgend ein anderes dogmatisches. [...] Idealismus ist Seele der Philosophie, Realismus ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus. Nie kann der letzte das Princip hergeben, aber er muß Grund und Mittel seyn, worin jener sich verwirklicht, Fleisch und Blut annimmt. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 248)23

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In Schellings Worten bedeutet dies, ein „System der Freiheit“ zu entwickeln, d.h. einen Naturbegriff zu formulieren, der die Freiheit des Menschen genau dadurch bewahrt, dass in ihm der Mensch als Subjekt und Person berücksichtigt wird (vgl. dazu: Schelling, Werke, Bd. 3, S. 376). Wie hier nicht weiter gezeigt werden kann, leistet solches ebenso wenig die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik. In ähnlicher Weise fordert Novalis eine Philosophie des ‚Synkritizismus‘, die Realismus und Idealismus vereinigen soll (vgl. NO 3, S. 333) Dabei gibt er an anderer Stelle zu bedenken: „Der Idealismus sollte nicht dem Realism entgegengesezt werden, sondern der Formalism.“ (NO 3, S. 364) Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich bei Schelling – seinem Übernamen eines „Proteus der Philosophie“ alle Ehren machend – auch Textpassagen finden, in denen er der (realistisch orientierten) Naturphilosophie die Priorität vor der (idealistischen) Transzendentalphilosophie zuschreibt. Vgl. z.B. Werke, Bd. 2, S. 726: „Mehrere haben, weil von Natur- und Transcendentalphilosophie als entgegengesetzten gleich möglichen Richtungen der Philosophie die Rede war, gefragt, welcher von beiden denn die Priorität zukomme. – Ohne Zweifel der Naturphilosophie, weil diese den Standpunkt des Idealismus selbst erst entstehen läßt und ihm dadurch eine sichere, rein theoretische Grundlage verschafft. Indeß ist der Gegensatz zwischen Naturphilosophie

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Dies hat in ihren Augen zur Konsequenz, dass die legitimen Ansprüche der realistischen Theorie24 nicht innerhalb der Erkenntnistheorie, sondern nur im Rahmen der Metaphysik zu erfüllen sind.25 Denn zwar wird durch die Darstellung der „Antinomie in unserem Erkenntnißvermögen“26 die Einführung einer dialektischen Grundstruktur in das spekulative Denken erreicht, doch erweist sich diese Antinomie, indem sie in der Metaphysik als dialektisches Verhältnis von transzendentalem Idealismus und metaphysischem Realismus wiederkehrt, auf erkenntnistheoretischem Gebiet als Missverständnis.27 Obwohl sie aus logischen Gründen die idealistische Option bevorzugten, da nur diese eine stringente Ableitung zu geben vermöchte, billigten Schelling und Schopenhauer der realistischen bzw. materialistischen Option auch als einer Theorie der Erkenntnis eine gewisse Legitimität zu. Hierfür hatte Fichte die Vorgabe geleistet, indem er erstmals die beiden Grundoptionen von (kritischem) Idealismus und (dogmatischem) Realismus in voller Schärfe gegeneinander stellte; sein Lösungsvorschlag, wonach es sich letztlich um eine existentielle Entscheidung zwischen zwei Weisen des menschlichen Selbstverständnisses handle, konnte seine Nachfolger jedoch nicht befriedigen.28 Zu-

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und Idealismus dem, welcher bisher zwischen theoretischer und praktischer Philosophie gedacht wurde, gleich zu schätzen.“ Wie Spierling zeigt, findet sich auch beim späteren Schopenhauer (im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung) eine starke Betonung der realistischen bzw. materialistischen Option; diese „Physiologie der Erkenntnis“ soll den transzendentalidealistischen Ansatz ergänzen. Dennoch behalten unsere Ausführungen zur Haltung Schellings und Schopenhauers zur Antinomie von Realismus und Idealismus ihre Berechtigung. Diese Ansprüche speisen sich einerseits, so Schelling, aus dem „Gefühl des Zwangs“ bzw. der Rezeptivität (vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 343 u. 346), andererseits, so Schopenhauer, aus dem intuitiven „innere[n] Widerstreben [..], mit welchem er [= jeder Mensch] die Welt als seine bloße Vorstellung annimmt“ (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 32). Dies letztere gilt, so Schopenhauer, besonders für die eigene Leibeserfahrung (vgl. dazu Schopenhauer, HN, Bd. 1, S. 170). Vgl. hierzu Schelling, Werke, Bd. 1, S. 717: „Bestimmen wir [..] die Philosophie im Ganzen nach dem, worin sie alles anschaut und darstellt, dem absoluten Erkenntnisakt, von welchem auch die Natur nur wieder die eine Seite ist, der Idee aller Ideen, so ist sie Idealismus. Idealismus ist und bleibt daher alle Philosophie, und nur unter sich begreift dieser wieder Realismus und Idealismus, nur daß jener erste absolute Idealismus nicht mit diesem andern, welcher bloß relativer Art ist, verwechselt werde. [...] Die Naturphilosophie geht dem Idealismus nicht voran, noch ist sie ihm auf irgend eine Weise entgegengesetzt, sofern er absoluter, wohl aber sofern er relativer Idealismus ist.“ Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 65 sowie die vorangehenden Ausführungen (ebd., S. 58 ff). Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 156. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Novalis, der die These vom „vollst[ändigen] Zusammentreffen des Idealism und Realism“ (NO 3, S. 382) vertritt: „Der Idealist muß, um direct für den Idealism zu arbeiten, den Realism zu beweisen suchen – und umgekehrt. [...] Will er den Idealism direct beweisen, so kommt er auf 0. – i.e. dreht sich immer im Zirckel – oder besser, er bleibt auf Einem Flecke – Aller Beweis geht aufs Entgegengesezte. / Alles ist demonstrabel = alles ist antinomisch. / Es giebt eine Sfäre, wo jeder Beweis ein Zirckel – oder ein Irrthum – wo nichts demonstrabel ist – dies ist die Sfäre der gebildeten goldnen Zeit.“ (NO 3, S. 384) Vgl. Fichte, Bd. 3, S. 16 f. Auch der junge Schelling vertritt noch diese ‚existentialistische‘ Position: In den Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795) sagt er von Idealis-

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gleich aber versucht bereits Fichte die systematischen Gründe jener Dialektik darzulegen.29 So schreibt er im Sonnenklaren Bericht: Das Ich des wirklichen Bewußtseins ist allerdings auch ein besonderes und abgetrenntes: es ist eine Person unter mehreren Personen, welche insgesamt, jeder für sich, sich gleichfalls Ich nennen; und eben bis zum Bewußtsein dieser Persönlichkeit setzt die Wissenschaftslehre ihre Ableitung fort. Ganz etwas anderes ist das Ich, von welchem die Wissenschaftslehre ausgeht: es ist durchaus nichts weiter, als die Identität des Bewußtseienden und Bewußten; und zu dieser Absonderung muß man sich erst durch Abstraktion, von allem Übrigen in der Persönlich30 keit erheben.

Fichte sieht zwar klar die Zirkularität jeder Argumentation, die sich der Antinomie von Idealismus und Realismus stellt; es handle sich aber um einen unvermeidlichen Zirkel, den zu ignorieren in den Dogmatismus führe. So heißt es in der Wissenschaftslehre: Dieß, daß der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muß (ein Ding an sich) und dennoch von der andern Seite anerkennen muß, daß dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er [= der Wissenschaftslehrer] in das Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann. Ein System, das auf diesen Zirkel gar nicht Rücksicht nimmt, ist ein dogmatischer Idealismus [...]; ein System, das aus 31 demselben herausgegangen zu sein wähnt, ist ein transzendenter realistischer Dogmatismus.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen, so wird ihre Struktur rasch klar: Nachdem im Abschnitt Zweifel die ‚natürliche Denkart‘

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mus und Realismus, dass „beide Systeme dasselbe Problem“ hätten – ein Problem, das jedoch „schlechterdings nicht theoretisch, sondern nur praktisch, d.h. durch Freiheit, gelöst werden kann“, da dafür das Gebiet der Erfahrung verlassen werden müsse (vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 231 f). Dass bereits Fichte dies leistete oder zu leisten versuchte, wurde von Novalis anerkannt (vgl. NO 3, S. 471). Fichte, Werke, Bd. 3, S. 606. Als systematische Ableitungsschritte der Wissenschaftslehre werden demnach aufgeführt: 1. das Selbstbewusstsein überhaupt (als Bewusstsein der Identität des Bewusstseienden und Bewussten bzw. als Ichheit), 2. das gesamte Bewusstsein und 3. das individuelle Selbstbewusstsein (als Bewusstsein einer empirischen Persönlichkeit). Diese einzelnen Stufen durchlaufe die Wissenschaftslehre mit Notwendigkeit und füge sie zu einer „pragmatischen Geschichte des Geistes“ zusammen. Fichte, Werke, Bd. 1, S. 473. Wie hier nicht weiter diskutiert werden kann, verknüpft Fichte die Antinomie von dogmatischem Idealismus und transzendentem Realismus mit seiner Theorie der Einbildungskraft. So heißt es in der Wissenschaftslehre: „Man sollte weder auf das Eine allein, noch auf das Andre allein, sondern auf beides zugleich reflektieren; zwischen den beiden entgegengesetzten Bestimmungen dieser Idee mitten inne schweben. Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft.“ (Ebd., S. 476) Fichte bestimmt dabei die Einbildungskraft als „ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt“ und erläutert dies folgendermaßen: „Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt: sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor.“ (Ebd., S. 410; vgl. auch: Barnouw, 1972, S. 261). Man kann also sagen, dass für Fichte die Einbildungskraft diejenige Instanz ist, die Idealismus und Realismus miteinander vermittelt. Auf das Konzept der Einbildungskraft werden wir im Kap. 2.2.5 ausführlicher eingehen.

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des Realismus dargelegt wurde, wird dieser einseitigen Perspektive im Abschnitt Wissen der ebenfalls einseitige Standpunkt des (subjektiven) Idealismus entgegengestellt. Beide Perspektiven werden sodann im Abschnitt Glaube vom Standpunkt der praktischen Selbstbestimmung überschritten. Auf diesem artikuliert sich, so Fichte, zunächst nur ein dumpfes Unbehagen gegenüber der idealistischen Position, näherhin aber die Selbstauffassung des Menschen als eines wollenden Wesens. Fichte entwickelt also eine Antinomie von transzendentem Realismus und dogmatischem Idealismus, um diese schließlich aus der Perspektive des praktischen Selbstverhältnisses aufzulösen. Zunächst stellt Fichte also die ‚natürliche Denkart‘ dar, die eine Ansicht des Universums als eines organischen Ganzen entwirft, das unter dem Gesetz strenger Notwendigkeit steht.32 Der Mensch ist danach bloß ein Teil dieses Naturganzen, der in seinem Denken und Handeln ebenso streng determiniert ist wie alle anderen Entitäten33; sein Wille ist aus diesem Blickwinkel nichts weiter als „das unmittelbare Bewußtsein der Wirksamkeit unserer inneren Naturkräfte“34 und das Freiheitsbewusstsein nur eine Täuschung des unmittelbaren Selbstbewusstseins.35 Verknüpft sich diese Denkart mit einer evolutionistischen Sichtweise, so erhält der Mensch dadurch seine Dignität, dass er zu derjenigen Instanz erhoben wird, in dessen Bewusstsein sich die gesamte Natur spiegelt.36 Gegen diese in letzter Konsequenz zum Materialismus führende Sicht von Welt und Mensch wird von Fichte der Standpunkt des Idealismus gestellt, der dem Menschen aufgrund seines Bedürfnisses nach Freiheit und Selbstbestimmung zwar notwendig ist, der aber die Welt zu einem bloßen Traum verflüchtigt37: Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben [...] Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum [...]. (Fichte, Werke, Bd. 3, S. 341)

Die Antinomie von Idealismus und Realismus führt laut Fichte dazu, dass der Mensch eine „doppelte Art des Seins“ hat, wobei sowohl für den Standpunkt „der Übersicht des Universums“ (natürliche Denkart) als auch für den „des unmittelbaren Bewußtseins deines Selbst“ (idealistische Denkart) gelte, dass „keine von beiden Behauptungen hin-

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Vgl. Fichte, Werke, Bd. 3, S. 273 ff. Ebd., S. 275. Ebd., S. 283 f. Ebd., S. 280. Ebd., S. 280 f. Diese Auffassung spielt, wie wir noch sehen werden, auch in der Philosophie Schellings und Schopenhauers eine gewichtige Rolle. Vgl. Fichte, Werke, Bd. 3, S. 285 ff.

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länglich begründet“38 sei. Der Standpunkt der praktischen Selbstbestimmung unternimmt daher den Versuch ein „System der Freiheit“39 zu formulieren. Fichtes Lösungsvorschlag überzeugte seine Nachfolger nicht. Schelling und Schopenhauer billigten zwar sowohl dem Idealismus als auch dem Realismus ihre Berechtigung zu – wenngleich mit der Einschränkung der Einseitigkeit –, doch taten sie dies aus logischen Gründen, d.h. weil sie beiden Modellen nicht nur einen legitimen Ansatzpunkt, sondern auch eine gewisse Folgerichtigkeit zumaßen. Und aus ebenfalls logischen Gründen bevorzugten sie die idealistische Option – mit der Konsequenz, dass die Ansprüche des Realismus nur im Rahmen der Metaphysik zu erfüllen seien. So steht nach Schopenhauer nicht die Überzeugung von der Plausibilität des empirischen Materialismus, sondern der Wille als eine Tatsache des Selbstbewusstseins hinter dem intuitiven Ungenügen an der Reduzierung der Wirklichkeit auf eine bloße Erscheinung.40 Dennoch hält gerade Schopenhauer die realistische bzw. materialistische Option auch erkenntnistheoretisch für einen legitimen Ansatz, insofern sie eine Explikation dessen darstellt, was man das ‚Selbstanwendungstheorem‘ nennen könnte: Wenn das Subjekt seine eigenen Erkenntniskategorien (bei Schopenhauer: Raum, Zeit und Kausalität) auf sich selbst anwendet – und dazu ist es in seiner ‚natürlichen‘ Explikationstätigkeit genötigt –, dann gelangt es, will es die Existenz und Genese des Gehirns, als das es sich in dieser objektiven Hinsicht gegeben ist41, erklären, zwangsläufig zu einer evolutionistischen Betrachtungsweise, in der es die gesamte (erkenntnislose) Natur als zeitlich vorausliegend und für das eigene Vorhandensein kausal notwendig ansetzen muss. Aber 38 39

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Ebd., S. 291. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 376. In diesem Sinne schreibt Schelling in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809): „Der Gedanke, die Freiheit einmal zum Eins und Alles der Philosophie zu machen, hat den menschlichen Geist überhaupt, nicht bloß in Bezug auf sich selbst, in Freiheit gesetzt und der Wissenschaft in allen ihren Theilen einen kräftigern Umschwung gegeben als irgend eine frühere Revolution. [...] Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.“ (Schelling, Werke, Bd. 4, S. 243) Dass wir uns mit den beiden Erklärungsweisen (des Idealismus und des Materialismus) immer nur in der Welt als Vorstellung bewegen, erläutert Schopenhauer so: „Der Grundfehler aller Systeme ist das Verkennen dieser Wahrheit, dass DER INTELLEKT UND DIE MATERIE KORRELATA sind, d.h. Eines nur für das Andere da ist, Beide miteinander stehen und fallen, Eines nur der Reflex des Andern ist, ja, dass sie eigentlich Eines und dasselbe sind, von zwei entgegengesetzten Seiten betrachtet; welches Eine [...] die Erscheinung des Willens, oder Dinges an sich ist; dass mithin beide sekundär sind: daher der Ursprung der Welt in keinem von Beiden zu suchen ist.“ (Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 26; vgl. dazu auch Bd. 4, S. 25 f) Dies rühre daher, dass die Erkenntnisvermögen äußerer und innerer Sinn sowie Verstand mit ihren Kategorien Raum, Zeit und Kausalität objektiv gewendet die gesamte materielle Wirklichkeit, insbes. das Gehirn als objektives Korrelat des erkennenden Subjekts ergeben, da in Schopenhauers Philosophie nicht bloß, wie bei Kant, die Form, sondern, im Gefolge Berkeleys, auch der Stoff der Erfahrung subjektiv ist: der Verstand, als „Werkmeister der Anschauung“, hat als sein objektives Korrelat die Materie, die in diesem Sinne objektivierte Kausalität ist.

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diese materialistische Betrachtungsweise erweist sich, ebenso wie die idealistische, als einseitig, ja, sie ist im Grunde eine „enorme petitio principii“, insofern sie das letzte Resultat der materialistischen Erklärung, das erkennende Subjekt, bereits an ihrem Ausgangspunkt, dem einfachsten Zustand der Materie, der ja ebenfalls nur in der Vorstellung existiert, voraussetzen muss.42 Zudem beruht sie auf einem transzendenten Gebrauch der Kausalität, indem sie eine kausale Verbindung zwischen den Sphären von Subjekt und Objekt, die laut Schopenhauer dem Satz vom Grunde noch vorausliegen, herzustellen versucht – ein Gebrauch, den Schopenhauer immer wieder als illegitim gegeißelt hat. Trotz dieser logischen Vorrangstellung des transzendentalen Idealismus sieht Schopenhauer den empirischen Materialismus als dessen notwendige Ergänzung an: Es ist eben so wahr, dass das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als dass die Materie eine 43 bloße Vorstellung des Erkennenden sei: aber es ist auch eben so einseitig.

Zugleich aber sieht Schopenhauer, wie Schelling, aufgrund der logischen Inkonsistenz eines erkenntnistheoretischen Materialismus44 die Plausibilität des Realismus nur im Rahmen seiner Metaphysik gesichert, in welcher der Wille als das „schlechthin Reale“ auftritt. Interessanterweise erfolgt diese Bewahrung der Ansprüche des Realismus bei Schelling und Schopenhauer über eine enorme Ausweitung des subjektivitätstheoretischen Ansatzes, dessen Einseitigkeit die Metaphysik doch gerade beseitigen helfen sollte. Denn auch innerhalb der Metaphysik nimmt ihr Denken seinen Ausgang vom 42

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Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 61. Schon Novalis hatte auf die Zirkularität dieser Argumentation hingewiesen: „Nach Fichte ist Ich gleichsam das R e s u l t a t des Universums. Um Ich (mit B[ewußt]S[eyn] zu setzen muß ich gleichsam das ganze Universum voraussetzen – so wie gegentheils die absol[ute] Setzung des Ich nichts anders ist, als die Setzung des Universums.“ (NO 3, S. 471) In ähnlichem Sinne schreibt auch Weizsäcker: „Lorenz macht die Theorie, dass das Bewußtsein als eine Funktion von Materie aufgefaßt werden könne, zum Gegenstand einer Studie etwa in dem Buch Die Rückseite des Spiegels, wobei mit dem Wort Spiegel in symbolischer Repräsentation das gemeint ist, was wir sonst mit einem ebenso rein symbolischen Wort Bewußtsein nennen, und mit der Rückseite des Spiegels – eine schöne Metapher –, der nichtspiegelnden Rückseite des Spiegels, die materielle Basis gemeint ist, ohne welche wir Bewußtsein nicht kennen. Nun behaupte ich, dass die heutige Physik zu diesen Gedanken von Lorenz nur den einzigen Gedanken hinzuzufügen genötigt ist, dass wir auch die Rückseite des Spiegels natürlich nur im Spiegel kennen. Dass auch die Materie uns natürlich nur soweit bekannt ist, als wir von ihr wissen, und dass dieses nicht eine leere Trivialität ist, sondern etwas, was man im Auge behalten muß, wenn man vermeiden will, in der Quantentheorie in Paradoxien zu verfallen.“ (Weizsäcker, 1977, S. 181 ff) Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 23. Spierling sieht hierin die „antiidealistische Wende“ (Spierling, 1977, S. 93 ff) oder auch die „kopernikanische Drehwende“ (Spierling, 1984, S. 37 ff) in der Philosophie Schopenhauers. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Eine derartige Qualifikation des Materialismus als einer berechtigten und ‚einseitig wahren‘ Konzeption erscheint angesichts der Unhaltbarkeit des ‚Selbstanwendungstheorems‘ eigentlich als unverständlich bzw. nur als eine Verbeugung vor den enormen Leistungen der Naturwissenschaften. Wichtig ist aber, dass Schopenhauer, trotz aller Affinität zu materialistischen Denkweisen den mechanistischen Materialismus heftig kritisiert und eher mit dem Naturalismus sympathisiert (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S.367 ff).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Subjekt: Während Schelling den als bloß subjektiv abgewerteten Idealismus Fichtes mit seiner Konzeption des objektiven Idealismus zu überwinden trachtet45 und dem entsprechend die Natur selbst als Subjekt resp. als Produktivität auffasst46, erfolgt die Ausweitung des subjektivitätsphilosophischen Ansatzes bei Schopenhauer durch die Einbeziehung einer Tatsache des Selbstbewusstseins, nämlich des Willens in das spekulative Denken und dessen anschließende analogische Übertragung auf die Gegenstände der äußeren Realität, die uns sonst nur als unter unseren Erkenntniskategorien stehende Vorstellungen zugänglich sind.47 Voraussetzung eines solchen Ansatzes ist die Annahme, dass der Mensch selbst ein Teil der Natur und als ein solcher in die Lage versetzt ist, in der Innenperspektive das Wesentliche, den ‚inneren Kern‘ dieser Natur aufzuschließen48: Was die empirische Erforschung der objektiv gegebenen Realität uns niemals erkennen lässt, wird dieser Auffassung nach durch die reflektierte Verknüpfung der Sachverhalte des Bewusstseins anderer Dinge mit der singulären Tatsache des Selbstbewusstseins mit einem Schlage möglich – der Zugang zum innersten Wesen der Natur selbst.49 Durch die analogische Übertragung des menschlichen Wesens auf die 45

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In der Darstellung meines Systems der Philosophie unterscheidet Schelling zwischen zwei Formen des Idealismus: 1) demjenigen in subjektiver Bedeutung (Fichte) mit dem Grundsatz: Ich ist = Alles und 2) demjenigen in objektiver Bedeutung (Schelling) mit dem Grundsatz: Alles ist = Ich (vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 5). Vgl. z.B. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 16: „Die Natur existirt als Produkt nirgends, alle einzelnen Produkte in der Natur sind nur Scheinprodukte, nicht das absolute Produkt, in welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer wird und nie ist.“ (Vgl. auch ebd., S. 284) Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 162 ff. Der Analogieschluss beruht bei Schopenhauer auf der doppelten Leibeserfahrung des Menschen, wonach der Leib in der äußeren Erfahrung ein Objekt unter Objekten, in der Innenperspektive jedoch eine unmittelbare Objektivation des Willens ist, mit dessen Akten die Leibesaktionen identisch (und nicht kausal verknüpft) sind (vgl. ebd., S. 151 ff). Es ließe sich also sagen, dass das doppelte Selbstverhältnis eines Organismus – nämlich des menschlichen Leibes – in Schopenhauers Metaphysik die zentrale Begründungsfunktion übernimmt. Auf dieses schwierige Problem kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 226 f: „Nun aber habe ich [...] hervorgehoben, daß wir nicht bloß das ERKENNENDE SUBJEKT sind, sondern andererseits auch SELBST zu den zu erkennenden Wesen gehören, SELBST DAS DING AN SICH SIND; daß mithin zu jenem selbsteigenen und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir VON AUSSEN nicht dringen können, uns ein Weg VON INNEN offensteht, gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Verbindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male in die Festung versetzt, welche durch Angriff von außen zu nehmen unmöglich war.“ Eine verwandte Auffassung steht hinter der Lehre vom Menschen als Mikrokosmos, wie sie etwa bei Schlegel greifbar wird: „Der Mensch ist ein Mikrokosmus; zur Char.[akteristik] d[es] Individuums gehört Char.[akteristik] d[es] Universums.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 229) Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 3, S. 273: „Diese Erkenntniß [dass wir in unserem innersten Wesen Wille sind] ganz allein muß dem Philosophen der Schlüssel werden zur Einsicht in das Innere aller jener Vorgänge der erkenntnißlosen Natur, bei denen zwar die Kausalerklärung genügender war, [...] jedoch auch dort noch immer ein unbekanntes X zurückließ und nie das Innere des Vorgangs ganz aufhellen konnte [...]. Dieses X hatte sich immer weiter ausgedehnt und zuletzt, auf den höchsten Stufen [der Natur], die Kausalerklärung ganz zurückgedrängt, dann aber, als diese am wenigsten leisten konnte, sich als WILLE entschleiert [...]. DIE IDENTITÄT DIESES X auch auf den

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Natur soll aber andererseits die Idee von der Einheit der Natur allererst realisiert und damit ihre bloß regulative Funktion überschritten werden. Somit ist die Idee von der Einheit der Natur bereits eine Präsupposition für die Möglichkeit der Anwendung jenes Analogieschlusses; gleichzeitig wird aber diese Idee erst durch die analogische Übertragung des menschlichen ‚Wesens‘ auf die äußere Natur verwirklicht – ein innerhalb der ‚realdialektischen‘ Metaphysik wohl unvermeidlicher Zirkel. Es ist natürlich klar, dass für eine solche Wesensbestimmung der Natur auf dem Wege der analogischen Übertragung die Frage, wie zuvor das Wesen des Menschen bestimmt wird, von größtem Belang ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass auch Schelling und Schopenhauer – anders als Hegel – am pragmatischen Paradigma orientiert sind. Gemäß der Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität wird auch das innerste Wesen der Natur als zutiefst irrational bestimmt. Dies führt in Verknüpfung mit der an Kants Auffassung vom Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft orientierten Fichteschen Bestimmung des Subjekts als Tätigkeit50 zu einer Ansicht der Natur als Produktivität bzw. als Wille, mit der das Gebot Hegels, die ‚Substanz als Subjekt‘ zu denken51, in einem freilich nicht-Hegelschen Sinne befolgt wird. Entsprechend können sowohl der objektive Idealismus Schellings als auch der Voluntarismus Schopenhauers als pragmatische Metaphysik bezeichnet werden. Damit greifen die Deutschen Idealisten insofern wieder auf das am Ausgang des pragmatischen Paradigmas stehende Orientierungsmodell der Natur zurück, als sie mit der Bestimmung auch der äußeren Natur als Produktivität bzw. Wille eine ‚pragmatische‘ Philosophie der Natur formulieren.52 So wird die Innenperspektive des Menschen zum Königsweg der Metaphysik und die Selbsterkenntnis zum Vorbild der Welterkenntnis53:

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niedrigen Stufen, wo es nur schwach hervortrat, dann auf den höheren [...] und zuletzt auf dem Punkt, wo es, in unserer eigenen Erscheinung, sich dem Selbstbewußtseyn als Wille kund giebt, anzuerkennen, ist in Folge der hier durchgeführten Betrachtung wohl unumgänglich. Die zwei urverschiedenen Quellen unserer Erkenntniß, die äußere und die innere, müssen an diesem Punkte durch Reflexion in Verbindung gesetzt werden. Ganz allein aus dieser Verbindung entspringt das Verständniß der Natur und des eigenen Selbst: dann aber ist das Innere der Natur unserm Intellekt, dem für sich allein stets nur das Aeußere zugänglich ist, erschlossen, und das Geheimniß [...] liegt offen.“ Vgl. dazu auch Schopenhauer, Werke, Bd. 1, § 21, insbes. S. 163. Es soll damit nicht behauptet werden, dass Fichte sich mit dieser Interpretation seiner Subjekttheorie einverstanden erklärt hätte; dennoch war Fichte mit seinem ‚subjektiven Idealismus‘ und erst recht mit seiner „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“ der entscheidende Wegbereiter für spätere Entwicklungen der Metaphysik. Hegel, Werke, Bd. 3, S. 23. In seiner Freiheitsschrift bestimmt Schelling das „Urseyn“ ebenfalls als Wille und verknüpft dies mit seiner früheren Lehre von der Produktivität der Natur im Kontext der Antinomie von Realismus und Idealismus: „Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus war die ausgesprochene Absicht seiner [Schellings] Bestrebungen. Der Spinozische Grundbegriff, durch das Princip des Idealismus vergeistigt [...], erhielt in der höheren Betrachtungsweise der Natur und der erkannten Einheit des Dynamischen mit dem [...] Geistigen eine lebendige Basis, woraus Naturphilosophie erwuchs, die als bloße Physik zwar für sich bestehen konnte, in Bezug auf das Ganze der Phi-

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Demzufolge müssen wir die Natur verstehen lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst 54 aus der Natur.

Indem ein Faktum des Selbstbewusstseins der spekulativen Interpretation des Weltganzen dient, wird aber der subjektivitätsphilosophische Ansatz zugleich überschritten, insofern mit dem Willen bzw. mit einer als produktivem Subjekt verstandenen Natur, die sich selbst organisiert, das Subjekt hin zu einem diesem unverfügbaren Grund transzendiert wird.55 Es ergibt sich so auch in dieser Hinsicht eine zirkuläre Struktur: Die Aufgabe ist: das Subjekt=Objekt so objektiv zu machen und bis zu dem Punkte aus sich herauszubringen, wo es mit der Natur (als Produkt) in Eines zusammenfällt; der Punkt, wo es Natur wird, ist auch der, wo das Unbegrenzbare in ihm sich zum Ich erhebt, und wo der Gegensatz zwischen Ich und Natur, der im gemeinen Bewußtseyn gemacht wird, völlig verschwindet, die Natur = Ich, das Ich = Natur ist. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 725)

In diesem Kontext ist auch die oft zitierte Auffassung Schellings zu sehen, dass Natur und Geist im tiefsten Grunde ‚absolut identisch‘ seien:

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losophie aber jederzeit nur als der Eine, nämlich der reelle Theil, derselben betrachtet wurde, der erst durch die Ergänzung mit dem ideellen, in welchem Freiheit herrscht, der Erhebung in das eigentliche Vernunftsystem fähig werde. [...] Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.“ (Schelling, Werke, Bd. 4, S. 242) Kurz darauf beschreibt Schelling den „Urgrund“ des Willens als etwas Irrationales: „Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt.“ (ebd., S. 251 f) Überhaupt hat der späte Schelling immer stärker die Irrationalität nicht nur des menschlichen Daseins, sondern der gesamten Welt betont. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 150 u. Bd. 2, S. 226 f. Auch für Novalis ist die Innenperspektive der privilegierte Zugang zu wahrer Erkenntnis: „Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – Sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jezt scheints uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos – Aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist.“ (NO 2, S. 417 f) Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 227. Vgl. auch die Bezeichnung der Welt als „Makranthropos“ (ebd., S. 747), welcher Begriff sich auch bei Novalis findet (vgl. NO 3, S. 316). Dagegen sagt Schelling, Werke, Bd. 2, S. 711 f: „So können wir [...] nach ganz entgegengesetzten Richtungen – von der Natur zu uns, von uns zu der Natur gehen, aber die wahre Richtung für den, dem Wissen über alles gilt, ist die, welche die Natur selbst genommen hat.“ Auch Novalis formuliert bündig die Voraussetzung dieses Ansatzes, der zu einer Realdialektik von Transzendental- und Naturphilosophie führt: „Wir sind zugleich in und außer der Natur.“ (NO 3, S. 252) In Konsequenz dessen schreibt er ähnlich wie Schopenhauer: „Wir werden die Welt verstehn, wenn wir uns selbst verstehn, weil wir und sie integrante Hälften sind.“ (NO 2, S. 548) So behauptet Schelling, dass die reale Voraussetzung des Bewusstseins einer Philosophie, die vom Bewusstsein ausgeht, verborgen bleibe.

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Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen. (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 706)56

Besonders greifbar ist diese zirkuläre Struktur im Falle Schopenhauers: In seinem Ausgang vom Selbstbewusstsein war der Wille noch vorstellungsbedingt, d.h. bewusstseinsimmanent; in der zweiten Perspektive, in welcher der Wille als metaphysisches Urprinzip auftritt, ist er hingegen als vorstellungsbedingend, mithin als bewusstseinstranszendent gesetzt, nämlich als der die Vorstellung überhaupt erst hervorbringende Wille. Somit setzt die Welt als Vorstellung ebenso die Welt als Wille voraus wie die Welt als Wille die Welt als Vorstellung. Der Wille bzw. die Subjektivität erhalten dadurch freilich wesentlich andere Prädikate als diejenigen, die ihnen als mentale Phänomene zukommen.57 Wichtig ist jedoch, dass aufgrund dieses subjektivitätsphilosophischen Ausgangspunktes die hermeneutische Metaphysik an die Welt der empirischen Erscheinungen gebunden bleibt. Wie Schopenhauer sagt, handelt es sich bei der Bestimmung des Dings an sich als Wille nur um eine „denominatio a potiori“, die von dem uns Bekanntesten ausgeht und dieses auf alles uns nur mittelbar Zugängliche per analogiam überträgt.58 Und auch Schellings Auffassung der Natur als produktiven Subjekts bleibt insofern gänzlich immanent, als in den Augen Schellings nur durch sie die Phänomene der organischen Welt, des Lebens und der Selbstorganisation verständlich werden können, während der mechanistische Ansatz der empirischen Naturwissenschaften hier versagen müsse.59 Um eine Philosophie des Absoluten im strengen Sinne handelt es sich hingegen nicht: was die Welt außerhalb der Relationen von Erscheinung und Ding an sich,

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Dabei führt laut Schelling die notwendige Annahme eines dem menschlichen Geist analogen Geistes in der realen Natur nicht allein zur spekulativen Hypothese einer Identität von Geist und Natur, sondern auch zur „Idee einer sich selbst organisirenden Materie“ (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 696). Man könnte sagen, dass dieselbe Argumentationsfigur, die innerhalb der Ontologie zur Ausweitung des subjektivitätsphilosophischen Ansatzes führt, auch in der Kunstmetaphysik um 1800 wiederkehrt, insofern dort die ästhetische als objektivierte intellektuelle Anschauung bestimmt wird. Wie sich noch zeigen wird, kann dies auch deswegen behauptet werden, weil das gesamte metaphysische Organismuskonzept Schellings auf Basis des Subjektmodells formuliert wird; wenn daher das Kunstwerk als Organismus bestimmt wird, dann steht auch diese Auffassung mittelbar unter dem Einfluss der Subjektivitätstheorie. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 164: „Dieses DING AN SICH [...], welches als solches nimmermehr Objekt ist [...], mußte, wenn es dennoch objektiv gedacht werden sollte, Namen und Begriff von einem Objekt borgen, von etwas irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer seiner Erscheinungen: aber diese durfte, um als Verständigungspunkt zu dienen, keine andere seyn, als unter allen seinen Erscheinungen die vollkommenste, d.h. die deutlichste, am meisten entfaltete, vom Erkennen unmittelbar beleuchtete: diese aber eben ist des Menschen WILLE. Man hat jedoch wohl zu bemerken, dass wir hier allerdings nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche eben deshalb der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte.“ Vgl. hierzu Schelling, Werke, Bd. 2, S. 275.

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natura naturata und natura naturans bzw. Vorstellung und Wille eigentlich und an sich ist, darüber trifft die hermeneutische Metaphysik keine Aussagen.60 Infolge dessen werden in den Systemen Schellings und Schopenhauers die verschiedenen Problembereiche aus einer doppelten Perspektive betrachtet – zum einen vom transzendentalidealistischen, zum andern vom spekulativen Standpunkt der hermeneutischen Metaphysik. So ist bei Schopenhauer der Wille einerseits eine bloße Selbstbewusstseinstatsache, d.h. ein mentales Phänomen, andererseits ein metaphysisches Urprinzip, die Materie zum einen die objektiv gewendete Verstandesform der Kausalität (die reine Wirksamkeit)61, andererseits als (erste) Objektität des Willens und Medium seiner Manifestationen das Band zwischen der Welt als Vorstellung und der Welt als Wille62, der Leib in der einen Hinsicht ein Objekt unter Objekten, in der anderen eine unmittelbare Objektivation des Willens, mit dessen Akten die Leibesaktionen identisch sind63, und schließlich der Intellekt auf der einen Seite die erste Voraussetzung aller Weltbezüge oder der „Träger der ganzen umgebenden Welt“, auf der anderen ein bloßes Instrument und Werkzeug des Willens zur Regulation seines Verhältnisses zur Außenwelt und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse.64 Die beiden Perspektiven sind nicht aufeinander reduzierbar – nur indem sie sich wechselseitig ergänzen, ergibt sich eine vollständige spekulative Auslegung der Welt.65 In ähnlicher Weise sollen auch bei Schelling empirische Naturwissenschaft und spekulative Naturphilosophie einander ergänzen, ohne in Konkurrenz zu treten: Während die Naturwissenschaft empirisch vorgeht und die Natur als Objekt in ihren endlichen 60

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Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 228 ff: „Inzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe es immer festgehalten, dass auch die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende und adäquate Erkenntniß des Dinges an sich liefert. [...] Demzufolge läßt [...] sich noch die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich selbst sei? d.h. was er sei, ganz abgesehen davon, dass er sich als WILLE darstellt, oder überhaupt ERSCHEINT, d.h. überhaupt ERKANNT wird. – Diese Frage ist NIE zu beantworten: weil […] das Erkanntwerden selbst schon dem Ansichseyn widerspricht und jedes Erkannte als solches nur Erscheinung ist.“ Vgl. dazu auch Schelling, Bd. 2, S. 355 f. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 37 f. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 359 ff. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 151 ff. Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 22 ff u. S. 316 ff. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Friedrich Schlegel: Schlegel entwickelt das Konzept eines ‚Wechselgrundsatzes‘ oder ‚Wechselerweises‘, wonach das ganze philosophische System aus zwei sich wechselseitig stützenden und nicht voneinander ableitbaren Grundsätzen besteht (vgl. dazu F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 36; s.a. Enders, 2000, S. 52). Manfred Frank erläutert diesen Ansatz näherhin dadurch, dass in ihm „das Unendliche als das einzige Objekt dieses [transzendentalen] Bewußtseins und dieses als das einzige Prädikat des Unendlichen“ erscheine: „In dieser geschlossenen Sphäre der sich ergänzenden und wechselseitig einander fordernden Elemente des Bewußtseins und des Unendlichen liegt die Realität als der Indifferenzpunkt, als das jeweilige Resultat der Synthesis beider, d.h. des bewußten Widerspiegelungsaktes des Unendlichen, gleichsam in der Mitte.“ (Frank, 1996, S. 64 f)

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Produkten, die sich in Raum und Zeit in eine extensionale Unendlichkeit auseinanderlegen, d.h. als natura naturata untersucht66, schreitet die Naturphilosophie „theoretisch“67 voran und fasst die Natur als Subjekt in ihrer unendlichen Produktivität, d.h. als natura naturans in der intensionalen Unendlichkeit ihrer dynamischen Kräfte.68 Dabei leiten sie laut Schelling beide in je unterschiedlicher Weise vom Objektiven auf das Subjektive: Geschieht dies im Falle der empirischen Wissenschaft in der Form einer „Auflösung“ der Natur in ‚intelligiblen‘ Naturgesetzen und erfolgt die Bestimmung des Naturbegriffs in Kantischer Weise somit über den Gesetzesbegriff69, so besteht das subjektivitätstheoretische Element der Naturphilosophie über ihre Grundkonzeption der Natur als Subjekt hinaus darin, dass sie über die Beschreibung der materiellen Selbstorganisationsprozesse auf verschiedenen „Potenzstufen“ die Entwicklung der Intelligenz resp. des Bewusstseins aus der anorganischen und organischen Natur darstellt – ein Organisationsprozess, der wiederum dialektisch verfasst ist, insofern er als ein stets von neuem gestörtes und wieder hergestelltes Gleichgewicht von polaren Gegensätzen (der Naturkräfte) erscheint.70 Die Verknüpfung beider Ansätze im Rahmen seiner ‚realdialektischen‘ Metaphysik versucht Schelling insbesondere für die Erklärung des biologischen Phänomens des Organismus und für die darauf basierende Analogiebildung des „Weltorganismus“ fruchtbar zu machen. Schelling beschreibt den Organismus durch die drei Eigenschaften der Irritabilität, Sensibilität und Reproduktivität.71 Laut Schelling ist der Organismus durch die beiden 66

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Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 282 ff. Die Naturwissenschaft erhält allerdings bei Schelling (ähnlich wie bei Schopenhauer) eine transzendentalidealistische Grundlage in Form einer Erkenntnistheorie, die sich anheischig macht, nicht nur die Naturkräfte, sondern auch die Materie sowie Raum und Zeit a priori zu „konstruieren“. Vgl. dazu Schelling, Werke, Bd. 2, S. 282 f: „Was reine Empirie ist, ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie. [...] Reine Empirie, ihr Objekt sei welches es wolle, ist Geschichte (das absolut Entgegengesetzte der Theorie). [...] Der Gegensatz zwischen Empirie und Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß jene ihr Objekt im Seyn als etwas Fertiges und zu Stande Gebrachtes, die Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und als ein erst zu Stande zu Bringendes betrachtet.“ Ähnlich, aber prägnanter heißt es ebd., S. 284: „Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf dies allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).“ Für Schelling ist jedoch jede Erfahrung theoriegeleitet und –gesättigt. Dies wird deutlich in seinem Begriff vom wissenschaftlichen Experiment, das er als eine ein „verstecktes Apriori“ enthaltende Frage an die Natur bestimmt (vgl. ebd., S. 276 f). Vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 162: „Die empirische Unendlichkeit ist das falsche Scheinbild der wahren oder der aktuellen Unendlichkeit und ein bloßes Produkt der Imagination.“ Schelling, Werke, Bd. 2, S. 340. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 341 sowie Bd. 1, S. 696. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass Schelling in seiner identitätsphilosophischen Potenzenlehre diese Dynamik in einer nunmehr statischen Ontologie wieder still zu stellen sich bemüht. Auf dieses Problem werden wir im Folgenden noch zurückkommen. Die These, dass das organische Produkt „den Grund seines Daseyns in sich selbst“ trage und „von sich selbst Ursache und Wirkung“ sei, begründet Schelling insbesondere durch die Eigenschaft der

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

entgegengesetzten Faktoren der Erregbarkeit, organische Rezeptivität und organische Tätigkeit, charakterisiert. Erst aufgrund dieser ursprünglichen Duplizität hat er überhaupt eine Außenwelt.72 Der Organismus ist insofern sein eigenes Objekt, als er sich selbst konstituiert und sich selbst das Medium ist, wodurch äußere Einflüsse auf ihn wirken. Sein erstes Merkmal ist demnach die Selbstbezüglichkeit. Der Organismus ist aber stets darum bemüht, einen Zustand des Gleichgewichts bzw. der Homogeneität zu erreichen, ohne ihn doch dauerhaft aufrecht erhalten zu können. Um vor dem Erlöschen jeder Tätigkeit und damit vor dem Tod bewahrt zu werden, muss dieses Gleichgewicht durch äußere Einflüsse, d.h. durch Erregung seiner Sensibilität immer wieder gestört werden. So erscheint der Organismus als Ruhe in der Tätigkeit73, wobei „im Organismus die Form wahrhaft substantiell, das Accidens wesentlich“ sei, während sein Stoff fortwährend wechselt74. Vorausgesetzt nun die Auffassung der Natur als Subjekt in ihrer unendlichen Produktivität, wird die Erklärung des Permanenten als eines fixierten Naturprodukts laut Schelling zu einem Problem, das nur unter Annahme von natürlichen „Hemmungspunkten“ (für die unendliche Produktivität) gelöst werden könne.75 Der Organismus – als der materielle Kulminationspunkt der natürlichen Evolution – erscheint somit bei Schelling als eine in seiner selbstreproduktiven Tätigkeit autonome Einheit, die gleichzeitig aber als ein für die materiellen und informatorischen Umwelteinflüsse offenes und diese Einflüsse verarbeitendes System verstanden werden muss.76

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Reproduktivität des Organismus: „[S]o producirt und reproducirt jede einzelne Organisation ins Unendliche fort nur ihre Gattung. Also schreitet keine Organisation fort, sondern kehrt ins Unendliche fort immer in sich selbst zurück.“ (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 690; vgl. dazu auch Bierbrodt, 2000, S. 290) In den Augen Schellings wird der Organismus gerade durch diese Zirkularität zum Spiegel des Universums. Erst durch die Fähigkeit des Organismus, auf innere und äußere Reize zu reagieren, wird die System-Umwelt-Unterscheidung möglich: „Mit der Autonomie innerer Operationen errichtet der Organismus eine feste Grenze gegen den mechanischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang seiner Umwelt.“ (Bierbrodt, 2000, S. 293 f) Zur hier stark verkürzten Beschreibung des Organismus vgl. v.a. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 144 ff. Vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 306. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 289 f: „Die Naturphilosophie hat nicht das Produktive der Natur zu erklären, denn wenn sie dieses nicht ursprünglich in die Natur setzt, so wird sie es nie in die Natur bringen. Zu erklären hat sie das Permanente. Aber dass etwas in der Natur permanent werde, ist selbst nur aus jenem Ankämpfen der Natur gegen alle Permanenz erklärbar.“ Ohne diese etwas unklare Lehre von den ‚Hemmungspunkten‘ wäre deshalb laut Schelling nicht zu erklären, warum sich nicht alles im unendlichen Fluss des Werdens auflöse. Darüber hinaus beschreibt Schelling mit Bezug auf Kant das organische Naturprodukt als „ein Produkt, das zweckmäßig ist, ohne einem Zweck gemäß hervorgebracht zu seyn [...], das, obgleich Werk des blinden Mechanismus, doch so aussieht, als ob es mit Bewußtseyn hervorgebracht wäre“ (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 607). Da dieses letztere jedoch ein bloßer Schein sei, lehnt Schelling alle teleologischen Betrachtungen der Natur ab, denn der „Widerspruch, daß diese Natur, obgleich Produkt blinder Naturkräfte, doch durchaus und durchein zweckmäßig ist“ (ebd., S. 608), könne auf solche Weise nicht aufgelöst werden.

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So ist der Organismus zwar „eine eigne, in sich ruhende, in sich beschlossene Welt“77, in der eine Mannigfaltigkeit von Aktionen auf eine bestimmte (perennierende) Sphäre beschränkt ist78, aber er stellt „kein geschlossenes System“ dar, sondern ist in einer autoreflexiven Einheit Subjekt und Objekt zugleich.79 Eine solche Beschreibung kann laut Schelling nur mit Hilfe des Begriffs der Wechselwirkung und der auf dieser aufbauenden kreisläufigen Kausalprozesse durchgeführt werden – das zweite wesentliche Merkmal, durch das Schelling den Organismus charakterisiert.80 Danach erscheint der Organismus als ein „aufgehaltene[r] Strom von Ursachen und Wirkungen“ bzw. als „eine Succession, die innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt“.81 Auf dieser Grundlage behauptet Schelling, dass das organische Produkt „den Grund seines Daseyns in sich selbst [trägt], denn es ist von sich selbst Ursache und Wirkung“, und als Ganzes nur in der Wechselwirkung der Teile besteht.82 Dabei erscheint der auf linearen Kausalprozessen beruhende Me77 78 79

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Schelling, Werke, Bd. 2, S. 161. Ebd., S. 65. Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 334. Dies zeigt sich vor allem an seiner Reproduktion, bei der Schelling drei Momente unterscheidet: (1) die Homogenisierung der Materie (Resorption), (2) die Zerfällung der Materie (Sekretion) und (3) die Assimilation der Materie. Dem schließt sich (4) die Selbstreproduktion an. (ebd.) Parallel dazu unterscheidet er drei Momente der Irritabilität: (1) den Kreislauf, (2) die Respiration und (3) die willkürlichen (Muskel-)Bewegungen (ebd., S. 352). In einem ähnlichen Dreischritt beschreibt Schelling auch die Sensibilität. Laut Bierbrodt wird um 1800 der Organismus unter Schellings Einfluss als ein System beschrieben, das (1) Energie, Information und Materie umsetzt, um sich in der Umwelt zu behaupten, (2) selbstorganisierend und (3) aus sich selbst heraus produktiv ist, das (4) ein dynamisches Ordnungsgefüge darstellt, das nur durch die Wechselwirkung seiner Teile bestehen kann, sowie (5) sich selbst bei ändernden Umweltbedingungen manipuliert, um bestimmte Größen konstant zu halten, (6) durch eine autonome Reaktion auf Umweltreize gekennzeichnet und schließlich (7) auf systemische Selbsterhaltung angelegt ist (vgl. Bierbrodt, 2000, S. 287 f). Die organische Natur kann darum nicht nur dynamisch erklärt, sondern zugleich teleologisch beschrieben werden (vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 694 ff sowie Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 383 ff). An dieser Stelle sei allerdings auf zwei wichtige Differenzen zwischen Schelling und Schopenhauer hingewiesen: Zum einen hält Schopenhauer den Begriff der Wechselwirkung für einen Unbegriff (weil nichts in demselben Sinne Ursache und Wirkung zugleich sein könne), der zudem für die kausale Erklärung einer organismischen Einheit unnötig sei, da hierfür bereits der Begriff eines in sich verschränkten Netzes einzelner kausaler Abläufe hinreiche; zum andern lehnt Schelling, anders als Schopenhauer, den Vitalismus ab, der über die Naturkräfte Magnetismus, Elektrizität und Chemismus hinaus eine eigenständige Lebenskraft annimmt. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 417. Bei der Unterscheidung von linearen und kreisförmigen Kausalprozessen wird wieder Schellings Theorem von den „Hemmungspunkten“ – in der modernen Thermodynamik hießen sie ‚Attraktoren‘ – relevant: „Nur wo die Natur diesen Strom nicht gehemmt hat, fließt er vorwärts (in gerader Linie). Wo sie ihn hemmt, kehrt er (in einer Kreislinie) in sich selbst zurück.“ (ebd.) Novalis fasst die kreisförmig geschlossene Kausalität der empirischen Unendlichkeit in folgendes Bild: „Das Ganze ruht ohngefähr – wie die spielenden Personen, die sich ohne Stuhl, blos Eine auf der andern Knie kreisförmig hinsetzen.“ (NO 2, S. 242) Schelling, Werke, Bd. 1, S. 690.

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chanismus nur als „das Negative des Organismus“. Dem gemäß müsse die Naturphilosophie „vom Organismus (als dem Positiven) ausgehen“ und daraus auch den Mechanismus erklären.83 Hieraus zieht Schelling die Folgerung, dass es eine unorganische Natur eigentlich gar nicht gebe und dass die Unterscheidung von Organischem und Unorganischem „ein bloßer Gegensatz der Erscheinung“ sei84: Die Natur absolut betrachtet ist also durchaus organisch, und Organismus wirklich die allge85 meine Art des Endlichen, im All zu seyn.

Darüber hinaus wird der Organismus von Schelling durch sein spezifisches Verhältnis von Teil und Ganzem charakterisiert. Hierbei geht es ihm nicht um die Verteidigung der Ansicht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Vielmehr sei das Besondere am Organismus, dass zwischen Teil und Ganzem in dem Sinne ein objektives Verhältnis bestehe, dass ihm ein Begriff zugrunde liege, ja der Organismus dieser Begriff selbst sei.86 So lassen sich Teil und Ganzes nicht einmal begrifflich unabhängig von einander bestimmen, denn im Gegensatz zur Maschine sei „im Organismus der Begriff des Ganzen zugleich der Begriff des Theils selbst, und in diesen übergegangen, mit ihm völlig identisch“.87 Indem Schelling den Organismus als Subjekt-Objekt-Integral, als auf kreisförmigen Kausalprozessen und Wechselwirkungen beruhend sowie als ein begriffliches Verhältnis von Teil und Ganzem bestimmt, beschreibt er ihn in dreifacher Weise als eine 83 84

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Ebd., S. 417. Dass der „Unterschied zwischen organischer und anorgischer Natur nur in der Natur als Objekt“ bestehe, während die produktive Natur an sich über dieser Trennung „schwebe“, begründet Schelling auch damit, dass das organische Produkt letztlich nur eine höhere Potenz des anorgischen Produkts sei. Dies führt nicht allein zur Analogisierung zwischen den Grundkräften der anorganischen und organischen Natur, sondern zugleich zu dem Anschein der Entstehung des Lebens aus dem Anorganischen: „Die anorgische Natur kann ihren Anfang nehmen aus einfachen Faktoren, die organische nur aus Produkten, die wieder zu Faktoren werden. Darum wird eine anorgische Natur überhaupt erscheinen als von jeher gewesen, die organische als entstanden.“ (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 322) Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 309 f; vgl. auch Bd. 2, S. 143 f. In der Lehre Schellings von der wechselseitigen Angewiesenheit von organischer und anorganischer Natur kann man eine der zentralen Schaltstellen für den Übergang vom Organismus als biologischem Phänomen zum Weltorganismus sehen. So bestimmt Schelling als Ziel seiner naturphilosophischen Untersuchungen „ein gemeinschaftliches Princip [aufzufinden], das zwischen anorgischer und organischer Natur fluktuirend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letzten Grund aller Thätigkeit in dieser enthält“. Bereits dieses Prinzip führt in seinen Augen notwendigerweise auf die „Idee der Natur als eines Ganzen“ (vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 415 f). Vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 691. Aus der transzendentalidealistischen Perspektive ist das organische Naturprodukt laut Schelling durch die Identität von Begriff und Objekt charakterisiert: in ihm sei der Begriff „in das Objekt selbst übergegangen und von ihm schlechthin unzertrennlich“, während im Kunstprodukt „der Begriff nur der Oberfläche des Objekts aufgedrückt“ sei (vgl. Schelling, Werke, Bd. 2., S. 609). Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 308.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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autoreflexive und in dieser Autoreflexivität autonome Einheit. Als eine solche wird der Organismus für Schelling zu einem repräsentativen Modell des Universums: Auch das Universum könne nach dem Modell des autoreflexiven Subjekt-Objekt-Integrals entworfen werden; auch im Universum seien die unendlichen linearen Kausalketten zu einem in sich zurücklaufenden Kreisprozess zusammengeschlossen88; auch im Universum verhielten sich die einzelnen Entitäten wie Teile zu einem Ganzen; auch das Universum könne daher als eine organismische Einheit aufgefasst werden.89 Der Organismusbegriff soll demnach per analogiam die Idee von der Einheit der Natur als einer regulativen Vernunftidee anschaulich füllen.90 Gemäß dieser „Idee eines organisirenden, die Welt zum System bildenden Princips“91, für welche die Lehre von der „gemeinschaftliche[n] Seele der Natur“92 oder „Weltseele“93 den metaphorischen Ausdruck darstelle, beschreibt Schelling das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen als Verhältnis von Organen zum Organismus, sodass das „erscheinende Universum im Ganzen“ zum „Total-Organismus des absoluten All“ wird94: Das Leben ist nicht Eigenschaft oder Produkt der thierischen Materie, sondern umgekehrt die Materie ist Produkt des Lebens. Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind ebenso viele Beschränkungen oder ein95 zelne Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus. 88

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Schelling, Werke, Bd. 1, S. 418. Dabei ist zu sagen, dass der Begriff der linearen Kausalität den Begriff der Unendlichkeit impliziert. Die Begriffe Einheit und Ganzheit fordern hingegen eine Grenze der Welt, d.h. die Auffassung von der Natur als Organismus (i.S. einer kreisförmig in sich zurückgebogenen Kausalität) impliziert die Vorstellung von der Begrenztheit des Universums, obwohl zugleich die kausalen Wechselbeziehungen unendlich sind. In einem gewissen Sinne ließe sich demnach behaupten, dass die ontologische Theorie Schellings in genauem Gegensatz zur Relativitätstheorie die gleichzeitige Unendlichkeit und Begrenztheit des Universums lehrt. Allerdings muss das Universum, im Gegensatz zum Einzelorganismus, als ein geschlossenes System aufgefasst werden, da nicht verständlich ist, wie es als Ganzes einen materiellen oder informatorischen Austausch mit der „Umwelt“ unterhalten sollte – ein Sachverhalt, den Schelling nicht klar gesehen zu haben scheint. Eine ähnliche Auffassung findet sich auch bei A.W. Schlegel, für den der Organismus ebenfalls die gesamte Natur im Kleinen abbildet, „indem er ein sich selbst producirendes Product ist, und sich ihm ein Theil der allgemeinen ewigen Schöpferkraft sehr sichtbar eingeprägt hat“ (Schlegel, 1989, S. 516; vgl. Bierbrodt, 2000, S. 291) Ebd., S. 449. Ebd., S. 637. Auf das Konzept einer Weltseele als der „Idee eines organisirenden, die Welt zum System bildenden Princips“ wird man laut Schelling durch die Vorstellung zweier sich polar entgegengesetzten und zugleich in Einheit und Konflikt befindlichen Naturkräfte geführt (vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 449) Auch Novalis sympathisiert mit dieser Vorstellung von der Weltseele: „Alle Wirckungen sind nichts, als Wirckungen Einer Kraft – der Weltseele – die sich nur unter verschiednen Bedingungen, Verhältnissen und Umständen offenbart – die überall und nirgends ist.“ (NO 3, S. 423) Vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 302. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 568. Die Organismustheorie ermöglicht für Schelling schließlich auch eine teleologische Betrachtung der Natur: „Fassen wir endlich die Natur in Ein Ganzes zusammen,

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Somit ist für Schelling „der [einzelne] Organismus nur das zusammengezogene verkleinerte Bild des allgemeinen Organismus“.96 Wie immer man auch den heuristischen Wert dieser Lehre vom „Weltorganismus“ beurteilen mag, ist doch zumindest so viel zu konzedieren, dass es sich um ein metaphysisches Modell auf empirischen Grundlagen handelt97, das die Beschreibung der Welt der Erscheinungen (der natura naturata) in ihrer extensionalen Unendlichkeit mit der Annahme einer unausschöpflichen Produktivität der Natur (als natura naturans) – als der intensionalen Unendlichkeit – in der Theorie von der autoreflexiven Einheit des (Welt-)Organismus verknüpft. Bei dieser Auffassung handelt es sich für Schelling um den höchsten Begriff von Welt, der auf empirischen Grundlagen möglich ist, und d.h. um die einzig legitime Form einer anschaulichen Ausfüllung der Kantischen Vernunftidee. Diese Auffassung von der Natur als Organismus wird in den spekulativen Systemen Schellings und Schopenhauers auf eigentümliche Weise ergänzt, indem sie den Entwicklungsgedanken in ihre hermeneutische Metaphysik zu integrieren versuchen. So schreibt Schelling: Die dynamische Organisation des Universums [...] setzt eine Evolution des Universums aus Einem ursprünglichen Produkt, ein Zerfallen dieses Produkts in immer neue Produkte voraus. Der Grund dieses unendlichen Zerfallens soll in die Natur durch eine ursprüngliche Dualität gelegt worden seyn, und diese Entzweiung muß angesehen werden als entstanden in einem ur-

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so stehen einander gegenüber Mechanismus, d.h. eine abwärts laufende Reihe von Ursachen und Wirkungen, und Zweckmäßigkeit, d.h. Unabhängigkeit vom Mechanismus, Gleichzeitigkeit von Ursachen und Wirkungen. Indem wir auch diese beiden Extreme noch vereinigen, entsteht in uns die Idee von einer Zweckmäßigkeit des Ganzen, die Natur wird eine Kreislinie, die in sich selbst zurückläuft, ein in sich selbst beschlossenes System ist.“ (ebd., S. 704) Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 198. Kant hingegen lehnt eine Übertragung des Modells des empirischen Organismus auf den ‚Weltorganismus‘ ab. Zwar sei es laut Kant „unentbehrlich nöthig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisirten Producten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen“, zwar führe darüber hinaus diese „für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft [..] schlechterdings nothwendige Maxime“ (Kant, KU, B 334) „nothwendig auf die Idee der gesammten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Principien der Vernunft [...] untergeordnet werden muß“ (B 300). Doch eine solche teleologische Betrachtung auf das Ganze der Natur zu übertragen sei „zwar nützlich, aber nicht unentbehrlich, weil uns die Natur im Ganzen als organisirt [...] nicht gegeben ist“ (B 334). Dass Kant einen solchen Modelltransfer ablehnt, hat jedoch den tieferen Grund, dass er den Organismus vornehmlich über den Begriff des Zwecks bestimmt. Infolge dessen gelangt er nicht zu der Idee eines Weltorganismus, wie ihn Schelling versteht, sondern zu der Idee eines zweckmäßigen Natursystems, das von einer Intelligenz außer ihm abhängig ist und als solches teleologisch beurteilt werden kann (wobei diese Urteile jedoch nur subjektive Gültigkeit haben). Bei Schelling hingegen spielt der Begriff der Zweckmäßigkeit bei der Bestimmung des Organismus nur eine untergeordnete Rolle. Er ist insofern ein bloßer Funktionsbegriff, als er sich aus den Bestimmungsmerkmalen des Organismus wie Autoreflexivität und kausaler Geschlossenheit notwendig ergibt. Daher kann Schelling den Organismusbegriff auf die Gesamtnatur übertragen, ohne auf die Annahme einer übersinnlichen Intelligenz zurückgreifen zu müssen.

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sprünglichen Identischen. [...] Diese unendliche Tendenz wird für die Anschauung eine Tendenz zur Evolution mit unendlicher Geschwindigkeit seyn. [...] Die Evolution der Natur, mit endlicher Geschwindigkeit, setzt also als letzte Faktoren eine accelirende und retardirende Kraft voraus, die beide an sich unendlich, und nur wechselseitig durcheinander begrenzt sind. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 261)

Für Schelling ist die Natur entsprechend etwas „zwischen absoluter Evolution und Involution Schwebendes“.98 Dabei entwickelt sich laut Schelling die Natur stufenweise, wobei man dann einen bedeutenden Schritt zur „Erklärung von Organisation und Leben aus Naturprincipien“ voran gekommen sei, „wenn man zeigen könnte, daß die Stufenfolge aller organischen Wesen durch allmähliche Entwicklung einer und derselben Organisation sich gebildet habe“99. So ergäben die Erscheinungen der Natur „eine stetige, in sich selbst zurückkehrende Lebenskette, in welches jedes Glied zum Ganzen nothwendig ist“.100 Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Schopenhauer. Schon indem er den Willen als metaphysisches Urprinzip in Ansatz bringt – ein Wille, der sich in der realen Welt auf mehreren ontischen Stufen objektiviert – , wird seine Metaphysik ebenso dynamisiert wie diejenige Schellings durch die Bestimmung der Natur als Produktivität. Dadurch aber, dass die verschiedenen Willensobjektivationen bei dem Versuch der Realisierung ihrer Bestrebungen in einen „Kampf um die Materie“, d.h. um die begrenzten Ressourcen dieser Welt verwickelt werden101, wird diese dynamische Metaphysik weiter in die Richtung einer evolutionären Theorie gedrängt, da dieser sich aufgrund der unendlichen Produktivität des Willens verschärfende „Kampf um die Materie“ ebendiesen Willen zu immer komplexeren Objektivationsformen nötigt, die einen solchen Kampf erfolgreicher zu bestehen vermögen.102 Schließlich wird auf der höchsten Objektivationsstufe der Mensch mit einem Intellekt ausgestattet, in dem der Wille sich selbst zu erkennen gibt.103 Die Entwicklung wird somit zu einem finalistischen Prozess.104 Auf allen drei Ebenen – der dynamischen, der evolutionistischen und der 98

Ebd. Schelling vertritt darüber hinaus, wie bereits erwähnt, einen dualistischen Naturbegriff, wonach sich die Natur in polaren Gegensätzen manifestiert und diese stets in einem Gleichgewicht aufzuheben versucht. Diese Duplizität ist laut Schelling zugleich aber entsprungen aus der Identität. In welchem systematischen Verhältnis dieser dualistische Naturbegriff mit der Realdialektik steht, kann hier nicht vertieft werden. 99 Schelling, Werke, Bd. 1, S. 416. 100 Ebd., S. 441. 101 Laut Schelling scheidet sich im Kampf des Organismus mit der Außenwelt nicht nur die anorganische von der organischen Natur, sondern dieser Kampf begründet zugleich auch deren wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein (vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 91). 102 Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 212 f. 103 Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 324 f. 104 Dass die evolutionistisch verfasste Metaphysik letztlich eine teleologische Theorie darstellt, wird dadurch deutlich, dass jene Selbsterkenntnis des Willens laut Schopenhauer schließlich zur Verneinung des Willens zum Leben und damit zu seiner Selbstaufhebung führt – weshalb es auch keine höhere Objektivation des Willens als den Menschen geben könne (vgl. u.a. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 491 ff).

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finalistischen – tritt also die Kategorie der Zeit als ein wesentliches Ingrediens der metaphysischen Theorie auf.105 Es ließe sich sagen, dass gerade diese Verzeitlichung Schopenhauers Willensmetaphysik von den klassischen Konzepten der Alleinheitslehre unterscheidet. Nun ist aber andererseits die Zeit für Schopenhauer eine bloße Anschauungsform des animalischen Erkenntnisapparates – mit dem Raum zusammen macht sie das principium individuationis aus – und limitiert sich daher auf die Welt der Erscheinung, wohingegen die Sphäre des Dings an sich außerhalb von Raum und Zeit steht. Schopenhauer versucht diesen Widerspruch aufzulösen, indem er seine Metaphysik in das Prokrustesbett der Platonischen Ideenlehre presst und die Dynamik seiner eigentlich zu einem metaphysischen Evolutionismus führenden Theorie in einer nunmehr statischen Ontologie von Objektivationsstufen still zu stellen sich bemüht, um den quasi-transzendenten Gebrauch der Anschauungsform der Zeit und also die Einführung von evolutionistischen Modellen zu verdecken.106 Dieser wenig überzeugende Versuch wurde auch von Schelling in seiner Identitätsphilosophie unternommen107, in der die beiden in entgegengesetzten Ableitungsrichtungen vorgehenden Theorien des transzendentalen Idealismus und der Naturphilosophie synthetisiert werden sollen.108 Wie immer man sich auch zu diesen evolutionistischen Elementen der spekulativen Theorien Schellings und Schopenhauers stellen mag, festgehalten sei, dass die hermeneutische Metaphysik mit ihrer organizistischen Auffassung einen Begriff von Natur als einer einheitlichen und vollständigen Ganzheit entwickelt, in welcher der Mensch als integraler Teil enthalten ist. Dies mag um den Preis der Widersprüchlichkeit und eines Mangels an argumentativer Stringenz geschehen. Dennoch glaubte sich Schelling – und in abgewandelter Form gilt dies auch für Schopenhauer – für berechtigt zu halten, mit 105

Schon in der subjektivitätsphilosophischen Perspektive steht der Wille als Selbstbewusstseinstatsache noch immer unter der Anschauungsform des inneren Sinns: der Zeit. Zudem unterliegt das Selbstbewusstsein der Trennung in Subjekt und Objekt, sodass sich in ihm das Subjekt des Erkennens und das Subjekt des Wollens gegenüberstehen (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 228 f); deren Identität in unserer empirischen Person, kraft derer wir uns als Individuum identifizieren, bezeichnet Schopenhauer als den unauflöslichen „Weltknoten“ (vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 3, S. 151 f sowie Bd. 2, S. 234). 106 Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 184 ff. 107 Vgl. etwa Schelling, Bd. 3, S. 31, wo er von der absoluten Gleichzeitigkeit aller Potenzen spricht und zugleich behauptet, dass sie ‚eigentlich‘ ohne alle Beziehung auf die Zeit, d.h. schlechthin ewig seien. 108 In der Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) bezeichnet Schelling folgerichtig Naturund Transzendentalphilosophie als „entgegengesetzte Pole des Philosophirens“, während in der Identitätsphilosophie nunmehr der Indifferenzpunkt beider eingenommen werde (vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 4). Entsprechend heißt es dort: „Die Kraft, die sich in der Masse der Natur ergießt, ist dem Wesen nach dieselbe mit der, welche sich in der geistigen Welt darstellt, nur daß sie dort mit dem Uebergewicht des Reellen, wie hier mit dem des Ideellen, zu kämpfen hat, aber auch dieser Gegensatz, welcher nicht ein Gegensatz dem Wesen, sondern der bloßen Potenz nach ist, erscheint als Gegensatz nur dem, welcher sich außer der Indifferenz befindet und die absolute Identität nicht selbst als das ursprüngliche erblickt.“ (ebd., S. 24)

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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seiner Theorie vom „Weltorganismus“ das geleistet zu haben, was die Vernunft nur immer in ihren höchsten Ansprüchen fordern mag: die Idee von der Einheit der Natur mit philosophischem Gehalt zu füllen und den Nachweis zu erbringen, dass der Mensch als handelndes und freies Wesen109 nicht aus dem Gesamtbestand dieser Welt herausfällt.110 Trotzdem sollte klar sein, dass dieses metaphysische Konzept des Organismus aus Kants Perspektive ein bloßes Symbol der Vernunftidee von der Einheit der Natur darstellt, d.h. nur eine ästhetische Idee, die die Vernunftidee auf analogische Weise anschaulich ausfüllt.111 Insbesondere in Schellings System des transzendentalen Idealismus wird der Organismus – und darauf aufbauend auch die Kunst – nach dem Modell des absoluten Ich als Subjekt-Objekt-Integral entworfen, wobei das organische Naturprodukt mit Hilfe des Begriffspaars ‚bewusst – bewusstlos‘ charakterisiert und vom Kunstprodukt unterschieden wird: 109

Es ließe sich behaupten, dass ein derartiger Naturbegriff auch die Grundlage für die geschichtsphilosophischen Überlegungen Herders darstellt, wonach sich der Mensch zwar einerseits aus den Naturzwängen emanzipiert habe und als „der erste Freigelassene der Schöpfung“ (Herder, 1877 ff, Bd. 13, S. 146) erscheint, andererseits aber der Gang Gottes in der Geschichte (vgl. ebd., Bd. 14, S. 244) mit dem „Gang Gottes in der Natur“ (ebd., Bd. 13, S. 9) strukturgleich sei (vgl. dazu auch Bollacher, 1987, S. 121 ff). Die menschliche Geschichte wäre danach zwar Teil der Naturgeschichte, zugleich stünde sie aber als Ausdruck der Freiheit über der Natur. 110 Zu den transzendentalen Voraussetzungen eines solchen Naturbegriffs bei Schelling schreibt Schmied-Korwazik: „Wo wir uns selbst als daseiend bewußtwerden, finden wir uns immer schon in eine daseiende Naturwirklichkeit gestellt. Die Realität dieser Naturwirklichkeit wird also keineswegs vom erkennenden Subjekt gesetzt, gleichwohl findet die Differenzierung von daseiendem Selbstbewußtsein und Bewußtsein einer daseienden Welt nirgends anders als im Bewußtsein selbst statt.“ (Vgl. Schmied-Kowarzik, 1997, S. 229) Schellings Idee der Natur als einer Ganzheit, „in die wir als wirkliche Subjekte selber miteinbezogen sind“ (ebd., S. 232), soll für diese Antinomie eine Lösung geben. 111 In Analogie zur Bestimmung des Dings an sich als Wille durch Schopenhauer ließe sich sagen, dass es sich bei dieser Auffassung der Natur als Organismus um eine Metapher i.S. der Benennung einer unbekannten Größe nach dem – Schopenhauer würde sagen: ‚uns am besten‘ – Bekannten handelt. Bereits für Herder war die Analogie Hauptmittel bei der Entwicklung eines Begriffs von der Einheit der Natur (vgl. dazu Bierbrodt, 2000, S. 119). Insofern Analogie und Erfahrung und nicht die metaphysische Spekulation (als „eine Luftfahrt –, die selten zum Ziel führet“ (Herder, 1877 ff, Bd. 13, S. 9)) zu den Hauptmitteln der Naturforschung wurden, erschienen Herder – wie Schelling und Schopenhauer – die „idealtypischen Entgegensetzungen von empirischer Naturwissenschaft einerseits und spekulativer Naturphilosophie andererseits“ als eine „viel zu undifferenzierte[] Polarisierung“ (Wetzels, 1987, S. 180). Manfred Frank stellt in diesem Zusammenhang die allgemeine Diagnose, dass Kant und seine Nachfolger – im Gegensatz zum analytischen Vorgehen des französischen Materialismus und des englischen Empirismus – synthetisch vorgegangen seien und dass entsprechend „die Synthesis des Verstandes ihrerseits in einer obersten Vernunftsynthesis fundiert [sei], die das Universum zu einem durchgängig bestimmten System nach Art eines Organismus macht, in welchem [...] alles wechselseitig Mittel und Zweck ist und Teil und Ganzes einander wechselseitig voraussetzen“ (vgl. Frank, Manfred: „Aufklärung als analytische und synthetische Vernunft“, in: Schmidt (Hrsg.), 1989, S. 390).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Die Natur in ihrer blinden und mechanischen Zweckmäßigkeit repräsentirt mir allerdings eine ursprüngliche Identität der bewußten und bewußtlosen Thätigkeit, aber sie repräsentirt mir je112 ne Identität nicht als eine solche, deren letzter Grund im Ich selbst liegt.“

In seiner Identitätsphilosophie überträgt er dies auf die Bestimmung des Absoluten: Schelling bringt hier das Absolute in einer Weise in Ansatz, die das Ich, wie es sich in der intellektuellen Anschauung als Subjekt-Objekt-Integral konstituiert, zum Modell nimmt.113 Das Absolute wird bestimmt als eine in sich differenzierte und dennoch mit sich identische Einheit von Einem und Vielem, von unendlich Indifferentem und endlichen Differenten oder als eine „Identität der Identität und der Nichtidentität“114, die sich in allen endlichen Erscheinungen der Welt manifestiert. Demnach ist jedes Einzelne immer zugleich Objektivation des Absoluten: Das ganze Universum ist im Absoluten als Pflanze, als Thier, als Mensch, aber weil in jedem das Ganze ist, so ist es nicht als Pflanze, nicht als Thier, nicht als Mensch oder als die besondere Einheit, sondern als absolute Einheit darin; erst in der Erscheinung, wo es aufhört das Ganze zu seyn, die Form etwas für sich seyn will und aus der Indifferenz mit dem Wesen tritt, 115 wird jedes das Besondere und die bestimmte Einheit.

Im Rahmen der Potenzenlehre, deren Analogisierungen Hegel als „besoffene Gedankenblitze“ bezeichnete, formuliert Schelling diesen Sachverhalt auch so, dass „jede Potenz, es sey in der reellen oder ideellen Reihe, jede für sich, wieder absolut“ und „in jeder Potenz für sich wieder die ganze Indifferenz des Wesens und der Form aus112

Schelling, Werke, Bd. 2, S. 610. Als Hauptaufgabe der Philosophie bestimmt Schelling entsprechend die Beantwortung der Frage, „wie dem Ich selbst der letzte Grund der Harmonie zwischen Subjektivem und Objektivem objektiv werde“, und leitet daraus die Forderung ab: „Es muß also in der Intelligenz selbst eine Anschauung sich aufzeigen lassen, durch welche in einer und derselben Erscheinung das Ich für sich selbst bewußt und bewußtlos zugleich ist [...].“ (ebd.). Diese Anschauung ist laut Schelling die ästhetische. 113 Wenn Schelling von der Notwendigkeit der Annahme eines dem menschlichen Geist analogen Geistes in der realen Natur spricht (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 696 u. 706), dann ist dies so zu verstehen, dass die Einheit der Natur nach dem Modell des absoluten Ich als Subjekt-Objekt-Integral begriffen wird. Auch die Novalissche Auffassung wird vor diesem Hintergrund verständlicher: „Poësie ist wahrhafter Idealismus – Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines großen Gemüts – Selbstbewußtseyn des Universums.“ (NO 3, S. 640) 114 So Hegel in seiner Differenzschrift (Hegel, Werke, Bd. 2, S. 96). 115 Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 446. Vgl. auch ebd., S. 447: „Alle erscheinenden Dinge sind demnach, obwohl höchst unvollkommene, Abbildungen des [urbildlichen] Ganzen, und bestreben sich in der besonderen Form, als besonderer, gleichwohl das Universum abzudrücken.“ Verwandte Gedanken finden sich auch bei Hölderlin, wobei dem Menschen – ähnlich wie bei Schelling und Schopenhauer – ein besonderer Status zukommt, weil in ihm die Alleinheit zum Bewusstsein komme: „Der Mensch sucht also in einem zu subjectiven Zustande, wie in einem zu objectiven vergebens seine Bestimmung zu erreichen, welche darin besteht, daß er sich als Einheit im Göttlichen – Harmonischentgegengeseztem enthalten, so wie umgekehrt, das Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesezte, in sich als Einheit enthalten erkenne.“ Dies erzeuge eine „Empfindung, welche darum transzendental ist“ (vgl. Hölderlin, 1943 ff, Bd. 4, 1, S. 259).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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gedrückt“ sei, d.h. dass das Absolute sich jeweils als Ganzes in der reellen und ideellen Reihe der Potenzen objektiviere.116 Auch das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem sei analog zum Verhältnis von einzelnem Organ und Gesamtorganismus zu verstehen. So heißt es im Bruno: Was also von allen bekannten und sichtbaren Dingen der Art des Endlichen, im Unendlichen zu seyn, am nächsten kommt, ist die Art, wie das Einzelne im organischen Leibe zum Ganzen verbunden ist, denn so wenig dieser einzelne organische Theil im organischen Leib als einzelner gesetzt ist, ebensowenig auch im Absoluten das Einzelne als Einzelnes, und gleich wie ein organischer Theil dadurch, daß er, reell betrachtet, nicht einzeln ist, nicht aufhört ideell oder für sich selbst einzeln zu seyn, ebenso auch das Endliche, sofern es im Absoluten ist. Das Verhältniß von Endlichem zu Endlichem in diesem ist daher nicht das der Ursache und Wirkung, sondern das, welches der Theil eines organischen Leibes zu dem andern Einzelnen hat; nur daß jene Verknüpfung des Endlichen mit dem Unendlichen im Absoluten unendlich vollkommener ist als die in einem organischen Leib. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 146)

So wird der Organismus zum „vollkommene[n] Gegenbild des Absoluten in der Natur und für die Natur“117 bzw. zum „unmittelbare[n] Abbild der absoluten Substanz oder der Natur schlechthin“, wobei „der Theil in ihm [dem Absoluten] nur ist, inwiefern das Ganze ist“118. Das Absolute trage jedoch nicht nur den Charakter des Organismus, sondern zugleich des vollkommenen Kunstwerks: Das Universum ist im Absoluten als das vollkommenste organische Wesen und als das vollkommenste Kunstwerk gebildet: für die Vernunft, die es in ihm erkennt, in absoluter Wahrheit, für die Einbildungskraft, in absoluter Schönheit. Jedes von diesen drückt nur dieselbe Einheit von verschiedenen Seiten aus, und beide fallen in den absoluten Indifferenzpunkt, dessen 116

Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 470 ff. In seiner Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) schreibt Schelling: „Alles Einzelne ist zwar nicht absolut, aber in seiner Art [= in seiner Potenz] unendlich.“ (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 29). Daher sei der einzelne Gegenstand eine „relative“ Totalität: „Jedes Einzelne ist in Bezug auf sich selbst eine Totalität.“ (ebd.) Entsprechend stellt jede Potenz für sich eine Einheit von Subjektivem und Objektivem, ein relatives Absolutes (einen Indifferenzpunkt) dar. Dabei werden die ideelle Potenzenreihe mit ihrem Überwiegen des Subjekts vor dem Objekt und die reelle mit ihrem Überwiegen des Objekts vor dem Subjekt parallelisiert, sodass sich Kunst (als höchste ideelle Potenz) und Organismus (als höchste reelle Potenz) entsprechen. 117 Schelling, Werke, Bd. 1, S. 718. Schelling denkt dabei v.a. an den menschlichen Organismus: „die unendliche Substanz [..] als absolute, potenzlose Identität ausgeprägt, ist nur der menschliche Organismus“ (Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 417). Die Konsequenzen der Orientierung am menschlichen Organismus, der dadurch zum „Weltsystem [...] im Kleinen“ (ebd.) wird, können hier nicht weiter verfolgt werden. 118 Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 307. An anderer Stelle bezeichnet Schelling den Organismus als „vollendete Darstellung des allgemeinen Lebens der Substanz in einem besonderen Leben“ (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 442). Vgl. Frank, 1994, S. 60: „Die Relativität erweist sich einerseits als Moment innerhalb der Struktur des Absoluten, denn was es immer an sein in der Relativität gibt, ist nichts als die Präsenz des Ganzen im Teil, und das Ganze ist eben völlige Ununterschiedenheit der Differenz und der Identität. So schließt sich die Struktur des Absoluten an die des Organismus an, die ja auf analoge Weise in sich einschließt, was ihr entgegengesetzt ist: den Mechanismus.“

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Erkenntniß zugleich der Anfang und das Ziel der Wissenschaft ist. (Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 475)

Das Universum erscheint damit als ein unendliches Verweisungssystem, in dem eines jeweils alles andere repräsentiert.119 Insbesondere bei Novalis wird dies deutlich: Jeder individ[uelle] Lebensproceß wird durch den universellen Lebensproceß, das Natursystem eines Individuums sowohl durch die übrigen individuellen Natursysteme, als durch das höhere, allgemeine – und am Ende durch das Natursystem des Universums mitbestimmt – in120 soweit dasselbe jene und dieses gegenseitig bestimmt. (NO 3, S. 334)

Im Rahmen solch einer ‚ganzheitlichen‘ Lehre, wonach jedes Phänomen „ein Glied einer unermeßlichen Kette“ ist121, kann Novalis mit Schelling sagen: „Alles ist sich gegenseitig Symptom. [...] Das Universum ist das Absolute Subject oder der Inbegriff aller Prädicate.“122 Die durchgängige Relativität der empirischen Unendlichkeit, die Novalis als ein „allgemeines Annihilationssystem“ erscheint, korrespondiert mit einem ontologischen Funktionalismus, der die Möglichkeit einer totalen Analogisierung eröffnet und den Novalis als „Wechselrepraesentationslehre des Universums“123 bezeichnet: „Alles kann Symbol des Andern seyn – Symbolische Function.“124 Somit besteht die Aufgabe der (Identitäts-)Philosophie laut Schelling in einer systematischen Verortung der empirischen Phänomene im Absoluten durch die Methode der

119

Der Einfluss der Leibnizschen Monadolgie ist hier unverkennbar. Vgl. ebd., S. 603: „Die Natur ist ein Ganzes – worinn jeder Theil an sich nie ganz verstanden werden kann. Der ächte Naturforscher geht von irgend einem Puncte aus und verfolgt seinen Weg Schritt vor Schritt in die Unermeßlichkeit hinein mit sorgfältiger Verknüpfung und Aneinanderreihung der einzelnen Thatsachen.“ 121 NO 3, S. 574. Als wichtigster Gewährsmann dieses ‚ganzheitlichen‘ Naturkonzepts hat Goethe zu gelten. Dafür lassen sich unzählige Belege beibringen – stellvertretend sei hier zitiert: „In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe [...]. Da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe [...].“ (Goethe, 1981, Bd. 13, S. 17 f) 122 NO 3, S. 381. An anderer Stelle heißt es in demselben Geist: „Der innige Zusammenhang, die Sympathie des Weltalls, ist ihre [der Mathematik] Basis.“ (NO 3, S. 593) 123 NO 3, S. 266. In seinem Essay Die Christenheit und Europa spricht Novalis vom „Zauberstab der Analogie“ (NO 3, S. 518). Novalis entwickelt auch einen metaphysischen Begriff vom Handelsgeist als einer alles in Beziehung setzenden Tätigkeit (vgl. NO 3, S. 464) In ähnlicher Weise äußert sich Friedrich Schlegel: „Die Analogie ist das Princip für die Char.[akteristik] des Universums. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 213) 124 NO 3, S. 398. An anderer Stelle heißt es: „Je mannichfacher Etwas individualisirt ist – desto mannichfacher ist seine Berührung mit andern Individuen – desto veränderlicher seine Grenze – und Nachbarschaft. / Ein unendlich caracterisirtes Individuum ist Glied eines Infinitinomiu[m]s – So unsre Welt – Sie gränzt an unendliche Welten – und doch vielleicht nur an Eine.“ (NO 3, S. 261) 120

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

305

Konstruktion.125 Es handelt sich damit um eine Alleinheitslehre in der Form des „Panentheismus“, d.h. um die spinozistische Lehre, nach der sich zwar Alles im Einen, nicht aber zugleich das Eine in Allem befindet.126 Insofern alles Einzelne im unendlichen Einen bereits enthalten ist, muss in einer solchen Metaphysik das Einzelne nicht aus dem Einen in der Zeit kausal abgeleitet werden: Schelling umgeht den transzendenten Gebrauch von Zeit und Kausalität und erhält mit seiner Philosophie des Absoluten am Ende eine statische Metaphysik, die keinen Raum mehr für ein evolutionäres Denken bietet. Dies steht freilich in offenem Widerspruch zu den Überlegungen Schellings – und, wie gesehen, auch Schopenhauers – bezüglich der evolutionistischen Aspekte der Naturphilosophie. Den Widerspruch versucht Schelling dadurch aufzulösen, dass er beide Betrachtungsweisen – die ‚statische‘ der Identitätsphilosophie und die das Entwicklungskonzept integrierende der Naturphilosophie – als „gleich möglich“ bezeichnet. Entsprechend stellt Schelling das „dynamische System“ der Identitätsphilosophie dem von der Evolution ausgehenden „atomistischen System“ gegenüber: Das dynamische System leugnet die absolute Evolution der Natur, und geht von der Natur als Synthesis (= der Natur als Subjekt) zu der Natur als Evolution ( = der Natur als Objekt), das atomistische System geht von der Evolution als dem Ursprünglichen zu der Natur als Synthesis; jenes vom Standpunkt der Anschauung zu dem der Reflexion, dieses vom Standpunkt der Reflexion zu dem der Anschauung. Beide Richtungen sind gleich möglich. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 296)

Diese Begriffswahl Schellings ist überraschend – sie suggeriert ein Entsprechungsverhältnis zwischen ‚dynamischer‘ Theorie und ‚panentheistischer‘ Spekulation, das kaum zu halten ist. Sieht man hiervon jedoch ab, bleibt festzuhalten, dass innerhalb einer dynamischen, d.h. in unserem Interpretationszusammenhang: evolutionistischen Metaphysikkonzeption – wie sie Schelling und Schopenhauer doch und dennoch entwickeln – das gesamte Universum in seiner gesetzmäßigen Struktur am Ende des Evo-

125

Vgl. hierzu insgesamt, als wohl fasslichste Darstellung der Philosophie des Absoluten, die Fernere Darstellung aus dem System der Philosophie (1802), in: Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 391 ff. 126 Wir folgen hierbei der Interpretation der spinozistischen Philosophie, die Konrad Cramer vorgelegt hat (vgl. Cramer, 1985, S. 151-179). Novalis hingegen hing noch der neuplatonischen Alleinheitslehre an, wonach nicht nur Alles in Einem, sondern auch Eines in Allem ist: „Zentripetalkraft – ist das synthetische Bestreben – Centrifugalkraft – das analytische Bestreben des Geistes – Streben nach Einheit – Streben nach Mannichfaltigkeit – durch wechselseitige Bestimmung beyder durch Einander – wird jene höhere Synthesis der Einheit und Mannichfaltigkeit selbst hervorgebracht – durch die Eins in Allem und Alles in Einem ist.“ (NO 2, S. 589). Zugleich aber vertrat er wie Schelling und Schopenhauer diejenige Position, die wir als realdialektische Metaphysik bezeichnet haben (vgl. z.B. NO 2, S. 266: „Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn – Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Obj[ect] und Subject sind durch ihn, nicht er d[urch] sie.“).

306

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

lutionsprozesses noch einmal im Modus des Erkennens dasteht und sich im menschlichen Bewusstsein idealiter spiegelt127: Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird.128

Indem sich somit der Kreis der Entwicklung im Intellekt als der ‚Selbstbespiegelungsinstanz‘ der Natur schließt129, ermöglicht die in sich zurücklaufende Struktur dieser spekulativen Metaphysik eine Gesamtansicht des Universums, wie sie auch Schellings Theorie von der Welt als Organismus leisten sollte. Wie haltbar die Spekulationen zur Selbstbespiegelung des Universums im Bewusstsein auch immer sein mögen130, so

127

Kurz und bündig bestimmt Novalis in diesem Zusammenhang das Bewusstsein: „Das Bewußtseyn ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn.“ (NO 2, S. 106) 128 Schelling, Werke, Bd. 3, S. 340. Auch Friedrich Schlegel versteht den Menschen als ein „Symbol der Natur“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 57), als „Koinzidenzpunkt zwischen dem Unendlichen und seiner vorübergehenden Gestaltwerdung im Bewußtsein“ (vgl. Enders, 2000, S. 75). Die Hypothese von der Selbstbespiegelung des Universums im menschlichen Bewusstsein wird auch heute noch diskutiert – und zwar nicht allein von spekulativen Denkern wie Teilhard de Chardin. So schreibt Jay Rosenberg: „We can understand our representational activities [...] only by redesribing them in terms of the concepts of a total theory of the universe as a physical system which, of natural necessity, evolves subsystems which in turn necessarily project increasingly adequate representations of the whole. To put it crudely, we must come to see the physical universe as an integrated physical system which necessarily ‚grows knowers’ and which thereby comes to mirror itself within itself.“ (Zit. nach: Rorty, 1980, S. 297) Angesichts dessen ließe sich die These formulieren, dass eine realistische Erkenntnistheorie nur als eine zirkuläre evolutionäre Theorie möglich sei. Ob ein solches zirkuläres System im Rahmen einer hermeneutischen Metaphysik als Vollendung der Aufklärung angesehen werden könnte, soll hier nicht entschieden werden. 129 Zumindest die Voraussetzungen dieser spekulativen Theorie teilt auch die evolutionäre Erkenntnistheorie mit ihrem „hypothetischen Realismus“: Weil unser „ratiomorpher“ Erkenntnisapparat im Prozess der Evolution als unser Überleben erfolgreich sichernd selektiert worden ist, bildet er die Realität – zumindest teilweise – korrekt ab. Nun gilt dies für jedes Lebewesen, das im „struggle for life“ besteht. Da aber der Mensch im Unterschied zum Tier nicht bloß eine begrenzte Umwelt hat, sondern in einer ‚offenen‘ Welt steht und alle ökologischen Nischen aufbricht, gibt nach dieser Auffassung das menschliche Bewusstsein auch die Welt als Ganzes in groben Zügen korrekt wieder (wobei das Bewusstsein jedoch nicht allein die sinnliche Wahrnehmung, sondern unseren gesamten Erkenntnisapparat mit allen Korrektur-, Experimentier- und Handlungsmöglichkeiten umfasst). Das Problem ist nur, dass zur Überprüfung dieser Korrektheit kein externes Kriterium zur Verfügung steht; dieser Realismus ist daher bloß hypothetisch und – ließe sich hinzusetzen – spekulativ. 130 Bei Schelling wird in diesem Argumentationszusammenhang der Begriff des Bewusstseins zunehmend durch denjenigen der Vernunft ersetzt. So bezeichnet Schelling die Vernunft als „heiligen Sabbath der Natur“, „wo sie, ruhend über ihren vergänglichen Werken, sich selbst als sich selbst erkennt und deutet“ (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 446). Bei Schopenhauer übernimmt diese Funktion der Intellekt.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

307

ist auf diese Weise doch ein Naturbegriff gewonnen, in dem der Mensch als integraler Teil der Natur aufgefasst wird.131 Da aber das Ziel der hermeneutischen Metaphysiker die Entwicklung eines „Systems der Freiheit“132 war, innerhalb dessen der Mensch zwar einen Sonder-, aber keinen Ausnahmestatus innehat, weil in einem solchen System auch die Natur als mit dem Menschen letztlich wesensgleich konstruiert wird, da dieses Ziel, sage ich, nicht nur angestrebt, sondern (mit den genannten Einschränkungen) auch erfüllt wurde, waren Schelling und Schopenhauer der Überzeugung, dass sie sowohl mit ihrer organizistischen Ontologie als auch mit ihrer Theorie vom Bewusstsein als der ‚Selbstbespiegelungsinstanz‘ der Natur die Idee von der Einheit und Totalität der Natur empirisch gesättigt hätten. Mehr noch, indem der Mensch nicht nur als integraler Teil der Natur, sondern zugleich als höchste Objektivationsstufe ihrer Entwicklung dargestellt wird, sodass die Natur im Bewusstsein gleichsam zu ihrer Selbsterkenntnis gelangt, bewahrt diese Form von spekulativem Denken dem Menschen seine Dignität, die aber nicht in Selbstüberhebung umschlagen kann, da, wenn überhaupt irgendetwas, so das Eine mit apodiktischer Gewissheit gesagt werden kann: Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird un133 ser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben.

Dies scheint den Vertretern der hermeneutischen Metaphysik das Einzige, was sich auf die „letzte Frage des am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnden Verstandes“: „wa131

Einen hiervon völlig verschiedenen Naturbegriff vertrat Fichte: „Die Natur ist jedoch [bei Fichte] nicht nur nichts Geistiges, sondern sie ist für sich selbst genommen überhaupt nichts, sie ist nur gesetzt als Schranke für das menschliche Bewußtsein, damit dieses über sich hinausstrebe, um zur Verwirklichung reinen geistigen Seins und Lebens zu gelangen.“ (Vgl. Schmied-Kowarzik, 1997, S. 218 f). Diesen Begriff Fichtes von der Natur als einer bloßen Schranke, derer das menschliche Bewusstsein nur bedarf, um sie „immer fort durch sein steigendes Leben durchbrechen“ zu können, und damit als „Material zur Verwirklichung sittlichen Menschseins“ (ebd., S. 225; vgl. Fichte, Werke Bd. 4, S. 405 ff) traf die harsche Kritik Schellings. So schreibt er in seiner Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806): Die „Essenz seiner [Fichtes] ganzen Meinung von der Natur“ ist, „daß die Natur gebraucht, benutzt werden soll, und daß sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden; sein Princip, wonach er die Natur ansieht, ist das ökonomisch-teleologische Princip“. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 611) Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass Fichte an anderer Stelle darlegt, dass ohne einen Begriff der Natur als eines organischen Ganzen keine Auffassung des Menschen weder als eines sinnlich-leiblichen Naturwesens noch als eines frei handelnden Wesens möglich sei: „Die Natur überhaupt ist sonach ein organisches Ganzes und wird als solches gesetzt. [...] [S]o gewiß ich bin, so gewiß muß ich der Natur Kausalität zuschreiben; denn ich kann mich selbst nur als ihr Produkt setzen.“ (Fichte, Werke, Bd. 2, S. 509 f; vgl. dazu Schmied-Kowarzik, 1997, S. 226) Auch Fichte denkt also bereits in Richtung eines realdialektischen Naturbegriffs. 132 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 661 ff. 133 Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 215. Ob Hegels absoluter Idealismus mit seinem relationsontologischen Begriff von der Substanz als Subjekt als Überwindung und vollgültiger Abschluss der hermeneutischen Metaphysik zu betrachten ist, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

rum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt?“134 zur Antwort geben ließe.135 So erscheint bei Schelling die organizistische Auffassung von Welt und Absolutem als die einzig vernünftige: Nur für die Vernunft ist ein Universum, und etwas vernünftig begreifen heißt: es zunächst als organisches Glied des absoluten Ganzen, im nothwendigen Zusammenhang mit demselben, und dadurch als einen Reflex der absoluten Einheit begreifen. (Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 442)

In diesem Sinne bestimmt Schelling die absolute Vernunft auch als die „totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven“, in der in einer Weise „vom Denkenden abstrahirt“ wird, dass die Vernunft als das wahre „An-Sich“ erscheint.136 Dem entsprechend hebt er hervor: Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist alles. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 11)

Mehr noch, für Schelling wie für Schopenhauer soll die organismische Einheit der Welt auch ideell in der Struktur des philosophischen Systems abgebildet werden. Auch das System soll kein linearer Ableitungszusammenhang sein, der aus ersten Prinzipien alle Folgesätze more geometrico deduziert137, sondern ein geschlossener Organismus, in der die Systemteile sich wechselseitig voraussetzen und allein aus dem Ganzen verständlich werden: Jedes angeblich voraussetzungslose Verfahren in der Philosophie ist Windbeutelei; denn immer muß man irgend etwas als gegeben ansehen, um davon auszugehn. [...] Ein solcher Ausgangspunkt des Philosophirens, ein solches einstweilen als gegeben Genommenes, muß aber nachmals kompensirt und gerechtfertigt werden. [...] Um nun also die hierin begangene Willkürlichkeit wieder auszugleichen und die Voraussetzung zu rektificiren, muß man nachher den Standpunkt wechseln, und auf den entgegengesetzten treten, von welchem aus man nun das 138 Anfangs als gegeben Genommene, in einem ergänzenden Philosophem wieder ableitet.

Schopenhauer geht sogar so weit zu behaupten, dass sein gesamtes System nur der Mitteilung eines einzigen Gedankens diene, der am kürzesten bereits im Titel seines Hauptwerks ausgedrückt sei.139 Dieser Titel weist jedoch deutlich auf die dialektische 134

Vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 85. Novalis hingegen ist der Auffassung, dass in Schellings Naturphilosophie „ein beschränkter Begriff der Natur und der Phil[osophie] vorausgesezt“ werde (vgl. NO 3, S. 666) – aus welchen Gründen, verrät er freilich nicht. 136 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 10 f. 137 Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass Schelling mit seiner Darstellung meines Systems der Philosophie ein Werk vorgelegt hat, das sich Spinozas Ethica formal zum Vorbild nimmt. 138 Schopenhauer, Werke, Bd. 5, S. 39. Vgl. auch Bd. 2, S. 338: „Man erkennt aber nichts ganz und vollkommen, als bis man darum herumgekommen und nun von der andern Seite zum Ausgangspunkt zurückgelangt ist“ 139 Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 7 f. Dort heißt es weiter: „EIN EINZIGER GEDANKE muß [...] die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile ein organischer seyn, wo jeder Theil ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen erhalten wird, keiner der erste und 135

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Struktur dieses „System[s] totaler Vermitteltheit ohne absolut Erstes“140 hin, in dem das antinomische „Grundverhältnis“ in dem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis von transzendentalem Idealismus und metaphysischem Realismus wiederkehrt. Gleiches gilt auch für Schelling, wenn er in den Erlanger Vorträgen von 1821/25 sagt: Wie es nur ein und dasselbe Subjekt ist, das in den verschiedenen Gliedern eines Organismus 141 lebt, so muß es nur Ein Subjekt seyn, das durch alle Momente des Systems geht.

Trotz der Überzeugung, dass unter der Voraussetzung seiner konsequenten Durchführung „an sich jedes System gleiches Recht“ habe142, der Widerstreit der Systeme also „einen objektiven Grund [besitze], daß er in der Natur der Sache selbst, in den Wurzeln alles Daseyns gegründet“ sei und dass es entsprechend nicht darum gehe, „diesen Widerstreit, dieses bellum omnium contra omnes damit zu beendigen, daß irgend eine einzelne Ansicht der andern absolut Meister werden, ein System das andere unterjochen könne“143 –, trotz dieser Überzeugung will Schelling die „Idee des Systems im großen Sinn“ nicht aufgeben. Mit diesem „Totalsystem, in welchem alle jene einzelnen Systeme gleichsam verstummen und unmöglich werden“144, ist jedoch weniger ein spekulatives ‚Supersystem‘ intendiert als vielmehr ein organisches Ganzes, das alle philosophischen Systeme zu integrieren vermag: Nicht vertilgt werden sollen die Systeme, sondern zusammenbestehen, wie die verschiedenen Systeme in einem Organismus, und durch dieses ihr Zusammenbestehen eine Ansicht erzeu145 gen, die über allen einzelnen liegt [...]. (Ebd., S. 7)

keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne dass schon das Ganze vorher verstanden sei.“ 140 Spierling, 1977, S. 152. 141 Schelling, Werke, Bd. 4, S. 9. Ähnlich äußert sich Friedrich Schlegel: „Die Idee der Philosophie kann nur erreicht werden durch eine unendliche Progression der Systeme. Ihre Form ist der Zirkel.“ (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 10) 142 Schelling, Werke, Bd. 4, S. 5. 143 Ebd., S. 4. Der Systembegriff Friedrich Schlegels erinnert an vielen Stellen sehr stark an diese Auffassung Schellings. So schreibt er beispielsweise: „Jede ϕσ [Philosophie] die individuell ist, ist ein συστ [System]. In dieser Rücksicht giebt es unendl[ich] viele συστ [Systeme]. Ein Beweis allein beweißt nie; alle Beweise müssen systematisch und historisch sein; auch ganze συστ [Systeme] werden erst gedichtet und gemacht, dann schreibt man die Deduction hinterdrein.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 92) Schlegel geht sogar so weit zu behaupten: „Jeder Satz jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.“ (Ebd., S. 83) 144 Schelling, Werke, Bd. 4, S. 6. Nur ein solches System als eine „Einheit der Einheit und des Gegensatzes“ vermag die „Asystasie“ oder das „bellum intestinum in dem menschlichen Wissen“ zu beseitigen (vgl. ebd., S. 3). 145 Dem Organismus vergleicht auch Friedrich Schlegel das philosophische System: „So wie die Organe des Organismus sich wechselseitig erhalten und der organische Verbund nur insgesamt überleben kann, besteht auch ein System von Ideen oder Definitionen nur im Zusammenhang.“ (zit. nach Bierbrodt, 2000, S. 300) An anderer Stelle heißt es: „System ist eine durchgängig gegliederte

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Wie immer dies auch in concreto aussehen mag, so soll dadurch doch jenes „System der Freiheit“ erreicht werden, das der Zielpunkt allen Philosophierens sei146: [W]er bis zum Ende durchgedrungen ist, sieht sich wieder in völliger Freiheit, er ist frei vom 147 System – über allem System. (Ebd., S. 9)

Man könnte ein solches System auch als ‚relationistische Metaphysik‘ bezeichnen – mit dem Zusatz freilich, dass sie trotz der wechselseitigen Relativierung der in ihr eingenommenen Standpunkte den Anspruch erhebt, eine spekulative Übersicht über das Seinsganze zu erlangen. Allerdings kann diese Übersicht für Schelling und Schopenhauer nur in dieser ‚relationistischen‘ Weise gewonnen werden kann. Die hermeneutische Metaphysik ist zwar realdialektisch verfasst, indem sie sich stets in zwei Ableitungsrichtungen vollzieht, zugleich aber soll sie eine synthetische Spekulation darstellen, insofern sie den idealistischen und den realistischen Ansatz wenngleich nicht in der einen oder anderen Hinsicht aufeinander zu reduzieren und dadurch ihr antinomisches Verhältnis aufzulösen vermag, so doch jeweils in einer Weise zu verfolgen versucht, in der Idealismus und Realismus sich wechselseitig erhellen und zu einer Deutung der Welt und der menschlichen Existenz beitragen können. Ähnliche Bestrebungen finden sich auch bei den Frühromantikern. So notiert Novalis: Synth[etische] Urtheile sind genialische – nicht antinomische, einseitige Urtheile – Eine Art von einseitigen Urtheilen begreift der Idealismus – die Andre der Realismus. Die synth[etischen] Urth[eile] begreift der Kriticism. Methode des Synth[etischen] Urtheilens – System der synth[etischen] Urtheile. Gemeiner – höherer Kriticismus. [...] Der gemeine Kriticism spuckte im Academism oder Eklecticism vor – der höhere im Synkretism. / Synkretism oder Synkriticism ist Eins. (NO 3, S. 333)

Was Novalis ‚Synkritizismus‘ nennt, wird von Friedrich Schlegel, wie schon von Schelling, als „Real-Idealismus“148 bezeichnet. Auch Schlegel unternimmt damit den Versuch, den in seinen Augen einseitigen und als bloß subjektiv abgewerteten Idealismus Fichtes mit dem seines Erachtens ebenso einseitigen, weil bloß objektiven Realismus Spinozas zu einem „absoluten Idealismus“ bzw. einer „absoluten Philosophie“ zu verAllheit von wissenschaftl[ichem] Stoff, in durchgehender Wechselwirkung und organischem Zusammenhang.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 12) 146 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 661 ff. Novalis vertrat eine ähnliche Position: „Das oberste Princip muß schlechterdings Nichts Gegebenes, sondern ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes, seyn, um ein allgemeines metaphysisches System zu begründen, das von Freyheit anfängt und zu Freyheit geht. / Alles Filosofieren zweckt auf Emanzipation ab.“ (NO 2, S. 273) 147 Schelling versucht damit „die allgemeine Idee der Fortschreitung, der Bewegung in dem System“ philosophisch zu realisieren, wobei es seiner Auffassung nach zwar „nur Ein Subjekt [gebe], das durch alles geht“, dieses Subjekt aber nicht näher zu definieren sei. In demselben Sinne äußert sich Novalis: „Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht, seyn. Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und weder der Ungerechtigkeit noch der Anarchie bezogen [bezichtigt] werden.“ (NO 2, S. 288 f) 148 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2; S. 315.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

311

einigen.149 Dabei soll jedoch diese Philosophie auch in den Augen Novalis‘ und Schlegels auf empirischen Grundlagen formuliert werden. Deshalb sei nur sie dazu in der Lage, echte Hypothesen zu formulieren: Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft. [...] Der Skeptiker [...] hat so wenig, wie der gemeine Empirismus das Mindeste zur Erweiterung der Wissenschaft gethan – Der Skeptiker verleidet höchstens den Hypothetikern den Ort, wo sie stehn, macht ihnen den Boden schwanken [...]. Der ächte Hypothetiker ist kein andrer, als der Erfinder, dem vor seiner Erfindung oft schon dunkel das entdeckte Land vor Augen schwebt – der mit dem dunkeln Bilde über der Beobachtung, dem Versuch schwebt – und nur durch freye Vergleichung – durch mannichfache Berührung und Reibung seiner Ideen mit der Erfahrung endlich die Idee trift, die sich negativ zur positiven Erfahrung verhält, daß beyde dann auf immer zusammenhängen – und ein neues himmlisches Licht die zur Welt gekommene Kraft umstrahle. (NO 2, S. 668 f)

Auf diese Weise entsteht ein System, in dem gerade dadurch, dass in ihm alle festen Punkte aufgehoben sind, eine umfassende spekulative Deutung der Welt und des menschlichen Bewusstseins gegeben wird. In einem anderen Sinn, als Kant dies hinsichtlich seiner Transzendentalphilosophie tat, vergleicht Novalis eine derartige ‚relationistische‘ Metaphysik auf eindrückliche Weise mit dem kopernikanischen System: D[ie] Phil[osophie] macht alles los – relativirt das Universum – Sie hebt wie das Copernikanische System die festen Puncte auf – und macht aus dem Ruhenden ein Schwebendes. / Sie lehrt die Relativitaet aller Gründe und aller Eigenschaften – die unendl[iche] Mannichfaltigkeit und Construktionen Eines Dinges etc. (NO 3, S. 378)

Ein solches System, das wir als ‚realdialektisch‘, ‚hermeneutisch‘ und ‚relationistisch‘ bezeichnet haben, gelangt aber nicht nur zu einer organizistischen Deutung der Natur, sondern wird von Schelling und Schopenhauer zugleich als ein ‚lebendiger‘ Organismus betrachtet. Dies jedoch stellt die Philosophie in ihren Augen in eine verwandtschaftliche Nähe zur Kunst, die, wie wir in den nächsten beiden Kapiteln sehen werden, in der zeitgenössischen Ästhetik ebenfalls organizistisch aufgefasst wird. Am Horizont der philosophischen Spekulation erscheint so zuletzt eine Theorie, in der das Ich, die Natur und das Absolute nicht allein dem Organismus, sondern zugleich dem Kunstwerk verglichen werden können: „Der Philosoph bereitet, schafft künstliche Elemente und geht so an die Construction. Die Naturgeschichte des Ich ist dieses nicht – Ich ist kein Naturproduct – keine Natur – kein historisches Wesen – sondern ein artistisches – eine Kunst – ein Kunstwerck. Die Naturgeschichte des Menschen ist die andre Hälfte. Die Ichlehre und Menschengeschichte – oder Natur und Kunst werden in einer höhern Wissenschaft – (der moralischen Bildungslehre) vereinigt – und wechselseitig vollendet.“ (NO 3, S. 253)

Welchen rationalen Gehalt solch eine ‚höhere Wissenschaft‘ hat, werden wir im Folgenden zu analysieren versuchen. 149

Vgl. dazu auch Enders, 2000, S. 44-83, insbesondere S. 67.

2.2.3 Die romantische Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik Es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen 1 wurden.

Als Kant seine dritte Kritik schrieb, um mit dem Konzept der Urteilskraft die Ansprüche der theoretischen und praktischen Vernunft zu versöhnen, da unternahm er eine intellektuelle ‚Parallelaktion‘ von wirkungsgeschichtlich kaum abzusehender Tragweite: Auf der einen Seite formulierte er die Theorie der ästhetischen Urteilskraft, die in letzter Instanz auf das Kunstwerk zielt2, auf der anderen diejenige der teleologischen Urteilskraft, die im Organismus ihr zentrales Modell findet. Angesichts dieser Parallelaktion Kants stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis ästhetische und teleologische Urteilskraft bzw. Kunstwerk und Organismus zueinander stehen – eine Frage, die wir nicht erkenntnistheoretisch, sondern im Hinblick auf die Entwicklung der Kunstmetaphysik um 1800 betrachten wollen.3 Kunstwerk und Organismus werden von Kant über den Begriff des Zwecks bestimmt4: Das Schöne und dem zufolge auch die Kunst besitze eine formale und subjektive Zweckmäßigkeit, die sich auf das freie Spiel der Erkenntnisvermögen beziehe und dadurch ein Gefühl der Lust erzeuge, während der Organismus als dasjenige bestimmt wird, was durch eine reale und objektive Zweckmäßigkeit5 charakterisiert sei, d.h. was den Zweck in sich selbst trage: erst dieser Selbstzweck, der sich in der Selbstorganisation des Organismus äußert, ist ein Naturzweck. Kant bezeichnet vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen die „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ als transzendentales Prinzip der Urteilskraft6, ohne das kein Begriff von der Einheit der Natur (als Einheit der Erfahrung) erlangt werden könne.7 Wenn diese Parallelisierung Kant auch nicht dazu geführt hat, Kunstwerk und Organismus zu analogisieren, so hat er doch eine Debatte ausgelöst, die im Deutschen Idealismus, aber auch in Frühromantik und Weimarer Klassik zu einem organizistischen Begriff 1 2 3

4 5 6

7

NO 4, S. 140. Dies lässt sich trotz der besonderen Bedeutung sagen, die Kant dem Naturschönen zumisst. Selbstverständlich wird mit den folgenden Ausführungen nicht beansprucht, eine hinreichende Interpretation der Kritik der Urteilskraft zu leisten; vielmehr soll hier nur ein Einstieg in die Problematik gefunden werden. Zweck definiert Kant als „Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird“ (vgl. Kant, KU, B 32). Und zwar i.S. einer inneren Vollkommenheit, nicht einer äußeren Nützlichkeit des Organismus (vgl. KU, B 44). Vgl. KU, A 180. Die teleologische Urteilskraft ist für Kant „bloß ein regulatives Princip für die bloße Beurtheilung der Erscheinungen“ (B 270) bzw. „ein Princip mehr, die Erscheinungen derselben [= der Natur] unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Causalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen“ (B 269). Vgl. KU, A 183.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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vom Kunstwerk geführt hat. Gleichwohl kann man schon bei Kant Gründe dafür finden, dass zwischen Kunstwerk und Organismus mehr besteht als eine bloß kontingente Parallele, nämlich eine rational rekonstruierbare Analogie. Die argumentativen Vermittlungsglieder für diese Analogisierung finden sich einerseits in Kants Geniebegriff, andererseits in seinen Ausführungen zum Verhältnis von ästhetischer und Vernunftidee. Der enge Bezug der ästhetischen Urteilskraft und also der Kunst zur teleologischen Urteilskraft und damit zum Konzept der Natur bzw. zum Organismus als deren höchstem Produkt wird zum ersten sichtbar in Kants Bestimmung des Genies. Das Kunstwerk erweckt, so Kant, den Anschein, als ob es „ein Product der bloßen Natur“ sei, das frei ist „von allem Zwange willkürlicher Regeln“: Obwohl wir bei dessen Rezeption niemals das Bewusstsein verlieren, dass wir es mit Kunst zu tun haben, ist das Charakteristische des Kunstwerks, dass es „als Natur aussieht“ – obwohl absichtlich hervorgebracht, scheint es unabsichtlich entstanden zu sein.8 Das Kunstwerk ist nun für Kant Produkt des Genies, das entsprechend als das „Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt“, bzw. als „angeborne Gemüthsanlage (ingenium) durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt“, bestimmt wird.9 Das Genie rückt damit bezüglich des Kunstwerks in jene Position, die – zumindest für eine teleologische Betrachtungsweise – der Schöpfer gegenüber der Natur einnimmt: es schafft ein zweckvolles Ganzes. Zugleich aber verschwinden Genie und Schöpfer hinter ihrem Werk: Kunstwerk und (organisches) Naturprodukt scheinen ihren Zweck in sich selbst zu haben. Außerhalb des theistischen Kontextes und mit Bezug auf einen mimetischen Kunstbegriff ließe sich Kants Konzeption auch so wiedergeben, dass das Genie im Kunstwerk die natura naturans, d.h. die Natur in ihrer Produktivität, nicht jedoch die Naturprodukte, die natura naturata nachahme. Das Genie als „das belebende Princip im Gemüthe“10 ist laut Kant darüber hinaus das „Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“.11 Die ästhetische Idee definiert er als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“.12 Sie tritt als „Gegenstück 8 9

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Vgl. KU, B 179. Vgl. KU, B 181. Das Genie ist also keine Charaktereigenschaft, die der Person des Künstlers zugeschrieben werden kann, sondern eine durch das Individuum hindurchgreifende Naturkraft, durch die sich das Kunstwerk gleichsam selbst organisiert. Dennoch ist das Kunstwerk laut Kant zugleich eine „Hervorbringung durch Freiheit“ und damit ein „Werk des Menschen“ (vgl. B 175). Deswegen sei für seine Produktion auch technisches Können, also die Beherrschung eines „Mechanismus“ notwendig (vgl. B 176). Diese Einsicht führte Schelling im System des transcendentalen Idealismus auf die Unterscheidung von Poesie und Kunst. Das Genie erscheint bei Kant genauer als „das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt“ (vgl. KU, B 192). Ebd. Kant bestimmt das Genie hier auch als Vermögen des „Geist[es] in ästhetischer Bedeutung“. Vgl. KU, B 193. Das Gemüt wird also durch die ästhetische Idee genau dadurch belebt, dass sich mit ihr eine „Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“ eröffnet (vgl. B 195).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

(Pendant) von einer Vernunftidee“ auf, „welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“.13 Ideen wiederum sind für Kant die nach einem gewissen Prinzip auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen ohne unmittelbaren Erkenntnisanspruch, da sie „zu etwas über die Erfahrungsgränze hinaus Liegendem wenigstens streben“ und ihnen entsprechend „kein Begriff völlig adäquat sein kann“. Er unterscheidet also die ästhetische Idee, die subjektiv sei, auf der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte basiere und stets auf eine Anschauung bezogen sei14, von der Vernunftidee, die sich immer objektiv auf einen Begriff beziehe. Die erste beschreibt Kant auch als „eine inexponible Vorstellung der Einbildungskraft“, die zweite als „einen indemonstrablen Begriff der Vernunft“.15 Die ästhetische Idee wird nun von Kant als eine symbolische Darstellung der Vernunftidee verstanden. Genauer formuliert, bestimmt Kant dieses Verhältnis mit Hilfe seines Symbolbegriffs als ein Repräsentations- oder Analogieverhältnis: die inexponible ästhetische Idee repräsentiert symbolisch die indemonstrable Vernunftidee. Die Beziehung zwischen ästhetischer und Vernunftidee ist symbolisch, heißt für Kant: eine Anschauung oder etwas auf Anschauung Bezogenes stellt „vermittelst einer Analogie“ einen Begriff oder etwas begrifflich Verfasstes dar, wobei „die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“.16 Das Kunstwerk als Realisation solcher ästhetischen Ideen durch das menschliche Genie trägt dem zufolge den Charakter der Unausdeutbarkeit – sich äußernd als der, im Idealfall des genialen Werks, unendliche Bedeutungsreichtum des Kunstwerks, vor der jede Interpretation als ungenügend erscheinen muss. Was bei Kant hier nur angedeutet ist, wird später von Schelling ausgeführt: Im System des transcendentalen Idealismus erscheint das Kunstwerk in seiner „bewußtlose[n] Unendlichkeit“ so, „als ob eine Unend-

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Hieraus lässt sich ableiten, dass die Kunst nach Kant insbesondere der ‚Horizonterweiterung‘ diene. Gerade aus diesem Grunde leistet die Beschäftigung mit dem Schönen sowie die Ausbildung von Geschmack und Genie einen wesentlichen Beitrag zur Humanisierung (vgl. B 262). Darauf wird in Kap. 3.3 noch zurückzukommen sein. Vgl. KU, B 193. Eine ästhetische Normalidee gründet sich – anders als die Vernunftidee – auf eine einzelne Anschauung; da sie aber zugleich die Regel der Beurteilung gibt, hat sie für Kant einen allgemeinen Geltungsanspruch und verweist auf das Ideal der Schönheit (vgl. KU, B 53 ff). Vgl. KU, B 240. Vgl. KU, B 256. In Konsequenz dessen wird von Kant zum einen die ästhetische Idee mit der Undarstellbarkeit der Freiheit korrespondiert, zum andern das Schöne als Symbol des SittlichGuten aufgefasst (vgl. B 258 f). Bei den Romantikern und Deutschen Idealisten werden hingegen diese ethischen Implikationen fallen gelassen: hier sind die ästhetischen Ideen Symbole der Vernunftideen von der Einheit, Ganzheit und Vollständigkeit der Natur. Das bekannteste Beispiel Kants für ein Symbol als Darstellung eines Vernunftbegriffs vermittels einer Analogie ist die „Handmühle“ als Symbol eines despotischen Staates – auch die Erkenntnis Gottes ist jedoch laut Kant nur in symbolischer Form möglich (vgl. B 256 f).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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lichkeit von Absichten darin wäre“; entsprechend sei es „einer unendlichen Auslegung fähig“.17 Allgemein ließe sich sagen, dass entsprechend der Bestimmung des Verhältnisses zwischen ästhetischer und Vernunftidee die Unausdeutbarkeit des Kunstwerks als Analogon der Unerklärbarkeit der Einheit und Totalität der Natur gedeutet werden kann. Indem also Kant die regulativen Vernunftideen, die stets mehr zu denken geben als durch Anschauung zu belegen ist, und die ästhetischen Ideen der Einbildungskraft, die unendlich mehr zu denken geben als durch Begriffe je auszuschöpfen ist, in ein Analogieverhältnis bringt, wird das kunstphilosophische Denken um 1800 in neue Bahnen gelenkt. Die frühromantische Auszeichnung der Kunst als einer metaphysischen Tätigkeit erhält dadurch genauere Konturen. Wie wir noch darlegen werden, stellen die Kunsttheoretiker der nachkantischen Periode, wenn sie Kunstwerk und Organismus in ein Analogieverhältnis setzen, allerdings nicht Kunstprodukt und Einzelorganismus, sondern Kunstwerk und Weltganzes in eine Beziehung der Repräsentation: Der Organismus des Kunstwerks soll den Weltorganismus symbolisch repräsentieren. Insofern bewegt sich auch diese ästhetische Theorie noch immer im Rahmen der Auffassung von der Kunst als einer Nachahmung der Natur. Daher wird für die Kunstphilosophie um 1800 die organizistisch verfasste ontologische Theorie der nachkantischen Metaphysik von größter Relevanz. Umgekehrt ließe sich auch sagen: durch Herstellung einer analogischen Beziehung zwischen Kunst- und Weltorganismus wird die ästhetische Produktion zu einer eminent metaphysischen Tätigkeit. Hierbei füllen die Romantiker und Deutschen Idealisten das formale Konzept Kants mit der organizistischen Ontologie material aus und werten somit das Kunstwerk zu einer Darstellung des – von ihnen so genannten – Absoluten auf.18 Sie halten dafür, dass nur in dem interpretatorisch nicht ausschöpfbaren Kunstwerk das stets zwar vorausgesetzte, aber begrifflich resp. reflexiv niemals erfassbare Absolute auf angemessene, wiewohl immer nur indirekte Weise dargestellt werden kann. Mittel dieser Darstellung sind für Novalis und Friedrich Schlegel die romantische Ironie sowie das (als metapho-

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Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 619 f. Auch bei Novalis findet sich dieser Gedanke: „Ein Gedicht muß ganz unerschöpflich seyn, wie ein Mensch und ein guter Spruch. [...] Was oben vom Gedicht gesagt ist, gilt auch vom Roman.“ (NO 3, S. 664) Schlegel unterscheidet im Kontext der These von der Unerschöpflichkeit des Kunstwerks zwischen der Intention des Autors und der Intentionalität des Textes: „Die Frage was d[er] Verfasser will, läßt s.[ich] beendigen, die was das Werk sei, nicht.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 318) Luhmann gibt allerdings zu bedenken, dass die Mehrdimensionalität des Kunstwerks ihrerseits vom Künstler festgelegt werde: „Das Kunstwerk bestimmt, wie es gesehen sein will, und selbst Mehrdeutigkeiten sind so einkomponiert, daß sie als Mehrdeutigkeiten wirken.“ (Luhmann, 1990, S. 29). Es ließe sich sogar behaupten, dass die Mehrdeutigkeit selbst Folge der Autoreflexivität des Kunstwerks ist. Entsprechend wird, wie gesehen, das Absolute im Rahmen der spekulativen Metaphysik der nachkantischen Philosophie ebenfalls mit dem Organismus resp. mit dem Kunstwerk analogisiert.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

risch recht verstandene) allegorische Sprechen, wie sie die „progressive Universalpoesie“ oder auch „Transzendentalpoesie“, v.a. in Form des Romans, charakterisieren.19 Mit einer solchen Philosophie der Kunst stellen sich die Romantiker der Auffassung des späten Schelling und vor allem Hegels entgegen, wonach nur durch das spekulative Denken ein angemessener Zugang zum (selbstreflexiv verfassten) Absoluten möglich sei, während die Kunst – aufgrund ihrer Limitierung auf den Erkenntnismodus der Anschauung und d.h. aufgrund ihrer Bindung an das Einzelne und Besondere20 – dazu ewig unfähig bleibe.21 Genau genommen behaupten jedoch die Romantiker nicht, dass in der Kunst das Absolute selbst dargestellt werde. Vielmehr gelangt ihrer Auffassung nach in der Kunst, insbesondere in der Literatur der Entzug des Absoluten zur Darstellung. Das Absolute erscheint im Kunstwerk nicht positiv als etwas dem epistemischen Zugriff Erfassbares oder gar Erfasstes, sondern nur negativ im Modus seiner Unverfügbarkeit für die Reflexion. Dies kann nach Auffassung der Romantiker nur durch eine unendliche Verweisung auf etwas an sich nicht Darstellbares erfolgen. Die Mittel dieser unendlichen Verweisung sind, wie gesagt, die Ironie und die Allegorie. Angewandt auf die Erzähltechnik konstituieren sie die Autoreflexivität bzw. die ‚unendliche interne Reflexivität‘ des Erzählwerks. Anders gesagt: Der epistemische Zugang zum Absoluten innerhalb der Kunst bedeutet für die Romantiker Darstellung, nicht Erkenntnis dieses Absoluten, oder: die ästhetische Erkenntnis erfolgt stets in Form einer unendlich verweisenden Darstellung des Absoluten im Modus seiner Unverfügbarkeit.22 Durch die Bestimmung der Kunst als einer metaphysischen Tätigkeit verändert sich freilich auch der Philosophiebegriff der Frühromantiker. Wie Manfred Frank darlegt, lässt sich die romantische Philosophie als eine „Abwendung von einem Philosophieren aus oberstem Grundsatz“ bestimmen.23 Das Philosophieren ist ihr zwar noch immer ein „Streben nach dem Denken eines Grundes“24, zugleich aber fasst sie es als eine „unendliche Tätigkeit“25 bzw. als „ein ewiges Suchen und Nichtfinden“26. Für Friedrich Schle19

Der Begriff der „progressiven Universalpoesie“ wird von Friedrich Schlegel im 116. Athenäumsfragment eingeführt und erläutert (F. Schlegel, KSA, Bd. 2; S. 182 f). Das auch für das Novalissche Denken relevante Konzept der „Transzendentalpoesie“ wird erstmals im 238. Athenäumsfragment formuliert (vgl. ebd., S. 204). 20 Nur hingewiesen sei in diesem Zusammenhang darauf, dass Hegel in der Wissenschaft der Logik zwischen Einzelnem und Besonderem unterscheidet (vgl. Hegel, Werke, Bd. 6, S. 273 ff). 21 Dies wird nicht zuletzt deutlich in Hegels Bestimmung des Schönen als dem „sinnlichen Scheinen der Idee“ (vgl. Hegel, Werke, Bd. 13, S. 151). 22 Das Verhältnis der Darstellungsproblematik zum Problem der Autoreflexivität wird noch genauer zu klären sein (vgl. Kap. 2.2.4). 23 Vgl. Frank, 1994, S. 39. 24 Ebd., S. 102. 25 NO 2, S. 269. An anderer Stelle schreibt Novalis: „Jede regulative Idee ist von unendlichen Gebrauch – aber sie enthält keine selbständige Beziehung auf ein Wirkliches“ (NO 2, S. 252). 26 F. Schlegel, KSA, Bd. 3, S. 99.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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gel ist entsprechend „das Wesen der Philosophie Sehnsucht nach dem Unendlichen“27. Auf der Basis einer solchen prozessualen Bestimmung der Philosophie formulieren die Frühromantiker einen Generalverdacht gegenüber ihren Leistungen, der, wenn er auch in einem ganz anderen Begründungszusammenhang steht, an das pragmatische Philosophieverständnis der Spätaufklärer erinnert28: Die Demonstrationen der Philosophie sind eben Demonstrationen im Sinne der militärischen Kunstsprache. Mit den Deduktionen steht es nicht besser wie mit den politischen; auch in den Wissenschaften besetzt man erst ein Terrain, und beweist dann hinterdrein sein Recht daran. (F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 177)

Gegen eine derartige in logischen Ableitungen sich entfaltende Philosophie stellen die Frühromantiker ihr Verständnis von Philosophie als einem dialektischen Unternehmen. Dies findet sich, wie gesehen, in ähnlicher Weise auch bei Schelling und Schopenhauer, bei denen das, was in den Fragmenten der Frühromantiker nur skizziert ist, systematisch entfaltet wird. So schreibt Friedrich Schlegel: Unsere Philosophie fängt nicht wie andere mit einem ersten Grundsatze an, wo der erste Satz gleichsam der Kern oder erste Ring des Kometen, das übrige ein langer Schweif von Dunst zu sein pflegt, – wir gehen von einem zwar kleinen, aber lebendigen Keime aus, der Kern liegt bei uns in der Mitte. (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 328)

So erscheint Schlegel die Philosophie als „ein Zirkel, dessen Centrum überall und dessen Peripherie nirgends ist“29, und „der Grund der Philosophie“ als „ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis“.30 Im Rahmen eines solchen dialektischen Philosophiebegriffs bezeichnet Novalis das Unternehmen, den „Satz des Widerspruchs zu vernichten“, als „die höchste Aufgabe der höhern Logik“31: Sollte es sich bestätigen, dass der Satz des Widerspruchs der Grundsatz des Denkvermögens, der Oberste der Logik, sey, so wäre dies nur eine Indication, dass wir mit der Logik allein nicht viel ausrichten könnten, dass das Denkverm[ögen] allein keinen (großen) Nutzen gewähre – sondern, dass wir noch ein andres Vermögen und seine Theorie aufsuchen müßten, die als dem Denkvermögen und d[er] Logik entgegengesezt und allein eben so nutzlos, als diese, in 27 28

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F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 418 Die Nähe des frühromantischen zum spätaufklärerischen Philosophieverständnis wird auch darin deutlich, dass Schlegel und Novalis ihr Philosophieren als skeptizistisch und eklektizistisch bezeichnen: „σκ [Skepsis] ist d[er] Zustand d[er] schwebenden Reflexion.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 400) bzw. „Man studirt fremde Systeme um sein eignes System zu finden. Ein fremdes System ist der Reitz zu einem Eignen. Ich werde mir meiner eignen Philosophie, Physik etc. bewußt – indem ich von einer Fremden afficirt werde – versteht sich, wenn ich selbstthätig genug bin.“ (NO 3, S. 278) Laut Schlegel muss der Eklektiker „das System als Schranke hassen. Statt der philosophischen Einheit wird er die ästhetische wählen. – Der Roman war von jeher das beste Organ der besten Eklektischen Philosophen der Modernen. Eklektische Philosophie im Wilhelm Meister. – Die Eklektische Philosophie = Lebensphilosophie.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 12; vgl. Schanze, 1976, S. 68) F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 11. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 72; vgl. dazu auch ebd., S. 36. Vgl. NO 3, S. 570.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Verbindung mit diesen gesezt werden müßten, um daraus ein zusammengeseztes Vermögen – und zusammengesezte, sich gegenseitig complettirende Theorieen und Handl[ungen] und Resultate zu erlangen und so fort. (NO 3, S. 402)

Das Resultat dieses Philosophieverständnisses ist eine „Metaphysik des Schwebens“.32 Dies erweist sich jedoch nur als ein anderer Ausdruck für das, was wir in Bezug auf die spekulativen Theorien von Schelling und Schopenhauer als ‚relationistische Metaphysik‘ bezeichnet haben, in der der idealistische und der realistische Ansatz synthetisch vereinigt werden sollen. Die besondere Pointe der Frühromantiker besteht nun darin, dass das Erkennen zu einem bloß „bedingte[n] Wissen“ abgewertet wird33; es soll überschritten werden in Richtung einer ‚poetisch‘ genannten Tätigkeit. Damit aber wird der Übergang von der Philosophie zur Poesie vollzogen. In Bezug auf Kant rechtfertigt Schlegel dieses Unternehmen dadurch, dass nur so die Grenzen des Erkennens bestimmt werden können: Man kann keine Gränze bestimmen, wenn man nicht diesseits und jenseits ist. Also ist unmöglich die Gränze der Erkenntniß zu bestimmen, wenn wir nicht auf irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend) jenseits derselben hingelangen können. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 521)

Die Kunst hat somit eine zentrale Funktion innerhalb des kritizistischen Unternehmens, dessen Hauptaufgabe für Kant ja in der Bestimmung der Grenzen menschlicher Erkenntnis besteht. Einen Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe vermag nach Auffassung der Frühromantiker die Kunst genau deshalb zu leisten, weil sie die begriffliche Reflexion überschreitet. In der Kunst kommt zum Ausdruck, dass wir nicht nur in einem reflexiven Verhältnis zu dem stehen, was von den Frühromantikern abwechselnd das ‚Absolute‘, das ‚Unendliche‘, das ‚Sein‘ oder der ‚Grund‘ genannt wird: Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr, als begreifen. (NO 2, S. 413)

Der Reflexion ist also nicht bloß das Absolute, sondern auch das eigene Ich unverfügbar, erfassbar sind sie aber sehr wohl durch das (Selbst-)Gefühl. Laut Frank hat in den Augen der Frühromantiker die Auffassung von der Unerreichbarkeit und Undarstellbarkeit des Absoluten trotz „fortbestehender Notwendigkeit, das Denken [...] daran zu binden und darauf zu verpflichten“, ihre Gültigkeit34: Die Reflexivität des Bewusstseins ist in einem transreflexiven Sein gegründet, wobei die Herstellung eines Selbstbezugs zwar einerseits unausweichlich ist, andererseits aber von der Gewissheit, dennoch aus unverfügbarem Grunde zu sein, überschritten wird. Im Medium der Kunst erfolgt nun nach Überzeugung der Frühromantiker eine Darstellung dieses „merkwürdig doppelbödigen Selbstverständnis[ses]“: Die Kunst erscheint als „Ausdruck unserer unver-

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Vgl. Schulz, 1985. Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 511: „Erkennen bezeichnet schon ein bedingtes Wissen. Die Nichterkennbarkeit des Absoluten ist also eine identische Trivialität.“ In ähnlicher Weise äußert sich Novalis: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ (NO 2, S. 413) Frank, 1989, S. 231.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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fügbaren Selbstvermittlung“.35 Zugleich ist sie eine Darstellung des Absoluten als des reflexiv Undarstellbaren in einem grenzenlosen Relational- und Annihilationssystem mit Hilfe der romantischen Ironie.36 Dabei vollbringt die Kunst – durch Vollzug des ordo inversus – eine reflektierte Reflexion, indem sie die beiden Richtungen des doppelten Selbstverhältnisses des Menschen vereinigt: die vorgängige Vertrautheit mit sich selbst durch das (Selbst-)Gefühl, dessen Richtung vom Unbeschränkten (resp. Absoluten) zum Beschränkten geht, sowie die Reflexion, die vom Beschränkten her auf das Unbeschränkte gerichtet ist.37 Insbesondere bei Novalis findet sich die Einsicht in die Notwendigkeit einer Vereinigung dieser beiden Selbstverhältnisse i.S. einer reflektierten Reflexion. Der Ort dieser ‚Reflexion²‘ ist für ihn die Kunst38; gerade in ihr erscheint das Bewusstsein als „ein Seyn außer dem Seyn im Seyn“39. Unter Rückgriff auf das in Bezug auf die realdialektische Struktur der spekulativen Metaphysik Schellings und Schopenhauers Gesagte ließe sich sagen: in der Kunst wird der Versuch einer umfassenden Deutung des ‚Grundverhältnisses‘ unternommen. Dabei kann nach Auffassung der Frühromantiker die Vernunft den Zusammenhang des Unendlichen mit dem Bewusstsein nicht hinreichend herstellen, wohingegen der Kunst dies gelinge: Es läßt sich kein Kunstwerk aufzeigen, wo nicht die beyden Begriffe, das Unendliche zum Bewußtseyn zu bringen, oder das Bewußtseyn ins Unendliche fortzusetzen, als der letzte Grundsatz aufgestellt ist. (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 29)

Aus der Theorie vom Kunstwerk als (anschaulicher) Darstellung und nicht als (begrifflicher) Erkenntnis des Absoluten folgt für Novalis eine ‚konstruktivistische‘ Auffassung der Kunst, die schließlich im „magischen Idealismus“ gipfelt. Diese Auffassung stellt Novalis wiederum in Zusammenhang mit der Antinomie von Idealismus und Realismus, wobei allerdings deren Zuordnungen zu Philosophie und Poesie nicht widerspruchsfrei erfolgen. Denn einerseits sei die Poesie Ausdruck des „wahren Idealismus“, wonach nur das, was wir selber ‚machen‘ bzw. ‚realisieren‘, von uns wahrhaft begriffen würde: Was ich begreife, das mus ich machen können – was ich begreifen will – machen lernen. (NO 3, S. 289) [D]as ächte Denken erscheint, wie ein Machen – und ist auch solches. (NO 3, S. 404) Wir wissen nur, insoweit wir machen. (NO 2, S. 378) 40 Wir erkennen es nur, insofern wir es realisiren. (NO 2, S. 386)

Andererseits bestimmt Novalis die Poesie als „das ächt absolut Reelle“, insofern sie sich, im Gegensatz zur subjektiven und idealistischen Philosophie, an die objektive Natur halte: 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 232 f. Ebd., S. 233. Ebd, S. 248 ff. Vgl. NO 2, S. 114 f u. 117. NO 2, S. 106. Ähnlich äußert sich auch Friedrich Schlegel: „Der wahre Idealismus erzählt nicht bloß daß wir das Objekt machen; sondern er construirt d.[as] Universum und zeigt wie wirs machen; construirt auch wohl unendlich viele Objekte und Welten.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 140)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil[osophie]. Je poëtischer, je wahrer. (NO 2, S. 647)

An den widersprüchlichen Bestimmungen der Kunst als zugleich wahrhaft idealistisch und realistisch wird zumindest so viel deutlich, dass die Kunst für Novalis eine synthetische Leistung darstellt, in der die Antinomie von Idealismus und Realismus aufgelöst wird: Das Sinnliche muß geistig, das Geistige sinnlich dargestellt werden. (NO 2, S. 283) Das Abstracte soll versinnlicht, und das Sinnliche abstract werden – (Entgegengesezte Operationen [...] Neue Ansicht v[on] Ideal[ismus] und Real[ismus].) (NO 3, S. 299)

Diesen „Ideal-Realismus“ habe die Kunst aber mit der ‚wahrhaften‘ Philosophie gemein, sodass Denken und Dichten als Formen ein und derselben Tätigkeit erscheinen: Dichtkunst ist wohl nur – willkührlicher, thätiger, produktiver Gebrauch unsrer Organe – und vielleicht wäre Denken selbst nicht viel etwas anders – und Denken und Dichten also einerley. (NO 3, S. 563)

So erweist sich für Novalis der „poët[ische] Phil[osoph]“ als „en état de Createur absolu“.41 Aus einem solchen konstruktivistischen Philosophiebegriff lässt sich auch, so Novalis, der Begriff der Experimentalphilosophie ableiten: Am Ende scheint alles Nachdenken auf ächtes Experimentiren zu führen – und die sog[enannte] Vernunftlehre – die Nothwendigkeit, Methode, etc. des Experimentirens und Le42 bens, als eines beständigen Experimentirens zu enthalten und zu beweisen. (NO 3, S. 402)

Von dort aus wird wiederum auch Licht auf die spezifische epistemische Leistung der Kunst geworfen, insofern insbesondere in der Literatur und hier vor allem im Roman nicht nur mögliche Welten entworfen, sondern zugleich mögliche Weisen des ‚In-derWelt-Seins‘ experimentell durchgespielt werden. In diesem Zusammenhang ist die Bestimmung der „Symphilosophie“ bzw. „Sympoesie“ durch Friedrich Schlegel zu sehen. Der „synthetische“ Schriftsteller nämlich, so Schlegel, konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heiligste Verhältnis der innigsten 43 Symphilosophie oder Sympoesie. (F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 161)

Auch bei Novalis erscheinen Poesie und Philosophie als Tätigkeiten, die zwar gleichermaßen synthetische Leistungen darstellen und denselben Zielpunkt des ‚Ideal-Realismus‘ 41 42

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Vgl. NO 3, S. 415. Bemerkenswert ist, dass Novalis diese Experimentalphilosophie historisch in derselben Weise belegt wie Wieland in seiner Vorrede zum Agathon: „Diogenes Gehn war Experimentalphil[osophie] – ächtsyth[etische] Phil[osophie]“ (NO 3, S. 439) Die Auffassung des Lesers als zugleich ‚konstruiert‘ und frei steht in der Kontinuität des Urbanitätsideals der Spätaufklärung – beide Positionen gehen von der Präsupposition der Freiheit des Rezipienten aus.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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haben, die sich aber in entgegengesetzten Richtungen vollziehen. Novalis fasst seine Reflexionen zum Verhältnis von Poesie und Philosophie in den Worten zusammen: Des Dichters Reich sey die Welt in den Focus seiner Zeit gedrängt. Sein Plan und seine Ausführung sey dichterisch – i.e. dichterische Natur. Er kann alles brauchen – er muß es nur mit Geist amalgamiren – er muß ein Ganzes daraus machen. Das Allgemeine, wie das Besondre muß er darstellen – alle Darstellung ist im Entgegengesezten und seine Freyheit im Verbinden macht ihn unumschränkt. Alle dichterische Natur ist Natur [...]. Was helfen uns Beschreibungen, die Geist und Herz kalt lassen – leblose Beschreibungen der leblosen Natur – Sie müssen wenigstens symbolisch seyn, wie die Natur selber, wenn sie auch kein Gemüthszustands-Spiel hervorbringen sollen. Entweder muß die Natur Ideenträger, oder das Gemüth Naturträger seyn. [...] Er [der Dichter] ist der Vorstellungsprophet der Natur – sowie der Philosof der Naturprofet der Vorstellung. Jenem ist das Objective Alles, diesem das Subjective. Jener ist Stimme des Weltalls, dieser Stimme des einfachsten Eins – d[es] Princips – Jener Gesang – dieser Rede. [...] Alle Darstellung des Dichters muß symbolisch oder rührend sein. / Rührend hier für afficirend überhaupt. / Das symbolische afficirt nicht unmittelbar – es veranlaßt Selbstthätigkeit [...]. Jenes ist ein Handeln des Geistes – dies ein Leiden der Natur – jenes geht vom Schein aufs Seyn – dies vom Seyn auf den Schein. / Jenes v[on] d[er] Vorstellung zur Anschauung – dies v[on] d[er] Anschauung zur Vorstellung. (NO 3, S. 692 f)

Indem aber die Poesie etwas ‚macht‘, ‚realisiert‘ bzw. ‚konstruiert‘, stellt sie das Absolute dar. Der Darstellungsbegriff ist mit dem Konstruktionsbegriff aufs engste verknüpft: Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – i.e. machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es – Wir wissen es vollkommen, wenn wir es überall, und auf alle Art mittheilen, erregen können – einen individuellen A u s d r u c k desselben in jedem Organ bewircken können. (NO 2, S. 589)

Diese konstruktivistische Konzeption der Kunst – und zugleich der Philosophie – wurde von den Frühromantikern jedoch nicht ausgearbeitet. Es lässt sich daher auch nicht abschließend klären, welche genaue Vorstellung von der epistemischen Leistung der Kunst sie hatten, wenn sie von der Darstellung des Absoluten im Medium des Kunstwerks sprachen. Denn schon der Begriff der Darstellung bleibt letztlich unklar. Klar ist nur so viel, dass es sich nicht um einen reflexiven Zugang zum Absoluten handeln kann. Wichtig aber ist, dass in den Augen der Frühromantiker nicht das Absolute selbst, sondern dessen Entzug im Kunstwerk zur Darstellung kommt; deshalb kann nur von Darstellung und nicht von Erkenntnis des Absoluten die Rede sein.44 Die enorme systematische Bedeutung des poetischen Darstellungs- oder Repräsentationsprinzips45 bei Novalis und Schlegel ist zwar offensichtlich, das Konzept der Darstellung selbst bleibt aber in letzter Instanz unaufgeklärt. Dies ändert sich auch dadurch nicht, dass es innerhalb des – ebenfalls unausgearbeiteten – „magischen Idealismus“ eine zentrale Rolle spielt. Darum jedoch sind die Frühromantiker nicht weniger davon überzeugt, dass die ästhetische Produktion eine ausgezeichnete metaphysische Tätigkeit darstelle, deren 44 45

Vgl. dazu NO 2, S. 269 f sowie Frank, 1989, S. 233 f. Vgl. dazu: „Man muß d[ie] Wahrheit überall vergegenwärtigen – überall r e p r a e s e n t i r e n (im thätigen, producirenden Sinn) können.“ (NO 3, S. 445)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Leistung darin bestehe, eine Darstellung des Undarstellbaren46 zu geben, während der Philosophie dieses Problem unauflöslich bleibe: Wenn der Caracter des gegebenen Problems Unauflöslichkeit ist, so lösen wir dasselbe, wenn 47 wir seine Unauflöslichkeit darstellen. (NO 3, S. 376)

Seine Reflexionen zum Verhältnis von Philosophie und Kunst resp. Poesie zusammenfassend bezeichnet Novalis daher den Anspruch der Philosophie, „bey einem absoluten Grunde [zu] endigen“, als vergeblichen „Versuch die Quadratur des Zirkels zu finden“, während die ästhetische Produktion „die unendlich freye Thätigkeit in uns“ als „das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann“, zu realisieren vermöge: Was thu ich, indem ich filosofire? ich denke über einen Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde. [...] Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, [...] so wäre der Trieb zu Filosophiren eine unendliche Thätigkeit [...]. Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendlich freye Thätigkeit in uns – das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsere Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, daß durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen. / Dis ließe sich ein absolutes Postulat nennen. Alles Suchen nach Einem Princip wär also wie ein Versuch die Quadratur des Zirkels zu finden. (NO 2, S. 269 f)

Entsprechend vollzieht sich in der Poesie, wie Uerlings schreibt, eine „narrative Konstruktion immanenter Transzendenz“, indem etwas „Gesuchtes, Gewünschtes oder Vorauszusetzendes [..] ‚gesetzt‘ [wird], ‚als ob‘ es gefunden, erreicht/erreichbar, wahr oder wirklich sei“, wobei hier unter ‚Konstruktion‘ zwar eine bewusste Setzung zu verstehen ist, jedoch immer i.S. einer „Bewegung, die aus dem unaufhebbaren ‚Mangel an Sein‘, aus der immer nur negativ möglichen Erkenntnis des Absoluten entsteht“.48 So lässt sich mit Lore Hühn sagen: Die Romantiker halten an einem positiv ausmachbaren Absolutum fest, doch nur im Modus der Destruktion. [...] Das Bewußtsein dieses zutiefst gebrochenen Traditionsbezugs bewahrt die romantische Dichtung nachgerade bis in die sprachliche Prägung ihrer ironischen Darstel49 lungen hinein. 46

47 48 49

Die Bezeichnungen dessen, was das Undarstellbare sei, wechseln je nach Begründungszusammenhang. Auch schreibt Preisendanz, 1978, S. 70: „Was aber ist das Undarstellbare, das die Poesie gleichwohl darstellt, was das allegorisch zu Offenbarende? Das Unendliche.“, um unmittelbar darauf dieses ‚Unendliche‘ durch den Begriff des ‚Lebens‘ bzw. des ‚unendlichen Weltspiels‘ zu ersetzen. Vgl. dazu auch NO 3, S. 685: „Der Sinn für Poësie [...] stellt das Undarstellbare dar.“ Vgl. Uerlings, 1991, S. 230. Hühn, 1996, S. 579. Behler ergänzt dies durch den Hinweis, dass für die Frühromantiker die Poesie selbst eine absolute Realität darstellt, dass also „die Poesie keine absolute Realität zur Darstellung bringt, sondern selbst, als Sagen und Immer-wieder-von-neuem-Sagen, absolute Realität für uns ist“ (vgl. Behler, 1988, S. 259). Scheitert die Kunst letztlich auch – so ließe sich diese These reformulieren – an der Darstellung des Absoluten, so wird sie damit doch – in einer autoreflexiven Wendung – selbst zu etwas Absolutem.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

323

Die darstellende Tätigkeit, in der sich das unendlich freie Vermögen des Subjekts objektiviert, ist für Novalis eine Urhandlung des Ich, weshalb er mit Bezug auf Fichte sagen kann: „Das Ich muß sich, als darstellend setzen.“50. Die oberste Handlung des Ich erscheint demnach bei Novalis als ein ästhetisches Prinzip: Die Negation des Absoluten als ein subjektives Prinzip bedeutet eine Emanzipation des Subjekts zu einem universalen Darstellungsprinzip, mit dem Novalis sein metaphysisches ‚System‘ 51 begründet, das jedoch keines mehr der Philosophie ist, sondern der Kunst.

In der darstellenden Tätigkeit wird das Ich fähig, eine Synthese von Subjekt und Objekt herzustellen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die poetische Darstellung des Undarstellbaren ebenfalls dialektisch verfasst ist und im Kunstwerk Subjektives und Objektives zuerst auseinander treten und sodann in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden: Das Wesen der Identität läßt sich nur in einen Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische, um es darzustellen [...]. (NO 2, S. 104)

Wie in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers sind also nach Auffassung von Novalis auch in der ästhetischen Produktion Ich und Welt integrante Hälften eines sie umschließenden Ganzen, nämlich des in beiden wirksamen Absoluten52: Jedes Kunstwerk verweist uns, wie die wahre Philosophie, „beym Studium der Natur auf uns selbst“ und „beym Studium unsrer Selbst, auf die Außenwelt“.53 Durch diese dialektische „Umkehrungsmethode“ erschöpfen sich innerhalb des Kunstwerks die beiden Seiten des absoluten Ganzen gegenseitig: Die Produktivität der dichterischen Einbildungskraft besteht also ihrem eigentlichen Sinne nach in der Reproduktion des Absoluten. Die transzendentale Synthesis des Dichters bedeutet eine Verwandlung sowohl des Subjekts wie des Objekts, indem beide zu Momenten des Abso54 luten werden.

Infolge dessen sind die literarischen Texte der Romantik durch „ein Gegeneinander oder Zusammenspiel zweier gegenläufiger Richtungen, zweier Welten“ charakterisiert.55 Dies kann, wie später bei E.T.A. Hoffmann, die Gestalt der Darstellung einer doppelten Wirklichkeit annehmen, in der das Phantastische als höherer ‚Zusammenhang der Dinge‘ hinter der Oberfläche der sinnlich fassbaren Erscheinungen „eine

50 51 52 53 54

55

NO 2, S. 282. Heine, 1974, S. 60. Vgl. dazu NO 2, S. 548, bereits zit. in 2.2.2. Vgl. NO 3, S. 429. Heine, 1974, S. 68. Vgl. auch Engel, 1993, S. 456: „Der der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegende absolute Einheitszustand wird mittelbar durch ‚Wechselrepräsentation‘ dargestellt, in der jede Größe zu ihrem komplementären Gegenstück in eine auf Analogie gründende Zeichenrelation treten kann [...].“ Vgl. Uerlings, 1991, S. 222.

324

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

selbstgesetzliche zweite Wirklichkeit“ konstituiert56 und jedes Geschehen „notwendig doppelt motiviert [wird]: vom Phantastischen und vom Wahrscheinlichen her“57. Was bei E.T.A. Hoffmann als ein quasi-ontologisches Problem erscheint und sich vor allem auf der Handlungsebene zeigt, manifestiert sich in den literarischen Texten der Romantiker als Erzählproblem. Die Darstellung des Absoluten äußert sich also auf narrativer Ebene in einer der Realdialektik der Metaphysik um 1800 entsprechenden ‚transzendentalpoetischen Dialektik‘, die zum Phänomen der Autoreflexivität des Erzählens führt.58 Gerade aber durch dieses autoreflexiv sich entfaltende Erzählen soll nach Auffassung der Frühromantiker ein ‚schönes Ganzes‘ realisiert werden, in dem das Absolute auf anschauliche Weise zur Darstellung gelangt.59 Freilich bleibt unklar, wie eine solche Darstellung resp. Konstruktion des Absoluten im Medium des Kunstwerks sich konkret ausnehmen soll. Zwar lässt sich der ordo inversus vor dem Hintergrund der realdialektischen Metaphysik interpretieren und die Funktion des autoreflexiven Erzählens des transzendentalpoetischen Romans somit im Kontext des Problems einer Darstellung des Absoluten verständlicher machen, sodass rational nachvollziehbar wird, inwiefern die Kunst einen besonderen Zugang zum Absoluten, zumindest im Modus seiner Unverfügbarkeit, bietet. Doch schon was das frühromantische Programm anbelangt, etwas dadurch zu erkennen, dass man es ‚realisiert‘, kann nicht vollständig begrifflich deutlich gemacht werden.60 In unserem Zusammenhang bedeutet dies: Wenn wir uns der Frage zuwenden, auf welche Weise nach Auffassung der Frühromantiker das Absolute im Kunstwerk zur Darstellung kommt, müssen wir eine argumentative Lücke schließen. Dies jedoch können wir nur dadurch leisten, dass wir uns den ästhetischen Mitteln zuwenden, mit denen das transzendentalpoetische Kunstwerk ein unendliches Verweisungssystem auf das Absolute entfaltet. Diese Mittel sind die Ironie und die Allegorie. Durch sie realisiert sich die transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit jeder Darstellung, sodass sich zuletzt ein Ausblick darauf eröffnet, 56 57

58

59 60

Vgl. Miller, 1975, S. 360. Vgl ebd., S. 362. Als Beispiel für E.T.A. Hoffmanns „grundsätzliches Insistieren auf einer immer präsenten Gegenwirklichkeit“ (ebd., S. 366) verweist Miller auf den Anfang vom Goldenen Topf (S. 363): hier, wie andernorts auch, manifestiere sich die „Konzeption einer Welt der zwei Koordinatensysteme, in der jeder Name und jede Figur, jeder Laut in der Natur und jedes Geräusch der Zivilisation, selbst Raum und Zeit ihren bestimmten Kontur verlieren“ (S. 370). Vgl. Lypp, 1972, S. 171: „Als Vereinigungsmedium schlechthin transponiert der Roman seinen transzendentalen Ursprung in das Wechselspiel seiner konstitutiven Strukturen, deren rezeptiver Nachvollzug sich entsprechend vom Aspekt des inhaltlich Dargestellten auf das Wie der Darstellung verschiebt.“ Vgl. dazu Schanze, 1976, S. 45. Man darf keine Konsistenz dort herstellen, wo keine ist, und nicht die Überlegungen von Novalis und Friedrich Schlegel, die eine solche nicht haben, gewaltsam zu systematisieren versuchen. Dies ist im Übrigen auch der Fehler Manfred Franks, der die fragmentarischen Reflexionen der Frühromantiker als großen Gegenentwurf gegen die Systemphilosophie des Deutschen Idealismus in Stellung bringt.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

325

wie das Kunstwerk zum Medium wird, „welches qua ästhetischer Reflexion das Absolutum thematisch macht“, bzw. mit welchem Recht Friedrich Schlegel die poetische Synthesis als „annähernd adäquate Repräsentation des Absoluten“ bestimmt.61 Ironie und Allegorie jedoch verweisen wiederum auf das Phänomen der Autoreflexivität. Dieses narrative Problem werden wir im Folgenden im Rahmen des Organizismus darstellen. Im Zusammenhang eines solchen organizistischen Welt-, Kunst- und Philosophieverständnisses ließe sich sagen: Indem sich das Kunstwerk, genauer der Roman als ein autoreflexiver Organismus realisiert resp. vom Künstler zu einem solchen gemacht wird, wird es zu einer Darstellung des Absoluten, das ebenfalls als eine autoreflexive Struktur bzw. als ein Organismus begriffen wird.62 Nur durch eine so aufgefasste Kunst, die – mit Schelling zu sprechen – das oberste Prinzip im System des Wissens, die intellektuelle Anschauung, objektiv, d.h. bewusstseinsfähig macht, lässt sich nach Überzeugung der Frühromantiker der Zirkel der Reflexion vermeiden, nach dem das Absolute zugleich im und für das Ich und unabhängig vom Ich als An-sich bzw. als Realgrund des Ich, d.h. zugleich das Absolute Reflex des Bewusstseins und das Bewusstsein Reflex des Absoluten sein soll. In der unendlichen Reflexivität des Kunstwerks nämlich wird diese Zirkularität in und für die Anschauung als zugleich abhängig und unabhängig vom produzierenden Ich gesetzt und aufgehoben. Dies bildet den metaphysischen Hintergrund für die zunächst unverständliche Redeweise vom „Schweben zwischen dem Subjektiven und Objektiven“ bzw. „zwischen dem Idealen und Realen“, das nach Friedrich Schlegel die Transzendentalpoesie auszeichne.63 Wir werden jedoch sehen, dass eine solche Auszeichnung der Poesie als der metaphysischen Tätigkeit schlechthin nur formulierbar ist als ein erzähltechnisches Problem, wobei die zur Zeit der Spätaufklärung in die Romanform implementierte autoreflexive Struktur, in der sich jene ‚unendliche Reflexivität‘ des Kunstwerks realisiert, für die Generation der Romantiker die entscheidende Begründungsfunktion übernimmt. Erst im Rahmen dieser erzähltechnisch sich manifestierenden autoreflexiven Struktur erhalten Ironie und allegorisches Sprechen ihre besondere Funktion als Hauptmittel einer Darstellung des Absoluten.64 Als gemeinsame Grundstruktur von Ironie und Allegorie kann dabei die Verweisung auf etwas über das Gesagte Hinausgehende, das selbst nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, bestimmt werden – der Verweis also auf etwas nicht 61 62

63 64

Vgl. Götze, 2001, S. 382. Es sei nochmals daran erinnert, dass innerhalb des organizistischen Paradigmas um 1800 Kunstwerk und philosophisches System gleichermaßen als Organismus aufgefasst werden. Entsprechend finden sich um 1800 gleichlautende Beschreibungen von Philosophie als System und Kunstwerk als Organismus, sie beide sind, so Schelling im System des transzendentalen Idealismus, „ein Ganzes, was sich selbst trägt und in sich selbst zusammenstimmt“ (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 353; vgl. dazu auch Jaeschke (Hrsg.), 1990, S. 60). Vgl. die in Fußnote 19 genannten Athenäumsfragmente. Ironie und Allegorie (in ihrem spezifisch romantischen Verständnis) werden in dieser Untersuchung nur im Hinblick auf das Darstellungsproblem innerhalb des transzendentalpoetischen Romans betrachtet.

326

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Darstellbares, auf ein Unendliches und Absolutes, das sich dem Zugriff entzieht.65 Eine Darstellung des Absoluten im Modus seiner Unverfügbarkeit ist für die Frühromantiker folglich genau deshalb nur mit Hilfe von Ironie und Allegorie möglich, weil nur durch diese ästhetischen Mittel das reflexiv bzw. begrifflich Undarstellbare darstellbar ist. So erscheinen Ironie und Allegorie stets als Rücknahme des Bestimmten ins Unbestimmte. Unter den Frühromantikern hat sich bekanntlich vor allem Friedrich Schlegel mit dem Phänomen der Ironie theoretisch auseinandergesetzt. Seinen vielfältigen Bestimmungen der Ironie ist dabei gemeinsam, dass sie allesamt auf die ästhetische – und nicht nur ästhetische – Freiheit verweisen; die Wahrung dieser Freiheit – man denkt unwillkürlich an Schillers Begriff des Spiels – kann geradezu als ihr innerster Sinn bezeichnet werden. So bestimmt Schlegel die Ironie als „klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos“66. In diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass er die Ironie zugleich als die „freieste“ und als die „gesetzlichste“ „aller Lizenzen“ betrachtet.67 So stellt die Ironie bei Friedrich Schlegel zwar, wie Götze schreibt, die „höhere Potenz des ursprünglichen Widerstreits im Ich“ dar68, sodass sich in ihr ein steter Wechsel von „Selbstschöpfung“ und „Selbstvernichtung“ äußert69; sie bringt zugleich aber das „Selbstbewußtsein der Agilität, der Freiheit als des einzig verbleibenden Grundes“ zum Ausdruck.70 In den Augen Schlegels ist sie deshalb eine potenzierte Form der Reflexion: Sie praktiziert methodisch das Wechselspiel von zentrifugaler und zentripetaler Tendenz, welches als wissentliches „Schweben“ zwischen Subjekt und Objekt, faktischer Selbstbefindlichkeit und idealer Aufgabe des Ich erscheint. Bewußtsein der ewigen Agilität ist nichts anderes als Bewußtsein des Unendlichen – und zwar nicht zuletzt im Sinne jener dialektischen Beweg71 lichkeit, durch die sich die beständig weitertreibende Reflexion auszeichnet.

Die Reflexivität der Ironie ist also eine unendliche. Daher bewege sie sich nicht, wie die philosophische Reflexion, in einem Zirkel, sondern als eine „Stimmung, die alles übersieht“, erhebe sie sich bis zum Unbedingten und schwebe frei über allem Bedingten. Dieser Schwebezustand zwischen Ich und Welt oder zwischen Subjekt und Objekt als 65

66 67 68

69 70 71

In Manfred Franks Interpretation wird die gemeinsame Grundstruktur von Ironie und Allegorie darin sichtbar, dass er Witz und Allegorie als die abstrakten Teilglieder der Ironie und diese also als deren Synthese bestimmt (vgl. Frank, 1989 S. 287 ff). Insofern Allegorie und Witz laut Frank „Wendepunkte der Reflexion“ darstellen, bestimmt er auch das Fragment als das „Organ, das beide Hinsichtnahmen im Nu oder in der Einheit eines Bewußtseins versammelte“ (vgl. Frank, 1994, S. 121). Ob diese nahezu gleichlautende Bestimmung von Ironie und Fragment durch Frank einleuchtend ist, kann hier ausgeblendet werden. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 263. Ebd., S. 160. Schon Hegel stellte in seinen Vorlesungen über die Ästhetik fest, dass Schlegels Konzept der Ironie in der Fichteschen Philosophie „[i]hren tieferen Grund fand“, insofern hier „die Prinzipien dieser Philosophie auf die Kunst angewendet wurden“ (Hegel, Werke, Bd. 13, S. 93). Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 151. Vgl. Götze, 2001, S. 211 f. Ebd., S. 213; vgl dazu auch Barth, 2001.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

327

Signum geistiger Freiheit stellt für Schlegel die höchste Form der Annäherung ans Unendliche dar.72 Mit Bezug auf die Bestimmung der pyrrhonischen Skepsis als eines Schwebezustands kann Schlegel daher die Ironie auch als „die höchste, reinste Skepsis“73 bzw. als ein „Universelles Experiment“74 bezeichnen. Darüber hinaus stellt sie, so Schlegel weiter, „eine permanente Parekbase“75 dar. Mit diesem auf die griechische Tragödie anspielenden Neologismus der „Parekbase“ will Schlegel „das Heraustreten (gr.: ekbasis) des Chores aus dem dramatischen Geschehen betonen […], wohingegen parabasis nur das Neben-die-Handlung-Treten pointiert“.76 Aus dem Endlichen des Dargestellten heraus und neben die geschilderte Handlung hin tritt das ironisch sich entfaltende transzendentalpoetische Erzählen in die Wegrichtung des undarstellbaren Absoluten, auf das es jedoch immer nur hinzudeuten vermag. Äußerlich erscheint die romantische Ironie als eine „transzendentale Buffonerie“, mit der sowohl das Endliche als auch das Absolute verlacht wird.77 Beim Rezipienten wiederum habe diese Ironie den Effekt einer fruchtbaren Verwirrung und Ratlosigkeit, durch die er in die unendlichen Windungen der Reflexion gestoßen werde und eine Ahnung vom Absoluten erhalte.78 Wie laut Schlegel bei einer Sonnenfinsternis, um nicht direkt in die Sonne schauen zu müssen, auf eine sie spiegelnde Wasserfläche geschaut werde, so solle in der Kunst – in Ermangelung der Fähigkeit, das Absolute unmittelbar darzustellen – das „Problem der Darstellung desselben“ mit abgebildet werden.79 Diese Leistung vollbringe vor allem die Ironie, durch die, wie Lypp ausführt, „das Hölderlinsche Theorem instantaner Offenbarung des begrifflich Entzogenen (qua sinnlicher Darstellung der intellektuellen Anschauung) [...] in das sukzessive Vollzugsverfahren ironischer Konkretion transformiert“ werde.80 Die Ironie wird dadurch zum Hauptcharakteristikum des autoreflexiven Erzählens:

72

73 74 75 76 77

78

79 80

Die romantische Ironie verlangt deshalb laut Wanning „vom Dichter, sich in seiner Dichtung zugleich reflektierend über diese zu erheben und dadurch sein dichterisches Tun zu transzendieren. Wenn dem Dichter dieses gelingt, zeigt seine Erzählkunst Selbstbewußtsein und wird zum Signum seiner Freiheit.“ (Wanning, 1999, S. 60) F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 217. Vgl. dazu auch Lypp, 1972, S. 57. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 217. Ebd., S. 85. Vgl. Müller, 1995, S. 63. Vgl. Frank, 1994, S. 126. Schelling geht sogar so weit zu behaupten, dass gerade der Roman gekennzeichnet sei durch des Dichters „Gleichgültigkeit gegen den Hauptgegenstand oder den Helden“ bis hin zur „Ironie gegen den Helden“ (vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 326). Strohschneider-Kohrs fasst die Überlegungen Schlegels zum Begriff der Ironie unter drei Aspekten zusammen: die Ironie sei charakterisiert durch a) ein „Bewußtsein, dessen Agieren von Schlegel als Negation und die durch diese Negation bewirkte Höherführung gekennzeichnet wird“, b) das Vermögen der Vermittlung zwischen Bedingtem und Unbedingtem und c) die „Ermöglichung künstlerischer Objektivität“. Dabei sei die Verbindung von Dargestelltem und Darstellendem „Leistung der in der Ironie wirksamen poetischen Reflexion“ (Strohschneider-Kohrs, 1960, S. 88 f). Vgl. Schöning, 2002, S. 138. Vgl. Lypp, 1972, S. 146.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Produktionsästhetisch [...] konkretisiert sich der ironische Vollzug der ‚poetischen Reflexion‘ notwendig nach Art einer solchen Darstellungsweise, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer Entstehung im Vollzug der Darstellung mitreflektiert und damit die Kompositionstechnik 81 selbst zum Gegenstand der Poesie in der Poesie macht.

Somit wird die Ironie in den Augen der Frühromantiker zum Hauptmittel der Selbstrepräsentation von Kunst. Wie Roland Heine betont, wird die romantische Ironie von Tieck und Friedrich Schlegel als „ein Gestaltungsmittel gesehen, den transzendentalpoetischen Erzählstandpunkt des Dichters ständig zu vergegenwärtigen“.82 Es handelt sich also beim zugleich ironischen und autoreflexiven Erzählen der Transzendentalpoesie um eine „permanente Parekbase“ der Erzählsituation, wobei diese transzendentalpoetische Selbstreflexion im Modus der Ironie als ein „Sonderfall einer generellen reflexiven Potenzierung“83 anzusehen ist. Bereits Strohschneider-Kohrs hat diese Leistung der romantischen Ironie hervorgehoben: Die Ironie hebt die Grundbedingungen der Erzählwelt und den Grundsinn von Poesie als Poesie heraus; sie bildet in dieser Ebene der Reflexion und der Verweisung einen eigenen und eigenartig durchgebildeten Erzählzusammenhang, – bringt Reflexion und Gestaltung in einer erzählten Vorstellungswelt zusammen. Sie relativiert und annihiliert die naive Erzählwelt in der Verweisung 84 auf die Fiktion; aber sie gestaltet diese Verweisung erneut nach den Prinzipien der Erzählkunst.

Wie schon im philosophischen Roman der Spätaufklärung äußert sich die Ironie in den romantischen Erzähltexten insbesondere in der Form der Fiktionsironie, insofern auch im transzendentalpoetischen Roman, wie wir an den Texten Jean Pauls sehen werden, der ‚Autor‘ persönlich auftritt, seine Quellen und die Entstehungsbedingungen seines Erzählens thematisiert oder gar die gesamte fiktionale Welt als Fiktion ausweist.85 So lässt sich mit Engel die romantische Ironie „als eine besondere Variante von Fiktionsironie“ bezeichnen86, wenn sie auch, als Hauptmittel der unendlichen Verweisung auf das unverfügbare Absolute, eine ganz andere Funktion als im philosophischen Roman übernimmt: „Ironie“ kennzeichnet dann jene Form der poetischen Mitteilung, die das Moment des Scheins, 87 der Fiktionalität jeder Mitteilung bewußt werden läßt.

Hegel lehnte hingegen die Schlegelsche Ironie als ein bloß subjektives künstlerisches Prinzip ab, dem einerseits jedes „substantielle[] Interesse“ fehle88, das jedoch andererseits „wohl in die Wahrheit hinein will und nach Objektivität Verlangen trägt“89. Es sei, so Hegel, nichts als eine „Konzentration des Ich in sich, für welches alle Banden gebrochen 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Ebd., S. 149. Vgl. Heine, 1974, S. 49. Vgl. Engel, 1993, S. 388 f. Strohschneider-Kohrs, 1960, S. 423 f. Vgl. dazu auch Strohschneider-Kohrs, 1960, S. 421. Vgl. Engel, 1993, S. 402. Schanze, 1974, S. 74. Hegel, Werke , Bd. 13, S. 94. Ebd., S. 96.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

329

sind und das nur in der Seligkeit des Selbstgenusses leben mag“.90 Da es sich jedoch zugleich an diesem nicht genügen lassen könne, leide die ironische Haltung an ihrem eigenen Widerspruch und treibe den Menschen in die Verzweiflung. Für Hegel ist die Ironie als Kunst- oder Erzählprinzip daher völlig untauglich, da sie zur Darstellung eitler „Charakterlosigkeit“ führe.91 Dass die Ironie für Friedrich Schlegel das Hauptmittel einer unendlichen Verweisung auf das Absolute war, hat Hegel jedoch nicht gesehen. Bei Novalis nahm das Konzept der Ironie hingegen keine solch zentrale Stellung ein. Vielmehr band er den Begriff der Ironie wiederum an die Konzeption des Humors: Was Fr. Schlegel als Ironie karakterisirt, ist meinem Bedünken nach nichts anders als die Folge, der Karakter der Besonnenheit, der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Schlegels Ironie scheint mir ächter Humor zu seyn. Mehre Nahmen sind einer Idee vorteilhaft. (NO 2, S. 425)

Mit dieser Identifikation von Humor und Ironie leistete Novalis für Jean Pauls späteren Humorbegriff in der Vorschule der Ästhetik die Vorgabe, mit dem dieser sich wiederum von den Frühromantikern distanzieren wollte. Sein Humorbegriff ist jedoch nicht zu verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, dass Jean Paul am Konzept der Nachahmung der Natur als zumindest regulativer Idee festhielt.92 Dadurch nämlich, dass bei ihrer „Brodverwandlung ins Göttliche“93 die Natur als Bezugspunkt stets gegenwärtig gehalten wird, beharrt die Kunst bei Jean Paul auf der Endlichkeit des Naturgegebenen, wenn sie dieses auch beständig transzendiert. Entsprechend ist für ihn der Humor – anders als die romantische Ironie – gleicherweise auf das Endliche wie auf das Unendliche bezogen.94 So ist „der geistige poetische Stoff“95 in Jean Pauls ästhetischen Reflexionen nicht, wie bei Novalis und Friedrich Schlegel, das Absolute selbst, sondern die permanente Verwandlung des Relativen der Erscheinungswelt ins Absolute. Diese Vermittlungsleistung vollbringt für Jean Paul vor allem der Humor. Ähnliches gilt für den Allegoriebegriff Jean Pauls. Die allegorischen Sprechweisen sind ihm „Sprachmenschwerdungen der Natur“96. Auch hier ist der Bezug auf das Mimesiskonzept präsent. Was in dieser Bestimmung darüber hinaus deutlich wird, ist das Prozessuale des Allegorischen: Wie die Ironie, doch deutlicher als diese entfaltet sich die Allegorie erst in der Zeitlichkeit des narrativen Zusammenhangs.97 Aufgrund 90 91 92

93 94 95 96 97

Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 97 f. Auf dieses Problem werden wir in Kap. 2.2.5 noch ausführlicher eingehen. Dabei „totalisieret“ die poetische Phantasie die fragmentarischen Ansichten der Wissenschaften und vermittelt so eine vollständigere Ansicht der Natur, als es die Wissenschaften jemals leisten könnten (vgl. Jean Paul, Werke Bd. 5, S. 32 f u. 47 f). Ebd., S. 43. Vgl. dazu Müller, 1990, S. 170: „Nicht das Verfahren, sondern diese Beharrung auf der Endlichkeit unterscheidet den Humor von der romantischen Ironie.“ Jean Paul, Werke Bd. 5, S. 43 u. 62. Ebd., S. 182. Bereits de Man schreibt der Allegorie eine „Neigung [...] zum Narrativen“ zu (vgl. de Man, 1994, S. 124).

330

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

dieser Notwendigkeit ihrer erzählerischen Entfaltung eignet sich die Allegorie nach Auffassung der Frühromantiker in ausgezeichneter Weise als ästhetisches Darstellungsmittel einer unendlichen Verweisung auf das undarstellbare Absolute. War noch für Herder die poetische Sprache im Allgemeinen das Medium einer „analogischen Erfindungskraft“98, ohne dass er Differenzierungen für nötig erachtete, traf Goethe in seinen Maximen und Reflexionen die Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie: Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere ist aber eigentlich die Natur der Poe99 sie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen.

Goethe hierarchisierte entsprechend Allegorie und Symbol auf wirkungsmächtige Weise, indem er die Allegorie an den Begriff band und ihr damit einen nur begrenzten ästhetischen Wert zumaß, während das Symbol auf die Idee verweise und einen unendlichen, rational niemals ausmessbaren Bedeutungshorizont eröffne: Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begränzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sey. Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und selbst in allen Sprachen ausge100 sprochen, doch unaussprechbar bliebe.

Bei den Frühromantikern wird das Verhältnis von Allegorie und Symbol anders bestimmt: Hier ist die Allegorie immer zugleich auch symbolisch, d.h. sie verweist unendlich auf etwas Ideales und lässt gerade durch diese unendliche Verweisung das ‚unerreichbare‘ und ‚unaussprechbare‘ Absolute ahnen. Für diese radikale Umdeutung hatte Moritz die Vorgabe geleistet, indem er das „bloße[] Symbol“ als dem autonomen Kunstwerk widersprechend deklarierte, insofern es „noch etwas außer sich selbst anzeigen und bedeuten soll“, während das Allegorische ganz in sich selbst ruhe und der Bestimmung des Kunstwerks als eines „in sich vollendete[n] Ganze[n]“ nicht entgegenstehe: Sobald eine schöne Figur noch etwas außer sich selbst anzeigen und bedeuten soll, so nähert sie sich dadurch dem bloßen Symbol [...]. Das Kunstwerk hat alsdann nicht mehr seinen Zweck bloß in sich selbst, sondern schon mehr nach außen zu. Das wahre Schöne besteht aber darin, daß eine Sache bloß sich selbst bedeute, sich selbst bezeichne, sich selbst umfasse, ein 101 in sich vollendetes Ganzes sei.

Die Allegorie vermag dies, so ließe sich ergänzen, genau deshalb, weil es sich in einem narrativen, zeitlich erstreckten Zusammenhang entfaltet. Doch ist zu berücksichtigen, 98

Vgl. Herder, 1877 ff, Bd. 15, S. 552; s. dazu auch Bollacher, 1987, S. 122. Goethe, 1993a, Bd. 13, S. 368. 100 Ebd., S. 207. Eine ähnlich begründete Abwertung der Allegorie gegenüber dem Symbol findet sich noch bei Schopenhauer (vgl. Werke, Bd. 1, S. 315 ff). 101 Moritz, Werke, Bd. 2, S. 1008. 99

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

331

dass um 1800 über die Begriffsverwendung bezüglich des Symbolischen und Allegorischen keineswegs Einigkeit herrschte. So findet sich in Schellings Philosophie der Kunst wiederum eine dreifache Unterscheidung, mit der, ganz im Sinne Goethes, das Symbol gegenüber Schematismus und Allegorie eindeutig ausgezeichnet wird: Während Schelling den Schematismus in der Nachfolge Kants als eine „Darstellung [bestimmt], in welcher das Allgemeine das Besondere bedeutet, oder in welcher das Besondere durch das Allgemeine angeschaut wird“ und ihn entsprechend dem „Denken“ bzw. „Wissen“ zuordnet, sei die Allegorie eine „Darstellung, in welcher das Besondere das Allgemeine bedeutet, oder in welcher das Allgemeine durch das Besondere angeschaut wird“, weshalb er sie – in einer etwas seltsam anmutenden Wendung – im „Handeln“ verortet. Dagegen stelle das Symbol eine „Synthesis dieser beiden [dar], wo weder das Allgemeine das Besondere, noch das Besondere das Allgemeine bedeutet, sondern wo beide absolut eins sind“. Aufgrund dieser ‚absoluten Ineinsbildung‘ des Besonderen und Allgemeinen vergleicht Schelling das Symbol dem Organismus, „denn hier ist der unendliche Begriff dem Objekt selbst verbunden, das Allgemeine ist ganz das Besondere und das Besondere das Allgemeine“102. Diese „Stufenfolge der drei Darstellungsarten“ lasse sich, so Schelling, „wieder als eine Stufenfolge von Potenzen ansehen“103; durch diese Verortung von Schematismus, Allegorie und Symbol innerhalb der Potenzenlehre wird aber deren systematische Hierarchisierung besonders deutlich. Für Friedrich Schlegel hingegen ist das Allegorische „ein künstlerisches Verfahren, welches das endlich Dargestellte als das nicht Gemeinte auslöscht und so den Blick auf das lenkt, was von dieser einzelnen Synthesis nicht erfaßt war“.104 Schlegel konnte die Allegorie deshalb als ein „notwendiges Manifest der Undarstellbarkeit des Unendlichen“105 auszeichnen, weil er auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen ‚allegoreîn‘ (‚etwas anderes meinen als das, was man sagt‘), zurückgriff. Entsprechend bestimmt er die Allegorie als eine „Andeutung des Unendlichen [...], Aussicht in dasselbe“106: Sie geht bis an die Pforte des Höchsten, und begnügt sich, das Unendliche, das Göttliche, was philosophisch sich nicht bezeichnen und erklären lässt, unbestimmt nur anzudeuten. (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 210)

Ähnlich bestimmt Schlegel jedoch auch das Symbolische: Symbole sind für ihn „Zeichen, Repräsentanten der Elemente, die nie an sich darstellbar sind“.107 Wendet man 102

Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 427 ff. Ebd., S. 430. 104 Vgl. Frank, 1989, S. 293. Die zentrale Funktion des Allegorischen streicht Frank durch den Hinweis darauf heraus, dass nach Auffassung der Frühromantiker eine Darstellung des Absoluten durch die Kunst „nur möglich [sei], wenn die Kunst über das hinaus, was sie darstellt [...] auch das noch ‚anzudeuten‘ vermag, was zu sagen ihr nicht gelingt“ (vgl. Frank, 1994, S. 117). 105 Vgl. Frank, 1989, S. 293. 106 F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 211. 107 F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 420. Verbunden mit dem antisystematischen Philosophiebegriff Schlegels führt dies auf die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Verwendung von Symbolen 103

332

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

sich wiederum Novalis zu, wird endgültig deutlich, dass es sich bei der Auseinandersetzung um das Allegorische und Symbolische letztlich nur um einen Streit um Worte handelt. Novalis nämlich wertet das Symbolische im Rahmen seiner „Wechselrepraesentationslehre des Universums“108 zu einem metaphysischen Konzept auf, wonach „Alles [..] Symbol des Andern seyn [kann]“.109 Dies gilt bereits für die obersten Grundsätze seiner an Fichte orientierten Subjektphilosophie: Deutlich wird etwas nu[r] [du]rch Repraesentation. Man versteht eine Sache am leicht[este]n, wenn man sie repraesentirt sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom N[icht]I[ch] repraesentirt wird. Das N[icht]I[ch] ist das Symbol des Ich, und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht man das N[icht]I[ch] umgekehrt, nur insofern es vom Ich repraesentirt wird, und dieses sein Symbol wird. (NO 3, S. 246)

Gerade in Folge dieser Technik des symbolischen Analogisierens, durch die das „Sinnliche [..] geistig, das Geistige sinnlich dargestellt“110 wird und Ich und Nicht-Ich sich wechselseitig symbolisch repräsentieren, kann Novalis sagen, dass wir „in einem kolossalen (im Großen und Kleinen) Roman“ leben111. Die Reflexionen von Friedrich Schlegel und Novalis über Symbol und Allegorie weisen so zurück auf die „Idee der unendlichen Einheit und unendlichen Fülle, und de[n] Grundsatz[] eines allgemeinen organischen Zusammenhanges aller Dinge“112, wie sie sich auch in den spekulativen Theorien Schellings und Schopenhauers finden. Diese organizistische Idee aber führt nach Auffassung der Frühromantiker auf den Vergleich des Lebens mit einem „kolossalen [...] Roman“, in dem alles mit allem in einem innigen Funktions- und Repräsentationszusammenhang steht. So wird, wie Engel im Zusammenhang mit den Bemerkungen Friedrich Schlegels zum Wilhelm Meister sagt, das „Gesamtsystem des Romans als Einheit selbständiger Teilsysteme“ zu einem „Modell der Welteinheit selbst“, wobei Roman und Welt gleicherweise organizistisch aufgefasst werden.113 In diesem Kontext ist auch der frühromantische Begriff des „Romantisierens“ bzw. „Poetisierens“ zu sehen. Laut Schlegel ist die Realisierung des Ideals des Poetisierens als ein zweiseitiger Prozess zu betrachten, insofern es dabei sowohl um eine ‚Verlebendigung der Poesie‘ als auch um eine ‚Poetisierung des Lebens‘ geht.114 Die Romantisierung ist aber nach Novalis so zu verstehen, dass dadurch jede Kleinigkeit des Alltagslebens und auch innerhalb der Philosophie: „Jedes System kann nur Approximation sein. Die Philosophie darf Symbole brauchen.“ (Ebd., S. 413) 108 Vgl. NO 3, S. 266. 109 NO 3, S. 398. Pikulik schreibt in diesem Sinne: „[O]rdnet die Analogie das Einzelne in das Ganze, das ‚Universum‘, ein, läßt sie das Ganze als Komplex von Beziehungen erkennen, in dem alles mit allem verknüpft ist.“ (Pikulik, 1992, S. 113) Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, ist bei Novalis in diesem Zusammenhang auch vom „Zauberstab der Analogie“ (NO 3, S. 518) die Rede. 110 NO 2, S. 283. 111 Vgl. NO 3, S. 434. 112 F. Schlegel, KSA, Bd. 13, S. 316. 113 Engel, 1993, S. 383. 114 F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 182.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

333

jedes Detail des poetischen Textes auf das Unendliche als deren „urspr[ünglichem] Sinn“ bezogen werde. Es handelt sich also um eine „qualit[ative] Potenzirung“ sub specie absoluti, in der das Einzelne und Endliche durch symbolische oder allegorische, jedenfalls aber analogische Verweisung erhöht und mit einer unendlichen Bedeutung aufgeladen wird.115 Das Konzept des Romantisierens ist demnach nur vor dem Hintergrund der „Wechselrepraesentationslehre des Universums“ zu begreifen, innerhalb derer die durchgängige Re-lativität der empirischen Unendlichkeit zugleich als eine endlose Verweisungsstruktur ge-deutet wird. Eine Romantisierung kann deshalb nur unter der Voraussetzung eines radika-len ontologischen Funktionalismus statthaben, in dem die Möglichkeit einer totalen Analogisierung besteht. Gerade durch sie macht das Genie auch das Kunstwerk zu einer „selbstthätige[n], absichtliche[n], idealische[n] Zufallsproduktion“116: Die Poësie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen – und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung die Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poësie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poeësie bildet die schöne Gesellschaft – die Weltfamilie – die schöne Haushaltung des Universums. [...] Durch Poësie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen. (NO 2, S. 533)

In dieser Totalität vermag aber nach Überzeugung der Frühromantiker nur der Roman das ‚Leben‘ und die ‚Welt‘ darzustellen.117 Der Roman erhebt daher in mehrfacher Weise einen Universalitätsanspruch: Er soll nicht nur ein „Spiegel der ganzen umgebenden Welt“ bzw. ein „Bild des Zeitalters“ geben, sondern auch den gesamten Bildungsstoff in sich aufnehmen bzw. „der höchsten und allseitigsten Bildung fähig“ sein.118 So vermöge nur der Roman ein „Kompendium des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums“ darzustellen: Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Kompendium, eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums [...]. Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist und sich bildet, in seinem Innern einen Roman. Daß er ihn aber äußre und schreibe, ist 119 nicht nötig. (F. Schlegel, KSA Bd. 2, S. 156)

115

Vgl. dazu NO 2, S. 545. NO 3, S. 451. 117 Dass in den Augen Friedrich Schlegels der Roman die Leitgattung der Transzendentalpoesie darstellt, wird auch im 602. Lyceum-Fragment deutlich: „Alle Poesie soll Prosa, und alle Prosa soll Poesie sein. Alle Prosa soll romantisch sein. – Alle Geisteswerke sollen romantisiren, dem Roman sich möglichst approximiren.“ 118 vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 182. Schelling charakterisiert in seiner Philosophie der Kunst den Roman auf ähnliche Weise: „Der Roman soll ein Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigstens, seyn, und so zur partiellen Mythologie werden. [...] Alles im Menschen anregend soll der Roman auch die Leidenschaft in Bewegung setzen; das höchste Tragische ist ihm erlaubt wie das Komische, nur daß der Dichter selbst von beidem unberührt bleibe.“ (Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 327) 119 Auch für Schelling ist der Roman „keine Musterkarte von Tugenden und Lastern, kein psychologisches Präparat eines einzelnen menschlichen Gemüths“, sondern „ein Spiegel des allgemeinen Laufs menschlicher Dinge und des Lebens“ (vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 329). 116

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Zu einer derartigen Enzyklopädie120 wird der Roman jedoch nicht durch den bloßen Zusammenhang der Geschichte; erst durch die unendliche Verweisung auf einen „geistigen Zentralpunkt“ – mit Hilfe der, wie wir nun ergänzen können, spezifisch ästhetischen Mittel Ironie und Allegorie – vermag der Roman seinen Universalitätsanspruch einzulösen: Der dramatische Zusammenhang der Geschichte macht den Roman im Gegenteil noch keineswegs zum Ganzen, zum Werk, wenn er es nicht durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene Einheit des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen geistigen Zentralpunkt wird. (F. Schle121 gel, KSA, Bd. 2, S. 336)

So kann Schlegel behaupten, dass der Roman „gar nicht nach d[em] Unbedingten, sondern nur aus d[em] Unendlichen heraus“ strebe.122 Während der philosophische Roman durch die poetische Gestaltung des Bewusstseins des Schöpfungsaktes ausgezeichnet sei, gestalte der „absolute“ Roman die Identität von Ich und Ganzem i.S. der „Vereinigung zweier Absoluten, der absoluten Individualität und der absoluten Universalität“.123 Der Universalitätsanspruch des Romans hat darüber hinaus zur Folge, dass er als Gattung noch nicht festgelegt sein kann. Der Roman stellt laut Schlegel eine progressive Universalpoesie dar124: er sei noch „im Werden“, ja er könne „ewig nur werden, nie vollendet sein“; daher auch verwirkliche sich in ihm eine unendliche Freiheit.125 Dies hat auf der Performanzebene zur Konsequenz, dass der transzendentalpoetische Roman durch eine Mischung der Gattungen ausgezeichnet ist und geradezu als eine autonome „Über-Gattung“ bestimmt wird.126 Das Ideal der Gattungsmischung ist jedoch nur Symptom tiefer liegender Ansprüche des transzendentalpoetischen Romans ist. Die Bestimmung des Romans als eines „Mischgedicht[s]“ ist daher laut Schlegel „in d[er] 120

Auch Jean Paul bezeichnet in seiner Vorschule der Ästhetik den Roman als eine „poetische Enzyklopädie“, die jedoch zugleich „eine poetische Freiheit aller Freiheiten“ darstelle (Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 249). 121 In ganz ähnlicher Weise äußert sich Novalis (vgl. NO 2, S. 277). 122 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 268. 123 Vgl. Schanze, 1974, S. 68. 124 Zwar ist im 116. Athenäumsfragment vom Roman direkt nicht die Rede, doch ist bei der Interpretation der Reflexionen Friedrich Schlegels zu berücksichtigen, dass der Begriff des Romantischen bei ihm wie bei Novalis stets eine Doppelbedeutung hat, insofern er zugleich ‚romantisch‘ und ‚romanhaft‘ bedeutet. 125 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 183. Im Gegensatz zu dieser Position Schlegels betont Novalis, dass der bedeutende Dichter in seiner Freiheit gebunden sei: „Je größer der Dichter, desto weniger Freyheit erlaubt er sich, desto philosophischer ist er. Er begnügt sich mit der willkührlichen Wahl des ersten Moments und entwickelt nachher nur die Anlagen dieses Keims – bis zu seiner Auflösung.“ (NO 2, S. 581) 126 Vgl. Mennemeier, Franz N.: „Friedrich Schlegels frühromantisches Literatur-Programm“, in: Jamme (Hrsg.), 1988, S. 283-295, insbesondere S. 294. Vgl. auch Schanze, 1974, S. 71 f: „Das Eigentümliche der ‚Theorie des Romans‘ bei Schlegel besteht nun gerade darin, daß in ihr der ‚Roman‘ nicht als eine neue Art dem alten poetisch-normativen Kanon zugesellt wird, sondern diesen völlig aufsprengt und in sich auflöst.“

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Definition des Romans eine unnütze Tautologie“; vielmehr stelle jeder Roman „eine Art für sich“ dar, angesichts derer „das Rubriciren sehr illiberal“ sei.127 So sei der Roman genau diejenige Form der Literatur, die es erlaubt, eine umfassende Weltsicht zu gestalten. Damit aber formuliert Schlegel den Anspruch des Romans, die vorherrschende Gattung der Moderne zu sein.128 Der Roman, als „die eigentl[iche] aesthetische Poesie“129, ist aber für die Frühromantiker die reflexive und ‚philosophische‘ Kunstform schlechthin oder, wie Schlegel sagt, die der „Symphilosophie“ angemessene Diskursform.130 Die „künstlerische Wählungs und Verbindungskunst“, die sich laut Novalis im Roman manifestiert131, betrifft demnach vor allem genuine Probleme der Philosophie, deren Anliegen erst der Roman zu erfüllen vermöge. Daher könne, so Schlegel, das „Ideal der ϕ [Philosophie] und π [Poesie] [..] wohl nur in π [Poesie] gegeben werden (in d[em] letzten R[oman])“.132 Deshalb sei der Roman nicht nur die höchste poetische Form, sondern auch das letzte Ziel der Philosophie: Ein π [poetisches] Buch ist Roman – was nun ein ϕσ [philosophisches] Vielleicht dasselbe. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 497)

Dieser „ganz schwere ϕ [philosophisch] π [poetisch] η [ethisch] gesättigte οργ [organische] R[oman]“133, als „das beste Organ d[er] besten Ekl.[ektischen] ϕ [Philosophen] d[er] Modernen“, impliziert laut Schlegel eine „Lebensphilosophie“, wie er sie schon im Wilhelm Meister verwirklicht sieht134. Bei diesem Begriff denkt man unwillkürlich an die pragmatische Haltung im philosophischen Roman der Spätaufklärung; allerdings ist diese „Lebensphilosophie“ im transzendentalpoetischen Roman mit einem hohen metaphysischen Anspruch verbunden. Gleichwohl besteht für Novalis und Friedrich Schlegel das Hauptcharakteristikum auch des transzendentalpoetischen Romans in der Integration philosophischer Reflexionen: 127

Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 24. Laut Wanning ist für Friedrich Schlegel die Moderne das Zeitalter des Romans, weil dieser die Fähigkeit besitze, alle krisenhaften Symptome der Moderne zu überwinden und die Wiedervereinigung von Geist und Natur herbeizuführen (vgl. Wanning, 1999, S. 63). 129 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 207. 130 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 141: „Vielleicht ists nicht möglich über Relig[ion], Poesie, Kunst anders als mit συµϕ [Symphilosophie] zu philosophiren. – συµϕ [Symphilosophie] nähert sich dem Roman.“ 131 Im Zusammenhang lautet die Stelle bei Novalis wie folgt: „Der Romandichter sucht mit Begebenheiten und Dialogen, mit Reflexionen und Schilderungen – Poësie hervorzubringen, wie der Lyrische Dichter durch Empfindungen, Gedanken und Bilder. / Es kommt also alles auf die Weise an, auf die künstlerische Wählungs und Verbindungskunst.“ (NO 3, S. 649) 132 F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 235. 133 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 230. 134 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 12. Schlegels Hochschätzung des Wilhelm Meister teilte Novalis, der später allerdings hart mit Goethes Roman ins Gericht ging. Auch Schelling war der Auffassung, dass es „bis jetzt nur zwei Romane“ gegeben habe: den Don Quijote und eben den Wilhelm Meister (vgl. Werke, Erg.Bd. 3, S. 330 ff). 128

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Die transscendentale Poësie ist aus Philosophie und Poësie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transcendentale Funktionen, und enthält in der That das transscendentale überhaupt. Der transscendentale Dichter ist der transscendentale Mensch überhaupt. (NO 2, S. 536)

Hierbei besteht die Transzendentalität des Romans darin, dass in ihm „vom Geiste, eh er Geist wird“, gehandelt werde; es geht hier gleichsam um die Darstellung der Verwandlung der „transc[endentalen] Poët[ik]“, in der es „nur Ein gemeines rohes Individuum“ gebe, in die „practische[] Poëtik“, in welcher „von gebildeten Individuen – oder Einem unendlich gebildeten Individuum die Rede“ ist.135 An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei dem Begriff der Transzendentalpoesie um eine Bildung „nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache“ handelt. So wie die Transzendentalphilosophie sich zunächst mit den Bedingungen der Möglichkeit bzw. den Formen der Erkenntnis befasst, um sich dann erst den Inhalten der Erkenntnis selbst zu widmen, so findet in der Transzendentalpoesie in eins mit der Präsentation der Erzählwelt eine Reflexion der Poesie auf ihre eigenen Grundlagen statt. Durch diese Autoreflexivität ist der transzendentalpoetische Roman „überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie“.136 In beiden Bereichen, der Poesie wie der Philosophie, bedeute, so Schlegel, „transcendental“ das, „was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und Realen Bezug hat“.137 In Schillers Terminologie ließe sich sagen, dass die Transzendentalpoesie eine „sentimentalische“ Poesie ist, insofern sie mit dem Produkt immer zugleich das Produzierende darstellt, dies aber eine vorhergehende, alle Naivität aufbrechende Distanznahme voraussetzt, wobei das Hauptmittel dieser Distanzierung die Ironie ist.138 Der Erzählprozess wird dadurch allererst zu einem bewussten Vorgang. Novalis geht sogar so weit zu behaupten, dass im Grunde alle bisherige „ächte“ Poesie transzendental bzw., wie er sie in diesem Zusammenhang bemerkenswerter Weise auch nennt, „organisch“ gewesen sei, obwohl sie zugleich an einem „Mangel an Bewußtseyn dessen, was sie [die Dichter] thaten“, leide.139 Die transzendentale Poesie jedenfalls folge stets den „Gesetze[n] der symbolischen Construction der transscendentalen Welt“.140 Vor diesem Hintergrund ist Novalis‘ Bemerkung zu verstehen: Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesezten Bestandtheilen – aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung. (NO 3, S. 653) 135

Vgl. NO 3, S. 248. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass der transzendentalpoetische Roman Züge des Bildungsromans trägt (vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.2.5). 136 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 204. Schelling bringt in seiner Philosophie der Kunst zum Ausdruck, dass das Wesentliche des Romans nicht in den dargestellten Inhalten, sondern in der Darstellungsform liege – entsprechend sei der Roman „bloß durch die Form der Darstellung objektiv, allgemein gültig“, aber „durch den Gegenstand beschränkt“ (vgl. Werke, Erg.Bd. 3, S. 325). 137 Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 26 f. 138 Die Begriffe, die Novalis und Friedrich Schlegel von der Transzendentalpoesie entwickeln, sind zwar nicht gleichbedeutend, in wesentlichen Hinsichten stimmen sie aber überein. 139 Vgl. NO 2, S. 535. 140 Vgl. NO 2, S. 536.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Wie Friedrich Schlegel ausführt, verliert sich die Transzendentalpoesie in das Dargestellte und stellt doch zugleich den Darstellenden immer mit dar. So habe der transzendentalpoetische Roman nicht nur einen synthetischen Anspruch, insofern er die Gattungen mische, Poesie, Philosophie und Rhetorik verknüpfe und sowohl Poesie und Prosa als auch „Genialität“ und „Kritik“, „Kunstpoesie und Naturpoesie“ verschmelze, sondern er schwebe vor allem „am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte“. Durch beständige ‚Potenzierung‘ werde diese Reflexion „in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfach[t]“141, wobei das „eins und alles“ einer derartigen transzendentalen Poesie „das Verhältnis des Idealen und des Realen“ sei. Indem sie aber „das Produzierende mit dem Produkt darstell[e]“, trägt die Poesie nach Schlegel einen durch und durch ‚kritischen‘ Charakter.142 Obgleich laut Novalis die transzendentale Poesie ausgezeichnet sei durch die „Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend“143, sind deren „höchste[] Kunstwercke“ doch „schlechthin ungefällig“: sie sind bloß „Ideale, die uns nur approximando gefallen können“, oder „ästethische Imperative“.144 Dennoch vermöge allein eine solche Poesie das Undarstellbare darzustellen: Der Sinn für Poësie [...] ist der Sinn für das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc. [...] Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt – dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinn Subj[ect] Obj[ect] vor – Gemüth und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, die Ewigkeit. (NO 3, S. 685)

Wenn Novalis aber auch dafürhält, dass „wunderbare Kunstwercke [..] entstehn“ können, „wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben beginnt“145, ist aufgrund dieses unendlichen Bedeutungsreichtums das „Wesen der Poesie“ letztlich undefinierbar: Worinn eigentlich das Wesen der Poësie bestehe, lässt sich schlechthin nicht bestimmen. Es ist unendlich zusammengesezt und doch einfach. Schön, romantisch, harmonisch sind nur Theil146 ausdrücke des Poëtischen. (NO 3, S. 690)

Obwohl für Jean Paul die frühromantische Transzendentalpoesie einen „poetischen Nihilismus“ darstellte, der „ichsüchtig die Welt und das All vernichtet“147, wollen wir 141

Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 182 f. Vgl. ebd., S. 204. Szondi bemerkt dazu: „Schlegel fordert eine Dichtung, die mit dem Objekt auch sich selber mit dichtet, die auch sich selber zum Gegenstand hat und in dieser inneren Spaltung in Subjekt und Objekt sich potenziert, Poesie der Poesie wird.“ (Szondi, 1976, S. 11) 143 Vgl. NO 3, S. 685. 144 Vgl. NO 3, S. 413. 145 Vgl. NO 2, S. 524. 146 Vor diesem Hintergrund ist auch die Bemerkung von Novalis zu verstehen: „Die Aesthetik ist ganz unabhängig von der Poesie.“ (NO 3, S. 685/667) 147 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 31. 142

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

im Folgenden dessen Romane als Musterbeispiele der Transzendentalpoetik auffassen. Freilich spielt bei Jean Paul das Prinzip der Nachahmung der Natur eine gewichtigere Rolle als bei Friedrich Schlegel und Novalis. In der Poesie finde hinsichtlich der „äußere[n] Natur“ eine „Brodverwandlung ins Göttliche“ statt148, sodass die Poesie, gerade indem sie ihr Material ‚vergeistigt‘, ans Orientierungssystem der Natur gebunden bleibt.149 Dabei greift auch Jean Paul auf das Modell des Organizismus zurück: Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet, beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am 150 Körperreich.

Wenn man nun sieht, dass der Kritik Jean Pauls an den Konzepten der Frühromantiker die Bemerkung Friedrich Schlegels gegenübersteht, dass Jean Pauls Romane „die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters“ seien151, könnte man auf die Erklärung verfallen, dass das Verhältnis zwischen Jean Paul und den Frühromantikern schlicht ein asymmetrisches sei. Doch eine derartige Beschreibung wäre, wie wir in den beiden folgenden Kapiteln darlegen werden, zu oberflächlich. Sicherlich ist die Romankunst Jean Pauls nicht einfach als eine Umsetzung der frühromantischen Konzeption der Transzendentalpoetik zu begreifen. So schreibt Michel ganz richtig: So wichtig die Frühromantik als Konzeption semiologischer Kontingenz und als diskursgeschichtlicher Background für Autoren wie Jean Paul und Clemens Brentano ist – die je spezifische narrative Organisation von Romanen wie Jean Pauls Siebenkäs oder Brentanos Godwi kann nicht dadurch beschrieben werden, daß sie mit dem romanpoetologischen Kriterienkatalog von Friedrich Schlegel oder Novalis abgeglichen und dann mit dem Qualitäts- und Aktua152 litätssiegel der Frühromantik versehen wird.

Dennoch kann die, wie Friedrich Schlegel sie nennt, „wunderliche fantastische Fantasie“, die in Jean Pauls Romanen zum Ausdruck kommt, m.E. allein dadurch einem Verständnis näher gebracht werden, dass man sie in Bezug setzt zu den frühromantischen Reflexionen zur transzendentalen Poetik. Den Graben, der Jean Paul und die Frühromantiker trennt, muss man darum nicht zuschütten; aber Brücken können über ihn geschlagen werden. Diese Brücken eröffnen Wege, die ins Zentrum sowohl des organizistischen Kunstverständnisses als auch der romantischen und idealistischen Subjektphilosophie führen.

148

Ebd., S. 43. Vgl. Müller, 1990, S. 163: „Die poetische Phantasie ‚totalisieret‘ die fragmentarischen Ansichten der Wissenschaften und vermittelt so eine vollständigere Ansicht der Natur“ (dazu Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 32 f u. 47 f). 150 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 39. Auf das Problem der Nachahmung in der Ästhetik und Romantheorie um 1800 werden wir im folgenden Kapitel noch ausführlich eingehen. 151 So äußert sich Schlegel in seinem Brief über den Roman (F. Schlegel, KSA Bd. 2; S. 329-339). 152 Michel, 2006, S. 37. 149

2.2.4 Das Konzept der Transzendentalpoesie und die Autoreflexivität zweiter Stufe Wenn aber jemand die Künste verachtet, weil sie nur in Nachahmung der Natur schüfen, so ist dem entgegenzuhalten, [...] daß sie nicht einfach das Geschehene nachbilden, sondern bis zu 1 den Prinzipien aufwärts zu dringen suchen, aus denen die Natur geflossen ist.

Gemäß der These, dass um 1800 die Ästhetik in einen Begründungszusammenhang mit der Ontologie gerät, haben die Entwicklungen auf dem Gebiet der Metaphysik wesentliche Auswirkungen nicht nur auf die damaligen Kunstphilosophien, insbesondere auf die frühromantische Konzeption der Transzendentalpoesie, sondern auch auf die Romanpraxis um 1800. Will der pragmatische Roman noch etwas Unmögliches – die Darstellung der empirischen Unendlichkeit als einer kausalen Verknüpfung der Handlungsund Weltereignisse –, so verweist die Parodie des pragmatischen durch den philosophischen Roman der Spätaufklärung bereits auf jenen ‚höheren‘ Begriff der Einheit und Totalität der Welt, der in der romantischen Kunstphilosophie virulent wird: auf den Begriff der Welt als eines Organismus, der insgesamt eine autoreflexive Struktur zugeschrieben werden kann. Es lässt sich sogar behaupten, dass der holistische Grundansatz des pragmatischen Paradigmas – und mit ihm des philosophischen Romans – mit Notwendigkeit auf eine solche organizistische Auffassung der Welt als eines einheitlichen, wechselwirkenden Ganzen führt. Doch selbst wenn man dies bestreitet, kann man kaum in Abrede stellen, dass schon im pragmatischen Roman das Kunstwerk – als eine ‚Welt im kleinen‘ – zu einer Repräsentation des Weltganzen wird. Dadurch aber gerät die Ästhetik bzw. Romantheorie in unmittelbare Abhängigkeit von der Metaphysik. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass die ästhetische Theorie vor der Notwendigkeit einer Erweiterung und Präzisierung ihrer Grundbestimmungen des nunmehr ebenfalls als Organismus aufgefassten Kunstwerks steht.2 Dabei scheinen zwar die Modelle der Frühromantiker von dem einem mechanizistischen Determinismus verpflichteten Konzept des pragmatischen Romans weit entfernt, doch ein näherer Blick zeigt, dass die fundamentalen Strukturbestimmungen der Transzendentalpoesie ursprünglich dem trotz seiner parodistischen und ironischen Strategien eng an den pragmatischen gebundenen philosophischen Roman entstammen.

1 2

Plotin, 1956 ff, Bd. 3a, S. 30 f. Den historischen Kontext, in dem die Entwicklung des organizistischen Kunstbegriffs steht, charakterisiert Zelle wie folgt: „Die organische Betrachtungsweise des Kunstwerks in der deutschen Klassik und Romantik reagierte auf die materialistische Erniedrigung des Subjekts und seine Einbzw. Unterordnung in das als Staatsmaschinerie bewertete politische System des Spätabsolutismus. Organisch gestaltet und schön organisiert, erschien das Kunstwerk als Gegenbild zu einem gleichermaßen sozial wie politisch entfremdeten Leben.“ (Vgl. Zelle, 1997, S. 517) Diese Aspekte werden in unserer Untersuchung jedoch ausgeklammert.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das Hauptmerkmal des philosophischen Romans nunmehr in einer anderen Gestalt auftritt, insofern die den philosophischen Roman der Spätaufklärung charakterisierende Autoreflexivität erster Stufe – also das selbstreferente Verhältnis zwischen dem diskursiven Gehalt und der formalen Struktur des Romans – im transzendentalpoetischen Roman an Bedeutung verliert3 und die in Ansätzen bereits im spätaufklärerischen Roman erkennbare Autoreflexivität zweiter Stufe – als die gleichursprüngliche Präsentation von Erzählvorgang und erzählter Welt – im frühromantischen Konzept der Transzendentalpoesie eine mimetische Funktion übernimmt. Denn nach Auffassung der Frühromantiker wird das Kunstwerk und insbesondere der Roman gerade durch seine autoreflexive Struktur zu einem Abbild der Welt im Ganzen, da diese Welt ebenfalls als eine autoreflexive Struktur verstanden werden muss. Hieraus folgt, dass das Kunstwerk, so wie das Weltganze, ebenfalls als Organismus anzusehen ist. Als ein solcher erhält es den Charakter einer mimetischen Repräsentation, wodurch sich wiederum die Behauptung, die Frühromantik habe sich vom Prinzip der Mimesis vollends verabschiedet, als falsch, zumindest aber als oberflächlich herausstellt. Vielmehr ist auch an dieser – zentralen – Stelle eine wesentliche Kontinuität zwischen Aufklärung und Romantik festzustellen. Dies hat weitgehende Konsequenzen für das Kunst- und Literaturverständnis um 1800. Denn während innerhalb der ersten Form der Autoreflexivität das dem Romanerzählen zugrundeliegende pragmatische Paradigma artikuliert und in ein Verhältnis zu den Erzählmitteln gesetzt wird – was einer Interpretation relativ leicht zugänglich ist –, kommen in der zweiten Form der Autoreflexivität die metaphysischen Hintergrundannahmen des Romanerzählens zum Ausdruck. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass diese zweite Form erst deutlich später auftritt – folgt doch das pragmatische Paradigma der Spätaufklärung einer dezidiert antimetaphysischen Haltung.4 Nun wird für die Generation der Romantiker gerade der Umstand, dass die autoreflexive Struktur in der Transzendentalpoesie eine andere – nämlich mimetische – Funktion erhält, zu einem Ausweis der metaphysischen Bedeutung der Kunst. Dadurch wird die im vorangegangenen Kapitel dargestellte Forderung der Frühromantiker verständlicher, dass auf dem Gebiet des Ästhetischen der spekulative Anspruch der klassischen Metaphysik mit den Errungenschaften der kritischen Philosophie Kants verknüpft werden soll.5 Dieses Be3 4

5

Novalis etwa spricht sich explizit gegen eine argumentierende oder räsonierende Romankunst aus (vgl. NO 3, S. 560) Dennoch stellt die erste Form der Autoreflexivität strukturell die Urform der zweiten dar: der philosophische Roman der Spätaufklärung wird dadurch gattungsprägend für den Roman der Transzendentalpoesie, ja für den gesamten modernen Roman. Allerdings geschieht dies um den Preis, dass innerhalb des transzendentalpoetischen Romans der Grad der expliziten Diskursivität im Vergleich zum philosophischen Roman der Spätaufklärung nachlässt. Dadurch entsteht der Eindruck einer Verwandtschaft zwischen dem Roman der Romantik und dem vormodernen Roman. Dieser Eindruck ist jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung haltbar, da dem die autoreflexive Grundstruktur entgegensteht. So tritt die ‚materiale‘ Autoreflexivität erster Stufe zugunsten der ‚formalen‘ Autoreflexivität zweiter Stufe in den Hintergrund, ohne

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

341

gründungsverhältnis von Ästhetik und Metaphysik wird zwar grundsätzlich bereits im Kantischen Theorem von der ästhetischen als Repräsentant der Vernunftidee sowie in der Schelling-Novalisschen Auffassung von der doppelten Rolle der Einbildungskraft bei der Konstituierung von Welt- und Kunstbegriff artikuliert; doch erst im Konzept der Transzendentalpoesie nimmt diese Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik konkrete Gestalt an. Allerdings handelt es sich dabei um eine metaphysische Tätigkeit, die von den Limitationen der kritischen Philosophie ihren Ausgang nimmt und insofern der Selbstaufklärung der Vernunft dient. Denn die Lehre Kants von den Vernunftideen als bloß regulativen Leitkonzepten der empirischen Forschung, die niemals induktiv belegbar sind, ist eine notwendige Konsequenz der Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis durch die kritische Philosophie. Und wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft diesen indemonstrablen Vernunftideen ein neues Artikulationsfeld eröffnet, indem er die ästhetischen Ideen als deren analogische Repräsentanten identifiziert, so erfolgt dies ebenfalls innerhalb der Restriktionen des Kritizismus. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, kommt in den Augen der Frühromantiker im Kunstwerk jedoch nicht das Absolute selbst, sondern dessen Entzug zum Ausdruck. Genau deshalb muss bei der Rede von der Kunst als Ersatzmetaphysik immer von Darstellung und nicht von Erkenntnis des Absoluten die Rede sein. Demnach steht die autoreflexive Struktur in der Transzendentalpoesie in einem Abbildverhältnis zur organizistisch aufgefassten Einheit der Natur. So wie der objektive Idealismus die Natur als produktives Subjekt und die Welt als einen Organismus resp. als ein in unendlicher Wechselrepräsentation stehendes Systemganzes versteht, wird auch das dieses Weltganze darstellende Kunstwerk nunmehr organizistisch aufgefasst. Wie schon bei der Übertragung des empirischen Konzepts des Organismus auf das Ganze der Natur, gilt aber auch für den Modelltransfer im Falle der organizistischen Bestimmung des Kunstwerks, dass einige Bestimmungsmerkmale des natürlichen Organismus keine Verwendung mehr finden können. Auch wenn das Konzept des „Weltorganismus“ bloß eine ästhetische Idee im Sinne Kants darstellen sollte, die die Vernunftidee von der Einheit und Totalität der Natur nur auf analogische Weise anschaulich ausfüllt, so müssen bei der organizistischen Bestimmung des Kunstwerks weitere Aspekte des empirisch gegebenen Organismus wegfallen als im Falle der Übertragung des Organismusmodells auf das Weltganze. So spielen gemeinhin Kausalprozesse innerhalb des Kunstwerks keine oder nur eine kontingente Rolle6; bestenfalls können ‚logische‘ Grund-Folge-Verhältnisse, wie sie in jedem Kunstwerk auftreten, als

6

jedoch – wie etwa der hohe Reflexionsgrad der Romane Jean Pauls zeigt – gänzlich zu verschwinden. Tendenziell bedeutet es freilich, dass innerhalb des transzendentalpoetischen Romans explizite philosophische Ausführungen, bei den Spätaufklärern hingegen explizite Reflexionen auf die ontologischen Voraussetzungen des Romans in geringerem Maße zu finden sind. Nur in der bildenden Kunst – insbesondere in der Architektur oder in Performances und Installationen – können Kausalprozesse genutzt oder dargestellt werden; zumeist sind sie hier jedoch hinsichtlich der künstlerischen Intention kontingente Mittel, die anderen Darstellungszwecken dienen.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Analogien solcher Kausalprozesse verstanden werden. Schon für Kant war das organische Naturprodukt vom Kunstprodukt dadurch unterschieden, dass in diesem Teil und Ganzes in einem logischen Verhältnis stehen, während sie sich in jenem zusätzlich noch in einer kausalen Beziehung – und zwar in einer der Wechselwirkung – befinden: Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß die Theile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. [...] Sofern aber ein Ding nur auf diese Art als möglich gedacht wird, ist es bloß ein Kunstwerk, d.i. das Product einer von der Materie (den Theilen) desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache, deren Causalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Theile) durch die Idee von einem dadurch möglichen Ganzen [...] bestimmt wird. Soll aber ein Ding als Naturproduct in sich selbst und seiner innern Möglichkeit doch eine Beziehung auf Zwecke enthalten, d.i. nur als Naturzweck und ohne die Causalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm möglich sein: so wird zweitens dazu erfordert: daß die Theile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. (Kant, KU, B 290)

Nur ein derartiges Produkt, in dem jeder Teil – „als ein die andern Theile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ“ – nicht nur „durch alle übrige da ist“, sondern auch „um der andern und des Ganzen willen“ existiert, könne, so Kant, als ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen ein Naturzweck genannt werden“.7 Ein solches aber sei vom Kunstprodukt, das sich nicht selbst organisiert8, sondern zu seinem Dasein einer externen Intelligenz bedarf, grundsätzlich verschieden: Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisirten Producten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisirt sich vielmehr selbst und in jeder Species ihrer organisirten Producte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert. (Kant, KU, B 293)

Was demnach für die Auffassung vom philosophischen System als Organismus gilt, hat auch für den organizistischen Begriff vom Kunstwerk seine Gültigkeit9: Gewisse Merkmale des Organismus, die nur in der physikalischen Welt auftreten und innerhalb des metaphysischen Organismuskonzepts noch bewahrt werden konnten, müssen in einer organizistischen Ästhetik fallen gelassen werden. Soll aber das ästhetische 7

8 9

KU, B 291 f. Entsprechend lautet Kants Bestimmung des Organismus: „Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ (B 296) Vgl. dazu Abrams, 1978, S. 263, wo dargelegt wird, dass in Kants Kritik der Urteilskraft der „Naturorganismus als etwas immanent [...] Zweckbestimmtes, als ein ‚sich selbst organisierendes Wesen‘ [bestimmt wird], [...] in dem die Relationen zwischen den Teilen und dem Ganzen als Wechselbeziehung von Mitteln und Zweck neu formuliert werden können“. Dies gilt, obwohl laut Kant das geniale Kunstwerk den Anschein erweckt, als trüge es den Zweck in sich selbst (vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 2.2.3). Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die gleichlautenden Beschreibungen von Philosophie als System und Kunstwerk als Organismus deutlich zeigen, als wie eng um 1800 die Verwandtschaft zwischen Philosophie und Kunst angesehen wurde. Dies geht so weit, dass in den frühromantischen Fragmenten ‚Organismus‘ und ‚System‘ nachgerade zu Wechselbegriffen werden.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

343

Organismuskonzept als ein vernünftiges ausgewiesen werden, so muss gezeigt werden, dass andere wesentliche Bestimmungsmerkmale des Organismus bei der Übertragung auf das Kunstwerk erhalten bleiben – sonst handelte es sich nicht einmal mehr um eine sinnvolle Analogie oder Metapher.10 Wenn man nun der Frage nachgeht, welche Bestimmungsmerkmale des Organismus bei dieser Übertragung erhalten bleiben, wird man gewahr, dass sich im Kunstwerk – abgesehen von den (kreisläufigen) Kausalprozessen – alle wesentlichen Aspekte des Weltorganismus, wie sie Schelling beschreibt, in abgewandelter Form wiederfinden.11 Somit steht der Organismus des Kunstwerks in Bezug zum organizistisch verstandenen Weltganzen und nicht zum Organismus als einem biologischen Phänomen.12 Dies wird besonders deutlich in Schellings System des transcendentalen Idealismus, wo er das Kunst- vom Naturprodukt dadurch unterscheidet, dass zwar auch das Naturprodukt bereits ein Subjekt-Objekt-Integral darstelle, in dem bewusste und bewusstlose Tätigkeit identisch seien, dass dies hier aber nicht von Bewusstsein begleitet bzw. „für das Ich selbst“ sei. Dies leiste erst das Kunstprodukt, das, insofern es zugleich die „Identität des Bewußten und Bewußtlosen im Ich und Bewußtseyn dieser Identität“ objektiv darstelle, „einerseits an das Naturprodukt, andererseits an das Freiheitsprodukt grenze[], und die Charaktere beider in sich vereinige[]“13: [V]om organischen Naturprodukt unterscheidet sich das Kunstprodukt hauptsächlich dadurch, daß das organische Wesen noch ungetrennt darstellt, was die ästhetische Produktion nach der 10

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12

13

Auch Engel beschreibt den Wechsel vom Mechanizismus zum Organizismus als einen „metaphorischen Paradigmenwechsel“, wobei der Organismus als „ein neues universelles Integrationsideal [verstanden wird], das gleichermaßen vorbildlich ist für die Vereinigung von Sinnlichkeit und Geist im Individuum, von Teil und Ganzem im Kunstwerk, von Einzelnem und Gemeinschaft im Staat“ (Engel, 1993, S. 51 f). Seine Unterscheidungen, wonach die ‚Klassik‘ eine „transzendentale Analogie zwischen der Betrachtung des Kunstwerks und des Organismus“ herstelle, der ‚Deutsche Idealismus‘ den Organismus als „Beweis für die Verwandtschaft von Subjekt und Objekt und ihre gemeinsame Fundierung in einem Absoluten“ nehme und die ‚Frühromantik‘ durch die Auffassung charakterisiert sei, dass im Organismus „jeder seiner Teile das Prinzip des Ganzen in sich“ trage (ebd., S. 384), sind allerdings viel zu grob, um die Konstellationen um 1800 angemessen darzustellen. Vielmehr sind nicht nur die organizistischen Konzepte jener Zeit wesentlich differenzierter, sondern die Überschneidungen zwischen den ‚klassischen‘, ‚idealistischen‘ und ‚romantischen‘ Organismusmodellen verweisen auf eine epochenübergreifende Kontinuität. Insofern bereits beim Transfer des Organismusmodells von der empirischen in die metaphysische Sphäre die Bestimmungsmerkmale des Organismus bloß in allgemeiner Form erhalten bleiben, lässt sich sagen, dass bei der Entwicklung eines organizistischen Kunstwerkbegriffs dieser Abstraktionsprozess nur fortgesetzt wird. Einen interessanten Beleg für diese These kann man auch in der Behauptung Schellings sehen, dass das „Unendliche“ in der Natur nur „durch die objektive Welt als Ganzes, niemals aber durch das einzelne Objekt“ dargestellt würde, während in der Sphäre der Kunst „jedes einzelne Produkt derselben die Unendlichkeit darstellt“ (vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 627). Freilich steht diese Äußerung in einem gewissen Widerspruch zu den (in Kap. 2.2.2 dargelegten) Ausführungen Schellings in seinen identitätsphilosophischen Schriften. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 612.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Trennung, aber vereinigt darstellt; daß die organische Produktion nicht vom Bewußtseyn, also auch nicht von dem unendlichen Widerspruch ausgeht, welcher Bedingung der ästhetischen 14 Produktion ist [...].

Die Leistung, die „Identität des Bewußten und Bewußtlosen“ im und für das Bewusstsein darzustellen, vollbringe die Kunst dadurch, dass bewusste und bewusstlose Tätigkeit im Produktionsprozess durch das Genie15 vereinigt werden16: [D]ie Natur fängt bewußtlos an und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt. Das Ich in der Thätigkeit [der Kunstproduktion] muß mit Bewußtseyn (subjektiv) anfangen, und im Bewußtlosen oder objektiv enden, das Ich ist bewußt der Produktion 17 nach, bewußtlos in Ansehung des Produkts.

So wie Schelling und Schopenhauer zu der These gelangt sind, dass sich im menschlichen „Intellekt“ die gesamte Natur wiederspiegle und zum Bewusstsein gelange, so erhält innerhalb der Kunstphilosophie Schellings das Kunstwerk dadurch seine überragende Bedeutung, dass in ihm die „Identität des Bewußten und Bewußtlosen“ bewusst gemacht wird. Im Kunstwerk wiederholt sich demnach genau jene Struktur, die in der realdialektischen Metaphysik Schellings und Schopenhauers der Natur insgesamt als einer Einheit von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur zugeschrieben wird: Was sich in der natürlichen Evolution allmählich aus einfachen Materiezuständen entwickelt – die Wiederspiegelungsinstanz des komplexen menschlichen Bewusstseins –, objektiviert sich in anderer, aber strukturgleicher Form ebenso im Kunstwerk.18 Das Kunstwerk ist also auch aus dieser Perspektive der adäquate Repräsentant der Einheit und 14

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Ebd., S. 621 f. Vgl. auch ebd, S. 614: „Bewußte und bewußtlose Thätigkeit, sollen absolut Eins sein im Produkt, gerade wie sie es im organischen Produkt auch sind, aber sie sollen auf andere Art Eines seyn, beide sollen Eines seyn für das Ich selbst.“ Schelling bestimmt das Genie als „das Unbegreifliche, was ohne Zutun der Freiheit [...] zu dem Bewußten das Bewußtlose hinzubringt“ (ebd., S. 616). Insofern ist für Schelling das Kunstprodukt immer ein Genieprodukt. Als Subjekt-Objekt-Integral ist das Kunstwerk – als ästhetische Anschauung – zugleich die „Objektivität der intellektuellen Anschauung“ und „reflektirt mir, was sonst durch nichts reflektirt wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat“ (ebd., S. 625). So wird der „Grund aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven“ zwar „in seiner ursprünglichen Identität nur durch die intellektuelle Anschauung dargestellt“, aber nur „durch das Kunstwerk“ wird er „ganz objektiv“ (vgl. ebd., S. 628). Ebd., S. 613. Im Kunstwerk sichtbar werde dies dadurch, dass in ihm „Kunst“ – als dasjenige, „was mit Bewußtseyn, Ueberlegung und Reflexion ausgeübt wird“, also das Technische – mit „Poesie“ – als das Bewusstlose, das „allein durch freie Gunst der Natur angeboren“ sei – verbunden werden müsse, denn „jede[] derselben [habe] ohne den andern keinen Werth“ und „nur beide zusammen [könnten] das Höchste hervorbringen“ (ebd., S. 618). Vor diesem Hintergrund wird die Bemerkung des Novalis begreiflicher: „Poësie ist wahrhafter Idealismus – Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines großen Gemüths – Selbstbewußtseyn des Universums.“ (NO 3, S. 640) Deshalb auch kann Novalis sagen: „Wenn wir Selbsterzeugnisse, und Machwercke mit Naturprodukten vergleichen, so werden wir die Natur verstehn lernen.“ (NO 3, S. 448)

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

345

Totalität der Natur.19 Dennoch gilt: Die eigentliche Pointe der organizistischen Kunstauffassung ist, dass ihr zufolge das als Organismus verstandene Kunstwerk zu einem Spiegel des Weltganzen wird. Zwischen Organismus, Kunstwerk und Universum besteht demnach ein wechselseitiges Analogieverhältnis in dem Sinne, dass eines die jeweils anderen beiden repräsentiert. Hier zeigt sich, welch hoher Anspruch mit dem organizistischen Kunstwerkbegriff verbunden ist.20 Dies hat natürlich zahlreiche Konsequenzen sowohl für die Kunsttheorie als auch für die Kunstpraxis. Zunächst ist nochmals festzuhalten, dass damit die Ästhetik in einen Begründungszusammenhang mit der Metaphysik gerät. Wenn demnach Schelling und Schopenhauer darlegen, dass eine den Kriterien des Kritizismus genügende metaphysische Theorie nur dialektisch verfasst sein kann, insofern sie zugleich und in eins vom Subjekt und vom Objekt her eine Deutung des Seinsganzen versuchen muss; wenn sie desweiteren dafürhalten, dass eine hermeneutische Ausfüllung der Vernunftidee vom Weltganzen nur mit Hilfe des Modells des Organismus als eines Subjekt-ObjektIntegrals sowie der Kategorie der Autoreflexivität möglich ist; wenn sie schließlich diesen ‚Weltorganismus‘ als ein System beschreiben, in dem sich alle Kausalprozesse kreisförmig zu einem wechselwirkenden Ganzen zusammenschließen, Teil und Ganzes in einem begrifflichen Verhältnis zueinander stehen und dadurch ein unendlicher Verweisungszusammenhang entsteht, in dem sich alles wechselseitig repräsentiert – wenn all dies sich so verhält, dann stellt dies auch die ästhetische Theorie vor die Notwendigkeit, die Grundbestimmungen des nun ebenfalls als Organismus, als autoreflexive Einheit von Subjektivem und Objektivem bzw. als autonomes System der totalen dialektischen Vermittlung aufgefassten Kunstwerks zu präzisieren.21 Entsprechend entsteht um 1800 eine neue Konzeption des Kunstprodukts. Wie bereits gesagt, wird nach Auffassung Schellings und der Frühromantiker das Kunstwerk, insbesondere der Roman gerade durch seine autoreflexive Struktur zu einem Abbild der 19

20

21

Laut Abrams gilt – wenn schon der einzelne Organismus „ein ewig lebendiger Spiegel des Universums“ ist – dies umso mehr für das Kunstwerk – mit dem Unterschied freilich, dass diese Spiegelung hier mit Bewusstsein geschieht (vgl. Abrams, 1978, S. 236). Abrams sieht den Grundgedanken dieser Auffassung bereits in der Monadologie von Leibniz angelegt, insofern dort die Eigenschaft, „ein ewig lebendiger Spiegel des Universums“ zu sein, als die essentielle Gemeinsamkeit aller Monaden beschrieben wird – mit der einzigen differentia specifica, dass der menschliche Geist ein Bewusstsein dessen besitze (vgl. ebd., S. 255). Solcherlei Überlegungen finden sich auch bei Herder, der, wie erwähnt, als Wegbereiter des Organizismus angesehen werden kann: „[A]lles Daseyn ist sich gleich, ein untheilbarer Begrif; im Grössesten sowohl als im Kleinsten auf Einerley Gesetze gegründet“ (Herder, 1877 ff, Bd. 13, S. 16) Auch Goethe stellt in seinem Essay Von Deutscher Baukunst von 1772 eine Analogie zwischen natürlichem Organismus und Kunstwerk her (vgl. dazu Goethe, 1981, Bd. 12, S. 13; s.a. Abrams, 1978, S. 259 f). So wird das Kunstwerk laut Mein zu einem Modell von Selbstbezüglichkeit und -ursächlichkeit, das den harmonischen Zusammenhang des Weltganzen dadurch aufzeigt, dass es zwar nicht die kosmische Ordnung selbst, aber das Prinzip dieser Ordnung aufzeigt (vgl. Mein, 2000, S. 79 ff).

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Welt als Ganzer. Wird nun die Natur als Organismus bestimmt und das Kunstwerk in einem mimetischen Verhältnis zur Welt als Ganzer gesehen, so folgt hieraus, dass das Kunstwerk ebenfalls als eine organische Einheit betrachtet werden muss. Und umgekehrt gilt: Wenn Natur und Kunstwerk unter Verwendung ähnlicher Bestimmungsmerkmale jeweils als Organismus bestimmt werden, dann ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sie in einen mimetischen Bezug zueinander treten können.22 So wird das Kunstwerk zum Abbild des Weltganzen oder, Kantisch gesprochen, wird die ästhetische Idee zum Repräsentanten der Vernunftidee von der Einheit der Natur. Damit erhält die Kunst um 1800 eine neue Funktion und erfährt eine eminente Aufwertung: Das künstlerische Werk bietet nun den einzig möglichen epistemischen Zugang zu dem, was im Deutschen Idealismus das „Absolute“ genannt wird. Diese Erkenntnis erfolgt jedoch im Modus der Darstellung; und was die Kunst darstellt, ist gerade die Unverfügbarkeit oder der Entzug des Absoluten, ist seine Undarstellbarkeit. Etwas darzustellen heißt hierbei: etwas anschaulich zu machen und dadurch das bloß Begriffliche zu überschreiten. Dies ist stets in Erinnerung zu halten, wenn von der (romantischen) Kunst als einer metaphysischen Tätigkeit gesprochen wird. Obwohl aber die Kunst das Absolute nur in der Weise der Negativität erfasst, hat sie nach Auffassung der Romantiker den begrifflich verfassten Wissenschaften wie der reflexiven Philosophie etwas Entscheidendes voraus: nur sie gewährt einen Zugang zum Absoluten. Als eine Darstellung des Absoluten in diesem Sinne erhält das Kunstwerk den Charakter des Mimetischen in der höchsten Potenz – allerdings als Mimesis einer Natur, die im Rahmen der realdialektischen Metaphysik 1. als Organismus, 2. als Subjekt und 3. als Produktivität aufgefasst und der insgesamt eine autoreflexive Struktur zugeschrieben wird. Diese Bindung der Kunsttheorie und –praxis um und nach 1800 an den Naturbegriff der organizistisch verfassten Ontologie zeigt deutlich, dass die Behauptung, die Frühromantik habe sich vom Prinzip der Mimesis verabschiedet, nur sehr oberflächlich die eigentliche Problematik der romantischen Kunstphilosophie beschreibt.23 Entgegen der allgemeinen Auffassung von der „Abkehr vom Nachahmungsprinzip“ bei den Romantikern ist daher zu sagen, dass das autoreflexiv verfasste Kunstwerk als Organismus zum Nach- und Abbild des Universums als eines autoreflexiven, unendlich 22

23

Die Frage danach, was hier bedingend und was bedingt ist, die Frage also nach der Priorität von Organismuskonzept oder Mimesisvorstellung lässt sich nur schwer oder gar nicht beantworten, kann jedoch im Rahmen einer systematischen Entfaltung der Kunsttheorien um 1800 eingeklammert werden. Diese These wurde bereits von Preisendanz vertreten (vgl. Preisendanz, 1978, S. 54-74). Ebenso ist der Behauptung Götzes, dass die – sicherlich nicht zu bestreitende – „transzendentale Wende vom Adäquations- zum Konstruktionsparadigma auf dem Gebiet der Poetik“ innerhalb der Frühromantik einer Verabschiedung des Nachahmungsprinzips gleichkomme, entschieden zu widersprechen (vgl. Götze, 2001, S. 379). Auch Jaeschke, der diese vorgebliche „Absage an das Prinzip der Mimesis“ dadurch begründet, dass bei den Frühromantikern die „Kunst in einem weit engeren Verhältnis zum ‚Absoluten‘ als die Natur“ stehe, kann ich aus den dargelegten Gründen nicht zustimmen (vgl. Jaeschke (Hrsg.), 1990, S. 9).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

347

produktiven Organismus wird, womit sich die Kunstphilosophie um 1800 in eine tiefe Kontinuität mit der Aufklärung stellt. So rücken Werk- und Weltbegriff innerhalb der organizistischen Ästhetik in ein mimetisches Verhältnis, und die Kunst wird zum Spiegel der Natur in ihrer Einheit von natura naturans und natura naturata. Dabei ist allerdings zu beachten, dass innerhalb des frühromantischen Mimesisbegriffs der erste Aspekt der wesentliche ist: Unter dem Einfluss des Geniebegriffs Kants und des Sturm und Drang ahmt die Kunst die Natur in ihrer Produktivität nach und bemüht sich um eine „Vollendung der Entelechie des Natürlichen“; sie ist also keine bloße Reproduktion im Sinne einer „Wiedergabe des Naturgegebenen“, sondern eine echte, nämlich geniale Produktion.24 Dieser unterschiedliche Sinn von Mimesis ist eine Folge unterschiedlicher Naturbegriffe, betrifft jedoch nicht das Mimesiskonzept selbst; vielmehr bleibt die Kunst auch nach Auffassung der Kunstphilosophie um 1800 in einem mimetischen Bezug zur Natur. Hierfür können unzählige Belege aus den Schriften sowohl der Frühromantiker als auch der Deutschen Idealisten beigebracht werden. So bestimmt noch Schelling in seiner Schrift Über das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur die Kunst als „die Nachahmerin der Natur“, weist aber in aller Deutlichkeit darauf hin, dass sich vor die Formulierung jeder Nachahmungstheorie die „Vieldeutigkeit des Begriffs der Natur“ stelle25, und fordert in diesem Bewusstsein, dass einer solchen Theorie die „Idee einer lebendigen, schaffenden Natur“ zugrunde gelegt werden müsse26. Zugleich beschreibt Schelling in seiner Philosophie der Kunst den „Organismus der Kunst“ als „ein geschlossenes, organisches und ebenso in allen seinen Theilen nothwendiges Ganzes [...], als es die Natur ist“27, und bestimmt entsprechend die ‚ganzheitliche‘ Betrachtung des Kunstwerks als die eigentlich philosophische: [I]n dem wahren Kunstwerk gibt es keine einzelne Schönheit, nur das Ganze ist schön. Wer sich also nicht zur Idee des Ganzen erhebt, ist gänzlich unfähig, ein Werk zu beurtheilen. [...] Es gehört also sogar zur allgemein gesellschaftlichen Bildung [...] über die Kunst Wissenschaft zu haben, die Fähigkeit, die Idee oder das Ganze so wie die wechselseitigen Beziehungen der Theile aufeinander und auf das Ganze und hinwiederum die des Ganzen auf die Theile aufzufassen, in sich selbst ausgebildet zu haben. Aber dieses eben ist nicht möglich als durch 28 Wissenschaft und insbesondere durch Philosophie.

Auch innerhalb der Potenzenlehre wird das Kunstwerk in Analogie zum Organismus begriffen. Indem Schelling die reelle und ideelle Potenzenreihe synchronisiert und Ma24 25 26 27 28

Vgl. dazu Preisendanz, 1978, S. 56. Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 393. Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 395. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 377. Schelling vergleicht die Kunstwerke auch mit „viel höher organisirten und in sich selbst verschlungenen Gewächsen“ (ebd., S. 378). Ebd., S. 379. Auf das an dieser Stelle angeschnittene Verhältnis von Philosophie und Kunst sind wir bereits in den beiden vorangegangenen Kapiteln eingegangen; ausführlich behandelt wird es nochmals in Kap. 2.2.6.

348

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

terie, dynamischen Prozess (Licht, Elektromagnetismus etc.) und Organismus mit Wissen (Idee der Wahrheit), Handeln (Idee der Güte) und Kunst (Idee der Schönheit) in Parallele stellt29, wird das Kunstwerk innerhalb der ideellen Reihe zum Analogon des ‚reellen‘ Organismus: Das organische Werk der Natur stellt dieselbe Indifferenz noch ungetrennt dar, welche das Kunstwerk nach der Trennung, aber wieder als Indifferenz darstellt. (Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 404)

Insofern die dritte Potenz jeweils die Synthese der beiden ersten darstellt, wird die Kunst als „ein ganz von Wissenschaft durchdrungenes Handeln, oder umgekehrt ein ganz zum Handeln gewordenes Wissen“ enorm aufgewertet: Die Indifferenz des Idealen und Realen als Indifferenz stellt sich in der idealen Welt durch die Kunst dar. (Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 400 f)

Als wichtiger Gewährsmann für den Einfluss des Mimesiskonzepts auf die Kunsttheorie und –praxis um 1800 und zugleich als einer der Hauptvertreter einer organizistischen Kunstauffassung muss vor allem aber Goethe genannt werden. So schreibt er in seiner Rezension Über die bildende Nachahmung des Schönen von C. P. Moritz von 1789: Der gebohrne Künstler begnügt sich nicht die Natur anzuschauen, er muß ihr nachahmen, ihr 30 nachstreben.

Diese Vorstellung führt Goethe, wie man an der Propyläen-Einleitung von 1798 erkennen kann, auf ein organizistisches Kunstverständnis, insofern die Kunst als „eine andere Natur“ mit dieser wetteifere, um „etwas Geistig-Organisches hervorzubringen“.31 Um Einiges schwieriger gestaltet sich dagegen das Verhältnis Jean Pauls zum Mimesiskonzept. Jean Paul insistiert – in einer kritischen Wendung gegen die seines Erachtens schwärmerischen Romantiker – ebenfalls auf dem Wirklichkeitsgehalt der Poesie; doch gemäß dem gewandelten Naturbegriff als einem Inbegriff schöpferischer Potenz formuliert er die „Forderung, nicht die, sondern der Natur nachzuahmen“.32 Dies hat zur Folge, dass er das Konzept einer doppelten Mimesis vertritt: die Kunst als ein „Spiegel“ der Natur soll zugleich die wirklichen Dinge und ihre Ideen nachahmen – und zwar sowohl mit Hilfe des inneren wie des äußeren Sinns.33 Die „lebendige Poesie“ 29 30

31 32 33

Vgl. ebd., S. 400: „Das ideale All begreift dieselben Einheiten in sich, die auch das reale in sich begreift: die reale, ideale und [...] die Indifferenz beider.“ Goethe, 1993b, Bd. 15, S. 907. In seinem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789) spezifiziert Goethe dies folgendermaßen: „Unterläßt ein [..] Künstler, sich an die Natur zu halten und an die Natur zu denken, so wird er sich immer mehr von der Grundfeste der Kunst entfernen [...].“ (Goethe, 1981, Bd. 12, S. 34) Goethe, 1981, Bd. 12, S. 42; vgl. dazu auch Voßkamp, 1988, S. 258. Vgl. hierzu Berhorst, 2002, S. 52 f. Jean Paul spricht dem gemäß von einer „Darstellung der Ideen durch Naturnachahmung“ (Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 43). Eine ähnliche Position vertritt bereits Wieland (vgl. Wieland, Werke, VIII, 24, S. 148 f). Vgl zu dieser Problematik Berhorst, 2002, S. 54 f.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

349

wird von ihm entsprechend als eine Versöhnung von Wirklichkeit und Idee, Besonderem und Allgemeinem, Körper und Seele verstanden.34 Wie in seinem Aufsatz Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, in dem er die Poesie als „Sinn des Grenzenlosen“ bestimmt, deutlich wird, steht Jean Paul unter dem Einfluss des romantischen Verständnisses von Mimesis und lehnt, wie Novalis und die Brüder Schlegel, eine Nachahmung der erscheinenden Natur, d.h. eine bloße Kopie der natura naturata ab: Das Idealische der Poesie ist nichts anderes als eine vorgespiegelte Unendlichkeit [...]. Die Nachahmung der Natur ist noch keine Dichtung, weil die Kopie nicht mehr enthalten kann als das Urbild. (Jean Paul, Werke, Bd. 4, S. 202)

So wird für Jean Paul – trotz seines Festhaltens am Mimesiskonzept – die Poesie als „Sinn der Zukunft“ zu einer „Darstellung utopischer Wirklichkeit“ und ist „nicht primär Widerspiegelung einer präexistenten gegenständlichen Realität“35; sie schafft in ihren Werken eine zweite Natur, ohne den Bezug zur ersten, wirklichen aufzugeben: [D]ie Poesie ist die einzige zweite Welt in der hiesigen [...]. (Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 30)

Obwohl Jean Paul Kants Konzept der ästhetischen Idee als zu unspezifisch kritisiert36, hält er wie dieser dafür, dass im schönen Kunstwerk durch das Genie eine Synthese von endlicher Natur und unendlicher Idee vollbracht, dass dies aber in der Natur selbst bereits durch den Organismus repräsentiert werde.37 Zugleich ist für Jean Paul die Kunst eine „Darstellung der Aneignung von Welt durch Subjektivität“38 – sie entwirft in eins mit einer Idee von Welt und Wirklichkeit immer auch ein Subjektivitätskonzept.39 Auch die Frühromantiker sind der Auffassung, dass die Kunst als Organismus in einem mimetischen Verhältnis zum Weltganzen steht. Allerdings unterscheidet Friedrich Schlegel dabei zwischen bloßer „Kopie der Natur“ und „wahrer Nachahmung“.40 Erst durch die letztere werden die „Spiele der Kunst“ zu „ferne[n] Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“.41 Eine solche 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 46 f u. 49 f. Vgl. Preisendanz, 1978, S. 58 ff. Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 40 ff. Vgl. dazu Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 49, aber auch Kant, KU, S. 237 f. Vgl. Preisendanz, 1978, S. 59. Auf diese Problematik werden wir im folgenden Kapitel noch ausführlich zu sprechen kommen. Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 59. F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 324. Vom idealistischen Standpunkt Schlegels erscheint die gesamte Natur von vornherein als ein Kunstwerk, das der menschliche Geist unbewusst dichtet: „Der Idealismus betrachtet die Natur wie ein Kunstwerk, wie ein Gedicht. Der Mensch dichtet gleichsam diese Welt, nur weiß er es nicht gleich.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 105) An dieser Stelle wird deutlich, dass Schlegel dem Konstruktionsparadigma folgt; dies jedoch widerstreitet nicht der These, dass auch im Denken Schlegels das Mimesiskonzept eine gewichtige Rolle spielt – zumal bei ihm dem Idealismus stets der Realismus als gleichberechtigte Position an die Seite gestellt wird. Ob aber die Kunst die (unbewussten) Leistungen des Subjekts bei der Weltkonstituierung oder die Welt resp. Natur selbst nachahmt, ist in dieser Hinsicht sekundär.

350

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

„wahre Nachahmung“ vollbringe die Kunst dadurch, dass sie der natura naturans in ihrer Produktivität nacheifere: Eine hohe Bedeutung hatte jener Grundsatz [der Naturnachahmung] wohl, wenn er die Kunst dieser schaffenden Kraft nacheifern lehrte. (F. Schlegel, KSA, Bd. 17, S. 55)

Entsprechend vertritt Schlegel die Auffassung, dass die Poesie „die Natur nachbilden“ und die Philosophie „das Universum enthüllen“ solle.42 Auch bei Novalis spielt dieser an der produktiven Natur orientierte Mimesisgedanke eine außerordentlich wichtige Rolle.43 So hält er dafür, „daß die Kunst zur Natur gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist“ (NO 3, S. 569). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Kunst „die complementarische Natur“ sei44: Die Natur hat Kunstinstinkt – daher ist es Geschwätz, wenn man Natur und Kunst unterscheiden will. (NO 3, S. 650)

Wie bei August Wilhelm Schlegel45 erscheint so die Kunst geradezu als Norm der Natur. Vor diesem Hintergrund ist auch die Auffassung von Novalis zu sehen, dass die Welt bzw. das Leben „romantisiert“ oder „poetisiert“ werden müsse. Wie Roland Heine richtig bemerkt, ist für Novalis „die Poetisierung der Welt ein ontologisches, kein FiktionsProgramm“46: Die Poetisierung der Welt bedeutet die Aufhebung der Poesie als Gattungsbegriffs in einen 47 Weltzustand, in dem „Poesie“ nicht mehr ästhetisch, sondern ontologisch bestimmt ist.

Darum verweist auch der magische Idealismus auf das Konzept des Romantisierens: er ist keineswegs als eine solipsistische Setzung der Gegenstandswelt, sondern als deren Verwandlung mit den Mitteln der Poesie aufzufassen.48 Das Konzept des Romantisierens führt aber notwendig auf den Begriff „einer zum Repräsentationsmedium verwandelten Welt“, in der alles jeweils für alles andere einstehen kann49 – es folgt dem Prinzip der analogia entis, das schon die Novalissche Vorstellung vom Mikrokosmos bzw. „Makroandropos“50 beherrscht und auf einen organizistischen Weltbegriff verweist. Der 42 43

44 45 46 47 48 49

50

F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 301. Dies gilt trotz der Aussage, die Novalis an anderer Stelle trifft: „Ja keine Nachahmung der Natur. Die Poesie ist durchaus das Gegenteil. Höchstens kann die Nachahmung der Natur, der Wirklichkeit [...] allegorisch gebraucht werden. Alles muß poetisch sein.“ (zit. nach Preisendanz, 1978, S. 63) NO 3, S. 368. Vgl. A.W. Schlegel, 1989, S. 259. Heine, 1974, S. 79 f. Ebd., S. 151. Vgl. hierzu NO 3, S. 385 u. 430; s.a. Pikulik, 1992, S. 39. Heine, 1974, S. 86. In diesem Zusammenhang ist auch der Symbolbegriff des Novalis zu sehen – bei Heine heißt es entsprechend: „Das Geheimnis der Transzendentalpoesie besteht darin, daß sie die Naturgesetze zum Formprinzip ihrer symbolischen Konstruktion gebraucht [...].“ (Ebd., S. 80) Vgl. NO 3, S. 316; s. dazu auch Heine, 1974, S. 73.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

351

Bezug auf die Naturwirklichkeit bleibt also im Programm des Romantisierens bzw. im Konzept des magischen Idealismus erhalten. Besonders deutlich wird die Auffassung vom organischen Kunstwerk als einem Abbild des Weltorganismus bei August Wilhelm Schlegel, für den „[j]edes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers [..] im kleinen ein Bild des großen Ganzen im Universum“ ist51. Hieraus folgert er hinsichtlich des mimetischen Charakters der Kunst: Die gesamte Natur ist ebenfalls organisirt, aber das sehen wir nicht; sie ist eine Intelligenz wie wir, das ahnden wir nur, und gelangen erst durch Speculation zur wahren Einsicht. Wird nun Natur in dieser würdigsten Bedeutung genommen, nicht als eine Masse von Produkten, sondern als das Producirende selbst, und der Ausdruck Nachahmung ebenfalls in dem edleren Sinne, wo es nicht heißt, die Äußerlichkeiten eines Menschen nachäffen, sondern sich die Maximen seines Handelns zu eigen machen, so ist nichts mehr gegen den Grundsatz einzuwenden, noch zu ihm hinzuzufügen: die Kunst soll die Natur nachahmen. Das heißt nämlich, sie soll wie die Natur selbständig schaffend, organisirt und organisirend, lebendige Werke bilden, die nicht erst durch einen fremden Mechanismus [...], sondern durch inwohnende Kraft, wie 52 das Sonnensystem, beweglich sind, und vollendet in sich selbst zurückkehren.

Indem der Künstler dadurch seine Genialität beweist53, dass er die Natur nicht als natura naturata, sondern als natura naturans in ihrer Produktivität nachahmt – und erst dies ist die „wahre Nachahmung“, von der sein Bruder Friedrich sprach54 –, wird für August Wilhelm Schlegel das Kunstwerk zu einem organischen System, in dem sich der Weltorganismus spiegelt: Wegen der durchgängigen Wechselbestimmung aller Dinge, ist jeder Atom Spiegel des Universums. [...] Die Klarheit nun, die Energie, die Fülle, die Allseitigkeit, womit sich das Universum in einem menschlichen Geiste abspiegelt, bestimmt den Grad seiner künstlerischen 55 Genialität, und setzt ihn in den Stand, eine Welt in der Welt zu bilden.

Als Genieprodukt, das sich vom Naturprodukt nur dadurch unterscheidet, dass es das, was in diesem auf unbewusste Weise geschieht, mit Bewusstsein vollbringt56, ist die 51 52 53 54

55 56

Vgl. A.W. Schlegel, 1989, S. 174. Ebd., S. 258. Hier sei an Kants Begriff vom Genie – als der „angeborne[n] Gemüthsanlage (ingenium) durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt“ – erinnert, den wir in Kap. 2.2.3 dargelegt haben. Auch bei Friedrich Schlegel bezieht sich die künstlerische Nachahmung auf ein organizistisches Naturkonzept, auf die „Idee der unendlichen Einheit und unendlichen Fülle, und de[n] Grundsatz[] eines allgemeinen organischen Zusammenhanges aller Dinge“ (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 13, S. 316). A:W. Schlegel, 1989, S. 259. Hier zeigt sich nicht nur der Einfluss des Kantischen Geniebegriffs, sondern auch der Überlegungen Schellings im System des transcendentalen Idealismus. Auf einen anderen Aspekt weist Bierbrodt hin: „Wenn sich das Kunstwerk aber selbst organisiert, wenn die Natur das Werk durch den Menschen hindurch schafft, wenn das Genie eine Naturgabe ist, ein angeborenes produktives Vermögen, durch das die Natur der Kunst die Regel gibt: dann wird dem Menschen die eigene Kunst fremd. Der Mensch versteht sich selbst nicht mehr; zumindest bedarf es einer besonderen Lehre des Verstehens, die das Fremde zum Eigenen macht; Hermeneutik.“ (Bierbrodt, 2000, S. 225)

352

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Kunst für A.W. Schlegel nichts anderes als „die durch das Medium eines vollendeten Geistes hindurchgegangne, für unsre Betrachtung verklärte und concentrirte Natur“.57 In diesen Ausführungen zum Verhältnis von Natur- und Kunstprodukt als gleichermaßen organisierten Einheiten zeigt sich A.W. Schlegel stark von Karl Phillip Moritz beeinflusst.58 Moritz kommt ohnehin für die Entwicklung der organizistischen Kunstauffassung um 1800 eine Schlüsselstellung zu, insofern er die Autonomieästhetik der Weimarer Klassik maßgeblich vorbereitet hat. Wie in anderer Weise Kant bestimmt auch Moritz das Schöne über den Zweckbegriff: Im Gegensatz zu allen natürlichen Gegenständen ist es für ihn dadurch ausgezeichnet, dass es etwas „in sich selbst Vollendetes“ sei, das insofern „in sich ein Ganzes ausmacht“, als ich „[b]ei der Betrachtung des Schönen [...] den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück[wälze]“.59 Entsprechend dieser objektiven oder ontologischen Bestimmung des Schönen60 erscheint bei Moritz das Kunstwerk als etwas, was den Zweck in sich selbst trägt.61 Dasjenige jedoch, was die Kunst abzubilden versucht, ist das „große Ganze“ der Natur, das Moritz, indem er es als einen „Zirkel“ beschreibt, „dessen Teile insgesamt eine Neigung 57

58

59 60

61

Daraus zieht A.W. Schlegel die Konsequenz, dass die Kunst in gewisser Hinsicht Norm der Natur ist: „Die Kunst soll die Natur nachahmen heißt mit andern Worten: die Natur (die einzelnen Naturdinge) ist in der Kunst Norm für den Menschen. Diesem Satz ist direct entgegengesetzt der wahre: der Mensch ist in der Kunst Norm der Natur.“ (A.W. Schlegel, 1989, S. 259) In ähnlicher Weise äußert sich auch Schelling (vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 622). Insofern diese Überlegungen sich nur gegen eine Kopie der Naturerscheinungen richtet, nicht aber gegen eine Nachahmung der Natur in ihrer Produktivität durch das Medium des Genies, kann jedoch auch hier nicht von einer ‚Verabschiedung des Nachahmungsprinzips‘ gesprochen werden. Daher ist auch der Auffassung von Preisendanz, dass in A.W. Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst die Wirklichkeit „nicht mehr der Ausgangspunkt, sondern nur mehr das Resultat poetischer Imagination und Reflexion“ sei (vgl. Preisendanz, 1978, S. 60 ff), mit dem Hinweis darauf zu begegnen, dass auch für A.W. Schlegel in diesem neuen Sinn der mimetische Wirklichkeitsbezug der Literatur erhalten bleibt. Hubert bemerkt, dass „der philosophische Begriff des Unendlichen“ als „das verbindende Element“ zwischen Moritz, den Frühromantikern und – wie wir ergänzen können – Jean Paul angesehen werden müsse (vgl. Hubert, 1971, S. 177), wobei er die „Bestimmtheit in der organischen ‚Vollendung‘ des Kunstwerkes“ sowie die „Offenheit seines ‚metaphysischen‘ Bezuges, die den spekulativen Begriff des Unendlichen impliziert“, ganz richtig als die wesentlichen Grundlagen der frühromantischen Ästhetik bestimmt (ebd., S. 186). Vgl. Moritz, Werke, Bd. 2, S. 943. Von der Organismustheorie kann auch eine Verbindung geschlagen werden zu den ganz ähnlichen Bemühungen Schillers um eine Objektivierung und ‚Ontologisierung‘ des Schönen, wie er sie mit seiner Bestimmung der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“ unternommen hat. Dies zu vertiefen wäre sicherlich ausgesprochen interessant, kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden (vgl. aber Kap. 3.3). Vgl. Moritz, Werke, Bd. 2, S. 952; zit. in Kap. 2.2.1. Das Kunstwerk trägt für ihn den Zweck dadurch in sich selbst, dass er von Seiten sowohl des Produzenten als auch des Rezipienten in das Werk des Schönen „zurückgewälzt“ werde. Die innere Zweckmäßigkeit des Kunstwerks ist damit Ergebnis eines dynamischen Vorgangs.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

353

gegen sich selbst haben, um miteinander ein Ganzes auszumachen“, in Analogie zum Organismus fasst.62 Der eigentliche Zweck der Nachahmung besteht nach Moritz – ähnlich wie bei Blanckenburg – darin, dass wir durch das Kunstwerk als eine ‚Welt im Kleinen‘63 in die Lage versetzt werden, das nie überschaubare Weltganze zu erfassen: Wenn wir uns die Natur als einen großen Zirkel denken, dessen Teile insgesamt eine Neigung gegen sich selbst haben, um miteinander ein Ganzes auszumachen, so sind uns wegen der unermeßlichen Größe des Umkreises die Krümmungen fast unmerkbar, und wir glauben da allenthalben nichts als grade Linien, oder bloß abzweckende Mittel zu sehen, wo doch eine immerwährende Neigung zum Zweck ist, die uns entwischt, weil wir nicht einmal einen so großen Teil des Zirkels überschauen können, der uns eine wirkliche Krümmung darstellte; wir müssen diese Krümmungen nur ahnden, nur erraten. Indem wir nun einen Drang empfinden, das höchste Schöne in der allein in sich selbst vollendeten ganzen Schöpfung nachzuahmen, so geben wir demjenigen was uns in der Natur gerade Linien, oder bloß abzweckende Mittel zu sein scheinen, eine allmähliche Neigung gegen sich selber, gleichsam als ob wir in dem großen 64 unermeßlichen Zirkel einen kleineren im verjüngten Maßstabe nachbilden wollten.

Kunst wird hier bestimmt über ihre epistemische Funktion: Indem sie ein „getreues Bild des höchsten Schönen giebt, das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in [ihren] kleinen Umfang faßt“65, erhält die Kunst ihre eigentliche Dignität. Moritz fasst in Bestimmung des Zwecks einer Theorie der schönen Künste seine Überlegungen in den Behauptungen zusammen, 1) daß das Schöne uns mehr Ordnung, Übereinstimmung und Bildung, in einem kleinern Umfange darstellt, als wir sonst gewöhnlich in dem großen Ganzen, das uns umgibt, hier und da zerstreut, wahrnimmt. Und daß also 2) das Schöne um desto schöner sei, je mehr das große uns umgebende Ganze sich darin zusammendrängt und spiegelt. Insofern nun aber 3) jedes schöne 62

63 64

65

Vgl. hierzu auch Hubert, 1971, S. 171: „Die ‚bildende Nachahmung‘ […] besteht nach Moritz in der Herstellung einer kreativen Analogie zwischen dem als Organismus verstandenen Kosmos einerseits (der als Idee des ‚höchsten Schönen‘ nicht erkannt, sondern nur vom Künstler ‚in seinen großen Verhältnissen‘ dunkel erfaßt werden kann) und dem Kunstprodukt andererseits, dessen Form der Organisation demnach mit derjenigen des Kosmos übereinstimmt.“ Auch bei Goethe findet sich diese Auffassung; so bezeichnet er in Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke das Kunstwerk als „kleine Welt für sich“ (Goethe, 1981, Bd. 12, S. 70) Moritz, Werke, Bd. 2, S. 953. Diese mathematische Metapher führt Moritz im Gang seiner Argumentation weiter aus, wenn er schreibt: „Diese krummen Linien wollen wir also die Schönheitslinien, und die in dem unermeßlichen Zirkel gerade scheinenden Linien die Wahrheitslinien nennen. Die Schönheit wäre also die Wahrheit im verjüngten Maßstabe.“ (Moritz, Werke, Bd. 2, S. 955) An dieser Stelle wird der Wirklichkeitsbezug sowie der Wahrheitsanspruch der Kunst von Moritz nochmals unterstrichen. Ebd., S. 973. Bei Moritz spielt der Begriff der Notwendigkeit – im Hinblick sowohl auf die innere Wahrscheinlichkeit und Konsistenz als auch auf die hinreichende Begründetheit des Dargestellten – noch immer eine gewichtige Rolle. So schreibt er in den Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste: „Je notwendiger nun alle einzelnen Teile eines Kunstwerks und ihrer Stellungen gegen einander sind; desto schöner ist das Werk; je weniger sie aber notwendig sind; und je mehr, unbeschadet des Ganzen, noch hinzugetan oder abgenommen werden kann; desto schlechter und mittelmäßiger ist das Werk.“ (Ebd., S. 1018)

354

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Kunstwerk mehr oder weniger ein Abdruck des umgebenden großen Ganzen der Natur ist, muß es auch als ein für sich bestehendes Ganze von uns betrachtet werden, welches, wie die große Natur, sein Endzweck in sich selber hat, und um sein selbst willen da ist. Und nur auf 66 die Weise betrachtet kann 4) das Schöne wahrhaft nützlich werden ; indem es unser Wahrnehmungsvermögen für Ordnung und Übereinstimmung schärft, und unsern Geist über das Kleine erhebt, weil es alles Einzelne uns stets im Ganzen, und in Beziehung auf das Ganze, 67 deutlich erblicken läßt.

Gerade an dieser letzten moraltheoretischen Wendung von Moritz wird deutlich, dass die organizistische Kunstauffassung einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung der Autonomieästhetik liefert. Das Konzept vom Kunstwerk als Organismus kann nachgerade als das metaphysische Hintergrundmodell für eine ästhetische Theorie aufgefasst werden, die den autonomen Status des Kunstwerks nach der Seite des Moralischen zu etablieren versucht. Allgemein ließe sich demnach die These formulieren, dass das Organismusmodell die gegen die moralischen Ansprüche an die Kunst gerichtete Autonomieästhetik metaphysisch absichert. Vor dem Hintergrund solcher in der Zeit um 1800 verbreiteten Überlegungen wird begreiflich, dass das Kunstwerk in den Augen der Frühromantiker dadurch, dass es die Welt als Ganze abbildet, dieses Weltganze jedoch als ein autoreflexiver Organismus bestimmt wird, ebenfalls zu einem Organismus und damit zu einer angemessenen ‚Darstellung‘ des Absoluten sowie zu einem Ersatz für die ihres Erachtens begrifflich unmöglich gewordene Metaphysik wird. In diesem Kontext ist auch das Konzept der Transzendentalpoesie zu sehen, dem gemäß der Roman durch die Struktur einer ‚unendlichen Reflexion in sich selbst‘ bzw. durch ein ‚Schweben zwischen Subjektivem und Objektivem‘ bzw. zwischen ‚Ideellem und Reellem‘ ausgezeichnet sei. Denn in der Ästhetik um 1800 wurde nicht nur die Poesie als höchste Kunstform angesehen68, son66

67

68

Schon Baeumler hat darauf hingewiesen, dass für Moritz das Kunstwerk zwar etwas Zweckmäßiges, jedoch niemals etwas Nützliches sein könne: „Alles, was Teil ist, fällt unter den Begriff der Zwecke zu etwas, des Nutzens. Es ruht nicht in sich selbst. Nur ein Ganzes kann nicht mehr nützlich sein.“ (Baeumler, 1967, S. 249) Ebd., S. 1021. Allerdings gibt Moritz in Über die bildende Nachahmung des Schönen zu bedenken, dass zwar als „Vergleichspunkt für das echte Schöne“ der „Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse des großen Ganzen der Natur“ diene, dass dieses aber nur empfunden, nicht jedoch erkannt werden könne (vgl. Moritz, Werke, Bd. 2, S. 974). Hierbei lässt sich nicht nur, wie soeben geschehen, ein Bezug zu spätaufklärerischen Positionen, sondern durchaus bereits eine Analogie zur Auffassung der Frühromantiker herstellen, dass in der Kunst nicht das Absolute selbst, sondern dessen Unverfügbarkeit zur Darstellung komme. Dies gilt v.a. für Schelling, in dessen Philosophie der Kunst jedes poetische Kunstwerk auch dadurch „ein Absolutes im Besondern, ein Universum, ein Weltkörper“ wird, dass es eine „Absonderung der Rede [...] von der Totalität der Sprache“ darstellt, welche letztere von Schelling ebenfalls organizistisch aufgefasst wird (vgl. Schelling, Werke, Erg.Bd. 3, S. 286 f). Dies hat laut Schelling die Konsequenz, „daß die Rede ihre eigne unabhängige Bewegung und eben deßwegen ihre Zeit in sich selbst habe, wie der Weltkörper“: sie schließt „sich von allem andern ab, indem sie einer innern Gesetzmäßigkeit folgt“. Äußerlich sichtbarer Ausdruck dieser „Unterwerfung der Zeit“ im literarischen Werk sei der Rhythmus der Sprache (vgl. ebd., S. 287).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

355

dern der Roman stieg mehr und mehr zur neuen Leitgattung auf69. Die Transzendentalpoesie lässt sich durchaus als die avancierteste Form der Autonomieästhetik auffassen, insofern erst durch die autoreflexive Grundstruktur des transzendentalpoetischen Kunstwerks dieses seinen Abschluss als organisches System und damit seinen autonomen Status erhält.70 Allerdings übernimmt die Autoreflexivität im frühromantischen Konzept der Transzendentalpoesie eine mimetische Funktion. Entsprechend ist es laut Novalis Zweck sowohl der Philosophie als auch der Poesie, einen ‚Weltorganismus‘ herzustellen, der „das Ganze zum Organ des Individuums, und das Individuum zum Organ des Ganzen“ macht.71 Zwar war für Novalis die gesamte bisherige Poesie ‚organisch‘, aber sie war es ohne hinreichendes Bewusstsein; darum ist erst die transzendentale die ‚eigentlich‘ organische Poesie: Wie sich die bisherigen Philosophieen zur Logologie verhalten, so die bisherigen Poësien zur Poësie, die da kommen soll. / Die bisherigen Poësien wirckten meistentheils dynamisch, die Künftige, transscendentale Poësie könnte man die organische heißen. Wenn sie erfunden ist, so könnte man sehn, daß alle ächten Dichter bisher, ohne ihr Wissen organisch poëtisierten – daß aber dieser Mangel an Bewußtseyn dessen, was sie thaten – einen wesentlichen Einfluß auf das Ganze ihrer Wercke hatte – so daß sie größestentheils nur im Einzelnen ächt poeëtisch 72 – im Ganzen aber gewöhnlich unpoëtisch waren.

Innerhalb der Romantheorie der Frühromantiker stellen sich die metaphysischen Fragen jedoch in spezifisch ästhetischer Weise – nämlich in Form des Erzählproblems, d.h. als Frage nach der Beziehung zwischen Erzähler und erzählter Welt. Die Frage nach dem Verhältnis von Objektivem und Subjektivem, wie sie die Metaphysik von Schelling und Schopenhauer zu beantworten versucht, ließe sich entsprechend als die ästhetische Frage nach dem Verhältnis von Poiesis und Mimesis darstellen. Doch dieses aus der Auf69

70

71 72

Zwar ist für Schelling die Tragödie die höchste Kunstform, doch zeichnet er den Roman dadurch besonders aus, dass er ihn als die Gattung bestimmt, „in welcher an einem partiellen oder beschränkteren Stoff sich die allgemein gültigere und gleichsam indifferentere Darstellung versucht“ und die darum eine „Mischung des Epos und des Drama“ darstellt (vgl. ebd., S. 324 f). Die Autonomieästhetik kann daher als Bindeglied zwischen dem philosophischen Roman der Spätaufklärung und dem frühromantischen Konzept der Transzendentalpoesie aufgefasst werden. Deshalb sind Transzendentalpoesie und Autonomieästhetik natürlich nicht einfachhin miteinander zu identifizieren; vielmehr leistet die Transzendentalpoesie – wie der philosophische Roman – nur einen Beitrag zur Etablierung der Autonomieästhetik. In gewisser Hinsicht stellt sogar erst das frühromantische Konzept eine angemessene Theorie des philosophischen Romans dar; und die schon im Zusammenhang mit Blanckenburgs Versuch formulierte These, dass die Romantheorie gegenüber der Romanpraxis stets nur nachgängig ist (vgl. Koopmann (Hrsg.), 1983, S. 13 f), erhält eine eindrucksvolle Bestätigung. Philosophischer Roman, Autonomieästhetik und Transzendentalpoesie gehören demnach – so unsere These – einem gemeinsamen geistesgeschichtlichen Syndrom an. Vgl. NO 2, S. 372 u. 533. NO 2, S. 535. Auch bei Friedrich Schlegel findet sich diese Charakterisierung der modernen romantischen Literatur als einer organischen, wenn er diese in drei Perioden einteilt: „Die erste Periode der modernen Poesie = Abstrakt mechanisch / die zweite chemisch / die dritte organisch.“ (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd 2, S. 248 f)

356

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

klärungsästhetik überkommene Begriffspaar, das die fiktionale Welt des Romans als ein Abbild des geordneten Kosmos beschreibt und den Erfinder dieser Welt73 als einen ‚kleinen Schöpfer‘ zum Stellvertreter Gottes werden lässt, findet innerhalb der frühromantischen Konzepte kaum noch Verwendung.74 Vielmehr trifft Friedrich Schlegel in seiner Konzeption der Transzendentalpoesie als einer „progressiven Universalpoesie“75 die Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem bzw. zwischen Ideellem und Reellem, zwischen denen der transzendentalpoetische Roman ‚in der Mitte schwebe‘: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen [...] und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. [...]. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestelltem und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 182 f)

Gemäß dieser Bestimmung der progressiven Universalpoesie als zwischen Dargestelltem und Darstellendem beständig oszillierend und „auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben[d]“ sei die Transzendentalpoesie „unendlich, wie sie allein frei ist“; sie „kann durch keine Theorie erschöpft werden“, weil sie „noch im Werden“ sei:

73 74

75

Die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler, die in der modernen Erzähltheorie von so großer Bedeutung ist, wird hier noch nicht getroffen. Diese These vertritt bereits Preisendanz, wenn er schreibt, dass „das ganze Problem von mimesis und poiesis auf eine andere Ebene verlegt und daher in seinem bisherigen Sinne gegenstandslos geworden“ sei. Allerdings kann die Begründung dieser Diagnose nicht überzeugen: „Schlegel hebt nicht mehr auf das Verhältnis zu einer präexistenten äußeren oder inneren, objektiven oder subjektiven Wirklichkeit ab, sondern ausschließlich auf die präexistente Sprachlichkeit aller Weltaneignung, auf die Sprache als Matrix und Operation. [...] Dichtung ist primär Reflexion und stets höher potenzierte Reflexion darauf, daß und wie der Mensch über Sprache verfügt“ (vgl. Preisendanz, 1978, S. 73 f). Diese Überlegungen sind m.E. zu ungenau und werden von Preisendanz auch nicht belegt. Ein größerer Grad an Exaktheit wird dadurch erreicht, dass die „potenzierte Reflexion“ des transzendentalpoetischen Romans und damit die Dialektik von mimesis und poiesis als Erzählproblem gefasst wird; dieses ist natürlich ebenfalls sprachlich vermittelt, lässt sich jedoch hierauf nicht reduzieren. Zudem ist dadurch, dass der Wirklichkeitsbezug sprachlich resp. narrativ vermittelt ist, die Bindung der Poesie an die Realität in keiner Weise aufgehoben. Den Begriff der „progressiven Universalpoesie“ führt Schlegel im 116. Athenäumsfragment ein, wobei die ‚Progressivität‘ des Romans zum einen darin besteht, dass er als Gattung noch nicht festgelegt ist, zum andern auf der ‚unendlichen Freiheit‘ seiner Reflexivität beruht (vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 182 f). Das Konzept der Transzendentalpoesie findet sich hingegen im 238. Athenäumsfragment (vgl. ebd., S. 204). Die im Folgenden aufgeführten Bestimmungsmerkmale der Transzendentalpoesie entstammen vor allem diesen beiden Fragmenten.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

357

Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 183)

Schlegels Redeweise vom Schweben zwischen Idealem und Realem, Subjektivem und Objektivem ist jedoch in der Romantheorie nur als erzähltechnisches Problem zu verstehen, d.h. als reflexives Verhältnis des Erzählers zur erzählten Welt. Insofern korrespondiert die Entwicklung einer dynamischen Ontologie mit ihrer Realdialektik von Subjekt und Objekt im Rahmen einer wechselseitigen Ergänzung von Transzendentalund Naturphilosophie, korrespondiert auch die Beschreibung des Weltorganismus als eines autoreflexiven Subjekt-Objekt-Integrals, in dem alles in einem unendlichen Verweisungszusammenhang steht, mit der Rede von der Transzendentalpoesie als eines beständigen Schwebens zwischen Subjektivem und Objektivem und vom Kunstwerk als einer unendlichen Reflexion in sich selbst. Werkästhetisch ist dieses Wechselverhältnis von Subjektivem und Objektivem nur zu fassen als gleichursprüngliche Präsentation von Erzählen und Erzähltem.76 Die Autoreflexivität des Erzählens wird vor allem durch das Mittel der Ironie in ihrem spezifisch romantischen Verständnis hergestellt. Der, wie Schlegel ihn nennt, ‚unendliche Reflexionsprozess‘ besteht also in einer permanenten Selbstthematisierung des Erzählens i.S. einer transzendentalen Reflexion, die sich in den Erzählerreflexionen in Bezug auf die Fiktionalität sowie im Modus der romantischen Ironie manifestiert. Die Darstellung einer fiktionalen Welt ist von nun an immer zugleich eine Darstellung des Schöpfers dieser Welt: Der transzendentalpoetische Roman verliert sich laut Schlegel in das Dargestellte und stellt doch den Darstellenden stets mit dar, erzeugt durch seine freie, ständig potenzierte poetische Reflexion den Eindruck einer endlosen Spiegelung und ist somit Poesie und „Poesie der Poesie“.77 Für Schlegel ist dies – er greift hier auf die Unterscheidung Schillers zurück – „das charakteristische Merkmal der sentimentalen Poesie“78; ihr „eins und alles“ sei „das Verhältnis des Idealen und des Realen“, insofern sie immer „das Produzierende mit dem Produkt darstell[e]“79. Die Ironie bezieht sich jedoch auch im transzendentalpoetischen Roman vor allem auf die Fiktionalität des Erzählens. Hierin zeigt sich die Verwandtschaft des transzendentalpoetischen mit dem philosophischen Roman der Spätaufklärung. Die romantische Ironie äußert sich entsprechend als Selbstreflexion auf den fiktionalen Charakter des Erzählens, wobei diese Reflexion im Fiktionalen selbst – entweder durch den Erzähler oder durch eine (Reflexions-)Figur – vollzogen und damit die Fiktionsironie zur Funk76

77

78 79

Dabei lassen sich das Erzählen, in dem der Dichter als Schöpfer auftritt, mit der Natur als Subjekt und das Erzählte, in dem die Dichtung als eine Welt im Kleinen erscheint, mit der Natur als Objekt parallelisieren. Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 204. Hierbei ist es wichtig zu beachten, dass der Erzähler stets Bestandteil der fiktionalen Welt ist: er ist ebenfalls eine Erfindung des Autors; diese in der aufklärerischen Ästhetik noch nicht getroffene Autor-Erzähler-Unterscheidung wird durch die Bewusstheit des Erzählens allererst möglich. Vgl. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 204. Vgl. ebd., S. 64.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

tion des Fiktionalen wird. Dies hat zur Konsequenz, dass sich im transzendentalpoetischen Roman zwei sich scheinbar widersprechende Erzählhaltungen – das fiktionale Erzählen i.S. eines historischen Berichtens und die nur mehr noch fingierte Form dieses historischen Berichtens – in- und nebeneinander finden; es lässt sich sogar in gewissem Sinne sagen, dass die „Fiktionsironie grundsätzlich immer zugleich auch Ironie der Fiktionsironie“ sei.80 Anders jedoch als im philosophischen Roman der Spätaufklärung ist der transzendentalpoetische Roman dadurch ausgezeichnet, dass sich in ihm das Erzählen mittels der Fiktionsironie nicht über die Bedingungen der Möglichkeit der Fiktionalität erhebt, sondern innerhalb der fiktionalen Welt selbst ‚unendlich‘ spiegelt: die fiktionsironische Reflexion ist in das Erzählte selbst – als das zu Reflektierende – integriert; sie ist damit eine transzendentale Autoreflexion im engsten Sinne des Wortes. Mit Heimrich lässt sich deshalb behaupten, dass vom philosophischen Roman der Spätaufklärung zum transzendentalpoetischen Roman der Frühromantik eine „Umkehrung des Fiktion relativierenden zum Fiktion konstituierenden Element“81 stattfindet. Erkennbar ist dies auch am Funktionswandel des Utopischen innerhalb des transzendentalpoetischen Romans: Das Utopische ist nicht mehr – wie im philosophischen Roman der Spätaufklärung – primärer Austragungsort der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Fiktionalen; vielmehr erfolgt die Autoreflexion hier nicht über einen Umweg, sondern unmittelbar. Das bedeutet nicht, dass die Utopie im transzendentalpoetischen Roman keine Rolle mehr spielt.82 Im Gegenteil, bereits in den theoretischen Schriften der Frühromantiker finden sich solche Utopien die Fülle: Ob als ‚poetischer Staat‘ oder ‚ewiger Frieden‘, ob als ‚Universalwissenschaft‘, ‚neue Mythologie‘ oder als Einheit des Menschen mit der Natur – überall begegnet in den Texten um 1800 das Utopische. Dabei lassen sich diese Konzepte als Teile einer „übergreifenden Universalutopie [auffassen], die sich auf alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Lebens erstrecken sollte“83. Diese Universalutopie, die in der Hoffnung auf eine Ablösung der Gesetzen gehorchenden durch eine von Liebe durchherrschten, in Freiheit sich gestaltenden Welt gipfelt84, findet sich allenthalben in den poetischen Texten der Frühromantiker, insbesondere im transzendentalpoetischen Roman; sie tritt zumeist auf 80

81 82 83 84

Heimrich, 1967, S. 137 f. Über die transzendentalpoetische Fiktionsironie schreibt er zusammenfassend: „‘Fiktionsironie‘ ist eine Reflexion des Fiktionscharakters im Fiktionalen selbst. Fiktionsironisch ist diese Reflexion, insofern sie an dieser Stelle des Fiktionalen einen bestimmten Widerspruch aktualisiert. Er besteht darin, daß in diesem Moment der ‚Schein‘, der Schein historischen Berichtens des fiktionalen Erzählens oder der Schein tatsächlicher Wirklichkeit des dramatisch Dargestellten sich selbst widerspricht. Das Phänomen des Fiktionsironischen ist also das Phänomen eines [...] Widerspruchs in fiktionstheoretischer Hinsicht: fiktionsironisch ist immer nur ein ‚Selbstwiderspruch des Fiktiven‘“. (ebd., S. 69) Ebd., S. 138. Hinzu kommt, dass um 1800 zunehmend die Rede von (regulativen) Ideen, Idealen oder absoluten Postulaten ist, die sich ebenfalls als Elemente utopischen Denkens begreifen lassen. Mähl, 1983, S. 156 f. Vgl. ebd., S. 165.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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als fernes, verheißenes Land, das sich wohl dunkel ahnen lässt und nach dem man eine unendliche Sehnsucht empfindet, das sich aber einer sinnlichen Darstellung entzieht.85 Die Autoreflexion manifestiert sich also innerhalb des transzendentalpoetischen Romans nicht über den Umweg der Utopie, sondern in der direkten Form einer Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens im Modus des ironischen Spiels. Was Roland Heine über den Ofterdingen-Roman des Novalis schreibt – dass sich dort eine umfassende Selbstreflexion der Poesie vollziehe –, lässt sich daher über den transzendentalpoetischen Roman im Allgemeinen sagen: Die konkrete Geschehensebene des Romans öffnet sich immer wieder auf eine abstraktere, theoretische Ebene der Reflexion hin, auf der – im transzendentalen Sinne – Bedingungen und Möglichkeiten der Poesie diskutiert werden. Doch handelt es sich hier weniger um eine „Selbstreflexion des Kunstwerks“[...], als vielmehr umfassender, aber auch abstrakter, um die 86 Selbstreflexion und -interpretation der Poesie innerhalb einer geschlossenen Romanfiktion.

Heine unterscheidet die Verfahrensweise des Ofterdingen, in dem zwar bestimmten Romanfiguren transzendentalphilosophische Überlegungen in den Mund gelegt, „die spezifisch transzendentalpoetische Reflexion auf die Bedingungen und Möglichkeiten dieses besonderen Kunstwerks“ jedoch dem Leser überlassen werden, von solchen transzendentalpoetischen Reflexionen, die in das Erzählgeschehen selbst integriert sind. Dies sieht er im Werk E.T.A. Hoffmanns, insbesondere im Goldenen Topf, realisiert.87 Novalis stellt in seiner Charakterisierung der Transzendentalpoesie die Verbindung zur dialektischen Metaphysik insofern bereits selbst her, als er die „lebendige Reflexion, die sich bey sorgfältige[r] Pflege nachher zu einem unendlich gestalteten geistigen Universo von selbst ausdehnt“, nicht nur als „Kern oder Keim einer alles befassenden Organisation“, sondern zugleich als den „Anfang einer wahrhaften Selbstdurchdringung des Geistes die nie endigt“88, bezeichnet, diese „Selbstdurchdringung des Geistes“ aber vornehmlich in der permanenten Selbstreflexion der Poesie sich entfalten sieht. Eine solche „höhere Poesie“ wird von Novalis als „die Poesie des Unendlichen“89 aufgefasst. Die diese „lebendige Reflexion“ kennzeichnende doppelte Denkbewegung als eine unausgesetzte „Hin und her Direction“ oder „Wechselbestimmung“ ist für ihn nicht nur die „Basis alles Philosophirens“90, sondern die beständige „Bewegung vom Gefühl zur Reflexion, von Innen nach Außen und von Außen nach Innen, von der Synthese zur Analyse und von der Analyse zur Synthese, von der Mitte weg (zentrifugal) und zur Mitte hin (zentripetal), vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Idee zur Anschauung und von der Anschauung zur Idee, 85 86 87 88 89 90

Vgl. ebd., S. 167. Heine, 1974, S. 147 f. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. NO 2, S. 525 f. Vgl. NO 4, S. 247. Vgl. NO 2, S. 117 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

vom Endlichen zum Unendlichen und vom Unendlichen zum Endlichen“.91 Eine solche Bewegung charakterisiert in seinen Augen den transzendentalpoetischen Roman. Die Autoreflexivität des Romanerzählens besteht demnach nicht mehr allein, wie innerhalb des philosophischen Romans, in der Reflexion auf die impliziten philosophischen Grundlagen des Romanerzählens – mit der Konsequenz, dass die diskursiven Aussagen und die formalen Mittel aufeinander abgebildet werden. Im Konzept der Transzendentalpoesie manifestiert sie sich vielmehr in der Reflexion auf den Vorgang des Erzählens, sodass das Erzählte und das Erzählen als etwas in eins und gleichursprünglich Gegebenes präsentiert werden. Diese permanente Selbstthematisierung des Erzählens hat zum Ergebnis, dass der Kunstcharakter des Erzählwerks herausgehoben und die Kunst zum „Wissen vom Können“ wird92, hat vor allem aber zur Folge, dass der Roman in seiner Autoreflexivität als ein organisches Kunstwerk und damit als Abbild des Weltorganismus erscheint. Auf narrativer Ebene bedeutet dies, dass der Erzähler selbst zum Produkt des Erzählens wird, durch dessen Eingreifen das Erzählen wiederum zum Gegenstand künstlerischer Reflexion und insofern objektiviert wird: Die Durchbrechung der Fiktionsgrenzen zwischen Erzähler-Wirklichkeit und erzählter Wirklichkeit nimmt dem Erzähler nicht nur seine überlegne Stellung „über“ dem Geschehen, sondern läßt ihn auch selbst noch als fiktive Erzählfigur einer höheren Erzählinstanz erscheinen, 93 die das wunderbare Zusammentreffen auf der Fiktionsebene arrangiert.

Diese transzendentalpoetische, in den Windungen beständiger Reflexion sich bewegende, dauernd die eigene Fiktionalität ironisierende und in unendlichen Verweisungszusammenhängen sich ergehende Erzählweise zeigt sich vor allem in den Romanen Jean Pauls. Dass nun aber Jean Paul – und nicht etwa die Cheftheoretiker der Transzendentalpoesie Novalis und Friedrich Schlegel – in unserer Untersuchung als Hauptvertreter der transzendentalpoetischen Romanpraxis um 1800 angesehen wird, mag zwar zunächst überraschen – ist doch schon, insbesondere angesichts der kritischen Bemerkungen in der Vorschule der Ästhetik, die Zuordnung Jean Pauls zur Romantik umstritten. Doch ein näherer Blick auf die Romane Jean Pauls zeigt bald, dass sich in ihnen nicht nur das Konzept der Transzendentalpoesie, sondern auch das organizistische Kunstwerkverständnis mit seiner in mimetischer Funktion sich verwirklichenden Autoreflexivität auf virtuose Weise realisiert.94 91 92

93

94

Vgl. Pikulik, 1992, S. 40. Auch in der Potenzenlehre Schellings erscheint, wie erwähnt, die Kunst als Synthese bzw. als „Identität des Erkennens und Handelns“ und wird bestimmt als „wissendes Handeln“ (Schelling, Werke, Erg.Bd. 2, S. 499). Heine, 1974, S. 161. Allerdings fügt er hinzu: „Es wird so getan, als sei ein Einbruch in die Fiktion von der Erzähler-Leser-Ebene her möglich; aber die Fiktion erweist sich als hermetisch.“ (Ebd., S. 184) Das Verhältnis zwischen Jean Paul und den Frühromantikern war im Großen und Ganzen asymmetrisch: Während Friedrich Schlegel in seinem Brief über den Roman (F. Schlegel, KSA, Bd. 2; S. 329-339) Jean Pauls Romane als „die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

361

Schon bei einer flüchtigen Lektüre der Romane Jean Pauls fällt ins Auge, dass in ihnen die Fabel zunehmend an Bedeutung verliert. Stattdessen wird ein gleichsam sich selbst befruchtender metaphorischer Kosmos entworfen, in dem sich ein freigelassenes analogisches Denken in einer wahren Vergleichs- und Anspielungswut ergeht. Die Folge ist, dass die Erzählwelt Jean Pauls in sich selbst ruht: Sie schließt sich, wie oft festgestellt wurde95, gegenüber der vermeintlich nicht-sprachlichen Realität ab. Aus narratologischer Perspektive ist zu sagen, dass die bereits von Hegel beobachtete96 Metaphernflut der Jean Paulschen Romane97 – ebenso wie die ebenfalls überbordenden Anspielungen und Digressionen – vor allem der Betonung der Erzählfunktion dient und den Handlungsverlauf durch das daraus resultierende autoreflexive Erzählen permanent unterbricht.98 Dabei lässt sich schon diese metaphorisch gesättigte Sprachwelt, in der alles für jedes einstehen kann, als Umsetzung des organizistischen Kunstwerkverständnisses auffassen, das seinerseits wiederum auf die Auffassung vom Weltganzen als eines autoreflexiven Organismus verweist. Ein solches ‚analogisches‘ Erzählen setzt aber einen Begriff von Sprache voraus, wonach, wie Jean Paul sagt, „jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern“ sei.99 In der Terminologie der Zeichentheorie ließe sich sagen, dass in Jean Pauls Romanen das Signifikat durch die Flut der Signifikanten verschleiert und zum Verschwinden gebracht wird.100 Das metaphorisch freigelassene Erzählen steht aber bei Jean Paul in engem Zusammenhang mit einem hermeneutischen Poesie- sowie einem zeichentheoretischen Welt- und

Zeitalters“ bezeichnet, war das Verhältnis Jean Pauls zu den Frühromantikern von Skepsis geprägt: So charakterisiert er in seiner Vorschule der Ästhetik die Transzendentalpoesie als „poetische[n] Nihilismus“, der „ichsüchtig die Welt und das All vernichtet“ (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 31 ff). Bei Novalis fehlt es hingegen nicht an kritischen Bemerkungen. Auf ähnliche Weise wie im Falle des Wilhelm Meister hat sich das Verhältnis von Novalis zu Jean Paul im Laufe der Zeit gewandelt: war ihm Goethes Roman schließlich nur mehr noch „ein fatales und albernes Buch“, das „undichterisch im höchsten Grade“ und bloß „eine Satyre auf die Poesie“ sei (NO 3, S. 646), erschienen ihm auch die Romane Jean Pauls als im Ganzen unpoetisch. Dennoch nehmen wir im Folgenden Jean Pauls Romane als Musterbeispiele der Transzendentalpoesie – wie hoffentlich deutlich werden wird, mit guten Gründen. 95 Vgl. dazu z.B. Kaiser, 1995. 96 Hegel, Werke, Bd. 14, S. 230 f. 97 Esselborn weist darauf hin, dass sich Jean Pauls witzige Metaphorik v.a. unter Verwendung des Bildbereichs von Wissenschaft und Technik vollziehe (vgl. Esselborn, 1994, S. 65), wobei in Jean Pauls Romanen „einzelne naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten“ eine Rolle spielten, während bei den Spätaufklärern die Naturtheorie insgesamt im Vordergrund stehe (ebd., S. 69). 98 Vgl. Böhn, 1992, S. 85. 99 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 184 f. Kaiser deutet Jean Pauls Metaphernbegriff (als eine Beseelung des Körperlichen; vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 4, S. 204) i. S. einer „Abkehr vom Feststellenden der Sprache“ (Kaiser, 1995, S. 97), wobei ihre spezifische Leistung darin bestehe, „das Ich in der Welt zu konstituieren“ (ebd., S. 212). 100 Vgl. dazu etwa Pfotenhauer, 1996, S. 9-21.

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Naturbegriff: Die Poesie solle das „Buch der Natur“ lesen lehren und die Wirklichkeit „weder vernichten, noch wiederholen, sondern entziffern“101: [V]oll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt le102 sen [...].

Der zeichentheoretische Weltbegriff Jean Pauls korrespondiert also mit einer hermeneutischen Deutung der Kunst: wie bei Schelling und Schopenhauer die Philosophie, so ist für Jean Paul die Poesie in erster Linie eine Entzifferungs- und Deutungskunst.103 Ohnehin ist Jean Paul der Überzeugung, dass der Roman für einen solchen zeichentheoretischen Welt- resp. hermeneutischen Kunstwerkbegriff die einzig angemessene Diskursform ist: Der Roman stellt in seinen Augen eine Metagattung i.S. einer „poetischen Enzyklopädie“104 dar; er ist für ihn gerade als diskursiver Schnittpunkt eine „Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können“105, und damit zugleich die genuin moderne Gattung: Jean Paul verwendet [..] in hohem Maße Kommunikations- und Textformen, die in der zeitgenössischen Literaturentwicklung gerade als nicht-literarisch, d.h. als kunstunfähig ausgegrenzt werden. Dabei verschiebt sich ihre Funktion: Sie werden zu Teilstücken der Werke [...]. Der Autor etabliert die Ebene der auktorialen Schreib-, Sprech- und Reflexionsakte als selbständigen Darstellungsraum – und verdoppelt die Autorinstanz in der imaginären Figur ‚Jean Paul‘, der als ‚Produzent‘ in allen Texten gegenwärtig ist.

Diese Erzählweise, der nichts Menschliches fremd ist, hat Jean Paul unter den zeitgenössischen Rezensenten den Vorwurf der ‚Geschmacklosigkeit‘ eingetragen, weil durch sie die disparatesten Elemente zu einem Kunstwerk zusammengemengt würden: Hier dränge sich das Autor-Ich eitel in den Vordergrund, und die Anteilnahme am erzählten Geschehen werde unnötig getrübt.106 Man war sogar der Meinung, dass den Romanen Jean Pauls der Charakter der Geschlossenheit und in sich ruhenden Vollkommenheit abgehe, in welchen Merkmalen man – gemäß einer (freilich missverstandenen) Auffas101

Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 447. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 250. Vgl. dazu auch Böhn, 1992, S. 82. Ähnliche Auffassungen finden sich auch bei Novalis, der das Modell der Kunst als einer Welt im Kleinen auf die Sprache als ganze überträgt, sodass die Sprache als „eine kleine Welt in Zeichen und Tönen“ erscheint (vgl. NO 1, S. 287). Wie wir bereits in Kapitel 2.2.2 gesehen haben, vertritt Novalis darüber hinaus mit seiner „Wechselrepraesentationslehre des Universums“ (NO 3, S. 266) einen Weltbegriff, den man ebenfalls als ‚zeichentheoretisch‘ bezeichnen könnte. 103 Jean Pauls Bestimmung der Poesie als einer Entzifferungs- und Deutungskunst bewegt sich jedoch noch immer im Rahmen eines mimetischen Kunstverständnisses. In diesem Sinne schreibt Kaiser: „Die Schrift der Natur in uns schreibt der Autor nach: insofern ist er Finder, nicht Erfinder. In dieser tieferen Bedeutung kann er sich Realist, „Beschreiber“ oder „Historiker“ nennen, weil er sich ans Geschaffene und Gegebene hält.“ (Kaiser, 1995, S. 75) 104 Vgl. dazu Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 248 ff. 105 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 248. 106 Lindner, 1980, S. 290 f. 102

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sung der Autonomieästhetik – die ästhetische Qualität eines literarischen Werkes sah. Es darf aber nicht verkannt werden, dass Jean Paul vom teleologischen Charakter des Romans im Allgemeinen und seiner eigenen Romane im Besonderen zutiefst überzeugt war: diesen sah er durch den „allgemeinen Geist“ gewährleistet, der „das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung [...] heimlich zu einem Ziele verknüpfe und ziehe“.107 Darüber hinaus verbürgte in den Augen Jean Pauls gerade seine Fähigkeit, sich alles einzuverleiben, dem Roman seinen Totalitätsanspruch.108 Jean Pauls Romane sind also autonome Erzählsysteme in einem ganz eigentümlichen Sinne, insofern sie einerseits offen gegenüber – im Idealfalle: allen – externen diskursiven Elementen sind, andererseits sich durch ihr hohes Maß an Integrationsfähigkeit i.S. der Fähigkeit, sich diese fremden Elemente (metaphorisch) verfügbar zu machen, zu organischen Kunstwerken abschließen. Der Abschluss der Romane Jean Pauls zu autonomen Erzählsystemen wird dadurch verstärkt, dass sie auf den Ebenen von literarischer Topographie, Figurenpersonal und Handlungsverlauf in mannigfacher Weise ineinander verschränkt sind. Darüber hinaus verdichtet sich durch die Verdopplung der Autorinstanz „in der imaginären Figur ‚Jean Paul‘, der als ‚Produzent‘ in allen Texten gegenwärtig ist“, das Romanerzählen „zu einem eigenen auktorialen Gesamtwerk, das als sein komisches Gegenwerk in unterschiedlichem Umfang alle Romane durchzieht und diese skurril untereinander verkoppelt“.109 Diese Auftritte der – ebenso fiktionalen – Autorfigur inmitten des Handlungsverlaufs sind Kennzeichen der Selbstthematisierung des Erzählprozesses und damit der Autoreflexivität der Jean Paulschen Romane. Neben dem Hesperus ist hierbei vor allem auf den Kometen zu verweisen, aber auch auf die (fiktionale) Vorrede des Siebenkäs, in der dieser mit dem Hesperus verknüpft wird.110 Der Verweisungszusammenhang der Romane wird aufgrund dieser Verschränkungen so intensiv, dass der Eindruck entsteht, Jean Paul habe im Grunde nur eine einzige fiktionale Welt entworfen.111 So kehrt – um den prominentesten Fall zu nennen – die Leibgeber-Figur des Siebenkäs, die sich über den gesamten Romanverlauf mit dem Titelhelden in einem komplexen Spiel mit der Identität bewegt, im Titan in der Figur des 107

Ebd., S. 295. Dies gilt laut Jean Paul für alle Romanformen gleichermaßen: für den „epischen“ wie den „dramatischen“, für den „deutschen“, „italienischen“ und „niederländischen“ Roman (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 253 ff). 109 Lindner, 1980, S. 295. 110 Ein ähnliches Phänomen begegnet auch in Brentanos Godwi, wo im 2. Band der Autor des 1. Bandes als Handelnder auftritt. Dazu schreibt Böckmann: „Die fiktive Welt des Romans wird durch die Zerstörung der Illusion als ‚fiktiv‘ bewußt gemacht, aber damit doch nur die Fiktion neuer Vermittlungen geschaffen.“ (Böckmann, 1969, S. 176) Dasselbe ließe sich auch über Jean Pauls Umgang mit der fiktionalen Autorfigur sagen. 111 Die Verschränkung einzelner Romane findet sich bereits in Klingers Romanzyklus sowie bei Wieland (wie sich z.B. an den Figuren Hippias und Aristipp im Agathon und im Aristipp erkennen lässt). Es wird dort jedoch nicht mit solcher Virtuosität wie bei Jean Paul eingesetzt. 108

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Fichtianers Schoppe wieder und übernimmt innerhalb des dortigen Erzählgeschehens eine zentrale Funktion. Doch auch schon der Hesperus ist mit dem Erstlingsroman Die unsichtbare Loge in Personal und Lokalität auf vielfältige Weise verknüpft.112 Durch diese für das gesamte Werk charakteristische Aufhebung der Textgrenzen wird eine Kontinuität hergestellt, die den Rezipienten glauben lässt, dass er sich stets in ein und derselben fiktionalen Welt bewege113 – ein Eindruck, der sicherlich die Möglichkeit einer – gerade die Jean-Paul-Leser um 1800 auszeichnenden – identifikatorischen Lektüre nicht unmaßgeblich befördert hat. Diese Aspekte – das Analogisierungsverfahren des Erzählstils, die Auffassung des Romans als eines interdiskursiven Schnittpunkts sowie der innige Zusammenhang der Einzelwerke auf der Ebene des Erzählten, insbesondere hinsichtlich des Figurenpersonals – zeigen bereits deutlich die autoreflexive Grundstruktur der Romane Jean Pauls. Die Autoreflexivität wird aber erst dadurch zum eigentlichen Charakter dieser Romane, dass in ihnen die Selbstthematisierung des Erzählprozesses – in eins mit der Präsentation des Erzählten – so deutlich in den Vordergrund tritt wie nicht einmal bei Wieland.114 Die Sphäre des Erzählers und seines Erzählens wird zu einer autonomen Welt, die gleichzeitig mit der erzählten Welt dargeboten wird. Besonders greifbar ist dies im Hesperus, in dem der Erzähler auf einer Insel auf den täglich heranschwimmenden Hund wartet, der ihn, in einer um den Hals hängenden Röhre, mit dem zur Fortsetzung der Geschichte nötigen Erzählstoff versorgt115. Schon der locus amoenus des Erzählers zeigt durch seinen insulären Charakter die Abgeschlossenheit der Erzähl- gegenüber der erzählten Welt auf sehr anschauliche Weise: die Welt des Erzählers löst sich zunächst nahezu vollständig von der erzählten Welt ab und wird zu einer eigenständigen fiktionalen Sphäre, für die die Inselmetapher einsteht.116 Darüber hinaus ermöglicht die Etablierung der Erzählwelt als einer autonomen Sphäre die virtuose Verknüpfung von IchPerspektive und auktorialer Distanznahme117 gegenüber der erzählten Welt.118 Das problematische Verhältnis zwischen der Erzähl- und der erzählten Welt zeigt sich bereits in den Schwierigkeiten des Erzählers, einen rechten Anfang zu finden. So folgt auf den eigentlichen Erzählbeginn im 1. Hundsposttag, der sogleich in medias res

112

Zum Bezug des Hesperus zur Unsichtbaren Loge vgl. z.B. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 506 sowie S. 655, wobei hier die Doppeldeutigkeit des Begriffs der „Insel“ deutlich wird. 113 Vgl. dazu Berhorst, 2002, insbesondere S. 240. 114 Aus dieser Perspektive sind die Romane Jean Pauls der Höhepunkt der gesamten Romanliteratur, da sie mit dem Vorgang des Erzählens ein beispiellos virtuoses Spiel treiben. 115 Daher rührt bekanntlich die Einteilung des Romans nicht in Kapitel, sondern in „Hundsposttage“. Hierbei werden etwaige Lieferprobleme vom Erzähler sogleich in autoreflexiver Weise thematisiert (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 510). Vgl. dazu auch Berhorst, 2002, S. 242. 116 Zur Situation des Erzählers auf der Insel vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 506. 117 Als Beispiel für die Allgegenwärtigkeit des Erzählers vgl. ebd., S. 498. 118 Vgl. Berhorst, 2002, S. 242.

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geht und mit einer genauen Datumsangabe aufwartet119, einige Seiten später ein erneuter Anfang120, der wiederum auf der Ebene des Erzählten mit der Augenöffnung des Vaters durch den Protagonisten Viktor in Verbindung gebracht werden kann121. Der von nun an scheinbar ungehindert dahinströmende Erzählfluss wird jedoch alsbald dadurch unterbrochen, dass im 2. Hundsposttag die Hintergrundgeschichte nachgeliefert wird, wodurch wiederum ein erneuter Anfang gesetzt wird.122 Dieses ‚Anfangsproblem‘ des Romans wird nicht nur eingehend reflektiert123, sondern macht ihn zu einem komplexen Gefüge, in dem die Sphäre des Erzählens deutlich hervortritt. Dabei artikuliert sich das transzendentale Erzählen im Hesperus vorwiegend in Erzähler-Leser-Dialogen. Schon die Probleme, den rechten Erzählanfang zu finden, werden in permanenter Auseinandersetzung mit dem fiktiven Leser verhandelt, sodass Erzähler und Leser geradezu als Teilnehmer des erzählten Geschehens auftreten.124 An einer eindrücklichen Stelle im 6. Hundsposttag kompensiert der Erzähler das durch das Ausbleiben des Hundes bedingte Stocken des Erzählflusses, indem er in einen Dialog mit dem Leser eintritt, der im Abschluss eines Vertrages zur Einführung von Schalttagen und anderen Digressionen gipfelt.125 Hier entfaltet sich die Autoreflexivität des Erzählens durch Thematisierung des Erzähler-Leser-Verhältnisses, wobei auf die Fiktionalität eines jeden Weltbegriffs verwiesen wird: Die Hauptfrage ist jetzt, ob ein Hund-Vertrag zwischen zwei so großen Mächten – indem der Leser alle Weltteile hat, und ich wieder den Leser – nach dem Schließen noch zu halten ist. / Friedrich, der Antimachiavellist, antwortet uns und stützt sich auf den Machiavell: allerdings muß jeder von uns sein Wort so lange halten , als er – Nutzen davon hat. (Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 611)

Selbst über solch grundsätzliche narrative Verfahren wie die Einführung von Romanfiguren kommuniziert der Erzähler ausgiebig mit dem fiktiven Leser.126 Dennoch ändern weder diese Leseransprachen noch der Umstand, dass der auf seiner Insel ausharrende Erzähler von der sukzessiven Lieferung des biographischen Materials durch einen Drit-

119

Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 491 ff; vgl. den Beginn des Agathon, der ebenfalls mitten ins Geschehen führt. 120 Vgl. ebd., S. 499. 121 Vgl. ebd., S. 504. Die Augenöffnung i.S. der Eröffnung einer neuen Welt kann dabei als metaphorischer Ausdruck für das Anheben des Erzählens angesehen werden. 122 Vgl. ebd., S. S. 513-519. 123 Vgl. ebd., 506. 124 Vgl. z.B. ebd., S. 496, 503 u. 511. Zuweilen wird von Jean Paul dabei die fiktive Leserschaft nach männlichen und weiblichen Rezipienten differenziert (vgl. ebd., S. 499). 125 Vgl. ebd., S. 564-566 u. 611-613. Hier wird nicht allein ein Spiel mit Rezeptionserwartungen betrieben, sondern auch die Vertragstheorie grundsätzlich problematisiert. Vgl. dazu den Beginn des 3. Heftleins, wo der Erzähler kritisch auf Leserhaltungen reflektiert (ebd., S. 895 f). 126 Ebd., S. 607 f.

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ten, den Korrespondenten Knef abhängig ist127, zunächst nichts an der Trennung des Erzählersubjekts von der erzählten Geschichte. Doch diese Trennung wird dadurch tendenziell aufhebbar, insofern die ständige Präsenz des Erzählers ihm die Möglichkeit eröffnet, auch im Rahmen der erzählten Welt „zu einer Figur zu werden, die an der von ihr erzählten Geschichte handelnd teilnimmt“.128 Denn die eigentliche Pointe der Erzählweise im Hesperus ist nicht die Abgeschlossenheit der Erzähl- gegenüber der erzählten Welt, sondern dass sich im Laufe des Erzählens ihr Verhältnis radikal ändert. Dem Erzähler werden die Erzählobjekte gerade dadurch immer problematischer und unverfügbarer, dass die vom „Lebensbeschreiber“129 zu erzählende Biographie zunehmend selbständig wird. Dies jedoch verschafft dem Erzählsubjekt andererseits die Möglichkeit, sein Verhältnis zu den Erzählobjekten zum Thema der Darstellung zu erheben und ein autoreflexives Erzählverfahren zu etablieren130: Gerade die Erzähler- und Schreibgeschichte als mit der Geschichte des Helden Viktor konkurrierende, scheinbar sich der historischen Wirklichkeit nähernde, wird somit für diese zu einem Spiegel, in welchem ihr Charakter bloßen Erfundenseins immer wieder in Erinnerung gebracht 131 wird.

Obgleich sich der Erzähler im Hesperus als „Historiographen“ bezeichnet, fordert er zugleich für sich poetische Freiheit ein, indem er die Biographie, die sich auf die Vergangenheit beziehe, vom Roman, der stets einen Zukunftsbezug habe, unterscheidet. Entsprechend solle „die Wahrheit nur meine Gesellschaftsdame, aber nicht meine Führerin“ sein.132 An anderer Stelle setzt der Erzähler deshalb das „nackte[] historische[] Faktum“ der „poetische[n] Einkleidung“ entgegen und weist die Forderung nach dem ersten ab.133 Auch Berhorst sieht im Hesperus „zwei widersprüchliche Erzählerstimmen“ am Werk, „von denen die eine ‚historische Treue‘ gelobt, die andere ‚poetische Täuschung‘ verheißt“.134 Unter der Voraussetzung, dass die Wirklichkeit bloß Lüge und Täuschung ist, messe, so Berhorst weiter, Jean Paul der Poesie einen höheren Wahrheitsgehalt zu.135 Am Ende des Romans aber verschmelzen die beiden Erzählsphären zu einer einzigen, indem der Erzähler – der sich ja zu allem Überfluss ‚Jean Paul‘ nennt – in die er-

127

Der Hesperus erhält dadurch die Struktur eines Romans in Fortsetzungen, was durch die Einteilung in „Hundsposttage“ auch äußerlich sichtbar wird (vgl. dazu ebd., S. 506 f). 128 Nienhaus, 1989, S. 54 f. 129 Der Erzähler bezeichnet sich selbst als „Historiograph[en]“ bzw. als „Lebensbeschreiber einer ungenannten Familiengeschichte“ (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 508). 130 Vgl. Nienhaus, 1989, S. 55. 131 Ebd., S. 58. 132 Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 509. 133 Vgl. ebd., S. 551. 134 Berhorst, 2002, S. 266. 135 Vgl. ebd., S. 268.

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zählte Welt eintritt und dort eine wichtige Funktion übernimmt136: aus der hetero- wird eine homodiegetische Erzählsituation. Dabei wird die Parabel vom verlorenen Sohn auf die Geschichte der Erzählerfigur appliziert und die Erzählersubjektivität aufgelöst ins kollektive ‚Wir‘ der Romanfiguren.137 Im 45. Hundsposttag nämlich gerät der Erzähler angesichts des Ausbleibens des letzten Kapitels endgültig in Verlegenheit, woraufhin er den Entschluss fasst, es nunmehr selbst ohne weitere Materiallieferung zu verfassen.138 Der befreundete Dr. Fenk139 macht ihm den Ort des erzählten Geschehens bekannt140, sodass er nun die Gelegenheit erhält, sich selbst das nötige Material für den Abschluss seiner Erzählung zu verschaffen.141 Auf der Reise zum erzählten Ort wird der Erzähler jedoch entführt142 und auf die „Insel der Vereinigung“ gebracht. Dort schließlich klärt sich die komplexe Geschichte um die Identität der Protagonisten auf, wobei sich herausstellt, dass der Erzähler selbst einer der verlorenen Fürstensöhne ist, also ohne sein Wissen von Anbeginn an in der von ihm zuvor erzählten Welt eine zentrale Rolle spielte.143 Durch diese Auflösung der narrativen Mystifikation, mit der die ursprünglichen Lesererwartungen ‚enttäuscht‘ werden, wird die Gleichursprünglichkeit von Erzählen und Erzähltem augenfällig. Zudem wird gerade in dem sich wandelnden Verhältnis von Erzähl- und erzählter Welt – von ihrer Etablierung zu autonomen Sphären über ihre wechselseitige Problematisierung bis hin zu ihrer Verschmelzung – deutlich, dass die Narration der Fabel im Hesperus nur eine untergeordnete Rolle spielt und die Einheit des Romans allein durch den Erzählvorgang selbst gewährleistet wird.144 Dass das Ziel des Hesperus dennoch die „Ruhe in Vollendung“ war, zeigt sich an seinem letzten Satz: „Es ruht“ – diese Vollendung aber wird vor allem erzähltechnisch hergestellt.145 Auch wenn sich somit im Hesperus die transzendentale Autoreflexivität des Erzählens vornehmlich in der Makrostruktur des Romans, d.h. in der beständigen Problematisierung des Verhältnisses der beiden Erzählwelten realisiert, finden sich in Jean 136

Am Ende des Romans konvergieren die beiden Erzählwelten auch zeitlich, indem sie sich in der Gegenwart treffen (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 1202). Bereits zuvor bemüht sich der Erzähler immer wieder um die Illusion der Gegenwärtigkeit der Geschichte (vgl. etwa ebd., S. 508). 137 Vgl. Nienhaus, 1989, S. 73. Nienhaus vertritt die These, dass die „Übertragung der SubjektivitätsKategorie auf das Werk als Ganzes“ mit der „Suche des Subjekts nach der Erkenntnis von Realität“ korrespondiere. 138 Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 1, 1217 f. 139 Die Identität des Korrespondenten Knef mit Dr. Fenk wird ebenfalls zuletzt aufgeklärt, wobei in einer Fußnote die Autobiographie Jean Pauls angekündigt wird (vgl. ebd., S. 1225). 140 Vgl. ebd., 1218. 141 Vgl. ebd., 1219. 142 Vgl. ebd., 1222. 143 Auf der Insel stellt sich heraus, dass Viktor der Pfarrerssohn; Julius der Sohn des Lords und Flamin, der Erzähler Jean Paul und die drei Engländer die Fürstensöhne sind (vgl. ebd., S. 1224 f). 144 Vgl. Nienhaus, 1989, S. 63. Auch Berhorst gelangt zu dieser Diagnose: „Bereits im ‚Hesperus‘ verdankt sich die formale Vollendung des Romans genaugenommen einer Rückwendung der Poesie auf das Medium des Romans und seine formalen Bedingungen.“ (Berhorst, 2002, S. 303) 145 Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 1236; vgl. dazu auch Berhorst, 2002, S. 270 ff.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Pauls Roman darüber hinaus eine Vielzahl selbstreferenter Erzählerreflexionen, in denen in eins mit dem Erzählten das Erzählen präsentiert wird.146 In diesen Autoreflexionen werden zentrale narratologische Probleme thematisiert – von der vermeintlichen „Unwahrscheinlichkeit“ des Erzählens147 über allgemeine geschichtsphilosophische Reflexionen, in denen zugleich das Fiktionalitätsproblem verhandelt wird148, bis hin zur ironischen Auseinandersetzung mit dem Mimesisgebot: Ich habe überhaupt in dieser Lebensbeschreibung als Supernumerarkopist der Natur allezeit die Wirklichkeit abgeschrieben [...]. (Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 1232)

Manfred Engel hält dafür, dass der ‚pragmatische Nexus‘ der Geschichte bei Jean Paul „primär als negativer Bezugspunkt“ fungiere und an seine Stelle der ‚poetische Nexus‘ trete: Nicht nur werde bewusst gegen das Wahrscheinlichkeitsgebot einer kausalen Verknüpfung der Handlungsabläufe bzw. einer psychologisch hinreichenden Motivation verstoßen, sondern die dadurch entstehende Lücke werde zum einen durch ein „System binnentextueller Bezüge (Motiv-, Metaphern- und Symbolzusammenhänge)“, zum andern durch „transzendentale Strukturen“ des Erzählens geschlossen.149 Dieses transzendentalpoetische Romanerzählen kann so weit gehen, dass die Erzählfiktion scheinbar aufgehoben wird: Zwölf Kanonen gingen draußen los aus ebenso vielen Stubenschlüsseln – – sie erschießen diese Historie. – – / Denn jetzt ist sie wahrlich aus – nicht ein Wort, nicht eine Silbe weiß ich mehr – ich habe überhaupt in meinem Leben gar keinen Horion und kein St. Lüne gesehen oder gehört oder geträumt oder nur romantisch ersonnen – der Teufel und ich wissen, wie es ist, und ich meines Orts habe ohnehin jetzt bessere Dinge zu machen [...]. (Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 505)

Ähnliche Beobachtungen lassen sich anhand der Flegeljahre machen. In diesem Roman wird nicht allein der Erzähler ebenfalls sukzessive von außen mit dem Erzählstoff versorgt, noch auch nur spielt er, wie sich allmählich herausstellt, ähnlich wie im Hesperus eine bedeutende Rolle bei der Erfüllung der Testamentsvorschriften, um die sich die gesamte Fabel dreht, sondern in ihm findet sich vor allem eine Fülle autoreflexiver Erzählverfahren.150 Ohne darauf ausführlich eingehen zu können, soll hier nur eine zentra146

Als Beispiele unter vielen seien hier nur genannt: Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 492, 494, 495 u. 501 sowie, in extensiver Form, ebd., S. 511 f u. S. 1023-1025 u. 1027-1029. 147 Vgl. ebd., S. 519, 551 f u. 555 f. Für Berhorst ist dieses Merkmal der Unwahrscheinlichkeit des Hesperus wiederum Zeichen seiner Historizität (vgl. Berhorst, 2002, S. 251). 148 Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 867-875. 149 Engel, 1993, S. 12. Auch Berhorst fasst den Hesperus als eine Parodie des pragmatischen Romans auf (vgl. Berhorst, 2002, S. 248). 150 Esselborn vertritt die These, dass die „fiktive Lebensbeschreibung eines jugendlichen Helden durch einen reflektierenden Erzähler [...] in ihrem doppelten Aufbau der gegenseitigen Korrektur von Hypothese und Experiment bei der Erforschung der Natur“ entspreche (vgl. Esselborn, 1994, S. 70); diese Behauptung ist m.E. ein klassisches Beispiel für eine nicht falsifizierbare Hypothese innerhalb der Literaturwissenschaft.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

369

le Textpassage exemplarisch hervorgehoben werden. Wie im Siebenkäs, in dem der Held des Romans zum Verfasser des Jean Paulschen Frühwerks, der satirischen Erzählungen der Isländischen Prozesse, wird, sind auch in den Flegeljahren die Protagonisten literarisch tätig: Die beiden Zwillingsbrüder Walt und Vult – das romantische Doppelgängermotiv auf formaler Ebene wiederholend und dadurch auf die Spitze treibend151 – verfassen gemeinsam einen Roman im Roman. Diese Tatsache, dass die literarischen Figuren ihrerseits selbst literarisch tätig sind, ist aber für die Bestimmung der Flegeljahre als autoreflexiv von größter Bedeutung. Bereits die Charakterisierung des Romans der Zwillingsbrüder als eines „Doppelromans“ sowie die zweifach gedoppelte Titelgebung „Hoppelpoppel oder das Herz“152 verweisen in nochmals ironisch gebrochener Weise auf das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie bzw. auf deren selbstreferente Erzählverfahren. Eine weitere autoreflexive Vertiefung erfährt der Roman jedoch dadurch, dass Walt und Vult den Plan zu ihrem Doppelroman ausgerechnet im „Wirtshaus zum Wirtshaus“ fassen. An dieser narrativen Gelenkstelle der Flegeljahre wird nicht nur ein metaphorischer Zusammenhang zwischen dem „Roman im Roman“ und der ironischen Kritik an der Transzendentalpoesie (und damit am Fichteianismus) hergestellt, sondern die Autoreflexivität mitsamt ihrer metaphysischen Legitimation parodiert: Vult mußte lange passen und seine Gedanken über die nächsten Gegenstände haben, z.B. über den Wirt, einen Herrnhuter, der auf sein Schild nichts weiter malen lassen als wieder ein Wirtshausschild mit einem ähnlichen Schild, auf dem wieder das Gleiche stand; es ist das die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv widerscheinen lässet; z.B. ich bin tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste. Lauter schwere Sätze von einem Widerschein ins Unendliche und einer Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe ist; ja vielleicht darf nur einer, der imstande ist, denselben Infinitiv, von welchem Zeitwort man will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu schreiben, zu sich sagen: ich philosophiere. (Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 651)

Obwohl Jean Paul den Frühromantikern zwar zugesteht, dass die Poesie ein Spiegel sei, ihnen aber zugleich mit der These begegnet: „das Spiegeln spiegelt sich nicht“153, emanzipieren sich andererseits gerade die Flegeljahre nicht vom Erzählmodell der Transzendentalpoesie.154 Vielmehr wird hier ein autoreflexives, transzendentalpoeti151

Zum Doppelgängermotiv vgl. auch die Ausführungen im folgenden Kap. 2.2.5. Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 653 ff. Die Bezeichnung des Hoppelpoppel als eines doppelten „Lebens-Roman[s]“ von Walt und Vult kann dabei als Anspielung auf den frühromantischen Begriff des Romantisierens gedeutet werden (vgl. ebd., S. 648). 153 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 60. 154 Der im Zusammenhang des Motivs vom „Wirtshaus zum Wirtshaus“ vorgetragenen Interpretation Berhorsts, dass für Jean Paul Selbstreferentialität ein Zeichen von Gehaltsverlust und damit der Krise gewesen und eine „Poesie der Poesie“ nicht möglich sei, kann ich darum nicht zustimmen (vgl. Berhorst, 2002, S. 380). 152

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

sches Spiel mit der Autoreflexivität und Transzendentalpoetik selbst getrieben, sodass sich die unendliche Reflexivität des literarischen Werks, von der Friedrich Schlegel sprach, nochmals potenziert. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Vult in seinem „antikritischen“ Brief an den Verleger Merkel anlässlich der Ablehnung des Hoppelpoppel-Manuskripts eine „Rezension der Rezension“ schreibt, sich in ihr aber gegen den Vorwurf wehrt, der Doppelroman sei nur eine schlechte Nachahmung Jean Pauls.155 Darüber hinaus wird die Selbstbezüglichkeit der Flegeljahre dadurch verstärkt, dass Elemente früherer Romane zitiert und ironisch gebrochen werden.156 An diesen wie an vielen anderen Stellen wird deutlich, dass in den Romanen Jean Pauls nicht bloß ein virtuoses „Spiel der Erzählfunktion mit sich selbst“157, sondern mit dem Konzept der Transzendentalpoesie und der narrativen Autoreflexivität, ja letztlich mit den dieses Konzept legitimierenden metaphysischen Modellen betrieben wird. Dieses Spiel aber war für Jean Paul keine Übung des Witzes, sondern ein durchaus ernsthaftes Unternehmen: Der Grund wie der Zweck eines Spieles ist keines; um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt. (Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 444)

Ein ähnliches Spiel mit transzendentalpoetischen resp. autoreflexiven Erzählverfahren findet sich in vielen Romanen und Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. So werden im Kater Murr zwei scheinbar autonome und disparate Erzählzusammenhänge ineinander geschachtelt. Zwar behauptet der fiktive Herausgeber des Romans, dass diese Verschränkung der beiden Erzählstränge auf einen Fehler zurückzuführen sei und entsprechend nach dem Zufallsprinzip erfolge, doch es wird rasch offenbar, dass sich die beiden Narrationszusammenhänge wechselseitig erläutern, man möchte angesichts der musikalischen Thematik sagen: kontrapunktisch einander reflektieren. Mit Kremer ließe sich ergänzen, dass gerade dadurch bei E.T.A. Hoffmann der Konjunktiv zur „poetische[n] Grundform“ wird, in der Erzählen und Erzähltes in einen eigentümlichen Schwebezustand geraten.158 Auch das narrative Grundgerüst des Goldenen Topfes konstituiert sich maßgeblich über solche autoreflexiven Erzählstrategien, wobei die Grenze zwischen Erzähl- und Handlungsebene gleich auf doppelte Weise durchbrochen wird: Nicht nur wird der Protagonist Anselm aus der erzählten ‚historischen‘ Wirklichkeit in das „Atlantis“ genannte Märchenreich der Poesie entrückt, sondern vor allem wird der Erzähler zugleich und in eins damit in die fiktionale Welt selbst transzendiert. Roland Heine spricht in diesem Zusammenhang von einer „doppelte[n] Verschiebung ‚nach innen‘“: 155

Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 1031 ff. Berhorst, 2002, S. 379. 157 Vgl. Hamburger, 1968, S. 125 ff. Für Hamburger wird durch dieses ironische Spiel in den Romanen Jean Pauls „die Illusion der Fiktion weit weniger gestört als gerade betont, unterstrichen“; dies aber sei nur im humoristischen Roman möglich: „Das Fiktionsspiel kann aber naturgemäß nur im humoristischen Roman stattfinden, denn das nichthumoristische Erzählen würde sein Produkt, die Fiktion, und damit sich selbst aufheben, wenn es sie nicht ernst nähme, d.h. sich ihrer Fiktivität bewußt würde oder sie bewußt machte.“ (Ebd., S. 133) 158 Vgl. Kremer, 1993, S. 104 f. 156

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

371

Der Erzähler steigt in dem Augenblick in ‚seine‘ Fiktion hinab, als er den Übergang des Anselmus in das Reich des Wunderbaren erzählen will. Die doppelte Verschiebung ist also ein wechselseitig bedingter Vorgang der Transzendierung: Einmal des Erzählers in die Fiktion der Märchenwelt und zum anderen – im Rahmen dieser Fiktion – der Erzählerfigur (Anselmus) in 159 das Reich der Poesie (Atlantis).

Das komplexe Reflexionsverhältnis zwischen erzählter und Erzählwelt wird nun noch dadurch potenziert, dass der Student Anselm auf änigmatische Weise an dem Erzählwerk selbst mitschreibt. Auf der Handlungsebene spiegelt sich dieses autoreflexive Verhältnis darin, dass die Belohnung für Anselms Schrift- und Kopierdienste im goldenen Topf besteht, der die sublimsten Herrlichkeiten des atlantischen Phantasiereichs verspricht.160 Erst die strikte Befolgung des Mimesisgebots, so ließe sich dies deuten, eröffnet die Möglichkeit einer poetischen Transzendierung. Diese aber realisiert sich gerade in den Romanen Jean Pauls und E.T.A. Hoffmanns in einer permanenten Selbstreflexion des ästhetischen Materials und der künstlerischen Produktion. So wird hier zuletzt in metaphorischer Weise deutlich, wie eng der Begründungszusammenhang von Mimesis und Autoreflexivität innerhalb des Konzepts der Transzendentalpoesie ist. Es handelt sich jedoch um eine Autoreflexivität zweiter Stufe, um ein erzähltechnisches Reflexionsverhältnis, das seinerseits auf grundlegende ontologische Probleme verweist. Gleichursprünglich mit diesen ontologischen Fragestellungen im Rahmen eines organizistischen Kunstwerk- und autoreflexiven Erzählbegriffs findet in den Romanen um 1800 eine intensive Auseinandersetzung mit Subjektivitätskonzepten statt. Dieser Auseinandersetzung wollen wir uns nunmehr zuwenden.

159 160

Heine, 1974, S. 193. Vgl. Kremer, 1993, S. 100.

2.2.5 Das Konzept der Transzendentalpoesie und die Subjektivitätstheorie um 1800 Die Natur ist nichts, als lauter Vergangenheit – Ehmalige Freyheit – daher durchaus Boden der 1 Geschichte.

Nach Auffassung der Frühromantiker soll der transzendentalpoetische Roman nicht nur die Idee von der Einheit und Totalität der Natur im Rahmen einer organizistischen Kunstauffassung analogisch ausfüllen, sondern zugleich Ausdruck eines Subjektivitätskonzepts sein. Entsprechend lässt er sich sowohl in seinem Verhältnis zur Ontologie als auch in Bezug auf die Subjektivitätsmodelle der nachkantischen Philosophie betrachten. Freilich handelt es sich hierbei um zwei Theorieansätze, die in einem innigen Begründungszusammenhang stehen und daher nicht unabhängig voneinander verstanden werden können. Darum kann auch der transzendentalpoetische Roman unter beiden Aspekten analysiert werden. Schon einem ersten Blick auf die Zeit um 1800 ist es auffällig, dass der transzendentalpoetische Roman und das subjektivitätsphilosophische Konzept einer ‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘, wie sie Fichte, Schelling und Hegel formulierten, nahezu zeitgleich auftreten.2 Nimmt man hinzu, dass das ausgehende 18. Jahrhundert, das deshalb zu Recht den Namen des „pädagogischen Jahrhunderts“ erhalten hat, auch die Zeit der großen Bildungskonzepte war, so gelangt man zu dem Verdacht, dass es sich dabei keineswegs um eine historische Kontingenz als vielmehr um einen tieferliegenden geistesgeschichtlichen Zusammenhang handelt. Dieser Verdacht stellt eine Untersuchung der Achsenzeit um 1800 vor eine doppelte Notwendigkeit: Zum einen muss sie die genetischen Theorieentwürfe der Deutschen Idealisten im Hinblick auf die Frage näher betrachten, inwieweit in ihnen narrative Strukturen manifest werden, die es erlauben, diese Subjektivitätstheorien in eine enge Verwandtschaftsbeziehung zu literarischen Gattungsmustern zu setzen; zum andern muss sie untersuchen, in welcher Weise der Roman um 1800 spezifische Subjektivitätskonzepte formuliert, die begründeten Anspruch darauf erheben können, in Konkurrenz zu den genetischen Subjekttheorien der nachkantischen Philosophie zu treten. Auch hier begegnet uns also der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Kunst wieder. Dies führt jedoch auf die Frage, ob man von einem gemeinsamen Syndrom sprechen kann, zu dem die Literatur, genauer der Roman, und die Philosophie jener „Achsenzeit“ gleichermaßen gehören – ein Syndrom, das in der Prozessualisierung der Subjektmodelle einen seiner maßgeblichen Ausdrücke fände. 1 2

NO 3, S. 580. Der Begriff der Geschichte des Selbstbewusstseins tritt bei Schelling erstmals in der Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur auf. Fichte spricht in der Wissenschaftslehre von 1794 hingegen von einer „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“ (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 415).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

373

Wie bereits in Kapitel 2.2.2 gezeigt, erfolgt der Versuch der Philosophie um und nach 1800, die Metaphysik auf der Grundlage des Kritizismus zu reformulieren, über eine spekulative Ausweitung des subjektivitätsphilosophischen Ansatzes. Schon die Überzeugung der Deutschen Idealisten, dass Kants transzendentales Ich von entscheidender Bedeutung für jede Form von Begründungsverfahren ist, lässt diesen subjektivitätsphilosophischen Grundcharakter der nachkantischen Philosophie unverkennbar hervortreten. Gemäß der Bestimmung des Ich als reiner Tätigkeit nimmt diese Subjektivitätsphilosophie die Gestalt einer ‚pragmatischen Geschichte des Selbstbewusstseins‘ an. Insofern in einer solchen ‚philosophischen Geschichtsschreibung‘ zugleich mit den Stufen menschlicher Erkenntnisse (als Tätigkeiten des Subjekts) die ebenfalls in Stufen sich vollziehende Konstituierung der Welt analysiert wird, führt ein derartiger Ansatz notwendigerweise zu einer – idealistisch verfassten – Ontologie. Noch deutlicher wird dies im ‚objektiven Idealismus‘ Schellings, innerhalb dessen der transzendentale Idealismus, der seinen Ausgang vom Subjekt nimmt, durch die gleichberechtigte, vom Objekt ausgehende Naturphilosophie ergänzt wird. Hierbei wird auch die Natur als Subjekt und d.h. in einem Tätigkeitssinn als natura naturans aufgefasst. Nicht mehr die Produkte der Natur, sondern ihre Produktivität ist das explanandum der Metaphysik. Bei Schopenhauer wird klar, dass hinter diesem Ansatz, der das Wesen der objektiven Natur nach Maßgabe subjektiver Gegebenheiten bestimmt, ein Analogieverfahren steht. Sowohl bei Schelling als auch bei Schopenhauer entsteht hieraus eine (real-)dialektisch verfasste Metaphysik, in der die beiden Ausgänge vom Subjekt und vom Objekt als irreduzible philosophische Ansätze neben-, mit- und ineinander verfolgt werden. Dies bedeutet, dass zwar der Ausgangspunkt des Deutschen Idealismus subjektiv3 ist, dass aber die hermeneutische Metaphysik neben den Ausgang vom Subjekt den objektiven Erklärungsansatz als gleichberechtigtes Verfahren nutzt, um zu einer Deutung der Welt als ganzer zu gelangen, und dadurch die subjektivitätstheoretischen Modelle überschreitet. Darüber hinaus lässt sich schon an der Entscheidung für die Lehre vom Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft erkennen, dass sich auch die Deutschen Idealisten am pragmatischen Paradigma orientieren. Freilich geschieht dies gemäß der Suche nach einem fundamentum inconcussum in einem ganz anderen Sinne als im Rahmen des philosophischen Romans der Spätaufklärung, in dessen skeptischem Diskurs alle metaphysische Spekulation abgelehnt wird. Da schon das Subjekt selbst als reine Tätigkeit bestimmt wird, ist das Selbstbewusstsein ein durch und durch praktisches. Durch die Übertragung dieses Tätigkeitssinns auf die Natur innerhalb des objektiven Idealismus wird dieser ‚spekulative Pragmatismus‘ sodann zur Grundlage einer ontologischen Theorie. Schopenhauers Voluntarismus kann insofern als die metaphy-

3

Insofern nimmt der Idealismus in diesen Systemen methodisch das Primat gegenüber dem objektiv verfahrenden Ansatz von Naturphilosophie bzw. Willensmetaphysik ein.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

sische Abschlusstheorie des pragmatischen Paradigmas angesehen werden: sie erscheint geradezu als die höchste Vollendungsgestalt des Pragmatismus. Doch nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst kann man am Übergang von der Spätaufklärung zur Romantik eine Subjektivierungstendenz beobachten. Dies lässt sich auf zweierlei Weise konkretisieren: zum einen indem man, wie Hegel, gehaltsästhetisch den Bildungs- oder Entwicklungsroman als die Form der (romantischen) Verinnerlichungstendenz identifiziert und den in ihm dargestellten Konflikt zwischen der „Poesie des Herzens“ und der „Prosa der Verhältnisse“4 als Widerstreit zwischen dem Subjektiven und Objektiven bestimmt; zum andern indem man formästhetisch in der Autoreflexivität des transzendentalpoetischen Romans einen Ausdruck der Subjektivierung des Erzählens sieht. Letzteres hat wiederum Auswirkungen auf die kunstphilosophischen Reflexionen um 1800. Denn vor dem Hintergrund der durch die Autoreflexivität im transzendentalpoetischen Roman hergestellten Bewusstheit des fiktionalen Erzählens wird auch die Theorie von der ästhetischen als einer objektivierten intellektuellen Anschauung, wie sie Schelling an prominenter Stelle im System des transcendentalen Idealismus vorträgt, sowie die Auffassung von der doppelten Rolle der Einbildungskraft verständlicher, wie man sie nicht nur bei Schelling5, sondern ebenso bei Novalis und Friedrich Schlegel findet. An diesen Modellen zeigt sich die Überzeugung von der engen Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie: Was die Einbildungskraft – als der gemeinsame Stamm aller Erkenntnisvermögen – bei der Konstituierung der realen Welt auf unbewusste Weise leistet, das geschieht beim Erfinden von fiktionalen Welten auf dem Gebiet der Kunst bewusst.6 Laut Schellings System des transcendentalen Idealismus ist die Kunst der Philosophie darum sogar prinzipiell überlegen. Während nämlich der Künstler diese Welt, die „Poesie des Geistes“, nach außen hin darzustellen vermag, kann der Philosoph sie nur aus der Perspektive des Subjekts, also von innen her konstruieren. Zugleich ist die Kunst bei Schelling die Synthese der bewussten und unbewussten Tätigkeit; daher sie begleitet werde von einem Gefühl der Vollendung bzw. der unendli4 5

6

Vgl. Hegel, Werke, Bd. 15, S. 393, vgl. auch Bd. 14, S. 219 f. Vgl. dazu Schelling, Werke, Bd. 2, S. 626, wo er die These vertritt, dass es „Produkte einer und derselben Thätigkeit [seien], was uns jenseits des Bewußtseyns als wirkliche, diesseits des Bewußtseyns als idealische, oder als Kunstwelt erscheint“. Diese Tätigkeit aber ist das produktive Vermögen der Einbildungskraft. Wie wir gesehen haben, ist für Novalis die Kunst „die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur“ (NO 3, S. 569); die Natur erscheint folglich als unbewusste, die Kunst als bewusste Darstellung des Absoluten. Daraus ergeben sich die Auffassung von der doppelten Rolle der Einbildungskraft und das Konzept des magischen Idealismus. Vgl. hierzu F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 105 sowie Götze, 2001, S. 261 f: „Sofern die Produktion unbewußt verläuft und die Produkte in ihrer Bestimmtheit für die Anschauung schlechthin gegeben sind, produziert sie die Sphäre der Realität nicht frei. Die ästhetische Produktion hingegen, die den Symbolcharakter, das heißt den verborgenen Repräsentationsstatus der Wechselglieder, zum Bewußtsein erheben soll, muß auf reflektiertem und willkürlichem Gebrauch der Einbildungskraft beruhen.“

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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chen Befriedigung. Diesen synthetischen Charakter erhält das Kunstwerk dadurch, dass es sich zeitlich entfaltet und im Produktionsprozess bewusst – in Gestalt der Intention des Künstlers – beginnt und bewusstlos – im geschaffenen Werk – endet: Die Antwort auf die Frage, wie der Widerspruch, daß jene beiden „Thätigkeiten“ (die bewußte und die bewußtlose) in einer und derselben Produktion sowohl getrennt als auch identisch sein sollen, gelöst werden kann, ist in der ersten Definition des Postulats schon vorweggenommen [...]: „Das Ich in der Thätigkeit [...] muß mit Bewußtseyn (subjektiv) anfangen, und im Bewußtlosen oder objektiv enden.“ Die Möglichkeit zur Lösung des Widerspruchs liegt darin, daß an derselben Tätigkeit (‚Produktion‘) ein Unterschied von ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ besteht. [...] „Der Zustand des Endes muß hier von solcher Art sein, daß darin der Zustand des Anfangs 7 nicht vergessen wird.“

Schelling setzt in seiner Philosophie der Kunst diese Bestimmung der Kunst als einer synthetischen Leistung in Bezug zum Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit: Nothwendigkeit und Freiheit verhalten sich wie Bewußtloses und Bewußtes. Kunst beruht daher auf der Identität der bewußten und bewußtlosen Thätigkeit. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 404)

Entsprechend erscheine „die Einheit des Absoluten und Endlichen (Besonderen) in dem Stoff der Kunst von der einen Seite als Werk der Natur, von der andern als Werk der Freiheit“.8 Gerade weil das Kunstwerk eine derartige synthetische Leistung darstellt, lässt sich sagen, dass in der Kunst genau das begreiflich werde, was wir bei der Konstruktion der Realität allenfalls abstrakt wissen können, nimmermehr aber in concreto, d.h. anschaulich zu fassen vermögen.9 Die Kunst wird nachgerade zum analogischen Beweis für die Wahrheit des Idealismus. Besonders deutlich wird dies im „magischen Idealismus“ des Novalis: Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufällig) vernehmbar machen könnt, so macht doch umgekehrt die äußern Dinge unmittelbar (und willkührlich) vernehmbar – welches eben so viel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu äußern Dingen machen könnt, so macht die äu7 8

9

Jähnig, 1969, Bd. 2, S. 28 u. 30. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 471 f. Auch hier steht Schelling unter dem Einfluss der Kantischen Auffassung, wonach das Genieprodukt ein Kunstwerk sei, das „als Natur aussieht“ (Kant, KU, B 179). Novalis äußert die Hoffnung, dass auch das endgültige System der Philosophie den Charakter der Freiheit einer ‚ästhetischen Komposition‘ erhält: „Das Universalsystem der Filosofie muß, wie die Zeit seyn, Ein Faden, an dem man durch unendliche Bestimmungen laufen kann – Es muß ein System der mannichfachsten Einheit, der unendlichen Erweiterung, Compass der Freyheit seyn – weder formales, noch materiales System – [...] Über Fantasiesysteme, deren sind unendliche möglich – Es bleiben aber immer materiale Systeme, mithin nur ästethische Compositionen [...].“ (NO 2, S. 289 f) Die Parallele zu (spät-)aufklärerischen Auffassungen ist offensichtlich (vgl. Kap. 2.1.5). So lässt sich behaupten, dass das subjektivitätstheoretische Modell der romantischen resp. idealistischen Kunstphilosophie strukturelle Ähnlichkeiten mit der Bestimmung der Kunst im Rahmen der Theorie der möglichen Welten hat. Dies belegt auch die These Gurwitschs, dass das Leibniz-Wolffsche Modell eine Transzendentalphilosophie mit Gott an der Stelle des Subjekts darstelle.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ßern Dinge zu Gedanken. [...] Beyde Operationen sind idealistisch. Wer sie beyde vollkommen in seiner Gewalt hat ist der magische Idealist. Sollte nicht die Vollkommenheit jeder von 10 beyden Operationen von der andern abhängig seyn. (NO 3, S. 301)

Für eine so verstandene Kunstphilosophie ist also der Begriff der Einbildungskraft von zentraler Bedeutung. Dieses Konzept aber war in der Achsenzeit um 1800 einem radikalen Bedeutungswandel unterworfen, wobei die Unterscheidung zwischen Einbildungskraft, Phantasie und Imagination wesentlich ist.11 Schon Kant bestimmt die Einbildungskraft als „tätiges Vermögen der Synthesis“ der sinnlichen Mannigfaltigkeit und damit als „notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“12: aufgrund ihrer Verknüpfungsleistung zwischen den Kategorien des Verstandes und der Sinnlichkeit ist sie ein „Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt“13. In der frühidealistischen Subjektphilosophie ist die Einbildungskraft sodann für die Konstitution von Welt und Ich gleichermaßen verantwortlich, bis sie schließlich bei den Romantikern zum Medium der Totalisierung bzw. zum eigentlichen Organon der Poesie wird. Wie Hühn richtig sagt, ist die produktive Einbildungskraft nur „als ein auf das Ganze unserer Erfahrung ausgreifendes Grundprinzip zu fassen, das alle Domänen unserer Lebenswirklichkeit umfaßt und sich gerade nicht auf einen Bereich, etwa den der Ästhetik, restringieren läßt“14. Insbesondere bei Fichte besitzt die Einbildungskraft innerhalb der Antinomie von Idealismus und Realismus eine wichtige Funktion: Man sollte weder auf das Eine allein, noch auf das Andre allein, sondern auf beides zugleich reflektieren; zwischen den beiden entgegengesetzten Bestimmungen dieser Idee mitten inne schweben. Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft. (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 476)

Die Einbildungskraft wird dabei als „ein Vermögen [bestimmt], das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt“ und das „ihr Produkt [...] gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr 10

11

12 13 14

Novalis bestimmt dabei die Magie als die „Kunst, die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen“ (NO 2, S. 546); in ihr werden die „Denkorgane“ regelrecht zu „Weltzeugungs-“ oder „Naturgeschlechtstheile[n]“ (NO 3, S. 476). Es sei nochmals an die Bemerkung Friedrich Schlegels erinnert: „Der Idealismus betrachtet die Natur wie ein Kunstwerk, wie ein Gedicht. Der Mensch dichtet gleichsam diese Welt, nur weiß er es nicht gleich.“ (F. Schlegel, KSA, Bd. 12, S. 105) Vgl. dazu Vietta, 1983a, S. 217: „Der Phantasiebegriff der Frühromantik wäre zu beschreiben als Selbstdarstellung eines Widerspruchs von nicht aufgelösten und nicht auflösbaren Tendenzen des 18. Jahrhunderts: nämlich dem Vernunft- und Subjektglauben der Aufklärung einerseits, den sich bereits im ganzen 18. Jahrhundert dagegen formierenden subjektkritischen Tendenzen andererseits.“ Kant, KrV, A 176. Kant, KrV, A 182 f. Hühn, 1996, S. 586. Die Einbildungskraft spielt entsprechend in der idealistischen Systemphilosophie eine grundlegende Rolle; wird sie dagegen zu einer poetischen Darstellungsform „operationalisiert“, „kommt die Einbildungskraft vor allem in der romantischen Ironie zum Austrag“ (ebd., S. 582).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Schweben“ hervorbringt.15 Die Einbildungskraft ist also für Fichte ein synthetisches Vermögen, das zwischen den Sphären von Ich und Nicht-Ich vermittelt. Ohne selbst realitätssetzend zu sein (dies ist nur das Ich), setzt es Ich und Nicht-Ich in eine intentionale Wechselwirkung und verbürgt somit die Realität. Dahinter steht die Auffassung, dass innerhalb des Ich ein Wechselverhältnis von endlichem und unendlichem Ich, das wiederum bedingt ist durch und bedingend für das Verhältnis zum Nicht-Ich, oder eine wechselseitige Bestimmung von zentripetaler (reflexiver) und zentrifugaler (nach außen gehender) Richtung der Tätigkeit statthabe. Darum habe das Vermögen der produktiven Einbildungskraft als eine „absolute Tätigkeit, die einen Wechsel bestimmt“16,die „Aufgabe, das schlechthin Unvereinbare im Wissen um seine Unvereinbarkeit gleichwohl zu vereinen“17: Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will [...] – ist das Vermögen der 18 Einbildungskraft. (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 215)

Darüber hinaus soll die Einbildungskraft, die an der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich liegt, die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft gewährleisten. Für Michel und Menninghaus gerät somit schon bei Fichte das Ich in eine „atemberaubende Schraube der Fiktionalisierung“19 – es erweise „sich in seiner Bindung an die Einbildungskraft als ganz und gar nicht verläßliche Grundlage des menschlichen Wissens“20. Eine noch umfassendere Bedeutung besitzt die Einbildungskraft bei Novalis: Während Gefühl, Verstand und Vernunft stets „passiv“ blieben, „ist die Einbildungskraft allein Kraft – allein das Thätige – das Bewegende“21; als eine solche tätige Kraft sei sie die Wurzel aller Erkenntnisvermögen22:

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Fichte, Werke, Bd. 1, S. 410. Vgl. Fichte, Werke, Bd. 1, S. 355 f Hühn, 1996, S. 589. Götze schreibt dazu: „Anstoß, Entgegensetzung und schließliche Synthesis durch die im Zusammenfassen des Entgegengesetzten bestehende Tätigkeit der Einbildungskraft bilden somit die Elemente der Wechselbestimmung. Weil die Einbildungskraft in ihrer vermittelnden Funktion selbst keine feste Stelle in der Struktur des Wechsels einnehmen kann, umschreibt Fichte ihren eigentümlichen Status mit der später von der Frühromantik aufgegriffenen Metapher des Schwebens.“ (Götze, 2001, S. 66) Vgl. Menninghaus, 1989, S. 56. Vgl. Michel, 2006, S. 44. Im Zusammenhang zitiert: „Das Gefühl, der Verst[and] und d[ie] Vernunft sind gewisserweise passiv – welches gleich ihre Namen bezeichnen – hingegen ist die Einbildungskraft allein Kraft – allein das Thätige – das Bewegende. / So muß es auch seyn – Nur Ein Hervorbringendes – Alle vier sind immer zusammen – Sie sind Eins – nur für uns zu trennen durch sich selbst.“ (NO 2, S. 167) Eine ähnliche Auffassung findet sich auch bei A.W. Schlegel, der Vernunft und Phantasie als „das Harmonischentgegengesetzte“ bezeichnet: „in den verlorensten Ahnungen dieser [= der Phantasie] ist noch Vernunft; beide sind gleich schaffend und allmächtig, und ob sie sich wohl unendlich entgegengesetzt scheinen, indem die Vernunft unbedingt auf Einheit dringt, die Fantasie in grenzenlo-

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Die Einb[ildungs]Kr[aft] ist das würckende Princip – Sie h[eißt] Fantasie indem sie auf das Gedächtniß wirckt – und Denkkraft indem sie auf den Verstand wirckt. Die Einb[ildungs]Kr[aft] soll (äußrer) directer und (innrer) indirecter Sinn zugleich werden. Der indirecte Sinn soll directer Sinn und selbstwirckend – lebendig, und d[er] directe Sinn, indirecter Sinn und selbstwirckend zugl[eich] werden. Diese 3 Verwandlungen werden und müssen zugleich – in demselben Momente geschehn. (NO 3, S. 298)

Entsprechend müssten aus der produktiven Einbildungskraft „alle innern Verm[ögen] und Kräfte – und alle äußern Verm[ögen] und Kr[äfte] deducirt werden“.23 Hieraus leitet er ab, dass „Denken und Dichten also einerley“24 seien. Damit wird verständlich, dass die Einbildungskraft für Novalis „der wunderbare Sinn [ist], der uns alle Sinne ersetzen kann“, und der im Gegensatz zu den unter mechanischen Gesetzen stehenden „äußern Sinne“ „in unsrer Willkühr steht“ und „offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußrer Reitze gebunden“ ist.25 Um auf die idealistischen Systementwürfe um 1800 zurückzukommen, ist zu sagen, dass das Konzept der Einbildungskraft innerhalb der Geschichte des Selbstbewusstseins eine entscheidende Rolle spielt. Mit Stolzenberg ließe sich behaupten, dass „das, was Fichte die ‚pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes‘ nennt, seinen Ursprung gar nicht in der Selbstreflexion des Ich, sondern vielmehr in der Reflexion auf das Faktum der Einbildungskraft hat“26. Erst auf der Grundlage dieser Reflexion vermag das Ich zu dem zu gelangen, was man als „Selbstbewusstsein‘ im vollsten Sinne des Wortes ansprechen könnte. So lässt sich der Standpunkt vertreten, dass das Konzept der Geschichte des Selbstbewusstseins in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95, in Schellings System des transcendentalen Idealismus von 1800 und auch noch in Hegels Phänomenologie des Geistes von 1806 ein teleologisches Konzept darstellt, das am Ende seiner philosophischen Historiographie auf ein vollständiges Selbstbewusstsein bzw. ein total vermitteltes Selbstverhältnis zielt. Das Ich gelangt demnach erst als Resultat einer fortgesetzten Reflexion bzw. eines diskursiven Prozesses innerhalb dieser Geschichte zum Selbstbewusstsein, besitzt dieses zu Beginn und ursprünglich jedoch keineswegs.27 Die bei Fichte und Schelling am Anfang stehende Konzeption der intellektuellen Anschauung ist nämlich, wie Stolzenberg sagt, von einer „deskriptiven Leere“, die ihre „inhaltliche Konkretion“ erst dadurch erhält, dass das Ich „in einem eigenständigen, methodisch kontrollierten theoretischen Diskurs seine Funktion, Subjekt des Bewußtseins zu sein“, und damit „sich selber als das Subjekt seiner kognitiven Grund-

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ser Mannigfaltigkeit ihr Spiel treibt, sind sie doch die gemeinschaftliche Grundkraft unseres Wesens.“ (Zit. nach Pikulik, 1992, S. 24) NO 3, S. 413. NO, 3, S. 563. NO 2, S. 650. Während die Einbildungskraft bei Novalis und Schlegel zum Medium absoluter Selbstreflexion wird, kritisiert Jean Paul an den Frühromantikern die „Öde der Phantasterei“ (vgl. Jean Paul, Bd. 5, S. 31 ff). Stolzenberg, 2001, S. 103. Vgl. Claesges, 1974, S. 151; s.a. Stolzenberg, 2001, insbes. S. 96.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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funktionen begreift“, woraus sich als Postulat ableitet: „Das Ich soll Selbstbewußtsein werden.“28 Die vorausgehende Geschichte des Selbstbewusstseins stellt sich als transzendentale Vergangenheit des Ich dar, die jedoch der Erinnerung des natürlichen Bewusstseins prinzipiell unzugänglich ist und die erst die Transzendentalphilosophie aufzuklären vermag.29 Dadurch aber wird das Ich zum Subjekt und zugleich zum Historiographen der Genese seines Selbstbewusstseins.30 Wie Schelling bereits in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus schreibt, soll die Philosophie allerdings „den Gang des menschlichen Geistes selbst, nicht nur den Gang eines Individuums darstellen“.31 Sie betrachtet, so Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur, „das System unserer Vorstellungen nicht in seinem Seyn, sondern in seinem Werden“ und wird dadurch „genetisch, d.h. sie läßt die ganze nothwendige Reihe unserer Vorstellungen vor unsern Augen gleichsam entstehen und ablaufen“.32 Seinen – und Fichtes – Ansatz zusammenfassend schreibt Schelling in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre: Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das Selbstbewußtseyn, und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts anderes als die Geschichte des Selbstbewußtseyns. Jede Handlung der Seele ist auch ein bestimmter Zustand der Seele. Die Geschichte des menschlichen Geistes also wird nichts anderes seyn als die Geschichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er allmählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen Selbstbewußtseyn, gelangt. (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 306)

Der transzendentalen Vergangenheit ist sich also das Ich selbst nicht bewusst; es muss sie sich erst in einem reflexiven Prozess aneignen. So kommt – laut Schelling in seinen Münchener Vorlesungen – das Ich nicht umhin, sich, „was seine Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken“: Selbst der „unbedingteste Idealist“ müsse zugeben, „daß auf keinen Fall das schon bewußte Ich die Welt produciren kann“, sondern vielmehr auf eine „Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseyns“ bzw. auf eine „Thätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtseyn kommt“, schließen: 28 29

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Vgl. Stolzenberg, 2001, S. 97 f. Vgl. Claesges, 1974, S. 157. Schelling setzt diesen Prozess der Selbstbewusstwerdung in Bezug zum Organizismus, indem er die Selbstanschauung des Ich als „eine sich selbst organisirende Natur“ bezeichnet, die von sich selbst zugleich Ursache und Wirkung sei (Schelling, Werke, Bd. 1, S. 310); diese Selbstorganisation des Ich zeige sich wiederum in der äußeren Welt als „allgemeine Tendenz zur Organisation“ bzw. als zweckmäßiges Weltsystem – es scheint daher angemessen, Schellings genetisches (Selbst-)Bewusstseinsmodell als eine organizistische Subjekttheorie zu bezeichnen. Stolzenberg sieht darin bei Fichte eine „neue Konzeption von Rationalität“: „In ihr ist das Ich nicht nur das Subjekt, sondern zugleich auch der Autor der Geschichte seines Selbstbewußtseins.“ (Stolzenberg, 2001, S. 101) Schelling, Werke, Bd. 1, S. 217. Ebd., S. 689.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Dieses bloße Resultat [...] ist dann eben die Außenwelt, der sich eben darum das Ich nicht als einer von ihm selbst producirten, sondern nur als einer zugleich mit ihm da seyenden bewußt seyn kann. (Schelling, Werke, Bd. 5, S. 162 ff)

Um diese empirische Realität als Produkt der eigenen Tätigkeit zu erkennen, bedarf es der „Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens, des sich Bewußtwerdens selbst“; sie ist nur „durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transcendentale Vergangenheit dieses Ich zu erklären“.33 Eine solche Selbstaufklärung des natürlichen Bewusstseins, in deren Rahmen es „den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn – selbst mit Bewußtseyn zurückleg[t]“34, kommt also einer Anamnese gleich.35 Dies versteht Schelling als „Versuch, den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen“36, während er in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie zu Fichtes genetischer Subjekttheorie kritisch anmerkt, dass in ihr „der Handel zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich [...] auf die lange Bank eines unendlichen Progressus hinausgeschoben“ sei und dabei ein Zirkel entstehe, „innerhalb dessen ein Nichts durch die Relation zu einem andern Nichts Realität bekommt“.37 Zu dieser Anamnese, dieser Aneignung der transzendentalen Vergangenheit bedarf das natürliche Bewusstsein jedoch der Philosophie: dem realen Ich tritt ein philosophierendes Ich gegenüber, das jedoch selbst bloßer Zuschauer der Subjektgenese ist.38 Transzendentalphilosophie wird, so Claesges, dann zur Geschichte des Selbstbewusstseins, wenn sie das, was dem natürlichen Bewußtsein als seine Welt gegenübertritt, als Resultat einer Genesis auffaßt, einer Genesis, die nicht für das natürliche Bewußtsein als solches ist. Das natürliche Bewußtsein ist vielmehr so in diese Genesis einbezogen, daß es als Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein selbst Resultat der gleichen Genesis ist, der es auch seine Welt verdankt. Damit verbindet sich hier mit der für alle Transzendentalphilosophie konstitutiven Unterscheidung des ‚für uns‘ von dem ‚für es‘ ein im Begriff von Geschichte implizierter Un33

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Schelling, Werke, Bd. 5, S. 162. Claesges führt dazu aus: „Dasjenige, was für das entwickelte Ich als dem natürlichen Bewusstsein eine ihm vorgegebene Welt ist, ist in Wahrheit oder für uns ein System von reflektierenden und produzierenden Handlungen des Ich, nämlich seiner idealen (anschauenden) Tätigkeit. All diese Handlungen sind wesentlich unbewußt, sie kommen als Handlungen dem Ich gar nicht zum Bewußtsein. Dennoch hat das Ich seine Welt aufgrund dieser Handlungen. [...] Was das natürliche Bewußtsein für eine von ihm und seinem Wissen unabhängige Welt von Objekten ansieht, ist in Wahrheit sein eigenes Produkt.“ (Claesges, 1974, S. 155 f) Schelling, Werke, Bd. 5, S. 165. Es ließe sich behaupten, dass die genetische Subjekttheorie Fichtes und Schellings nicht nur teleologisch, sondern aufgrund ihres Theorems der Aneignung der transzendentalen Vergangenheit zugleich ‚archäologisch‘ und damit ‚quasi-psychoanalytisch‘ verfasst sei. Vgl. auch ebd., S. 167: „Die Schranke, welche Fichte außer das Ich fallen ließ, fiel auf diese Art in das Ich selbst, und der Proceß wurde ein völlig immanenter [...].“ Schelling, Werke, Erg.Bd. 1, S. 410. In seinen Münchener Vorlesungen vergleicht Schelling das Verhältnis zwischen dem wirklichen und dem philosophierenden Ich mit dem Sokratischen Gespräch zwischen Schüler und Meister (vgl. Werke, Bd. 5, S. 168).

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terschied. Geschichte meint einmal den Ablauf der dargestellten oder darstellbaren Ereignisse (res gestae), zum andern die Darstellung dieser Ereignisse (historia rerum gestarum). Geschichte des Selbstbewußtseins meint also die transzendentalphilosophische Erklärung als die 39 Darstellung einer Geschichte, die das natürliche Bewußtsein zu ihrem Resultat hat.

Die Unterscheidung des ‚für uns‘ von dem ‚für es‘ wird von Fichte und Schelling durch den Begriff des Unbewussten näher bestimmt. Es entsteht so jene „doppelte Reihe“, durch die nach Schelling die Philosophie als einzige Wissenschaft charakterisiert sei.40 Pragmatisch ist diese Subjektivitätsphilosophie deshalb, weil sie an ihrem Ausgang das Ich als reine Tätigkeit bestimmt; folglich ist das Selbstbewusstsein in diesem Sinne ein durch und durch praktisches. Bei dem Konzept einer Geschichte des Selbstbewusstseins handelt es sich zugleich um eine agonale Subjektivitätstheorie, insofern nicht nur ihr Ausgangspunkt „der ursprüngliche Widerstreit im menschlichen Geiste“, nämlich „das Heraustreten aus dem Absoluten“ ist41, sondern der beständige Widerspruch im Ich den Prozess der Subjektgenese auch fortwährend erhält und den „Motor der Geschichte des Selbstbewußtseins“42 darstellt: Das movens der Geschichte des Selbstbewusstseins ist eine Wechselwirkung von realer und idealer Tätigkeit43: Durch den Anstoß auf das absolute Ich, das als Indifferenz von idealer und realer Tätigkeit bestimmt ist, wird jener Widerstreit entfacht und das Ich dadurch in Bewegung gesetzt. Die durch den Anstoß ein für allemal festgestellte reale Tätigkeit kehrt als Trieb die ursprünglich reflexive Richtung der idealen Tätigkeit um; diese wird nach außen getrieben und gewinnt den 44 Charakter der Produktion.

Durch den Anstoß auf „die ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit des Ich“45 wird, so Fichte, die zentripetale von der zentrifugalen Tätigkeit des Ich, die eigentlich identisch seien, am Anfang der Geschichte des Selbstbewusstseins unterschieden. Dabei steht zu Beginn, als „der anfängliche Zustand des Ich“, das Gefühl des Zwangs und des Beschränktseins46, das sich das Ich durch die Setzung des Nicht-Ich deutet, dem es als empfindend gegenübersteht47:

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Claesges, 1974, S. 13. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 398. Schelling, Werke, Bd. 1, S. 218. Vgl. Stolzenberg, 2001, S. 111 f. Vgl. Claesges, 1974, S. 135. Claesges führt aus, dass die von Reinhold im Satz des Bewusstseins festgestellte dreigliedrige Struktur des Bewusstseins, wonach in ihm die Vorstellung von Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen wird, von Fichte und Schelling durch ein Wechselspiel der realen und idealen Tätigkeit des Ich erklärt werde (vgl. ebd., S. 147). Ebd., 1974, S. 154. Fichte, Werke, Bd. 1, S. 421. Genauer betrachtet, läuft die Reflexion über mehrere Stufen: vom Gefühl als bloßer „Äußerung des Gleichgewichts“, über das Selbstgefühl, durch das „das Ich als das Fühlende und das Gefühlte zugleich gesetzt“ und „zugleich als tätig und als leidend bestimmt“ ist, und das Gefühl des Sehnens,

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Soll nun die Erklärung des natürlichen Bewußtseins Geschichte des Selbstbewußtseins sein, soll diese selbst möglich sein, so muß es einen Anfang derselben geben, durch den das sich Entwickelnde als das ‚Subjekt‘ der Geschichte bereits in Ansatz gebracht ist. Deshalb war der Anfang der Geschichte des Selbstbewußtseins merkwürdig zweideutig. Wir hatten als Anfang genannt: 1. den Anstoß auf das absolute Ich; 2. einen anfänglichen Zustand des Bewußtseins (Gefühl bzw. unbewußte Anschauung). […] Nur das zuletzt Genannte kann Anfang der Ge48 schichte des Selbstbewußtseins sein: der anfängliche Zustand.

Damit aber ist die „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“49 für Fichte in Gang gebracht. Ihr Zielpunkt ist der Zustand, in dem sich das philosophierende Ich bereits von Anfang an befindet50, dessen Reflexion daher den Charakter der Wiederholung trägt: Das zu untersuchende Ich wird einst selbst auf dem Punkte ankommen, auf welchem jetzt der Zuschauer steht, dort werden beide sich vereinigen, und durch diese Vereinigung wird der aufgegebene Kreisgang geschlossen sein. (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 482 f)

Wie später bei Schelling ist also auch bereits Fichtes genetische Subjekttheorie durch eine doppelte Reihe charakterisiert, wobei aber zu betonen ist, dass es sich insofern um ein fiktionales Konzept handelt, als diese Geschichte niemals ins natürliche Bewusstsein fällt, sondern in diesem alles mit einem Schlage dasteht. Der Zielpunkt der ersten Reihe (des realen Ich) ist, wie gesagt, die Einbildungskraft, die damit zugleich den Ursprung und den Anfang der „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“ (also der zweiten Reihe) darstellt.51 Die Geschichte des (Selbst-)Bewusstseins entwikkelt sich bei Fichte darüber hinaus aus der Forderung, dass das Ich ‚schlechthin bei sich selbst sein‘, ‚schlechthin frei‘ sein soll, aber immer wieder vor eine Schranke stoße und ‚bei Anderem‘ sei. Sobald das Ich die gegebene Schranke aufhebe, ergebe sich eine andere, die wiederum ihrerseits aufzuheben sei. Auf diese Weise deduziert Fichte die einzelnen Phasen der Subjektgenese.52 Bei Schelling hingegen besteht die Geschichte des Selbstbewusstseins in einer Potenzierung der Selbstanschauung im Prozess einer

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durch das etwas außer dem Ich gesetzt ist, bis zur eigentlichen Setzung des Nicht-Ich (vgl. Claesges, 1974, S. 117 ff). Fichte selbst formuliert dies folgendermaßen: „Das Ich fühlt sich begrenzt, und setzt das angeschaute Nicht-Ich, als dasjenige, wodurch es begrenzt ist.“ (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 560) Vgl. auch Claesges, 1974, S. 170: „Das in der Geschichte des Selbstbewußtseins abzuleitende natürliche Bewußtsein ist dadurch bestimmt, daß zwar alles, was ist, für es ist, nicht aber alles, was für es ist, das Ich selbst ist; vielmehr gehört unter solches, was für das Ich ist, notwendig das Nicht-Ich.“ Claesges, 1974, S. 176. Fichte, Werke, Bd. 1, S. 415. Fichte gibt allerdings einschränkend zu bedenken: „Das Ich als philosophierendes Subjekt ist unstreitig nur vorstellend; das Ich als Objekt des Philosophierens könnte wohl noch etwas mehr sein. Das Vorstellen ist die höchste und absolut-erste Handlung des Philosophen als solchen; die absolut-erste Handlung des menschlichen Geistes könnte wohl eine andre sein.“ (Fichte, Werke, Bd. 1, S. 211) Stolzenberg, 2001, S. 103. Vgl. hierzu auch Behler, 1972, insbes. S. 177.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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zunehmenden Objektivierung auf verschiedenen Stufen (oder „Epochen“).53 Dieser Prozess findet seinen Abschluss erst im Phänomen der Kunst: die ästhetische sei die vollständig objektivierte intellektuelle Anschauung und stelle den „Schlußstein im Gewölbe“ des transzendentalen Idealismus dar.54 Dabei handelt es sich um eine Entfaltungstheorie, insofern alles in der Geschichte des Selbstbewusstseins sich analytisch Auseinanderlegende bereits im synthetischen Akt der intellektuellen Anschauung, der am Anfang des Prozesses steht, enthalten sei. Das Selbstbewusstsein sei aufzufassen als „Ein absoluter Akt“55: Um aber den ganzen Inhalt dieses Akts zu finden, sind wir genöthigt ihn auseinanderzulegen und in mehrere einzelne Akte gleichsam zu zersplittern. Diese einzelnen Akte werden vermittelnde Glieder jener Einen absoluten Synthesis seyn. [...] Diese durchgängige Identität des ideellen und reellen Gesetztseyns im Akt des Selbstbewußtseyns kann in der Philosophie nur als successiv entstehend vorgestellt werden. [...] Der Begriff von dem wir ausgehen, ist der des Ichs, d.h. des Subjekt-Objekts, zu dem wir uns durch absolute Freiheit erheben. Durch jenen Akt nun ist für uns, die wir philosophieren, etwas in das Ich als Objekt, deßwegen aber noch nicht in das Ich als Subjekt gesetzt [...], unsere Untersuchung wird also so lange fortgehen müssen, bis dasselbe, was für uns in das Ich als Objekt gesetzt ist, auch in das Ich als Subjekt für uns gesetzt ist, d.h. so lange, bis für uns das Bewußtseyn unseres Objekts mit dem unsrigen zusammentrifft [...]. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 388 f)

Entsprechend bestimmt Schelling die Philosophie als „freie Nachahmung dieses Akts“, wobei der Akt selbst „außerhalb aller Zeit“ liege, während „jener secundäre Akt [der Nachahmung] nothwendig in einen bestimmten Zeitmoment“ falle: 53

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Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 631, wo er sagt, dass der „Zusammenhang der TranscendentalPhilosophie nur auf einem fortwährenden Potenziren der Selbstanschauung beruhe“. Als „die unveränderlichen und für alles Wissen feststehenden Momente in der Geschichte des Selbstbewußtseyns“ werden genannt: der Akt der Selbstanschauung überhaupt, Empfindung, produktive Anschauung, Reflexion, absoluter Willensakt, Naturtrieb, kategorischer Imperativ, Willkür und Kunstprodukt (vgl. ebd., S. 631 ff). Vgl. Marx, 1977, S. 74: „Die Tendenz der Intelligenz, sich anzuschauen, kann nur in einer vollkommenen Selbstanschauung zur Ruhe gelangen, und diese ist [...] die ästhetische des Genies.“ Die Suche nach einem „absoluten Princip des Wissens“ als „ein Letztes, von welchem alles Wissen sich anfängt“, führt Schelling auf das Selbstbewusstsein, das „ein Absolutes [..], das von sich selbst Ursache und Wirkung ist“, bzw. „die absolute Identität des Subjektiven und Objektiven“ darstelle (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 354 ff). Für Schelling ist das Selbstbewusstsein deshalb „der lichte Punkt im ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet“ (ebd., S. 357). Es sei „eine absolut-freie Handlung“, wobei das Ich als „reiner Akt, reines Thun“ (ebd., S. 368) bestimmt wird. Das Wissen des Selbstbewusstseins ist, so Schelling weiter, „eine Anschauung, welche überhaupt frei producirend, und in welcher das Producirende mit dem Producirten eins und dasselbe ist“; es trägt also den Charakter einer intellektuellen Anschauung. Eine solche Anschauung ist das Ich, „weil durch das Wissen des Ichs von sich selbst das Ich selbst (das Objekt) erst entsteht“ (ebd., S. 369): „Der ewige, in keiner Zeit begriffene Akt des Selbstbewußtseins, den wir Ich nennen, ist das, was allen Dingen das Daseyn gibt, was also selbst keines andern Seyns bedarf, von dem es getragen wird, sondern sich selbst tragend und unterstützend, objektiv als das ewige Werden, subjektiv als das unendliche Produciren erscheint.“ (ebd., S. 376)

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Nun dauert [...] jener ursprüngliche Akt des Selbstbewußtseyns immer fort, denn die ganze Reihe meiner Vorstellungen ist nichts anderes als Evolution jener Einen Synthesis. [...] Solange das Ich in der ursprünglichen Evolution der absoluten Synthesis begriffen ist, ist nur Eine Reihe von Handlungen, die der ursprünglichen und nothwendigen; sobald ich diese Evolution unterbreche, und mich freiwillig in den Anfangspunkt der Evolution zurückversetze, entsteht mir eine neue Reihe, in welcher frei ist, was in der ersten nothwendig war. Jene ist das Origi56 nal, diese die Copie oder Nachahmung. (ebd., S. 396 f)

So erscheint „die gesammte Philosophie [...] als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseins, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient“ – und zwar i.S. einer „Stufenfolge von Anschauungen [..], durch welche das Ich bis zum Bewußtseyn in der höchsten Potenz sich erhebt“57: Die Philosophie kann also nur diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewußtseyns gleichsam Epoche machen, aufzählen, und in ihrem Zusammenhang miteinander aufstellen. [...] Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseyns, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis successiv zusammengesetzt wird. Das progressive Princip in dieser Geschichte ist die ideelle als unbegrenzbar vorausgesetzte Thätigkeit. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 398)

Als „höchste Aufgabe der Transcendental-Philosophie“ bestimmt Schelling die „Beantwortung der Frage: wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen, und die Gegenstände als sich richtend nach den Vorstellungen gedacht werden?“58 Dieser Widerspruch, der die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie begründet, sei auflösbar nur durch die Annahme, „daß dieselbe Thätigkeit, welche im freien Handeln mit Bewußtseyn produktiv ist, im Produciren der Welt ohne Bewußtseyn produktiv sey“. Hieraus folgert Schelling als Postulat, „daß im Subjektiven, im Bewußtseyn selbst, jene zugleich bewußte und bewußtlose Thätigkeit aufgezeigt werde“: Eine solche Thätigkeit ist allein die ästhetische [...]. Die idealische Welt der Kunst und die reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben Thätigkeit; das Zusammentreffen beider (der bewußten und bewußtlosen) ohne Bewußtseyn gibt die wirkliche, mit Bewußtseyn die ästhetische Welt. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 349)

Im transzendentalen Philosophieren sei das philosophierende Subjekt „immer zugleich das Angeschaute und das Anschauende“; während „die Produktion in der Kunst nach 56

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Vgl. dazu Marx, 1977, S. 85: „Um die Genese dieses Selbstobjektivierens vor den Blick zu bringen, wird hinsichtlich ein und desselben Ichs ein Unterschied von zwei ‚Standpunkten‘ eingeführt. Der Standpunkt des transzendental philosophierenden Ich ist derjenige, der die Nachkonstruktion der in ursprünglicher Weise sich selbst konstruierenden Vernunft leistet, indem er die Bedingungen der Konstitution des Selbstbewusstseins aufdeckt. Durch die ‚freie Nachahmung‘ der ursprünglichen Sukzession jener ursprünglichen, ‚ersten Reihe‘ von Handlungen – durch deren Rekonstruktion in einer zweiten Reihe soll die Notwendigkeit des Mechanismus des ursprünglichen Entstehens aufgezeigt werden.“ Schelling, Werke, Bd. 2, S. 331. Ebd., S. 348.

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außen sich richtet, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektiren“.59 Wie Fichte geht also auch Schelling von einem Widerspruch im Ich aus, nämlich von der „nothwendige[n] Coexistenz einer freien, aber begrenzten, und einer unbegrenzbaren Thätigkeit in einem und demselben identischen Subjekt“.60 Das Ich, das „ursprünglich nur [...] unendliche Thätigkeit“61 sei, müsse, „um für sich selbst zu entstehen [...], seinem Produciren Grenzen setzen.“ Die Lösung der Aufgabe: „das Ich also soll begrenzt werden, ohne daß es aufhöre unbegrenzt zu seyn“ sei demnach „nur dadurch möglich, daß es sich selbst als begrenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt“62: Das Ich ist unendlich für sich selbst, heißt: es ist unendlich für seine Selbstanschauung. Aber das Ich, indem es sich anschaut, wird endlich. Dieser Widerspruch ist nur dadurch aufzulösen, daß das Ich in dieser Endlichkeit sich unendlich wird, d.h. daß es sich anschaut als ein unendliches Werden. [...] Die Bedingung alles Werdens [..] ist die Begrenzung oder die Schranke. [...] Die Schranke also soll aufgehoben werden und zugleich nicht aufgehoben werden. Aufgehoben, damit das Werden ein unendliches, nicht aufgehoben, damit es nie aufhöre, ein Werden zu seyn. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 383)

Mit Hilfe des „Mittelbegriff[s] einer unendlichen Erweiterung der Schranke“63 versucht Schelling also den Widerspruch aufzulösen, dass „die Schranke zugleich reell und ideell seyn“ muss: „Reell, d.h. unabhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht wirklich begrenzt ist, ideell, abhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht sich selbst setzt, anschaut als begrenzt.“64 Anders gesagt: der „Widerstreit im Ich“ sei „nur aufzulösen durch einen Gegensatz, der im Selbstbewußtseyn selbst statthat“, nämlich durch den Gegensatz von ideeller und reeller65 bzw. von begrenzter, zentrifugaler und begrenzender, zentripetaler Tätigkeit66, der nur durch eine dritte synthetische Tätigkeit „in einer unendlichen Reihe von Handlungen vereinigt“ werden könne: Wir, die wir philosophieren, wissen, daß das Begrenztseyn des Objektiven seinen einzigen Grund im Anschauenden oder Subjektiven hat. Das anschauende Ich selbst weiß es nicht, und kann es nicht wissen [...]. Es ist darum nothwendig, daß das Anschauende, das im Objektiven nur sich selbst suchende, das Negative in ihm finde als nicht durch sich selbst gesetzt. [...] Das Ich kann also sich nicht anschauen als begrenzt, ohne dieses Begrenztseyn als Affektion eines Nicht-Ich anzuschauen. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 403)

Das anschauende Ich deutet deswegen, so Schelling, die Empfindung als „Affektion eines Dings an sich“67, deren „Realität“ darauf beruht, „daß das Ich das Empfundene 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., S. 351. Ebd., S. 379. Ebd., S. 380. Ebd., S. 382. Ebd., S. 384. Ebd., S. 385. Ebd., S. 386. Ebd., S. 390 ff. Ebd., S. 404.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

nicht anschaut als durch sich gesetzt“68, d.h. „der Akt, wodurch alle Begrenztheit gesetzt wird, als Bedingung alles Bewußtseyns, selbst nicht zum Bewußtseyn kommt“69 und der Gegensatz zwischen Ich und Ding an sich „nicht für das Ich selbst, sondern nur für uns im Ich gesetzt“ ist. Dies habe zur Konsequenz, dass „im Empfinden überall nicht der Begriff einer Handlung, sondern nur der eines Leidens gedacht“70 wird. Dass hingegen das Ding an sich „nichts anderes als der Schatten der ideellen, über die Grenze hinausgegangenen Thätigkeit, der dem Ich durch die Anschauung zurückgeworfen wird, und insofern selbst ein Produkt des Ichs“71 ist, „sieht nur der reflektierende Philosoph“.72 Schelling unterscheidet also in der ersten Epoche des Selbstbewusstseins drei Akte: (1) die noch unbewusste Konstruktion aus dem Ich als Subjekt-Objekt; (2) die Empfindung mit ihrem Gegensatz zwischen Ich und Ding an sich, der allerdings nicht für das Ich selbst ist und (3) denjenigen Akt, „wodurch das Ich sich als empfindend zum Objekt wird“, nämlich die produktive Anschauung mit ihrem Produkt der Materie73: Wenn das Ich im ersten Akte nur als Objekt, im zweiten nur als Subjekt angeschaut wird, so wird es in diesem als beides zugleich zum Objekt, versteht sich für den Philosophen, nicht für sich selbst. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 452)

Im Rahmen dieser Untersuchung können wir auf Schellings Darstellung der Geschichte des Selbstbewusstseins nicht in der gebotenen Ausführlichkeit eingehen. Nur so viel sei gesagt, dass die 2. Epoche dieser Geschichte von der produktiven Anschauung bis zur Reflexion reicht, deren „absolute Abstraktion“ i.S. einer vollständigen Erhebung über alles Objektive insofern das Ende der theoretischen Philosophie74 markiert, als sich das reelle Ich erst in der Reflexion „als begrenzt durch die objektive Welt“ erkennt und dadurch Subjekt und Objekt zugleich anschaut.75 Diese absolute Abstraktion sei aber, so Schelling, „nur erklärbar aus einem Selbstbestimmen, oder einem Handeln der Intelligenz auf sich selbst“.76 In dieser Autonomie identifiziert Schelling das gemeinschaftliche Prinzip der theoretischen und praktischen Philosophie – mit dem Unterschied, dass 68 69 70 71 72

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Ebd., S. 406. Ebd., S. 409. Ebd., S. 411. Ebd., S. 422. Ebd., S. 425; vgl. S. 461: „Ebensowenig als die äußere Anschauung als Akt kommt auch das Ding an sich im Bewußtseyn vor, es ist, durch das sinnliche Objekt aus dem Bewußtseyn verdrungen, bloß ideeller Erklärungsgrund des Bewußtseyns, und liegt, wie das Handeln der Intelligenz selbst, für die Intelligenz jenseits des Bewußtseyns.“ So ist die materielle Wirklichkeit laut Schelling „am Ende doch nur unsere eigne ideelle, zum Ding an sich nur hypostasirte Thätigkeit“. Schelling ist dennoch der Überzeugung, „daß ein System, welches den Ursprung der Dinge in einer Thätigkeit des Geistes sucht, welche ideell und reell zugleich ist, eben deßwegen, weil es der vollkommenste Idealismus ist, zugleich der vollkommenste Realismus seyn müßte“ (ebd., S. 428). Vgl. ebd., S. 450 ff. Ebd., S. 524 u. 532. Vgl. ebd., S. 525. Ebd., S. 532.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

387

in der ursprünglichen Autonomie der theoretischen Philosophie „das Ich absolut sich selbst bestimmend [ist], aber ohne es für sich selbst zu seyn“, in der praktischen dagegen das Ich „ideell entgegengesetzt nicht dem reellen, sondern dem zugleich ideellen und reellen, eben deßwegen aber nicht mehr ideell, sondern idealisirend“77 und zugleich „mit Bewußtseyn producirend, d.h. realisirend“ ist78: Dasselbe, was in uns handelt, wenn wir frei handeln, ist dasselbe, was in uns anschaut, oder, die anschauende und praktische Thätigkeit ist Eine [...]. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 536)

Deswegen beschreibe der „Gegensatz zwischen handelndem und anschauendem Ich“ nur „Erscheinungen des Ichs“.79 In dieser Perspektive bedeutet der Satz ‚Ich = Ich‘ so viel als: „Ich, der ich weiß, bin derselbe, der ich bin, mein Wissen und mein Seyn erschöpfen sich wechselseitig, das Subjekt des Bewußtseyns und das der Thätigkeit sind Eines.“80 Allerdings wird „die Intelligenz nur durch das Medium des Wollens sich selbst Objekt“: Erst im Wollen wird [...] das Ich als das Ganze, was es ist, d. h. als Subjekt und Objekt zugleich, oder als Producirendes, sich zum Objekt. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 534)

Die Pointe Schellings bei der Entwicklung der Grundsätze der praktischen Philosophie im Rahmen einer Geschichte des Selbstbewusstseins ist es nun, dass die Objektivität der Welt erst durch andere Intelligenzen verbürgt ist81, insofern die freie und unbeschränkte Tätigkeit der Intelligenz erst durch das Handeln anderer Intelligenzen eingeschränkt wird.82 Daher sind diese anderen Intelligenzen für Schelling „gleichsam die ewigen Träger des Universums“83, wobei die darin waltende „vorherbestimmte Harmonie zwischen verschiedenen Intelligenzen“84, „die aufeinander durch Freiheit einwirken 77 78 79 80 81

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Das Ideal bestimmt Schelling als den „Trieb, das Objekt, wie es ist, in das Objekt, wie es seyn sollte, zu verwandeln“ (ebd., S. 559). Ebd., S. 535. Ebd., S. 565. Ebd., S. 570. Vgl. ebd., S. 555 f: „Die Welt ist unabhängig von mir, obgleich nur durch das Ich gesetzt, denn sie ruht für mich in der Anschauung anderer Intelligenzen, deren gemeinschaftliche Welt das Urbild ist, dessen Übereinstimmung mit meinen Vorstellungen allein Wahrheit ist.“ Genauer formuliert, sieht Schelling „die Intelligenz in ihrer Freiheit“ zwar als „eingeschränkt durch die objektive Welt“ an, betont aber zugleich, dass sie „innerhalb dieser Eingeschränktheit wieder uneingeschränkt [sei], so daß sich ihre Thätigkeit z.B. auf jedes beliebige Objekt richten kann“ (ebd., S. 545). Nun sei aber, so Schelling weiter, „nicht zu begreifen, wie sich ihre ursprünglich völlig unbestimmte Thätigkeit auf diese Weise beschränken werde, wenn ihr nicht etwa die Richtung auf die übrigen unmöglich gemacht ist, welches […] nur durch Intelligenzen außer ihr möglich ist“. Deshalb können die „Grenzpunkte meiner freien Thätigkeit [...] nur andere freie Thätigkeiten [sein], d.h. Handlungen von Intelligenzen außer mir“ (ebd., S. 547), sodass schließlich „unmittelbar durch das Setzen einer Passivität in mir“ eine „Aktivität außer mir als nothwendiges Correlat [...] gesetzt“ sei (ebd., S. 548). Ebd., S. 556. Ebd., S. 540.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

sollen“85 „nur aus unsrer gemeinschaftlichen Natur“ als dem „Boden, auf welchem alle Wechselwirkung zwischen Intelligenzen geschieht“, zu erklären sei.86 Erst die anderen Intelligenzen ermöglichen es also dem Ich im Prozess seiner Selbstbewusstwerdung, sich als autonom anzuschauen. Die Potenzierung der Selbstanschauung in der Geschichte des Selbstbewusstseins erreicht damit die nächste Stufe, wobei – „wie aus dem ursprünglichen Akt des Selbstbewußtseyns eine ganze Natur sich entwickelte“ – aus dem Akt „der freien Selbstbestimmung eine zweite Natur“ hervorgehe.87 In dieser zweiten Natur herrsche das „Naturgesetz zum Behuf der Freiheit“ oder das „Rechtsgesetz“ – „die zweite Natur, in welcher dieses Gesetz herrschend ist“, ist also „die Rechtsverfassung“.88 Ihre Realisierung ist für Schelling, der sich hier Kant und Fichte anschließt, der eigentliche Zweck der Weltgeschichte, die er emphatisch als „eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten“89 feiert. Mit dieser Ableitung der intersubjektiven Verhältnisse, der Rechtsverfassung und der Weltgeschichte im Rahmen einer Geschichte des Selbstbewusstseins hat Schelling großen Einfluss auf Hegel ausgeübt, insofern er erstmals auch die Realgeschichte in den Prozess der transzendentalphilosophischen Anamnese einbezogen hat90: Wenn „diese bestimmte Individualität dieses bestimmte Zeitalter von diesem Charakter, diesem Fortschritt in der Cultur u.s.w. voraus[setzt]“, ein solches Zeitalter aber „nicht möglich ohne die ganze vergangene Geschichte“ ist91, so muss sich nach Überzeugung Schellings das Ich auch diesen Teil seiner transzendentalen Vergangenheit aneignen, will es dem Postulat: „Das Ich soll Selbstbewußtsein werden“ genügen.92 Es frägt sich nun, in welchem Verhältnis die genetischen Subjekttheorien Fichtes und Schellings (sowie Hegels) zu den um 1800 entstehenden Bildungsromanen stehen. Sollten die transzendentalphilosophischen ‚Geschichten des Selbstbewusstseins‘ ein Konkurrenzunternehmen zum Bildungsroman darstellen, sollten sie als die ‚wahren‘ philosophischen Bildungsromane diesen vielleicht gar ersetzen? Eine Neuauflage des „alten 85 86 87 88 89 90 91 92

Ebd., S. 543. Ebd., S. 544. Ebd., S. 537. Ebd., S. 583. Ebd., S. 603. Auf Hegels Phänomenologie des Geistes kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Ulrichs, 2010b. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 590. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die folgende Bemerkung Schellings in einem neuen Licht: „Jene Successionsreihe, in welche dein Bewußtseyn eingegriffen hat, ist nicht bestimmt durch dich, insofern du dieses Individuum bist, denn insofern bist du nicht das Producirende, sondern gehörst selbst zum Producirten. [...] Daß, was jenseits deines Bewußtseyns liegt, dir erscheine als unabhängig von dir, darin besteht eben deine besondere Beschränktheit. [...] Jene absolute Synthesis ist eine Handlung, die außer aller Zeit geschieht. Mit jedem empirischem Bewußtseyn beginnt die Zeit gleichsam aufs neue; gleichwohl setzt jedes empirische Bewußtseyn eine Zeit schon als verflossen voraus, denn es kann nur an einem bestimmten Punkte der Evolution beginnen.“ (ebd., S. 484 f)

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Streites“ zwischen Philosophie und Dichtung also auch auf diesem Feld? Dagegen scheint zu sprechen, dass in den idealistischen Subjekttheorien die Geschichte des allgemeinen (Selbst-)Bewusstseins dargestellt wird, während in der ‚schönen Literatur‘ anhand einer zentralen Figur eine individuelle Bildungsgeschichte erzählt wird. Gewiss beansprucht auch diese allgemeine Geltung und soll musterhaft sein; aber sie vollzieht sich doch in konkreten – wenn auch fiktionalen – Lebenszusammenhängen und damit im Modus der Anschaulichkeit. Bereits Schelling war der Auffassung, dass die Individualität – als „der synthetische Punkt, oder der Wendepunkt der theoretischen und praktischen Philosophie“93 – „das Unbegreifliche und Unerklärbare der Philosophie“ sei94; sie darzustellen vermöge allein die Kunst, die darum in den Augen Schellings der Philosophie in dieser Hinsicht überlegen ist. Daran erkennt man, dass sich die Grenze so einfach nicht ziehen lässt. Zu berücksichtigen ist zunächst, dass zumindest Schellings – und auch Hegels – Subjekttheorie dadurch ausgezeichnet ist, dass sie die Realgeschichte sowie die kulturellen Traditionszusammenhänge einzubeziehen versucht, sodass die Geschichte des Selbstbewusstseins eine empirische Sättigung erhält, die sie bei Fichte nicht hat. Dadurch aber gerät die genetische Subjekttheorie in größere Nähe zur Literatur, insbesondere zum Bildungsroman.95 Unter Rückgriff auf Ricœurs Konzept der narrativen Identität ließe sich behaupten, dass eine Geschichte des Selbstbewusstseins sinnvoll nur dann erzählt werden könne, wenn die kulturellen Kontexte und deren Zeichensysteme, in die das Subjekt eingebettet ist und innerhalb derer es seine Identität ausbildet96, Berücksichtigung fänden. Dies jedoch kann, so müsste man mit Ricœur sagen, die literarische Erzählung besser leisten als jede philosophische Subjekttheorie. Ricœur selbst geht sogar so weit zu behaupten, dass „die Zeitlichkeit im direkten Diskurs einer Phänomenologie nicht sagbar ist, sondern die Vermittlung des indirekten Diskurses der Narration erfordert“.97 Nimmt man hinzu, dass Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen – nachdem er zuvor das Ende der Kunst verkündet hat98 – von der Zukunft die „Kunst des Humanus“

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Schelling, Werke, Bd. 2, S. 552. Ebd., S. 410. Laut Schwanitz deutet Hegels Phänomenologie des Geistes die „Geschichte als ein[en] sich selbst vorwärts treibende[n] Prozeß der Aufklärung über sich selbst [..], der erst am Ende im Zustand völliger Selbsttransparenz zur Ruhe kommt“. Damit aber folge die Phänomenologie in ihrer Darstellung des dialektischen Geschichtsprozesses den Erzählkonventionen des Romans, insofern dieser in ihrer „ständig neu aufgefüllte[n] Differenz zwischen enger Erzählperspektive und erweiterter Erzählperspektive“ ebenfalls eine dialektische Methode anwende (vgl. Schwanitz, 1990, S. 183). Ricœur hat dafür den Begriff der Ipseität geprägt, die er bestimmt als „Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat“. Dieser Begriff sei „nicht bloß aufs Individuum, sondern auch auf die Gemeinschaft anwendbar“. (Vgl. Ricœur, 1988 ff, Bd. 3, S. 396) Ricœur, 1988 ff, Bd. 3, S. 389. Hegel, Werke, Bd. 13, 25 u. 142.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

erwartet, die das Leben in seiner Totalität darstellen soll99, so kann man sich auch von dieser Seite der These nähern, dass der Bildungsroman und die transzendentalphilosophische Geschichte des Selbstbewusstseins Konkurrenzunternehmen darstellen.100 Entscheidenden Rückhalt bekommt diese These, wenn man die Funktion der Kunst in Schellings System des transcendentalen Idealismus betrachtet: Im Prozess der Potenzierung der Selbstanschauung im Rahmen der Geschichte des Selbstbewusstseins nimmt die Kunstanschauung die höchste Stufe ein. Erst in ihr – als einer Anschauung, „durch welche in einer und derselben Erscheinung das Ich für sich selbst bewußt und bewußtlos zugleich ist“101 – wird „dem Ich selbst der letzte Grund der Harmonie zwischen Subjektivem und Objektivem objektiv“102. Im Kunstprodukt also zeigt sich die „Identität des Bewußten und Bewußtlosen im Ich und Bewußtseyn dieser Identität“.103 Die Kunst ist darum die „Objektivität der intellektuellen Anschauung“ bzw. die ästhetische Anschauung „die objektiv gewordene intellektuelle“: „Das Kunstwerk nur reflektirt mir, was sonst durch nichts reflektirt wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat“.104 Nicht genug damit, Schelling fährt fort: „nicht nur das erste Princip der Philosophie und die erste Anschauung, von welcher sie ausgeht, sondern auch der ganze Mechanismus, den die Philosophie ableitet, und auf welchem sie selbst beruht, wird erst durch die ästhetische Produktion objektiv“.105 Für Schelling beruht dem gemäß auch die Kunst, wie die Philosophie, auf der „unendlichen Entzweiung entgegengesetzter Thätigkeiten“, wenn sie auch „durch jede einzelne Darstellung der Kunst vollständig aufgehoben“ werde.106 So erscheint der Bildungsroman geradezu als Vollendung der Geschichte des Selbstbewusstseins, und die berühmte Wendung Schellings von der Kunst als dem „einzige[n] wahre[n] und ewige[n] Organon zugleich und Document der Philosophie“107 bekommt eine neue Bedeutung. Auch Schellings Bemerkung zum Verhältnis von Philosophie und Kunst erscheint in einem neuem Licht:

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Hegel, Werke, Bd. 14, S. 237. Die Auffassung von Marx, bei der Geschichte des Selbstbewusstseins handle es sich um keine Bildungsgeschichte, da in ihr keine falschen Bewusstseinsstufen überwunden würden (vgl. Marx, 1977, S. 86), ist als irrig abzuweisen, schon dehalb weil nicht jede Bildungsgeschichte – weder literarische noch philosophische – über derlei Stufen falschen Bewusstseins laufen muss; dies ist v.a. im Bildungsroman um 1800 nicht der Fall. 101 Schelling, Werke, Bd. 2, S. 614 102 Ebd., S. 610; vgl. auch ebd., S. 628. 103 Ebd., S. 612. 104 Ebd., S. 625; vgl. Stolzenberg, 2001, S. 112: „[D]asjenige Objekt, mit Bezug auf das das Ich sich selbst sozusagen restlos gegenständlich wird, [ist] für Schelling ein vom Genie produziertes Kunstwerk“. 105 Schelling, Werke, Bd. 2, S. 625 f. 106 Ebd., S. 626. 107 Ebd., S. 627. 100

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

391

Nehmt [...] der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu seyn, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu seyn, und wird Kunst. – Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen. Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin [...]. (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 630)

Wendet man sich vor diesem Hintergrund von den genetischen Subjekttheorien des Deutschen Idealismus dem Roman um 1800 selbst zu, um die These von der Verwandtschaft zwischen transzendentalphilosophischer Geschichte des Selbstbewusst-seins und Bildungsroman aus der umgekehrten Perspektive zu prüfen, so beobachtet man, wie bereits erwähnt, auch auf dem Gebiet der Romanliteratur am Übergang von der Spätaufklärung zur Romantik eine Subjektivierungstendenz. Entsprechend steht der Roman um 1800 nicht allein in einem Repräsentationsverhältnis zum organizistisch aufgefassten Weltganzen, sondern er ist zugleich Ausdruck eines spezifischen Subjektivitätskonzepts. Wie ebenfalls schon gesagt, kann man diese Subjektivierungstendenz auf zweierlei Weise konkretisieren: zum einen indem man gehaltsästhetisch den Bildungsoder Entwicklungsroman als repräsentative Gattung der Achsenzeit bestimmt; zum andern indem man formästhetisch die Autoreflexivität nicht nur als Hinweis auf eine organizistisch verfasste Ontologie, sondern zugleich als Ausdruck der Subjektivierung des Erzählens versteht. Entsprechend prägt sich die Subjektivierungstendenz innerhalb des transzendentalpoetischen Romans sowohl in der Charakterdarstellung als auch in der spezifischen Erzählweise aus: Diese Aufwertung des Fiktionsbegriffs im Namen der Einbildungskraft beruht auf der doppelten Anwesenheit von Subjektivität im Roman. Zum einen wird Einbildungskraft als spezifische Wirklichkeit der literarischen Figuren, als Konstituens ihrer Individualität und Schlüssel zu ihrem Innersten eingesetzt. Zum andern ist es die perspektivierende und regulative Subjektivität des Individuums als Autor, welche dem Geschehen und den Charakteren eine teleologische Sinnstruktur gibt. Die Autorinstanz übernimmt die Funktion der synthetischen Apperzeption der Erfahrungen, welche die Kontingenzen der je individuellen Schicksale in der Einheit 108 des transzendentalen Ich aufhebt.

In beiderlei Hinsicht, ist, wie schon Jean Paul sagte, der „romantischen Poesie“ „die Unendlichkeit des Subjekts zum Spielraum gegeben“.109 Dabei verschärft sich der von den Spätaufklärern als vorbildlich angesehene Entwicklungsroman um 1800 zum Identitätsroman.110 Und zwar erfolgt diese Radikalisierung sowohl auf diskursiver als auch auf narrativer Ebene. Während sich in den philosophischen Romanen der Spätaufklärung die Auseinandersetzung mit dem Subjektivitätsproblem auf eine Beschäftigung mit motivationspsychologischen und handlungstheoretischen Fragestellungen, insbesondere mit den Trieblehren, dem Leib-Seele-Dualismus und dem Problem des Ver108

Lindner, 1980, S. 270. Die Subjektivität des Erzählens zeigt sich nach Lindner auf den Ebenen sowohl des impliziten Autors als auch des personalen Autor-Ichs (vgl. ebd.). 109 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 124. 110 Zum Begriff des Identitätsromans vgl. Ratz, 1988.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

hältnisses von Rationalität und Affektivität beschränkt und nur gelegentlich ein Ausblick auf die letzte subjektive Instanz im Menschen – dem Ich – gewagt wird, ist diese Subjektivierungstendenz in den Romanen um 1800 zur grundsätzlichen Frage nach der Identität des Menschen radikalisiert111: Dieses Konstrukt einer „Geschichte des Bewusstseins“ setzt der Transzendentalroman um in die Lebensgeschichte seines Helden. Von der rein empirischen Entwicklungsgeschichte des anthropologischen Romans ist sie unterschieden durch ein transzendental konstruiertes Grundschema in Handlung und Figurenkonstellation, vor allem jedoch durch die [...] poetische Plausibilisierung einer prästabilierten Harmonie von Innen und Außen und eines eben nicht empirischen, sondern im Zusammenhang der Dinge gründenden figuralen Bezugs zwischen dem Anfang und dem Ende der Entwicklung: Die Schlußsynthese kann wirklich werden, weil 112 sie als Potential immer schon vorhanden ist.

Die Unmöglichkeit einer Identifizierung der grundlegenden Triebfedern des Handelns – eine Position, die bereits im Belphegor durchgespielt wird –, die ironische Frage nach dem Wesen der Seele, wie sie bei Wezel allenthalben anzutreffen ist113, die in den philosophischen Romanen der Spätaufklärung notorische Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Selbsterkenntnis114, das Schwanken Wielands zwischen der Lehre vom Menschen als eines nicht-festgestellten Tiers und dem auf Milieutheorie und Vererbungslehre fußenden Determinismus mit seinen pädagogischen Implikationen115 – all diese Themen lassen sich aber als Vorformen der Frage nach der Identität des Menschen begreifen. Dabei lässt sich schon an den philosophischen Romanen der Spätaufklärung beobachten, dass die mechanistische Denkweise innerhalb der Psychologie mehr und mehr zugunsten einer dynamischen und zugleich pragmatischen Auffassung verabschiedet wird und einem Begriff vom Ich als reiner Tätigkeit Platz macht. Ihren sichtbarsten Ausdruck erhält die Verschärfung des Identitätsproblems im für die Romantik geradezu notorischen Doppelgängermotiv – wie es vor allem im Siebenkäs116 und in den Elixieren des Teufels durchgespielt wird. Doch auch dieses Doppelgängermotiv aktualisiert zunächst nur das alte Leib-Seele-Problem, insofern es nicht 111

Man vergleiche nur die Behandlung der Fichteschen Ichlehre im Titan mit den noch überwiegend an der mechanistischen Psychologie der Aufklärung orientierten Ausführungen im philosophischen Roman der Spätaufklärung. Allerdings impliziert das Identitätsproblem die sowohl in der Anthropologie als auch in den spätaufklärerischen Romanen behandelten Probleme – wie vor allem an der intensiven Suche nach einer Lösung des Problems des Verhältnisses von Leib und Seele in den Werken von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann deutlich wird. 112 Engel, 1993, S. 495. 113 Vgl. dazu das sogenannte „allegorische Seeleninstrument“ sowie Selmanns groteske Erlebnisse bei der Suche nach dem Sitz der Seele im Tobias Knaut, aber auch die grausige Vivisektion in Klingers Faust (vgl. Kap. 2.1.3). 114 Dafür bietet, wie wir in Kap. 2.1.3 gesehen haben, vor allem der Agathon Wielands, aber auch Wezels Tobias Knaut, ja selbst der Giafar Klingers zahllose Beispiele. 115 Dies zeigt sich insbesondere in seinem Aristipp (vgl. dazu Kap. 2.1.3). 116 Das Doppelgängermotiv spielt in fast allen Romanen Jean Pauls eine bedeutende Rolle; seine diskursiv deutlichste Gestaltung findet sich wohl in der Schoppe-Figur im Titan.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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bloß die Frage nach der ‚seelischen‘ oder ‚geistigen‘ Identität metaphorisch behandelt, sondern zugleich nach der Funktion des Leibes für das Selbstverständnis des Menschen fragt. Dies wird bereits an dem Namen der Leibgeber-Figur im Siebenkäs (und im Titan) erkennbar, verdichtet sich dort aber zu einem komplexen Spiel mit der Identität, das den gesamten Roman Jean Pauls beherrscht. Da sich das Identitätsproblem am besten an der Entwicklung eines einzelnen Menschen darstellen lässt, wird der Bildungsroman zur Leitgattung auch der Romantik. Darin setzt diese nur eine vom philosophischen Roman der Spätaufklärung angestoßene Entwicklung fort. Allerdings findet auch im Hinblick auf die Darstellung von Subjektivität im transzendentalpoetischen Roman gegenüber dem am pragmatischen orientierten philosophischen Roman ein „Übergang von der Blanckenburgschen Konstruktion aus Kausalität zur neuen transzendentalen Konstruktion“ statt: das Orientierungsschema der Narration ist nun „nicht mehr das der linearen Kausalitätskette, sondern das der Dialektik“.117 Aber während die Empfindsamkeit, in deren Kontext auch der philosophische Roman der Spätaufklärung steht, noch „eine Form der Selbstreflexion des Gefühls“ darstellt, widmet sich der transzendentalpoetische Roman der Frühromantik vor allem der „Darstellung der Krise dieser Gefühlskultur“.118 Indem die „Suche nach der eigenen Identität, die zugleich Suche nach einer neuen Form von Gemeinschaft ist“119, zum eigentlichen Thema des Romanerzählens wird, dient demnach in der Frühromantik die Literatur vornehmlich der „Darstellung des problematischen Ich, der Subjektkrise“.120 Doch obwohl damit „die romantischen Romane einerseits als Mimesis von Depersonalisierungsprozessen“ aufzufassen sind, „opponiert andererseits romantische Literatur dagegen“121: Trotz aller kritischen, ja nihilistischen Tendenzen halten die Frühromantiker an der Identitätsfindung als dem letzten – wie immer auch problematischen – Ziel ihres Erzählens fest. Man kann mit Manfred Frank davon sprechen, dass in der – philosophischen wie literarischen – Frühromantik „nicht die Abdankung des Themas ‚Selbstbewußtsein‘, aber seine Verweisung auf eine gegenüber dem Sein untergeordnete Stellung“ stattfindet: Selbstbewußtsein kann nicht mehr als Deduktions-Prinzip der Philosophie in Anspruch genommen werden. Vielmehr zwingt die Transzendenz des Seins gegenüber dem Bewußtsein die Philosophie auf den Weg des „unendlichen Progressus“, auf dem zu keiner Zeit das Sein in einer adäquaten Auffassung durch das Bewußtsein sich erschöpft und so nie endender Ausdeutung sich darbietet. [...] Der unausdeutbare Sinnreichtum des Schönen macht die 122 Ungreifbarkeit des Absoluten für die Reflexion als solche sinnfällig.

117

Vgl. Engel, 1993, S. 461. Vgl. Vietta, 1983b, S. 25. 119 Ebd., S. 29. 120 Ebd., S. 27. 121 Ebd., S. 41. 122 Frank, 1994, S. 54. 118

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Für diese Auffassung der Frühromantiker hatte Hölderlin mit seinen Reflexionen in Urtheil und Seyn die Vorgabe geleistet. Er legte dar, dass erst die Urteilsform dasjenige in eine Dualität aufspaltet, was wir in unserem Selbstverhältnis als Einheit erfahren: Die materielle Einheit dessen, als den wir uns im Selbstbewußtsein erfahren, wird durch die Dualität der Urteilsform, durch die wir die Einheit artikulieren, gleichsam dementiert. Nun besteht aber solche Einheitserfahrung (und nicht nur Urteils-Dualität). Darum müssen wir uns ein einiges Sein vorausdenken, das seinerseits nicht bewußt ist (denn alles Bewußtsein, meint Hölderlin, ist Objekt-Bewußtsein). Und nur als dessen Reflex können wir die epistemische Selbstbeziehung als die Selbstbeziehung uns faßlich machen, die sie mit cartesianischer Evi123 denz ist.

Auch Sinclair hält dafür, dass wer Subjekt und Objekt als ‚Teile‘ denke, gar nicht umhin komme, sie als aus einem Ganzen, dem ‚Sein‘ hervorgetreten zu denken. Dieses Sein stelle den transzendenten Grund des Bewusstseins dar; es sei seinerseits nicht in Bewusstsein aufzulösen, „weil es ein anderes als ein thetisches (d.h. ein sich seinem Gegenstand entgegensetzendes) Bewußtsein gar nicht gibt“.124 Insbesondere der Reflexion ist Hölderlin und Sinclair zufolge diese Selbstdurchsichtigwerdung des Ich prinzipiell verwehrt. Reflexion sei zwar allerdings unüberspringbar [..] in dem Sinn, daß wir jenseits ihrer unser Bewußtsein verlieren [...]. Aber daraus folgt noch nicht, daß die Reflexion aus eigenen Mitteln das Selbstbe125 wußtsein ihrer Einheit erklären könnte.

Die Reflexion – als ein „Spezialfall des gegenständlichen Bewußtseins, wobei der Gegenstand hier das Bewußtsein selbst ist“ – produziere vielmehr eine bloße ScheinKenntnis.126 Eine Erfahrung des allem Bewusstsein vorausliegenden Seinsganzen könne daher in den Augen Hölderlins, Sinclairs und auch Novalis‘ nur durch das Gefühl erlangt werden. Dieses Gefühl sei jedoch, insofern es eine beziehungslose Vertrautheit des Ich mit sich selbst gewähre, ein Selbstgefühl; da dieses aber „die erste und ursprünglichste Kenntnisnahme des Selbst“ darstelle, lässt sich mit Frank die Auffassung der Frühromantiker durch den Satz wiedergeben: „Die Geschichte des Ich beginnt [...] mit einem Selbstgefühl.“127 Novalis versucht diese Position mit seiner Denkfigur des ordo inversus zu überschreiten: Während wir in der intellektuellen Anschauung das Gefühl haben, „uns aufs Absolute als auf ein Verfehltes zu richten“, und dieses Gefühl ein ‚scheinbares Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten‘ darstelle, handle es sich bei der Reflexion um ein ‚scheinbares Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten‘. Erst die ‚Reflexion der Reflexion‘ könne beide Richtungen in einer „Hin- und Her-Direction“ sich wechselseitig ergänzen lassen: 123

Frank, 1994, S. 53. Vgl. ebd., S. 55 ff. 125 Ebd., S. 69. 126 Ebd., S. 79. 127 Vgl. Frank, 2002a, S. 14; s.a. Frank, 2002b. 124

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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Die Reflexion der Reflexion läuft aber auf eine Selbstdurchstreichung der Erkenntnismittel hinaus, die uns den Zugang zum „Urseyn“ versperren: „Ich bin nicht“, notiert Novalis, 128 „inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich aufhebe“.

Wie immer man sich dies näherhin vorzustellen hat, die Identitätserfahrung wird dadurch zu einem prinzipiell unabschließbaren Prozess: Der „Trieb Ich zu seyn“129 erscheint bei Novalis als ein unendliches Streben nach Absolutheit bzw., wie es in der Begrifflichkeit der Romantiker lautet, als ein „Sehnen“.130 Das Ich wird damit zu einer Idee, einer Aufgabe, der man sich, wie bereits Fichte schrieb, nur allmählich anzunähern vermag: Von dem ersten [dem intellektuell angeschauten Ich] geht die gesamte Philosophie aus, und es ist ihr Grundbegriff, zu dem letztern [dem Ich als Idee] geht sie hin; nur im praktischen Teile kann diese Idee aufgestellt werden, als höchstes Ziel des Strebens der Vernunft. (Fichte, Werke, Bd. 3, S. 100))

Das dem reflexiven Zugriff sich entziehende Sein wird nun von Hölderlin, Novalis und Schelling durch Begriffe wie ‚Liebe‘ oder ‚Frieden‘ bestimmt. Es sei durch zwei antagonistische Triebe, durch ein „Wechselspiel von Hemmen und von Streben“ charakterisiert: ein ins Unendliche gehender reeller und ein aufs Endliche zurücktreibender ideeller Trieb. So stellt sich das Sein dar als „ein gehemmtes Streben: eines, das – um seiner Darstellbarkeit willen – transitorisch sich in Schranken faßt und um seiner Unendlichkeit willen immer wieder über dieselben hinausgeht“; nicht zuletzt diese Auffassung führte Schelling, so Frank, auf einen „Begriff der Natur als einem durchein und durchaus organisierten Wesen“.131 Es ist also, obgleich die Subjektivierungstendenz der romantischen Literatur in vielerlei Hinsicht in den Romanen der Spätaufklärung vorbereitet wird, nicht zu leugnen, dass sie in der Romantik verschärft und das Problem der Subjektivität zum alles beherrschenden Thema wird. Viele der übrigen Fragen, die im philosophischen Roman eine zentrale Rolle spielen, treten dagegen in der romantischen Literatur in den Hintergrund. Dies gilt vor allem für erkenntnistheoretische und moralphilosophische, weniger jedoch für staats- und geschichtsphilosophische Problemstellungen.132 Deshalb ist Hegel letztlich Recht zu geben, wenn er die Romantik als Kunstform der totalen Innerlichkeit cha128

Frank, 1994, S. 84; vgl. dazu NO 2, S. 114 f u. 117. Die Denkfigur des ordo inversus kann an dieser Stelle nicht dargestellt werden (vgl. dazu die einschlägige Arbeit von Frank/Kurz, 1977). 129 NO 2, S. 126. 130 Vgl. Frank, 1994, S. 97 f u. S. 100. 131 Vgl. ebd., S. 58. 132 Dabei werden allerdings die Auffassungen der Spätaufklärer oft als selbstverständlich vorausgesetzt – zumeist, wie z.B. die aufklärungskritische Haltung des sonst so traditionsbewussten Jean Paul in der Vorschule zeigt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. So sind das Geschichtsbild der Romantiker mit ihrem rückwärtsgewandten utopischen Denken, das das Mittelalter zum goldenen Zeitalter verklärt, und ihre Auffassung des Historikers als eines „rückwärtsgewandten Propheten“ (F. Schlegel) ohne die Fortschrittskepsis der Spätaufklärer undenkbar.

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rakterisiert.133 Schelling134 und Hegel135 gehen sogar so weit, dass sie diesen Charakter der ‚Innerlichkeit‘ zum unterscheidenden Merkmal zwischen antiker und moderner Kunst bzw. zwischen Klassik und Romantik erheben. Für Hegel ist bekanntlich die zwar erst in der antiken Polis entstandene, jedoch über ihren mythologischen Stoff an das Heroenzeitalter rückgebundene Klassik Gipfelpunkt der Kunst überhaupt.136 Erst die christliche Religion – und hierbei insbesondere der Protestantismus – löste diesen „Olymp des Scheins“137 auf, indem sie, so Hegel, gerade dadurch, dass sie dem menschlichen Selbstbewusstsein im göttlichen das Andere seiner selbst entgegenstellte, dieses menschliche Selbstbewusstsein zu sich selbst kommen und somit den absoluten Geist in das Medium der Vorstellung geraten ließ.138 Der christlichen Epoche sei damit zum einen eine Tendenz zur Subjektivierung und Verinnerlichung eigen, zum andern habe in ihr die sogenannte ‚Welt‘ (i.S. der bloßen Äußerlichkeit der alltäglichen Realität), wenn sie auch gleichzeitig als ‚Jammertal‘ abgewertet wurde, als zu bewältigendes Diesseits allererst ihre volle Eigenständigkeit erhalten. Diese Entzweiung von Subjekt und Welt wurde nun (in der Sphäre des objektiven Geistes) durch die Ausbildung von Staat, Rechtsverfassung und bürgerlicher Gesellschaft, also durch die zivilisatorischen Leistungen der Neuzeit verschärft: Es entstand eine Lebenswelt, die vor allem durch Widersprüche – zwischen Moralität und Sittlichkeit, subjektiver Idealbildung und Alltäglichkeit, Poesie des Herzens und Prosa des Lebens – charakterisiert sei und die entsprechend von Hegel mit Begriffen wie Entfremdung, Entzweiung oder Arbeitsteilung beschrieben wird.139 Einer derart verfassten Welt ist laut Hegel die als romantisch bezeichnete Kunst nicht mehr gewachsen: Weder vermöge sie die religiösen Wahrheiten des Christentums durch mehr als bloß nachträglich hinzukommende Allegorien darzustellen, noch sei sie dazu in der Lage, die Gegensätze der modernen Welt zur Versöhnung zu bringen. Dies kann nach Hegel allein der reine Begriff vollbringen – dass alles Wirkliche letztlich vernünftig ist, erweist nur die (Hegelsche) Philosophie.140 Während Schopenhauer die gesamte geschichtsphilosophische Zugangsweise zugunsten einer ontologisch fundierten (freilich transzendentalphilosophisch verfassten) Ästhetik ablehnt und Hegels absolutem Idealismus im Hinblick auf die Anschauungsform der Zeit gerade den „plattesten Realismus“ unterstellt141, stimmt Schelling mit der historischen Diagnose Hegels überein: Auch für ihn ist die moderne Kunst maßgeblich durch die christliche Religion geprägt: ihr Einfluss führte dazu, dass sie, im Gegensatz 133

Vgl. etwa Hegel, Werke, Bd. 14, S. 128 f; vgl. auch Bd. 13, S. 112 f. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 437 ff. 135 Hegel, Werke, Bd. 13, S. 111 f u. 392. 136 Vgl. ebd., S. 391 f. 137 Nietzsche, 1988, Bd. 6, S. 439. 138 Vgl. Hegel, Werke, Bd. 10, S. 372 ff; s.a. Bd. 13, S. 142 f u. Bd. 14, S. 142 ff. 139 Vgl. ebd., Bd. 14, S. 219 f u. Bd. 15, S. 393; s.a. Bd. 3, S. 359 ff sowie Bd. 10, S. 321 ff. 140 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 582 ff, Bd. 7, S. 24 f u. Bd. 10, S. 378 ff; s.a. Bd. 13, S. 139 ff. 141 Schopenhauer, Werke, Bd. 2, S. 514. 134

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zur antiken Kunst, den Charakter des Subjektiven angenommen habe und vor allem allegorisch verfasst sei.142 Anders aber als Hegel sieht Schelling die Entwicklung der Kunst nicht an ihr Ende gelangt. Vielmehr hegt er die Hoffnung auf Bildung einer unter dem Leitbild der „spekulativen Physik“ stehenden „neuen Mythologie“, die als kollektive und allgemein verständliche Bewusstseinsformation der modernen Kunst neuen Stoff und Gehalt geben soll.143 Auch die Frühromantiker knüpften an die Kunst die höchsten Hoffnungen. Dabei zeichnet insbesondere Novalis die Poesie als das entscheidende Gebiet für die Entwicklung von Subjektivitätskonzepten aus. Gerade dadurch, dass die Poesie „Darstellung des Gemüths – der innern Welt in ihrer Gesamtheit“ und entsprechend eine „äußre Offenbarung jenes innern Kraftreichs“144 sei, wird sie aus idealistischer Perspektive zu einer „Betrachtung der Welt“, denn diese komme der „Betrachtung eines großen Gemüths“ gleich. Die Poesie ist darum für Novalis „wahrhafter Idealismus“: sie erst stellt das „Selbstbewußtseyn des Universums“ dar.145 Unter der Voraussetzung des „magischen Idealismus“ gipfeln alle intellektuellen Leistungen des Menschen, gipfeln Philosophie und Wissenschaft in der Poesie: Es ist höchstbegreiflich, warum am Ende alles Poësie wird – Wird nicht die Welt am Ende, 146 Gemüth?

Eine solche „Gemütherregungskunst“147 stelle jedoch die Identitätsfindung als einen prinzipiell unabschließbaren Prozess dar. Die Entdeckung der eigenen Subjektivität sei ein permanentes Streben, ein „Sehnen“. Der Versuch des Ich, zu einem vollständigen Selbstbewusstsein zu gelangen, sei demnach eine unendliche Aufgabe: Selbstb[ewußt]S[eyn] im größern Sinn ist eine Aufgabe – ein Ideal – es wäre der Zustand, worinn es keine Zeitfortschreitung gäbe[,] ein zeitloser – b e h a r r l i c h e r immer gleicher Zustand. (Ein Zustand, ohne Vergangenheit und Zukunft, und doch veränderlich) [...] Alle unsre Erinnerungen und Begebenheiten reihen sich an eine mystische Einheit, die wir Ich nennen. (NO 3, S. 431)

Doch einem derartigen zeitlosen Bewusstseinszustand können wir uns immer nur annähern. Wie schon Schelling das Leben des Menschen als ein „[d]urch alles Gehen und nichts Seyn [erschien], nämlich nichts so seyn, daß es nicht auch anders seyn könnte“148, zeichnet sich auch für die Frühromantiker die Subjektivität durch „innere Pluralitaet“ aus:

142

Schelling, Werke, Bd. 3, S. 466 ff. Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, S. 629 u. Bd. 3, S. 466. 144 NO 3, S. 650. 145 Vgl. NO 3, S. 640. 146 NO 3, S. 654. Auch vor diesem Hintergrund ist die Novalissche Bestimmung der Poesie als der „eigenthümliche[n] Handlungsweise des menschlichen Geistes“ zu sehen (vgl. NO 1, S. 287). 147 NO 3, S. 639. 148 Schelling, Werke, Bd. 5, S. 10. 143

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Eine ächt synthetische Person ist eine Person, die mehrere Personen zugleich ist – ein Genius. Jede Person ist der Keim zu einem unendlichen Genius. Sie vermag in mehrere Person[en] zertheilt, doch auch Eine zu seyn. Die ächte Analyse der Person, als solcher bringt Personen hervor – die Person kann nur in Personen sich vereinzeln, sich zertheilen und zersetzen. (NO 3, S. 250)

So ist für Novalis „das ächte Individuum“ zugleich auch das „ächte Dividuum“149, und diese „unsre eigne innere Pluralitaet“ wird wiederum zum „Grund der Weltanschauung“150. Gerade dadurch aber, dass wir dieser Pluralität auf umfassende Weise genügen, erlangen wir laut Novalis allererst innere Freiheit: Alle Bestimmungen gehen aus uns heraus – wir schaffen eine Welt aus uns heraus – und werden damit immer freyer, da Freyheit nur im Gegensatze einer Welt denkbar ist – Je mehr wir bestimmen, aus uns herauslegen – desto freyer – substantieller werden wir – wir legen gleichsam das Beywesen immer mehr ab und nähern uns dem durchaus reinen, einfachen Wesen unsers Ich. Unsre Kraft hat um soviel Spielraum gekriegt, als sie Welt unter sich hat. (NO 2, S. 288)

Das freie Ausagieren aller Möglichkeiten in einem experimentellen Lebensentwurf151 führt uns also am Ende, so Novalis, zu „dem durchaus reinen, einfachen Wesen unsers Ich“, zu einem vollständigen Selbstbewusstsein oder, mit Henrich zu sprechen, in ein „bewusstes Leben“. Dies stellt den Zielpunkt der Geschichte des Selbstbewusstseins dar; zu ihm gelangt, wird der Mensch zu einem „durchaus eigenthümlichen Ganzen“: In unserm Gemüth ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste Weise verknüpft. [...] So enstehn wunderliche Einheiten und eigenthümliche Verknüpfungen – und Eins erinnert an alles – wird das Zeichen Vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeygerufen. Verstand und Fantasie werden durch Zeit und Raum auf das sonderbarste vereinigt und man kann sagen daß jeder Gedanke, jede Erscheinung unsers Gemüths das individuellste Glied eines 152 durchaus eigenthümlichen Ganzen ist.

Ein solches Subjektivitätskonzept birgt allerdings, wie wir anhand des William Lovell von Tieck sehen werden, zugleich die Gefahr einer totalen Dekonstruktion des Subjekts. Allemal aber hat es erhebliche Konsequenzen für die poetische Charakterdarstellung. Über die Schwierigkeiten einer angemessenen Figurenzeichnung schreibt Novalis: Ächte, poetische Charactere sind schwierig genug zu erfinden und auszuführen. Es sind gleichsam verschiedne Stimmen und Instrumente. Sie müssen allgemein, und doch 149

NO 3, S. 451. NO 3, S. 662. 151 Diese Formulierung gemahnt nicht von ungefähr an die Existenzphilosophie, auf die, wie hier allerdings nicht dargelegt werden kann, die Modelle der Frühromantiker vielfach vorausweisen (vgl. dazu Kap. 3.1). 152 NO 3, S. 650 f. An anderer Stelle schreibt Novalis in ähnlichem Sinne: „Verstand, Fantasie – Vernunft – das sind die dürftigen Fachwercke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, Übergängen kein Wort. Keinem fiel es ein – noch neue, ungenannte Kräfte aufzusuchen – ihren geselligen Verhältnissen nachzuspüren – Wer weiß, welche wunderbare Vereinigungen, welche wunderbare Generationen uns noch im Innern bevorstehn.“ (NO 3, S. 574) 150

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eigenthümlich, bestimmt und doch frey, klar und doch geheimnißvoll seyn. In der wircklichen Welt giebt es äußerst selten Charactere. [...] Die meisten Menschen sind noch nicht einmal Charactere. Viele haben gar nicht die Anlage dazu. Man muß wohl die Gewohnheitsmenschen, die Alltäglichen von den Ch[aracteren] unterscheiden. Der Character ist durchaus selbstthätig. (NO 3, S. 688)

Aus der These, dass „Pluralism [..] unser innerstes Wesen“153 sei, folgt laut Frank eine Auffassung des Ich „als Prinzip einer entfesselten, in dabei auftretende Widersprüche geradezu verliebten Mannigfaltigkeit“. Dieser radikalen Veränderlichkeit und Relativität des Charakters entspreche wiederum die Überzeugung vom Experimentalcharakter des Lebens. Eine solche personale Unausschöpflichkeit und existenzielle Diskontinuität könne aber nur mit Hilfe der Ironie dargestellt werden, was wiederum die Ablehnung des klassischen Charakterbegriffs durch die Frühromantiker zur Konsequenz habe.154 Die Aufgabe des Romanciers ist es laut Novalis entsprechend, aus den Zufällen des Lebens eine „wohlgeordnete[], gesezmäßige[] Reihe“ zu bilden; dies jedoch erfolgt stets unter Leitung eines Zwecks im Hinblick auf ein Individuum. Dem gemäß bestehe der Stoff des Romans in den „Veränderungen eines Individuums in einer continuirlichen Reihe“. Nun gebe es zwar immer verschiedene Formen der Verbindung von Individuum und äußeren Begebenheiten, stets aber sei der Bezug auf eine höhere Einheit notwendig, da nur so die organische Totalität der dargestellten Bildungsgeschichte und damit des Kunstwerks gewährleistet werde: in dieser Totalisierungsnotwendigkeit zeigt sich, so Novalis weiter, dass in der Kunst die Tätigkeit des Geistes eine „Centripetal-kraft“ darstelle, die sich der „Centrifugalkraft“ aller natürlichen Dinge entgegenstelle.155 Dennoch fordert Novalis von der Poesie eine „Mannichfaltigkeit in Darstellung von Menschenkaracteren – nur keine Puppen – keine sog[enannten] Karactere – lebendige, bizarre, inconsequente, bunte Welt“.156 Und auch Friedrich Schlegel sieht in Verworrenheit, Inkonsequenz und Charakterlosigkeit die „Fehler der progreßiven Menschen“157: Alle überstürzte Totalisierung entspringt aus geistige[r] Gicht. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 158 221)

Solch ein prozessuales, plurales und experimentelles Subjektivitätskonzept bedarf zu seiner Artikulation notwendig der Narration. In einem narrativen Zusammenhang legt sich zeitlich auseinander, was sich im Möglichkeitshorizont menschlicher Existenz nur immer befinden mag. So äußert sich das frühromantische Subjektivitätskonzept geradezu zwangsläufig in der Gestalt einer Bildungsgeschichte; es findet daher auch im Roman seine angemessene Diskursform. Manfred Frank hat dargelegt, dass nach Auffas153

NO 3, S. 571. Vgl. dazu Frank, 1989, insbesondere S. 270 f. 155 Vgl. NO 2, S. 579 f. 156 NO 3, S. 558. 157 F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 24. 158 Vgl. dazu auch Frank, 1994, S. 123. 154

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sung der Frühromantiker die Zeiterfahrung vor allem Ausdruck eines ‚Mangels an Sein‘, d.h. Ausdruck dessen ist, dass „das Subjekt vom ‚Sein‘ immer schon ‚präveniert‘ worden ist“: Menschliche Existenz stellt sich als eine permanente Ablösung von der Vergangenheit und eine beständige Hoffnung auf die Zukunft dar, sie schwebt also stets zwischen zwei ‚Ewigkeiten‘ a parte ante und a parte post – in der Gegenwart hingegen existiert der Mensch eigentlich nie. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Subjektivität immer als Entwicklung, Bildung oder Prozess darzustellen.159 Als Musterbeispiel für die narrative Umsetzung eines derartigen Subjektivitätskonzepts galt Friedrich Schlegel der William Lovell von Ludwig Tieck. So schreibt Schlegel: Der einzige Charakter im Lovell ist er selbst, ein Mensch ohne Charakter. (F. Schlegel, KSA, Bd. 16, S. 128)

Die Überzeugung von der Widersprüchlichkeit und Diskontinuität des Charakters wird auch bei Tieck selbst an vielen Stellen deutlich: Nicht nur findet sich im Phantasus der Ausruf „So ist der Mensch [...] nichts als Inkonsequenz und Widerspruch!“160, sondern auch in den Sieben Weibern des Blaubart heißt es: Wenn Ihr es überlegt, daß im ganzen Menschenleben kein Zweck und kein Zusammenhang zu finden ist, so werdet Ihr es auch gern aufgeben, diese Dinge in meinen Lebenslauf hineinzubringen. [...] So wäre also [...] das ganze große Menschendasein nichts in sich Festes und Begründetes? Es führte vielleicht zu nichts und hätte nichts zu bedeuten, Thorheit wäre es, hier historischen Zusammenhang und eine große poetische Composition zu suchen; eine 161 Bambocchiade oder ein Wouvermanns drückten es vielleicht am richtigsten aus.

Und Ludoviko muss in Franz Sternbalds Wanderungen angesichts des Umstands, dass „der vernünftigste Mensch sich schon so einrichtet, daß er gar keinen Zweck hat“, nur „lachen, wenn ich Leute so große Anstalten machen sehe, um ein Leben zu führen“, denn das Leben sei „dahin, ehe sie mit den Vorbereitungen fertig sind“.162 An diesen Stellen deutet sich an, dass die den Romantikern zunehmend zu Bewusstsein gelangenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Ich als existentieller Letztbegründungsinstanz in einer nachgerade nihilistischen Haltung münden, der sämtliche Lebenssicherungen fraglich geworden sind. Neben den Nachtwachen Bonaventuras und den Figuren Roquairol und Schoppe im Titan kann dafür vor allem der William Lovell Tiecks von 1795/96 herangezogen werden. In mancher Hinsicht handelt es sich hierbei um einen Grundtext der ‚schwarzen Romantik‘.163 159

Vgl. Frank, 1990. In den Augen Franks verweist die frühromantische Zeitauffassung zum einen auf Schopenhauers Zeitbegriff, wonach das Wesen der Zeit die ‚Nichtigkeit‘ sei, zum anderen auf Fichtes und Schellings ‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘ (vgl. dazu auch Frank, 1989, S. 248 ff). 160 Vgl. Tieck, 1985, S. 81. 161 Vgl. Die sieben Weiber des Blaubart (1797), in: Tieck, 1828 ff, Bd. 9, S. 193. 162 Vgl. Franz Sternbalds Wanderungen (1798), in: Tieck, 1828 ff, Bd. 16, S. 338. 163 Allgemein lässt sich sagen, dass gegen die Behauptung Engels, dass „in der Goethezeit wegen der postulierten Autonomie der Kunst“ die „Dominanz des ‚diskursiven‘ über das ‚narrative Schema‘“, wie sie im philosophischen Roman der Spätaufklärung zu beobachten ist, sich angeblich ‚verbiete‘,

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So stellt sich der William Lovell, wie schon Wezels Tobias Knaut oder auch Moritzens Anton Reiser, als ein Anti-Bildungsroman dar, nämlich als die Geschichte einer Selbstverfehlung, die schließlich zur totalen Entwertung aller Werte, zum Nihilismus führt: Das Leben erscheint als eine ‚Wiederkehr des Immergleichen‘, bei der sich alles „in einem nichtigen schwindelnden Zirkeltanz“ drehe (Tieck, WL, S. 198).164 Dabei wird die Verfehlung der eigenen Identität anhand eines durchaus aktivistischen Charakters vorgeführt, anhand eines ‚Kraftmenschen‘, der an das Ideal des Sturm und Drang gemahnt.165 Zugleich aber ist William Lovell – und hiermit steht der Roman in Kontinuität mit Empfindsamkeit und Spätaufklärung166 – ein Schwärmer, wie sich schon zu Beginn an dem Vergleich Lovells mit Ikarus zeigt.167 Die Schwärmerproblematik im William Lovell verweist auf Wielands Agathon, insofern es auch noch in Tiecks Roman um den Versuch eines Ausgleichs zwischen Kopf und Herz geht, wobei die Liebe zum Auslöser nicht nur der Schwärmerei, sondern auch einer existentiellen Krisensituation wird. Als Schwärmer und ‚Kraftmensch‘ aber versucht sich Lovell immer neu zu entwerfen, um hierbei immer von neuem zu scheitern. Dieser Desillusionierungsprozess zeigt dabei auch die negativen Konsequenzen eines (missverstandenen) Pragmatismus: Nach dem Verlust aller metaphysischen und moralider William Lovell Tiecks einen eindrücklichen Gegenbeweis führt, insofern er sich beständig, auf hohem reflexiven Niveau, in diskursiven – insbesondere subjektivitätsphilosophischen – Ausführungen ergeht (vgl. dazu Engel, 1993, S. 12). 164 Der Nihilismusvorwurf ist früh schon von der zeitgenössischen Kritik erhoben worden und wurde zum Gemeinplatz der Literaturgeschichte; er veranlasste schließlich Tieck selbst zu einer Überarbeitung seines Werks, dessen zweite Fassung deutlich abgeschwächt ist. 165 So schreibt Lovell über sich selbst an Rosa: „Die Willkür stempelt den freien Menschen; von allen Banden losgelassen rausch‘ ich wie ein Sturmwind dahin, Wälder niederreißend und mit lautem und wildem Geheul über die steilen Gebirge hinfahrend.“ (Tieck, WL, S. 187) 166 Auch Engel weist in seiner Interpretation des William Lovell auf dessen „Grenzstellung zwischen Spätaufklärung und Frühromantik“ hin (vgl. Engel, 1993, S. 156). Bereits die ältere Forschung hatte dies erkannt: So behauptete schon Böckmann, dass der William Lovell „die Empfindsamkeit zu ihren äußersten Konsequenzen [führe] und zugleich Einblick in die Grundlagen des neuen romantischen Charakters“ gebe (vgl. Böckmann, 1934/35, S. 87); und auch bei Ribbat findet sich die These, dass Tiecks Roman „die Möglichkeiten der Aufklärung an ein Ende [bringe]“ (vgl. Ribbat, 1978, S. 63). 167 Vgl. Tieck, WL, S. 10 f. In dem den Roman eröffnenden Brief schreibt Karl Wilmont über Lovell: „[O]ft fliegt er mir so weit aus den Augen, dass ich ganz im Ernste an den armen Ikarus denke, – mit einem Wort: er ist ein Schwärmer.“ Schon an dieser Stelle findet sich die Warnung: „Wenn ein solches Wesen einst fühlt, wie die Kraft seiner Fittige erlahmt, wie die Luft unter ihm nachgibt, der er sich vertraute, – so lässt er sich blindlings herunterfallen, seine Flügel werden zerknickt und er muß nachher in Ewigkeit kriechen.“ (Ebd., S. 11) William Lovell nimmt diesen Ikarus-Vergleich später selbst auf, wenn er an Rosa schreibt: „Fliege mit mir, Ikarus, durch die Wolken, brüderlich wollen wir in die Zerstörung jauchzen, wenn unser Verlangen nach Genuß nur ersättigt wird! Wir sind unsre Gesetzgeber und unsre Untertanen: im jugendlichen Rausche wollen wir der Abendröte entgegegentaumeln und in ihrem Schimmer untersinken.“ (Ebd., S. 187) Das Schwärmertum wird von Lovell also bereits mit einem dezisionistischen Hedonismus verknüpft.

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schen Sicherheiten fühlt sich der Protagonist auf sich selbst und ein von ihm umzugestaltendes Diesseits zurückgeworfen, das er mit einem experimentellen Existenzentwurf zu bewältigen sucht.168 Zwar scheint Lovell von einer geheimbündlerischen Verschwörungsmacht zugrundegerichtet zu werden, doch entbehrt diese Verschwörung aller metaphysischen Legitimation – es handelt sich, wie sich am Ende herausstellt, um einen schlichten Rachefeldzug gegen seinen Vater, für den Lovell einzustehen hat.169 Dies zeigt deutlich, dass auf der Ebene der äußeren Fabel nicht die Gründe für das Scheitern Lovells zu suchen sind, sondern diese anderswo, man möchte sagen: an einem tiefer liegenden Ort ihre zerstörerische Macht entfalten. So korrespondiert mit der Selbstverfehlung Lovells eine an Missverständnissen reiche Auffassung der Transzendentalphilosophie Kants, wonach alles zu einem bloßen Schein, damit aber im Grunde zu einem Nichts abgewertet sei: Freilich kann ich mich nicht verbürgen, ob die äußern Dinge wirklich so sind, wie sie meinen Augen erscheinen: – aber genug, daß ich selbst bin; mag alles umher da sein, auf welche Art es will, tausend Schätze sind über die Natur ausgestreut uns zu vergnügen, wir können nicht die wahre Gestalt der Dinge erkennen, oder könnten wir es, so ginge vielleicht das Vergnügen der Sinne darüber verloren, – ich gebe also diese Wahrheit auf, denn die Täuschung ist mir erfreulicher. – Was ich selbst für ein Wesen sei, kann und will ich nicht untersuchen, meine Existenz ist die einzige Überzeugung, die mir notwendig ist, und diese kann mir durch nichts 170 genommen werden. (Tieck, WL, S. 164 f)

Nachdem ihm sein Verführer Rosa in dieser Überzeugung, die ihn „[z]ur größten, schönsten Freiheit, zur uneingeschränkten Willkür eines Gottes“ (Tieck, WL, S. 166) führe, bestärkt hat, fasst Lovell seine Ichphilosophie, die nicht von ungefähr an die Schoppe-Figur in Jean Pauls Titan erinnert, in dem Satz zusammen: „Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem Gesetze gehorcht alles.“ (ebd., S. 169) Dieser Solipsismus, dem das eigene Ich als einzige Wirklichkeit erscheint, ist aber Lovell vor allem wegen seiner praktischen Konsequenzen von Bedeutung, insofern er ihm zur Grundlage seines dezisionistischen Hedonismus wird. Allerdings ahnt ihm bereits frühzeitig, dass eine solche Auffassung zum Nihilismus führt, setzt er doch sein soeben zitiertes Fazit mit den Worten fort: „Ich verliere mich in eine weite, unendliche Wüste, – ich breche ab.“ Aus diesem theoretischen wie praktischen Egoismus und der daraus resultierenden Diesseitsgewandtheit entspringt also für Lovell ein geradezu verzweifelter Hedonismus, für den schon zur Zeit der Aufklärung der Materialismus die legi168

Hier zeigen sich Ähnlichkeiten nicht nur mit der Lais-Figur aus dem Aristipp Wielands, sondern auch mit literarischen Gestalten der Klassischen Moderne, insbesondere mit Musils Mann ohne Eigenschaften, auf den Tiecks Roman in mancher Hinsicht vorausweist. 169 Die Verbindungen zum Geheimbundroman sind offensichtlich; dass die ‚Weltlichkeit‘ des Geheimbundes Tiecks Roman in die Nähe des Agathodämon Wielands bringt, ist hingegen in der Forschung bisher nicht beachtet worden. 170 Dieses Kant-Missverständnis kennen wir von Kleist, in dem es zu den bekannten tragischen Konsequenzen geführt hat. Auch Schopenhauer soll von dieser Ansicht der Kantischen Philosophie beeinflusst worden sein – eine in letzter Instanz sicher haltlose Behauptung.

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timierende metaphysische Theorie sein sollte. Im William Lovell wird entsprechend eine Dichotomie von Mechanizismus und Liebe entworfen: Ist Lovell zunächst der Überzeugung, dass „nur die Liebe allein [..] herzlich unsre Hand [ergreife] und [..] uns treulich durch das Leben [begleite]“ (ebd., S. 181), so erscheint ihm mehr und mehr die „Sinnlichkeit“ als „das erste bewegende Rad in unserer Maschine“: Hinter allen Empfindungen und Handlungen, so glaubt er, stehe im Grunde der „Trieb des Menschen zur Wollust“ (ebd., S. 200)171. Die von ihm häufig verwendete Maschinenmetapher dient dabei als Ausdruck der totalen (Selbst-)Entfremdung172; dies wird noch verstärkt durch den Vergleich der Menschen mit Marionetten: Das Leben ist das allerlustigste und lächerlichste, was man sich denken kann; alle Menschen tummeln sich wie klappernde Marionetten durcheinander, und werden an plumpen Drähten regiert, und sprechen von ihrem freien Willen. (Tieck, WL, S. 286)

So erscheint Lovell das Leben als eine einzige Maskerade, als ein „stilles Gedicht über das menschliche Leben [ist], ein Schauspiel, worin die Schauspieler selbst ihre Rollen nicht verstehn, und sie dennoch meisterhaft darstellen“ (Tieck, WL, S. 359).173 Indem er nur noch sein eigenes Wohl verfolgt, wird sein Handeln moralisch zunehmend bedenkenloser: seine radikale Autonomiemoral gerät zu einem dezisionistischen Egoismus. Seine Verachtung der bürgerlichen Existenz und ihrer falschen Sicherheiten ist nur Ausdruck der zunehmenden Entwertung des menschlichen Lebens in all seinen Formen. In der Tat kann das Philistertum der Freunde und späteren Gegenspieler, die im Roman eine Gegenwelt konstituieren, kaum als ernstzunehmende Alternative angesehen wer171

Vgl. hierzu etwa auch Tieck, WL, S. 456. Auch an der Maschinenmetaphorik zeigt sich der starke Einfluss aufklärerischen Denkens. Engel kommt zu dem Ergebnis, dass im William Lovell ein „metaphorische[s] Gesamtsystem [entworfen wird], das die jeweiligen Figurenperspektiven übergreift und als poetischer Nexus eine neue Ebene der epischen Integration konstituiert“; in seiner Interpretation dienen dabei drei wichtige Bildkomplexe der Entfaltung der Subjektivität: a) die Mechanismus-, Maschinen- und Welttheatermetaphorik zur Charakterisierung der empirisch-sinnlichen Wirklichkeit; b) die Vertikalmetaphorik zur Charakterisierung der geistigen Tätigkeit des Subjekts (z.B. der Ikarus-Vergleich); c) die Gartenmetaphorik zur Charakterisierung der kindlichen Natureinheit (vgl. Engel, 1993, S. 164 f). Brecht ergänzt diese Diagnose dadurch, dass er eine noch engere Beziehung zwischen Metaphorik und Thematik des Romans herstellt: „Mit ermüdender Insistenz wird das karge Repertoire der Bilder wiederholt, variiert und rekombiniert: Welt-Theater, Welt-Gefängnis, Welt-Labyrinth, das Ich als Schauspieler, als Maske und Marionette; der Schreibende als Gefangener und Verirrter. Alle diese Motive gruppieren sich um das fehlende Zentrum der Individualität, artikulieren die Inkonsi-stenz, Nicht-Identität und Uneigentlichkeit des Subjekts, das sich in ihnen mitzuteilen versucht.“ (Brecht, 1993, S. 42) 173 Lovell relativiert diesen anthropologisch formulierten Befund historisch, indem er das Zeitalter der Moderne als eine Epoche der Entfremdung bezeichnet, die durch Schauspielerei und Künstlichkeit sowie durch Entzauberung charakterisiert sei und der er die „goldene Zeit“ der Antike entgegenstellt (Tieck, WL, S. 47 ff). Burton wehrt sich gegen diese Diagnose mit dem Hinweis, dass Antike und Mittelalter das „Kindesalter der Welt“ darstellten: gegenüber ihrem schönen (Selbst-)Betrug, ihrer verklärten Träumerei favorisiert er die Nüchternheit der Aufklärung (ebd., S. 57 ff). 172

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den.174 Insofern führt der Roman Tiecks in die existentielle Aporie. Die Figur Balders kann dabei als eine Radikalisierung der Lovell-Figur angesehen werden. Dies zeigt nicht zuletzt dessen Verwendung der Maschinen- und Marionettenmetapher, die später auch von Lovell aufgegriffen wird: durch Balders Bestimmung von Welt und Leben als „nichtswürdiges, fades Marionettenspiel“ bzw. als „verächtliche[s] Spiel der Maschinen“ (ebd., S. 81) weist dessen pathologische Schwärmerei auf die nihilistischen und misanthropischen Tendenzen in Lovells Denken voraus. Denn später erscheint auch Lovell selbst die Welt als „eine große Räuberhöhle, in der alles gemeinschaftliches Gut ist und jedermann so viel an sich reißt, als er bekommen kann“ (ebd., S. 547), in der also der Krieg aller gegen alle herrscht. Folgerichtig bezeichnet er das menschliche Leben zuletzt als „eine plumpe, unzusammenhängende Farce, der nüchterne, verdorbene Abhub einer alten, bessern Existenz, eine Kinderkomödie ex tempore, eine schlechte Nachäffung eines eigentlichen Lebens“ (ebd., S. 550). Wie an dieser und anderen Stellen deutlich wird, hat die Figur Balders im Hinblick auf die Hauptfigur des Romans also die Funktion einer Spiegelungsinstanz.175 Die vielen Ähnlichkeiten mit den Darstellungen von Desillusionierungsprozessen im Tobias Knaut, ja selbst noch im Agathon oder Don Sylvio dürfen jedoch nicht verdekken176, dass im William Lovell auf weitaus radikalere Weise als im spätaufklärerischen Roman die Kehrseite einer pragmatischen und anti-metaphysischen Grundhaltung vorgeführt wird. Dabei zeigt der Roman Tiecks auch, dass die Freiheit-von (i.S. einer negativen Freiheit) keineswegs die Freiheit-zu (i.S. einer positiven Freiheit) im Gefolge hat: Lovell zumindest kann mit seiner neugewonnenen Freiheit ebenso wenig wie Schoppe und Roquairol im Titan oder Markgraf im Kometen beginnen – sein Leben endet deshalb folgerichtig in der Katastrophe.177 Zwar ist im William Lovell viel von Freiheit, von der „uneingeschränkten Willkür eines Gottes“ die Rede, doch vermag der Protagonist sie letztlich nicht zu gebrauchen. So ist Lovell der Überzeugung, dass sich die Charaktere nur durch „das Gerüst und Sparrwerk eines Systems“ unterscheiden

174

Es ließe sich behaupten, dass in den beiden im William Lovell gegeneinander geführten Lebenswelten der Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik ausgetragen wird. Pikulik sieht in dem Figurenpersonal der beiden Lebenswelten eine „Multiplizierung der Lösungsmöglichkeiten“: der Schwärmerei Lovells steht unter seinen englischen Freunden die „Gesundschrumpfung des Bewußtseins“ gegenüber (vgl. Pikulik, 1983, S. 114 f). 175 Brecht geht so weit zu behaupten, dass „alle Geschichten im Roman Varianten der Geschichte Lovells“ seien, die jedoch im Grunde „keine Geschichte“ sei (vgl. Brecht, 1993, S. 34). 176 Auf formaler Ebene zeigt sich die Verwandtschaft mit dem philosophischen Roman der Spätaufklärung, insbesondere mit dem Aristipp Wielands darin, dass es sich um einen polyperspektivischen Briefroman handelt. 177 Auf den Zusammenhang zwischen Identitäts- und Freiheitsproblematik, der auch in der Philosophie des Deutschen Idealismus von größter Bedeutung ist, werden wir in Kap. 3.3 zurückkommen.

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(Tieck, WL, S. 199)178; der „kühnere Mensch“ hingegen erhebe sich über alle Systeme: Während sich die gewöhnlichen Menschen aufgrund ihrer „trägen Bequemlichkeit“ an „Grundsätze“ klammern, erkennt der freie Geist, „daß kein Gedanke und keine Vorstellung fest und unerschütterlich in uns stehen“, und vertraut stattdessen ganz seinem „Gefühl“; zwar finde er „tausend Widersprüche in sich selber“, doch bilde er „aus allen eine reiche Harmonie, die freilich dem gröberen Ohre unverständlich ist“ (ebd., S. 312).179 Alle Systeme erscheinen einem solchen Denken als „zufällige Kunstwerke“; das Kennzeichen des „Freigeistes“ ist es dagegen, dass er sie alle – selbst das „System der Systemlosigkeit“180 – überwinde. All dem stellt Lovell das Konzept der Gefühlsgewissheit entgegen: Die verschiedenen Gedankensysteme der Menschen sind nur zufällige Kunstwerke, die jeder sich so oder so aufbaut, und mit diesen oder jenen Zierraten aufputzt, je nachdem es ihm gutdünkt. So wie dieser die Tragödie, jener die Komödie liebt, ein andrer das lyrische, ein andrer das didaktische Gedicht; so macht sich der eine die stoische, der andre die akademische oder epikurische Philosophie zu eigen; aber alles sind nur die Außenwerke des Menschen, das Gefühl ist er selbst, das Gefühl ist die Seele, der Geist, die Philosophie der Buchstabe dieses Geistes; tote Zeichenschrift, wenn der Mensch sich nicht am Ende über alle Philosophie und Systeme, selbst über das System der Systemlosigkeit erhebt. Dieses Gefühl stößt so Zweifel als Gewißheit um, es sucht und bedarf keiner Worte, sondern befriedigt sich in sich selbst, und der Mensch, der auf diesen Punkt gekommen ist, kehrt zu irgend einem Glauben zurück, denn Glaube und Gefühl ist eins: so wird selbst der wildeste Freigeist am Ende religiös, ja er kann selbst das werden, was die Menschen gewöhnlich einen Schwärmer nennen [...]. (Tieck, WL, 181 S. 322 f)

Die Geschichte Lovells ist dennoch eine Geschichte der Selbstverfehlung, ein unaufhaltsamer Desillusionierungsprozess: die Gründung seines Lebensentwurfs auf das Gefühl führt ihn schließlich in die totale Verzweiflung – da helfen auch alle Invektiven gegen die „Sichern und Überzeugten“ nicht, denen die Moral als realitätsfernes Raster zur Lebensbewältigung dient.182 So stellt sich Tiecks William Lovell als eine radikale Kritik an den subjektivitätsphilosophischen Konzepten der Frühromantiker und Deutschen Idealisten dar – gleich ob sie diese aufs (Selbst-)Gefühl oder auf fortgesetzte

178

Wie in Wielands Aristipp findet sich also in Tiecks Roman die Auffassung, dass sich in jedem individuellen Dasein immer ein philosophisches System verkörpere (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1.3). 179 Für den William Lovell sei entsprechend, so Frank, die „Erfahrung der wesenhaften Kontingenz und Vorläufigkeit dessen“ charakteristisch, „was die Stabilität des Charakters verbürgen könnte“ (Frank, 1990, S. 245) 180 Tieck spielt hier offenbar auf Gedanken von Novalis (vgl. NO 2, S. 289) und Friedrich Schlegel an. 181 Pikulik weist darauf hin, dass „die [sentimentalische] Selbstfindung des Gefühls [..] auf seiner Kehrseite mit Selbstentfremdung bezahlt“ werde; entsprechend führe Tieck in seinem William Lovell das „Dilemma einer sich selbst durchschauenden und zuschauenden Gefühlsseligkeit“ vor (vgl. Pikulik, 2001, S. 22). 182 Vgl. Tieck, WL, S. 457.

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Reflexion gründen183: Dass ihr Ziel, innerhalb einer Geschichte des Geistes zuletzt ein vollständiges (Selbst-)Bewusstsein zu erreichen und damit, wie Schelling es wollte, ein „System der Freiheit“ zu entwickeln, je erreicht werden könnte, dagegen erhebt sich in Tiecks Roman ein nachhaltiger Zweifel. Hierbei korrespondiert die aus der Spätaufklärung überkommene Form des polyperspektivischen Briefromans184 – wie im Übrigen auch die den William Lovell prägende Metapher des Reisens185 – mit dem Verzicht auf eine einheitliche Charakterdarstellung, mit der eigentlichen Thematik also des Romans, als die wir die Dekonstruktion aller Subjektivitätskonzepte identifiziert haben186: Doch wie Tiecks vielperspektivischer Briefroman die Illusion einer auktorialen Kontrolle über die erzählte Geschichte dementiert und jede Romanfigur zum potentiell gleichberechtigten Erzähler ernennt, stellt er die Beziehung zwischen den Subjekten und ihrer Wirklichkeit als kon187 tingent, ja als tendenziell undenkbar heraus.

Auch in den Romanen Jean Pauls lässt sich jene ‚Verinnerlichungstendenz‘ beobachten, durch die laut Schelling und Hegel die romantische Literatur ausgezeichnet ist. Schon 183

Auch Brecht betont den aporetischen Charakter des William Lovell: „Wer aber wie Lovell sich weigert, Reflexion stillzustellen, muß erst recht zugeben, ‚wie jetzt nichts in mir zusammenhängt, wie ich so gar nichts bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir verfahre‘. So bleibt jeder Versuch einer reflexiven Selbstbegründung im Roman aporetisch und endet im kontingenten Wechsel der Bewusstseinszustände (Lovell), in der dezisionistischen Affirmation des kleineren Unglücks (Mortimer, Eduard) oder im rhetorischen Spiel mit der Sprache (Lord Burton).“ (Brecht, 1993, S. 31) 184 Gerade als Briefroman wurde der William Lovell, so Michel, der „entscheidende Referenztext des ersten Godwi-Teils“ von Brentano (vgl. Michel, 2006, S. 189). Im Zusammenhang mit beiden Romanen führt Michel mit Bezug auf die Interpretation Scharnowskis aus: „Einerseits ist der Gattung des Briefromans der optimistische, ‚aufklärerisch-empfindsame Glaube an Authentizität, Aufrichtigkeit und unmittelbare Kommunikation der Seele des Ich mit dem Anderen‘ eingeschrieben; andererseits betont der Briefroman die ‚Einsamkeit, die Isolation des Schreibenden, sein Zurückgeworfensein auf das eigene Ich, das zwar durch den Brief zu kommunizieren sucht, seine Isolation beim Schreiben, in der Reflexion jedoch verstärkt sieht‘.“ (ebd., S. 200; vgl. Scharnowski, 1996, S. 38) 185 Für Heilmann steht Tiecks William Lovell deshalb in der „Tradition der Grenzgänge“ (vgl. Heilmann, 1992, S. 212). Auch für Engel ist die erzählte Reise Lovells eigentlich eine „geistige“, die insgesamt drei „Stationen“ durchlaufe: „Lovell beginnt als empfindsam-moralischer Schwärmer, wandelt sich zum materialistischen Hedonisten und scheitert endgültig als hyperphysischer Schwärmer.“ (Engel, 1993, S. 156) 186 Engel hält ebenfalls dafür, dass es im William Lovell vor allem um eine Darstellung der „Abgründigkeit der menschlichen Natur“ gehe, d.h. des „unergründlichen Rätsel[s]“, [w]as das Ich eigentlich ist“ (Engel, 1993, S. 162). Auch Brecht weist auf diese Korrespondenz zwischen Form und Thematik des Romans hin, indem er in der „Negativität“ „zunächst einmal Struktur und dann erst Thema des Romans“ erkennt (Brecht, 1993, S. 35). Er kommt schließlich zu der rhetorisch etwas aufgeblasenen Diagnose, dass die Figur William Lovell „weder Geschichte noch Charakter“ habe, und bezeichnet Tiecks Roman als den „zu Ende erzählte[n] Roman der Aufklärung“ (ebd., S. 32). 187 Brecht, 1993, S. 23. Brecht weist dabei auch auf die „nachdrückliche Explizitheit des Buches, das unablässige Räsonnement aller Briefschreiber“ (ebd., S. 10) hin; dies aber stellt den William Lovell wiederum in die Nähe des philosophischen Romans der Spätaufklärung.

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der sich selbst befruchtende metaphorische Kosmos seiner Romane sowie die Tatsache, dass die Werke Jean Pauls auf der Ebene von Figurenpersonal und Handlungsverlauf in vielfältigen Beziehungen stehen, lassen sich nicht allein als Kennzeichen autoreflexiver Erzählverfahren, sondern zugleich als Ausdruck der Subjektivierung des Erzählens auffassen, insofern sich dadurch die subjektive Erzählwelt Jean Pauls gegenüber der vermeintlich nicht-sprachlichen Realität abschließt.188 Kaiser hält dafür, dass Jean Paul durch derlei narrative Strategien nicht nur seinen jeweiligen Roman, sondern vor allem auch seinen Leser erschaffe: In seinen Werken entwickle er „etwas Neues, auf das Jean Paul seine Leser erst vorbereiten und einstimmen muß“; dieses Neue sei „das poetische Ich“, mit dem „die verborgene gemeinsame Natur des Ich in Autor und Leser“ gemeint sei.189 Jean Paul nämlich ist der Überzeugung, dass im „Dichter [..] bloß die Menschheit, nur die Menschheit an[spreche], aber nicht dieser Mensch jenen Menschen“, indem er „dem Geiste nur die geistig wiedergeborne Welt übergibt“.190 Die Poesie bedürfe entsprechend in Produktion wie Rezeption einer „göttlichen Besonnenheit“ i.S. eines vollständigen „Selbstbewußtsein[s], welches [..] ein ganzes Sichselbersehen des zu- und des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich ist“.191 Gerade der Roman stellt ein solches Integral der gesamten sinnlichen und geistigen Tätigkeit her – ein poetisches Ich mithin, in dem „die höchste Helle des Selbstbewußtseins mit der größten Fülle des Inhalts“ verbunden ist.192 Die spezifische Leistung der Poesie besteht also in der Synthese von Herz und Kopf: „Die Dichter hängen den Kopf wieder mit dem Herzen zusammen.“193 Kaiser interpretiert die Position Jean Pauls so, dass „das Ich der Reflexion in der poetischen Beschreibung oder ästhetischen Darstellung“ bedürfe, weil das Ich – gemäß seiner „anthropologische[n] Situation“, immer schon in einer Welt zu sein – „im Erkennen nicht sich selbst in der Weise äußerer Objekte gegenständlich werden“ könne.194 Eine solche Selbsterkennung sei nur in Analogien und Metaphern möglich: Die poetischen Spiele des Vergleichens, Beseelens und Verkörperns, des Findens, Erfindens und Übertragens zeigen uns unsere Geist-Natur des Metaphorischen in der Situation des Zwischen und der Schwebe. Diese Situation ist die der menschlichen Freiheit. [...] Gott und Natur

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Schwanitz geht so weit zu behaupten, dass die „Selbstreferentialität des Erzählens [..] auch die des Bewußtseins [artikuliere] und dann auf die gleiche Unmöglichkeit [stoße], sich als Einheit zu fassen“ (vgl. Schwanitz, 1990, S. 185). 189 Vgl. Kaiser, 1995, S. 73. 190 Jean Paul, Werke, Bd. 9, S. 251. 191 Ebd., S. 57. Die Besonnenheit als das herausragende Merkmal des Genies verbürgt für Jean Paul zugleich die Verwandtschaft des ‚Dichters‘ mit dem ‚Philosophen‘, die beide „ein Auge“ seien (ebd.). 192 Kaiser, 1995, S. 81. 193 Jean Paul, Werke, Bd. 8, S. 1023. 194 Kaiser, 1995, S. 215. Für Jean Paul besteht dabei offenbar eine Korrespondenz von „unabgeteilte[r] Seele“ und Welt (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 24).

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insgesamt sind die von uns selbst entworfenen Meta-Metaphern, die uns als Subjektivität und 195 unsere Welt konstituieren.

Obgleich aber die Poesie nach Auffassung Jean Pauls – wie bereits Schillers – der Wiederherstellung des ganzen Menschen diene196, führe sie zugleich die eigentümliche Doppelnatur des Menschen vor.197 Hauptmittel dieser Darstellung ist für Jean Paul der Humor.198 Jean Paul hat nun seinen Ichbegriff in intensiver Auseinandersetzung mit Fichtes Philosophie entwickelt.199 Im Protektorium seiner Clavis Fichtiana trägt er, wie schon Novalis in seinen Fichte-Studien, die These vom transreflexiven Sein bzw. der Notwendigkeit einer Selbstvertrautheit vor der Selbstsetzung vor.200 Dennoch bezeichnet Jean Paul in seiner pädagogischen Schrift Levana das Ich als das „Höchste“ zugleich und „Unbegreiflichste“: Ich ist – Gott ausgenommen, dieses Ur-Ich und Ur-Du zugleich – das Höchste so wie Unbegreiflichste, was die Sprache ausspricht und wir anschauen. Es ist da auf einmal, wie das ganze Reich der Wahrheit und des Gewissens, das ohne Ich nichts ist. (Jean Paul, Werke, Bd. 9, S. 564)

Für Jean Paul ist das Ich Inbegriff der „Persönlichkeit“, die als „innerer Sinn aller Sinne [...] alle ästhetische, sittliche und intellektuelle Kräfte zu einer Seele bindet“.201 Dieses Ich qua Persönlichkeit ist aber „nicht ein weltloses, transzendentales oder absolutes Subjekt, das sich als Instanz eines gewissen Wissens allem Gewußten zugrundelegt oder voraussetzt, sondern das polare Ich, das in seiner Spannung und Gespaltenheit den Strukturen einer Welt entspricht, auf die es als eine Situation in Wechselwirkungen bezogen bleibt“.202 Subjektivität entfaltet sich also für Jean Paul „nicht im Fichtischen 195

Kaiser, 1995, S. 227 f. Vgl. auch Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 209: „Im Dichter kommt die ganze Menschheit zur Besinnung und zur Sprache [...].“ 197 Der Leib-Seele-Dualismus wird auch von Novalis betont: „Wir haben 2 Systeme von Sinnen, die so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste miteinander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, Eins, die Seele. Jenes steht in der Abhängigkeit von äußern Reitzen, deren Inbegriff wir die Natur oder die äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Abhängigkeit eines Inbegriffs innerer Reitze, den wir den Geist nennen, oder die Geisterwelt.“ Novalis hält nun wie Jean Paul dafür, „daß beyde Systeme eigentlich in einem Vollkommnen Wechselverhältnisse stehn sollten“ (NO 2, S. 546 f). 198 Vgl. dazu Kaiser, 1995, S. 211. 199 Nach der Kritik von Schelling, Novalis und Jean Paul hat Fichte das aktive durch ein passives Produktionstheorem ersetzt, wonach das Ich eine gesetzte sich selbst setzende Tätigkeit ist (vgl. Hesse, 2005, S. 130). 200 Vgl. ebd., S. 128 f. 201 Ebd. In der nachgetragenen Vorrede zum 1. Band des Siebenkäs führt Jean Paul aus, dass das Ich erst durch das Selbstbewusstsein zur Person werde: indem „sich das Ich von seinen Gegenständen ab[reiße], an denen es nur eine Eigenschaft war“, werde es „eine Person“ und sehe sich selbst (vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 138). 202 Kaiser, 1995, S. 210. 196

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Ob-Subjektivieren des Ich“ als vielmehr in intersubjektiven Beziehungen, durch die wir allererst zu einem Ichbewusstsein gelangen203: [Unsere Seele] zwingt uns, an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen – also unsere Seele in fremde Augen, Nasen, Lippen überzutragen. Kurz, durch Physiognomik und Pathognomik beseelen wir erstlich alle Leiber [...]. (Jean Paul, Werke, Bd. 4, S. 203 f )

In seiner Clavis Fichtiana im Komischen Anhang zum Titan versucht Schoppe entsprechend durch beißende Satire die fatalen Folgen der Ichtheorie Fichtes zu zeigen204: In dieser werde nicht nur die gesamte Sinneswelt, sondern auch der Mitmensch zum bloßen Material für sittliches Handeln degradiert; damit aber sei die Liebe als die einzige Lösung des Fichteschen Solipsismus unmöglich, weil dies die volle Anerkennung des Mitmenschen voraussetze.205 Die einem solchen ‚intersubjektiven Subjektivitätsmodell‘ angemessene Diskursform stellt nun, wie Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik ausführt, der Roman dar. Dabei betont er hinsichtlich der Figurenzeichnungen gegen die hinreichend motivierte Charakterdarstellung die Freiheit der poetischen Charaktere, „weil etwas Freies und Festes im Menschen früher sein muß als jeder Eindruck darauf durch mechanische Notwendigkeit“.206 Schon im Hesperus steht das Identitätsproblem hinter der Geschichte von den verlorenen Fürstensöhnen: Das komplexe Geflecht der Verwechslungen, das erst am Ende des Romans unter Beteiligung des Erzählers207 aufgelöst wird, verweist auf die ungesicherte Identität der Protagonisten. Dies zeigt sich bereits an der Namensgebung für Viktor208 sowie an dem Erzähler-Leser-Dialog, in dem der Erzähler aufgefordert wird, die Namen der Helden zu ändern.209 Darüber hinaus finden sich im Hesperus ausführliche subjektivitätsphilosophische Reflexionen, etwa in Viktors Aufsatz über das Verhältnis des Ich zu den Organen, in dem das Leib-Seele- resp. Gehirn-GeistProblem diskursiv verhandelt wird.210 Dass die Identität des Menschen prinzipiell unsicher ist, zeigen auch die Flegeljahre. Schon in der Testamentseröffnung wird deutlich, 203

Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 564 f. Jean Paul, Werke, Bd. 3, S. 1032-1056. 205 Ebd., S. 1054 f. 206 Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 248. Laut Schings zeigt diese Auffassung Jean Pauls, dass er „gleichermaßen Distanz zum Materialismus [...] wie zu den großen metaphysischen Systemen“ bewahre (vgl. Schings, 1980, S. 258 ff). Ohne das ‚helle‘ Selbstbewusstsein des Ich gibt es für Jean Paul im Übrigen „keine Freiheit“ (Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 139). 207 Vgl. dazu die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel 2.2.4. 208 Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. 492 f. 209 Ebd., S. 508. Das Doppelgängermotiv – und damit zugleich die Identitätsproblematik – wird auch anlässlich der Aufstellung einer Wachsfigurennachbildung Viktors thematisiert (vgl. ebd., S. 711 f). 210 Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 1099-1105. Im Übrigen wird an dieser Stelle auch das Verhältnis von Philosophie und Poesie ventiliert und die Notwendigkeit ihrer gegenseitigen Befruchtung betont. 204

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dass die Identitätsfindung als ein lebenslänglicher und – angesichts des Fragmentcharakters des Romans – unabschließbarer Prozess aufgefasst wird, insofern die Bedingungen, an die die in Aussicht gestellte Erbschaft geknüpft ist, zugleich die Bedingungen der Identitätsfindung des Protagonisten markieren.211 Dem gemäß wird im Verlauf des Romans die Subjektivitätsproblematik anhand der Geschichte der Zwillingsbrüder dargestellt212, wobei das darin wirksame Doppelgängermotiv in der narrativen Struktur der Flegeljahre gespiegelt wird213. Endgültig zum zentralen Thema wird die Subjektivitätsproblematik im Siebenkäs, der darum als exemplarisch für die Gattung des Identitätsromans angesehen werden kann. In diesem Roman erhält das Doppelgängermotiv eine subjektivitätsphilosophische Grundlegung, die zugleich das gesamte narrative Geschehen trägt. Bereits beim ersten Auftritt Leibgebers, dessen Name deutlich auf das von nun an beherrschende Thema des Romans verweist214, werden die beiden Protagonisten als eine Seele in zwei Körpern beschrieben: ihre geistigen, aber auch ihre körperlichen Ähnlichkeiten sind so groß, dass der aus Freundschaft verabredete Namenstausch nur mehr noch eine Äußerlichkeit darstellt, in dem allerdings das Identitätsproblem zugleich besonders greifbar wird.215 Der Namenstausch wird zum Auslöser für die gesamte, Züge einer Kriminalgeschichte tragende Fabel: nach dem Betrug des Advokaten Blaise, der die Vormundschaftsakte unterschlägt216, führt er dazu, dass Siebenkäs die ihm zustehende Erbschaft vorenthalten wird. Um zu ihr doch noch zu gelangen und zugleich um die unglückliche Ehe des Armenadvokaten wieder zu scheiden, verabreden die ‚Brüder im Geiste‘ Leibgeber und Siebenkäs eine mit erneutem Namenstausch verbundene Schein-

211

Vgl. ebd., S. 581-597. Vgl. dazu die Kindheitsgeschichte der Zwillinge (ebd., S. 608-616), aber auch die Szene, in der die beiden Brüder in eine gemeinsame Wohnung ziehen (ebd., S. 992 ff), sowie das daraus sich entspinnende ‚Doppelleben‘ (vgl. ebd., S. 1005-1017). Die Schlussszene führt die Identitätsproblematik nochmals auf eindrückliche Weise vor: die Trennung der Zwillingsbrüder wird zur Voraussetzung der ‚Ichfindung‘ des Protagonisten Walt (vgl. ebd., S. 1080-1088). 213 Vgl. insbesondere das Projekt des Doppelromans im Roman „Hoppelpoppel oder das Herz“ (vgl. ebd., S. 665-670) sowie unsere Ausführungen im vorangegangenen Kapitel. 214 Vgl. die Nottaufe Siebenkäs‘-Leibgebers im Seesturm (ebd., S. 370). Leibgeber wird im Übrigen auch als „Protoplast“ bzw. als „Adam der Menschheit“ bezeichnet (ebd., S. 121). Michel spricht in diesem Zusammenhang von einer „fragilen Taufakrobatik“ und charakterisiert die Übertragung der Namen als einen „metaphorische[n] Vorgang“ (vgl. Michel, 2006, S. 149 ff). 215 Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 39 ff. Siebenkäs und Leibgeber werden hier als „eine in zwei Körper eingepfarrte Seele“ charakterisiert. Bezeichnenderweise wird an dieser Stelle in einer Fußnote auf den Titan verwiesen (vgl. ebd., S. 41). Die Beschäftigung Leibgebers mit der Schattenreißerei als einer „gespenstische[n] Nachahmung“ ist für das Identitätsproblem ein weiterer metaphorischer Ausdruck. 216 Vgl. ebd., S. 54 ff. Bei der ersten Begegnung mit Blaise wird das Doppelgängermotiv im Übrigen mit der Todesmetapher verknüpft. 212

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

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tod-Intrige.217 Im Zuge der Darstellung der fingierten Sterbe- und Beerdigungsszenen wird die Identitätsproblematik auf vielfache Weise metaphorisch gespiegelt, wobei der Tod, indem er mit der „Maske“ analogisiert wird, als Gegensatz und Ende aller Identität erscheint, die sich vielmehr nur in der „Liebe“, also in intersubjektiven Beziehungen entfalten könne.218 Gleichwohl wird die Subjektivitätsproblematik im Siebenkäs auch diskursiv eingehend verhandelt. Die beherrschende Metapher in der Auseinandersetzung mit der IchTheorie ist dabei diejenige des Spiegels bzw. des Doppeltsehens. Neben der Liebe kann, so legen es der Erzähler und Siebenkäs selbst gegenüber dem ‚Atheisten‘ Leibgeber dar, nur der Glaube an Gott und die Unsterblichkeit der Seele der Gefahr des Solipsismus und damit einer schwerwiegenden Identitätskrise begegnen219: Während das Fruchtstück Über die Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie220 vorführt, dass die Liebe die einzige Lösung des Solipsismus darstellt, wird in der Rede des toten Christus zum Ausdruck gebracht, dass eine solche Ichtheorie notwendige Konsequenz des Atheismus sei: die Appellation an die dritte Instanz Gottes und die durch sie verbürgte Unsterblichkeit dient also vor allem der Überwindung der Ichspaltung.221 Im Verständnis Jean Pauls soll aber durch beide Ansätze deutlich werden, dass das Problem der Subjektivität nur unter Berücksichtigung der Intersubjektivität gelöst werden könne. Man kann nun behaupten, dass im Siebenkäs der Durchbruch des Selbstbewusstseins als einer „Offenbarungserkenntnis“ dargestellt werde – der Scheintod des Protagonisten ist dafür der metaphorische Ausdruck. Kaiser ist deshalb Recht zu geben, wenn er „die Herstellung des Ich als das eigentliche Thema des Romans“ bezeichnet: Zwar scheint es im Erbprozess nur um die Bestreitung der bürgerlichen Identität zu gehen, doch im Grunde soll vorgeführt werden, „daß Tradition, Eigentum, Recht: symbolisch die gesamte kuhschnappelische Ordnung, nicht die freie Person, das Ich, sondern bloß deren soziale Geltung, den Namen, betreffen“.222 Von der Erlangung dieser autonomen Identität aber handelt Jean Pauls Roman, wobei allerdings, gegen Kaiser Interpretation, zu sagen ist, dass der „Übergang in die Freiheit des poetischen Ichs“ keineswegs gleichbedeutend ist mit einer vollständigen „Befreiung vom Namen, von aller bürgerlichen Ordnung“223, sondern sich noch immer im Rahmen dieser Ordnung bewegt: Nicht nur wird 217

Vgl. ebd., S. 378-387. Jean Paul schreckt nicht davor zurück, das Doppelgängermotiv mit Elementen des romantischen Schauerromans zu mischen (vgl. ebd., S. 481 ff). 218 Vgl. ebd., S. 510-514. Diese Position findet sich auch in den Clavis Fichtiana. 219 Vgl. ebd., S. 68, S. 364 ff sowie S. 531 ff. 220 Vgl. ebd. , S. 416 ff. Dieses „Fest der Sanftmut am 20. März“ findet nicht bloß zu Frühlingsbeginn und somit zu Jean Pauls Geburtstag, sondern zugleich am Tag der Abstimmung über die französische Verfassung (1795) statt (vgl. dazu auch ebd., S. 534). 221 Vgl. ebd., S. 270 ff. Für Jean Paul ist die Beziehung zwischen Gott und Mensch das tentrale intersubjektive Verhältnis. In der Auffassung, dass der Solipsismus notwendige Konsequenz des Atheismus sei, folgt der Siebenkäs der Philosophie Jacobis. 222 Kaiser, 1995, S. 87 f. 223 Ebd., S. 94.

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die Unmöglichkeit der Ehescheidung mit religiösen Argumenten begründet und für Natalie durch die Witwenrente eine Versorgung gefunden – auch Siebenkäs selbst findet seine neue Existenz, indem er eine Inspektorenstelle erhält, in durchaus bürgerlichen Verhältnissen. Dennoch muss betont werden, dass im Siebenkäs, wie schon im Falle des ebenfalls 1795/96 erschienenen William Lovell Tiecks, das Subjektivitäts- und Identitätsproblem zum beherrschenden Thema des Romanerzählens wird, wobei davon auch die narrative Struktur des Romans erfasst wird224: In Jean Pauls Siebenkäs betritt also – trotz aller fortbestehenden, eklektizistischen Anleihen auch bei voridealistischen Diskursen – das Subjekt des deutschen Idealismus die Bühne der Erzählliteratur. Da dieses Subjekt dadurch gekennzeichnet ist, daß es sich jeder selbstreflexiven Identifikation entzieht, ist es um 1800 untrennbar mit dem problematischen Anspruch seiner narrativen Darstellung verbunden: Das Ich, dieser höchste Punkt der idealistischen Philosophie, kann nach Auskunft der Frühromantiker zwar nicht gedacht, gleichwohl aber soll es erzählt und damit in seiner unhintergehbaren Brüchigkeit bzw. Zeitlichkeit vorgeführt werden. Das Subjekt ist also um 1800 eine philosophische und poetologische Kategorie. Und da die Allegorie die narrative Tropenform darstellt, für die nicht nur die zeitlich-syntagmatische Ausdehnung, sondern auch der Bruch konstitutiv ist, verwundert es nicht, daß Jean Pauls Sieben225 käs als allegorischer Text funktioniert.

Tiecks William Lovell und Jean Pauls Siebenkäs führen jedoch nicht allein vor, dass ein haltbares Subjektivitätskonzept sich nur unter Berücksichtigung der Intersubjektivität entwickeln lasse – wofür wiederum der Roman die allein angemessene Diskursform darstelle –, sondern sie bemühen sich zugleich um eine Dekonstruktion des Subjekts und damit um eine Bestreitung der Ansprüche der idealistischen Subjektivitätsmodelle.226 Noch klarer wird dies in Jean Pauls Titan, auf den das Ende des Siebenkäs vorausweist: Beim Abschied Leibgebers, der das Identitätsproblem nochmals in konzentrierter Form und unter ausgiebiger Verwendung der Spiegelmetapher vorführt, vertröstet dieser seinen Freund Siebenkäs auf ein späteres Wiedersehen, das jedoch erst im Titan stattfindet.227 Dass es dort unter durchaus tragischen Umständen erfolgt, unterstreicht nochmals den dekonstruktiven Charakter der Romane Jean Pauls. Das Doppelgängermotiv und damit das Identitätsproblem wird also bei Jean Paul sowohl komisch – wie in den Flegeljahren oder dem Siebenkäs – als auch tragisch behandelt. Im Titan wird – gemäß Jacobis Nihilismusvorwurf gegenüber der idealistischen 224

Vgl. dazu Kap. 2.2.4. Auch Michel weist darauf hin: „Weil das Namensspiel und die Identitätsproblematik im Siebenkäs auf der Ebene der Erzählinstanz fortgeführt wird, verbietet sich [...] der naive Rekurs auf einen verläßlichen, identitätsstiftenden Ursprung in Gestalt des erzählenden Subjekts.“ (Michel, 2006, S. 153) 225 Ebd., S. 127 f. 226 Für den Siebenkäs stellt dies auch Michel fest: „Auch wenn Jean Paul theoretisch à la Hegel gegen die Frühromantiker Stellung bezieht, macht sein Roman genau das, was die Frühromantiker theoretisch einholen: Er dekonstruiert das Subjekt und zeigt die Abhängigkeit des Ich von seiner rhetorischen Inszenierung in der metaphorischen Rede.“ (Michel, 2006, S. 153 f) 227 Vgl. Jean Paul, Werke, Bd. 2, S. 534 u. 539 ff.

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Subjektivitätsphilosophie – die absolute Freiheit des Subjekts zur absoluten Leere. Fichtes Ichlehre führt hier zum Verlust aller Haltepunkte. Zwar versuchen die „hohen Menschen“ Jean Pauls der Selbstentfremdung, der Spaltung in Leib und Seele sowie dem Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit, kurzum: der Gefahr einer Identitätskrise mit ihrer Sehnsucht nach Verwirklichung des ganzen Menschen zu begegnen und dies mit dem Glauben an Gott und Unsterblichkeit abzusichern, doch zeigen die Figuren Schoppe und Roquairol, dass am Rande der Identitätssuche stets der solipsistische Wahnsinn lauert.228 So wird das Subjektivitätsproblem im Titan in beiden Richtungen verfolgt: der am Ende erfolgreichen Selbstfindung der Hauptfigur steht das vollständige Scheitern Schoppes und Roquairols gegenüber – eine Widersprüchlichkeit, die sich in der Makrostruktur des Romans: in seiner Aufspaltung in Haupterzählung und Komischen Anhang wiederholt.229 So ist der Titan gleichzeitig ein Bildungsroman im hohen „italienischen Stil“ und ein Beispiel für den „Experimentalnihilismus“230 Jean Pauls; in ihm mischt sich die Überzeugung von der Existenz eines festen Kerns im Menschen auf eigentümliche Weise mit dem Bewusstsein um die Gefahren aller Subjektivitätsmodelle.231 Erheblich verschärft treten diese nihilistischen Tendenzen in den Nachtwachen von Bonaventura auf. Auf eindringliche Weise werden sie hier mit dem Identitätsproblem verknüpft: Ich hatte jetzt aufgehört, alles andere zu denken, und dachte nur mich selbst! Kein Gegenstand war ringsum aufzufinden als das große schreckliche Ich, das an sich selbst zehrte und im Verschlingen stets sich selbst wiedergebar. (Bonaventura, 1990, S. 122)

In den subjektivitätstheoretischen Reflexionen des Nachtwächters erscheint das Ich als das einzig Reale, während sich alle übrigen Personen auf bloße „Masken“ reduzieren. Wie Kremer festgestellt hat, mündet in den Nachtwachen somit die Suche nach einem Sinn von Leben und Geschichte „im Subjektivismus und in der Einsamkeit des fragenden Ich, das immer wieder auf die Zirkel seiner Reflexion zurückgeworfen wird“232: Kannst du es nimmer lösen, warum alle deine Geschöpfe träumend glücklich sind, und nun der Mensch wachend dasteht, und fragend – ohne Antwort zu erhalten? – Wo liegt der Tempel des Apollo – wo ist die Stimme, die einzig antwortende? Ich höre nichts, als Widerhall, Widerhall meiner eigenen Rede – bin ich denn allein? (Bonaventura, 1990, S. 107) 228

Vgl. dazu Prevaux, 1986, S. 97-122. Dass Schoppe seinen solipsistischen Wahnsinn in stetem Bezug auf Fichte auslegt, wird besonders deutlich in: Jean Paul, Werke, Bd. 3, S. 766 ff. 229 Vgl. dazu Lindner, 1980, S. 287: „Daß die poetische Lösung des ‚Titan‘ widersprüchlich blieb, läßt sich nicht allein an der Konzeption des Helden ablesen, sie wird vielmehr von der Form des Romans offen eingestanden. Die zum ‚Titan‘ gehörigen ‚Komischen Anhänge‘ zeigen an, was um die Reinheit des hohen, ‚italienischen‘ Stils willen zurückgedrängt werden mußte.“ 230 Vgl. Schmidt-Biggemann, 1975, S. 274. 231 Das Fragment gebliebene Spätwerk Jean Pauls Der Komet kann im Übrigen – dies sei hier nur beiläufig erwähnt – als Parodie zugleich des Hesperus (als Geschichte vom verlorenen Fürstensohn) und des Titan bzw. des Staats- und Fürstenerziehungsromans angesehen werden (vgl. dazu auch Berhorst, 2002, S. 251 ff). 232 Kremer, 1990, S. 289; vgl. dazu u.a. Bonaventura, 1990, S. 92 f.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Dass „der Widerhall im Gebeinhause [..] zum letzten Male – Nichts!“ (ebd., S. 143) ruft, macht jedoch deutlich, dass die radikale Dekonstruktion des Subjekts geradewegs zum Nihilismus führt. Diese Deutung ließe sich auch an den Romanen E.T.A. Hoffmanns erweisen. Nicht nur wird in den Elixieren des Teufels auf krasse Weise dargestellt, dass die Identitätssuche stets der Gefahr des Wahnsinns ausgesetzt ist, sondern auch im Kater Murr zeigt sich die Identitätsproblematik auf zumindest zwei Ebenen: Einerseits wird in der Autobiographie des Katers der klassische Bildungsroman ad absurdum geführt, andererseits zerfällt die Lebensbeschreibung Kreißlers in scheinbar unzusammenhängende Fragmente, aus denen sich kein Ganzes mehr formen will. Zugleich aber schlägt sich die darin stattfindende Dekonstruktion der Subjektivität in der Makrostruktur des Romans nieder, der zu einer „fragmentarische[n] Biographie [...] in zufälligen Makulaturblättern“ wird.233 Als Ergebnis unserer Untersuchung der Subjektmodelle der Achsenzeit lässt sich somit festhalten: Wenn auch eine schlichte Analogisierung zwischen den genetischen Subjekttheorien des Deutschen Idealismus und den Identitätsromanen um 1800 abgelehnt werden muss, lässt sich durchaus davon sprechen, dass Literatur und Philosophie der „Achsenzeit“ einem gemeinsamen Syndrom angehören. Dieses Syndrom ist charakterisiert durch die Prozessualisierung der Subjektmodelle. Die Geschichte des (Selbst-) Bewusstseins – gleich ob in ihrer philosophischen oder literarischen Gestalt – befindet sich, mit Ricœur gesprochen, in der beständigen Spannung zwischen einer „Archäologie des Subjekts“, die die vergangenen Gestaltungen des (Selbst-)Bewußtseins in einer Anamnese aufzuarbeiten versucht, und einer „Phänomenologie des Geistes“ i.S. einer „Teleologie des Subjekts“, „der zufolge jede Gestalt ihren Sinn nicht in der vorangehenden, sondern in der folgenden findet“.234 Als „Aufgabe einer reflexiven Philosophie“ bestimmt Ricœur folglich das subjektivitätstheoretische Unterfangen, „in dialektischer Form mit dieser Archäologie eine Teleologie zu verbinden“.235 Der Versuch, dieser komplexen Aufgabe Genüge zu tun, wurde zweifellos sowohl in den transzendentalpoetischen Identitätsromanen als auch in den subjektivitätsphilosophischen Modellen um 1800 unternommen. Nun könnte man zwar mit Manfred Engel behaupten, dass die Einheit der transzendentalen Geschichte des Bewusstseins und der naturphilosophischen Geschichte der Natur nur von der Dichtung (symbolisch) darzustellen sei236; 233

Wie hier nicht weiter ausgeführt werden kann, zeigt sich die zentrale Stellung des Subjektivitätsproblems im transzendentalpoetischen Identitätsroman nicht allein in der häufigen Verwendung des Doppelgängermotivs, sondern zugleich in der – gerade bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann allenthalben auftretenden – Metapher des Automaten bzw. des ‚künstlichen Menschen‘, durch die die Selbstentfremdung des Subjekts auf besonders eindringliche Weise zum Ausdruck kommt (vgl. dazu Neumann, 1997, S. 118). Auch das mikroskopische Glas im Meister Floh kann als Metapher für den ‚bösen Blick‘ angesehen werden, mit dessen Hilfe die Subjektivität zunächst einem Totalverdacht unterworfen wird, um sie sodann gründlich zu dekonstruieren. 234 Ricœur, 1973, S. 33. 235 Ebd., S. 146. 236 Vgl. Engel, 1993, S. 467.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

415

derlei etwas knalligen Wertungen haftet jedoch stets der Ruch der historischen Ungerechtigkeit an. Wie immer man aber die Subjektivitätskonzepte um 1800 – gleich ob sie literarisch oder philosophisch formuliert wurden – genau bewerten mag, eines scheint allemal gewiss: an den in der Achsenzeit gesetzten Standards hat sich jedes Subjektmodell bis heute zu messen. Allerdings ist zu beachten, dass im Identitätsroman zugleich eine Dekonstruktion der idealistischen Subjektmodelle stattfindet: Um 1800 ist das Problem der Unverfügbarkeit des Individuums ein bevorzugtes Thema der Literatur. Während die zeitgenössischen Subjekttheorien und allen voran die Philosophie Hegels sich mühen, ihren Gegenstand positiv greifbar zu machen oder doch zumindest als Ziel- und Orientierungspunkt des Bildungsgangs vorzustellen, verzeichnet die Literatur die Versehrun237 gen des Subjekts.

Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass damit im transzendentalpoetischen Roman letztlich nur Tendenzen radikalisiert werden, die bereits den philosophischen Roman der Spätaufklärung auszeichnen.238 Darüber aber, dass sich Subjektivität allein in intersubjektiven Konstellationen entfalten kann und dies vor allem der Roman, nicht jedoch ein subjektivitätsphilosophisches Modell zu zeigen vermag, herrscht zwischen den literarischen Spätaufklärern und Frühromantikern ohnehin Einigkeit. Dem allerdings würden auch die Deutschen Idealisten kaum widersprechen.

237

Konersmann, 1991, S. 41. Michel sieht dabei am geistesgeschichtlichen Horizont bereits ein neues Subjektivitätskonzept erscheinen, das er – unter Rückgriff auf Ausführungen Bohrers – mit dem etwas schwammigen Begriff der ästhetischen Subjektivität bezeichnet: „Ästhetische Subjektivität entsteht dann, wenn sowohl das an Selbsterhaltung und Authentizität orientierte Subjektmodell der (Spät-)Aufklärung und Empfindsamkeit als auch die immer noch teleologische, vom Idealismus ausgehende Struktur des frühromantischen ‚Ich-Projekts zerfällt oder gefährdet ist‘.“ (Michel, 2006, S. 186; vgl. Bohrer, 1987, S. 45). 238 Mit der Betonung einer Kontinuität zwischen Aufklärung und Romantik auch im Hinblick auf die Subjektivitätsproblematik stellen wir uns einer noch heute weitverbreiteten Auffassung entgegen, wie sie etwa Thomas E. Schmidt vertritt (vgl. Schmidt, 1989c, S. 238)

2.2.6 Noch einmal: der alte Streit ... Die Poesie „darf singen, was niemand zu sagen wagt in schlechter Zeit.

1

Betrachtet man vor dem Hintergrund der organizistischen Kunstauffassung sowie der idealistischen resp. frühromantischen Subjektivitätskonzepte das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Kunst um 1800, so erscheint die Tatsache, dass Schelling und Schopenhauer die Metaphysik in die Nähe der Kunst stellten, in einem neuen Licht.2 Grundlage ihrer Versuche einer Annäherung der beiden Diskurse ist die Bestimmung ihrer spezifischen Erkenntnisarten: Die absolute Erkenntnisart der Philosophie unternimmt eine ‚vertikale‘ Deutung des empirisch Gegebenen (und von der ‚horizontalen‘ Erkenntnisart der Wissenschaft Erforschten); dadurch wird die Metaphysik zu einer Hermeneutik auf empirischen Grundlagen, wobei sie die Natur wie ein ‚Buch‘ zu lesen versucht. Bei dem Versuch, die Stellung des Menschen im Naturganzen zu begreifen, geht sie von dem aus, was Henrich das „Grundverhältnis“ genannt hat, um dadurch „vom großen Problem des Daseins eine Lösung“3 zu geben. Insofern ist die doppelte Selbstauffassung des Menschen als Subjekt und Person das fundamentale Problem der damaligen – und vielleicht der gesamten – Metaphysik und gleichzeitig ihre Ausgangsbasis. Darum ist sie dialektisch verfasst. Die Kunst bemüht sich nun nach Schelling und Schopenhauer ebenfalls um eine ‚vertikale‘ Deutung des Gegebenen; auch bei ihr handelt es sich um eine absolute Erkenntnisart – wenn sie dies auch im Modus der Anschauung vollziehe und, nach Schopenhauer, mit Hilfe der Darstellung der platonischen Ideen (als universalia ante rem), während die Philosophie mit universalia post rem, also begrifflich ihr Geschäft betreibe.4 So rücken Kunst und Philosophie in ein enges Verwandtschaftsverhältnis, das über die analoge Beschreibung von Kunstwerk und philosophischem System als Organismen hinausgeht. Darum ist es nicht verwunderlich, dass Schelling sein System als ein „System der Kunst“ bezeichnet, wohingegen die „Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft bloß ihre formelle Bestimmung“5 darstelle. Die Naturphilosophie gründe auf den Begriff des reinen Subjekt=Objekts (= Natur), von welchem ich mich zum Subjekt=Objekt des Bewußtseyns (= Ich) erst erhebe; dieses wird Princip des idealistischen oder, was mir gleich1 2

3 4 5

Jean Paul, Werke, Bd. 5, S. 448. Man kann hier auf die Auffassung Carnaps verweisen, dass die Metaphysik bloß dem Ausdruck eines Lebensgefühls diene und insofern in die Nähe der Kunst zu rücken sei. Diese in kritischer Absicht vorgenommene Annäherung von Kunst und Metaphysik, die im Kontext einer Neubestimmung der Aufgabe von Philosophie (als Sprachanalyse und Wissenschaftstheorie) steht und ebenfalls als ein Phänomen der Diskursabgrenzung anzusehen ist, wird allerdings aus vollkommen anderen – metaphysikkritischen – Gründen formuliert und limitiert sich intellektuell auf den Minor. Schopenhauer, HN, Bd. 4, 2, S. 109. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 348. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 403.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

417

bedeutend ist, praktischen Theils der Philosophie, jenes ist Princip des rein=theoretischen Theils, beide in ihrer Vereinigung geben das System des objektiv gewordenen Ideal=Realismus (das System der Kunst). (Schelling, Werke, Bd. 2, S. 720)

Wie aber Schellings Redeweise von der Kunst als dem „einzige[n] wahre[n] und ewige[n] Organon zugleich und Document der Philosophie“6 näher zu verstehen ist, dazu kann uns – um uns dem Problem zunächst aus der Perspektive des organizistischen Paradigmas zuzuwenden – die Konstruktion der Kunst als idealer Potenz in Analogie zur realen Potenz des Organismus innerhalb der Identitätsphilosophie Schellings den Weg weisen. Hier nämlich stellt sich mit brennender Deutlichkeit die Frage, ob nun der Weltbegriff oder der Werkbegriff Priorität genießt, wenn es um die Bildung und Ausfüllung der Kantischen Vernunftidee von der Einheit und Totalität der Welt geht. Ist womöglich das Kunstwerk als ein Subjektives und Objektives in das Verhältnis der Wechselbestimmung setzender, autoreflexiv verfasster Organismus das Modell für die Konzeption der Natur als Organismus geworden? Anders gefragt: hat vielleicht erst die organizistische Auffassung des Kunstwerks die Deutschen Idealisten darauf gebracht, auch das Weltganze als Organismus zu beschreiben? Unter der Voraussetzung, dass man die Vorstellung vom Weltorganismus als Vernunft- und nicht ihrerseits bereits als ästhetische Idee versteht, wäre damit, Kantisch gesprochen, die ästhetische Idee nicht allein Analogon oder Repräsentant der Vernunftidee, sondern sogar deren Vorbild und Fundament. Die Kunst, die nach Auffassung der Romantiker einen (indirekten) epistemischen Zugang zum Absoluten bietet, wäre so in einem neuen Sinne die „Lehrerin“ der Philosophie, und die Rede von ihrer tiefen ‚Wesensverwandtschaft‘ bekäme eine neue, vielleicht besser gegründete Bedeutung. Der Gedanke, dass der Werkbegriff den Weltbegriff allererst erzeugt hat, lässt sich jedenfalls nicht als gänzlich sinnlos abweisen. Dennoch ist bei dieser Frage nach dem Primat von Welt- oder Werkbegriff zu beachten, dass sowohl die Auffassung von der Natur als Organismus als auch die dialektische Struktur der hermeneutischen Metaphysik in erster Linie philosophische Gründe haben7 und dass entsprechend der organizistische Kunstwerkbegriff allenfalls eine helfende Funktion bei der Entwicklung dieser Ontologie besessen haben kann. Wenn man demnach auch eine derart weitgehende Vorbildfunktion der Kunst für die Philosophie als in den Bereich der Vermutungen gehörig ablehnt, so ist doch schon die bloße Parallelisierung i.S. einer wechselseitigen Befruchtung von Metaphysik und Ästhetik durch den Begriff der autoreflexiv verfassten organischen Grundstruktur eine Konkretisierung der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Philosophie um 1800, die jene ideengeschichtlich so komplexe Achsenzeit dem Verständnis ein wenig näher bringt. Die Parallelisierung von Kunst und Philosophie finden wir auch in den verschlungenen Gedankengängen der Potenzenlehre Schellings, in der die Kunst, die zuvor als dasjenige in der ideellen Reihe bestimmt wurde, was dem Organismus in der reellen Reihe 6 7

Schelling, Werke, Bd. 2, S. 627. Ob es sich dabei um gute Gründe handelt, ist zumindest in diesem Kontext nachrangig.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

entspricht, zugleich gegenüber der (idealen) Philosophie als das Reale und Objektive auftritt.8 Schelling erläutert dies dahingehend näher, dass er der Philosophie als dem „Urbild“ die Kunst als das „Gegenbild“ des Absoluten gegenüberstellt: Die Kunst „als Darstellung des Unendlichen“ steht für ihn „auf der gleichen Höhe mit der Philosophie“9 – eine Bestimmung, die er jedoch dadurch relativiert, dass er als Gegenstand der Philosophie das Absolute in der Identität und Totalität aller ideellen Potenzen bestimmt.10 So nehme die Philosophie den „absoluten Identitätspunkt“ ein, während die Kunst das Absolute nur innerhalb der Potenzenreihe in der Indifferenz darzustellen vermöge.11 Auf der Grundlage dieser Überlegungen schreibt Schelling in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums über das Verhältnis von Philosophie und Kunst: Die letztere, obgleich ganz absolut, vollkommene Ineinsbildung des Realen und Idealen verhält sich doch selbst wieder zur Philosophie wie Reales zum Idealen. In dieser löst der letzte Gegensatz des Wissens sich in die reine Identität auf, und nichtsdestoweniger bleibt auch die Philosophie im Gegensatz gegen die Kunst immer nur ideal. Beide begrenzen sich also auf dem letzten Gipfel und sind sich, eben kraft der gemeinschaftlichen Absolutheit, Vorbild und Gegenbild. Dieß ist der Grund, daß in das Innere der Kunst wissenschaftlich kein Sinn tiefer eindringen kann, als der der Philosophie, ja daß der Philosoph in dem Wesen der Kunst so gar klarer als der Künstler selbst zu sehen vermag. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 370)

Hieraus folgert Schelling, „daß außer der Philosophie und anders als durch Philosophie von der Kunst nichts auf absolute Art gewußt werden könne“, wobei es „Aufgabe der

8

9 10

11

Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 384. Ähnlich äußert sich Schelling im System des transcendentalen Idealismus: „Nehmt [...] der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu seyn, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu seyn, und wird Kunst.“ (Werke, Bd. 2, S. 630) Schelling, Werke, Bd. 3, S. 389; vgl. dazu auch Werke, Erg.Bd. 2, S. 504: „Die absolute Identität des Unendlichen mit dem Endlichen objektiv und gegenbildlich angeschaut, ist Schönheit.“ Zusätzliche Verwirrung entsteht dadurch, dass an anderer Stelle der Staat als das „Objektive“ und „Reale“ der Philosophie auftritt (vgl. ebd. , S. 505). Dabei ist der Staat „[d]asjenige, worin Wissenschaft, Religion und Kunst auf lebendige Weise sich durchdringend eins und in ihrer Einheit objektiv werden.“ (ebd.) Schelling, Werke, Bd. 3, S. 386 u. 412. Das doppelbödige Verhältnis, das sonach bei Schelling Kunst und Philosophie zueinander einnehmen, ist nur im Rahmen der Identitätsphilosophie verständlich, der gemäß in jedem Indifferenzpunkt einer einzelnen Potenz notwendig die gesamte Reihe aller Potenzen enthalten sei. Schelling schreibt in seiner Philosophie der Kunst: „Die Philosophie hat in allen Gegenständen nur Einen Gegenstand, und sie ist eben deßwegen selbst nur Eine. Innerhalb der allgemeinen Philosophie ist jede einzelne Potenz für sich absolut, und in dieser Absolutheit oder dieser Absolutheit unbeschadet doch wieder ein Glied des Ganzen. Wahrhaftes Glied des Ganzen ist jede nur, sofern sie der vollkommene Reflex des Ganzen ist, es ganz in sich aufnimmt. Dieß ist eben jene Verbindung, die wir in jedem organischen Wesen, so wie in jedem poetischen Werk wiederfinden [...].“ (Ebd., S. 387) In diesem Sinne bezeichnet Schelling „die durchdringende, organische, die im Theil das Ganze und im Ganzen den Theil vor Augen hat“ als „die wahre philosophische Kunst“ (ebd., S. 644).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

419

Philosophie der Kunst“ sei, „das Reale, welches in der Kunst ist, im Idealen darzustellen“.12 Umgekehrt aber bedürfe die Philosophie der Kunst, um objektiv zu werden: In der idealen Welt verhält sich die Philosophie ebenso zur Kunst, wie in der realen die Vernunft zum Organismus. – Denn wie die Vernunft unmittelbar nur durch den Organismus objektiv wird, und die ewigen Vernunftideen als Seelen organischer Leiber objektiv werden in der Natur, so wird die Philosophie unmittelbar durch die Kunst, und so werden auch die Ideen der Philosophie durch die Kunst als die Seelen wirklicher Dinge objektiv. Eben daher verhält sich dann auch Kunst in der idealen Welt, wie sich [der] Organismus in der realen verhält. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 403)

So seien Kunst und Philosophie wechselseitig aufeinander angewiesen. Erst dadurch aber, dass sich die Organismen von Philosophie und Kunst gleichsam ‚organisch‘ ergänzen, sind sie dazu in der Lage, das Absolute als autoreflexiven Organismus und als „sich selbst bildendes Kunstwerk“ zu erfassen. Das philosophische System wird dadurch zu „einem vollkommen construirten poetischen Werk“: [E]s ist nur Eine Philosophie und Eine Wissenschaft der Philosophie; was ihr verschiedene philosophische Wissenschaften nennt, sind nur Darstellungen des Einen und ungetheilten Ganzen der Philosophie unter verschiedenen ideellen Bestimmungen oder [...] in unterschiedenen Potenzen. Die vollkommene Erscheinung der Philosophie tritt nur in der Totalität aller Potenzen hervor [...]. Das Verhältniß der einzelnen Theile in dem geschlossenen und organischen Ganzen der Philosophie ist wie das der verschiedenen Gestalten in einem vollkommen construirten poetischen Werk, wo jede, indem sie ein Glied des Ganzen ist, doch als vollkommener Reflex desselben, wieder in sich absolut und unabhängig ist. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 526 f)

Für Schelling sind entsprechend „Wahrheit und Schönheit nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen des Einen Absoluten“13. Das Auszeichnende der Philosophie sei jedoch, dass sie „das Gemeinsame“ aller Ideen zu erfassen versuche: Wie Gott über den Ideen der Wahrheit, der Güte und der Schönheit als ihr Gemeinsames schwebt, so die Philosophie. Die Philosophie behandelt weder allein die Wahrheit, noch bloß die Sittlichkeit, noch bloß die Schönheit, sondern das Gemeinsame aller, und leitet sie aus Einem Urquell her. (Schelling, Werke, Bd. 3, S. 402)

Während die Philosophie eine Anschauung der Ideen an sich darstelle, schaue die Kunst die Ideen real, d.h. als Götter an, denn „was für die Philosophie Ideen sind, sind 12

13

Vgl. ebd., S. 384. Die „Darstellung im Idealen überhaupt“ bezeichnet Schelling als „Konstruktion“. Voraussetzung dessen ist freilich, dass die Kunst überhaupt das Absolute darzustellen vermag: „Objekt der Construktion und dadurch der Philosophie ist überhaupt nur, was fähig ist, als Besonderes das Unendliche in sich aufzunehmen. Die Kunst, um Objekt der Philosophie zu seyn, muß also überhaupt das Unendliche in sich als Besonderem entweder wirklich darstellen oder es wenigstens darstellen können.“ (ebd., S. 389) Deshalb kann Schelling auch sagen: „Ich construire demnach in der Philosophie der Kunst zunächst nicht die Kunst als Kunst, als dieses Besondere, sondern ich construire das Universum in der Gestalt der Kunst, und Philosophie der Kunst ist Wissenschaft des All in der Form oder Potenz der Kunst.“ (Ebd., S. 388) Ebd., S. 390.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

für die Kunst Götter.“ Hierbei sei „das bestimmende Gesetz aller Göttergestalten“, so Schelling, „[r]eine Begrenzung von der einen und ungetheilte Absolutheit von der andern Seite“14 Die Götter aber „bilden nothwendig unter sich wieder eine Totalität, eine Welt“; als eine solche machen sie „ein organisches Ganzes“ aus.15 Der „erste Stoff aller Kunst“16 sei daher, auch wenn „das Unendliche als das unbedingte Princip der Kunst“ verstanden werden müsse17, die Mythologie, wobei Schelling die griechische Mythologie als „das höchste Urbild der poetischen Welt“ bezeichnet18. Die Mythologie als „absolute Poesie“19 ist jedoch eine kollektive Leistung: Die Mythologie kann weder das Werk des einzelnen Menschen noch des Geschlechts oder der Gattung seyn (sofern diese nur eine Zusammensetzung der Individuen), sondern allein des Geschlechts, sofern es selbst Individuum und einem einzelnen Menschen gleich ist. (ebd., S. 434)

Da aber Originalität das Grundgesetz der modernen Poesie darstellt, stehe jeder Künstler vor der Notwendigkeit, „sich selbst seine Mythologie zu schaffen“. Schelling erkennt die Verlegenheit, in die der moderne Künstler dadurch gerät, meint aber einen Ausweg zu weisen, indem er empfiehlt, „aus der Physik – natürlich sofern sie speculative Physik ist – den Stoff einer neuen Mythologie zu nehmen“20 – ein Lösungsvorschlag, der allerdings nicht weiter konkretisiert wird. Festzuhalten bleibt, dass laut Schelling die Kunst wie die Philosophie die Ideen21 darstellt, wobei es „so viele Universa [..], als Ideen besonderer Dinge“ gebe.22 Hierdurch stehen Kunst und Philosophie innerhalb des Identitätssystems Schellings, trotz aller Differenzen, auf gemeinsamem Grund. Das ausgehende 18. Jahrhundert war die Zeit nicht nur der großen Bildungskonzepte, sondern auch – gleichsam als deren grundsatzphilosophisches Pendant – der großen subjektivitätstheoretischen Modelle. Es trägt daher zu Recht die Namen zugleich des „pädagogischen“ wie des „philosophischen Jahrhunderts“. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass um 1800 der transzendentalpoetische Identitätsroman und das subjektivitätsphilosophische Konzept einer Geschichte des Selbstbewusstseins zeitgleich auftreten. An den narrativen Strukturen in den genetischen Theorieentwürfen der Deutschen 14 15 16 17 18 19 20 21

22

Ebd., S. 410. Ebd., S. 419. Ebd., S. 425. Vgl. ebd., Werke, Bd. 3, S. 390. Ebd., S. 412. Ebd., S. 426. Ebd., S. 466. Schelling bestimmt dabei die Ideen folgendermaßen: „Die besonderen Dinge, sofern sie in ihrer Besonderheit absolut, sofern sie also als Besondere zugleich Universa sind, heißen Ideen.“ (ebd., S. 410) Für Schelling sind „alle besonderen Dinge [...] jedes für sich das Universum, jedes das absolute Ganze“; nur nur durch ihre Teilhabe am Absoluten erhalten sie überhaupt Realität: „Wenn die besondere Form an sich reell seyn soll, so kann sie es nicht als besondere, sondern nur als Form des Universums seyn.“ (Ebd., S. 409).

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

421

Idealisten sowie an den spezifischen Subjektivitätskonzepten innerhalb der Identitätsromane wird greifbar, dass hier ein tiefliegender ideengeschichtlicher Zusammenhang besteht, in dem sich wiederum der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Kunst von neuem artikuliert. Wenn auch eine schlichte Analogisierung abgelehnt werden muss, lässt sich durchaus von einem gemeinsamen Syndrom sprechen, zu dem die Literatur, genauer der Roman, und die Philosophie der Achsenzeit gleicherweise gehören. Wie erwähnt, lässt sich am Übergang von der Spätaufklärung zur Romantik sowohl auf dem Gebiet der Philosophie als auch im Bereich der (erzählenden) Literatur eine allgemeine Subjektivierungstendenz beobachten. So wird einerseits der Identitätsroman zur prägenden Leitgattung, andererseits die Autoreflexivität des transzendentalpoetischen Romans zum hauptsächlichen Ausdruck der Subjektivierung des Erzählens. Eine ähnliche Fokussierung auf die Probleme der Subjektivität kann man auch innerhalb der nachkantischen Philosophie erkennen. Schon ihr Versuch, die Metaphysik auf Grundlage des Kritizismus zu reformulieren, erfolgt durch eine Ausweitung des subjektivitätsphilosophischen Ansatzes. Gemäß der Bestimmung des Ich als reiner Tätigkeit nimmt die Subjektivitätsphilosophie um und nach 1800 die Gestalt einer ‚pragmatischen Geschichte des Selbstbewusstseins‘ an. In den Subjektivitätsmodellen Fichtes, Schellings und später auch Hegels finden sich dabei an prominenter Stelle narrative Strukturen, die diese Modelle in die Nähe des transzendentalpoetischen Romans rücken. Mit Bezug auf Hegel ließe sich die Behauptung wagen, dass die idealistischen Subjektivitätstheorien den Anspruch erheben, nach dem verkündeten Ende der Kunst eine „Kunst des Humanus“ von allgemeiner Geltung zu repräsentieren.23 Dies ist zwar eine kühne These und kann deshalb nur als Vermutung formuliert werden; daran aber, dass sie nicht gänzlich in den Bereich des Absurden verbannt werden muss, wird zumindest deutlich, dass sich Hegel gegen die massive Aufwertung der Kunst stellt, wie sie Schelling und Schopenhauer sowie die Frühromantiker vornehmen. Dies steht im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des Konzepts der intellektuellen Anschauung, mit dem man sich nur der „Anstrengung des Begriffs“ entziehen wolle.24 Hegel limitiert die Kunst wieder auf die Sphäre der sinnlichen Anschauung bzw. auf das „sinnliche Scheinen der Idee“25; dadurch jedoch bleibt sie sogar der Religion, erst recht aber der begrifflich verfassten Philosophie unterlegen. Letztere kann vielmehr einen privilegierten epistemischen Zugang zum Absoluten beanspruchen. Zwar ist auch die Kunst eine ‚Objektivation‘ des absoluten Geistes, aber nur auf einer niederen Stufe. Deshalb befriedigt die Kunst nicht mehr „das höchste Bedürfnis des Geistes“, sie ist ein ‚überwundener Zustand‘ und „nach ihrer höchsten Bestimmung“ an ihr Ende gelangt.26 23 24 25 26

Vgl. Hegel, Werke, Bd. 14, S. 237. Ebd., Bd. 3, S. 56. Vgl. ebd., Bd. 13, S. 151 f. Vgl. ebd., S. 23, 25 u. 142. Dennoch ist von größter Bedeutung, dass gerade der ‚absolute Idealismus‘ Hegels autoreflexiv verfasst ist; insofern steht auch er in Kontinuität mit den dargestellten Konzepten.

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Schopenhauer hingegen sieht eine enge Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie: sie sind für ihn die höchsten Leistungen des Intellekts. Diese Verwandtschaft wird aber gänzlich anders begründet: Auch wenn sie zunächst dadurch unterschieden werden, dass die Kunst es mit den platonischen Ideen zu tun hat, während die Philosophie in Begriffen arbeitet, so gründen sich beide letztlich auf die Anschauung, die bei Schopenhauer als Grundlage aller Erkenntnis zu höchster Dignität gelangt.27 Eine ähnliche Hochschätzung der Anschauung und, infolge dessen, eine Auszeichnung der Kunst finden sich auch bei Schelling.28 Hängt demnach die Bewertung des intellektuellen Rangs der Kunst scheinbar allein an der Wertschätzung, die der Anschauung entgegengebracht wird, so ist doch zu sagen, dass diese Aufwertung der Anschauung nicht die eigentliche Pointe bei der Feststellung der engen Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie durch Schelling und Schopenhauer darstellt. Ebenso wenig ist sie in den rezeptionsästhetischen Aspekten dieser Kunstphilosophien zu suchen, wonach die ästhetische Erfahrung – und dies gilt sowohl für Schelling und Schopenhauer als auch für Hegel – als eine Wesensschau verstanden wird, die außerhalb der Zwecksetzungen des Alltagsverstandes steht und die den mit der Kunst Befassten in „interesselosem Wohlgefallen“ als „klares Weltauge“ in einem Erlebnis von Vollendung und Beglückung, von Ruhe und stiller Größe zurücklässt.29 Die nahe Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie um 1800 muss man vielmehr darin sehen, dass sowohl die Metaphysik als auch die Kunst eine universelle Deutung des Erfahrungsganzen und damit eine Lösung des Rätsels des Daseins zu geben versuchen, um dadurch die Kantische Vernunftidee von der Einheit und Totalität der Welt in einer letztlich auch existenziell relevanten Weise mit Gehalt zu füllen und einen Beitrag zur Selbstaufklärung der Vernunft nicht nur, sondern des ganzen Menschen zu leisten. Um eine solche Deutung aber bemühen sich sowohl der ontologische, auf den Organizismus führende Ansatz als auch die Subjektivitätskonzepte, die Philosophie und Literatur um 1800 gleichermaßen zu formulieren versuchen. Dass die Kunst dies mit anderen Mitteln versucht als die Philosophie, ist dabei kein unvordenklicher Mangel, sondern ihre Würde. Ohnehin ist in diesem Zusammenhang auf Folgendes zu verweisen: Zu Beginn der neuzeitlichen Ästhetik wird die Frage nach der Erkenntnisleistung der Kunst zunächst nur in Form einer genetischen Theorie der ästhetischen Erkenntnis zu beantworten versucht; entsprechend wird sie bestimmt als eine niedere Erkenntnisform, die sich auf den 27 28

29

Vgl. z.B. Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 78 ff. Für wie grundlegend Schelling die Anschauung hält, wird deutlich in der Hegel-Kritik innerhalb seiner Geschichte der neueren Philosophie, wie er sie in den Münchener Vorlesungen dargelegt hat: „Die Begriffe als solche existiren in der That nirgends als im Bewußtseyn, sie sind also objektiv genommen nach der Natur, nicht vor derselben; Hegel nahm sie von ihrer natürlichen Stelle hinweg, indem er sie an den Anfang der Philosophie setzte.“ (vgl. Schelling, Werke, Bd. 5, S. 210) Auch in dieser an der ästhetischen Rezeption orientierten Bestimmung der Kunst wird die intellektualistische Perspektive auf die Kunst deutlich.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

423

Modus der Sinnlichkeit limitiert. Doch schon bei Baumgarten verlagert sich die Problemstellung hin zu einem geltungstheoretischen Ansatz, indem die ästhetische Erkenntnis als zugleich verworren und klar sowie als analogon rationis bestimmt wird. Dieser geltungstheoretische Ansatz wird für die Entwicklung der Ästhetik in der Folge bestimmend. Das gilt selbst dort, wo die ästhetische Erfahrung auf die Sphäre der Anschauung reduziert wird. Denn im Rahmen eines geltungstheoretischen Ansatzes ist nicht der Modus der ästhetischen Erkenntnis von Bedeutung – selbst wenn sie sich auf die Anschauung limitiert, ist damit noch keine Vorentscheidung bezüglich des Erkenntniswertes der Kunst getroffen. Vielmehr drängt sich nunmehr die Frage in den Vordergrund, zu welcher Erkenntnis – gleich in welchem Modus – die Kunst uns verhilft: Vermittelt sie uns bloß dieselbe Erkenntnis wie Philosophie und Wissenschaft, nur in vielleicht undeutlicherer Weise, oder bietet sie einen epistemischen Zugang zu einer ‚Realität‘, die uns auf andere Weise verschlossen bleibt? Wie immer diese Frage näherhin beantwortet wird, klar ist, dass die Ästhetik um 1800 grundsätzlich metaphysisch verfasst ist – sei es ontologisch, sei es subjektivitätsphilosophisch oder beides zugleich und in eins. Wir haben in den beiden vorangegangenen Kapiteln die ontologischen und subjektivitätstheoretischen Aspekte jeweils für sich betrachtet. Dies geschah vor allem zum Zweck größerer Deutlichkeit. Es sollte aber klar geworden sein, dass beide Bereiche sich nicht nur wechselseitig ergänzen, sondern dass sie unabhängig voneinander gar nicht in der Form hätten betrachtet werden können, in der dies um 1800 erfolgte. Greifbar wird das vor allem anhand des Naturbegriffs der nachkantischen Philosophie, welche die Natur als Subjekt zu verstehen suchte und sich in deren Bestimmung als eines Organismus am Ich als einem Subjekt-Objekt-Integral orientierte. Auch ist im Gedächtnis zu behalten, dass es der hermeneutischen Metaphysik Schellings und Schopenhauers um die Entwicklung eines Begriffs von Natur ging, der den Menschen als erkennendes und handelndes Subjekt einbezieht, und nicht um die Natur als Objekt allein. Dies aber bedeutete, das doppelte Selbstverhältnis des Menschen als Subjekt und Person auf umfassende Weise zu interpretieren. Auf dem Gebiet der ontologisch orientierten Metaphysik um 1800 sind demnach die Probleme der Subjektivitätsphilosophie allgegenwärtig. Umgekehrt wird mit der Entwicklung eines genetischen Subjektmodells der Anspruch erhoben, eine – freilich idealistisch verfasste – Ontologie zu formulieren, die ebenso stufenweise entwickelt wird wie die „Geschichte des Selbstbewusstseins“ selbst. Auch in der Romanliteratur um 1800 mischen sich beide Aspekte – ontologische wie subjektivitätstheoretische – auf vielfältige Weise: Im transzendentalpoetischen Roman wird nicht allein durch autoreflexive Erzählstrategien eine fiktionale Welt entworfen, die in einem mimetischen Verhältnis zur Welt als einem autoreflexiven Organismus steht, sondern man bemüht sich zugleich um die Entwicklung von Subjektivitätskonzepten, die den Bedingungen der modernen Lebenswelt gerecht zu werden vermögen. Mit derlei Bestrebungen verband sich bei den literarischen Frühromantikern der Anspruch, Philosophie und Wissenschaft mit der Kunst zu versöhnen. Schon Goethe versprach sich von der Zukunft eine solche Versöhnung:

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2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

[N]irgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stel30 le, gar wohl wieder begegnen könnten.

Selbst Fichte, der die Weltkonstitution im Bewusstsein mit der Erschaffung eines Kunstwerks vergleicht31, bezeichnet den „Wissenschaftslehrer“ als einen „Künstler“, der das natürliche Bewusstsein des Menschen „nacherfindet“ und dabei eines Begriffs der „Einheit“ bzw. eines „Zweckes und Resultates alles Bewußtseins“ bedarf, den er nicht „frei erdenken“ könne32: Der Wissenschaftslehrer sei der Künstler, der das Kunstwerk des Bewußtseins aufbaut; das jedoch schon da ist [...] – es also nur nacherfindet: jedoch rein erfindet, indem er nach dem schon vorhandenen Kunstwerk während seiner Arbeit nicht hinsieht. / Aber der große Unterschied ist der, daß der Verfertiger eines mechanischen Werkes [sic!] es mit einer toten Materie zu tun hat, die er in Bewegung setzt, der Philosoph mit einer lebendigen, die sich selbst bewegt. Nicht sowohl – er erzeugt das Bewußtsein, als er läßt unter seinen Augen es sich selbst erzeugen. Steht nun das Bewußtsein unter Gesetzen, so wird es ohne Zweifel in dieser seiner Selbsterzeugung sich danach richten; er wird zusehen, und bei dieser Gelegenheit jene Gesetze zugleich mit entdecken [...]. (Fichte, Werke, Bd. 3, S. 584 f)

Für Novalis ist die Verwandtschaft von Philosophie und Kunst unstrittig; ja, er zeigt sich von der grundsätzlichen Überlegenheit der Kunst über die Philosophie überzeugt: aufgrund ihres schöpferischen Charakters – im Gegensatz zum bloß nachvollziehenden begrifflichen Denken – sowie aufgrund der Unerschöpflichkeit des Kunstwerks vermöge die Kunst das Absolute adäquater zu beschreiben als Wissenschaft und Philosophie.33 Dabei fand er schon bei Hemsterhuis den Gedanken, dass die Trennung zwischen den verschiedenen Wissenschaften künstlich und durch Mangel an Genie entstanden sei34; diese Trennung, glaubte er, könne durch Poesie überwunden werden. Die Poësie nämlich hebt jedes Einzelne durch ausgesuchte Kontrastierung mit dem übrigen Ganzen und wenn die Philosophie durch Bildung des äußern Ganzen, oder durch die Gesezgebung, die vollkommene 30

31 32 33 34

So schrieb Goethe 1817 in der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt. Er vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass die Wissenschaft ohnehin eine Kunst darstelle: „Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten.“ (Goethe, 1981, Bd. 14, S. 41) Auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren verlangte er von der wissenschaftlichen Forschung „eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird“; ein derartiger Wissenschaftsbegriff aber gehöre erst einer „hochgebildeten Zeit“ an (ebd., Bd. 8, S. 302). Fichte, Werke, Bd. 3, S. 581 ff. Ebd., S. 583. Vgl. dazu etwa NO 4, S. 327. Vgl. NO 2, S. 368: „Die Wissenschaften sind nur aus Mangel an Genie und Scharfsinn getrennt – die Verhältnisse zwischen ihnen sind dem Verstand und Stumpfsinn zu verwickelt und entfernt von einander. / Die größten Wahrheiten unserer Tage verdanken wir solchen Combinationen der Lange getrennten Glieder der Totalwissenschaft.“

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

425

Poësie möglich macht, so ist gleichsam die Poësie der Zweck derselben [...] – denn die Poësie bildet die schöne Gesellschaft, oder das innere Ganze – die Weltfamilie – die schöne Haushaltung des Universi – Wie die Philosophie durch System und Staat die Kräfte des Individuums mit den Kräften des Weltalls und der übrigen Menschheit paart, und verstärckt – das Ganze zum Organ d[es] Individuums, und das Individuum zum Organ des Ganzen macht – So die Poësie – in Rücksicht des Genusses [...]. Durch die Poësie wird die höchste Sympathie und Coactivitaet – die innigste, herrlichste Gemeinschaft wirklich. / D[urch] d[ie] Philosophie – 35 möglich. (NO 2, S. 372 f )

Nicht zuletzt zu diesem Zweck entwickelte Novalis sein Enzyklopädie-Projekt, dessen poetische Form der Roman darstellt; mit beiden solle die „[i]nnigste Gemeinschaft aller Kenntnisse“ bzw. die „scientifische Republik“ realisiert werden36. Eine Wissenschaft verdient für Novalis jedoch erst dann ihren Namen, wenn sie zum einen „auf alles angewandt“ und zum andern „alles auf sie angewandt“ ist; erst wenn sie auf diese Weise „als abs[olute] Totalitaet, als Universum betrachtet“, d.h. für ihn zugleich: wenn sie „sich selbst als abs[olutes] Individuum mit allen übrigen W[issenschaften] und K[ünsten], als relat[iven] Individuen, untergeordnet wird“37, habe sie ihre Vollendung erreicht. Dies aber sei gleichbedeutend damit, eine „Universale Poëtik“ bzw. ein „vollst[ändiges] System der Poësie“ zu entwickeln. Aufgabe der Philosophie ist es dabei, „zur Vorsitzerinn und Leiterinn“ der Wissenschaften zu werden38; sie spielt also zwischen Wissenschaft und Poesie eine vermittelnde Rolle, denn „[j]ede W[issenschaft] wird Poësie – nachdem sie Phil[osophie] geworden ist“39. Ähnlich wie Schelling – und zugleich über ihn hinausgehend – sieht Novalis die besondere Leistung der Philosophie darin, dass sie einen privilegierten Zugang zur Poesie habe: Die Poësie ist der Held der Philosophie. Die Phil[osophie] erhebt die Poësie zum Grundsatz. Sie lehrt uns den Werth der Poësie kennen. Phil[osophie] ist die Theorie der Poësie. Sie zeigt uns was die Poësie sey, daß sie Eins und alles sey. (NO 2, S. 590 f)

So ist für Novalis der Dichter „der höchste Grad des Denkers“, wobei gelte, dass „[j]e größer der Dichter“, er auch „desto philosophischer“ sei.40 So werde die „Trennung von 35

36 37 38

39 40

Vgl. NO 2, S. 533: „Die Poësie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen – und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung die Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poësie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung [...]. Durch Poësie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen.“ Vgl. NO 2, S. 451. NO 3, S. 272. „Wissenschaften sind Folgen der Bedürfnisse – und des Mangels – mithin erste Mittel demselben abzuhelfen. [...] Je inniger die gesammten Wissenschaften zur Beförderung ihres gemeinschaftlichen Interesse, des Wols der Menschheit, zusammentreten und die Philosophie zur Vorsitzerinn und Leiterinn ihrer Beschlüsse nehmen werden – desto leichter wird jener Druck, desto freyer die Brust des Menschengeschlechts werden.“ (NO 3, S. 474 f) NO 3, S. 396. NO 2, S. 581.

426

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

Poët und Denker“ stets „nur scheinbar – und zum Nachtheil beyder“41 vorgenommen, da „Denken und Dichten“ insofern „einerley“ seien, als beide in einem „willkührliche[n], thätige[n], produktive[n] Gebrauch unsrer Organe“ bestünden42. In diesem Sinne kämen Philosophie und Kunst am Ende gar mit der Sittlichkeit überein, die ebenfalls eine Kunst darstelle: Sittlichkeit und Philosophie sind Künste. Erstere ist die Kunst unter den Motiven zu Handlungen einer sittlichen Idee, einer Kunstidee a priori, gemäß zu wählen und auf diese Art in alle Handlungen einen großen, tiefen Sinn zu legen [...]. Die Andre ist die Kunst auf eine ähnliche Art mit den Gedanken zu verfahren, unter den Gedanken zu wählen – die Kunst unsre gesammten Vorstellungen nach einer absoluten, künstlerischen Idee zu produciren und ein Weltsystem, a priori, aus den Tiefen unsers Geistes heraus zu denken – das Denkorgan activ – zur Darstellung einer rein intelligiblen Welt zu gebrauchen. (NO 2, S. 577)

In dieser Hinsicht geht Friedrich Schlegel mit Novalis einig: Auch für ihn lassen sich Ethik, Philosophie und Kunst nicht unabhängig voneinander betrachten; vielmehr sei man notwendigerweise „so viel η [Ethiker] als man π [Poet] und ϕ [Philosoph]“ ist43: In der ηϑ [Ethik] vereinigt sich π [Poesie] und ϕ [Philosophie]. In d.[er] π [Poesie] wie oft bemerkt, ϕ [Philosophie] und ηϑ [Ethik]; in der ϕ [Philosophie] ηϑ [Ethik] und π [Poesie]. Die ϕ [Philosophie] ist nichts als eine durch und durch moralische Poesie – eine poetisirte Ethik, die Ethik d[er] Poesie und d[ie] Poesie d[er] Ethik. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 99)

Aber auch Schlegel strebt über die Vereinigung von Philosophie und Kunst in moralischer Hinsicht hinaus eine allgemeine Synthese von Philosophie, Wissenschaft und Kunst an. So müsse die Poesie Wissenschaft „eben so wohl sein als die ϕ [Philosophie] Kunst“44; nicht nur sollen sie sich gegenseitig befruchten, sondern sich zu einer Einheit zusammenschließen: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philoso45 phie sollen vereinigt sein. (F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 161)

Dennoch ist auch für Schlegel die Poesie vor der Philosophie und den Wissenschaften ausgezeichnet; er betrachtet sie als „die erste und höchste aller Künste und Wissenschaften“, nämlich als die „Wissenschaft von dem, was allein und wahrhaft wirklich ist“.46 Umgekehrt müsse die Philosophie – wie die Wissenschaften – „nothwendig als K[unst] betrachtet werden“47, wenn sie fruchtbar und erfolgreich betrieben werden soll. Andererseits kommt Schlegel nicht endgültig mit sich überein, in welches Verhältnis 41 42 43 44 45

46 47

NO 3, S. 406. NO 3, S. 563. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 138. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 260. Für Schlegel hat eine derartige Synthese nur Spinoza geleistet: „Spinosa d[er] einzige bei d[em] Wissenschaft und Kunst verschmolzen sind, d[er] hohe Priester der unendlichen Vernunft.“ (F. Schlegel, KSA 18, S. 116) F. Schlegel, KSA, Bd. 3, S. 7. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 79.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

427

Philosophie, Wissenschaft und Kunst zu bringen seien, bemerkt er doch zugleich, dass die Philosophie „weit mehr als eine evidente Wissenschaft; auch mehr als Kunst“ sei.48 Aus diesen Schwierigkeiten versucht sich Schlegel durch eine historische Diagnose zu helfen, wonach die Verwirrung der Diskursgrenzen die auffälligste Charakteristik des modernen Zeitalters ausmache: So verwirrt sind die Gränzen der Wissenschaft und der Kunst, des Wahren und des Schönen, daß sogar die Überzeugung von der Unwandelbarkeit jener ewigen Grenzen fast allgemein wankend geworden ist. Die Philosophie poetisiert und die Poesie philosophiert: die Geschichte wird als Dichtung, diese aber als Geschichte behandelt. Selbst die Dichtarten verwechseln gegenseitig ihre Bestimmung [...]. Diese Anarchie bleibt nicht an den äußern Gränzen stehn, sondern erstreckt sich über das ganze Gebiet des Geschmacks und der Kunst. (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 219)

Wie immer man sich zu dieser Diagnose einer „Anarchie“ auch stellen mag, für Schlegel jedenfalls ist die Synthese von Philosophie und Poesie ein stets von neuem zu erstrebendes Ideal. So postuliert er, dass „Poesie und Philosophie [..] ganz aufhören [sollen], näml[ich] selbständig zu seyn“49 – ein Postulat, das bereits eine Zukunftsgewissheit darstellt: π [Poesie] und ϕ [Philosophie] werden sich immer inniger durchdringen. Weiter behaupte ich eben nichts, π [Poesie] und ϕ [Philosophie] sollen sich immer innigst durchdringen; das wird 50 ganz neue Erscheinungen geben [...]. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 342)

So fallen Philosophie und Kunst bei Schlegel in letzter Instanz zusammen, eine Unterscheidung lasse sich nur mehr noch über den Darstellungsbegriff treffen, insofern das „Darstellen“ für die Poesie das sei, „was d[as] Beweisen für die ϕσ [Philosophie]“.51 Dargestellt aber werde das gesamte Universum, d.h. es gebe für die Poesie grundsätzlich keinerlei Limitationen. Dies könne nur eine Literatur leisten, in der die Synthese von Poesie und Philosophie vollbracht ist: Der Gipfel d[er] göttl.[ichen] Poesie muß auch eine Darstellung d[es] Universums seyn; diese ist aber nicht mehr π [Poesie] noch ϕ [Philosophie] sondern beides. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 213)

Indem auf diese Weise „d[as] Bedürfniß von Combination“ befriedigt werde, nähere sich die ‚höhere Poesie‘ der Religion, die „so schlechthin nach allen Seiten unendlich“ sei wie das Universum selbst.52 Eine solche ‚Kombinatorik‘ hat in Schlegels Augen 48 49 50

51 52

Ebd., S. 104. Ebd., S. 334. Eine solche Wechseldurchdringung von Philosophie und Poesie lasse sich in der Philosophie, so Schlegel, nur bei Schelling beobachten, während Schiller dies nur ansatzweise vollzogen habe: „Poetisirt in einem gewissen Sinne hat Schiller die ϕ [Philosophie]; die ϕ [Philosophie] die eben da war, nicht die ϕ [Philosophie] überhaupt. Von dem π [Poetischem] in d.[er] ϕ [Philosophie] weiß er gar nichts, darauf geht Schelling.“ (ebd., S. 129) Ebd., S. 385. Vgl. ebd., S. 302.

428

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

natürlich mannigfache Konsequenzen innerhalb des Kunstwerks selbst. So sei die beherrschende Rolle philosophischer Reflexionen geradezu das hervorstechende Signum der modernen Literatur: Nichts kann die Künstlichkeit der modernen ästhetischen Bildung besser erläutern und bestätigen, als das große Übergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen in der ganzen Masse der modernen Poesie. Die vielen und trefflichen Kunstwerke, deren Zweck ein philosophisches Interesse ist, bilden nicht etwa bloß eine unbedeutende Nebenart der schönen Poesie, sondern eine ganz eigene besondere Hauptgattung [...]. (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 241)

Diese Reflexivität äußert sich vor allem im transzendentalpoetischen Roman, in dem gleichursprünglich mit dem Erzählten die Bedingungen und Mittel des Erzählens thematisiert werden, sodass die Autoreflexivität als sein Hauptcharakteristikum erscheint: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. (F. Schlegel, KSA, Bd. 2, S. 280 f)

Dabei ist für Schlegel, wie auch für Schelling und Novalis, die Poesie, vor allem der Roman zugleich der geeignete Ort einer Synthese von Realismus und Idealismus. Nur in der Poesie seien Realismus und Idealismus „innigst verschmolzen“53, während die Philosophie notwendigerweise auf den Idealismus verpflichtet sei: [I]n Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems wird der Realismus nie wieder auftreten können. Und selbst nach einer allgemeinen Tradition ist es zu erwarten, daß dieser neue Realismus, weil er doch idealischen Ursprungs sein [...] muß, als Poesie erscheinen wird, die ja auf der Harmonie des Ideellen und Reellen beruhen soll. (F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 315)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach Überzeugung der Frühromantiker allererst eine ‚höhere‘, nämlich durch und durch reflexive und synthetische Poesie, die Philosophie und Wissenschaft integriert hat, die adäquate Diskursform des idealistischen Paradigmas darstellt, insofern der Idealismus unumgänglich „aus sich herausgehn“ müsse und „daher [...] stets d[en] Realismus“ suche54, will er zur Vollendung gelangen. Ein solcher vollendeter Idealismus ist also in ihren Augen zugleich ein vollkommener Realismus; er ist ein „Real-Idealismus“, und die Poesie stellt sich als der geeignete Ort für dessen Artikulation dar. Ein solch hoher Anspruch der Literatur, der in der Feststellung ihrer grundsätzlichen Überlegenheit gegenüber der Philosophie gipfelt, erinnert uns zuletzt wieder an die Auffassung der Spätaufklärer, wonach der Roman dadurch, dass er die dem pragmatischen Paradigma angemessene Diskursform darstellt, ernstlich in Konkurrenz zur Philosophie zu treten vermag. Freilich gehen die Spätaufklärer von einem gänzlich anderen Philosophieverständnis aus als die Frühromantiker und versuchen entsprechend ihre 53 54

Ebd., S. 342. Ebd., S. 358.

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

429

Position ganz anders zu begründen. Dennoch sollte deutlich geworden sein, dass zugleich eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten zwischen dem philosophischen Roman der Spätaufklärung und dem transzendentalpoetischen Roman der Frühromantik besteht. Nun lässt sich aber das Verhältnis der Frühromantik zur Spätaufklärung in besonders aufschlussreicher Weise an dem Problem des Verhältnisses von Kunst und Philosophie charakterisieren. Dieses Verhältnis lässt sich nämlich als ein solches der Dekonstruktion verstehen: Sowohl der philosophische als auch der transzendentalpoetische Roman dekonstruieren – auf je eigene Weise und mit jeweils unterschiedlichen Begründungsstrategien – die metaphysischen und subjektivitätstheoretischen Letztbegründungsbemühungen der Philosophie. Daher lassen sich an dieser Stelle die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Spätaufklärung und Frühromantik in konzentrierter Form beobachten. Was ist hiermit näherhin gemeint? Im Falle des philosophischen Romans der Spätaufklärung geht die dekonstruktive Vorgehensweise aus einer skeptischen Grundhaltung hervor und erfasst sowohl seine diskursiven Passagen als auch seine narrativen Mittel. Was nämlich in Bezug auf die im spätaufklärerischen Roman verhandelten philosophischen Theorien mit den Mitteln der Kontextualisierung geschieht und durch den Relativismus abgesichert werden soll: die zunehmende Auflösung aller festen Positionen im Rahmen eines anti-systematischen Diskurses, das widerfährt auf der anderen Seite auch den erzähltechnischen Errungenschaften des damals entstehenden modernen Romans: ihre zunehmende Dekonstruktion mit Hilfe von (fiktions-)ironischen und parodistischen Mitteln, die einhergeht mit einer beständigen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Romans überhaupt. Beide Weisen der Dekonstruktion aber werden fortwährend aufeinander abgebildet, d.h. was auf ‚formaler‘ Seite der Erzählgattung des Romans widerfährt, erhält seine Rechtfertigung durch die skeptischen, pragmatischen und relativistischen Positionen, die in den diskursiven Passagen des Romans artikuliert werden, und was hier wiederum diskursiv an philosophischer ‚Theorie‘ vorgetragen wird, das hat seinerseits Konsequenzen für die sich dadurch verändernde Diskursform des Romans. Die aus der wechselseitigen Beeinflussung formaler und materialer Elemente resultierende autoreflexive Struktur führt zu jenem Phänomen der ‚Schwebe‘, in der sich alle Aspekte des Diskurses frei bewegen können. Diese mit einer permanenten Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Romans einhergehende Autoreflexivität hatte uns dazu veranlasst, vom philosophischen Roman als einem transzendentalen Metaroman zu sprechen. Damit sollte zweierlei deutlich gemacht werden: einerseits dass sich der philosophische Roman durch seine Autoreflexivität auszeichnet, andererseits dass er sowohl nach der diskursiven als auch nach der narrativen Seite eine reaktive Diskursform darstellt, die in engem Bezug zu vorgegebenen Modellen steht. Deswegen ist er sowohl in formaler als auch in philosophischer Hinsicht durch und durch eklektisch – allerdings in einem Sinne, wonach Eklektizismus nicht Epigonalität als vielmehr so viel bedeutet, dass eine distanzierte Beobachterhaltung gegenüber einer Tradition eingenommen wird, an der man trotzdem weiterhin festhält. Entsprechend seiner dabei zu Tage tretenden integrati-

430

2. Text- und argumentationsanalytischer Hauptteil

ven Haltung gegenüber anderen Diskursen müssen die der Gattung des philosophischen Romans beigezählten Texte deshalb „eher über das diskursive Umfeld des Erzähltextes als über die autonome semantische Analyse des isolierten Textes“55 untersucht werden. Nun lässt sich die These vertreten, dass der Abschluss eines Systems überhaupt erst durch die Kategorie der Autoreflexivität bzw. der Selbstreferenz erfolgt. Dies gilt jedoch sowohl für den Begriff von Welt als auch für den vom Werk. Was das konkrete Kunstwerk in Gestalt des philosophischen Romans angeht, so muss man dessen Autoreflexivität als Ausdruck einer tieferliegenden Autoreflexivität betrachten, wie sie im Konzept der Transzendentalpoesie als ein Schweben zwischen Subjektivem und Objektivem beschrieben wird. Diese Autoreflexivität wiederum ist nur als Erzählproblem zu fassen, i.S. einer gleichzeitigen Präsentation des Erzählverfahrens und des Erzählten mit den Mitteln vor allem der (Fiktions-)Ironie, die den Erzähler in ein reflexives Verhältnis zum Erzählten bringt. Durch die Frage nach dem ontologischen Orientierungssystem des philosophischen Romans erhält demnach die These vom autoreflexiven Grundcharakter, der zunächst anhand des Verhältnisses von diskursiven Mitteln und formalen Merkmalen auf der Performanzebene aufgewiesen wurde, erst ihre eigentliche Begründung: Werk- und Weltbegriff rücken innerhalb einer organizistischen Ontologie und Ästhetik in ein enges, nämlich mimetisches Verhältnis, insofern das autoreflexiv verfasste Kunstwerk das Nachbild der Natur als Organismus darstellt. Die Kunst wird zum Spiegel der Natur in ihrer Totalität. So stehen die fiktionale Welt des Romans und die organizistisch aufgefasste reale Welt in einem Abbildverhältnis, allgemein: Kunst- und Weltorganismus befinden sich in einer Repräsentationsbeziehung. Lässt sich so mit guten Gründen die Vermutung wagen, dass der organizistische Begriff vom Kunstwerk Vorbild wurde für die Formulierung eines organizistischen Naturbegriffs, so ist dabei in Erinnerung zu behalten, dass das literarische Werk zugleich Ausdruck eines spezifischen Subjektivitätskonzepts sein soll. Dies gilt bereits für den am Entwicklungsroman orientierten philosophischen Roman der Spätaufklärung, noch mehr aber hat es seine Gültigkeit für den transzendentalpoetischen Roman der Frühromantik, der den Bildungsroman zum Identitätsroman radikalisiert. Konkurrierend mit dem idealistischen Modell einer ‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘ dekonstruiert der Identitätsroman die philosophischen Subjektivitätskonzepte und verfolgt sie bis in ihre nihilistischen Konsequenzen. Identitätsromane wie der William Lovell Tiecks oder der Siebenkäs Jean Pauls stellen demnach eine ebenso radikale Kritik an der nachkantischen Subjektivitätsphilosophie dar wie etwa die diskursiven Ausführungen der Clavis Fichtiana. Daher erscheint es als nicht allzu verwegen, gegen Hegels These vom Ende der Kunst, wonach diese zwar nicht historisch, aber ihrem inneren Vermögen nach ein überwundener Zustand sei, die Behauptung zu stellen, dass nach Ansicht sowohl der Spätaufklärer als auch der Früh55

Vgl. Kolkenbrock, Jutta: „Diskursanalyse und Narrativik“, in: Turk/Kittler (Hrsg.), 1977, S. 276. Der literarische Text markiere, so Kolkenbrock, „einen bestimmten Knotenpunkt auf einem historisch beschreibbaren Feld, das sich über interdiskursive Relationen strukturiert.“

2.2 Transzendentalpoesie und Kunstphilosophie um 1800

431

romantiker innerhalb der (Roman-)Literatur um 1800 das Ende der Philosophie als einer Grundsatztheorie verkündet werde. Nun mag es müßig sein, der knalligen Verkündigung Hegels mit solch einer nicht minder knalligen Generalthese zu begegnen; allemal aber lässt sich an der Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Philosophie um 1800 als eines dekonstruktiven der „metaphysische[] Ehrgeiz“56 der literarischen Texte der Achsenzeit ablesen. Dass in jener Zeit hingegen weder die Kunst noch die Philosophie einen – weder langsamen noch schnellen – Tod gestorben sind, steht ohnehin außer Frage. Vielmehr kann es als unstrittig gelten, dass beide – Kunst wie Philosophie – um 1800 eine Blütezeit erlebten. Dies aber geschah nicht zuletzt darum, weil sie in eine fruchtbare Konkurrenz zueinander traten und den „alten Streit“ wieder auflegten, von dem bereits Platon sprach. Komplement zur These von der Nachgängigkeit der Romantheorie gegenüber der Romanpraxis wäre die viel umfassendere Behauptung von der Nachgängigkeit der Philosophie gegenüber der Poesie im Hinblick auf das pragmatische Paradigma, die organizistische Ontologie oder die Subjektivitätsmodelle um 1800. Gegen diese These ließe sich wiederum die umgekehrte ins Feld führen, wonach die Literatur der Achsenzeit gegenüber der avancierten Philosophie stets nur eklektisch gewesen sei. Ob man nun aber sagt, dass die nachkantische Philosophie das pragmatische Paradigma nur aus seiner ästhetischen Immanenz geholt und auf den spekulativen Begriff gebracht habe, oder ob man behauptet, dass die Literatur bloß die revolutionären Konzepte der Philosophie in ein schönes Gewand gekleidet und popularisiert habe, sodass sich das Denken auch einmal unters breite Publikum mischen konnte – all dies ist letztlich sehr nebensächlich. Wesentlich ist vielmehr, dass Literatur und Philosophie um 1800 einem gemeinsamen Syndrom angehören. Dieses Syndrom haben wir nach verschiedenen Seiten analysiert, und das Ergebnis dieser Analyse ist, dass man es als Tradition der anderen Vernunft zu bezeichnen durchaus berechtigt ist.

56

Vgl. Michel, 2006, S. 3.

3. Schluss und Zusammenfassung

3.1. Zur Philosophie der Achsenzeit Jemand kann freilich wochenlang auf die Jagd gehen und nichts schießen, aber so viel ist ge1 wiß, zuhause würde er auch nichts geschossen haben und zwar gewiß nichts [...].

Es geht zu Ende. Bevor es aber zu Ende geht und weil es zu Ende geht, muss noch einmal zurückgeblickt und das nicht minder raunende Plusquamperfekt beschworen werden: Was war es nun gewesen mit dem ‚philosophischen Roman‘, dem ‚pragmatischen Paradigma‘ und der ‚Tradition der anderen Vernunft‘? War da etwas entstanden zur Zeit der Spätaufklärung, das uns heute noch etwas anginge? Und was – fragt sich in der Vergangenheitsform weiter – hatte es auf sich mit dem Konzept der Transzendentalpoesie und der romantischen Kunstphilosophie? In welchem Verhältnis befanden sie sich zur Metaphysik und den Subjektivitätskonzepten der nachkantischen Philosophie? Und in welcher Beziehung standen sie zur Spätaufklärung – in einer der Kontinuität oder eher in einer der Gegnerschaft? Zuletzt aber, was – um ins vielleicht schon historische Präsenz zu fallen – lehrt uns all dies über das Verhältnis von Kunst und Philosophie in der Achsenzeit um 1800? Was also ist, kurz gefragt, das Ergebnis dieser Untersuchung? Es fällt etwas schwer, diese Fragen zu beantworten – nicht nur weil wir es, wenn wir uns auf die besagte Tradition einlassen, mit einem durch und durch anti-systematischen Denken zu tun bekommen, sondern vor allem weil, was in Rede und Antwort da steht, sich einer Diskursform bediente, die als ihr Hauptcharakteristikum die Offenheit hat. Aber nach dem weiten, nicht immer einfachen Gang durch das Untersuchungsfeld ist es möglicherweise ein wenig leichter geworden, Antworten auf derlei Fragen zu finden. Ehe wir uns aber diesen Fragen, ehe wir uns auch der Literatur der Achsenzeit und der wichtigsten Diskursform der Tradition der anderen Vernunft, dem Roman, widmen, wollen wir noch einmal die Philosophie jener Zeit betrachten, zu der die Literatur in so komplexer Beziehung stand. Da wir jedoch die Ergebnisse unserer Analysen nicht unnötig wiederholen wollen, soll dies vor allem unter einem Aspekt geschehen – der Frage 1

Lichtenberg, 1994, Bd. 1, S. 784 (J 938).

434

3. Schluss und Zusammenfassung

nämlich, inwieweit die Tradition der anderen Vernunft der Selbstverständigung des Menschen bzw. der Selbstaufklärung der Vernunft dient. Wie wir gesehen haben, entsteht das pragmatische Paradigma auf der Basis eines neuen Orientierungssystems, nämlich des Grundkonzepts der Natur, von dessen drei Geltungsbereichen vor allem derjenige der menschlichen Natur von Bedeutung wird. Die Begründer des pragmatischen Paradigmas kehren das Verhältnis von intellektuellem und affektivem, ‚rationalem‘ und ‚irrationalem‘ Vermögen des Menschen grundsätzlich um und stellen damit das abendländische Denken gleichsam vom Kopf auf die Füße.2 Im Zuge dessen werden den epistemischen Ambitionen des Menschen Grenzen aufgewiesen: Die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Intellektualität stellt in gewissem Sinne die explikative Theorie zur Grenzbestimmung der Vernunft und zur These vom asymmetrischen Verhältnis von metaphysischem Bedürfnis und metaphysischem Vermögen dar. Flankiert wird diese Theorie von einem pragmatischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff, dem gemäß ‚wahres Wissen‘ dasjenige ist, was in einem näher zu bestimmenden Sinne ‚gut für uns‘ ist. Der daraus resultierende Funktionalismus fragt nicht nach der Rationalität selbst und ihrer internen Struktur, sondern nach ihrer Funktion in umfassenden Lebenskontexten. Insofern entwickelt der Funktionalismus den Begriff einer ‚anderen Vernunft‘, und indem er dies tut, will er einen Beitrag zur Selbstaufklärung der Vernunft leisten. Der Funktionalismus ist dabei eine holistische Theorie, die den ‚ganzen Menschen‘ zu erfassen versucht. Durch die Bindung der Rationalität an die alltägliche Lebenspraxis weist der Pragmatismus der Vernunft in ebendieser Praxis ihr eigentliches Betätigungsfeld an. Der Grundcharakter des pragmatischen Denkens ist deshalb skeptizistisch, anti-metaphysisch und agnostizistisch. Zielpunkt dieser Selbstaufklärung der Vernunft ist ein gelungenes und – im Rahmen des Möglichen – auch glückliches Leben, sodass sich moralphilosophische Fragen in den Vordergrund drängen. Im Hinblick auf die metaphysischen, aber auch auf die ethischen Ambitionen des Menschen kommt diese Selbstaufklärung sicherlich einer Demütigung der hohen Ansprüche der Vernunft gleich. Im Hinblick auf das alltägliche Dasein soll sie der Beruhigung des ‚Herzens‘ und der Beförderung unserer ‚wahren‘ Interessen dienen. Dass es sich beim pragmatischen Paradigma um einen derartigen Selbstverständigungsdiskurs handelt, dürfte sonach unstrittig sein. Dass es sich jedoch auch mit dem idealistischen resp. frühromantischen Denken ebenso verhält, mag vielleicht nicht sogleich deutlich sein. Und dennoch ist dem nicht anders. Im Rahmen des organizistischen Paradigmas bedeutet aber die Selbstaufklärung der Vernunft: Aufklärung jenes existentiellen „Grundverhältnisses“, in dem sich jeder Mensch unweigerlich befindet. Dies wiederum heißt: Vermittlung seines doppelten Selbstverhältnisses als Subjekt und Person. Diese Aufklärung soll nach Auffassung der Deutschen Idealisten, vor allem Schellings und Schopenhauers mit metaphysischen Mitteln geleistet werden. Insofern 2

Diese Anspielung auf Karl Marx ist mit Bedacht gewählt, steht doch das Prinzip der marxistischen Philosophie, wonach das Sein das Bewusstsein bestimme, ebenfalls noch in der Tradition des pragmatischen Paradigmas.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

435

verfolgen sie einen völlig anderen Ansatz als die am pragmatischen Paradigma orientierten Spätaufklärer. Allerdings wird hier ein ganz neuer Begriff von Metaphysik zugrundegelegt: sie ist dialektisch, insofern sie zugleich vom Subjekt und vom Objekt her eine ‚Erklärung‘ versucht, sie ist hermeneutisch, insofern sie eine Deutung des Ganzen geben soll, und sie ist empirisch, insofern sie diese Deutung auf einer Erfahrungsgrundlage vorzunehmen versucht. Dabei verzichtet sie auf den Gewissheitsanspruch der klassischen Metaphysik. Insofern steht die nachkantische Philosophie in der Tradition des Kritizismus und will in ihrem Bemühen um eine Restituierung der Metaphysik das Unternehmen Kants fortführen. Gleichwohl beansprucht sie, einen Naturbegriff zu entwikkeln, der den Menschen ins Weltganze integriert: Sie geht nicht auf eine Erklärung der objektiven Realität, sondern auf ein Verstehen des In-der-WeltSeins des Menschen. Die Lehre vom Weltorganismus soll also den Menschen mit der Natur versöhnen, d.h. Subjekt und Objekt vermitteln. Dabei legen die Deutschen Idealisten dar, dass eine Ausfüllung der Vernunftidee vom Weltganzen nur mit Hilfe der Kategorie der Autoreflexivität möglich ist. In dieser dialektisch verfassten ontologischen Theorie werden nämlich die beiden Ausgänge vom Subjekt und vom Objekt als irreduzible philosophische Ansätze neben-, mit- und ineinander verfolgt, um eine angemessene Deutung der Phänomene zu erreichen. Entsprechend diesem doppelten Ansatz erscheint jedes Naturprodukt, insbesondere der Organismus als eine autoreflexive Einheit von Subjektivem und Objektivem. Innerhalb der beide Erklärungsrichtungen umgreifenden Identitätsphilosophie Schellings wird gar das Absolute selbst als eine solche selbstreferente Einheit bestimmt. Indem jedoch die Kategorie der Autoreflexivität im organizistischen Paradigma zur zentralen metaphysischen Kategorie gerät, wird der Boden für den ‚absoluten Idealismus‘ Hegels bereitet, innerhalb dessen die Autoreflexivität zum Grundprinzip der philosophischen Spekulation avanciert. Zugleich führt der realdialektische Ansatz der hermeneutischen Metaphysik zu einem Evolutionismus, wonach die sich notwendig bis zum menschlichen Gehirn und damit zum Bewusstsein sich entwickelnde Natur am Ende der Evolution in diesem Bewusstsein sich spiegelt und noch einmal dasteht. Mit diesem letztlich zirkulären System wird dem Menschen die Demütigung erspart, aufgrund der nur sekundären Rolle seines dem Überlebenszweck dienenden rationalen Apparats zu jeder ‚wahren‘ Erkenntnis unfähig zu bleiben.3 Da es aber das

3

Die Auffassung vom menschlichen Bewusstsein als Widerspiegelungsinstanz der gesamten Natur widerspricht natürlich dem pragmatischen Wahrheits- und Wissensbegriff. Bereits Holbach sagt an einer bemerkenswerten Stelle, dass diese „Illusion“ des Menschen, in seinem Bewusstsein spiegle sich die Welt noch einmal, „die ihn so sehr für sich einnimmt, daher kommt, daß er zugleich Zuschauer und Bestandteil des Universums ist“ (Holbach, 1960, S. 72) – in unserer Terminologie heißt dies: sie rührt vom „Grundverhältnis“ her. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass man im Rahmen einer solchen Theorie nicht auf die These verpflichtet ist, dass sich im Bewusstsein das gesamte Universum auf adäquate Weise abbilde.

436

3. Schluss und Zusammenfassung

Hauptanliegen zumindest der gemäßigten Aufklärung war, dem Menschen seine Dignität zu bewahren, kann man eine solche Theorie als Fortsetzung der Aufklärung bezeichnen. Darüber hinaus hat die Philosophie um 1800 den Anspruch, den Menschen mit der von Entfremdung geprägten modernen Lebenswelt auszusöhnen. Vor allem diesem Zweck dient die Entwicklung eines haltbaren Subjektivitätskonzepts. Gemäß der Bestimmung des Ich als reiner Tätigkeit nimmt dies in der idealistischen Systemphilosophie die Gestalt einer ‚pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes‘ an. In diesen genetischen Subjekttheorien findet eine Prozessualisierung des Identitätskonzepts statt. Dabei integriert die Subjektivitätsphilosophie narrative Elemente in ihre Modelle: Die Geschichte des Selbstbewusstseins tritt in Konkurrenz zum Bildungsroman, sodass auch auf dieser Ebene der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Literatur um 1800 eine Neuauflage erlebt. In beiden Hinsichten – der ontologischen wie subjektivitätstheoretischen – lässt sich behaupten, dass auch die Philosophie um 1800 noch unter der Leitung des pragmatischen Paradigmas steht: Zum einen wird der Mensch von der idealistischen Subjektivitätsphilosophie ebenfalls als ein praktisches Wesen betrachtet, indem das Ich als ‚Tathandlung‘ bzw. als Wille bestimmt wird. Zum andern wird im ‚objektiven Idealismus‘ Schellings und in Schopenhauers Willensmetaphysik die Natur als Subjekt und in einem Tätigkeitssinn als natura naturans aufgefasst. Vor allem Schopenhauers Voluntarismus kann als ein großangelegtes metaphysisches Unternehmen zur Begründung des pragmatischen Paradigmas oder als eine Systematisierung der in der Spätaufklärung begründeten Tradition der anderen Vernunft verstanden werden. Der relativistische Zug dieses Denkens bleibt dabei freilich auf der Strecke; er hat sich in die Grundstruktur der Metaphysik zurückgezogen. Bei Schopenhauer entsteht hierdurch das, was Spierling als „System totaler Vermitteltheit ohne absolut Erstes“4 bezeichnet, also gleichsam eine ‚relationistische‘ Metaphysik. Dabei ist die nachkantische Metaphysik subjektivitätsphilosophisch verfasst. Besonders deutlich wird dies bei Schelling und Schopenhauer, bei denen nicht mehr die Produkte der Natur, sondern ihre Produktivität das explanandum darstellen. Bei Schopenhauer wird klar, dass hinter diesem Ansatz, der die objektive Natur nach Maßgabe subjektiver Gegebenheiten verstehen will, ein Analogieverfahren steht, wonach das, was wir als unser innerstes Wesen erfassen, bei der Bestimmung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, auf alles anschaulich Gegebene übertragen werden muss, wollen wir einem Verständnis der objektiven Welt näher kommen.5 Zugleich aber ist festzustellen, dass nach der analogischen Übertragung der Wesensbestimmung des Subjekts auf die Sphäre des Objektiven die philosophische Spekulation sowohl den Ausgang vom Subjekt als auch den vom Objekt als zwei sich wechselseitig ergänzende Verfahren zur Deutung der Welt gebraucht und die Kategorie der Autoreflexivität in den begrifflichen Apparat der hermeneutischen Philosophie implementiert. 4 5

Spierling, 1977, S. 152. Dabei ist es wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass hiermit eine Deutung des Weltganzen gegeben wird, die nicht in Konkurrenz treten soll zu den empirischen Wissenschaften.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

437

Es ist somit durchaus berechtigt, die nachkantische Philosophie als einen Selbstverständigungsdiskurs aufzufassen, mit dem das Geschäft einer Selbstaufklärung der Vernunft fortgesetzt wird. Es ist deshalb auch nicht zufällig, dass Schopenhauer und Schelling die Philosophie als eine Kunst und nicht als eine Wissenschaft bezeichnen.6 Denn indem sie das Ziel einer Bestimmung der ‚Stellung des Menschen im Kosmos‘ verfolgt, dient die hermeneutische Metaphysik auf mittelbare Weise demselben Zweck einer Selbstverständigung wie ihre genetischen Subjektivitätskonzepte, die dies unmittelbar unternehmen. Dass die literarischen Frühromantiker der Auffassung sind, dass sie dies mit falschen Mitteln – denjenigen der begrifflichen Reflexion – versuchen, ändert nichts an der Tatsache, dass sie mit ihren spekulativen Systemen eine solche Selbstaufklärung der Vernunft i.S. einer umfassenden Deutung des In-der-Welt-Seins des Menschen beabsichtigen. Auch darin zeigt sich die Nähe der idealistischen Systemphilosophie zum pragmatischen Paradigma. Diese Diagnose lässt erkennen, dass die idealistische Systemphilosophie späteren philosophischen Ansätzen wesentlich näher steht als gemeinhin angenommen. Namentlich ist es grundverkehrt, den Deutschen Idealismus in einen Gegensatz zur Existenzphilosophie zu stellen. Denn beide kommen darin überein, dass die Aufgabe der Philosophie in einer Deutung des menschlichen Daseins besteht. Vollständig kann eine derartige Deutung jedoch nur dann sein, wenn sie zugleich eine Deutung des Seins gibt, die sich gegenüber den empirischen Wissenschaften legitimieren lässt. Mögen auch ihre Mittel und Begrifflichkeiten grundverschieden sein, das gemeinsame Ziel ist doch, das In-der-Welt-Sein in einem umfassenden Deutungshorizont aufzuklären. Insbesondere die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Intellektualität, die wir als zentrales Theorem des pragmatischen Paradigmas identifiziert haben, wird für die spätere Philosophie von größter Bedeutung. So ist sie zunächst die Basis für den Ansatz der marxistischen Philosophie. Ihre Auffassung, dass das – ökonomisch gedeutete – Sein das Bewusstsein bestimme, ist eine Position, die ohne die Vorgabe des pragmatischen Paradigmas ebenso undenkbar ist wie das radikale Aufklärungsunternehmen Nietzsches, für dessen Entlarvungspsychologie innerhalb einer großangelegten Metaphysik- und Kulturkritik die Lehre vom Primat der Affektivität vor der Intellektualität ebenfalls die Grundlage darstellt. Seine Rede vom Willen zur Macht ist somit nur eine weitere Spielart des Kerntheorems des pragmatischen Paradigmas. Kondylis hält sogar dafür, dass es sich bei der Lehre vom Primat des Willens, der Praxis bzw. des Ökonomischen vor dem Intellekt, der Theorie bzw. dem Ideologischen, wie sie Schopenhauer, Nietzsche und Marx vertreten haben, um einen Kernbestandteil jeder Aufklärung handelt. Daher lassen sich, so Kondylis, diese Auffassungen als eine Vertiefung der Aufklärung bezeichnen.7 Nietzsche war es schließlich auch, der den Relativismus, der sich in der spekulativen Metaphysik um und nach 1800 in die Systemstruktur zurückgezogen 6 7

Vgl. Schelling, Werke, Bd. 3, S. 370 u. 401 sowie Schopenhauer, Werke, Bd. 1, S. 154 u. 482. Vgl. Kondylis, 1981, S. 648.

438

3. Schluss und Zusammenfassung

hatte, wieder zum charakteristischen Signum seines philosophischen Denkens machte. So bleibt Nietzsche selbst in seiner vehementesten Kritik seinem ‚Hausphilosophen‘ Schopenhauer verpflichtet. An Nietzsche wiederum knüpft Heideggers Existenzphilosophie an, die das In-derWelt-Sein des Menschen in einer ganz anderen Weise vom Primat der Praxis her interpretiert. Heidegger bemüht sich um eine Deutung der Existenz, die einerseits mit der Angst – und anderen ‚Stimmungen‘ – das Andere der Vernunft zu integrieren, andererseits mit der Sorgestruktur des Daseins eine andere Vernunft zu etablieren versucht. Dies ist mit einer Kritik an der sich als Fundamentalwissenschaft gerierenden Erkenntnistheorie und mit der Darstellung des abendländischen Zivilisationsprozesses als einer Verfallsgeschichte verbunden, gipfelt aber zuletzt in der Überzeugung, dass sich der Mensch, trotz aller Geworfenheit, in einem nach allen Seiten offenen Möglichkeitshorizont befindet. So verwandelt sich das pragmatische Paradigma in der Existenzphilosophie Heideggers, wie schon im Deutschen Idealismus, in ein „System der Freiheit“. Ihr vorläufiges Ende findet diese Traditionslinie in der post-analytischen Philosophie, wie sie maßgeblich von Rorty repräsentiert wird, sowie in der Wissenschafts-‚Theorie‘ Feyerabends und der evolutionären Erkenntnistheorie8. Rorty greift bei der Formulierung seiner Position vor allem auf Nietzsche, Heidegger und den amerikanischen Pragmatismus zurück. Im Zentrum seiner Überlegungen steht dabei ein pragmatischer Wahrheitsbegriff, wonach ‚wahr‘ „kein Name einer Beziehung zwischen sprachlichen Aussagen und der Welt“ sei und „weder analysiert noch definiert werden“ solle9: Daß der Ausdruck „wahr“ nicht mit dem Ausdruck „nach unseren Erkenntnissen gerechtfertigt“ synonym ist, liegt nicht daran, daß er mit einem Ausdruck wie „aufgrund der Verhältnisse in der Welt gerechtfertigt“ synonym wäre, sondern daran, daß er mit überhaupt nichts synonym ist. [...] Nach dieser davidsonianischen Auffassung wird sich jeder Satz, der jemals von jemandem verwendet worden ist, auf ebendie Welt beziehen, von der wir jetzt glauben, daß sie 10 existiert.

Trotz dieser an den Wahrheitsbegriff der Spätaufklärer gemahnenden Auffassung seien die Wissenschaften vor allen anderen Kulturbereichen methodologisch ausgezeichnet.11 Allerdings sollten sie sich, so Rorty, bei allem Erfolg niemals zu der Behauptung versteigen, sie beschrieben die Welt, wie sie ‚wirklich‘ ist. In der post-analytischen Philosophie scheint die Tradition der anderen Vernunft zu ihrem Selbstbewusstsein gelangt zu sein. Es ließe sich sagen, dass deren als schlampig verrufenes Denken hier endgültig seine systematische Theorie erhält. Ganz zuletzt wird sie gar akademisch: 8

9 10 11

Auf die evolutionäre Erkenntnistheorie kann hier nicht näher eingegangen werden. Es dürfte aber zumindest so viel offensichtlich sein, dass sie ebenfalls vom Primat der Triebausstattung vor dem ‚ratiomorphen‘ Erkenntnisapparat ausgeht – u.zw., wie schon Schopenhauer, im Kontext des „struggle for life“. Rorty, 1993, S. 21. Ebd., S. 23; vgl. auch ebd., S. 41. Ebd., S. 30 ff.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

439

Der Versuch der praktischen Philosophie, über die Gegenstände der Wissenschaften hinaus zu Verbesserungen im Leben zu kommen, der Ausbruch aus dem akademischen Professionalismus wurde [...] wieder eingeholt von der Zähigkeit und Stetigkeit der akademischen Institution 12 Philosophie.

Es stellt sich allerdings erneut die Frage, ob man nicht dem Versuch, eine anti-systematische und relativistische Position, wie sie innerhalb der Tradition der anderen Vernunft vertreten wird, zu systematisieren, den Vorwurf der Zirkularität machen muss, insofern dieses Denken damit zu genau dem umgeformt wird, gegen das es sich wendet. Diesem Vorwurf ließe sich, wie schon in Kapitel 1.3 dargelegt, dadurch begegnen, dass hier keineswegs eine Axiomatik formuliert, sondern nur eine Grundhaltung mit Hilfe von Faustregeln umrissen werden soll, die sich nur in kritischem Bezug zur systematischen Theorie konstituiert. Ein so verstandener Relativismus stellt sich als eine reaktive Theorie dar, die sich gegen den Anspruch der objektiven Traditionen richtet, eine traditionsunabhängige Erkenntnis erreichen zu können: Der [..] Relativismus schließt die Suche nach einer objektiven, d.h. einer denk-, wahrnehmungs- und gesellschaftsunabhängigen Realität nicht aus [...], unterwirft sie aber einer Kontrolle durch die (subjektive) öffentliche Meinung. [...] Denn obwohl die Objektivisten Fakten und Sachverhalte entdeckt, genau umrissen und vorgestellt haben, die unabhängig von ihrem Entdecktwerden existieren und sich entwickeln, können sie doch nicht garantieren, daß diese Fakten und Sachverhalte auch unabhängig sind von der Gesamttradition (dem Objektivismus), 13 die ihre Entdeckung herbeigeführt haben.

Deshalb ist es falsch zu behaupten, eine relativistische und anti-systematische Position ließe sich überhaupt nicht vertreten. Denn keine Systematik zu haben ist nicht gleichbedeutend damit, keine Begründungen zu besitzen. Diese aber lassen sich in der Tradition der anderen Vernunft sehr wohl identifizieren. Jedoch genügt keine neue Tradition, kein neues Paradigma im Augenblick ihrer Entstehung den Forderungen nach argumentativer Stringenz oder strenger Rationalität ihrer Weltdeutungsmodelle.14 Solches zu verlangen, käme einer Selbstliquidation des menschlichen Geistes gleich, insofern es jegliche Innovation verhinderte. Hierdurch entsteht der Eindruck des AntiSystematischen, wo es sich nur um die Notwendigkeit der Vorläufigkeit eines neuen Modells handelt. Die hinter dem anti-systematischen Impetus der Tradition der anderen Vernunft stehende Haltung scheint dabei zuweilen so modern, dass man sich vor einer den historischen Kontext ausblendenden Aktualisierung hüten muss. Auch in dieser Arbeit ließen sich post-festum-Zuschreibungen moderner philosophischer Theorien zu 12 13

14

Schmidt-Biggemann, 1988, S. 38. Feyerabend, 1989, S. 89. Allerdings handelt es sich hierbei nur dann um ein Argument, wenn man die Abhängigkeit des Rechtfertigungs- vom Entdeckungskontext zu zeigen vermag – was man mit guten Gründen bezweifeln kann (vgl. dazu ebd., S. 128). Das gilt für die ‚hard sciences‘ ebenso wie für philosophische Theorien und künstlerische Innovationen, ja vielleicht gilt es nicht bloß für den Zeitpunkt der Entstehung, sondern für alle Stadien ihrer Entwicklung.

440

3. Schluss und Zusammenfassung

historisch vorgängigen Texten nicht vermeiden. Doch werden bei jeder Traditionsbegründung antizipatorische Überlegungen vorgebracht, die in der alten Terminologie nicht oder nur bedingt formuliert werden können und für die das Vokabular erst später entwickelt wird.15 Ein Beispiel ist die Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts, die nicht dazu in der Lage war, den in Entstehung begriffenen modernen Roman zu erfassen.16 Problematischer noch scheint die Frage zu sein, inwieweit es überhaupt gerechtfertigt ist, den Begriff des Paradigmas in der Philosophie- oder Literaturgeschichte zu verwenden. Wir sind dem mit dem Hinweis begegnet, dass mit der Vorstellung, der Paradigmenbegriff könne nur im Rahmen einer qualitativen Fortschrittsidee bzw. einer realistischen Wahrheitstheorie Gültigkeit beanspruchen, bereits zur Zeit der Spätaufklärung aufgeräumt worden ist.17 Angesichts dessen ist es durchaus gerechtfertigt, diese wissenschaftstheoretische Begrifflichkeit auch auf philosophie- und literaturgeschichtliche Phänomene anzuwenden. Doch selbst wenn man dieses Argument nicht akzeptiert, stellt sich doch die Frage, welche Alternative es zur Verwendung des Paradigmenbegriffs gibt. Eine ernstzunehmende Möglichkeit scheint sich in Blumenbergs Redeweise vom Epochenwandel zu bieten.18 Doch abgesehen davon, dass man, wenn man sagen kann, man sei bei einem epochalen Ereignis dabei gewesen, zunächst nur sein „Sinnbedürfnis gegenüber der Geschichte“19 stillt, ist der Epochenbegriff m.E. viel zu vage, als dass er für eine substantielle Beschreibung dessen geeignet wäre, was wir hier als Paradigmenwechsel bezeichnet haben.20 Wenn Blumenberg schreibt: Die Epochenwende ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden. Aber in einer differentiellen Betrachtung markiert sich eine Schwelle, die als 21 entweder noch nicht erreichte oder schon überschrittene ermittelt werden kann. ,

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Vgl. hierzu Rorty, 1989, S. 13, wo er die Erfindung eines neuen Vokabulars mit der Erfindung neuer Werkzeuge parallelisiert: „His new vocabulary makes possible, for the first time, a formulation of its own purpose. It is a tool for doing something which could not have been envisaged prior to the development of a particular set of descriptions, those which it itself helps to provide.“ Das gilt auch, wie gesehen, für Blanckenburgs, fraglos innovative, Romantheorie. Erst die Kunstphilosophie der Romantik und des Deutschen Idealismus schuf hier, zumindest teilweise, Abhilfe. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1.1. Blumenbergs metaphorologisches Modell scheint mir zur Erklärung der in Rede stehenden Paradigmenwechsel ungeeignet, da es sich hier um mehr handelt als „Hintergrundmetaphern“, nämlich um in rationalen Begründungszusammenhängen stehende Erklärungsmodelle. Blumenberg, 1966, S. 535, wo es weiterhin heißt: „Die Qualität der Epoche stellt sich zunächst dar als der Inbegriff derjenigen Merkmale, die den Historiker vor der Nivellierung des Geschichtsverlaufs in die Eintönigkeit des Immergleichen und damit vor dem Irrtum bewahren, es könne alles zu jeder Zeit vorkommen.“ Dies scheint Blumenberg auch selbst zuzugeben, wenn er sagt: „Die Epoche ist der Inbegriff aller Interferenzen von Handlungen zu dem durch sie ‚Gemachten‘. In diesem Sinne der nicht eindeutigen Zuordnungsfähigkeit von Handlungen und Resultaten gilt, daß die Geschichte ‚sich macht‘. An den [historischen] Figuren erfassen wir eher die Resultate als die Faktoren.“ (ebd., S. 555) Ebd., S. 545.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

441

dann lässt sich damit vielleicht noch für die politische Wirklichkeit zeigen, „[d]aß das Neue in der Geschichte nicht das jeweils Beliebige sein kann, sondern unter einer Strenge vorgegebener Erwartungen und Bedürfnisse steht“; für ideengeschichtliche Zusammenhänge hingegen reicht dies nicht aus, wenn wir „überhaupt so etwas wie ‚Erkenntnis‘ von der Geschichte haben“ wollen. Hier müssen wir uns auf das Wagnis einlassen, den Phänomenbereich mit einer Terminologie zu beschreiben, die für diesen Bereich nicht entwickelt worden ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Epochenbegriffe nicht allein der Periodisierung geschichtlicher Entwicklungen dienen, sondern zugleich zur Formulierung von Normen verwendet werden, die alle historische Kontingenz transzendieren sollen. Auf geistesgeschichtlichem Gebiet soll dies vor allem der Begriff der Klassik leisten: Klassik ist sowohl ein ästhetischer Normenbegriff als auch ein literaturgeschichtlicher Epochenbegriff. [...] Der normative Kern von Klassik enthüllt sich [..] auch im Epochenbegriff. [...] Im normativen Konzept einer geschichtlichen Epoche, der ‚klassischen‘, 22 wird ein Mittel gegen alle ‚Geschichte‘ erblickt.

Ohnehin sollte man sich, so Voßkamp, im Klaren darüber sein, dass die Einheit einer Epoche „erst in der Rezeption dieser Periode erzeugt“ wird23. Gerade im Fall der deutschen Klassik ist eine derartige Vereinheitlichung offenbar „das Ergebnis eines die Widersprüche und Antinomien gerade dieser Epoche […] synthetisierenden wissenschaftsgeschichtlichen Prozesses“.24 Wird aber der Begriff der deutschen Klassik nicht bloß wertfrei verwendet – etwa indem das Autonomiepostulat oder auch der Symbolbegriff als „formales Prinzip und Erkennungszeichen“25 identifiziert oder die Klassik als „Institutionalisierung eines pädagogischen Programms“ gedeutet wird26 –, sondern zu einem ästhetischen Normbegriff erhoben, dann erscheinen, wie Koopmann sagt, Goethe und Schiller als „die großen Totschläger in der deutschen Literatur“27. Damit jedoch wird man den komplexen Konstellationen um 1800 nicht gerecht. Will man die sogenannte Goethezeit auch nur halbwegs in den Griff bekommen, so kann man mit Titzmann bestenfalls eine „Periodisierung mit sich überschneidenden Phasen“ vornehmen, die „das komplizierte Nebenund Nacheinander von ‚Aufklärung‘, ‚Empfindsamkeit‘, ‚Sturm und Drang‘, ‚Klassik‘, ‚Romantik‘“ berücksichtigt. Diese Charakterisierungen stellen aber „nicht Epochen,

22 23 24

25 26 27

Voßkamp, 1988, S. 248 f. Ebd., S. 250. Vgl. Voßkamp, 1986, S. 136. Dabei hält Voßkamp dafür, dass die „Abtrennung einer nationalen deutschen Klassik von der europäischen Aufklärung [..] der entscheidende Schritt zur Institutionalisierung eines Epochenmodells“ sei (vgl. Vosskamp, 1988, S. 261). Vgl. Voßkamp, 1988, S. 252. Pütz, Peter: „Der Roman der Klassik“, in: Koopmann (Hrsg.), 1983, S. 244. Vgl. Wittkowski (Hrsg.), 1986, S. 149.

442

3. Schluss und Zusammenfassung

sondern strukturelle Typen innerhalb einer Epoche“ dar.28 Wie Titzmann sagt, kann in der Literaturgeschichte jedoch nicht die „literaturtheoretische Programmatik entscheidend für unsere Periodisierung sein, sondern allein nachweisbare Veränderungen der Strukturen der literarischen Texte selbst“.29 Allgemein formuliert, ist bei jeder Epochencharakterisierung die Annahme einer relativen Invarianz einer Grundstruktur notwendig – auch und gerade dann, wenn es darum geht, den „inter- und intraepochale[n] Wandel“ zu beschreiben.30 Damit aber wird das Problem nur verschoben. Deutlich wird, dass eine Epochenbeschreibung, solange sie nicht die zugrundeliegenden Strukturen erfasst, keinerlei Erklärungswert beanspruchen kann. Um diese Strukturen zu erfassen, sind weitere Konzepte erforderlich, die wiederum, so unsere These, auf andere geschichtstheoretische Begriffe – etwa des Paradigmas oder des Orientierungssystems – zurückgreifen müssen. Der Epochenbegriff suggeriert zudem eine historische Abgeschlossenheit, während die Rede von der Tradition den Gegenwarts- und Zukunftsbezug betont: Eine Tradition hat immer einen offenen Horizont, die Epoche nur ein geschlossenes Firmament. Eine Epoche geht uns im Grunde nichts mehr an, in einer Tradition stehen wir noch oder müssen uns zumindest zu ihr stellen, sie fordert uns heraus. Als Alternative zum Epochenkonzept bringt Foucault den Begriff des Archivs ins Spiel: Als Archiv versteht er „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht“; es sei dasjenige, „was die Diskurse in ihrer vielfachen Existenz differenziert und sie in ihrer genauen Dauer spezifiziert“. Das Archiv habe „nicht die Schwere der Tradition“, insofern es nur „das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“ darstelle.31 So weist das Konzept des Archivs zurück auf den Begriff des Diskurses. Dieser seit Langem inflationär gebrauchte Begriff beschreibt – in Absetzung zum Paradigma – kein ausgebildetes theoretisches Modell, sondern eine Art „Mittel-Ordnung“, die nicht allein die historische Relativität unserer Denkschemata betonen, sondern zugleich auch eine Pluralität von Diskursordnungen ermöglichen soll, die „ihre Relativität einbekennt“32. So sind Diskontinuitäten zwischen synchron bestehenden Diskursen erlaubt.33 28

29

30 31 32 33

Vgl. Titzmann, 1983, S. 108 f: „Wir werden die neue Epoche kaum mit dem ersten vereinzelten Auftreten neuer Strukturen beginnen lassen, sondern eher dort, wo diese Strukturen beginnen, dominant zu sein.“ Ebd., S. 112 f. Titzmann macht der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung den Vorwurf, dass sie bloß eine narrative Erlebnisgeschichte, aber keine Strukturgeschichte betrieben habe – die beste Epochenbeschreibung sei diejenige, „deren Resultate zugleich auch am vollständigsten die Epochenklassifikation begründen“ (ebd., S. 125). Ebd., S. 127. Titzmann legt dabei ein „Modell von Wandel als Problemlösung im System“ zugrunde. Foucault, 1973, S. 187 f. Hierbei sei es Aufgabe der Archäologie, „die Diskurse als spezifizierte Praktiken im Element des Archivs“ zu beschreiben (ebd., S. 190). Vgl. Turk/Kittler (Hrsg.), 1977, S.32 f. Ebd., S. 35.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

443

Deshalb tritt bei Foucault und seinen Nachfolgern neben die „Rede vom vertikalen System“, der Begriff des Archivs i.S. der „Gesamtheit aller diskursiven Regelmäßigkeiten, die eine Epoche – nicht unähnlich dem klassischen ‚Zeitgeist‘ – charakterisieren“34. Dabei müssen die diskursiven Regelmäßigkeiten, muss die Tiefenstruktur des Diskurses den Diskursteilnehmern nicht notwendig bewusst sein; sie können auch im nachhinein erschlossen werden – und werden es zumeist auch.35 Laut Frank hat der Diskurs Elemente des Mythos, insofern er durch Temporalisierung und Irreversibilität gekennzeichnet sei.36 Der Ansatz der Diskursanalyse ist darüber hinaus holistisch, insofern jede Aussage kontextabhängig ist, wobei sich das Verhältnis von Aussage und Kontext je nach Diskurstyp als variabel darstellt.37 Das besondere Merkmal der diskurstheoretischen Begrifflichkeit ist aber deren Offenheit: ein Diskurs setzt sich beständig der Beeinflussung durch andere Diskurse aus. Dies zeichnet ihn vor dem Epochenkonzept aus, ist jedoch auch sein Mangel, da er immer in Gefahr ist, jegliche Kontur zu verlieren. Dieser Gefahr zu begegnen, ist die systemtheoretische Betrachtungsweise angetreten: sie soll die Offenheit einer (geschichtlichen) Ordnung bewahren, ohne das Ordnungsgefüge selbst aufzuheben. Nun hat die Systemtheorie zweifellos neue Perspektiven eröffnet, insbesondere indem sie intellektuelle Ordnungen in weitere – vor allem soziale – Kontexte eingebettet und die Interaktionen zwischen einzelnen Systemen analysiert hat.38 Das Problem ist nur, dass systemtheoretische Beschreibungen zumeist gänzlich formal und semantisch leer bleiben, dass es ihnen also an der nötigen anschaulichen Dichte mangelt. Infolge dessen bieten sie oftmals keine Erklärungen für bestimmte geistesgeschichtliche Entwicklungen, sondern reduzieren sich auf die Formulierung von Gemeinplätzen. Besonders deutlich wird dies an der Untersuchung Siegfried J. Schmidts, die den Anspruch erhebt, eine Erklärung der Entstehung des Literatursystems zu geben, letztlich aber bloß zu dem Ergebnis gelangt, „daß moderne Literatursysteme sich im 18. Jahrhundert in Europa als eigenständige soziale Systeme aus einer evident überkomplex gewordenen Gesamtgesellschaft ausdifferenziert haben“39 – eine These, die vollkommen unstrittig ist, jedoch kaum Erklärungswert besitzt. 34 35

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Ebd., S. 40 f. Kolkenbrock, a.a.O., in: Turk/Kittler (Hrsg.), 1977, S. 274. Foucault strebt mit seiner Diskustheorie die Formulierung eines subjektlosen Modells an. Folglich definiert er den Diskurs als „Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen der Subjektivität“ und nicht als „Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts“ (vgl. Foucault, 1973, S. 82). Vgl. Turk/Kittler (Hrsg.), 1977, S. 28 f. Laut Foucault können Diskurse folgende Schwellen überschreiten: Epistemologisierung, Wissenschaftlichkeit und Formalisierung; diese Schwellen zu bestimmen ist Aufgabe der Archäologie bzw. Diskursanalyse (vgl. Foucault, 1973, S. 266). Ebd., S. 142 f. Eine einzelne Aussage wird erst durch die „Analyse des diskursiven Feldes“ verständlich, da sie nur in Differenz zu allen anderen (möglichen oder tatsächlichen) Aussagen bestimmbar ist (vgl. ebd., S. 43). Vgl. etwa Titzmann, 1991, S. 409. Vgl. Schmidt, 1989b, S. 136.

444

3. Schluss und Zusammenfassung

Einen ähnlichen Anspruch wie der systemtheoretische Ansatz erhebt Bourdieu mit seinem Feldbegriff. Auch mit ihm soll der Vorzug der Diskurstheorie – die Beweglichkeit ihres Beschreibungsapparates – bewahrt werden, ohne deren Mangel – die Vagheit – zu übernehmen. Vor allem sollen innerhalb der Feldtheorie intellektuelle Orientierungssysteme in den sozialen und realhistorischen Kontext eingebettet werden. Bourdieu versucht dies mit Hilfe des Begriffs des Habitus zu leisten, mit dem die umfassende Prädetermination der Akteure durch diese Kontexte in dreierlei Hinsicht beschrieben wird: hinsichtlich der Wahrnehmungs-, der Denk-40 und der Handlungsschemata41: Der Habitus ist sozialstrukturell bedingt, d.h. durch die spezifische Stellung, die ein Akteur [...] innerhalb der Struktur gesellschaftlicher Relationen innehat; er formt sich im Zuge der Verinnerlichung der äußeren gesellschaftlichen (materiellen und kulturellen) Bedingungen des Daseins. Diese Bedingungen sind, zumindest in modernen, differenzierten Gesellschaften, un42 gleich, nämlich klassenspezifisch.

Die Mittel dieser Verinnerlichung bezeichnet Bourdieu als eine ‚stille‘, unbemerkte Pädagogik, die sich auf nicht-mechanische Weise vollzieht. Die Pointe der Habitustheorie ist, dass sie sich gegen jede Form von soziologischem oder historischem Determinismus stellt und in dem Begriff der konditionierten Freiheit eines ihrer zentralen Bestandstücke findet. Dem gemäß werden durch den Habitus nur die Grenzen möglicher Praktiken, ihr „Spielraum“, nicht die Praktiken selbst festgelegt. Innerhalb der Habitustheorie wird zugleich die Unbewusstheit und Unreflektiertheit der Verhaltensschemata betont. Mit dem Begriff des Feldes will Bourdieu auf den sich zumeist hinter dem Rücken der Akteure vollziehenden Einfluss gesellschaftlicher Bedingungsfaktoren auf konkrete Praktiken und Werke hinweisen: Das Feld ist ein Netz objektiver Beziehungen […] zwischen Positionen […]. Jede Position ist durch ihre objektive Beziehung zu anderen Positionen oder, anders gesagt, durch das System relevanter, das heißt effizienter Eigenschaften objektiv festgelegt: jener Eigenschaften, die die Situierung im Verhältnis zu allen anderen Positionen innerhalb der Struktur der globalen Ver43 teilung der Eigenschaften ermöglichen.

Bourdieu spricht von einer „Dialektik von Habitus und Feld“ i.S. einer Wechselbestimmtheit von objektiven Sozial- und subjektiven Habitusstrukturen.44 In Krisensituationen werde diese Dialektik aufgebrochen, sodass es einerseits zu folgenreichen Verwerfungen, andererseits zu wichtigen Innovationen kommen könne. Das Konzept des Feldes i.S. eines Spielraums möglicher Handlungsweisen ist jedoch nicht deterministisch zu verstehen; als „Spieleinsatz“ kann laut Bourdieu das ökonomische, kulturelle, symbolische und soziale Kapital – Kapital i.S. von akkumulierter Arbeit – dienen, 40 41 42 43 44

Hiermit sind bei Bourdieu vor allem Alltagstheorien sowie ethische und ästhetische Maßstäbe gemeint. Vgl. Schwingel, 2003, S. 59 ff. Ebd., S. 66. Bourdieu, 1999, S. 365 Vgl. zum Folgenden Schwingel, 2003, S. 76 ff.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

445

wobei sich das kulturelle Kapital stets in drei verschiedenen Zuständen befinde: in einem objektivierten, einem inkorporierten oder einem institutionalisierten Zustand. Speziell das literarische Feld zeichne sich durch eine nicht stillzustellende Dynamik aus, über die es letztlich allein zu bestimmen sei: Das literarische (usw.) Feld ist ein Kräftefeld, das auf alle einwirkt, die es betreten […]; und zugleich ist es eine Arena, in der die Konkurrenten um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes kämpfen. […] Anders gesagt: Das generierende und vereinheitlichende Prin45 zip dieses ‚Systems‘ ist der Kampf selbst.

Die Dynamik des komplexen Beziehungsgeflechts, welches das literarische Feld darstellt, führe zu einer zunehmenden „Differenzierung der künstlerischen Ausdrucksformen“: Die Bewegung des künstlerischen und des literarischen Feldes hin zu immer mehr Autonomie geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung der künstlerischen Ausdrucksformen und einer fortschreitenden Aufdeckung der Form, die einer jeden Kunst oder Gattung genuin zukommt, und zwar über die gesellschaftlich bekannten und anerkannten äußerlichen Zeichen ih46 rer Identität hinaus.

Dies wiederum führt nicht allein zu immer größerer Autonomie des literarischen Feldes, sondern zugleich zu einer sich potenzierenden Reflexivität der in diesem Feld vorfindlichen Werke: Die Entwicklung des Feldes der kulturellen Produktion in Richtung auf größere Autonomie geht mit der in Richtung auf erhöhte Reflexivität einher, die jedes der ‚Gattungen‘ zu einer kritischen Besinnung auf sich selbst, seine eigene Grundlage, seine eigenen Voraussetzungen führt. […] In dem Maße, in dem das Feld sich auf sich selbst zurückzieht, wird die praktische Beherrschung der von der ganzen Geschichte der Gattungen zusammengetragenen spezifischen Errungenschaften […] zum Bestandteil der Zulassungsvoraussetzungen zum Feld der 47 eingeschränkten Position.

Für Bourdieu ist daher der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft vom Kunstwerk „die Beziehung zwischen zwei Strukturen: der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionen innerhalb des Produktionsfeldes und der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionierungen im Raum der Werke“.48 Diese Diagnose Bourdieus konnten wir durch unsere Untersuchung der Achsenzeit um 1800 bestätigen. Das komplexe Beziehungsgefüge, in dem sich die spätaufklärerischen, frühromantischen und idealistischen Konzepte befinden, sowie die Konstellationen, die sie unter sich eingehen, haben wir mit dem Begriff des Syndroms und nicht mit demjenigen des „Systems“, des „Archivs“ oder des „Feldes“ bezeichnet, weil wir den soziohistorischen Kontext größtenteils aus unseren Analysen ausgeblendet und uns stattdessen auf die internen Strukturen dieses Beziehungsgeflechts konzentriert haben. Dabei 45 46 47 48

Vgl. Bourdieu, 1999, S. 368. Ebd., S. 223. Ebd., S. 384. Ebd., S. 369.

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3. Schluss und Zusammenfassung

diente uns der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Literatur als Leitfaden. Aus diesem Syndrom ist eine bis heute nachwirkende Tradition erwachsen – diejenige der anderen Vernunft. Es scheint vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, in die die soeben skizzierten Alternativmodelle führen, noch die beste Lösung zu sein, auf den Begriff der Tradition zurückzugreifen. Schon Bourdieu wies darauf hin, dass mit jeder Traditionsbegründung der Anspruch der historisch bedingten Vernunft auf transhistorische Geltung verbunden ist – ein Widerspruch, den er als „historizistischen Zirkel“ bezeichnet und dadurch aufzulösen versucht, dass er in diesem Unterfangen eine Selbstobjektivierung und Autoreflexivität der Vernunft im Hinblick auf ihre historischen Bedingungen identifiziert.49 Insbesondere eine eklektische Tradition wie diejenige der anderen Vernunft befindet sich beständig in dieser paradoxalen Situation: sie ist sich der eigenen Historizität einerseits bewusst50, erhebt aber andererseits, wie jede Tradition, den Anspruch auf allgemeine Geltung. In diesem Widerspruch kehrt, wie erwähnt, das Grundproblem des Relativismus wieder. Gerade in einer eklektischen Tradition müssen sich deren Teilnehmer fortwährend in einer Haltung des „perforierten Ernstes“51 bzw. der ironischen Distanz üben. Was dies bedeutet, lässt sich mit Hilfe einiger Überlegungen Feyerabends deutlicher machen, wonach bei der Auseinandersetzung von Traditionen zwischen aus der Außenperspektive auftauchenden Beobachterfragen und aus der Innenperspektive formulierten Teilnehmerfragen zu unterscheiden sei. Nehmen nun die Traditionsteilnehmer selbst eine distanzierte Beobachterhaltung ein, so sei die Folge eine skeptische Haltung, die wiederum auf eine pragmatische Philosophie führe. Am interessantesten sind in Feyerabends Augen solche „Fälle, in denen die Maßstäbe, die eine Entscheidung leiten sollen, durch den Prozeß der Entscheidung verändert werden“: Die Kritik beruht hier nicht mehr auf vorgegebenen Maßstäben, sondern auf Maßstäben, die im Akt des Kritisierens erst entstehen: man baut Stück für Stück eine neue Tradition auf, um 52 einen Bezugspunkt für die Kritik einer noch ohne Rivalen dastehenden Tradition zu erhalten.

Das Bewusstsein der eigenen Historizität bedeutet jedoch nicht, dass eine eklektische Tradition keinerlei transhistorische Geltung beanspruchen könnte; es bedeutet nur, dass ein solcher Geltungsanspruch aus einer ironischen Haltung heraus erhoben wird. Wenn man daher den Eklektizismus als eine „a limine prinzipienlose Philosophie“ bzw. als eine „methodenlose Methode“ bezeichnet53, ist zu berücksichtigen, dass sie dies allein aus der Perspektive einer „abstrakten Tradition“ ist, die ihre eigene Historizität verleugnet54; intern besitzt sie hingegen sehr wohl eine rationale Struktur mit spezifischen Begründungsmustern. Bei dem anti-systematischen und dekonstruktiven Grundcharakter des im Zentrum der Tradition der anderen Vernunft stehenden Romans der Achsenzeit 49 50 51 52 53 54

Vgl. dazu Schwingel, 2003, S. 159. Vgl. Schmidt-Biggemann, 1988, S. 203; zit. in Kap. 2.1.1. Es handelt sich hierbei um einen Ausdruck Robert Musils. Feyerabend, 1980, S. 46. Schmidt-Biggemann, 1988, S. 204. Vgl. Feyerabend, 1989, S. 181 u. Feyerabend, 1980, S. 63.

3.1 Zur Philosophie der Achsenzeit

447

handelt es sich jedoch keineswegs um zufälliges Beiwerk, um eine letztlich harmlose Kinderkrankheit, die zuverlässig wieder verschwinden wird, sobald hellere, weil systematische Köpfe sich der Materie widmen. Vielmehr ist die skeptische und relativistische Haltung sowohl des philosophischen als auch des transzendentalpoetischen Romans unabdingbarer Bestandteil des Versuchs, die Literatur zum Konkurrenzunternehmen gegenüber der Philosophie aufzuwerten. Dass sich jedoch die Romanciers der Achsenzeit gegen die professionelle Philosophie wenden, hindert sie nicht, bei dieser in die Schule zu gehen. Im Gegenteil, ihr Verhältnis zur Philosophie ist, wie gesagt, größtenteils eklektisch; der Unterschied besteht ‚nur‘ in der diskurslogischen Konsequenz, die sie aus den Theoremen des pragmatischen bzw. des organizistischen Paradigmas ziehen.55 Umgekehrt scheint es daher gerechtfertigt, auch die philosophischen Vertreter dieser Paradigmen der Tradition der anderen Vernunft beizuzählen. Vielleicht nur zu den Kontingenzen der Ideengeschichte zu zählen ist die Tatsache, dass die Tradition der anderen Vernunft ein größtenteils vergessenes Erbe ist. Sicherlich lassen sich für dieses Vergessen vielerlei Gründe angeben. Zwar war bei oberflächlicher Betrachtung für den philosophischen Roman der Spätaufklärung zum einen die deutsche Klassik mit ihrem harmonistischen Bildungsideal, zum anderen die Remythologisierung der Literatur durch die Romantiker und zum dritten der zwischen totaler Überschätzung der Kunst und ihrer Bestimmung als von der Philosophie überwundener Zustand schwankende Deutsche Idealismus verheerend. Doch wird bei näherem Hinsehen klar, dass sowohl der klassische Entwicklungsroman und das ästhetische Bildungsprogramm Schillers als auch das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie und die idealistische Kunstphilosophie ohne das spätaufklärerische Erbe undenkbar wären; in ihnen lebt vielmehr die Tradition der anderen Vernunft weiter – mehr auch als Klassikern, Romantikern und Idealisten selber ahnte. Die Verantwortung für dieses Vergessen ist eher dem Siegeszug der empirischen Wissenschaften mit ihren philosophischen Hilfsideologien zu geben. Das Betrübliche ist nur, dass dies ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit der Tradition der anderen Vernunft geschah. Dieses Beiseitelassen, Verschweigen und Verkennen, dieses Sekretieren und Ignorieren jedoch hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts böse gerächt – und zwar nicht bloß auf philosophischem Gebiet.

55

Indem Feyerabend die eklektische Vorgehensweise als Opportunismus bezeichnet (vgl. Feyerabend, 1980, S. 136 u. 140), gibt er auch eine Antwort auf die Frage, inwiefern es keinen Widerspruch darstellt, aus einer eklektischen Tradition einen revolutionären Diskurs und damit ein neues Paradigma hervorgehen zu lassen. Im Gegenteil, der Eklektizismus scheint sogar eine notwendige Voraussetzung für revolutionäre Wissenschaft und Philosophie, da nur in ihm der Pluralismus gewährleistet ist (vgl. hierzu Kap. 1.1).

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit Verstehen, das der Geschichte nicht ganz zum Opfer fallen will, muß sich als geschichtlich bedingt erkennen und sich die Mittel verschaffen, sich geschichtlich zu verstehen; und es muß zugleich die geschichtliche Situation geschichtlich verstehen, in der das entstanden ist, was zu verstehen es sich bemüht.1

Verlangt man nach einer kurzen Charakteristik der spätaufklärerischen und romantischen Literaturkonzepte, ließe sich sagen: Die Frühromantiker unternahmen den Versuch, die Poesie, namentlich den Roman auf das Niveau der spekulativen Philosophie hinaufzuziehen. Den Roman als neue Leitgattung zu etablieren, war zwar auch die Intention der Spätaufklärer; aber im Rahmen des pragmatischen Paradigmas wollten die Spätaufklärer demgegenüber die Philosophie auf das Niveau der Poesie herabziehen, indem sie das Denken in den lebenspraktischen Kontext zurücknahmen. Dennoch war beider Ziel eine Aufwertung der Literatur, insbesondere des Romans. Den Konzepten der Spätaufklärer und Frühromantiker gemeinsam ist also die Feststellung einer engen Verwandtschaft zwischen Philosophie und Literatur. Verschieden sind nur, metaphorisch gesprochen, die Erkenntnisrichtungen, aus denen sie sich auf dieses Ziel zubewegten: der frühromantischen Betrachtung von oben nach unten, gleichsam einer Spekulation a la hausse, steht die spätaufklärerische Spekulation a la baisse gegenüber, die von unten nach oben gerichtet ist.2 Dabei ist nicht zu verkennen, dass vom Erfolg des Versuchs, zwischen Spätaufklärung und Frühromantik und damit innerhalb der Achsenzeit von 1770 bis 1820 eine Kontinuität herzustellen, auch die Frage abhängt, ob es gerechtfertigt ist, von der Begründung einer Tradition zu sprechen. Denn mit Foucault ist im Bewusstsein zu halten, dass der Begriff der Tradition immer der Herstellung von Kontinuität dient.3 Dies hindert aber nicht zu behaupten, dass die interne Kontinuität der Tradition der anderen Vernunft gerade durch die Spannung zwischen Philosophie und Literatur gewährleistet wird; ihre Konkurrenz macht sie nur zu einer durch und durch dynamischen Tradition. Das den Spätaufklärern und Frühromantikern gemeinsame Unternehmen einer Etablierung der Kunst als Konkurrenzunternehmen zur Philosophie impliziert aber eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Ansprüchen der Philosophie, eine ausgezeichnete Weise des Weltzugangs zu sein. Das Verhältnis der Literatur zur Philosophie um 1800 ist daher grundsätzlich kritisch und dekonstruktiv. Diese Diagnose hat ihre Gültigkeit, obwohl sie andererseits in einem vorwiegend eklektischen Verhältnis zur Philosophie steht. In dieser beständigen Spannung zwischen dekonstruktiver Kritik einerseits und konstruktiver Übernahme philosophischer Modelle andererseits haben auch die diskurs1 2 3

Bourdieu, 1999, S. 487. Vgl. Musil, 1978, Bd. 1, S. 410. Foucault, 1973, S. 33.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

449

logischen Reflexionen der Spätaufklärer und Frühromantiker ihren Ort – aus ihr heraus entwickeln sie die Überzeugung, dass der Roman die ihrer Haltung angemessene Diskursform darstellt. Die vorliegende Untersuchung sollte einen Beitrag dazu leisten, das Erbe der Tradition der anderen Vernunft wieder in Erinnerung zu rufen. Den Roman als zentrale Diskursform dieser Tradition zu analysieren bedeutet jedoch, die philosophischen Implikationen der gesamten sogenannten ‚schönen Literatur‘ zu untersuchen. Diese Implikationen müssen nicht diskursiv verhandelt werden. Dies geschieht allein im philosophischen sowie im transzendentalpoetischen Roman – jeweils auf spezifische Weise. Indem im Roman der Spätaufklärung in den diskursiven Passagen zugleich die Gründe der Diskurswahl artikuliert, ‚Stoff‘ und ‚Form‘ also aufeinander abgebildet werden, wird die autoreflexive Struktur ins Romanerzählen implementiert. Diese diskursiven Elemente treten in der frühromantischen Literatur wieder in den Hintergrund, ohne freilich gänzlich zu verschwinden. Übrig bleibt die autoreflexive Struktur als formales Kennzeichen der Transzendentalpoesie. In dieser Hinsicht verfolgte deswegen unsere Interpretation das Ziel, die philosophischen Implikationen der frühromantischen Romane aus dem Modus ihrer Verborgenheit herauszulösen, indem die enge Verwandtschaft zum – diskursiv stärker artikulierten – philosophischen Roman der Spätaufklärung herausgearbeitet wurde. Es sollte sich dabei erwiesen haben, dass nur auf solche Weise ein angemessenes Verständnis des frühromantischen Romans gewonnen werden kann. Auf der anderen Seite werden im transzendentalpoetischen Roman die metaphysischen – ontologischen und subjektivitätstheoretischen – Hintergrundannahmen des Entwurfs von fiktionalen Welten stärker thematisiert als im philosophischen Roman der Spätaufklärung. Namentlich die Autoreflexivität des Erzählens übernimmt hierbei eine mimetische Funktion, insofern sie die autoreflexive Grundstruktur des organizistisch aufgefassten Weltganzen repräsentieren soll. So artikulieren die philosophischen und transzendentalpoetischen Romane der Achsenzeit gerade das, was im jeweils anderen Romantypus bloß implizit bleibt: im transzendentalpoetischen Roman die zugrundegelegte metaphysische Theorie; im philosophischen Roman die Entscheidungsgründe, die zur Wahl des Romans als Diskursform geführt haben. Die Analysen dieser beiden Romantypen ergänzen sich also in wesentlichen Belangen wechselseitig. Damit aber rückt am Ende unserer Darlegungen die gattungstheoretische Frage in den Vordergrund, inwieweit es überhaupt gerechtfertigt ist, den philosophischen Roman der Spätaufklärung oder den transzendentalpoetischen Roman bzw. den Identitätsroman der Frühromantik als eigenständige Gattungen zu etablieren. Klassifizierungen stellen zweifellos, wie Steinmetz sagt, „eine der Hauptstrategien des Menschen [dar], Wirklichkeit beherrschbar zu machen“.4 Richtig ist sicher auch, „daß man für ein angemessenes Verständnis, für die Interpretation eines jeden Textes von der Vorstellung einer bestimmten Gattung ausgehe“, sodass die Gattung „eine notwendige Voraussetzung für 4

Steinmetz, 1990, S. 51.

450

3. Schluss und Zusammenfassung

jedes Textverständnis“ darstellt.5 Allerdings sieht man sich dabei dem Problem gegenüber, dass jede Gattungstheorie zwei entgegengesetzten Ansprüchen genügen muss: sie muss einerseits der historischen Bedingtheit der Gattung gerecht werden, andererseits diese Historizität transzendieren, will sie einen klassifikatorischen Wert beanspruchen. Nun sollte man zwar laut Steinmetz nach wenigstens einigen solcher transhistorischen Konstanten oder Gattungsuniversalien streben. Als ein „Akt der versuchten Sinnsetzung, mit dem man sich gegen die Zufälligkeit der Geschichte zu wehren trachtet“, sei dies jedoch zum Scheitern verurteilt. Vielmehr müsse man das fundamental Historische aller Gattungen betonen, wobei prinzipiell alle Merkmale einer Gattung einem Bedeutungswandel ausgesetzt seien.6 Das werde besonders in Krisensituationen deutlich: Die Historizität jedoch, die Vorläufigkeit auch der zählebigsten Gattungsordnungen der Literatur wird zu Zeitpunkten sichtbar, die man als Zeitpunkte der Krise bezeichnen kann. Damit ist nicht in erster Linie eine Krise der Literatur gemeint, sondern die Krise der generischen Wirk7 lichkeitsordnung, wie sie außerhalb der Literatur anzutreffen ist.

Auch Laufhütte macht darauf aufmerksam, dass wissenschaftlich brauchbare Gattungsbegriffe eine „möglichst weitgehende Epochentranszendenz“ besitzen müssen, obwohl sie zugleich „die historischen Gegenstände, die sie vergleichbar machen sollen, weder durch allzu große Abstraktion verfehlen noch ihnen durch Überdehnung historischer Merkmale zum Status vermeintlicher Überzeitlichkeit Gewalt antun“ dürfen.8 Gattungsbegriffe müssten daher Merkmale historischer Determiniertheit in ein hierarchisches Verhältnis bringen zu solchen stärkerer oder gar ausschließlicher Epochenabhängigkeit, und diese wie jene in ihrem Zusammenwirken als Konstanten und Variable spezifizieren. Inhalte, Probleme und Intentionen sind stärker zeitgebunden als Stoffe, Motive und Themen, diese wiederum stärker als Darbietungs9 und Argumentationsstrukturen, als rhetorische Strategien.

Lamping versucht diese beiden sich scheinbar widersprechenden Ansprüche durch die Unterscheidung einer invarianten (Tiefen-)Struktur und historisch varianter Transformationsformen einer Gattung zu versöhnen.10 Ähnliche Ansätze verfolgen Fricke und Hinck: Während Fricke den „rein systematischen literaturwissenschaftlichen Ordnungsbegriff“ der Textsorte von der „historisch begrenzten literarischen Institution des Genres unterscheidet11, differenziert Hinck in seiner Textsortenlehre zwischen Gattungen als typologischen Grundbegriffen, die „überhistorische Konstanten“ darstellten, und Gattungen als literarhistorisch fixierbaren Dichtungsformen, in denen sich „literarische Konventionen oder Traditionen von begrenzter geschichtlicher Funktion und Dauer“ 5 6 7 8 9 10 11

Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Ebd., S. 62. Laufhütte, 1991, S. 309. Ebd., S. 310. Lamping, 1990, S. 22. Vgl. Fricke, 1981, S. 146.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

451

artikulierten12. Dadurch aber sei die Möglichkeit eines Wandels der Gattungen bewahrt, ohne dass ihre transhistorische Bedeutung aufgehoben werde: Der Begriff der Gattung, verstanden als Menge spezifischer Elemente und Verknüpfungsregeln, läßt theoretisch Möglichkeit für Entwicklung, die nach dieser Definition bedeutet: Aus13 fall oder Hinzufügung, Akzentuierung oder Abschwächung einzelner Elemente bzw. Regeln.

Gattungsbegriffe müssen jedoch, wie Lamping betont, nicht notwendig Strukturbegriffe, sie können auch thematische Begriffe sein.14 Der prominenteste Fall eines solchen thematischen Gattungsbegriffs ist der Begriff des Bildungsromans. In unseren Bestimmungen des philosophischen Romans sowie des transzendentalpoetischen Identitätsromans werden hingegen beide Aspekte des Gattungsbegriffs berücksichtigt. Und beide müssen auch gleichermaßen Berücksichtigung finden, will man eine vollständige Gattungsbestimmung erreichen. Dabei sollen diese Bestimmungen einerseits zwar überhistorische Konstanten darstellen, andererseits aber im Konzept der Tradition historisiert werden. Auch in gattungstheoretischer Hinsicht verfolgt die Untersuchung also einen systematischen Ansatz anhand einer exemplarischen historischen Problemsituation. Zugleich sollen unsere Gattungsbestimmungen dem Umstand Rechnung tragen, dass der Roman die offene Diskursform schlechthin darstellt, die durch kein Normensystem eingeengt ist. Diese Offenheit des Romans gegenüber externen Diskurseinflüssen ließe sich, in Bezug auf die gattungstheoretischen Ausführungen von Steinmetz, dadurch erklären, dass der Roman in einer Krisensituation entstanden ist, in denen nicht nur die Diskurs-, sondern auch die Gattungsgrenzen in Frage gestellt wurden. Schon Goethe bestimmte den Roman als „subjektive Epopöe, in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln“, während sich alles Andere ‚von selbst gebe‘.15 Auch Blanckenburg nimmt nur eine sehr allgemeine Charakterisie-

12

13 14 15

Vgl. Hinck (Hrsg.), 1977, S. IX. Auch in Titzmanns gattungstheoretischen Überlegungen spielt die Differenz zwischen historischen und transhistorischen Elementen eine zentrale Rolle. Entsprechend unterscheidet er den Begriff der Gattung als einer „Teilmenge theoretisch denkbarer Texttypen [..], die in der Kultur selbst unterschieden wurden und also nachweisbar Elemente des kulturellen Wissens waren“, von demjenigen des Texttyps bzw. der Textsorte, den er als eine „Klasse von Texten [definiert], die auf Grund von Kriterien gebildet worden ist, die am Einzeltext als erfüllt oder nichterfüllt nachgewiesen werden können“. Dies wiederum setzt Titzmann in Beziehung zum Diskursbegriff, wonach ein Diskurs ein „System, das die Produktion von Wissen regelt“, bzw. ein „System des Denkens und Argumentierens [sei], das von einer Textmenge abstrahiert ist und das erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist“ (Titzmann, 1991, S. 406). Allerdings ist dazu kritisch zu bemerken, dass das terminologische Verhältnis zwischen Gattung, Texttyp und Diskurs letztlich unklar bleibt. Zit. nach Lamping, 1990, S. 24. Lamping, 1990, S. 22. Goethe, 1981, Bd. 12, S. 498 (Nr. 938).

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3. Schluss und Zusammenfassung

rung des Romans vor, wenn er von ihm, im Unterschied zum Epos, die Darstellung der „Handlungen und Empfindungen des Menschen“ und nicht „des Bürgers“ verlangt.16 Innerhalb vieler literaturgeschichtlicher Untersuchungen zum 18. Jahrhundert hat sich das Gattungskonzept des anthropologischen Romans etabliert. Gegen dieses Konzept ist vor allem zweierlei einzuwenden: Zum einen ist die Anthropologie insofern ein bloßes Randphänomen, als sie nur Teil eines umfassenden Paradigmenwechsels ist, in dem auf der Grundlage eines neuen Naturkonzepts ein pragmatisches Philosophieverständnis sowie ein anderes Menschenbild entwickelt werden. Diesem Paradigmenwechsel hat auch die Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihre Entstehung zu verdanken. Es erscheint daher als ein in seinem bloß indirekten Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand nicht gerechtfertigtes Unternehmen, eine Gattungsbestimmung auf der Basis der Anthropologie vorzunehmen. Zum andern – und dies ist in gattungstheoretischer Hinsicht entscheidender – werden die strukturellen oder formalen Aspekte des Romans der Spätaufklärung im Gattungskonzept des anthropologischen Romans vernachlässigt. Diese sind aber, wie wir anhand der narratologischen Kategorie der Autoreflexivität gezeigt haben, zentral. Es handelt sich bei der Kategorie des anthropologischen Romans um eine vorwiegend thematische und insofern einseitige Gattungsbestimmung.17 Was klassifikatorisch darüber hinaus geht, beruft sich auf ein verschwommenes rezeptionsästhetisches Modell, wonach der anthropologische Roman den „ganzen Menschen“ anspreche, wie dies bei Jutta Heinz deutlich wird: Gerade in der Darstellung des ganzen Menschen sowie der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Kopf und Herz liegt sein [des anthropologischen Romans] Hauptthema. In der ‚inneren Geschichte des Menschen‘ führt er anschaulich die durchgängige kausale Verknüpfung von Leib und Seele vor. Dadurch, daß er besonders die unteren Vermögen bei der Rezeption anspricht, werden zum einen auch diese einem Vervollkommnungsprozeß unterzogen, zum anderen wird der Roman selbst breiteren Publikumsschichten zugänglich, als es beispielsweise Texten der Moralphilosophie möglich ist. Der Roman dient so sowohl der Einübung in Menschenkenntnis wie der umfassenden Bildung des gesamten Menschen. [...] Durch seine Bindung an das Gesetz der Kausalität ist der Roman analog zur großen Welt der Realität; durch seine dichterische Freiheit kann er jedoch die begrenzten Möglichkeiten der Realitätswahrnehmung steigern in Richtung auf größere Einsichtigkeit des in der Realität chaotischen Ge18 schehens und so ein psychologisches Bedürfnis der Menschen nach Konsistenz befriedigen.

Die weitere Diagnose von Heinz, dass der Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts „die durch die Anthropologie als Wissenschaft initiierte Bewegung gegen eine einseitige Vernunftorientierung des Menschen im Interesse des ‚Anderen der Vernunft‘“ weiterführe, „indem er diesem ‚Anderen‘ lebensweltlich verwurzelte Ausdrucksformen verleiht“, und gerade dadurch „einen wesentlichen Beitrag zu einer Neudefinition mensch16 17

18

Vgl. Blanckenburg, Versuch, S. 17. Auch Manfred Engel bestimmt den anthropologischen Roman als eine „inhaltlich bestimmte Kategorie“, die zum einen durch metaphysische Desillusionierung und Skepsis, zum andern durch seine anthropologische Orientierung gekennzeichnet sei (vgl. Engel, 1993, S. 99). Heinz, 1996, S. 162.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

453

licher Moral“ leiste, dass er sich „auf den besonderen Einzelfall und auf die konkrete Situation“ konzentriere19 –, diese Diagnose ist zwar zutreffend, rechtfertigt jedoch nicht die Kategorisierung des spätaufklärerischen Romans als eines anthropologischen. Vielmehr bietet dieses Konzept keine vollständige Gattungsbestimmung des Romans der Achsenzeit und kann daher nicht befriedigen. Ehe wir aber in Abgrenzung zum anthropologischen eine Gattungsästhetik des philosophischen Romans skizzieren, müssen wir uns nochmals einem anderen Romantypus zuwenden, zu dem der philosophische Roman der Spätaufklärung in engem Bezug steht. Für Engel stellt der anthropologische Roman nur den „Grenz- und Krisenfall“ des Typus des pragmatischen Romans dar, insofern beide an einem kausaldeterministischen Welt- und Menschenbild orientiert seien. Gerade aufgrund dieser Orientierung bestimmt er den pragmatischen Roman als „Idealtypus des aufklärerischen Romans schlechthin“.20 Dieser Diagnose haben wir uns im Großen und Ganzen angeschlossen. Die Pointe des Konzepts des pragmatischen Romans ist aber, dass mit ihm der MimesisForderung in einem neuen Sinne Genüge getan wird, indem nicht mehr eine Nachahmung bestimmter diskreter Entitäten, sondern des Weltganzen postuliert wird. Wie der Begriff selbst erkennen lässt, geht man hierbei von der Mimesis menschlicher Handlungen aus, deren hinreichende Determination von der literarischen Darstellung verlangt wird. Diese Forderung nach vollständiger Determination der Handlungen impliziert aber deren Situierung in umfassenderen Kontexten – zunächst in den des gesamten menschlichen Lebens, dann aber auch in das Ganze einer kausal determinierten Welt. Damit wird die literarische Darstellung auf einen Begriff von Welt als eines kausal geschlossenen Systems verpflichtet, das es in der fiktionalen Welt ‚im Kleinen‘ nachzubilden gilt. Diese Forderung nach kausaler Geschlossenheit und interner Kohärenz, in der Begrifflichkeit der aufklärerischen Ästhetik: nach „Wahrscheinlichkeit“ der erzählten Welt findet in der Leibnizschen Theorie der möglichen Welten ihre metaphysische Legitimation: Danach geht es im Roman um die Darstellung einer möglichen Welt, wobei eine solche Darstellung nicht allein dem Postulat der internen Wahrscheinlichkeit genügen, sondern auch im Hinblick auf die aktuale Erfahrungswirklichkeit, d.h. in externalistischer Weise wahrscheinlich sein soll. So stehen im Hintergrund des Konzepts des pragmatischen Romans zwar noch mechanizistische Vorstellungen, aber dadurch, dass die fiktionale Welt eine Nachahmung der Welt als ganzer wird, gerät die Ästhetik in Abhängigkeit von der Ontologie.21 Das pragmatische Paradigma, dem in wesentlicher Hinsicht auch der pragmatische Roman verpflichtet ist, steht nun im Zentrum einer Tradition, die wir aufgrund ihrer Umkehrung des Verhältnisses von Rationalität und Affektivität als die der anderen 19 20 21

Ebd., S. 343. Vgl. Engel, 1993, S. 131. Das Konzept des pragmatischen Romans artikuliert die Bildung eines autonomen Systems darüber hinaus nach der Seite der moralisch-pädagogischen Wirkung. Dies wird uns noch in Kap. 3.3 beschäftigen.

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3. Schluss und Zusammenfassung

Vernunft bezeichnet haben. Da sich jedoch der zur Begründung dieser Tradition führende Paradigmenwechsel als das eigentlich Wesentliche der Aufklärung erwiesen hat, wohingegen die Entstehung der Anthropologie im 18. Jahrhundert nur ein Randphänomen darstellt, das sich zudem zwanglos in das neue Paradigma einordnen lässt, haben wir für jene Gattung, die die diesem Paradigmenwechsel adäquate Diskursform darstellt, den Begriff des philosophischen Romans gewählt, nicht jedoch den für die Beschreibung ganz ähnlicher Merkmale etablierten Terminus des anthropologischen Romans. Dieser letztere Begriff deckt nur einen Bruchteil dessen ab, was durch das pragmatische Paradigma in Gang gebracht worden ist; eine Ausweitung seiner Begriffssphäre kann im Hinblick auf die intellektuell eher bescheidene Anthropologie des 18. Jahrhunderts dagegen nicht gerechtfertigt werden.22 Für den Begriff des philosophischen Romans aber haben wir uns entschieden, weil er das Untersuchungsfeld nicht unnötig einschränkt, sondern so weit gefasst ist, dass er dem auszeichnenden Charakteristikum des Romans, seiner Offenheit, gerecht wird.23 Zudem macht der Begriff des philosophischen Romans deutlich, dass das entscheidende Signum der Achsenzeit um 1800 der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Dichtung war und dass gerade der Roman damals in Konkurrenz trat zur professionellen Philosophie. Hierbei sollte durch den Bezug auf diesen neuaufgelegten „alten Streit“ ein Begriff von Gattung entwickelt werden, der keine überhistorische Konstante bezeichnet, sondern eine historisch wandelbare Größe. Zugleich sollte durch die Integration in die Tradition der anderen Vernunft ins Bewusstsein gehoben werden, dass im philosophischen Roman der Spätaufklärung etwas geschehen ist, das über das 18. Jahrhundert hinaus Wirkungen entfaltet hat – nämlich ein grundlegender Paradigmenwechsel, der der Gattungsbestimmung des philosophischen Romans bei aller Historizität ihre klassifikatorische Leistungsfähigkeit bewahrt. Eine umfassendere Überschreitung des Geschichtlichen ist kaum zu erreichen. Doch erheben wir noch in anderer Hinsicht den Anspruch, die Historizität zu transzendieren: Denn unserer Auffassung nach ist das charakteristische Kennzeichen des modernen Romans überhaupt die Bewusstheit seiner Erzählverfahren, ist damit die autoreflexive Grundstruktur, die der philosophische Roman erstmals in die in Entstehung begriffene Romangattung implementiert und die die Betrachtung des Romans als eines abgeschlossenen Werks bzw. eines autonomen Organismus allererst begründet. Gerade das frühromantische Konzept der Transzendentalpoesie beruht auf dieser autoreflexiven Struktur, auch wenn sie hier eine andere Funktion übernimmt. Durch die Etablierung der Autoreflexivität ermöglicht also der philosophische Roman die Entwicklung sowohl 22 23

Diese Aufweichung des Begriffs des anthropologischen Romans wird etwa von Heinz vorgenommen. Man könnte einwenden, dass für eine Definition des Gattungsbegriffs ‚philosophischer Roman‘ vorweg geklärt werden müsste, was ‚philosophisch‘ eigentlich sei; dies aber ist nicht anders möglich als dadurch, dass man die Philosophie als eine unendlich reflexive – und autoreflexive – Tätigkeit beschreibt. Dies ist ein zugegeben sehr formaler Begriff; eine genauere Charakterisierung scheint aber dem Gegenstand nicht angemessen.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

455

zur Autonomieästhetik der Weimarer Klassik als auch zur Transzendentalpoesie der Romantik. Deshalb markiert der historische Moment der Entstehung des philosophischen Romans zugleich den Zeitpunkt der Entstehung des modernen Romans überhaupt: der „Halbbruder des Dichters“ wird zum Oberhaupt in der literarischen Familie. Zugleich ist das Verhältnis des philosophischen Romans sowohl zur Philosophie als auch zur Gattung des Romans durch den Begriff der Dekonstruktion zu charakterisieren. Diese Dekonstruktion des philosophischen Romans der Spätaufklärung erfasst sowohl seine diskursiven Passagen als auch seine formalen Mittel. So widerfährt sowohl den verhandelten philosophischen Theorien als auch den erzähltechnischen Mitteln eine zunehmende Auflösung. Beide Weisen der Dekonstruktion aber werden aufeinander abgebildet, sodass die Dekonstruktion mit einer beständigen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Romans überhaupt einhergeht. Die daraus resultierende autoreflexive Struktur führt innerhalb des philosophischen Romans zu jenem Phänomen der ‚Schwebe‘, in der sich alle Aspekte des Diskurses frei bewegen können. Dies wiederum hatte uns dazu veranlasst, vom philosophischen Roman als einem transzendentalen Metaroman zu sprechen, wodurch zum einen zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass sich der philosophische Roman durch seine Autoreflexivität auszeichnet24, zum anderen dass er sowohl nach der diskursiven als auch nach der erzähltechnischen Seite eine reaktive und eklektische Diskursform darstellt. In Bezug auf seinen erzähltechnischen Eklektizismus weist Dirscherl darauf hin, dass gerade „die kritische Wiederaufnahme tradierter Strukturen“ des Erzählens „im parodistischen Zerrspiegel manche Gattungsmerkmale deutlicher hervortreten [lässt], als dies in den ‚konventionellen‘ Realisierungen des jeweiligen Genus der Fall ist“. Indem im philosophischen Roman „stets auch der Roman als Gattung zum Gegenstand diskurskritischer Reflexion“ wird, transzendiert der philosophische Roman zugleich seinen formalen Eklektizismus. Insofern kann man das, was Manger über den Aristipp Wielands sagt, für den philosophischen Roman der Spätaufklärung verallgemeinern: er stellt eine „Summe der Erzählformen“ dar.25 Auch was Erhart bezüglich der Romane Wielands feststellt – dass sie als „Modelle einer Spätzeit, die den Ordnungssynthesen der Vergangenheit nicht mehr vertraut, sich der Bildung neuer Ordnungen jedoch verweigert“, eine Alternative zum ‚harmonistischen‘ Bildungsroman der Goethezeit böten26 –, ließe sich über den philosophischen Roman insgesamt sagen: Er stellt die ungesicherte Existenz durch die Widersprüchlichkeit der Perspektiven dar und dekonstruiert damit alle Modelle27: Die dem Leser zur Verfügung gestellten, den verschiedenen Romantraditionen zugehörigen Sinnschemata sind nicht durchgehalten, sondern werden nur vorgeführt, um ihre Geltung 24

25 26 27

Dabei kann im Rahmen eines autoreflexiven Erzählens, wie sich etwa in Wielands Aristipp zeigt, die Gattungsbestimmung Teil des Romans selbst sein. Entsprechend lässt sich die dortige Platonkritik zugleich als eine Explikation der immanenten Poetologie des Romans auffassen. Manger, 1988, S. 332. Erhart, 1991, S. 402. Vgl. ebd., S. 223.

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3. Schluss und Zusammenfassung

durch die permanente Überblendung der sie konstituierenden Erwartungshaltungen abzuschwächen. Statt eine Handlung aufzubauen, an die der Leser seine Interpretationsansätze gleichsam kontinuierlich anlagert, werden in Wielands Roman [hier ist die Rede vom Agathon; d.Vf.] – und dies gibt seinem Stil die ihm eigentümliche Unruhe des Perspektivenwechsels – die präsentierten Situationen ständig in sich widersprechende und einander ablö28 sende Einstellungen und Sinnerwartungen aufgelöst.

Daher sei die von den Zeitgenossen geschmähte Standpunktlosigkeit Wielands als eine Dekonstruktion herrschender Sinnzuschreibungen bzw. als Reaktion auf die Aporien der aufklärerischen Moralphilosophie zu verstehen, sodass z.B. der Agathon als ein „literarisches Experiment über die Selbstthematisierungen moderner Existenz“29 und zuletzt als ein aporetischer „Anti-Roman“ erscheint, in dem abstrakte Theorien mit der individuellen Praxis der Figuren konfrontiert und dadurch ironisiert werden.30 Gerade durch diese Dekonstruktion soll der philosophische Roman eine „Geschichte des Humanus“31 bzw., wie es in Wielands Agathon heißt, „die Geschichte aller Menschen“ (Wieland, A, S. 543) sein. Es handelt sich aber, wie Kremer sagt, im Falle des spätaufklärerischen Romans um eine „Destruktion aufklärerischer Positionen auf dem Terrain der Aufklärung selbst“.32 Der philosophische Roman der Spätaufklärung spielt nun gegenüber dem transzendentalpoetischen Roman der Frühromantik in zweierlei Hinsicht eine Pionierrolle: Zum einen wird seine autoreflexive Erzählstruktur für die spezifische Autoreflexivität vorbildlich, die im Rahmen eines organizistischen Kunstwerkverständnisses um 1800 formuliert wird, zum andern setzt der transzendentalpoetische Roman den Prozess der Dekonstruktion fort, der im spätaufklärerischen Roman begonnen wurde. Beides wird jedoch im Roman um 1800 radikalisiert, insofern die Autoreflexivität unter Einfluss der idealistischen Metaphysik eine ontologische Grundlage und eine mimetische Funktion erhält, während zugleich die metaphysischen und subjektivitätsphilosophischen Konzepte grundsätzlich dekonstruiert werden. Aufgrund dieser Tatsache, dass die Ästhetik um 1800 in ein Begründungsverhältnis zur Metaphysik tritt, gerät die ästhetische Theorie in die Notwendigkeit einer Präzisierung ihrer Grundbestimmungen des Kunstwerkes. So wie nach Auffassung der Deutschen Idealisten eine Ausfüllung der Idee vom Weltganzen nur mit Hilfe der Kategorie der Autoreflexivität möglich ist und entsprechend das Weltganze nur als Organismus begriffen werden kann, so bestimmt auch die Ästhetik, insbesondere die Romantheorie der Frühromantiker das Kunstwerk als einen Organismus bzw. als eine autoreflexive Einheit von Subjektivem und Objektivem. Auf dieser Grundlage formulieren die Früh28 29 30 31 32

Ebd., S. 101. Ebd., S. 17 u. 20 f. Ebd., S. 124 f. Vgl. Hegel, Werke, 1970, Bd. 14, S. 237. Vgl. Kremer, a.a.O., in: Košenina/Weiss (Hrsg.), 1997, S. 10. Dies zeige sich auch in narratologischer Hinsicht, insofern sich der philosophische stets am pragmatischen Roman orientiere.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

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romantiker das Konzept der Transzendentalpoesie. Jedoch stellen sich, so versuchten wir zu verdeutlichen, in der Ästhetik bzw. Romantheorie die metaphysischen Fragestellungen stets in spezifisch ästhetischer Weise – nämlich in der Form des Erzählproblems: die ontologische Frage nach dem Verhältnis von Objektivem und Subjektivem stellt sich dar als die narratologische Frage nach dem Verhältnis des Erzählers zu der von ihm erzählten Welt. Nicht minder deutlich geworden sein sollte, dass die Autoreflexivität innerhalb des transzendentalpoetischen Romans eine mimetische Funktion übernimmt, insofern der autoreflexiv verfasste Organismus des Kunstwerks in einem mimetischen Repräsentationsverhältnis zur autoreflexiven Struktur des Weltorganismus stehen soll. Aus narratologischer Perspektive ergibt sich daraus der Befund, dass im transzendentalpoetischen Roman – wie in Ansätzen auch schon im philosophischen Roman – Erzählen und Erzähltes stets in eins und gleichursprünglich präsentiert werden. Dem metaphysischen Anspruch des transzendentalpoetischen Romans steht sein dekonstruktiver Grundcharakter gegenüber. Die Dekonstruktion trifft vor allem die nachkantischen Subjektivitätskonzepte. Gegen den idealistischen Anspruch, ein reflexives Selbstverhältnis des Subjekts aus dessen eigenen Mitteln begründen zu können, stellen sie die Überzeugung, dass der Mensch aus unverfügbarem Grund existiere und sich das Subjekt unvermeidlich ein Rätsel bleibe. Konsequenz dessen ist, dass sich der Entwicklungs- zum Identitätsroman mit zunehmend nihilistischen Tendenzen radikalisiert.33 Gleichzeitig aber bemühen sich die transzendentalpoetischen Romane ihrerseits um die Formulierung haltbarer Subjektivitätskonzepte. Die Versuche der idealistischen Philosophie lassen sich als Folge dieser Bemühungen deuten, in Form einer ‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘ genetische Subjektivitätsmodelle zu entwickeln und narrative Elemente in die systematische Philosophie zu integrieren, sodass auch auf subjektivitätstheoretischer Ebene Philosophie und Literatur in Konkurrenz zueinander treten. Trotz seines dekonstruktiven Charakters soll der transzendentalpoetische Roman jedoch nicht einfach das einreißen, was die Philosophie mühsam aufgebaut hat. Vielmehr binden die literarischen Frühromantiker, aber auch Philosophen wie Schelling und Schopenhauer an die Kunst den hohen Anspruch, Ersatzmetaphysik zu sein und einen epistemischen Zugang zum Absoluten zu bieten. Obgleich sie dies als eine exklusive Leistung insbesondere der Literatur ansehen, während sie eine begrifflich verfasste Metaphysik für dessen unfähig erachten, ist gleichzeitig in Erinnerung zu behalten, dass die Kunst nach Auffassung der Frühromantiker einen Zugang zum Absoluten nur in dem Sinne einer Darstellung des Entzugs des Absoluten mit Hilfe der Ironie und der Allegorie zu eröffnen vermöge. Sicher kann man die Auffassung der Kunst als Ersatzmetaphysik als eine besondere Form der Dekonstruktion gegenüber dem Anspruch der 33

Um es in gattungstheoretischer Terminologie zu sagen: der Begriff des Identitätsromans stellt in erster Linie – wie schon derjenige des Bildungsromans – einen thematischen Gattungsbegriff dar. In unserer Untersuchung findet er im Strukturbegriff des transzendentalpoetischen Romans seine Ergänzung. Oder genauer formuliert: im Terminus des Identitätsromans artikulieren sich die thematischen Aspekte des übergeordneten Gattungsbegriffs des transzendentalpoetischen Romans.

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3. Schluss und Zusammenfassung

Philosophie, ihrerseits eine Theorie des Absoluten zu entwickeln, verstehen; aber selbst für die Frühromantiker stellt das Kunstwerk nur insofern einen Zugang zum Absoluten dar, als in ihm ein unendlicher Verweisungszusammenhang entworfen wird, der mit spezifisch ästhetischen Mitteln auf etwas an sich nicht Darstellbares verweist. Einlösbar scheint ein solcher Anspruch bloß in einer Diskursform zu sein, deren auszeichnendes Merkmal ihre Offenheit ist: Nur der Roman, der zumindest um 1800 noch „frei von poetologischen Erwartungen und außerhalb einer einengenden Gattungssystematik“ und entsprechend offen gegenüber externen philosophischen und wissenschaftlichen Einflüssen war34, vermochte in Konkurrenz zur Philosophie zu treten. Gerade aufgrund seines offenen Charakters kann der Roman auf verschiedenen narrativen Ebenen ein „beständige[s] Spiel antithetischer Argumentationen“ betreiben35, in dem philosophische und wissenschaftliche Modelle nicht nur dekonstruiert, sondern auch in einer Weise fortentwickelt werden, die der Selbstverständigung des Lesers besser zu dienen vermag als ein philosophisch argumentierender Text. Nun kann man zwar mit guten Gründen behaupten, dass sich durch die Merkmale der Offenheit und Ambiguität36 Wissenschaft und Kunst im Allgemeinen unterscheiden ließen: Ein literarischer Text sei offen in dem Sinne, dass er nicht seine eigene Interpretation im vorhinein bestimme37, sondern sich in einer beständigen Spannung zwischen verschiedenen Deutungsweisen halte38, auch wenn er andererseits unsere Interpretationen durchaus in einer bestimmten Weise zu steuern vermöge39, wohingegen ein wissenschaftliches Modell generell für Interpretationen geschlossen sei40. Doch selbst wenn man dieser allgemeinen Charakterisierung der Literatur zustimmt41, ist zu bemerken, dass der Roman noch in weitaus 34 35 36

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Vgl. Schönert, 1969, S. 75. Vgl. Jaumann, 1994, S. 216. Van Fraasen und Sigman bestimmen Offenheit als „deliberate incompleteness“, während sie Ambiguität als „a sabotage of any possible effort to eliminate the openness“ definieren (vgl. van Fraasen/Sigman, 1993, S. 82). Bei van Fraasen und Sigman heißt es: „A work is open if (or to the extent that) it does not dictate its own interpretation.“ (ebd.) Van Fraasen und Sigman nennen dies „a tension or conflict between the interpretations“ (ebd.). Die Nähe dieser Überlegungen zu frühromantischen bzw. idealistischen Auffassungen muss nach unseren Ausführungen im Abschnitt 2.2 kaum mehr betont werden. So lasse sich am literarischen Werk „a selecting privileging of certain interpretations“ erkennen, sodass gelte: „The work draws our attention in some definite ways to certain of interpretations logically left open [...].“ (ebd.) Vgl. ebd., S. 91. Van Fraasen und Sigman schränken ihre Diagnose jedoch insofern ein, als sie einräumen, dass die Interpretation eines wissenschaftlichen Modells aufgrund der Unterbestimmtheit der Repräsentation durch empirische Daten durchaus notwendig werden könne und entsprechend die Pluralität der Interpretationen kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Wissenschaft und Literatur darstelle (vgl. ebd., S. 84). Titzmann geht sogar so weit, dass er sein Konzept der „integrativen Literaturgeschichte“, in der die Relationen der Literatur zu den kulturellen Kontexten anderer Subsysteme untersucht werden, aus der Überzeugung ableitet, dass die Literatur selbst gar keinen Diskurs darstelle, sondern sich nur

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

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stärkerem Sinne offen ist, insofern er andere diskursive Einflüsse in sich aufzunehmen vermag, ohne seine Identität zu verlieren. Kundera bezeichnet deshalb den Polyhistorismus als „kontrapunktische Kunst des Romans“42: Während die Poesie und die Philosophie nicht in der Lage sind, den Roman zu integrieren, vermag der Roman sowohl die Poesie als auch die Philosophie zu integrieren, ohne dabei seine Identität in irgendeiner Hinsicht einzubüßen, weil diese [...] gerade durch die Tendenz charakterisiert werden kann, sich andere Literaturgattungen einzuverleiben und philosophische 43 und naturwissenschaftliche Erkenntnisse aufzusaugen.

Indem sich der Roman alles einverleibt, vermag er jenen „Traum im Innersten der Philosophie“ zu stören, von dem Derrida spricht – jene Hoffnung auf ein abgeschlossenes Vokabular, das uns in eine endgültige Beziehung zur Realität bringt, in der nichts mehr zu wünschen, sondern nur mehr noch Detailarbeit, Knüpfen am Teppich des normalen Diskurses übrig bleibt.44 Diese Integrationslust des Romans, dieses Angelegtsein auf Interdiskursivität, dieser kontrapunktische ‚Polyhistorismus‘ scheint für viele etwas geradezu Bedrohliches zu haben – zumal dann, wenn man als Leser nicht mit dem ‚Geist der Erzählung‘, mit dem man allenfalls noch sein Auskommen finden könnte, allein gelassen, sondern allenthalben, wie es sowohl im philosophischen als auch im transzendentalpoetischen Roman geschieht, in die Wirrungen des digressiven Erzählens und, schlimmer noch, in die unendlichen Windungen der Reflexion und Autoreflexion gestoßen wird, die an keinem Gegenstand ihr Genüge finden.45 Gelegentliche philoso-

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„verschiedener Diskurse bediene[] und sie in sich integriere[]“ (Titzmann, 1991, S. 407), woraus er wiederum folgert, dass Literatur nur „eine kulturelle Redeform ohne spezifischen Gegenstand“ sei, die „Modelle der ‚Realität‘“ entwerfe (ebd., S. 412 f). Dieser aus einem starren Diskursbegriff deduzierten Auffassung müssen wir zwar die Zustimmung verweigern; für durchaus richtig halten wir hingegen die Position Titzmanns, dass nicht Literatur und Realität, sondern Literatur und (kulturelles) Wissen über die Realität zu vergleichen seien, da es vom kulturellen System abhänge, welche Realität überhaupt in Betracht genommen wird (vgl. ebd., S. 426) Kundera, 1987, S. 75. Ebd., S. 73. Vgl. hierzu Rorty, 1993, S. 112 ff. Vgl. dazu v.a. Wezels Tobias Knaut (TK I, S. 70 f). Aber schon Wieland lässt, im Zusammenhang mit der Kritik am platonischen Dialog, seinen Aristipp sich gegen die Diskursvermischung aussprechen: „Es giebt vielleicht kein auffallenderes Beyspiel, wie nachtheilig es ist in mehrern und entgegengesetzten Fächern zugleich glänzen zu wollen, und wie wohl Plato daran thut, die Künstler und Handarbeiter in seiner Republik durch ein Grundgesetz auf eine einzige Profession einzuschränken, – als sein eigenes. Glücklich wär es für ihn gewesen, wenn die Athener ein Gesetz hätten, vermöge dessen ihren Bürgern bey schwerer Strafe verboten wäre, in eben demselben Werke den strengen Dialektiker, den Dichter, und den Schönredner zugleich, zu machen. Vermuthlich würde Plato jedes von diesen dreyen in einem hohen Grade gewesen seyn, wenn er sich auf Eines allein hätte beschränken wollen: aber da er diesen dreyfachen Karakter in sich vereinigen will, und dadurch alle Redner, Dichter und Dialektiker vor und neben ihm auszulöschen glaubt, kann er neben keinem bestehen, der in einem dieser Fächer ein vorzüglicher Meister ist; denn er ist immer nur halb was er seyn möchte. Wo er scharf räsonniren sollte, macht er den Dichter; will er dichten, so pfuscht ihm der grübelnde Sofist in die Arbeit. Hat er uns einen strengen Beweis oder eine genau

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3. Schluss und Zusammenfassung

phische Exkurse, in ein ‚angenehmes Gewand‘ gehüllt, ließe man sich noch gefallen – gerade wenn man mit einer „dienstfreundlichen Anzeige“ vor „ernsten Gesprächen“ und ähnlich tiefsinnigen Abschweifungen gewarnt wird.46 Aber eine „Dichtkunst“, die „Studium“ erfordert und deren Verfasser „unermüdete Reflexion, fortgesetzte Beobachtung, beständiges Raisonnement über die Kunst“ (Wezel, Versuch, S. 335) zeigt und uns in die ermüdenden Zirkel der Autoreflexion stößt – eine solche ‚philosophische‘ Art von Poesie kann auf breite Zustimmung kaum hoffen. Wenn dann auch noch eine skeptische Destruktion am Werk ist, die sich an der Auflösung aller Systemansprüche gütlich tut, wenn darüber hinaus in der Romanliteratur um 1800 auch die gängigen erzähltechnischen Mittel beständig dekonstruiert werden und wenn zuletzt noch der Anspruch hinzukommt, Ersatzmetaphysik zu sein, dann wird die Sache zum Ärgernis. Da suchen wir lieber das Weite und schweifen ins Feld; und wenn es auch die ‚Fehlhalde‘ sein sollte, auf die wir uns verirren, so ist es doch zumindest ein so weites Feld, dass sich dort zuverlässig jemand findet, der unsere Bedürfnisse besser befriedigt als der philosophische oder transzendentalpoetische Roman einer längst entschwundenen Epoche. Trotz alledem lässt sich behaupten, dass nicht nur durch die Orientierung am pragmatischen Paradigma bzw. durch die Dekonstruktion der metaphysischen und subjektivitätstheoretischen Konzepte, sondern vor allem durch ihre unendliche Reflexivität und Autoreflexivität der philosophische und der transzendentalpoetische Roman der Gattung des modernen Romans einen Charakter verliehen haben, den sie bis heute nicht mehr verlieren sollte. Der Roman wird zum zentralen „Ort der relativen Wahrheiten“47, an dem nicht mehr die Frage nach der Realität im Mittelpunkt der Bemühungen steht, sondern die Enträtselung der menschlichen Existenz in ihrem lebenspraktischen Kontext: Der Roman untersucht die Existenz, nicht die Realität. Und die Existenz ist nicht das, was sich abgespielt hat; sie ist das Feld der menschlichen Möglichkeiten, ist all das, was der Mensch

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bestimmte Erklärung erwarten lassen, so werden wir mit einer Analogie oder mit einem Mährchen abgefertigt; und was oft mit wenigem am Besten gesagt wäre, webt er mit der unbarmherzigsten Redseligkeit in klafterlange, aus einer einzigen Metafer gesponnene Allegorien aus.“ (Wieland, Werke, XI, 36, S. 241 f) Wir können uns über die Verlegenheit, in die uns diese Ausführungen versetzen könnten, mit dem Hinweis auf das Postulat der pragmatischen Integration, die den Wahrheitsanspruch aller Aussagen relativiert, hinweghelfen. Bezieht man dieses Votum autoreflexiv auf den Aristipp selbst, so kann man es als eine Dekonstruktion des eigenen fiktionalen Unternehmens verstehen. Vgl. die Warnung Wezels im Tobias Knaut (TK, II, S. 153). Dass es dem philosophischen Roman nicht um die poetisch verbrämte Darstellung philosophischer Wahrheiten geht und ihre Verfasser entsprechend eine materiale Ästhetik ablehnen, wird nicht nur bei Wezel (vgl. TK, I, S. V), sondern ebenso an einer etwas ernsthafteren Stelle bei Wieland deutlich: „Die gemeinnützigsten Wahrheiten sind alt, und eben darum, weil sie alt sind, wirken sie wenig. Es mag wohl einiges Verdienst dabey seyn, wenn man sie unter irgend einer neuen gefälligen Gestalt wieder in Umlauf zu setzen weiß: aber mir däucht, dieser Kunstgriff thut selten eine andere Wirkung, als daß man sich an der neuen Einkleidung ergetzt, wenn sie gefällig ist, ohne daß die alte Wahrheit selbst dadurch in größre Achtung kommt.“ (Wieland, Werke, X, 31, S. 19) Kundera, 1987, S. 14.

3.2 Zur Literatur der Achsenzeit

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werden kann, wessen er fähig ist. Die Romanciers zeichnen die Karte der Existenz, indem sie 48 diese oder jene menschliche Möglichkeit aufdecken.

In solch einer existenzphilosophischen Bestimmung der Kunst wird die Theorie der möglichen Welten gleichsam auf die Lebenswelten und -möglichkeiten des Menschen heruntergebrochen. Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie Kundera, der die Existenzphilosophie Heideggers vom Roman vorweggenommen sah49; aber was sich allemal sagen lässt, ist, dass der Roman durch die Darstellung einer Pluralität von Standpunkten einen Reflexionsprozess in Gang setzt, der prinzipiell als unabschließbar gelten kann.50 Dadurch erfüllt der Roman – als eine „Schrift [..], die gekennzeichnet ist durch selbstbewußte Endlosigkeit, selbstbewußte Offenheit, selbstbewußtes Fehlen philosophischer Abgeschlossenheit“51 – eine Aufgabe, die vielleicht als die vornehmste aller Selbstverständigung angesehen werden kann. Nicht zuletzt damit weisen der philosophische und der transzendentalpoetische Roman auf den Intellektualroman der klassischen Moderne voraus, wie ihn Musil, Broch und Thomas Mann entwickelt haben. Seine Autoreflexivität aber ist zum Kennzeichnen der gesamten modernen Erzählliteratur geworden. Und so ließe sich am Ende die Frage stellen, ob diese Autoreflexivität nicht Merkmal aller großen Literatur sei – mit der Folge, dass dadurch dasjenige, was man eher unbestimmt „das Literarische“ nennt, zum Erkenntnisorgan sui generis erhoben wird. Ob es im Verhältnis zur Philosophie privilegiert ist oder ob nicht umgekehrt dem Philosophischen das Primat vor der Literatur zukommt, ist angesichts dessen, dass der Streit zwischen ihnen gerade um 1800 beiderseits so fruchtbar gemacht worden ist, nahezu zweitrangig. Wesentlich ist nur, dass Literatur und Philosophie der Achsenzeit einem gemeinsamen Syndrom zugehören. Hervorstechendes Kennzeichen dieses Syndroms ist jedoch, dass in ihm eine Selbstverständigung des Menschen sowie eine Selbstaufklärung der Vernunft stattfindet, die ihresgleichen nicht hat. Wenn wir uns im folgenden Kapitel dieser unvergleichlichen Qualität der Tradition der anderen Vernunft noch einmal zuwenden, sehen wir uns zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, in welchem Verhältnis Literatur und Ethik stehen mögen. Dieses Verhältnis ist allerdings bloß eine Spielart des Spannungsverhältnisses zwischen Kunst und Philosophie, durch das die Tradition der anderen Vernunft geprägt ist. Es zu untersuchen bedeutet daher auch nur, der dynamischen Struktur dieser Tradition noch einmal aus anderer Perspektive nachzufragen.

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Ebd., S. 51. Auch Broch bezeichnet die Erkenntnis oder Aufdeckung bisher unbekannter Aspekte des Lebens als die einzige Moral des Romans (zit. nach Kundera, 1987, S. 13). Kundera, 1987, S. 12. Vgl. dazu Rorty, 1993, S. 89 sowie Kundera, 1987, S. 22. Rorty, 1993, S. 118 f.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie zur Achsenzeit Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich 1 lohne, und das sei die des rechten Lebens.

Was lehren uns die vorangegangenen Analysen über das Verhältnis von Kunst und Philosophie in der Achsenzeit um 1800? Und was können wir daraus – entsprechend dem Anspruch, eine systematische Untersuchung anhand einer exemplarischen historischen Problemsituation durchzuführen – über dieses Verhältnis im Allgemeinen ableiten? Was also ist, kurz gefragt, das Ergebnis des ganzen Unternehmens? Diese Fragen zu stellen, heißt nach dem Charakter der Tradition der anderen Vernunft in solch grundsätzlicher Weise zu fragen, dass die Grundlagen der europäischen Kultur zumindest in den Blick geraten. Wir hatten gezeigt, dass die Tradition der anderen Vernunft insbesondere in ihren Anfängen anti-systematisch, relativistisch und skeptizistisch gewesen ist. Dies wird vor allem am philosophischen Roman der Spätaufklärung deutlich. Gleichwohl begnügen sich die literarischen Spätaufklärer nicht mit einer halb destruktiven, halb agnostischen Haltung, sondern sie bemühen sich zugleich um eine Begründung ihrer Auffassungen mit Hilfe jenes pragmatischen Paradigmas, das sowohl die Erkenntnis als auch die Moral an der lebensweltlichen Praxis orientiert. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Irrationalismus, sondern um die existentielle Gründung der Vernunft im affektiven Gesamthaushalt des Menschen gerade mit dem Zweck der rationalen Durchdringung der Lebenswelt2: Indem die Spätaufklärer „das Andere der Vernunft“ in den Blick nehmen, sind sie bestrebt, nicht dieses um seiner selbst willen zu nobilitieren, sondern das Konzept einer anderen Vernunft zu entwickeln, die den Anforderungen der Praxis und deren Geschichtlichkeit gewachsen ist. Die Tradition der anderen Vernunft erscheint nur dann als irrationalistisch, wenn man sie in ihrem kritischen Verhältnis zur – im weitesten Sinne – rationalistischen Philosophie betrachtet; hinterfragt man hingegen die philosophischen Grundlagen ihres anti-systematischen Diskurses, so stößt man auf ein Paradigma, das sehr wohl Rationalitätsstandards genügt. Im Zentrum dieses Paradigmas steht, wie gesehen, der Funktionalismus, der wiederum auf der Lehre vom Primat der Affektivität vor der Rationalität beruht. Auf dieser Grundlage wird die Rolle der Vernunft in verschiedenen Kontexten betrachtet. Indem die Anhänger des pragmatischen 1 2

Musil, 1978, Bd. 1, S. 255. Auch Kondylis weist darauf hin, dass die Grundlage des Rationalismus selbst nicht rational, sondern dezisionistisch sei, während sich ein Irrationalismus ebenfalls rational-argumentativ artikulieren müsse (vgl. Kondylis, 1981, S. 36-39).

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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Paradigmas nach der Funktion der Vernunft fragen, beziehen sie zugleich eine kritische Position gegenüber der Instrumentalisierung der Rationalität als einer bloßen Erfüllungsgehilfin eines ungebändigten ‚Willens zur Macht‘.3 Dem Dilemma der sogenannten Gegenaufklärung, wonach, wie Frank es formuliert, „ihre Kritik entweder in performativem Selbstwiderspruch aller Gründe beraubt ist oder aber, wenn sie sich auf universalisierbare Gründe beruft, abermals im Namen der Vernunft vorgetragen werden muß“, lässt sich demnach mit Hilfe der Unterscheidung zweier Vernunftkonzepte begegnen, der gemäß einer instrumentellen Rationalität eine andere Vernunft gegenübersteht, die auf autoreflexive Weise nach Sinn und Berechtigung der Rationalisierung fragt.4 Die Tradition der anderen Vernunft stellt folglich keine Gegenaufklärung, sondern eine kritische Selbstaufklärung der Aufklärung dar. Diesen Ansatz teilen die Anhänger des pragmatischen Paradigmas mit den Vertretern der Bildungsbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Es scheint deshalb nicht allzu verwegen, wenn man die Bildungsbewegung der Tradition der anderen Vernunft beizählt. Auch ihren Vertretern ging es nicht um eine Ausbildung der Rationalität – weder um ihrer selbst willen noch zu einem bestimmten Zweck –, sondern um die Bildung des ganzen Menschen. Dabei wird die Rationalität in das Ganze des menschlichen Daseins integriert. Der Ansatz der Bildungsbewegung ist, wie derjenige des pragmatischen Paradigmas, holistisch und, im soeben erläuterten Sinne, funktionalistisch. Ihr Konzept einer allseitigen Bildung des Menschen ist kritisch gegen die einseitige Vernunftaufklärung gerichtet. Die Bildungsbewegung ist folglich zugleich Teil und Gegensatz der Aufklärung, deren Korrektur in eins mit deren letzter Konsequenz.5 Dies jedoch lässt sich mit Fug und Recht über die gesamte Tradition der anderen Vernunft sagen: sie ist eine Selbstaufklärung der Vernunft über ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen und damit eine Aufklärung über die Aufklärung. Als eine solche potenzierte Aufklärung dient sie vor allem der Selbstverständigung des Menschen. Wie wir gesehen haben, verfolgt nicht nur die idealistische Systemphilosophie ein ähnliches Ziel, sondern dieses Anliegen teilen auch die literarischen Frühromantiker: Trotz aller Kritik an der Subjektivitätsphilosophie und trotz aller Dekonstruktionsversuche soll der transzendentalpoetische Identitätsroman ein haltbares Subjektivitätskonzept präsentieren, das durch die Berücksichtigung intersubjektiver Konstellationen der Selbstverständigung dient. Will sie jedoch einen Selbstverständigungsdiskurs darstellen, muss die Tradition der anderen Vernunft Philosophie und Literatur in ein fruchtbares Verhältnis zueinander

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Freilich geht dies um 1800 keineswegs, wie Frank behauptet, bis zur Formulierung eines Totalverdachts gegen den Logozentrismus, „das vorgeblich wertfreie Geschäft rationalen Begründens sei eine besonders heimtückische Abform eines instrumentell die Objektwelt zurichtenden Willens zur Macht“ (vgl. Frank, a.a.O., in: Schmidt (Hrsg.), 1989a, S. 380). Vgl. ebd., S. 381. Zur Bildungsbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts vgl. Ulrichs, 2011.

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3. Schluss und Zusammenfassung

setzen.6 Denn um 1800 erheben diese beiden kulturellen Systeme den Anspruch, eine Gesamtdeutung des menschlichen Daseins zu geben. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Tradition der anderen Vernunft vor allem durch den „alten Streit“ charakterisiert ist. Man kann sogar behaupten, dass das Konkurrenzverhältnis von Philosophie und Literatur der gesamten Tradition ihr eigentümliches Gepräge gibt. Gerade die Achsenzeit um 1800 ist durch diese Dynamik gekennzeichnet, innerhalb derer sich Philosophie und Literatur aneinander profilieren und allererst ihre Identität gewinnen. Deutlich wird das nicht zuletzt an der Konkurrenz zwischen den idealistischen und frühromantischen Subjektivitätskonzepten: der genetischen Subjekttheorie des Deutschen Idealismus stehen die frühromantischen Identitätsromane gegenüber.7 Schon für Baumgarten standen Philosophie und Poesie „in connubio amicissimo“.8 Und wenn Schiller an Goethe über dessen Wilhelm Meister schreibt, dass es „etwas stark [sei], in unserm speculativischen Zeitalter einen Roman von diesem Inhalt und von diesem weiten Umfang zu schreiben [...] ohne auf Bedürfnisse zu stoßen, denen die Philosophie nur begegnen kann“9, oder wenn er klagt: „[G]ewöhnlich übereilt mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten sollte“10, dann handelt es sich nicht um kontingente Expektorationen einer Doppelbegabung, sondern es artikuliert sich hierin das Grundcharakteristikum der Achsenzeit um 1800: der „alte Streit“ zwischen Philosophie und Literatur. Systemtheoretisch formuliert sind Philosophie und Literatur füreinander Teile der Umwelt, gegen die sie sich zwar jeweils abzugrenzen haben, um sich als Systeme zu erhalten, denen gegenüber sie aber zugleich offen bleiben müssen, soll die Identität des Systems gesichert werden. Denn die systemexterne Komplexität kann nur dann reduziert werden, wenn die systeminterne Komplexität ihrerseits gesteigert wird.11 Innerhalb dieses Modells lässt sich also sagen, dass das 6

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Natürlich muss sich die Tradition der anderen Vernunft, will sie zur Selbstverständigung des Menschen beitragen, zugleich die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften berücksichtigen. Ohnehin ist bei jeder Untersuchung der Achsenzeit in Erinnerung zu behalten, dass die Zeit um 1800 gerade durch den beschleunigten Fortschritt der empirischen Wissenschaften und der Herausbildung ihres disziplinären Kanons charakterisiert ist. Vor allem Thomé weist darauf hin, dass sich im 18. Jahrhundert der Roman in permanenter Auseinandersetzung mit den Wissenschaften als eigenständiges Genre herausbildet (vgl. Thome, 1978, S. 240) Es ist daher von durchaus doppelsinniger Bedeutung, wenn man im Hinblick auf die spekulative Subjektivitätsphilosophie des Deutschen Idealismus die Metaphysik mit Voltaire als den „Roman des menschlichen Geistes“ bezeichnete (zit. nach Kondylis, 1990, S. 312). Vgl. Baumgarten, Meditationes, § 9; s.a. Franke, 1972, S. 18. Aus einem Brief Schillers an Goethe vom 9.7.1796 (Schiller, Werke, Bd. 28, S. 258). Aus einem Brief Schillers an Körner vom 9.3.1789 (vgl. Schiller, Werke, Bd. 25, S. 220). Nach Abschluss seines philosophischen Werks Über die ästhetische Erziehung des Menschen äußert er in einem Brief vom 17.12.1795 gegenüber Goethe: „Ich habe mich lange nicht so prosaisch gefühlt, als in diesen Tagen und es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe.“ (Schiller, Werke, Bd. 28, S. 132) Die daraus sich ergebende interne Systemdifferenzierung kann auch als Fortsetzung der SystemUmwelt-Differenzen innerhalb eines Systems betrachtet werden. (Vgl. Schmidt, 1989b, S. 32 f)

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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Verhältnis von Philosophie und Literatur durch eine permanente „Interpenetration“ gekennzeichnet ist, insofern ein System die eigene Komplexität zum Aufbau des jeweils anderen Systems zur Verfügung stellt, ohne dass ihre jeweilige Autonomie in Frage gestellt würde.12 Wollte man die Tradition der anderen Vernunft mit Hilfe der systemtheoretischen Terminologie näher bestimmen, so müsste man sie als „selbstorganisierend“ bezeichnen.13 Allemal aber ist sie durch die Konkurrenz ihrer beiden Teilsysteme Philosophie und Literatur geprägt und aufgrund dessen durch und durch dynamisch. Nun vertreten wir die Auffassung, dass in der Achsenzeit zwischen 1770 und 1820 in vielerlei Hinsicht ein bis heute nicht eingeholtes Problembewusstsein entwickelt worden ist. Nicht zuletzt deswegen ist der Ansatz dieser Untersuchung zugleich systematisch und historisch.14 Es wird zwar in der vorliegenden Arbeit nur ein kleiner Ausschnitt aus einer riesigen Debatte untersucht, insofern sie sich einerseits auf die Periode

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Vgl. ebd., S. 47. Schmidt bestimmt ein selbstorganisierendes System wie folgt: „Modelle der Selbstorganisation gehen aus von einer selbstgesteuerten Ausdifferenzierung von Systemen in relativ autonome bzw. autonomisierte komplexe Teilsysteme, die dynamische Netzwerke bilden und offen sind für Reorganisationen. Selbstorganisierende Systeme besitzen ein dynamisches Systemgleichgewicht. Alle wesentlichen Eigenschaften des Systems sind in Nichtlinearität begründet. Die Umwelt wirkt auf selbstorganisierende Systeme unspezifisch ein; umgekehrt greift das hoch entwickelte selbstorganisierende System aktiv in seine Umwelt ein und manipuliert dabei in gewissen Grenzen die Umweltbedingungen, unter denen es sich erhalten kann. Selbstorganisierende Systeme sind selbstnormierend, indem sie ihre Sollwerte autonom erzeugen.“ (Ebd., S. 62 f) Weitere Merkmale selbstorganisierender Systeme sind laut Schmidt Prozesscharakter, Irreversibilität, Wechselwirkungszusammenhang, Zeitrelativismus sowie Selbstkonstitution von Ordnung durch Fluktuation. Dass die Tradition der anderen Vernunft durch all diese Kennzeichen charakterisiert ist, kann hier nicht gezeigt werden, sollte aber durch die vorangegangenen Analysen deutlich geworden sein. Unsere Untersuchung folgt, könnte man aus dieser Perspektive sagen, dem Ansatz der Konstellationsforschung und vollführt, wie diese, einen „Seiltanz [...] zwischen philosophisch argumentativer und historisch kontingenter Analyse“ (vgl. Mulsow/Stamm (Hrsg.), 2005, S. 8). Stärker noch als Henrich sind wir jedoch von der Notwendigkeit der Dynamisierung des Konstellationsbegriffs überzeugt (vgl. Henrich, Dieter: Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie, in: ebd., S. 28 f). In der Terminologie der Konstellationsforschung handelte es sich bei der Tradition der anderen Vernunft, um eine „synthetische Konstellation“, die – im Gegensatz zu den analytischen Konstellationen als „kollektive[n] diachrone[n] Ausdifferenzierungen eines Denkraums“ – eine Grenzüberschreitung dieser Denkräume darstellt (vgl. Stamm, a.a.O., in: ebd., S. 45 ff). Im Hinblick auf den zugleich historischen und systematischen Anspruch können wir der von Stamm formulierten Programmatik der Konstellationsforschung durchaus zustimmen: „Der Doppelaspekt von historischer und systematischer Perspektive ist auch für die synthetischen Konstellationen maßgeblich, die aus den analytischen Konstellationen hervorgehen. Konstellationsforschung ist in diesem Sinne rekonstruktiv. Das Programm setzt sich aber auch das weitreichende Ziel, sich über seinen Gegenstand auf die Gegenwart zu beziehen. Aus einem Verständnis von Konstellationen soll deren Anschlussfähigkeit an die Problemstellungen der Gegenwartsphilosophie hergestellt werden können.“ (ebd., S. 72).

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3. Schluss und Zusammenfassung

zwischen 1770 und 1820, andererseits auf die Diskursform des Romans beschränkt15. Durch die Inbezugsetzung des Romans der Achsenzeit zum pragmatischen Paradigma einerseits und zur metaphysischen Kunstphilosophie andererseits wird die Untersuchung aber zu einem ungemein komplexen Unterfangen. Dabei ist die Frage nicht von Bedeutung, ob sich die Verfasser der philosophischen Romane der Spätaufklärung resp. die Verfechter der Transzendentalpoesie dieser Zusammenhänge stets bewusst sind – denn gefragt wird nicht nach kontingenten historisch-biographischen Einflüssen, sondern nach der Struktur der Diskursordnung in der Tradition der anderen Vernunft. Diese Fragestellung führt aber zwangsläufig auf das Problem des Verhältnisses zwischen Spätaufklärung und Frühromantik. Der Anspruch, zwischen Philosophie und Literatur eine systematische Kontinuität herzustellen, wird also ergänzt durch das Anliegen, ein historisches Kontinuum zwischen Aufklärung und Romantik zu etablieren. Nun verdeckt der Mangel an poetologischer Anschaulichkeit, den man den kunstphilosophischen Ausführungen der Romantiker und des frühen Deutschen Idealismus vorwerfen kann, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zu den theoretischen Äußerungen und deren literarischen Umsetzungen in den philosophischen Romanen der Spätaufklärer und macht einen Vergleich, damit aber den Nachweis der geistesgeschichtlichen Kontinuität so schwierig. Auf den ersten Blick mag es absurd scheinen, den am pragmatischen Paradigma orientierten philosophischen Roman in eine enge Verbindung bringen zu wollen mit der unter der Ägide einer Philosophie des Absoluten stehenden Transzendentalpoesie der Frühromantiker oder gar mit den Konzepten der Deutschen Idealisten. Doch dieser Schein trügt. Zunächst einmal sind sie alle durch das kritische Unternehmen Kants mehr oder minder bewusst hindurchgegangen. Sodann ist auch der Deutsche Idealismus vom Primat des Praktischen vor dem Theoretischen überzeugt, bestimmt entsprechend die allererste Setzung des Ich bzw. die intellektuelle Anschauung als eine ‚Tathandlung‘ und versucht darüber hinaus mit der ‚pragmatischen Geschichte des Selbstbewusstseins‘ narrative Strukturen in die philosophische Theorie zu integrieren. Schließlich ist das Konzept der Transzendentalpoesie – wie schon der philosophische Roman selbst – nur als autoreflexives System zu fassen, und auch die Autonomieästhetik ist ohne das alle unmittelbaren moralischen Forderungen an die Kunst abweisende Konzept des pragmatischen Romans undenkbar. Die Kontinuität innerhalb der Achsenzeit zwischen 1770 und 1820 kann aber noch anders hergestellt werden. Wir hatten dargelegt, dass die autoreflexive Struktur des philosophischen Romans der Spätaufklärung ursprünglich aus der konsequenten diskurslogischen Anwendung des pragmatischen Paradigmas auf die ihm angemessene Diskursform: den Roman sowie aus der Bewusstmachung dieser Applikation innerhalb des Romans resultiert. Diese autoreflexive Struktur steht aber im transzendentalpoetischen Roman in einem mimetischen Verhältnis zum organizistisch aufgefassten Welt15

Die Einschränkung auf die Diskursform des philosophischen und transzendentalpoetischen Romans bietet zudem den Vorteil einer Konkretisierung der in ihrer Komplexität kaum mehr zu durchschauenden Streitpunkte.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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ganzen. Es ließe sich daher sagen, dass sich im Roman der Achsenzeit die pragmatische und die ontologische Perspektive wechselseitig ergänzen. Ähnliches kann man im Hinblick auf die Metaphysik der nachkantischen Philosophie feststellen: Auch hier werden das pragmatische Paradigma und die ontologische Theorie insofern zusammengeführt, als insbesondere Schelling und Schopenhauer einen objektiven Idealismus unter pragmatischen Vorzeichen entwickeln, indem sie die Subjektivität als produktive Tätigkeit bestimmen und durch die Übertragung dieses Subjektcharakters auf die Natur diese als ‚tätiges‘ Subjekt bzw. als Willen auffassen. Durch einen derartigen Analogieschluss wird der – nunmehr spekulative – Pragmatismus zu einer metaphysischen Theorie. Während sich aber das pragmatische Paradigma auf die empiristisch-skeptizistische Tradition beruft, steht die organizistische Ontologie im Kontext der klassischen Metaphysik, insbesondere von Spinoza und Leibniz. Beide Paradigmen werden jedoch innerhalb der Restriktionen des Kantischen Kritizismus entwickelt. So erscheint es als die zentrale Gemeinsamkeit von Spätaufklärern und Romantikern, dass sie beide die vorkritische Metaphysik verabschieden. In ihren Augen sind die Grenzen der Vernunft die Grenzen der Erfahrung, ein transzendentes Philosophieren ist daher nicht mehr möglich. Aber die Romantiker meinen, dass das, was das spekulative Denken legitim nicht leisten kann, die Kunst sehr wohl zu erreichen vermag: einen Zugang zum Absoluten –im spezifischen Modus der Darstellung des Entzugs des Absoluten mit den ästhetischen Mitteln einer unendlichen Verweisung. Für die Romantiker wird die Kunst daher zur Ersatzmetaphysik. Hiervon sind die Spätaufklärer freilich weit entfernt: sie halten den Roman schlicht für die angemessene Diskursform einer pragmatischen Philosophie, alle spekulativen Ansprüche sind dagegen aufgegeben. Der Ausgangpunkt der literarischen Praxis der Spätaufklärer und Romantiker ist also derselbe, das Ziel aber verschieden. Die frühromantische Hochschätzung der Kunst als einer metaphysischen Leistung teilen auch Schelling und Schopenhauer. Im Gegensatz zu Hegel sehen sie gerade deshalb eine enge Verwandtschaft zwischen Kunst und Philosophie, weil sich beide auf die Anschauung gründen, die ihnen als Grundlage aller Erkenntnis gilt. Ihre Pointe bei der Feststellung der Nähe von Kunst und Philosophie beruht aber auf der Gründung beider im Konzept der Daseinshermeneutik: sowohl Metaphysik als auch Kunst gäben eine Deutung des Erfahrungsganzen und damit eine Lösung des Rätsels des menschlichen Daseins. Sie seien Selbstverständigungsdiskurse, mit denen der Mensch sich über seine Grenzen und Möglichkeiten aufklären soll. Das ist weitgehend aus dem Blick geraten. Denn wird heute nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie gefragt, so wird diese Frage als eine moralphilosophische gestellt. Dieses in den vergangenen Jahren insbesondere im angelsächsischen Raum populäre Forschungsprogramm des „ethical turn“ hat gewiss seine Berechtigung, verharrt aber im Grunde auf der Problemoberfläche. Man muss zunächst die in den literarischen Texten sich artikulierende philosophische Grundhaltung analysieren, ehe man sich den moralphilosophischen Aspekten als einer – gleichwohl wichtigen – Äußerungsform dieser Grundhaltung widmet. Denn die moralphilosophischen Aspekte sind nur eine

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3. Schluss und Zusammenfassung

Konsequenz dessen, was einesteils im pragmatischen Paradigma, andernteils in der Kunstmetaphysik beschlossen liegt. Hinter diesen Modellen wiederum stehen metaphysische Vorentscheidungen, die aus dem Modus ihrer ästhetischen Impliziertheit allererst herauszulösen sind.16 Unmittelbar gilt dies für den philosophischen Roman der Spätaufklärung, der unter Rückgriff auf das Konzept des pragmatischen Romans die Autonomieästhetik in moralphilosophischer Hinsicht vorbereitet; mittelbar hat es jedoch auch Gültigkeit für die frühromantische Konzeption der Transzendentalpoesie. Wendet man sich aber den moralphilosophischen Aspekten der Literatur zu, so ist es von größter Wichtigkeit festzuhalten, dass in der mit dem Konzept des pragmatischen Romans beginnenden und schließlich zur Autonomieästhetik und zur Transzendentalpoesie führenden Entwicklung des modernen Romans alle expliziten moralischen Forderungen an die Kunst zugunsten eines realistischen Nachahmungsideals abgelehnt werden. Es ist von nun an nicht mehr Aufgabe des Romans, moralisch vorbildliche Charaktere oder auch nur als nachahmenswert bezeichnete Handlungsweisen darzustellen. Dies mag sich als wünschenswerter Nebeneffekt ergeben. Ziel und Zweck der literarischen Darstellung ist vielmehr eine Präsentation der Welt und der in ihr handelnden Menschen in ihrer – oft traurigen – Faktizität.17 Gerade eine solche realistische Darstellung soll eine positive moralische Wirkung entfalten; nur besteht sie nicht mehr in der Darstellung vorbildlicher Charaktere und Handlungsweisen, sondern gleichsam in einer moralischen Grundlagenforschung, einer quasi-existenzphilosophischen Exploration des Daseins, die den gesamten Möglichkeitshorizont des Humanus ausloten soll. Was der Rezipient seinerseits damit beginnt, ist seine eigene Sache – insofern steht ein solches Literaturverständnis unter der Präsupposition der Entscheidungsfreiheit des Lesers. Andererseits gilt: indem der Roman die Welt in ihrer Faktizität darstellt, macht er den Rezipienten mit einer Vielzahl zunächst fremdartig wirkender Möglichkeiten des Daseins, mit fremden Vokabularen und Verhaltensweisen bekannt. Hierdurch werden nicht nur die existentiellen Möglichkeiten des Lesers erweitert, sondern allererst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich der Leser überhaupt moralisch gegenüber dem vordem Fremden zu verhalten vermag. Eine derartige Literaturauffassung setzt also

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Das Verhältnis von ‚Ethics and Literature‘ ist also nur eine Spielart des Verhältnisses von Philosophie und Literatur. Platonisch ließe sich dies so formulieren, dass die Frage nach dem Verhältnis des ‚Schönen‘ zum ‚Guten‘ erst dann beantwortet werden kann, wenn zuvor das Verhältnis des ‚Schönen‘ zum ‚Wahren‘ aufgeklärt worden ist. Es findet also auch in dieser Hinsicht eine Verschiebung von einem rezeptions- (d.h. den Leser ins Zentrum stellenden) zu einem werkästhetischen Ansatz statt. Im Übrigen ist festzustellen, dass die Rede von der Vorbildlichkeit der Literatur die Behauptung impliziert, dass diese eine normative Kraft besitzt, und insofern Ausfluss eines rezeptionsästhetischen Ansatzes ist. Ein solcher interessiert aber in unserer Untersuchung nur am Rande; wir fragen vielmehr nach den – hier moralphilosophischen – Implikationen des literarischen Werks selbst, d.h. welchem ethischen Modell die Literatur schon durch ihre Struktur verpflichtet ist, verfolgen also einen werkästhetischen Ansatz.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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gleichermaßen die Freiheit des Rezipienten voraus wie sie die Erweiterung dieser Freiheit als Konsequenz der Rezeption betrachtet.18 Fragt man nach den philosophischen Voraussetzungen dieser Auffassung, so ist mit Rorty zunächst festzuhalten, dass dieses Literaturverständnis die Überzeugung impliziert, dass der Mensch keinen Wesenskern, keine fixe Ich-Identität besitzt, sondern sich frei in einem Möglichkeitshorizont bewegt, innerhalb dessen er sich auf immer neue Weise selbst zu entwerfen vermag – ein Menschenbild, das, wie wir gesehen haben, bereits in der Spätaufklärung und später, mit größerer Radikalität, von den Romantikern unter Rückgriff auf die Subjektivitätstheorie Fichtes entwickelt wird.19 Sodann ist, was die Behauptung anbelangt, literarische Darstellungen dienten vornehmlich der moralischen Horizonterweiterung, herauszustellen, dass die einzig notwendige ‚metaphysische‘ Grundannahme eines derartigen Konzepts in der Leidensfähigkeit aller Menschen besteht sowie in einer Disposition, auf diese Leidensfähigkeit moralisch zu reagieren. Insofern ist die Verankerung der Moralität in der Affektivität die Voraussetzung dieses Konzepts, was auch die Nähe der Vertreter des pragmatischen Paradigmas zur Moralsense-Lehre und Mitleidethik erklärte.20 Die Entdeckung von neuen Lebensmöglichkeiten durch die Literatur bedeutet daher immer die Präsentation von neuen Leidensmöglichkeiten bzw. von Weisen, diese zu vermeiden. Die Literatur formuliert somit implizit die Forderung nach einer Überwindung der moralischen Gleichgültigkeit. In dieser Hinsicht besteht in der Beförderung der Teilnahme die spezifische ethische Leistung der Literatur. Ihr moralisches Ideal ist also die Entwicklung der Toleranz – und zwar in dem doppelten Sinne einer ‚theoretischen‘ Toleranz als eines Gewährenlassens anderer Lebensformen und einer ‚praktischen‘ Toleranz als einer Beförderung auch des fremden, i.S. des vordem fremdartigen Wohls. Der in dem Primat der Erzählung vor der Theorie sich artikulierende Partikularismus bedeutet jedoch nicht, dass die in der Literatur implizit enthaltene Ethik auf die einzelne Handlung beschränkt bliebe; vielmehr stellt gerade der Roman die Frage nach dem Ganzen des Lebens; und diese Frage nach dem rechten Leben sympathisiert eher mit einer eudaimonologisch orientierten Tugendals mit einer partikularistisch orientierten Pflichtethik.21 18 19 20

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Es handelt sich also um eine zirkuläre Struktur, die uns im Zusammenhang mit Fichtes Kritik an Schillers Konzept einer ästhetischen Erziehung nochmals begegnen wird. Zu den Identitätskonzepten der Spätaufklärer und Frühromantiker vgl. v.a. Kap. 2.1.3 und 2.2.5. Es verwundert daher nicht, dass sich eine ähnliche Einsicht schon bei Wieland findet: „Es ist noch lange nichts damit ausgerichtet, daß man sich etwa frage: Wie würde mir an einem solchen Platze gewesen seyn? – Nichts betrügt mehr als diese Operazion; ob wir gleich gestehen müssen, daß sie, mit gehöriger Vorsichtigkeit und zur rechten Zeit gemacht, allen Arten von Dichtern und Schauspielern – auf allen Arten von Schaubühnen gute Dienste thun kann.“ (Wieland, Werke, V, 14, 23) Schon für Dewey waren Kunstwerke „die wesentlichsten und wirksamsten Mittel, Individuen zu helfen, an der Lebenskunst teilzuhaben.“ (Dewey, 1980, S. 388) Für Ricœur und MacIntyre ist die Abgeschlossenheit literarischer Lebensbeschreibungen geradezu die „Bedingung eines Entwurfs des ‚guten Lebens‘“ (vgl. Ricœur, 1996, S. 197). Zwar sei die narrative Einheit des Lebens immer „ein unbeständiges Gemisch von Phantasiegebilde und lebendiger Erfahrung“, doch werde nur

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3. Schluss und Zusammenfassung

Der Roman wird so, wie erwähnt, zum zentralen „Ort der relativen Wahrheiten“22, an dem nicht mehr die Frage nach der Realität im Mittelpunkt der Narration steht, sondern die Enträtselung der menschlichen Existenz.23 Sicher bedeutet dies nicht, dass das Mimesiskonzept und das Ideal einer realistischen Darstellung der Welt aufgegeben werden. Aber in moralphilosophischer Perspektive lässt sich behaupten, dass das metaphysische Konzept der möglichen Welten auf das Theorem vom Dasein als einem Möglichsein heruntergebrochen wird. Und indem nur mehr noch der Möglichkeitshorizont des Menschen in Frage steht, verlieren die ontologischen Gesichtspunkte ihr Gewicht. Es bildet sich damit eine zum Theorem von der Kunst als Ersatzmetaphysik gegenläufige Tendenz heraus, die den Roman wiederum in größere Nähe zum pragmatischen Paradigma in seiner ursprünglichen Gestalt bringt. Der Roman dient in diesem Sinne weit mehr der Selbstverständigung des Menschen, als es eine philosophische oder gar eine wissenschaftliche Theorie jemals könnte. Ausgehend von der Beob-achtung, dass Selbstverständigung immer Selbsterschaffung im Sinne einer Beschreibung der eigenen Person mit einem neuen Vokabular bedeutet, und weitergehend mit der Schlussfolgerung, dass das Verständnis für andere Personen und die Möglichkeit zu moralischem Handeln die Bekanntschaft mit deren jeweiligen Selbstverständigungsvokabularen voraussetzt, fällt also dem Roman die Aufgabe zu, unseren moralischen Horizont zu erweitern.24 Mit Rorty, der „das menschliche Ich als ‚narrativen Schwerpunkt‘“ bestimmt und die Vorstellung vom Ich als einem nur aufzufindenden Kern durch das Konzept der „Selbst-Erschaffung vermöge Selbst-Neubeschreibung“25 ersetzt, ließe sich sagen, dass die spezifische Leistung der Literatur darin besteht, Vokabulare für diese beständig erneuerte Selbstbeschreibung zur Verfügung zu stellen. Auch bei Ricœur eröffnet sich diese Perspektive auf die moralische Dimension des Narrativen: Die narrative Theorie vermittelt nur dann wirklich zwischen Deskription und Präskription, wenn die Ausweitung des Praxisfeldes und die Vorwegnahme ethischer Überlegungen in der Struktur des Erzählaktes selbst bereits angelegt sind. [...] Die Literatur stellt ein ausgezeichnetes Laboratorium dar, wodurch Einschätzungen, Bewertungen, Urteile der Zustimmung und 26 des Mißfallens erprobt werden, in denen die Narrativität der Ethik als Propädeutik dient.

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durch sie die Schließung des individuellen Lebens zu einem potentiell sinnvollen Ganzen ermöglicht: „Gerade wegen des flüchtigen Charakters des wirklichen Lebens bedürfen wir der Hilfe der Fiktion, um letzteres rückblickend nachträglich zu organisieren.“ (ebd., S. 199) Kundera, 1987, S. 14. Vgl. ebd., S. 51; zitiert im vorangegangenen Kapitel. Vgl. Rorty, 1989, insbes. S. 73 ff u. 107 ff. Auch bei Wittkowski findet sich eine ähnliche Auffassung: „Der Kunst-Schein schafft die Gelegenheit, in der Phantasie, im ‚Spiel‘, ganz anders zu handeln, nämlich selbstlos und vernünftig: so wie jeder handeln sollte.“ (Wittkowski, 1990, S. 15) Vgl. Rorty, 1993, S. 9. Wie Ricœur vertritt er dort die „Ansicht, daß sich das Ich ändert, sobald es eine andere Geschichte darüber erzählt, wer es selbst ist“. Vgl. auch Rorty, 1989, S. 27 ff. Ricœur, 1996, S. 143; s.a. ebd., S. 201, wo die literarischen „Gedankenexperimente“ als „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen“ bezeichnet werden.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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In Rortys Konzept der „liberalen Ironikerin“, die zwar einerseits von der Kontingenz ihrer Auffassungen und Bedürfnisse überzeugt ist, andererseits aber Grausamkeit für die schlimmste Eigenschaft hält27, ist solidarisches Mitleid das zentrale Erfordernis in einer liberalen Gesellschaft. Dieses Mitleid ist für Rorty erreichbar allein „by imagination, the imaginative ability to see strange people as fellow sufferers“. Dies wiederum sei abhängig von der „detailed description of what unfamiliar people are like“ bzw. von der „redescription of what we ourselves are like“. Hierauf gründet sich Rortys „general turn against theory and toward narrative“.28 Der Erzählung schreibt er die Aufgabe zu, uns neue Vokabulare zur Verfügung zu stellen – zum einen zur eigenen „Selbsterschaffung“29, zum andern zur Erweiterung desjenigen Personenkreises, denen gegenüber wir uns moralisch zu verhalten bereit sind.30 Kantisch könnte man dies so formulieren, dass die doppelte ethische Leistung des Romans in der Aufklärung über unsere Pflichten gegenüber uns selbst und gegenüber Anderen besteht.31 Dennoch ist Rorty der Überzeugung, „that a nonlinguistic ability, the ability to feel pain, is what is important, and that differences in vocabulary are much less important“32; entsprechend sei die Leidensfähigkeit „the only social bond that is needed“, woraus er wiederum „the morally relevant definition of a person“ als „something that can be humiliated“ ableitet.33 Diese Vorstellung von der indirekten Moralität der Kunst findet sich bereits im Konzept des pragmatischen Romans, an dem sich auch der philosophische Roman orientiert. Die Spätaufklärer sind davon überzeugt, dass gerade durch eine hinreichend motivierte Erzählung menschlicher Handlungen, auf deren moralische Bewertung man weitgehend verzichtet, sowie durch die realistische Darstellung der Charaktere mehr zur Förderung der Moralität getan wird als durch jede moralische Belehrung: Denn das erste und nöthigste, was Leute wie wir zu thun haben, [...] ist, unsere Irrthümer und Unarten loszuwerden; und dazu kann uns eine getreue Entwickelung des Ursprungs, Fortgangs und Ausgangs herrschender Leidenschaften, in einzelnen Fällen und unter gegebenen Umständen, mehr helfen, als die Geschichte des untadeligsten Lebenslaufs. (WW X, 30, S. 514)

Deswegen lehnen die Spätaufklärer jede direkte moralische Forderung an die Literatur ab. Wie für Wezel die Literatur keine Belehrung, sondern „Gemälde des menschlichen Lebens“ (Wezel, KS, 2, S. 739) liefern und der Erzähler die „Rolle eines stillen, gleichgültigen Beobachters“ (Wezel, TK, I, S. IX) einnehmen soll, der sich mit moralischen Wertungen zurückhält – alles mit dem Zweck durch eine unvoreingenommene Darstel27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Rorty, 1989, S. XV. Ebd., S. XVI. An anderer Stelle vertritt Rorty die Lehre, „that novels are a safer medium than theory for expressing ones recognition of the relativity and contingency“ (ebd., S. 107). Eine derartige Selbsterschaffung i.S. einer Selbstbeschreibung mit Hilfe eines neuen Vokabulars hat für Rorty den „spirit of playfulness and irony“ (ebd., S. 39). Vgl. Rorty, 1993, S. 55. Vgl. Rorty, 1989, S. 92. Ebd., S. 88. Ebd., S. 91.

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3. Schluss und Zusammenfassung

lung des Gegebenen den Horizont des Lesers zu erweitern und ihn dadurch in seinem moralischen Vermögen zu fördern –, so erscheint auch Blanckenburg der Roman als etwas, das Erhart als „Grundlagenforschung der Moralphilosophie“34 bezeichnet: Ich glaube nicht, daß der Dichter auf eine andre Art füglich Lehrer seyn könne, als indem er unsre denkende Kraft und Empfindungsvermögen durch die Kunst in der Anordnung und Ausbildung seines Werks beschäftigt. Er muß sich nicht geradewegs zum Lehrer aufwerfen; noch weniger müssen es seine Personen. Wir selbst, ohne sein Vordociren, müssen an ihm lernen können; und wir werden desto sichrer und beßrer lernen, wenn wir die Gelegenheit gehabt haben, durch sein Werk unsre eigenen Lehrmeister zu werden. Menschen mit ihren Tugenden und Schwachheiten; Begebenheiten, wie sie hieraus erfolgen können und müssen – können unmöglich auftreten, und geradewegs Vorlesungen über die Moral, in diesem Falle, halten. Sie 35 würden ihrer Natur ungetreu.

Der pragmatische Roman erhält dadurch eine zirkuläre Struktur, insofern er in seinen Darstellungen von der Realität ausgeht, um auf die Realität in Form einer intellektuellen und moralischen Erziehung des Rezipienten zurückzuwirken.36 Diese zirkuläre Struktur findet sich, wie bereits Fichte kritisch angemerkt hatte, auch in den Reflexionen Schillers: Schillers Idee, „durch ästhetische Erziehung die Menschen zur Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, führt uns“, so Fichte, „im Kreise herum“37, da die Entwicklung eines ästhetischen Sinns schon die gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetze, die durch die ästhetische Erziehung erst hervorgebracht werden sollen. So wird laut Gadamer bei Schiller aus der Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst.38

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Vgl. Erhart, 1991, S. 131. Blanckenburg, Versuch, S. 253. Vgl auch ebd., S. 302: „Wenn also auch, zur besondern Anwendung auf einzelne Fälle des wirklichen Lebens, nichts aus dieser anschauenden Verbindung des Innern und Äußern genutzt wird: so lernen wir an ihr denken, und müssen es an ihr lernen. […] Wir können alsdenn keine Begebenheit uns vorstellen, oder zurück rufen, ohne daß wir nicht genöthigt sind, der genauen Verbindung wegen, die Verhältnisse zu überdenken, Wirkung und Ursache zu vergleichen, wodurch sie wirklich geworden ist. […] Es ist gewiß das Edelste, das der Dichter lehren kann.“ So kann Hahl zu Recht sagen: „Der Kausalnexus ist der Katalysator, der Vergnügen und Unterricht innig vereint.“ (Hahl, 1971, S. 12) Demnach gilt: „Die vollkommen motivierte Geschichte soll dem Leser ebenso ein Organon des induktiven Erkennens wie eine Schule praktischer Lebenserfahrung sein.“ (ebd., S. 18) Vgl dazu auch Schönert, 1969, S. 87. An anderer Stelle heißt es dort: „Die Einsicht, daß der ‚Dichter‘ sich von der Wirklichkeit entfernen müsse, wenn er die ihm zugedachten Aufgaben erfüllen will, steht der Forderung entgegen, daß die angestrebten Wirkungen, d.h. der pragmatische Bezug, sich nur einstellen können, wenn die Kunstrealität der Wahrheit nicht widerspricht. Zwischen Scylla und Charybdis der undichterischen Historiographie und der ‚unwahren‘ Imagination steuert der pragmatische Roman.“ (ebd., S. 98 f) Vgl. Fichte, 1964 ff, Bd. I, 6, S. 348 f. Gadamer, 1986, S. 88.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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Eine moralische Wirkung entfaltet also der Roman nach Auffassung der Spätaufklärer nur mehr noch indirekt; sie muss darum aber nicht weniger mächtig sein.39 Die Ablehnung moralischer Wirkungsabsichten ist dabei nur die Kehrseite der Abschließung der erzählten Welt durch die Autoreflexivität des Erzählens.40 Wenn der Kalife in Klingers Reisen vor der Sündfluth zum Erzähler Ben Hafi sagt: „[D]u weißt ja, dass ich mir erzählen lasse, um nicht zu denken.“ (Klinger, Werke, Bd. 6, S. 60) oder Schach Gebal im Goldenen Spiegel Wielands alle (moral-)philosophischen Ausführungen Danisch-mends mit promptem Einschlafen honoriert, dann äußert sich hierin die Skepsis gegenüber der Möglichkeit der moralischen Wirkung von Literatur überhaupt. Die ethische Leistung des Romans sieht daher schon Wieland in der Entdeckung der „moralischen Terra incognita“: Hingegen würde uns sehr erfreulich sein, wenn diese gegenwärtige Geschichte die glückliche Veranlassung geben könnte, irgend einen von den echten Weisen unsrer Zeit aufzumuntern, mit der Fackel des Genie in gewisse dunkle Gegenden der Moral-Philosophie einzudringen [...]. (Wieland, A, S. 353 f)

Entsprechend will Wieland mit seinem Agathon „kein Modell eines vollkommen tugendhaften Menschen“, sondern das „Bild eines wirklichen Menschen“ geben (ebd., S. 7). Hierin stimmt Wezel mit ihm überein: Nicht nur mit seinem Robinson Krusoe will er ein „Buch“ vorlegen, das zwar „die Menschen von der Passivität zur Tätigkeit hinzieht“, das aber „aus unsrer gegenwärtigen Welt geschöpft“ ist und „uns Sitten Leidenschaften, Menschen und Handlungen mit ihren Beweggründen nicht nach moralischen Grundsätzen, sondern aus der Erfahrung darstellt“ (Wezel, RK, S. 8 f): Der Dichter liefert ein Stück Welt, und der Moralist darf ihn nur dann zur Rechenschaft ziehen, wenn sein Gemälde in Rücksicht auf die Ursachen und Folgen der Handlungen, Charakte41 re und Leidenschaften nicht treu ist [...]. (Wezel, RK, S. 12)

Gerade indem der Romancier „ein Stück Welt“ liefert, leistet er einen Beitrag zur Beförderung der Moralität: Endlich suchen einige in einem Romane und auf dem Theater die nämliche Erbauung, die ihnen eine Predigt giebt, und wollen gern, wenn sie das Buch zumachen, das moralische Thema samt seinen partibus wissen, das der Herr Autor abgehandelt hat. Für dies hat der Verfasser 39

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Besonders deutlich wird diese Haltung bei Wezel: „Malt Grausamkeiten, Misbräuche, Laster und Verbrechen, zu welchen die herrschende Religion oder die Strenge, der Eigensinn und das Naturwidrige mancher Gesetzgebung unmittelbaren Anlaß geben! [...] [I]hr werft dadurch ein Etwas in die Masse der allgemeinen Denkungsart, das allmählich eine Gährung verursacht und zuletzt, obgleich durch einen sehr weiten Zwischenraum, Verbesserung veranlaßt.“ (Wezel, Versuch, S. 312) Für Wezel ist deshalb der Dichter nicht „Lehrer, sondern Maler der Sitten“ (Wezel, KS, 2, S. 739). Einer solchen Verbindung von Autoreflexivität und moralphilosophischer Problematik kann entsprechend nur eine Werkästhetik gerecht werden, die das Konzept der Autonomieästhetik berücksichtigt, wohingegen ein rezeptionsästhetischer Ansatz an dieser Stelle versagen muss. Laut Klingenberg erhebt Wezel damit „die innere Struktur eines ‚poetischen Ganzen‘, seine Kausalität und seinen Bezug auf die Realität zum neuen Wertmaßstab für das aus der Unterordnung unter die Moral befreite Kunstwerk“ (Klingenberg, 1990, S. 766).

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3. Schluss und Zusammenfassung

der gegenwärtigen Geschichte am meisten gesorgt; denn aus jeder Zeile können sie sich eine 42 Moral ziehen, wenn es ihnen beliebt. (Wezel, TK, I, S. V)

Vornehmstes Ziel dieses Bestrebens ist die Einübung der Toleranz. Eine solche Toleranz setzt allerdings die Fähigkeit voraus, einen – von Wieland so genannten – ‚kosmopolitischen‘ Standpunkt oberhalb der im Wettstreit stehenden Lebensformen oder Wertesysteme einnehmen zu können, der nicht identisch ist mit der Gottesperspektive, von der aus jeder Streit ‚objektiv‘ entschieden werden könnte.43 Diesen Standpunkt einzunehmen ist aber Aufgabe des Lesers, in dessen Horizont die im multiperspektivischen Roman präsentierten Ansichten idealiter konvergieren – was zumindest dessen intellektuelle Freiheit zur Voraussetzung hat. Damit erscheint der Roman als „eine der schönsten Productionen des moralischen Geistes“44. Er ist dies jedoch nicht, weil er uns moralische Anweisungen gibt, sondern weil er unseren Möglichkeitshorizont und damit unsere Freiheit erweitert. Goethe schreibt über die „Dichtungen“: Ihr eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingt Freie führen und tra45 gen.

Damit ist der Grundsatz der Autonomieästhetik ausgesprochen, wie sie von Moritz und Schiller entwickelt wurde: Das Kunstwerk ist ein Produkt von innerer Zweckmäßigkeit, das „um sein selbst willen hervorgebracht“ wird und und von dem weder Nützlichkeit noch moralischer Wert zu verlangen ist.46 Die autonome Kunst habe mehr zu leisten als bloßes Transportmittel einer (in der Philosophie begründeten) Moral zu sein: Die wohlgemeinte Absicht, das Moralischgute überall als höchsten Zweck zu verfolgen, die in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte und in Schutz nahm, hat auch in der Theorie einen ähnlichen Schaden angerichtet. Um den Künsten einen recht hohen Rang anzuweisen 42

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Vor direkten moralischen Wirkungsabsichten warnt Wezel hingegen in aller Schärfe: „Bey einem an sich so edeln und rühmlichen Vorsatze, wo Vergnügen, Gefallen, Kunst der Nützlichkeit und dem Unterrichte untergeordnet sind, kann wohl ein gutes, brauchbares, lehrreiches Buch entstehen, allein das Genie läuft zu sehr Gefahr, in den Fesseln, die ihm die Hauptabsicht anlegte, einen nicht hinlänglich freyen, einen unsichern Gang anzunehmen, Begebenheiten oft, um einen zufälligen moralischen Nutzen zu erhaschen, anders zu verknüpfen, Situationen anders anzulegen, als es der Effekt des Ganzen verlangt, den Charakteren eine andre Wendung zu geben, als es die Wahrheit derselben zuläßt: kurz, das Ganze und die Ausarbeitung kann sehr leicht Spuren bekommen, daß sie nicht die Wirkungen eines sich selbst überlaßnen Geniees waren, das seinen lebendigen Begriff eines schönen Kunstwerks ausführen wollte, und darum alle Geisteskraft auf den Grad der Vollkommenheit richtete, der in der Seele seines Urhebers der höchste war.“ (Wezel, Versuch, S. 285 f) Dies heißt aber nicht, dass es in den Romanen keine Leit- oder Normfiguren gäbe, die sich, wie etwa Danischmend, Aristipp oder Fromal zeigen, gerade dadurch auszeichnen, dass sie die tolerante Haltung auf vorbildliche Weise einnehmen – wenn es nicht der Erzähler selbst ist, der sie vertritt. So charakterisiert Madame de Stael in ihrem Versuch über die Dichtungen den Roman. Goethe, 1981, Bd. 2, S. 146. Vgl. Moritzens Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: Moritz, Werke, Bd. 2, S. 958 ff.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

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[...], vertreibt man sie aus ihrem eigenthümlichen Gebieth, um ihnen einen Beruf aufzudringen, der ihnen fremd und ganz unnatürlich ist. Man glaubt ihnen einen großen Dienst zu erweisen, in dem man ihnen, anstatt des frivolen Zwecks zu ergötzen, einen moralischen unter47 schiebt [...].

Dies bedeutet nicht, dass die Kunst mit der Moralität gar nichts zu schaffen habe: Für die Würdigung der Kunst ist es aber vollkommen einerley, ob ihr Zweck ein moralischer sey, ober ob sie ihren Zweck nur durch moralische Mittel erreichen könne, denn in beyden Fällen hat sie es mit der Sittlichkeit zu thun und muß mit dem Sittengesetz im engsten Einverständniß handeln; aber für die Vollkommenheit der Kunst ist es nichts weniger als einerley, welches von beyden ihr Zweck und welches das Mittel ist. Ist der Zweck selbst moralisch, so verliert sie das wodurch sie allein mächtig ist, ihre Freiheit, und das wodurch sie so allgemein wirksam ist, den Reiz des Vergnügens. Das Spiel verwandelt sich in ein ernsthaftes Geschäft, und doch ist es gerade das Spiel, wodurch sie das Geschäft am besten vollführen kann. Nur indem sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllt, wird sie einen wohlthätigen Einfluß auf die Sittlichkeit haben; aber nur indem sie ihre völlige Freyheit ausübt, kann sie ihre 48 höchste ästhetische Wirkung erfüllen.

Die autonome Kunst ist also gerade als moralisch entlastete zutiefst moralisch49: Dadurch, dass sie die Aufgabe der Bildung des ganzen Menschen übernimmt, indem sie, wie Schiller es formuliert, Stoff- und Formtrieb in ein Wechselverhältnis setzt, treibt sie moralische Grundlagenforschung. In der im Zusammenhang mit unserer Darstellung der hermeneutischen Metaphysik entwickelten Terminologie ließe sich diese Position auch folgendermaßen wiedergeben: Dadurch, dass die autonome und autoreflexive Kunst dem doppelten Selbstverhältnis des Menschen als Subjekt und Person, seiner „doppelten Art des Seins“ gerecht wird, klärt sie die Grundvoraussetzungen jedes praktischen Selbstverhältnisses und ermöglicht damit erst wahrhaft sittliches Handeln.50 Die Kunst kann dies aber nur leisten, wenn sie von allen externen Forderungen frei gehalten wird. Wie bei Moritz erscheint das Kunstwerk so als ein Produkt von innerer Zweck47 48

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Schiller, Werke, Bd. 20, S. 134. Zu Schillers Begriff der ästhetischen Bildung s. Ulrichs, 2010a. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 134 f. Schiller hält allerdings gleichzeitig dafür, dass das durch die Kunst hervorgebrachte „freye Vergnügen“ – als „dasjenige Vergnügen, wobey die Gemüthskräfte nach ihren eigenen Gesetzen affiziert werden“ (ebd., S. 135) – in der Vorstellung der Zweckmäßigkeit seine Quelle habe und insofern „auf moralischen Bedingungen“ beruhe, als „die ganze sittliche Natur des Menschen dabey thätig“ sei; zudem könne dieses „freye Vergnügen“ nur „durch moralische Mittel erreicht werden“ (ebd., S. 136) Vgl. auch Safranski, 2004, S. 416. Dies bedeutet auch, dass die Autonomieästhetik dem Rezipienten einen Spiel-Raum für den Umgang mit Handlungsentwürfen eröffnet (vgl. dazu Mein, 2000, S. 15). Der Auffassung Hiebels, dass laut Schiller nur die zweckmäßige Form, nicht der Inhalt des Kunstwerks auf den ganzen Menschen wirke, können wir nicht zustimmen (vgl. Hiebel, 1998, S. 168). Im 22. Brief der Ästhetischen Erziehung ist vielmehr bloß davon die Rede, dass „nur von der Form [..] wahre ästhetische Freyheit zu erwarten“ sei (vgl. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 635); dies bedeutet aber nicht, dass der materiale Gehalt des Kunstwerks nicht von gleichermaßen großer Bedeutung wäre, wenn es um die Bestimmung der ethischen Leistungsfähigkeit der Kunst geht.

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3. Schluss und Zusammenfassung

mäßigkeit, und damit als ein Modell von Selbstbezüglichkeit, dessen Scheincharakter sich dadurch legitimiert, dass es ihn offen eingesteht.51 Schiller geht gar so weit zu behaupten, dass der ästhetische Zustand der „Freyheit erst die Entstehung“ gibt und nicht etwa erst aus dieser entsteht. Die Kunst hat also keinen moralischen Ursprung, führt aber gerade dadurch, dass sie autonom in ihrer Sphäre bleibt, zur Moralität hin.52 So eröffne der „ästhetische Bildungstrieb“ das „dritte fröhliche Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet“.53 Schillers Auffassung pflichten auch die Frühromantiker bei. So besteht zwar für Friedrich Schlegel der „spezifische Charakter der schönen Kunst“ im „freie[n] Spiel ohne bestimmten Zweck“54; doch zugleich hält er dafür, dass gerade der Roman letztlich „nur ηϕ [ethische Philosophie] und ηπ [ethische Poesie]“ sei55. Dies aber ist cum grano salis zu verstehen: Wie muß η [Ethik] ϕ [Philosophie] und π [Poesie] versezt werden zu R[oman]? – Welche ϕσ [Philosophie] ist R[oman]? – Alle die zugleich η [ethisch] und π [poetisch] ist. – Die Jacobische macht d[en] Woldemar so wenig zum bessern Roman, als die Kantische d[en] Hippel. – Richter hat dagegen schon class.[isches] Studium in s.[einer] Gattung. (F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 199)

Die Philosophie des Romans sei aber gerade deswegen ‚zugleich ethisch und poetisch‘, weil sie sich mit einer Auslotung des menschlichen Daseins in seinem Möglichkeitshorizont befasst: Indem es der „ϕσ [philosophische] Roman“ „mit d[em] Abstractum des menschl.[ichen] und mit dessen eccentr.[ischen] Spitzen zu thun“ habe56, betreibt er genau das, was wir mit Erhart als „Grundlagenforschung der Moralphilosophie“ bezeichnet haben. Vor diesem Hintergrund der Bestimmung des Romans als eines ‚moralischen Laboratoriums‘ ist auch das Novalissche Konzept des Romantisierens i.S. einer ästhetischen Lebensführung zu sehen, wonach das Leben „kein uns gegebener, sondern 51

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Vgl. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 403, wo Schiller fragt: „In wie weit darf Schein in der moralischen Welt seyn?“, selber darauf antwortet: „in so weit es ästhetischer Schein ist“ und schließlich hinzufügt: „Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden.“ Vgl. Schiller, Werke, Bd. 20,, S. 398. Ebd., S. 410. Schmidt erklärt die Autonomieästhetik für eine bloße Konsequenz der Herausbildung des Literatursystems als eines eigenständigen Sozialsystems: „Die Autonomisierung des Kunstwerks erweist sich somit als Resultante verwirklichter Selbstreferentialität des Literatursystems als Sozialsystem.“ (Schmidt, 1989b, S. 407) Dass dies zu kurz greift, scheint Schmidt selbst geahnt zu haben, insofern er wenig später davon spricht, dass die „Konzeptualisierung von Autonomie als Vollzug von Selbstreferentialität“ sich auf verschiedenen, prinzipiell gleichberechtigten Ebenen manifestiere und entsprechend bloß von einer „Ausdifferenzierung des Autonomisierungskonzepts in Autonomie des Literatursystems, des literarischen Werkes und der ästhetischen Erfahrung“ (ebd., S. 422) die Rede sein könne. Nur dieser letzteren Auffassung können wir zustimmen. F. Schlegel, KSA, Bd. 1, S. 241 f. F. Schlegel, KSA, Bd. 18, S. 198. Ebd., S. 199.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

477

ein von uns gemachter Roman seyn“ soll57. Was Hegel erst von der Zukunft erhoffte, nämlich eine Kunst des „Humanus“, die „die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche“ ausmisst58, das ist, zumindest dem Anspruch nach, bereits im philosophischen Roman der Spätaufklärung und im transzendentalpoetischen Identitätsroman der Frühromantik Wirklichkeit geworden. In jüngerer Zeit hat insbesondere Ricœur diese Auffassung der (erzählenden) Literatur als eines gleichsam existenzphilosophischen Selbstverständigungsdiskurses ausbuchstabiert. Indem er darlegt, dass die „Funktion der Dichtung“ darin bestehe, „eine andere Welt zu beschwören, die anderen Existenzmöglichkeiten entspricht, die unsere eigensten Möglichkeiten sind“59, will er deutlich machen, dass „wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unseres Existenzhorizontes [verdanken]“60. Jeder Roman enthalte demnach eine „dichterische Hypothese“, d.h. er mache einen „imaginäre[n], fiktive[n] Vorschlag einer Welt“61, „in der ich wohnen und meine eigensten Möglichkeiten entwerfen könnte“62. Auf diese Weise dient das Romanerzählen laut Ricœur der Welterschließung, befördert die Weltoffenheit des Menschen und lässt ihn den bloßen Umweltbezug überschreiten63, wobei Fiktion und Poesie auf das Sein nicht als Gegebenes, sondern in der Modalität des Möglichen zielen. Gerade der Roman distanziert uns von unserer Zugehörigkeit zur gegebenen Welt und lässt uns wieder vertraut werden mit der ursprünglichen Erfahrung unseres In-der-Welt-Seins, wonach das Dasein nach allen Seiten offen ist. Nach Auffassung Ricœurs berührt deshalb jedes Erzählwerk mein tiefstes Selbstverständnis, worin wiederum der subversive Charakter der Literatur bestehe.64 Der Roman – als der „Lebensraum des Spiels und der Hypothesen“65 – entlässt somit den Leser in die Freiheit des Möglichseins, indem er die Fähigkeit vermittelt, neue – nun aber „narrative“ – Identitäten zu entwerfen und sich dadurch der unhintergehbaren Zeitlichkeit der Existenz zu stellen. Dadurch werde eine Kettenreaktion ausgelöst, die bis zur Veränderung unserer gesamten Begrifflichkeit führen kann, sodass wir zu einem ganz neuen Wirklichkeitsverständnis gelangen: Die Dichtung lehrt uns, das, was wir Realität nennen, als etwas Dynamisches zu erkennen, nicht als etwas Festes, Gegebenes, das es zu erkennen und in einer adäquaten Begrifflichkeit 66 auszudrücken gilt.

57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

NO 2, S. 563. Vgl. Hegel, Werke, Bd. 14, S. 237. Ricœur, 1986, S. 225. Ricœur, 1988 ff, Bd. 1, S. 126 f. Ricœur, 1986, S. 225. Ricœur, 1988 ff, Bd. 1, S. 127. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 126 sowie Ricœur, 1986, S. 289. Vgl. Mattern, 1996, S. 115. Kundera, 1987, S. 88. Mattern, 1996, S. 148.

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3. Schluss und Zusammenfassung

Ohne dass sie selbst eine Ontologie entwickle, eröffne die Dichtung dadurch, dass sie „unsere jeder expliziten Ontologie vorausliegende lebendige Erfahrung des Seins zur Sprache bringt“, die Möglichkeit, „die ‚physis‘ erneut mit den Griechen [als δυναµισ und ενεργεια] zu denken“.67 Hierdurch erhalten wir einen Ausblick darauf, wie die ontologisch orientierte Bestimmung des Erzählens als des Entwurfs einer möglichen Welt mit der Behauptung, der Roman stelle vor allem Möglichkeiten zu sein dar, versöhnt werden könnte: Der Entwurf von möglichen Welten im Roman ist Ausdruck unseres In-der-Welt-Seins als Möglichkeitswesen; die Autonomie der möglichen Welten im literarischen Werk aber wirkt auf die Rezeption zurück, indem sie, unter der Präsupposition der Freiheit des Rezipienten, diesem einen Möglichkeitshorizont eröffnet.68 Das Besondere am Roman der Achsenzeit – und vielleicht am modernen Roman überhaupt – ist jedoch nicht allein, dass er uns Möglichkeiten zu sein erschließt, sondern dass er dies auf autoreflexive Weise tut, dass er uns also zugleich und in eins mit der Erschließung von Existenzmöglichkeiten sein spezifisches Verfahren, wie und auf welche Weise er dies tut, präsentiert. Sicherlich besitzt die Kunst die „Grundfunktion der Weltweisenwahrnehmung und Weltweisenartikulation“69; doch vor allem vollführt sie diese Welterschließung i.S. des „Hervorbringen[s] von Lebens- und Praxisformen“70 in bewusster und reflexiver Weise: Nicht aber das Aufbringen von Sichtweisen der Welt ist die besondere Domäne der Kunst, ihre 71 Domäne ist die Erfindung von Darstellungen der Bedeutsamkeit von Sichtweisen der Welt.

Was Seel über Kunstwerke im Allgemeinen sagt, dass sie nämlich Zeichen seien, „deren Bedeutung es ist, zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen“72, das trifft vor allem auf den autoreflexiven Roman der Achsenzeit zu. So findet in ihm „nicht Welterschließung, vielmehr Erschließung von Welterschließung“73 statt und erscheint als „eine ewi67 68

69 70 71 72 73

Ebd., S. 150. Fleischhacker versucht über den Begriff der Möglichkeit literarische Weltentwürfe von wissenschaftlichen Weltbeschreibungen zu unterscheiden und dadurch ihre besondere Funktion näher zu bestimmen: „Scientific theories cannot survive without the possibilities of representation that poetry keeps open for them, while poetry thrives precisely by contrast with the determinacy of scientific language. Poetry, and the reflective judgement by which we interpret it, occur precisely where ordinary and literal language gets frustrated. They are thereby parasitic on the literal even as they simultaneously provide it with its condition of possibility.“ (Fleischhacker, Samuel: “Poetry and Truth-conditions“, in: Eldridge (Hrsg.), 1996, S. 124) Zugleich hält er dafür, dass die Poesie gerade deshalb nicht einer anderen Wirklichkeitsordnung angehöre, sondern auf dieselbe Welt wie die Wissenschaft referiere: „Poetry is cognitively valuable, not by giving us access to a world different from the one of literal utterance and scientific theory […] but by making us attend to the conditions for all interpretation and theory in this, our familiar and only world.“ (ebd., S. 125) Seel, 1991, S. 44. Vgl. ebd., S. 52 f. Ebd., S. 54. Ebd., S. 61. Ebd., S. 66.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

479

ge Metaposition zu dem [..], wovon immer es handeln, was immer es darbieten mag“74. Gerade dadurch aber wird die spezifische Leistung des Kunstwerks, unseren Existenzhorizont zu erweitern, verstärkt: Die Gültigkeit von Kunstwerken ist die der gelingenden Weltweisenartikulation. Dieses Gelingen macht es möglich, sich und andere mit gegenwartsrelevanten (gegenwartsbildenden, gegenwartserhellenden, gegenwartssprengenden) Sichtweisen erkennend zu konfrontieren. Die öffentliche Eröffnung dieser Möglichkeit ist die Geltung der Kunst, in ihr besteht die ‚Wahrheit‘ ihrer Werke. Wozu das gut ist? Sehr einfach – dazu, nicht im Diktat einer zu ihren Sicht75 weisen distanzlosen Gegenwart gefangen zu sein.

In Beziehung auf unsere Interpretation der hermeneutischen Metaphysik ließe sich der Zielpunkt einer derartigen Literaturauffassung auch so formulieren, dass das Romanerzählen, indem es die Existenz in ihrem Möglichkeitshorizont erkundet, dazu dienen soll, ein vollständiges Selbstverhältnis zu erlangen, also die doppelte Seinsweise des Menschen als Subjekt und Person zu vermitteln. Eine solche Art von Selbstverständigung zu befördern ist eine spezifisch ethische Leistung. Daran, dass der Roman der Achsenzeit diese Art der Selbstverständigung mit der hermeneutischen Metaphysik der idealistischen Systemphilosophie gemein hat, lässt sich erkennen, wie unangemessen die Behauptung Carnaps war, dass die Metaphysik nur dem Ausdruck eines ‚Lebensgefühls‘ diene und deshalb keinerlei mit der Wissenschaft vergleichbaren Erkenntniswert besitze. Denn die daraus abgeleitete Folgerung, dass die metaphysische Philosophie darum mit der Kunst verwandt sei, wurde nur aus der Perspektive der Metaphysikkritik vorgenommen. Unhinterfragt blieb hingegen, ob nicht die Kunst selbst ebenfalls mehr wäre als ein solcher Ausdruck eines ‚Lebensgefühls‘. Freilich lässt sich gerade bei der Betrachtung von Philosophie und Literatur der Achsenzeit von einer engen Verwandtschaft sprechen: beide wollen einen Beitrag zur Selbstverständigung des Menschen leisten. Das ist jedoch wesentlich mehr als bloße Artikulation eines ‚Lebensgefühls‘. Um aber die Rationalität des Selbstverständigungsdiskurses zu erweisen, ist es erforderlich, Philosophie und Literatur fortwährend aufeinander zu applizieren und sich wechselseitig erhellen zu lassen.76 Damit aber setzt man im Grunde nur das Geschäft fort, das schon zur Zeit der Begründung der Tradition der anderen Vernunft betrieben wurde. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir unsererseits wiederum ein spezifisch 74 75 76

Ebd., S. 62. Laut Seel zeigt jedoch die Kunst nicht einfach ihre Darbietungsmittel, sondern „indem sie ihre Verfahren präsentiert, artikuliert sie Kontexte der Relevanz dessen, was immer sie zeigt“. Ebd. S. 79. Culler bezeichnet dies als den Grundansatz des Dekonstruktivismus: „A distinction between literature and philosophy is essential to deconstruction’s power of intervention: to the demonstration, for example, that the most truly philosophical reading of a philosophical work [...] is one that treats the work as literature [...]. Conversely, the most powerful and apposite readings of literary works may be those that treat them as philosophical gestures by teasing out the implications of their dealings with the philosophical oppositions that support them. (Culler, 1983, S. 149 f) Dennoch wollen wir unser Vorgehen nicht als dekonstruktivistisch, sondern als hermeneutisch betrachtet wissen (vgl. dazu Kap. 1.3).

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3. Schluss und Zusammenfassung

hermeneutisches Philosophieverständnis zugrunde legen.77 Anders als die systematische Philosophie, die mit Hilfe erkenntnistheoretischer Letztbegründungsverfahren den Konflikt zwischen unterschiedlichen Diskursen endgültig entscheiden will, verfolgt, so Rorty, die hermeneutische Philosophie das Ideal der societas als einer „Gemeinschaft von Personen [...], die durch Urbanität zusammengehalten wird, nicht durch ein gemeinsames Ziel oder gar ein gemeinsames Fundament“.78 Eine solche „bildende Philosophie“, die zu verhindern sucht, „daß unsere Gespräche zu Forschungsprozessen degenerieren, zu einer Tauschbeziehung von Theorien“79, stelle sich als „Studium des nichtnormalen Diskurses vom Standpunkt des normalen“ dar. Sie ist also selbst kein ‚nichtnormaler Diskurs‘, sondern versucht diesen zu rationalisieren und konsistent zu machen – in dem Bewusstsein, „daß nichtnormale und ‚existentielle‘ Diskurse immer parasitär gegenüber normalen Diskursen sind, immer auf sie aufbauen und dass sie entsprechend „eine wesentlich reaktive Denkrichtung“ darstellen.80 Laut Ricœur befindet sich die Hermeneutik stets an der Schnittstelle zwischen zwei Diskursformationen und versucht die semantische Energie, die vom metaphorischen Sprechen des poetischen Diskurses ausgeht, zu nutzen, ohne dabei die Rationalitätsstandards des philosophischen – von Ricœur auch „spekulativ“ genannten – Diskurses aufzugeben81: Die Anziehungskraft, die der spekulative auf den metaphorischen Diskurs ausübt, kommt im Prozeß der Interpretation selbst zum Ausdruck. Die Interpretation ist das Werk des Begriffes. Unweigerlich ist sie eine Aufklärungsarbeit [...], daher auch ein Kampf um die Eindeutigkeit. Während die metaphorische Aussage den zweiten Sinn in der Schwebe läßt, während zugleich ihr Referent ohne direkte Darstellung bleibt, ist die Interpretation notwendig eine Rationalisierung. [...] Jede Interpretation will den von der metaphorischen Aussage vorgezeichneten Entwurf in einen Horizont des begrifflich verfügbaren und beherrschbaren Verstehens eintragen. [...] Die Interpretation ist dann eine Diskursmodalität, die an der Überschneidungslinie von 82 zwei Sektoren, dem des Metaphorischen und dem des Spekulativen operiert.

Insofern stellt jede Interpretation einen „gemischte[n] Diskurs“ dar; ihre Aufgabe besteht in der Vermittlung zwischen verschiedenen Sphären. Durch diesen Versuch, eine Kontinuität zwischen philosophischem und poetischem Diskurs herzustellen, wird zwar der traditionelle Anspruch der Philosophie auf Autonomie untergraben, doch bedeutet dies nicht, dass der philosophische Diskurs seine Identität gänzlich aufgibt.83 Seel ver77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Rorty, 1997, S. 346. Ebd. Ebd., S. 403. Vgl. ebd., S. 349. Vgl. dazu Ricœur, 1986, S. 274 u. 279. Ricœur, 1986, S. 283 f. Levine hat versucht, diese Auffassung auch auf den wissenschaftlichen Diskurs zu übertragen; bei ihm erscheinen Literatur und Wissenschaft als „modes of discourse, neither of which is privileged except by the conventions of the cultures in which they are embedded“ (Levine, 1987, S. 3. Auch er sieht entsprechend das Ziel in einer Vermittlung der unterschiedlichen Diskurse: „the conjunction of the two sometimes radically separated worlds of discourse helps illuminate each, helps de-

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

481

tritt sogar die Position, dass die ästhetische Wahrheit nur innerhalb einer „Interdependenztheorie“ bestimmt werden könne, die sie in permanenten Bezug zur theoretischen und praktischen Wahrheit setze.84 Wie immer man sich dazu auch stellen mag, allemal sollte einsichtig geworden sein, dass eine philosophische Hermeneutik, die sich der Tradition der anderen Vernunft widmet, erfolgreich nur dann sein kann, wenn sie den Grundansatz dieser Tradition selbst fortsetzt und Philosophie und Literatur in beständige Beziehung zueinander setzt. In dieser Perspektive gehören beide – interpretierender und interpretierter Diskurs – derselben Tradition an: sie sind beide Selbstverständigungsdiskurse, die den Existenzhorizont des Menschen erweitern wollen – wenn sie dies auch mit jeweils unterschiedlichen Mitteln zu erreichen suchen. Nur auf diese Weise einer Fortsetzung des um 1800 begründeten Unternehmens kann, so scheint es, der Literatur in der modernen Diskurswelt ein würdiger Ort zugewiesen werden: Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus verhält sich das Problem der Wiedergewinnung eines organischen Platzes der Kunst in der Zivilisation wie das Problem der Reorganisation unseres Vergangenheitserbes und der Einsichten gegenwärtigen Wissens in eine zusammenhän85 gende und vervollständigte imaginative Einheit.

Indem aber gerade der Roman der Achsenzeit gemäß seiner relativistischen Grundhaltung eine Vielzahl von Existenzmöglichkeiten vorführt, trägt er entscheidend zur Förderung von Pluralität und Toleranz bei. Damit jedoch leistet er wenn auch vielleicht nicht zu deren Rechtfertigung, so doch zumindest zur Artikulation des Ideals der liberalen Gesellschaft einen wichtigen Beitrag.86 Eine liberale Gesellschaft ist laut Rorty eine solche, die „let everybody to have a chance at self-creation to the best of his or her abilities“; in ihr ist man sich darüber im Klaren, „that that goal requires, besides peace and wealth, the standard ‚bourgeois freedoms’“.87 Deswegen darf eine liberale Gesellschaft keine „Gesellschaft mit einer einzigen Grundideologie“ sein, sie muss vielmehr Sorge dafür tragen, dass ihren Bürgern eine Vielzahl von Traditionen zur Verfügung steht.88 Darüber hinaus stelle sie bloß eine Schutzstruktur dar, innerhalb derer sich ihre Mitglieder frei entfalten können:

84

85 86 87 88

mystify each as they sit apart under cloaks of unmerited authority“ (ebd., S. 5), wobei Literatur und Wissenschaft in seinen Augen letztlich an demselben ‚Projekt‘ arbeiten: „Science and Literature reflect each other because they draw mutually on one culture, from the same sources, and they work out in different languages the same project.“ (ebd., S. 7). Vgl. Seel, 1991, S. 36 ff. Seel unterscheidet vier Versionen einer solchen Interdependenztheorie der Kunstwahrheit: Man sehe die ästhetische Wahrheit entweder als (1) Inbegriff der Wahrheit, (2) Interferenzphänomen nichtästhetischer Wahrheitsdimensionen, (3) begrifflich abkünftig gegenüber nichtästhetischen Wahrheitsdimensionen oder man gehe (4) von der Unbestimmbarkeit des Verhältnisses von Kunstwahrheit zu nicht-ästhetischen Wahrheitsdimensionen aus (vgl. ebd., S. 54 f). Dewey, 1980, S. 390. Vgl. dazu Rorty, 1988, S. 87 ff sowie Feyerabend, 1980, S. 72. Rorty, 1989 , S. 84. Vgl. Feyerabend, 1980, S. 19.

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3. Schluss und Zusammenfassung

Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alle Traditionen gleiche Rechte und gleichen Zugang zu den Zentren der Erziehung und anderen Machtzentren haben. [...] Die Grundlage einer freien Gesellschaft ist nicht eine Religion oder eine Philosophie, sei sie auch noch so vornehm und humanitär, sondern eine Schutzstruktur. Diese Grundlage gibt dem Zusam89 menleben keinen Inhalt, bewahrt es aber vor störenden Einflüssen.

Dieses Ideal einer liberalen Gesellschaft ist heute auf vielfältige Weise bedroht. Ob allerdings die Tradition der anderen Vernunft dagegen mehr tun kann, als ein Refugium für subkulturelle Bemühungen zu bieten, oder ob sie tatsächlich zur Beförderung des von Wieland beschriebenen Liberalismus etwas beizutragen vermag, bleibt mehr als fraglich.90 Man muss kein Kulturpessimist sein, um zu behaupten, dass Philosophie und Literatur heute nicht der Selbstverständigung einer aufgeklärten literarischen Öffentlichkeit, sondern nur mehr noch dem Kulturkonsum einer Freizeitgesellschaft dienen.91 Schon Habermas hatte die Degeneration des kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum diagnostiziert92: Wie jene kulturellen Selbstverständlichkeiten, durch tiefliegende Traditionen vermittelt, subliterarisch genannt werden dürfen, so haben die kulturindustriellen ein gewissermaßen postliterarisches Stadium erreicht. Die kulturindustriell gesteuerten Meinungsinhalte thematisieren das weite Feld innerseelischer und zwischenmenschlicher Beziehungen, das sich die publikumsbezogene und literaturfähige Subjektivität im Rahmen einer intakten bürgerlichen Intimsphäre während des 18. Jahrhunderts psychologisch erst erschlossen hat. [...] Die Integrationskultur liefert Konserven einer herabgekommenen psychologischen Literatur hingegen als öffentliche Dienstleistungen zum privaten Konsum – und zur Kommentierung des Konsums 93 im Meinungsaustausch der Gruppe.

Man kann sich aus diesem Dilemma vielleicht dadurch retten, dass man sagt, der Roman der Tradition der anderen Vernunft artikuliere das Ideal einer liberalen Gesellschaft, nicht jedoch die moderne Demokratie selbst in ihrer oft trostlosen Realität. So bleibt der Roman „das imaginäre Paradies des Individuums“, von dem Kundera sprach.94 Dass er mehr nicht geworden ist, kann man, wiederum mit Kundera, als das eigentliche Versagen Europas betrachten: Die Weisheit des Romans unterscheidet sich von der Weisheit der Philosophie. Der Roman ist nicht aus dem theoretischen Geist, sondern aus dem Geist des Humors geboren. Europa hat versagt, indem es die europäischste aller Künste, den Roman, nie verstanden hat, weder seinen

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Ebd., S. 72 Vgl. Wieland, Werke, XI 36, 179 f. Vgl. Habermas, 1990, S. 247: „Das Freizeitverhalten gibt den Schlüssel für die Scheinwerferprivatheit der neuen Sphäre, für die Entinnerlichung deklarierter Innerlichkeit. Was sich heute gegenüber einer verselbständigten Sphäre des Berufs als Freizeitbereich abgrenzt, nimmt tendenziell den Raum jener literarischen Öffentlichkeit ein, auf die einst eine in der Intimsphäre der bürgerlichen Familie ausgebildete Subjektivität bezogen war.“ Ebd., S. 248 f. Ebd., S. 355. Kundera, 1987 S. 167.

3.3 Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie

483

Geist noch seine gewaltigen Erkenntnisse und Entdeckungen noch die Autonomie seiner Ge95 schichte.

Ebenso wenig jedoch wie die liberale Gesellschaft selbst96 bedarf der Roman und mit ihm die Tradition der anderen Vernunft einer philosophischen Rechtfertigung – und wenn man sich auf ein derartiges Legitimationsunternehmen einlässt, so muss man diesen Roman, diese Tradition sicher nicht gegenüber allen und jedem rechtfertigen, denn liberal zu sein hindert keineswegs, sich ethnozentrisch zu verhalten: Sich ethnozentrisch zu verhalten heißt: das Menschengeschlecht einteilen in diejenigen, vor denen man seine Überzeugungen rechtfertigen muß, und die übrigen. Die erste Gruppe – der ethnos – umfaßt diejenigen, mit deren Meinungen man genügend übereinstimmt, um 97 ein fruchtbares Gespräch möglich zu machen.

Das Schicksal, in die – nicht nur politische – Bedeutungslosigkeit abgeschoben zu werden, ereilt aber am Ende nicht nur die Tradition der anderen Vernunft selbst, sondern auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr.98 Das Erbe dieser Tradition in Erinnerung zu rufen erscheint angesichts dessen als ein Glasperlenspiel, das an seiner eigenen Folgenlosigkeit laboriert. Und so ereilt uns am Ende der Untersuchung der Verdacht, dass das weite Feld, auf das wir uns mit der Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Literatur in der Achsenzeit zwischen 1770 und 1820 gewagt haben, nur eine Fehlhalde war, auf der wir den „alten Streit“ bloß mit wesenlosen Gespenstern ausgefochten haben. Doch warum sollte man nicht auch auf der Fehlhalde zu etlichen Erkenntnissen gelangen – sei es auch bloß zur Erkenntnis der eigenen Irrtümer? Auch auf ihr lässt sich das Haus des Seins errichten. Und wohnen muss man schließlich irgendwo – wenn nötig, auf getrenntesten Bergen. Allemal aber in der Sprache.

95 96 97 98

Ebd., S. 168. Vgl. Rorty, 1988, S. 87 ff. Rorty, 1993, S. 27 f. So schrieb Krüger bereits 1970: „Eine Wissenschaft, deren Verbindlichkeit und Wissenschaftlichkeit entscheidend vom Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen abhängt, ist in der heute angebrochenen globalen Zivilisation ernsten Gefahren ihrer Glaubwürdigkeit und damit Wirksamkeit, ja womöglich ihrer Existenz ausgesetzt.“ (Krüger, 1970, S. 17 f) Daraus leitet er die Diagnose ab: „Die Bedingungen des Verstehens sind dann allemal solche einer jeweils einzelnen kulturellen und historischen Entwicklung, in der immer nur das verständlich und wissenschaftlich erkennbar wird, was sich jemand als eigene Vergangenheit erschließen kann. Zu einer globalen Zivilisation könnten die so konzipierten Akte des Verstehens und die wesentlich auf ihnen beruhenden Wissenschaften nicht beitragen, sondern lediglich zur Bildung von Subkulturen.“ (ebd., S. 20)

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 73, 206

de Man, Paul 329

Arendt, Hannah 27

Descartes, René 26, 57, 61, 72

Aristoteles 69, 208, 234, 277

Dewey, John 469, 481

Baumgarten, Alexander 41, 208-211, 214, 217 f, 225, 422 f, 464

Diderot, Denis 65 f, 243

Berkeley, George 286

Eco, Umberto 223, 225 f

Blanckenburg, Friedrich von 94, 135, 165, 208, 214, 228- 231, 233, 237, 245, 272, 353, 355, 393, 440, 451 f, 472

Engel, Johann Jakob 235

Blumenberg, Hans 27, 58, 86, 100, 104, 184, 187-189, 211, 214-217, 230, 440 f

Dilthey, Wilhelm 165 94 f, 118, 135, 232,

Feyerabend, Paul 11 f, 16-24, 30, 39, 46 f, 52, 64 f, 88, 93, 108 f, 117, 438 f, 446 f, 481

Bonaventura 42, 56, 104, 149, 195, 274, 276, 400, 413

Fichte, Johann Gottlieb 28, 62, 149, 263265, 269, 272, 283-289, 306 f, 310, 323, 326, 332, 369, 372, 376-382, 385, 388 f, 392, 395, 400, 408 f, 413, 421, 424, 469, 472

Bourdieu, Pierre 24, 255, 260, 443-448

Fielding, Henry 235, 241

Breitinger, Johann Jacob 216 f, 227 f

Foucault, Michel 49, 442 f, 448

Bodmer, Johann Jacob 211, 217, 227

95, 210 f,

Freud, Sigmund 170

Brentano, Clemens 338, 363, 406

Gadamer, Hans-Georg 48, 472

Broch, Hermann 461

Galilei, Galileo 26, 57

Brown, John 82

Garve, Christian 95, 111

Bruno, Giordano 277

Gehlen, Arnold 82

Carnap, Rudolf 416, 479

Goethe, Johann Wolfgang 41, 93, 97, 107, 272, 274, 304, 330 f, 335, 345, 348, 353, 361, 423 f, 441, 451, 464, 474

Cassirer, Ernst 133, 157, 189 Cervantes, Miguel de 78, 239, 242 f, 335 Chardin, Teilhard de 306 Condillac, Étienne Bonnot de 82 Conrad, Joseph 168 Cramer, Konrad 305 Davidson, Donald 20, 91, 109

Gottsched, Johann Christoph 225 f

55, 211, 214,

Grotius, Hugo 168 Habermas, Jürgen 29 f, 122, 180, 190, 482 Hamburger, Käte 251 f, 370

507

Personenregister Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 28, 52, 68, 75, 165 f, 178, 234, 262 f, 264, 266 f, 274, 277, 289, 302, 307, 316, 326, 328 f, 361, 372, 374, 378, 388-390, 395-397, 406, 412, 415, 421 f, 430 f, 435, 456, 467, 477

268-272, 277-279, 282, 286, 289, 293 f, 298, 301, 311-318, 331, 340-342, 346 f, 349, 351 f, 373, 375 f, 388, 402, 417, 422, 435, 466 f, 471, 476 Kleist, Heinrich von 402

Helvetius, Claude-Adrien 40, 128, 132 f, 141 f, 152, 155, 170, 177

Klinger, Friedrich Maximilian 30, 40 f, 67, 77, 80, 84, 86-88, 98, 100, 103-118, 121, 130-135, 137, 139 f, 143, 145, 147, 149154, 156, 159-164, 172, 174 f, 182, 184186, 189-191, 195-197, 200, 202 f, 206, 245 f, 253, 257 f, 363, 392, 473

Hemsterhuis, Frans 424

Knigge, Adolf Freiherr von 96

Henrich, Dieter 259, 265, 267, 280 f, 398, 416, 465

Kondylis, Panajotis 54-57, 59, 61, 79, 82 f, 88, 113 f, 150, 153-155, 157, 171, 177, 190, 202, 207, 209 f, 437, 462, 464

Heidegger, Martin 438, 461

11, 33, 69 f, 213,

Heine, Heinrich 27

Herder, Johann Gottfried 185, 195, 255, 270, 301, 330, 345 Hesiod 197 Hobbes, Thomas 63, 83, 143, 154, 157, 168-172, 175, 177, 184, 186

Kues, Nikolaus von 277 Kundera, Milan 481

245, 459, 460 f, 470, 477,

Laktanz 87

Hoffmann, E. T. A. 40, 42, 274, 276, 323 f, 359, 370 f, 392, 414

LaMettrie, Julien Offray de 40, 81, 114, 133, 153

Holbach, Paul Thiry d’ 40, 56 f, 79, 129, 138 f, 435

Leibniz, Gottfried Wilhelm 28, 37, 41, 53, 56, 60, 165, 189, 208, 216-221, 229, 237, 239 f, 272, 277 f, 282, 304, 345, 375, 453, 467

Hölderlin, Friedrich 25, 262, 265, 269, 276, 302, 327, 394 f Horkheimer, Max 73 Humboldt, Wilhelm von 165 Hume, David 40, 58, 60, 82 f, 88 f, 102, 125 f, 133, 139, 144 f, 157-159, 168, 171, 183, 210

Lenz, Jakob Michael Reinhold 55 Lessing, Gottfried Ephraim 52, 208 Lichtenberg, Georg Christoph 51, 100, 148, 214, 433 Locke, John 40, 60, 75 f, 82, 88, 169

Hutcheson, Francis 126

Lorenz, Konrad 72, 287

Jacobi, Friedrich Heinrich 277, 411 f

Lukács, Georg 27

James, William 91

Luhmann, Niklas 51, 250, 256, 315

Jaspers, Karl 13 f

Machiavelli, Niccolò 170

Jean Paul 36, 40, 42, 208, 214, 238, 251, 274-276, 328 f, 334, 337 f, 341, 348350, 352, 360-371, 378, 395, 391393, 402, 406-414, 430

MacIntyre, Alasdair 36, 469

Kant, Immanuel 11, 17, 26-29, 31 f, 34, 42, 50, 51 f, 54 f, 57 f, 60 f, 70, 70-74, 76, 84, 89, 103, 110-113, 125, 127, 138 f, 150, 156, 158, 160 f, 178, 180 f, 189, 192, 194, 209 f, 219, 240, 252, 261, 263-265,

Mallarmé, Stéphane 246 Mann, Thomas 461 Marquard, Odo 195 Marx, Karl 67, 435, 437 Meier, Georg Friedrich 210 Mendelssohn, Moses 27, 60, 134, 175 Mill, John Stuart 30

508

Personenregister

Morgenstern, Karl 40 Moritz, Karl Philipp 128, 215, 236, 255, 271 f, 330, 348, 352-354, 401, 474 f Musil, Robert 11, 15, 58, 402, 446, 448, 461 f Newton, Isaac 26, 51, 56 f, 63 Nietzsche, Friedrich 20 f, 27, 42, 67 f, 75, 98, 145, 153, 173 f, 253 f, 396, 437 f Novalis 32, 41 f, 265 f, 274 f, 281-284, 287, 290, 295, 297, 302, 304 f, 307, 310 f, 315-324, 328, 332-338, 340 f, 344, 349, 355, 359-362, 374-378, 394-399, 405, 408, 424-428, 476 f

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 21, 28, 31, 38, 41 f, 44, 50, 62, 75, 244, 263-267, 269 f, 274, 277-319, 323, 325, 327, 331336, 341, 343-348, 351 f, 354 f, 360, 362, 372-375, 378-391, 395-397, 400, 406408, 416-425, 427 f, 434-437, 457, 467 Schiller, Friedrich 134, 185, 196, 212, 258261, 269, 272 f, 326, 336, 352, 357, 408, 427, 441, 447, 464, 469, 472, 474-476 Schlegel, August Wilhelm 255, 275, 297, 349-352, 377

Ovid 197

Schlegel, Friedrich 32, 41 f, 97, 255, 262, 265 f, 269, 271, 274 f, 288, 292, 304, 306, 309-311, 315-321, 324-338, 349 f, 351, 356 f, 360, 370, 374, 376, 378, 395, 399 f, 426-428, 476

Platner, Ernst 63

Schmidt, Arno 41 f, 151

Platon 11 f, 16, 22, 70, 96, 110, 114, 117, 120, 166, 176, 179, 181 f, 196, 199, 201, 206, 262 f, 300, 431, 455, 468

Schnädelbach, Herbert 74 f

Plotin 339 Poe, Edgar Allan 81 Pope, Alexander 60 Popper, Karl R. 196

Shaftesbury, Anthony A. C. Earl of 117 f, 136, 157, 176 f, 210, 213

Protagoras 65, 112 Pufendorf, Samuel 168 f, 178

Sloterdijk, Peter 82

Rabener, Gottlieb Wilhelm 143 Reinhold, Karl Leonhard 30, 110, 381 Ricœur, Paul 20, 35, 45, 47 f, 68-70, 389, 414, 469 f, 477 f, 480 Rorty, Richard 11, 16-24, 29, 72, 91-93, 97, 100, 109, 112, 117, 148 f, 245, 306, 438, 440, 459, 461, 469-471, 480 f, 482 Rousseau, Jean-Jacques 63, 66, 83, 103, 107, 133, 143, 157 f, 161, 169, 175, 182-188, 196, 202

Scheler, Max 281

62, 88,

Sinclair, Isaak von 394

Putnam, Hilary 46

Sade, Donatien A. F. Marquis de 114, 154

Schopenhauer, Arthur 11, 21, 28, 38, 41 f, 50, 58, 62, 72, 75, 82, 124, 126, 148, 164, 174, 264-266, 269, 274, 279-283, 285293, 295, 298-302, 305-311, 317-319, 324, 332, 344 f, 355, 362, 373 f, 396, 400, 402, 416, 421-423, 434, 436-438, 457, 467

83,

Snow, Charles P. 11 Sokrates 87, 104 Spaemann, Robert 57, 184 Spinoza, Baruch de 467

277 f, 308, 310, 426,

Sterne, Laurence 118, 237 f, 251 Sulzer, Johann Georg 55 Swift, Jonathan 142 Thomasius, Christian 169, 178 Tieck, Ludwig 40, 42, 274, 328, 398, 400406, 412, 430 Unzer, Johann Christoph 60, 63, 75 Voltaire 66, 82, 133, 157, 196, 203, 464 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 277

509

Personenregister Weizsäcker, Carl Friedrich von 287 Wezel, Johann Carl 30, 34 f, 40, 42, 52, 55 f, 59-61, 66 f, 74-82, 84-87, 90-93, 95-105, 107-116, 120 f, 124, 128 f, 131-152, 155-158, 163-167, 170, 172-180, 185-192, 195-204, 209, 211 f, 226 229-235, 237-240, 243245, 246, 251-259, 272, 392, 401, 459 f, 471-474 Wieland, Christoph Martin 22, 29 f, 33, 40 f, 61 f, 67, 70 f, 76, 78-122, 125, 127-130,

133, 135-147, 150-159, 163-166, 170172, 175-202, 204-206, 211-215, 229 f, 233-243, 246, 248, 251, 253, 257-259, 275, 320, 348, 363 f, 392, 401 f, 404 f, 455 f, 459 f, 469, 473 f, 482 Williams, Bernard 46 Wittgenstein, Ludwig 109 Wolff, Christian 28, 34, 41, 53 f, 56, 208, 217-226, 229, 239 f, 272, 375 Young, Edward 240