Die Absoluten. Auf der Suche nach dem wahren Film [1. ed.] 9783835356313, 9783835386037

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Die Absoluten. Auf der Suche nach dem wahren Film [1. ed.]
 9783835356313, 9783835386037

Table of contents :
WER
Paris, November 1995
I Diebold oder Das Ereignis
New York, Juli 1956
II Fischinger oder Der Weg
La Sarraz, September 1929
III Schamoni oder Der Untergang
Klein-Kölzig, März 1921
WIR

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Die Absoluten Auf der Suche nach dem wahren Film

Christian Kiening

Die Absoluten Auf der Suche nach dem wahren Film

Inhalt

WER 7 Paris, November 1995 11 I Diebold oder Das Ereignis

23 New York, Juli 1956 57 II Fischinger oder Der Weg

65 La Sarraz, September 1929 89 III  Schamoni oder Der Untergang

97 Klein-Kölzig, März 1921 127 WIR 137

W

er sind sie, die in den 1920er Jahren von Filmen träumten, die nicht Geschehenes oder Gespieltes abbilden? Sondern eigene Wirklichkeiten, neue Welten schaffen. Abstrakte, absolute, gelöst von Handlung und Psychologie. Hergestellt durch Schneiden und Kleben, auf übereinander montierten Glasplatten, aus meterlangen schmalen Rollenbildern. Verheißend ein gesteigertes, direkt über die Netzhaut auf den Betrachter wirkendes Leben. Wer sind sie, die zusammentrafen auf einer Matinee im Mai 1925 in Berlin, im Ufa-Theater auf dem Kurfürstendamm? Franzosen, Spanier, Deutsche. Expressionisten, Dadaisten, Kubisten, Bauhäusler, Experimentatoren. Unvollkommene Werke, abgefilmte Zeichnungen, geometrische Formen, neben souveränen, eleganten, weltläufigen. Dem Publikum gefallen die Farblichtspiele, die gar kein Film sind, sondern verschaltete Lichtquellen mit farbigen Abdeckungen. Der Andrang ist groß, der Erfolg beträchtlich, das publizistische Echo laut. Die Matinee wird wiederholt. Eine erste filmwissenschaftliche Dissertation entsteht. Wer sind sie, die Akteure? Was trieb sie? Was verband sie? Was wissen wir von ihnen? Von ihren Werken und Formen, deren Farben, Rhythmen und Effekten? Wir blättern in dem Buch, in dem wir ihre Texte gesammelt haben. Wir sehen: Walter Ruttmann (1887–1941), der Maler, der Pionier, suchte Abstraktes visuell in Bewegung zu bringen, als einziger kommerziell erfolgreich, Werbefilme, Auftragsarbeiten, keine Scheu vor der Ideologie. 7

Bernhard Diebold (1886–1945), der Schweizer, Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Zeitung, schrieb über den absoluten Film, als es ihn noch gar nicht gab. Siegfried Kracauer (1889–1966), Kollege Diebolds, Architekturhistoriker, Kulturphilosoph, dann Filmsoziologe, kennen wir, dem Ästhetischen eher abhold. Oskar Fischinger (1900–1967), Maschinenbauer, von Diebold protegiert, wollte die Entsprechung von Bild und Ton, das animierte, tönende Bild. Victor Schamoni (1901–1942), Kunsthistoriker, arbeitete über den absoluten Film und den guten Film, leitete eine Filmgesellschaft, machte Kulturfilme, wie viele: prekäre Existenz. Und die Frauen? In unserer Geschichte eher am Rande: Lotte Reiniger (1899–1981), Scherenschnittkünstlerin, Buchillustratorin, schafft den ersten langen Animationsfilm, der erhalten ist. Ré Soupault (1901–1996), am Bauhaus, dann Modeschöpferin, Fotografin, Surrealistenehefrau, hilft Viking Eggeling (1880–1925), dem schwedischen Maler, seine filmische Symphonie fertigzustellen, deren erste öffentliche Vorführung er nur zwei Wochen überlebt. Irgendwo über, zwischen allen: Hans Richter (1888–1976), der Dadaist, Maler, Herausgeber, Freund Eggelings, kurz verheiratet mit Soupault, unser Tausendsassa, wird nach dem Zweiten Weltkrieg seine Rolle als Chronist und Überlieferer der Avantgarde entdecken, unser Gewährsmann, unser Zeitloser, unser rückblickendes Ich, unser Fragezeichen. Und. Wer. Sind. Wir. Pluralis maiestatis. Autorenkollektiv. Geister der Erzählung. Chiffre derer, die wissen wollen, wie ein Stern der Avantgarde aufging, verglühte, einen Schweif zog. Kaum zu erkennen im verdunkelten Zimmer, 8

hinter Stapeln von Büchern, Papieren, dem Handbetrachter, geringelten Filmstreifen, von der Wäscheleine hängend. Wir klicken uns durch unser altes Miniaturdiorama. Zwischen den Ansichten von Olympiade und Oberammergau geometrische Formen, mal rund, blau und schwarz, einander umschlingend, mal eckig, Linien, Rechtecke. Auch Zigaretten, Kannen, Zylinder, zum Ballett geordnet. Viel mehr nicht. Die Filme sind wenig zahlreich, die Herstellung war teuer, der Erhaltungszustand ist schlecht. Hauptsächlich gibt es Dokumente. Prospekte, Programme, Studien, Artikel, Besprechungen, Bücher. Verstaubtes. In Archiven mit unregelmäßigen Öffnungszeiten durchwühlen wir Kisten, zerblättern Mappen, stoßen auf Briefe, ungeöffnete, der Bibliothekar nimmt den Mittelfinger, der in einem weißen Handschuh steckt. Wir befragen Zeitzeugen, ermitteln Nachkommen, machen Ortsbesichtigungen. Sind abhängig von Zufällen. Eine Tür verschlossen, eine Akte verschwunden, auf der Zeitungsnotiz fehlt das Datum. Wie Kinder verbinden wir Punkte und Nummern. Eine Figur, eine andere. Edieren die Dokumente: Der absolute Film (Zürich: Chronos 2012). Sind immer noch nicht schlauer. Überall: Möglichkeiten, mal mehr, mal weniger plausibel. Details, auf die es ankommt oder auch nicht. Zitate, deren Herkunft wir vergessen haben, die sich mit eigenen Worten verschränken. Wir lassen sie nochmal auftreten, die Figuren, erzählende, erlebende, ordnen ihr Leben. Finden einen Reim auf die Geschichte, Zettelgekritzel, und wissen nicht mal da, von wem, woher es stammt: Wo sich die Absoluten neigen Wo sich Linien drehn im Reigen Wo der Flächen Farbenspiele Tanzen hin und her gar viele ... 9

Paris, November 1995 Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Sie werden eine wahre Geschichte lesen. Meine Geschichte. Alles selbst erlebt. Gedacht. Aufgezeichnet. Ein Leben lang habe ich geschrieben, Geschriebenes und Gedrucktes aufbewahrt, Dokumente, Briefe, Artikel, Fotos. Ein ganzes Archiv. Ein wenig verstreut. Ascona, New York, Berlin. Wen kümmerts. Ich habe überall Zugang. Tag und Nacht. Sie glauben mir nicht. So what. Sie werden mir folgen. Nach Paris. Dort haben sie meinen Geist beschworen. In der Cinémathèque wird 8 × 8 gezeigt, mein Schachfilm, teils auf der Farm in Southbury gedreht, wir hatten die Felder auf den Rasen gemalt, die Damen fein drapiert, Duchamp sah vom Baum herab zu, die Venus in der Muschel, der Meister, einmal sagte er mir: Hans, du wirst nie ein guter Spieler sein. Du bist nicht kompetitiv genug. Du musst den Willen haben, deinen Gegner zu zermalmen, ihn zu töten. Aber trafen wir uns nicht im Ästhetischen. Die Partie eine mechanische Plastik, ein abstraktes Bild, ausgeführt auf einem Stück Holz, hingetupft, scheinbar erstarrt, dann wieder in Bewegung. Und war es nicht meine Idee, das Endspiel, die Könige ziehen umher, als ginge es sie nichts an, als wären sie frei von allen Kriegssorgen, und dabei doch ständig auf der Hut, ein leichtsinniger Schritt, ein verbotenes Feld, Promenaden am Abgrund. Ich habe mir den Film nicht wieder angesehen. Den Vormittagspuk mag ich, die tanzenden Hüte, alles dreht sich, alles bewegt sich, Symphonie der Pferde, Zauber der Groschen. Und Rhythmus 23, so steht es hier im Titel, ich habe ihn Rhythmus 21 genannt, meine heimliche Glückszahl, mein magisches Jahr, die Ideen schossen wie Pilze aus dem Boden, die Pläne explodierten, wie 11

die Verrückten malten und zeichneten wir, die Texte entstanden in Trance. Einer. Fehlt mir. Vielleicht findet er sich in der Cinémathèque, im Archiv. Geduld. Jetzt ist nach den Gästen auch der Vorführer gegangen, nochmal flammt das Licht auf, ich höre den Staubsauger der Reinigungsfrau, das müsste mich nicht stören, aber ich will kein Aufsehen, Blätter, die sich von Geisterhand bewegen, ein Karton, der durch die Luft schwebt wie in meinen alten Filmen. Jetzt ist es ruhig, dunkel. Geisterstunde. Die Mappe auf dem Tisch schimmert schwach. Aufschrift Dada. Ein paar alte Texte, aus meiner Zürcher Zeit, Besprechungen, ein Umschlag mit der Einladung zu einer Soirée, der Durchschlag des Briefes einer Filmhistorikerin, sie fragt mich, ob ich in Frankfurt bei der Vorführung eines absoluten Films gewesen sei, wann mein eigener erstmals gezeigt worden sei, and so forth. Ich muss weiter. Es gibt noch eine letzte Chance hier. Eine Frau, die ich lange nicht gesehen habe, sie wird bald sterben. Hinaus in den Novemberregen. Stört Sie das. Mich nicht. Mir kann nichts etwas anhaben. Ich habe eine Aufgabe. Die Bombenanschläge in der RER. Nicht mein Problem. Die Rechtschreibreform. Das Giftgas. Die Ermordung eines Regierungschefs. Sie nehmen lieber das Taxi. Am Bois de Boulogne entlang. Da flanierten die Damen, halbverschattete Gesichter zwischen den Bäumen, ein Stück nackte Haut, Knie oder Arm. Die Männerwelt in Aufregung. Aber wir, brauchten das nicht. Oh no. Die Frauen lagen uns zu Füßen. Die Kunststudentinnen, die Schreibmädchen, die Platzanweiserinnen. Der Gentleman im Dreiteiler, Zylinder, der hie und da vom Kopf fliegt. Das genügte. Kontakte zum Film und zum Theater. Mit dem Pariser Freund auf die Dächer und durch die Cafés. Wollen Sies wissen. The sorcerer. Zauberte Kaninchen aus dem Hut. Ließ sie wieder verschwinden. Am Silvesterabend meine Freundin im Bœuf sur le toit. Als ich sie beim Mitternachtsläuten küssen will, im Dunkeln, in wessen Armen finde ich sie. A demon. A saviour. Oft hingen wir in seinem Studio herum. Manchmal mit 12

stein. Besessen von seinen inneren Monologen. Seiner schönen Tänzerin. Seinen Mexikoträumen. Im Bugatti gondelte man ihn durch die Stadt. Traf sich mit Colette. Kiki. Ré. Ja, Ré. Die war auch schon da. Ich, ja, wer sonst, hatte ihr einen Job bei Sport im Bild verschafft. Sie schrieb über Mode. Abendkleider aus drapiertem Chinataft mit Rückenschleife, die Wiederkehr des Muff, entmottet, entstaubt, modernisiert, die Illusion einer heiteren, spielerischen Weiblichkeit. Das Sportgeschäft hinter dem Cimetière du Montparnasse. Das ging schief. Sie hat keine Ahnung von Geschäftsführung und Buchhaltung. Die Sache wächst ihr über den Kopf. Dann lieber Fotografieren, Übersetzen, die Märchen, der Orient. Die Schöne und das Biest, so hätte sies gern, aber mich musste man nicht verwandeln. Fleißig ist sie, geduldige Arbeiterin. Hier also. Ihre letzte Klause. Ein gewöhnlicher Block. Fünf Stockwerke. Grauweiße Fassade. Die länglichen Fenster, die sich nicht kippen lassen. Keine Balkone. Ich hatte es mir nobler gedacht. Die Altersresidenz. Die anonymen Klingeln. Der Aufstieg wie zu einem Denkmal. Orangerote Bänke im kühlen Foyer, eine große Holzkugel rotiert auf einem Stab. Im Innenhof ein Blechdach mit Luken, wie eine große Flunder, wahrscheinlich Bäder, keine chinesischen Schneiderinnen, im Akkord schuftend. I’ve seen them, I know it. Im vierten Stock leere Gänge, spitalgrün, durch lange Spiegel optisch vergrößert. Neonröhren. Schmale Konsolen an der Wand, für einen Schlüssel, einen Zettel. Gleichförmige Türen. Nummer 415. Nummer 367. Ihre Doppelklause. Soupault. Soupault. Verbunden getrennt. Lose verschweißt. Jahrzehntelang verheiratet. Ihre Wege kreuzen sich hie und da. Dann die Nachbarzellen in der letzten Wabe. Die alten Nornen. Er leiht ihr sein Augenlicht, sie ihm ihr Gehör. Jetzt ist sein Stern verglüht. Meiner auch, meinen Sie. Was ich hier will, Jahrzehnte nach meinem Tod. Wer ist hier tot. Sind Sie sicher, dass Sie es nicht sind. Dass ich Sie nicht überlebe. Bin ich nicht das freieste aller Wesen. Kein Weilwesen, Zeitwesen, ein Immerwesen. Wer 13

schreibt die Geschichte. Wer korrigiert sie. Wer rückt sie zurecht. Ré, bestimmt nicht. Sie sitzt in ihrer Studentenbude. Zwei kleine Zimmer, ein Tisch, das Bett, Kochzeile im Entrée. Möbel aus verschiedenen Zeiten, Aktenordner. Ist das alles. Modepuppen, Kleider, Skulpturen, Fotografien, Bilder, Filmrollen. Wo. Was bei mir alles zusammenkam, Container, Kisten, Schachteln, über mehrere Kontinente verteilt. Hat sie alles verschenkt. Sie ist keine Sammlerin. Im Regal die Märchenbände mit den ornamentalen Rücken, Klassiker in altem Leder. Kunstbücher, wenige. Mein Dadabuch sehe ich nicht. An der Wand ein großes Poster ihres Fotobandes. Paris 34–38. Zwei Itten, ein orange- und ein weinfarbenes Quadrat, ungerahmt. Ihr Weimarer Held, der Glatzkopf mit der Rundbrille, der Mystiker, der Vegetarier, der Asket im knopf- und kragenlosen Rock, der Schweizer, der Mazdazniker, der an die Sonne, die Farben und die Kartoffeln glaubte. Mein Jahrgang, der Itten. Aber nicht mein Fall. Explore your feelings. Experiment with colors. Irgendwie unheimlich, stank im Frühjahr nach Knoblauch, sonst eine kühle Radiation, mit ihm kam ich mir banal und mondän vor. Den Vorkurs bei ihm musste sie gleich nochmal besuchen. Zweimal wöchentlich mit dem Fahrrad nach Jena, Sanskrit studieren, alte indische Weisheiten auf Teppiche knüpfen. Sehen lernen. Bei Itten. Selber sehen lernen, sehen lernen durch die eigenen Augen. Wie oft hab ich das gehört. Auf dem Bauhausfest sah ich sie das erste Mal. Tanz, dunkle Räume, and so forth. Während der Inflation muss das gewesen sein. Da stolzierten manche durch die Stadt, im schwarzen Hemd mit weißer Krawatte oder Fliege. Da wurden die Reflektorischen Lichtspiele aufgeführt. Das Mechanische Kabarett. Das Figurale Kabinett. Ein kolossaler Misserfolg. Außer dem Conférencier fiel alles durch. Aber sie, macht einen charmanten Knicks, ihr Kleid schillert in vielerlei Farben. Ich bin hingerissen, kann mich nicht entscheiden, zu viele Eisen im Feuer. Lud sie nach Berlin ein. Und war froh, als sie nicht kam. Fräulein Niemeyer, Erna, Erni wollte 14

ich sagen, doch als wir uns das nächste Mal trafen, hieß sie schon anders. Ré hatte Schwitters sie getauft, der Buchstabenspieler und -verdreher. Reell, Reflex, Reflux. Ré, als könnte er sie nach Belieben vorwärts und rückwärts laufen lassen, bestimmen, dass sie immer wieder neu anfangen muss. Weimar. Berlin. Paris. New York. Paris. Basel. Paris. Ihre Orte. Meine Orte. Unsere Orte, nein. Jetzt, diese Wohnung, das könnte es sein. Ein Ort vor dem Tod, nach dem Tod. Ort des Todes, Ort des Lebens. Eine Nacht. Für alte Geschichten. Für die Wahrheit. Die Nachwelt. Sie sitzt an einem kleinen weißen Arbeitstisch. Das Tonband läuft. Jemand erzählt, eine Geschichte, ihre Geschichte, ihr Märchen. Sie bastelt an ihren Erinnerungen, kann keinen Buchstaben mehr erkennen. Bald ein Jahrhundert alt. Aber noch. Wie soll ich sagen. Weißer Angorapullover, auch die Haare, schlohweiß und kurz, nach hinten gekämmt, wie auf ihrem Selbstporträt vor dem Krieg. Falten, quer über die Stirn, ein zerdehntes Omega, die Haut am Hals fast glatt, wie gemacht für einen zärtlichen Biss. Sie legt den Kopf schräg. Schaltet das Gerät aus. Lauscht. Ihre Augen gehen an mir vorbei. Weiß sie was. Über unser frühes Manifest. Hat sie einen Durchschlag, irgendwo. Sie sagt etwas, in klarer Diktion, ihr pommersches Erbe, aber es wird kein Satz. Nur ein Name in der Mitte, ein Berg, von dem die anderen Wörter wie Hügel abfallen. E-G-G-E-L-I-N-G. War es das. Verdammt. Das alte Thema. Ich soll alles an mich gerissen haben. Die große Kiste mit seinen Werken. Die Familie hatte sie nach seinem Tod Erni überlassen. Warum. War das ein Grund für mich, sie auf dem Begräbnis anzusprechen. Ihr das Zusammenleben aufzudrängen, in meinem Wohnatelier im Grunewald. Nur weil ich die Kiste haben wollte. Die rasche Heirat, ohne großes Aufhebens. Die unspektakuläre Trennung, im Jahr darauf. Zusammenleben, das muss nichts heißen. Und ich war ja ein erfahrener Mann. Schon zweimal verheiratet. Immer aus einer Laune heraus. Im Militärhospital Liesl, die liebevolle Krankenschwester, aber sie war wirklich ein Engel, ein 15

wohlhabender. Gute Familie. Sanitärbedarf. Villa mit dreißig Zimmern, Parkanlagen, and so forth. Der Vater, tiny, roly-poly, erfolgreich. Die Mutter. Als ich das erste Mal dort bin, denkt sie, ich sei wegen ihr gekommen. Dann ist sie furious. Mein Vater muss helfen. Lässt einen Schinken, zwei Salamis und acht Pfund Butter schicken. Wir verloben uns. Sie stirbt mitten in der Inflation. Mein Dada-Kopf von 1917. Dann Lo, bildschön, Tänzerin, schon im Zürcher Odéon hatte sie uns den Kopf verdreht. Everybody wanted to have her. Dann Erni. Ich war ihr Gönner. Holte sie von der Straße. Komfort und Wärme, ein Bad mit fließendem Wasser, Kohleheizung, Garten für Frühstück und Picknick. Die Hungerkünstlerin vom Bauhaus bekommt den ersten russischen Kaviar, Fasan im Federkleid, Pralinés. Das gefiel ihr. Aber anhänglich wollte sie nicht sein, abhängig nein. Die Kämpfe mit den Eltern hatten sie hart gemacht. Weimar. Keine Malschule für Höhere Töchter. Das Bauhaus. Ein schönes Atelier, ein paar schnelle Werke. Aber schwer sich zu verbergen. In Berlin wollte sie, dass ich meine anderen Freundinnen aufgebe. Stubborn little girl. Gewaltsam holten die Eltern sie zurück, sperrten sie ein, hielten sie von der Welt fern. Abenteuerliche Befreiung, Flucht, Verstecken, Angst, vor dem Vater, vor der Mutter, vor den Freunden des Vaters, jahrelang. Noch, wann war das, 1929, da hatte ich schon eine andere, sollte ich auf die Beerdigung ihres Vaters mitgehen. Da lag er, his face yellow like wax, sie begann zu zittern, ich legte meinen Arm um sie. Ich hasse ihn, ich hasse ihn. Ihr großes Trauma, niemand durfte sie danach fragen. E-G-G-E-L-I-N-G. Ist es das, was ihr heute noch im Sinn ist. Mir auch. Mehr als ihre tanzenden Hände, ihr schöner Hals, zwei dünne blutrote Linien ziehen sich an ihm entlang. Ohne Heute, ohne Morgen, ich muss mich an das Gestern klammern. Da war sie befreit. Aber nicht, um die liebevolle Hausfrau, die perfekte Gastgeberin zu mimen. War unsere Wohnung wieder mal voll. Alle kamen hier zusammen, die Expressionisten, Kubisten und Dadaisten. Und sie. 16

Flattert nicht wie ein exquisiter Schmetterling herum. Sie krallt sich einen, vertieft sich in Diskussionen, mit Vorliebe über technische Details. So muss es auch mit Viking Eggeling gewesen sein. Sie war stolz, ihn entdeckt zu haben. In seiner Mansarde in der Nähe des Wittenbergplatzes. Morgens um 11 klopft sie ihn raus, er konnte nur mit Veronal schlafen, will gleich seine Werke besichtigen. Sofort, wie bei Itten, hat sie den Ruch des Genies in den Nüstern, sie will in seiner Nähe sein, zum schöpferischen Werk beitragen. Gut, der Künstler hat kein Geld, braucht aber dringend Hilfe. Sie kann im Atelier wohnen, darf mit dem Genie das Bett teilen, freie Kost und Logis, aber was heißt Kost, Eggeling vergisst das Essen, trinkt dünnen Malzkaffee, Wasser aus rostigen Leitungen. Ein Jahr lang spielt sie im zugigen Atelier seine Assistentin. Freundin. Sklavin. Die Figuren, schwarz auf weißem Hintergrund, dann invertiert projiziert, zeichnet er selber, auch die Kurbel dreht er selber. Was sie darf. Die großen Papierbögen mit Zinn beschichten und nach seiner Vorgabe auf die Zeichnungen legen, abnehmen, verschieben. Im kleinen dunklen Verschlag, der ins Atelier eingebaut ist, die Kamera, auf einer Holzkonsole befestigt, justieren. Immer wieder. Eine andere installieren. Bereitwillig stellen die Ascania-Werke ihr neuestes Modell zur Verfügung. Den Techniker bezahlen sie nicht. Zu teuer. In der Inflation. Das hätte selbst einen in den Ruin getrieben, der geschickter mit den Finanzen war als Eggeling. E-G-G-E-L-I-N-G. Ach Erni, Ré. Was soll ich sagen. Immer die gleichen Vorwürfe. Mutmaßungen. Woran sie sich zu erinnern glaubt. Er hat immer grobes Papier benutzt. Er hat sich nie um einen makellosen Strich bemüht. Er hat nie Kopien seiner Werke hergestellt. Das wäre seinen Prinzipien zuwidergelaufen. Ah ja. Er hat auch keine afrikanischen Götterbilder kopiert, keine mittelalterlichen Fresken. Moderne Malerei. Alles nur Übungen. Er hat auch nicht, notorisch in Geldnot, Kopien von Zeichnungen an Bekannte verkauft. Eine Rolle auf der Rückseite signiert. Nein, das hätte er nie getan. Das muss 17

von mir stammen. Geschickt habe ich seinen verkleinerten G-Kopf imitiert, seinen vorauseilenden i-Punkt, seine Girlanden beim N. Das Lob lasse ich mir gefallen. Ich kenne ja seinen Duktus wirklich am besten, seine Art zu schreiben, zu zeichnen, eine Stimme zu verfolgen, eine andere zu ergänzen. Anfangs verstanden wir unsere Rollenbilder noch als Kunstwerke. Bis uns klar wurde, wenn wir Geld wollten, um bewegte Bilder, Zeit-Bilder herzustellen, mussten wir etwas vorweisen. Also gewöhnten wir uns ein mechanisches Zeichnen an, reproduzierten unsere Werke. Das wollte sie nicht einsehen. Warum muss sie mich dafür hassen. Weil sie meinem Charme erlegen ist. Weil sie es bequemer wollte. Weil ich Geschichte schrieb und sie keinen Platz darin hatte. Konnte sie es sich nicht verzeihen, die wichtigen Momente verpasst zu haben. Als Eggeling mit seiner Diagonal Symphonie nach Paris fuhr, was war mit Ré. Sie war unwichtig geworden. Sie blieb im Berliner Atelier, ausgehungert und verfroren, bis Schwitters vorbeikam und sie kurzerhand zu seiner Familie schickte, nach Hannover. So musste sie die anderen Geschichten nicht miterleben. Die Dichterin, die Tänzerfreundin. Die war am Ende bei ihm, als er, entkräftet, mit starker Angina, ins Krankenhaus kam. Und sie, wo war sie. Sie musste sich erholen. Hundert Mark von der Mutter für eine Fahrt nach Italien. Positano. Sie schwimmt in der Bucht, lernt Italienisch, durchstreift Felsentürme und Grotten. In Berlin läuft Eggelings Film auf der Matinee. Das interessiert sie nicht. Die Plünderung meiner Wohnung, unserer Wohnung lässt sie kalt. Wie viel hab ich verloren, meine Bilder aus dem Krieg, meine Dada-Collagen, meine ersten Rollen-Experimente, die Exemplare des Manifests, die Zeichnungen, von Eggeling auf dem Sterbebett gemacht, die Werke, die er mir geschenkt hat. Erst spät fällt es ihr wieder ein. Zufällig kommt sie in Berlin an seinem früheren Haus vorbei. Hört von meinen Bemühungen. Jahrzehntelang hatte ich, wie versprochen, seinen Namen als Künstler lebendig gehalten, Ausstellungen organisiert, seine Werke 18

ausfindig gemacht. Da erscheint sie und hält ihre Zeit für gekommen. Will plötzlich die wahre Witwe sein, die Nachlassverwalterin, Expertin für echt und unecht. Hartnäckig wiederholt sie, Eggeling und ich seien heillos zerstritten gewesen. Dabei weiß sie gar nichts. Unsere Zeit nach dem Krieg. Er wohnt bei uns auf dem Gut in Klein-Kölzig, pflegt seine Launen, schickt seine Frau weg, hurt herum. Wir diskutieren und experimentieren, wie im Rausch schreiben wir unser Manifest. Universelle Sprache. Das verschicken wir an alle, die uns einfallen. 85.000 RM gibt uns die Ufa für Räume, Apparate, Strom, Material. Doch wir wollen eine Zeitschrift gründen. Dann die Inflation, die Zeiten werden schwierig, mein Vater bekommt ein fantastisches Angebot für das Gut, und plötzlich ist alles weg. Eggeling, stur, hält am Prinzip der Linie fest. Das Neue, der Film ist ihm suspekt. Fanatisch ist er, besessen, unfähig, seine Gedanken zu ordnen, eine Sache zu Ende zu bringen. Wälzt Ideen wie schwere Brocken. Zitate über Zitate. Schwierig. In Berlin fanden wir wieder zusammen. Trafen uns für Spaziergänge. Sprachen über die Zeit. Er lud mich zu Gänsebraten ein. Wenn sie ihn aus ihren Klauen ließ. Davon weiß sie nichts mehr. Auch ihre späteren Machenschaften hat sie gut verdrängt. Wie sie Zweifel schürte bei den Museen. Fragwürdige Gutachter aufbot. Junge Kunsthistorikerinnen willfährig machte. Ich erinnere mich, ein Besuch in Ascona und New York, ich erzähle von früher, erzähle, was ich weiß. Und dann. Steh ich als notorischer Lügner und Betrüger da. Ein toller Plot. Der good guy und der bad guy, die verschiedenen girl friends, die junge Detektivin, die alles aufdeckt, die grande dame im Hintergrund, die gelegentlich ihren Segen erteilt. Aber wer war der Kopf von Dada. Die Speerspitze der Avantgarde. Und wer stand überall nur im Schatten. Das Bauhaus der ersten Stunde, sie brachte ein paar Webarbeiten zustande. Eggeling ließ sie fallen und starb. Mit mir hielt sies nicht aus, obwohl ich ihr alle Wege bahnte, auch zu Soupault, ihre Übersetzung seines kinematografischen Gedichts 19

druckte ich in meiner Zeitschrift. Aber den Autor lernte sie erst kennen, als es mit dem Surrealismus vorbei war. In Tunis durfte sie das verbotene Quartier fotografieren, und ließ die Fotos zurück. Aber ich will mich nicht zum Richter über ihr Leben aufspielen. Richter ihres Lebens. Schönes Wortspiel. Sinn für den Augenblick, für die Geschichte hatte sie jedenfalls nicht. Also wird sie auch das Manifest nicht haben. Überall habe ich danach gesucht. Die alten Weggenossen. Fast alle können sich erinnern, keiner hat den Text. Acht Seiten. Extra in der Druckerei vervielfältigt. Universelle Sprache. Unser Pamphlet. Unser Ideenparadies. Alle Gedanken, alle Programme, alles Spätere ist darin enthalten. Der Text müsste einen Ehrenplatz in der Geschichte der Avantgarde bekommen. Ich sehe ihn, getippt auf der leichten Rheinmetall-Schreibmaschine, Seite für Seite in großen Fotografien im Museum, Urkunden der kreativen Zeit nach dem Krieg, wir glaubten an eine allgemeine Sprache der Kunst und des Menschen. Hat sie was gesagt. Wieder ein Name. D-I-E-B-O-L-D. Bernhard Diebold. Ja, er könnte ein Exemplar haben. Der Herr Großkritiker, der meinte, er hätte den absoluten Film erfunden, ihn heraufbeschworen mit expressionistischem Getöse. Traf ihn später nochmal in Zürich, als ich die Central-Film leitete, er baute einen Filmstoffvertrieb auf und schrieb an einem Roman, den niemand lesen wollte. Glaube nicht, dass ich darin vorkomme. Und dass er das Manifest aufbewahrt hätte. Vielleicht in einer Kiste, nach dem Krieg, dem zweiten, auf dem Flohmarkt gelandet. Feucht gewordene Papiere. Ein aufgequollener schimmliger Deckel. Verblasste Durchschläge. Eine Andeutung von Helligkeit dringt durchs Fenster. Ich bin zu lang geblieben. Ich fühle mich schwach. Ich habe mich hinreißen lassen. Huscht ein Schein von Triumph über ihre blinden Augen. Hat sie doch das letzte Spiel gewonnen. Ich muss weg. Weg aus dieser Einöde. Diesem Neon. Diesen Konsolen. Diesen Bullaugen. Weg von ihr, ihrer Kühle, ihrem Eis, mein totes Herz friert. Weg von diesen grausamen 20

gen, dieser fahlen Haut. Hungerkünstlerin. Sterbekünstlerin. Weg von diesen magnetischen Feldern. Elektrischen Seiten. Automatisch schreibe ich wie damals, als ein unsichtbarer Draht uns mit dem Himmel verband.

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I Diebold oder Das Ereignis

Was er zu Mittag aß an diesem Tag, wissen wir nicht. Möglich, er rasierte sich ein zweites Mal, band sich eine neue Fliege um, schön rot-grün kariert, ging die wenigen Schritte von der Redaktion zum U."T. im Schwan. Auf einem kleinen Umweg an der Katharinenkirche vorbei, ein Hauch Frühling, ein paar Orgeltöne, erhabene Stimmung. Obwohl. Wir denken, ihm war flau im Magen, vielleicht hatte er gar kein Mittagessen, vielleicht war eine Krankheit im Anflug. Im Steinweg wurden die Litfaßsäulen um einen halben Meter aufgestockt. Der Himmel war bedeckt, Regen fiel keiner. Die großen Schriftflächen am U."T.Kino waren leer. Gerne würden wir sagen, er schwebte durch den dunkelgrünen Marmor der Halle und die tiefrot beleuchteten Vorräume, wie ein halbes Jahr zuvor bei der Eröffnung. Sumurun, der Bucklige und die Schöne, orientalischer Märchenkitsch, gut anzusehen, das Publikum hatte nach jedem Akt geklatscht. Aber wie soll einer schweben, der Blei in den Beinen hat, der wie Kolumbus, die Säulen des Herkules hinter sich, nicht weiß, ob das, was kommt, die Aufregung lohnt. Die Einladungskarte zeigte einen aparten roten Wellenschwung und zwei blaue Zacken, Schnabel vielleicht, das ließ alle Möglichkeiten offen, auch das Datum fehlte. Jeden Moment war damit zu rechnen, Ruttmann könnte hinter einer Säule hervorspringen und April April rufen. Doch der stand gemütlich im hinteren Foyer und unterhielt sich mit Diebolds neuem Kollegen. Ein Kauz, kleinbürgerlich, jüdisches Elternhaus, einziges Kind, versiert in Schmiedekunst und Architektur, philosophisch 25

ambitioniert, will aber nicht sagen, wie alt er ist. Lebt noch bei der Mutter. Die Nase, nein, das gehört nicht hierher, die Haare zur Seite gelegt, der steife weiße Hemdkragen und die Hemdbrust beengen, seine Zunge stolpert, auch er trägt meist eine Fliege. Sie waren erst kürzlich zum Du übergangen, Krac durfte Diebold ihn jetzt nennen. Krac Krac. Wir denken an ein weites Schneefeld, eine Parabel. Fast hätte der Chef ihm den Bericht über die heutige Aufführung anvertraut, dabei hatte er noch nie über Film geschrieben, nur über Lokales, Individuum, Lebensgefühl, Turmhäuser, etwas akademisch, tendiert zum Grundsätzlichen und Weitausholenden. Diebold hatte ihm erklärt, der Normalleser der Zeitschrift müsse alles verstehen. Der Caligarifilm, darüber hatten sie diskutiert. Soziologisch interessant, eine Studie über Macht, Autorität und Wahn, typisch deutsch. Krac. Expressionismus, auf die Spitze getrieben und überwunden. Diebold. Licht aufgemalt, Ornamente wie Fremdkörper auf Gemälden, Bäume als fantastisches Gestrüpp, kahl, gespenstisch, Türen, von unsichtbarer Hand bewegt, hohle, gierige Öffnungen, Formen, chaotisch gebrochen, Flächen, entfesselt, zeitlose Mathematik. Ziemlich ästhetische Sichtweise. Krac. Das Lichtspiel als Gesellschaftsanalyse, der Film als Erzieher. Sie hatten die Diskussion vertagt. Auch andere waren schon da. Ein Gruppenfoto sollte gemacht werden. Historischer Moment, Premiere, Vorpremiere, Weltpremiere, vielleicht Beginn einer neuen Zeit. Man platzierte sich vor dem Bild eines lokalen Malers, wie heißt er, Guntermann, wir haben das recherchiert: Menschen, die aus der Erde wachsen, ihre Augen wie Blüten auf langen Stielen, daneben schießen Raketen in die Luft, farbenprächtig, zerstörerisch. Der Krieg. Seine Überwindung. 26

Auf dem Gruppenfoto Ruttmann natürlich in der Mitte, braungebrannt wie immer, gutaussehend, der Mund etwas verkniffen, Amerikanertyp, Diebold zu seiner Rechten, daneben der junge Fischinger, Orgelbauer, Maschinenbauer, Werkzeugbauer, bei Pokorny und Wittekind, will Ruttmanns Bekanntschaft machen, er hat von seinen Patenten gehört, der Erfindung eines Apparats, um die aufeinanderfolgenden, kinematografischen Aufnahmen von mehreren in dem Lichtweg hintereinanderliegenden, durchsichtigen und gegeneinander beweglichen Bildplatten abzunehmen. Auf der anderen Seite Lotte Reiniger, Puppenspielerin, Schauspielerin, Silhouettenkünstlerin, mit modischem Kurzhaar. Krac, ein wenig verquollen. Ein unbekannter Herr mit schwerer Uhrkette, vielleicht der Kinobesitzer. Und noch einer am Rand, ein junges glattes Gesicht unter einem Borsalino, hat sich ins Bild geschlichen, ein Student der Kunstgeschichte, woher auch immer er die Einladung bekommen hat. Diebold versteht seinen Namen nicht recht. Chamonix vielleicht. Wir müssen dies so ausführlich beschreiben, es gibt das Foto nicht, nicht mal ein zerbrochenes Glasnegativ, das sich, von Rissen durchzogen, wieder zusammensetzen und im Museum präsentieren ließe. Die Platte war defekt, nicht das einzige Missgeschick an diesem Tag, an dem, wie Diebold meinte, die allererste Vorführung eines nicht gedrehten Films stattfinden sollte. Jahrelang hatte er den Moment ersehnt, ihn herbeigeschrieben, den Kontakt zu den Lichtspielen in Frankfurt hergestellt, er, der Theatermensch, den die Ahnung befallen hatte, ein anderes Medium könnte das Theater bald ablösen. Wenn es frei und kreativ gestaltet würde. Keine abgefilmte Wirklichkeit. Eine optische Sinfonie, eine Augenmusik, eine Musografik. Er hatte das Programm entworfen, bevor es die Möglichkeiten der 27

wirklichung gab. Jetzt sprachen alle davon. Baten um Mitteilung, für wann eine Vorführung zu erwarten sei. Er trug einen Brief in der Tasche. Was wir wissen: der Zuschauerraum hell cremefarben getönt, die Wände und die Brüstung des Ranges mit rosa Marmor belegt. Die Bühne mit den anschließenden Ankleideräumen kann auch für Sketchvorführungen genutzt werden. Der zwölf Meter breite Vorhang aus goldgelbem und purpurrotem Samt und die tiefroten Bezüge der Bestuhlung lassen, festlich beleuchtet, eine stimmungsvolle Wirkung entstehen. Das versenkte Orchester fasst vierzig Mann. Heute, an diesem Freitag, ist der Graben leer. Von den achthundert Plätzen im Parkett sind nur wenige besetzt. Die Nachmittagsvorführung ist eine geschlossene Veranstaltung, genau genommen nicht mal das, nur eine schnell organisierte Einspielung, bevor das eigentliche Nachmittagsprogramm beginnt. Mehr haben die Lichtspiele nicht zur Verfügung gestellt. Diebold leitet ein, spricht von Visionen, mitten im Krieg entstanden, Visionen einer neuen menschlichen Kunst. Ruttmann trägt vor, von maschinegetippten Blättern. Die gegenwärtige Kunst, das krampfhafte Festhalten am Alten, keine Reaktion auf die Zeit, das Tempo, die Schnellzüge, Telegraf, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen, Überschwemmung mit Material, die alten Methoden versagen. Zuflucht zum Mittel der Assoziation, des Vergleichs, hilflos. Blick auf das Ganze, die Form. Kurve statt Punkte. Die Malerei, kann das nicht. Das Bild ist starr, leblos, unfruchtbar. Die Rettung? Kein neuer Stil. Neuer Ausdruck. Neues Lebensgefühl. Malerei mit Zeit, Rhythmus, Musik. Der neue Künstler. Arbeitet mit Licht und Finsternis, Ruhe und Bewegung, Geradheit und Rundung. Schwierigkeiten der Technik. Jahrelang. Jetzt aber. Gemeistert. Der 28

bruch. Bildplatten, übereinander montiert. Bewegungen werden erzeugt, indem man von Aufnahme zu Aufnahme Bildteile oder Unterteile verändert. Technik und Kunst, wurzelfestes Gewächs, nicht bloße Konstruktion. So ähnlich. Vereinzelter Beifall, ein Bravoruf. Ruttmann ist Maler, ein erfolgreicher übrigens, kein Dichter. Das Licht geht aus. Der Vorhang schwenkt auf. Man starrt auf die Leinwand. Es dauert ein paar Momente, als würden die letzten Verbindungen zur Außenwelt weggewaschen. Lichtspiel opus 1. Diebold rückt seine Brille zurecht. Wir müssen uns jetzt konzentrieren. Nicht an den langweiligen Liederabend denken, gestern. An Gabrielle, die jetzt vielleicht aus- und eingeht im Salon des geheimnisvollen Alastair in München. Die kommende Sonnenfinsternis. Der unsinnige Streit mit dem Chef. Ob es gut sei, dass das Plakatwesen nun in städtische Verantwortung übergehe. Auch für die Werbung werden sich Änderungen ergeben. Ja, ein Werbefilm könnte das sein. Für Speiseeis. Druckerzeugnisse. Fliegende Teppiche. Ungehemmte Triebbefriedigung. Oder einfach. Bewegte Formen, farbige Kreise, Halbkreise, Zacken, Tropfen, unregelmäßige Vierecke. Schönes Blau. Kringel, Ringel. Diebolds Hand umkrampft die Kladde. Umrisse glühen, Füllungen dämmern. Worte wird er finden müssen. Violette Raupe. Wächst zum Kolben, rollt sich zum Edamer, schrumpft zum Apfelsinchen. Sonnenstreif, zitronig, fegt von links nach rechts, erblasst, verklingt. Gelbliches Dreieck, schießt auf, entwimmelt, zerduftet. So kann er nicht mehr schreiben. Alles huscht und zuckt, Dinge schweben, schwellen, schwimmen, schwinden, flitzen, fließen, steigen, stoßen, gleiten, glitzern, welken, dämmern, blümeln und verkrümeln sich. Klare Worte will er, sachliche, faktische, fünf Akte, Schwarzstreifen 29

dazwischen, Logik der Farben und Formen. Seine Hand ruht. Kaum eine Viertelstunde und das Licht geht wieder an. Schweigen. Es wird geklatscht, zögerlich, lauter, aus Verlegenheit. Es gibt keinen Plan für nach dem Film. Aufstehen? Hinausgehen? Diskutieren? Wer sagt etwas? Die Herren Kritiker. Schauen auf ihre Blöcke. Kauen auf ihren Füllern. Starren Löcher in die Leinwand. Diebold spielt mit seiner Brille. Ruttmann? Hat den Saal verlassen, niemand weiß, wohin. Später wird es heißen, er habe Fräulein Reiniger einen Zettel zugesteckt, den Diebold zerknüllt in einem Mülleimer fand. Wir wollen das Gleiche. Bekannt ist: Man beschließt, sich den Film noch einmal anzusehen. Der Vorführer wird verständigt. Das Licht geht wieder aus. Es bleibt schwarz, eine Weile. Kein Titel erscheint. Ein kleiner gelber Fleck breitet sich aus. Aus der Kaulquappe wird eine Monsterkröte, ein Horroralb, bis das Wachstum plötzlich stoppt. Der junge Fischinger, Maschinenbauer, Technikverehrer, erklärt, was gerade passiert ist. Es dauert ein paar Minuten, bis das verbrannte Stück aus der Nitrorolle herausgeschnitten ist und die Rolle neu gestartet werden kann. Einige pulsierende Halbkreise sind verloren. Diebold. Vielleicht ist das der Moment. Wir können nicht davon ausgehen, dass man ihn noch kennt. Diebold. Eigentlich Dreifus. Nimmt nach der Scheidung der Eltern den Mädchennamen der Mutter an, alte Zürcher Bürgerfamilie. Vater aus dem Aargau, Kaufmann. Studium. Jurisprudenz in Zürich. Dann aber das Theater. Schauspielschule Wien. Theaterwissenschaft in Berlin, Promotion in Bern. Dramaturg und Spielleiter am Münchner Schauspielhaus, Theaterkritiker der Frankfurter Zeitung, zuerst im Lokalteil, 30

schreibt unter Hobby Galobby. Wir sind im Bilde. Seine Erscheinung. Mittelgroß, klare Züge, hohe Stirn, schön geschwungene Oberlippe, er sieht dem Gegenüber in die Augen. Seine Erfahrungen. Kriegseinsatz, nein. Er ist Schweizer. Antimilitarist. In München spielt man ausländische Dramatiker. In den Caféhäusern geht es munter zu, da werden die Künstler zu Musikern, Ruttmann ist gut mit dem Cello, aber bekannt werden sie nicht. Er trifft Wedekind, den Nomaden, auch in der Schweiz aufgewachsen, auch verunglückter Rechtsstudent, dann Reklamechef einer Suppenfirma, Zirkusfahrer, Börsenspekulant, Kunsthändler, Majestätsbeleidiger, hat Umgang, schreibt Diebold, mit Artisten, Weibern, Bohemiens, Rastaquärs, das müssen wir überprüfen, versteckt brutale Detektivromantik unter primitiver Lauthaut. Diebold. Wohl eher geistige Natur. Verhältnis zum Jüdischen. Schwierig. Der Vater Rabbiner, der Sohn konvertiert und wird konfirmiert. Das Jüdische: exotische Riten, orientalische Gebräuche, expressives Theater. Der Rumpf zum Buckel gekrümmt, die Handflächen nach vorne gekehrt, der Kopf wackelt in Pagodenbewegungen, die Beine wippen. Darüber wird er schreiben. Im Foyer gibt es Champagner. Ein Rausch für die Pupille, kein Menschenfilm. Nein, gerade die tieferen Schichten des Menschseins sind betroffen. Aber ist das etwas für das heutige Publikum? Jedenfalls hat dieses Medium größere Wirkung als die Malerei. Bei ihr muss der Betrachter alle Bewegtheit erst aus dem Objekt herausziehen, im Kinematografen ist Lebendigkeit selbst. Ja, hier haben wir teil am Kampf der Elemente. 31

Ruttmanns Stimme, als wäre er nie weg gewesen. Denken Sie, wie die chaotische Masse von schwarzkantigen Flächen in Bewegung gerät. Wie aus dem trägen Rhythmus eine schnelle wellenförmige Bewegung wird. Eindrucksvoll, gewiss. Dann blitzartige, gesteigerte Erhellungen, sie zerreißen die dunkle Starrheit, ein Lichtzentrum breitet sich aus, eine strahlende, tanzende Bewegung entsteht, die langsam in frohe, freudige Ruhe übergeht. Aber was wollen Sie damit sagen? Was kann der Zuschauer damit anfangen? Er wird zurückversetzt in die Situation der Schöpfung. Der Kampf zwischen Hell und Dunkel. Weiße Formen, galoppierende Pferde, stürzen sich den drängenden finsteren Massen entgegen. Die Formen splittern. Helle und dunkle Elemente wirbeln durcheinander, bis das zunehmende Licht siegt. Eine Allegorie des Krieges also. In jedem Krieg liegt eine Hoffnung. Eine Aussicht auf Ausgleich, die uns in diesen schwierigen Zeiten trösten kann. Es braucht den guten Film, nicht den banalen, kommerziellen, abgefilmten, Theater, Kostümdrama, den Film mit seiner eigenen Formensprache, seiner eigenen Sicht der Welt. Vielleicht sollte man eine Vereinigung gründen. Der junge Mann mit dem Borsalino. Schanomy oder so ähnlich. Und Diebold? Wir behaupten nicht, ihm hätte nach der Vorführung der Kopf geschwirrt, vom Champagner auf den 32

fast leeren Magen, von den Bildern und Meinungen. Aber wir sehen ihn. Er wechselt einige Worte mit Ruttmann, ohne ihm den Brief in der Tasche zu zeigen. Zu Krac, der gerade ohne zu stottern auf Fräulein Reiniger einredet, sagt er nichts. Beim Rückweg zum Redaktionsgebäude pfeift ein kalter Wind. Es ist noch zu früh für die Dämmerung. Aber im Gebäude sind alle Lichter an. Versonnen überquert er die Eschenheimer Gasse, belebt wie immer, verschwindet unter den Steinreliefs, Gutenberg und Thomasius, schleicht durch die hohe Halle, will nicht angehalten werden. Er würde sich konzentrieren müssen auf den Artikel. Doch aus dem Haupteingang zu den Redaktionen kommt der alte Feidner, der Metteur, der beste Setzer der Stadt, sagt der Chef, ein Meister des schnellen Kürzens, manche Redakteure vermeiden es, das Wichtigste ans Ende zu stellen, woran man eine Stunde geschrieben hat, streicht er mit einer Bewegung weg. Wie wars? Schaffen Sies fürs erste Morgenblatt? Sie haben noch eine Viertelstunde! Diebold klopft auf seine Tasche, die Kladde drin. Aufzeichnungen aus den letzten Wochen, Stichworte zur Einleitung in das Buch der guten Werke. Die Seite unter dem Datum des Tages, 1. April 1921, leer. Im zweiten Stock versucht er sich im Flur unsichtbar zu machen. Der Chef ist in einer Besprechung. Aber Fräulein Dr. Tegthoff hat ihn schon gerochen. Hellrötliche Haare, widerborstig, etwas stumpf, dunkelblaues Kleid, grellgrünes Halstuch, rosa Strümpfe. Eine schräge Schönheit, Stupsnase, blasser Teint, manchmal recht verkopft. Kunstgeschichte, auch zwei Semester Philosophie, bei Simmel in Berlin. Da war Krac auch, ein paar Jahre vorher, hörte die Vorlesung über das Problem des künstlerischen Stils. Schrieb dem Meister nach Straßburg, schickte Manuskripte, bekam manchmal Antwort, traf ihn in Frankfurt, erkor 33

ihn zu seinem Lebensberater. Dann stirbt er, mit gerade mal 60. Krac verfasst eine Monografie, bewundert das Eindringen ins Weltmannigfaltige, in die Lebenstotalität, jedes Einzelphänomen kann auf andere Zusammenhänge und Ereignisse führen. Gerne würde er sich darüber mit Fräulein Dr. Tegthoff unterhalten, doch sie macht seiner Zunge Angst. Sie ist Relativistin. Den Expressionismus hält sie für überholt, die Sehnsucht nach dem Absoluten. Kubismus, eher der Zeit angemessen, zersplittert, fragmentiert. Sie weiß, Diebold ist geschieden, aber viel beschäftigt. Er schreibt Bücher und hängt an seinen Söhnen. Aus den Büros dringt eifriges Klappern. Welche Farbe hatte der Film? Gab es nur rechteckige oder auch runde Formen? Sie will ihn necken. Werden Sie viele Hauptwörter verwenden? Unvollständige Sätze? Ausrufezeichen? Ein Kaffee? Den kann er brauchen. Sie hält immer eine Kanne voll bereit. Endlich allein im Büro. Ein schwerer dunkler Schreibtisch, die Auflage von Papieren übersät, Aktenschränke, ein Sessel, etwas gequetscht, an der Wand hängt ein Stich des alten Zürich. Den Weg zum Fenster muss man sich zwischen Bücher- und Manuskriptstapeln bahnen. Blick auf den Hof, wo gerade die Packer die Abendausgabe einladen, die Katharinenkirche sieht man nicht, hört keine Orgeltöne. Oder doch, hört sie im Kopf wie wir. Ein Stück aus der Matthäuspassion. Da können einem Bilder in den Sinn kommen. Aus der Wüste quillt ein Quell. Halbwilde Beduinen schenken verschmachtenden Gefangenen ein paar Säcke Datteln. Ein Rabbiner hält dem sterbenden Gegner stundenlang das Kreuz Christi vor die erlöschenden Augen. Für einen Schluck aus der Feldflasche küsst ein verwundeter Russe seinem Feind dreimal die Hand und macht ein Kreuz darüber, weil er sie segnen will mit dem heiligsten Zeichen, das er kennt. Lichtsignale, 34

gleichmäßig aufblitzend, bis allmählich in der Dämmerung die Farben blasser werden. Stumm steht der junge Fischinger in der Tür. Will sich bedanken wegen der Vorführung. Kurz mit Ruttmann gesprochen, Aufnahmetechnik, Apparatur. Vielleicht später noch einmal im Groß-Frankfurt. Diebold käme auch dazu? Der will erst mal wissen, wie es gefallen hat. Die technischen Probleme, gut gelöst. Das Schwarz des Hintergrunds, zwar kein tiefes, doch dunkel genug. Die Farbwerte einigermaßen konstant. Die Bewegungen recht kontinuierlich. Die abwechselnden Kreise, Halbkreise, Zacken. Bringen einen auf Ideen. Farbige Flüssigkeiten und Öle, kombiniert mit Wachs, überhaupt Wachs, lässt sich formen, schneiden, würde man ein Messer mit der Blende einer Filmkamera koppeln, ähnlich der Schinkenschneidemaschine, erhielte man Scheiben als Einzelbilder, die zusammenmontiert durch den Projektor laufen könnten. Anwendung auf die Literatur. Zum Beispiel Shakespeare. Die Figuren einer Tragödie, Komödie. Was ihr wollt. Dreiecke, Rechtecke, Kreise, bewegen sich, verschieben sich. Fischinger wird, das wissen wir, im Herbst an der Volkshochschule einen Shakespearevortrag halten, für den er Ornamente und Diagramme auf Folien zeichnet und als Lichtbilder projiziert. Wir denken auch an die Abenteuer und Irrfahrten des Odysseus. Archaische Formen neben komplexeren, hin- und hergeworfen auf einem meeresartigen Grund. Schöne Veranschaulichung, vielleicht ein wenig kunstgewerblich. Diebold. Er kennt Fischinger aus der Vereinigung von Freunden der Literatur. Vertröstet ihn auf den späteren Abend. Macht immer noch keine Notizen, ruft nicht die 35

Stenotypistin, klemmt sich nicht hinter das Maschinchen. Hat immer noch den Mantel an. Also wieder raus. Diesmal hinten, über den Hof, an den Setzersälen vorbei, durch den Ausgang Schillerstraße. Vom Schwan hält er sich fern, er geht auf der anderen Seite über den Rathenauplatz, in die Goethestraße. Vielleicht Konditorei Schrade, ein Grappa und ein Stück Kuchen, da hat er schon manche Seite geschrieben. Jetzt aber sitzen da die, die sonst keinen gemeinsamen Ort haben. Ein älterer Mann mit wirrem Haar, den Diebold auch schon in der Zeitung gesehen hat, mit einem jungen verhuschten Mädchen, das an seinen Lippen hängt. Der Großindustrielle Schneckenburg mit seiner Dauerflamme, Lotte oder Käte, Tänzerin, jetzt Gymnastiklehrerin. Die Linie 2 kommt. Warum nicht ein Kurzbesuch zu Hause, ein paar Haltestellen, die Myliusstraße hinter, kleiner Abstecher zum Palmengarten, nein, der ist schon geschlossen. In der Nr.$55 im dritten Stock springt ihm Toller entgegen, der Familienterrier, grauweiß gefleckt, mit Tönen von Blau. Er hat feine Sinne. Wenn Krac da war, dessen Hose wie der Teppich riecht, duckt er sich weg unter den ungeschickten Händen. Die beiden Buben, verschwitzt vom Spielen, sie müssen noch gebadet werden. Er lässt mit dem Kleinen ein Segelschiffchen auf einer Insel stranden, wo grässliche Menschenfresser lauern. Schildert bei der Suppe kurz seine Eindrücke vom Kino. Dann Gutenachtgeschichte, von Odysseus und Kirke, die Kinder lieben die Szene mit den sich wälzenden Schweinen.  – Nein. Niemand wäre da. Er würde im Treppenhaus Pfarrer Beyschlag treffen, der nach Gabrielle fragen würde. So schade, so eine zarte Person, warum nur, muss man sich gleich scheiden lassen, eigenwillig die Frauen heute, ohne Sinn für Beständigkeit, ob er jetzt gut zurechtkomme, wie 36

der neue Untermieter, Herr Kade, sich mache, man sehe ihn ja selten, viel auf Geschäftsreisen wohl. Er würde sich zusammenreißen müssen. Floskeln finden. Gabrielle mit den Buben in München, dort gibt es jetzt tolle Séancen. Der letzte Brief ist schon Wochen her. Kürzlich kam eine kolorierte Postkarte mit Lithografie des Nationaltheaters, beste Grüße aus der Stadt der Kultur. Jemand klopft ihm auf die Schulter. Krac. Hatte die gleiche Idee. Konditorei. Kuchen. Dann können sie jetzt auch ein paar Schritte zusammen gehen, sich austauschen, wie sie es angefangen hatten an den Sonntagen der letzten Monate. Ahnengänge nannten sie es. Krac erzählte, wenn sie über den Domplatz, den Garküchenplatz zum Weckmarkt kamen, vom alten jüdischen Viertel, sein gelehrter Onkel Isidor hatte es rekonstruiert. Hier die alte Friedhofsmauer, das Rathaus, der Fraßkeller, das Haus des Priesters Sutor. Diebold erfuhr die Stadt mit dem Führer in der Hand, Städtebilder und Landschaften, gedruckt 1885 in Zürich, aus der Bibliothek seines Vaters. Vom Jüdischen war hier kaum die Rede, aber sorgsam verzeichnet alles, was mit Goethe zu tun hat. Das Haus seiner Geburt, gegenüber das Ochsenstein’sche, den Leserinnen von Dichtung und Wahrheit vertraut, das Schönemann’sche, wo Goethes Braut Lili wohnte. Schwanthalers Denkmal bei der französisch-reformierten Kirche, die Elisabethenschule, nach Goethes Mutter genannt, Haus und Garten des aus Goethes Jugendgeschichte bekannten Herrn von Reineck. Im Moment interessiert natürlich anderes. Ha-ha-haben wir jetzt d-d-das Ende des Expressionismus erlebt? Seine Vollendung? 37

Ich denke eher ein Anfang. Der Expressionismus wollte beim Element beginnen, beim Urerlebnis, beim wahren Ich, Sturm und Drang, keine Erinnerungsbilder, Assoziationen, kulturelle Gewohnheiten, wie sie dem Bildungsphilister lieb sind. Dieses Drängende ist nun schon wieder verebbt. Da-da-dafür sind wir in der Ornamentik gelandet. Ww-wozu taugt sie? Sie kann Form-Erlebnisse übermitteln. Zu Stoffen und Themen hat sie keine Beziehung. Das ist wahr. Aber was hast du gegen das Ornament? War nicht dein frühes Tagebuch mit fantastischen Ornamenten gefüllt? Das Ornament hat etwas Befreiendes. Inhalte werden nebensächlich. Naturerscheinungen, überhaupt Naturdinge fallen als Gegenstände aus. Es gilt nur das formale Gesetz, Symmetrien, Parallelismen, Rhythmen. Aber eben: Rhythmen. Der Rhythmus ist die erlösende Formel für die ornamentale Macht des Gesetzes. Er ist der Sturmwind, der die Formen verweht, der reißende Strom, der sie zerfließen lässt. Du wirst pathetisch. I-i-ich finde es bedenklich, wie hier alles zu einem pantheistischen Symbol wird. Baumkrone, Erdscholle, Mensch, alles ist uniformierte S-s-silhouette. Die Figuren, die Bäume, sie gehorchen den Richtungsvorgaben. Wenn der anatomisch beglaubigte Körper die Biegung nicht erträgt, wird er bedenkenlos gebrochen, der ornamentalen Bewegung geopfert, dem Rhythmus gleichförmiger Farbflecken unterworfen. Sie waren über den Rossmarkt am Gutenbergdenkmal vorbei zur Manskopf’schen Uhr gelangt und dort stehengeblieben. Die vier Kugellampen leuchteten, der Friedensengel blickte Richtung Bahnhof. Die Reklamen in der Kaiserstraße strahlten. Krac blieb gerne stehen, wenn ihm etwas Bedeutendes einfiel. 38

F-f-für mich ist da-da-das alles ein maßlos übertriebenes Geltendmachen an und für sich berechtigter Forderungen, mehr Schrei nach Tat und Kunst als wirkliche Tat und Kunst. Du vermisst das architektonische Gesetz, die Logik, die zwischen den heiligen Dreiecken und den magischen Ellipsen herrscht. Aber du vergisst, was das Wesentliche ist: Die Starrheit der Malerei wird aufgebrochen. Alles fließt. Die Bilder sind nicht nur fotografische Augenblicksposen eines laufenden Rennpferds oder eines Spaziergängers. Sie werden Teil einer nie ruhenden, einer absoluten Bewegung. Und weiter? Willst du sagen, der Expressionismus diene nur dazu, nicht das alte Indien, sondern ein neues Amerika zu entdecken? Stellen wir uns die Zukunft des Kinos vor. Vor einigen Jahren noch gab es hier in der Kaiserstraße das Panoptikum. Da konnte man die Welt vor seinen Augen vorbeiziehen lassen oder in Wachsnachbildung bewundern. Dürftig geschürzte Wilde mit Nasenpflock aus Amazonien, dick vermummte Eskimos, bayerische Trachten, der Kaiser mit Schnurrbart. Auch Vorführungen lebendiger Menschen fanden statt. Wie weit scheint uns das her, wenn wir sehen, was das Kino heute leistet. Aber viel ist noch nicht erreicht. Der eigentliche Film muss erst noch kommen. Einer, der nicht allein die Millionenmasse des vierten Standes anspricht. Ein wahrhaftes Kunstinstitut, das dem aristokratischen Ästhetizismus besser trotzt als das Theater. Ein genialer Kinarch, der unabhängig vom unverlässlichen Material menschlicher Schauspieler in seinem Maschinistenhäuschen das Tempo dieses unendlichen Mediums beherrscht. Ruttmann, der Kinarch? 39

Der Richard Wagner der Licht-Ton-Sinfonie ist er vielleicht nicht. Auf ihren Schöpfer warten wir noch. Vielleicht wird er aus dem Tanz kommen, oder aus der Naturforschung. Denke an die Bewegungen der Vögel, der Schwärme, an den Fall der Schneeflocken, langsam, in Zeitlupe, ihre Kristallstruktur, Rhomben, Ikosaeder, geht über in ein Skelett, das in eine Frau, sie beginnt zu tanzen, wird durchscheinend. Sie waren wieder stehengeblieben, neben dem Schuhmanntheater. Gegenüber der Hauptbahnhof. Krac liebte, das wissen wir, Bahnhöfe. Schon als Kind konnte er stundenlang die Reisenden betrachten, die vereinzelt eintrafen und in Schwärmen hinausströmten. Er konnte in den Tafeln der An- und Abfahrtszeiten versinken, sich von der Menschenmasse mitzerren lassen und in Erregung geraten, wenn plötzlich das runde Licht an der Glasschürze erstrahlte. Er träumte von einer Serie, die er für das Feuilleton schreiben würde, angefangen mit dem Untergrund, den Kellern, bis hinauf zu den Dachkonstruktionen, dann die Umgebung, der Dunstkreis, die Lokale und Spelunken, Nackttanz, Halbwelt, Prostitution. B-b-bist du zufrieden, dass das Lichtspiel die Ideen verwirklicht, die du im Feuilleton propagiert hast? Das Feuilleton ist heute eine wichtige Waffe. Es muss nicht nur ein neues Aussehen gewinnen, es muss auch eine neue Stellung im Geistesleben einnehmen. Die Zeitung löst das Buch ab, und in der Zeitung löst das Feuilleton den Leitartikel ab. Der Leitartikel ist die Grundlage, das Feuilleton ertastet das Umfeld. Der Leitartikel gibt dem Pathos der Rede die Geste, das Feuilleton wird das Stenogramm ihres Gehalts. 40

Ich stelle mir vor: Der Leitartikel ist das Signal und die Attacke, das Feuilleton die Bewegung aller Linientruppen, wie sie die Gegenwart ins Feld wirft. Aber ist der normale Redakteur dafür geschult? Muss er nicht Frontkämpfer und Daheimgebliebener sein, besonders nachdenklich und beständig auf dem Quivive? Muss er nicht eine ungeheure Lebenswachheit haben, die wie die Biene ausfliegt, aus allen Kelchen saugt und die Kelche auch zu wählen versteht? Ja, das Entfernteste darf nicht zu weit sein. Außerdem muss er schnell sein. Das Große Feuilleton ist zu träge. Das Kleine muss das Flüchtige aufgreifen, das Eilende festhalten. Es ist der Schrittzähler im Wettlauf der Geschehnisse, der Pegel für den Wellenhochstand des Kulturstromes. Es prüft die Peilung, bewertet die Fahrzeuge, avisiert die Vorräte. Aber nur das Große Feuilleton kann ein Mosaikbild des weitverzweigten, vereinzelten Lebens geben. Es kann das Gewesene kommentieren, das Kommende ankündigen, das Seiende stempeln, die Glieder aneinanderschmieden. Dazu bedarf es der Kunst des geübten Schmieds und seines prüfenden Auges. Mag sein. Das Kleine Feuilleton aber ist die Münze, die von Hand zu Hand geht und sich zu den schwereren Werten ansammelt, die unser dauerndes Vermögen ausmachen. Der Wert der kleinen Münze unterliegt nicht minder der Prägung und Prüfung wie der der großen. Und darin besteht die eigentliche Arbeit und Kunst des Redakteurs. Er muss das Wesentliche, das Wertvolle, das Aktuelle und Wichtige, das Interessante und Unterhaltende aus dem täglich einlaufenden Material herausgreifen. Er muss pointieren und informieren, belehren und bewegen. 41

Aber wer ist es, der die festen Linien zieht, die Grenzen steckt, die Zusammenhänge aufzeigt? Die Raschheit der Information macht jede Vorbereitung, jede gründliche Recherche unmöglich. Jeder Tiefgang wird fehlen. Deine Bedenken sind mir vertraut. Dennoch müssen wir auf die Entwickelung der Zeit reagieren. Die Leser verlangen kürzeste Kürze. Drei Zeilen können von einschneidender Wichtigkeit sein. Der letzte Augenblick legt eine Information auf den Redaktionstisch, die das Bild verändert, den Verhältnissen eine neue Beleuchtung gibt. Stell dir tausend Angeln vor, an denen dauernd neu die lebendige Speise aus der gleitenden Flut emporgezogen wird. Ja, ich erlebe, wie die beweglichen Truppen des Redakteurs in einer beständigen Spannung stehen, bis zur letzten Stunde, wenn der Setzer ihm das Blatt aus der Hand nimmt. Aber die Herausforderung, die sich daraus ergibt, ist doch, die grundsätzlicheren und bestimmenderen Zeichen der Zeit aus der Vielfalt herauszulesen. Es war nicht mehr früh am Abend, als die beiden Redakteure von der Taunusanlage auf den Opernplatz einbogen. Dort trat ihnen ein Unbekannter in den Weg. Vielleicht hätten sie seine schlecht geknöpfte Weste und die abgewetzten Rockschöße bemerken können. Vielleicht waren sie zu vertieft. Er entschuldigte sich für die Störung des Gesprächs und bat um Hilfe. Verworrene Erläuterungen, er müsse, habe, wisse nicht. Zieht ein Blatt aus der Tasche, das er umständlich auffaltet und vor ihren Augen schwenkt. Eine Karte. Eine Skizze. Ein Schatzplan, von Kinderhand gezeichnet, mit Dreiecken, Kreisen und Pfeilen. Während sie noch die Zeichen studieren, hat der Fremde schon Diebold die unter den Arm geklemmte Aktentasche entrissen. 42

Ein paar schnelle Schritte, und er ist unter den vielen, die gerade in die Oper strömen, verschwunden. Diebold will hinterher, kommt nicht weit. Ha-ha-halt. St-st-st-stehenbleiben. Krac hält nach einem Polizisten Ausschau. Auf die Wache. Unangenehme Vorstellung. Ein kaum des Hochdeutschen mächtiger Beamter würde auf zwei Fingern halbstundenlang das Protokoll tippen, das durchzusehen und zu verbessern wäre, die Abfassung des Artikels würde in weite Ferne rücken. Ohnehin ginge es zuvorderst um die Tasche selbst, eines der letzten Stücke, die Diebold von seinem Vater besaß. Der Inhalt war, scheint uns, unbedeutend. Die zweite Morgenausgabe der Zeitung. Die Kladde mit den paar alten Notizen, am wertvollsten vielleicht die Notizen zur Einleitung in das Buch der guten Werke, zu den Handlungen des Alltags, dem Trunk aus der Feldflasche, der Bergung im Geschützhagel, der letzten Zigarette im gemeinsamen Granatloch. Die erste Nummer der Schweizer Monatshefte für Politik und Kultur, die aber nicht viel zur Kultur enthielten. Eine Dürer’sche Selbstdarstellung, kopiert von Diebolds größerem Sohn. Geheime Unterlagen, Depeschen, Bankpapiere, die die Börse entscheidend hätten beeinflussen können, nein. Den Brief hatte Diebold in seiner Manteltasche. Was der Unbekannte wollte, wissen wir nicht, vielleicht trieb ihn ein antibürgerlicher Affekt, vielleicht war er beauftragt von jemandem, der die Besprechung der Filmvorführung verhindern wollte. Höhere Mächte. Lassen unsere Redakteure, mittlerweile tatsächlich schwach auf den Beinen, im nahe gelegenen Groß-Frankfurt Zuflucht suchen. Unter dem antikisierenden Portikus steht 43

ein Mann mit grauem Jackett und Baskenmütze auf fülligem gewelltem Haar. Weißes Hemd, Binder, Stock über dem Unterarm, feine Handschuhe, ausgezogen. Ish hæb beobaktet de Vorfæl. Er is gerannt this way. Der Stock deutet in Richtung Katherinenkirche. Aber sie sind zu müde. Bedanken sich bei dem Herrn, der den Dieb recht genau zu beschreiben weiß. Er will einen Drink spendieren. Gestatten, Scheffauer. Irgendwo hat Diebold den Namen schon mal gehört. Amerikaner aus Kalifornien, der in Berlin lebt als Schriftsteller und Journalist. Gewissermaßen ein Kollege. Sie ignorieren das Überbrettl, die Toni-Impekoven-Plakate, und gehen ins Zillertal, mehrgeschossig, weißblaue Bänke, Marterkreuz, Ruinenromantik vor imposantem Alpenpanorama. Scheffauer staunt, Bayern kennt er ein wenig, auf seiner Europareise kam er nach Nürnberg, nach München, bewunderte die Kirchen, die sinnlich schönen Madonnen, die versenkten Mauern ums Nymphenburger Schloss. Randvoll und verraucht ist es im Zillertal, es wird wegen Umbaus bald geschlossen. Du isst doch Schwein, Krac, oder? Na, trinken wir einfach ein Löwenbräu oder einen Schnaps. Sie quetschen sich auf eine Bank. Bestellen. Werden gleich einbezogen in ein nicht sehr bayerisches Umfeld. Unne, unne, obbe, obbe, unne, obbe, Schobbe klobbe, um de Kopp, an de Kopp, in de Kopp. Ist es Zufall? Scheffauer wollte die Filmaufführung sehen, aber der Zug aus Berlin kam zu spät. Fliegen müsste man können. Zumindest mit dem Zeppelin. Scheffauer, das wissen wir, hat mal in London gelebt, in einem schönen, gar nicht englischen Haus mit toller Aussicht. Er wurde als deutscher Spion 44

tigt, der den Zeppelins Signale gegeben hätte. Jetzt hofft er, wenigstens Ruttmann zu treffen. Und wie finden Sie das hier? Sæhrr aindrrucksvoll. Like another world. Aber nix im Verglaich zu Börlin. Das Grrand Gala. Uuexelnde Bilder wie im Theaterr. Lounges. Bars. Smoking rooms. Reading rooms. Grill rooms. Ain Masquenfest. Grrasdicke Teppiche. Es rriecht uuie an derr Riviera. Oderr derr Palais de Danse. Shuuæres Parfum. Barroque Architektur. Marmor uberɔːll. In jedem Raum andrre Rhythmen. Es gefällt Ihnen also in Berlin? Ja, grɔːßartig. Aine Stadt, die shlæft nie. Paris is outworn. London puritanish. New York nach Mitterrnakt desolated, nurr die electric lights leben, die Mashine triumphiert uber den Menshen. Börlin ist æbsolut epikuræish. Næktelang hæb ish erkundigt die Stadt, jetzt ist dæs zuænd, we’ve got a little daughter. Ersparen wir uns ein Stück der Konversation. Es geht um Architektur, moderne, dynamische, aktivistische. Flachbauten, Turmbauten, neues Sehen, neues Wohnen. Vergleiche Frankfurt/Berlin. Aber da kommt. Ja, wir sind Meister des Zufalls. Kommt Fischinger ins Zillertal. Nicht mit Ruttmann? Das Treffen war kurz und enttäuschend. Der Maler hatte wenig Zeit, Verpflichtungen, Frankfurt seine Heimatstadt, eine Verabredung noch am Abend, aber Einladung nach München, seine patentierten Apparate anzuschauen, vielleicht einen abzukaufen. Die Verabredung? Ja, mit Fräulein Reiniger in der Tanzdiele, auch im Groß-Frankfurt. Einen flotten Foxtrott haben sie hingelegt, ziemlich raumgreifend, Champagner, zum zweiten Mal an diesem Tag, blitzende graue Augen, und während 45

Ruttmanns Hände beschreiben, wo die Kamera über den Glasplatten montiert ist, müssen sie immer mal kurz auf den ihren rasten. Auch eine freche Haarsträhne ist der jungen Frau aus der Stirn zu streichen. Mehr wissen wir nicht, und schon das eigentlich nicht. Es ist dunkel in der Tanzdiele. Aber man kommt nicht heran. Wir mussten wieder recherchieren. Stießen auf einen alten Schausteller, Schaustellkünstler, verschroben, liebenswert, sammelt Stücke aus der Frühzeit des Kinematografen. Ein Apparat für Doppelprojektionen. Den pflegt er anhand zweier kurzer Streifen zu demonstrieren, die von Herrn Ruttmann und Fräulein, pardon Frau Reiniger stammen sollen. Zur Musik eines automatischen Klaviers flimmern links bewegliche, aus Pappe geschnittene Figuren, von unten beleuchtet, rechts gemalte Bilder, tausendfach hergestellt, von oben angestrahlt. Zwei graziöse Ornamente, Mann und Frau, tanzen in einem Kranz von Trompetenblumen. Schatten wie pulsierende Topfhelme füllen die Leinwand. Die Tänzer turteln. Ein Streit bricht aus. Es entsteht ein Lichtfleck, breitet sich aus, wird zur Taube. Die Frau entschwebt, der Mann tötet sich mit einem Messer, sie kehrt wieder und holt ihn ins Leben zurück. Der hellen Taube gegenüber schwarze Raubvögel, die auf die Taube einhacken. Hilft uns das? Wir können sicher sein: Es gab manches zu bereden in der Tanzdiele. Waren die Silhouetten nicht praktischer, leichter zu verschieben? Aber wenn man Weißes zeigen will, die Taube aus Licht? Und welches Verfahren rentiert eher? Im Übrigen lässt sich auch aus schönen Wimpern eine Ästhetik machen und zwischen Parkett und Orientteppich eine Lebensgeschichte erzählen, von Erfrierungen in Russland, Warten auf Kämpfe, die nicht kommen, Nervenzerrüttung. Russland in Bildern, sel46

ber gemalten, teilweise verloren. Reiter, schemenhaft, die sich über die Ebene bewegen, Bewegung, die sich in den Wolken fortsetzt. Reiter, vier an der Zahl, vor einer orthodoxen Kirche, sie haben die Pferde angehalten, verharren. Diagonalkomposition mit bogenförmigem, kreisähnlichem Aufbau. Ein Ritter bedroht mit einem langen Schwert eine kauernde nackte Frau. Krieg. Drei Köpfe, melancholisch-sinnierend, und ein apokalyptischer Reiter. Denken. Ein Barackenlager, zerrissene Wäsche, teils blutrot, zwischen Baum und Zaun. Birken, karg mit erstem Grün, dazwischen ein Mann mit Stock, er scheint sich voranzutasten zwischen den Bäumen. Ein schwer Grippekranker wird von seiner jungen Frau besucht, die dann ein totes Kind zur Welt bringt und selber am Blutverlust stirbt. Das ist kein Bild. Das ist Erlebnis. Dafür fehlen dem Maler die Farben und die Worte. Die Zärtlichkeiten verkümmern. Aber man will zusammenarbeiten. Ein halbes Jahr später werden Ruttmann und Reiniger heiraten, nicht einander. Wir schweifen ab. Die Luft im Zillertal ist zum Schneiden. Einen Artikel schreibt man hier nicht. Der Schnaps löst nur die Zungen. Scheffauer kommt auf Kalifornien. Seine Anfänge. Theaterinszenierungen im Wald. Halbnackte oder verkleidete Poeten. Erster Erfolg. Der Sitznachbar, Karl, erzählt vom Krieg. Wir kennen die Geschichte. Vorher Hausknecht in einer kleinen Lebensmittelhandlung, fleißig, ehrlich, etwas beschränkt und verschlossen, gewissen- und schrullenhaft, menschenscheu durch eine trübe Jugend. Dann Sturmartillerie. Im sengenden Sonnenlicht eines Sommermittags werfen die italienischen Granaten Fontänen von Steinen, Erde und Mörtel in die bleidunstige Luft. Sie wühlen im Schutt und in den Eingeweiden der 47

weißgetünchten Häuser. Brei von Trümmerwerk, Dreckhaufen, die Leute verstreut und versprengt im Chaos platzender Granaten und tanzender Mauerstücke. Karl, brav und ruhig, kein aufjauchzender Held mit glühenden Augen, ist in ein Kellerloch gekrochen, abgerutscht, verliert die Kompagnie aus dem Auge. Wartet. Minuten, Viertelstunden. Das Artilleriefeuer ebbt ab. Er wagt sich aus dem Loch hervor, hat jeden Richtungssinn verloren, setzt sich auf einen Stein im Schatten einer zerschossenen Hauswand und überlegt. Die Sonne sengt, ein paar Insekten summen durch die Backofenluft, ein abgerissenes Wimmern ertönt aus dem Schutt. Ein schwerverletzter Italiener, entsetzliches Gesicht, die dreck- und blutverkrustete Haut überspannt zwei spitze Backenknochen, die Oberlider decken die Augen bis auf einen Strich Weiß, die Lippen beben vorgewölbt. Karl scharrt ihn aus, klotzige Masse aus Stofffetzen, Fleischklumpen, Blutkrusten und Mörtelstaub, trägt ihn über die Trümmerhaufen, feinlinige Blutspuren im Geröll, findet eine Schubkarre. Schutt, Steine, Holz blockieren den Weg. Der Schweiß rinnt den Körper hinab. Die krepierenden Schrapnells trommeln. Kraaach! Wie von einem furchtbaren Faustschlag gehoben, fliegt er in weitem Bogen über die Karre in den Schutt. Schiebt weiter, sieht das freie Feld, einen schmalen Feldweg zwischen den Hügeln. Hinter einem Erdwall Gewehre, Stahlhelme, undeutliches Rufen und Schreien. Einige torkelnde Sprünge, dann nehmen die Italiener den Widerstrebenden in die Mitte. Man reicht ihm zu essen und zu trinken, Zigaretten, Wermut. Wildes Evviva-Geschrei. Ein Schriftstück, Begleitbrief wird ausgestellt. Karl trägt ihn noch immer mit sich. Schade. Diebold hat nichts mehr, um sich Notizen zu machen. Soll er zurück in die Redaktion? Oder Ruttmann 48

suchen? Der wartet schon zu Scheffauers Freude vor dem Zillertal. Er hat Neuigkeiten. Eine Überraschung. Er lotst sie ins Lichtblick, in einen Hinterraum, schwach beleuchtet. An einem runden Tisch steht ein Mann mit langem Haar und wallendem Bart. Er ähnelt dem Erfolgsschriftsteller D., der kürzlich in Zinglers Kabinett auftrat. Es ist aber ein Jesusjünger, Wandervogel, moderner Prophet, seine glänzenden Augen sind im Halbdunkel nur zu ahnen. Ruttmann stellt ihn als den berühmten Friedrich Gänsewein vor, der sich auch Franz Lullus, Pilger Ruth oder Servus absolutus nennt. Man munkelt, er sei auf dem Berg der Wahrheit gewesen, bei den Kohlrabiaposteln, den Erleuchteten, den Nackten, den Torfmullklosettkackern. Er habe über Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit philosophiert und sich durchfüttern lassen, solange die Gutmütigkeit der noblen Wilden reichte. Jetzt zieht er seit Kriegsende durch die Lande, von einigen Frauen und einer wachsenden Kinderschar begleitet, manchmal von den Behörden vertrieben. Er schläft nackt auf Laub und Zweigen, predigt das Vegetariertum, das Gesetz des Dienens und den Widerstand gegen die Bau- und Tabakindustrie. Selber scheint er am Handel mit Kriegsanleihen kräftig verdient zu haben. Auch seine in kleinen Heften ausgegebenen Gedichte finanzieren mehr als das Essen in der Volksküche. In Frankfurt soll er für eine Vortragsreihe im Englischen Hof übernachtet haben. Mit ausholender Geste weist er Ruttmann und seinen Freunden den Platz am Tisch zu. Er spricht leise erst, dann bestimmter. ich wil – o! du mein wille! – du – in mir du heiliger – ich wil – ein großes und ein starkes und gewaltiges – ein sauberes – stolzes – künes – ein werk – wil ich – o! du mein wille! – du – folbringen – dise nacht! 49

Vor ihm auf dem Tisch steht eine Apparatur. Ein menschlicher Schädel, vermutlich echt, über ihm in einem Metallgestänge ein Trichter, aus dessen Spitze ein Stift hervorschaut, wohl in einer Membran befestigt, eine primitive Form des Fonografen, hier aber verkoppelt mit einem zweiten Trichter, den der Prophet mit der Spitze an sein Ohr hält, während seine Rechte den Schädel umfasst. wisst – ich habe di zeiten – ich di zeit – ich habe si durchquert  – nachts nachts  – fliderduft im garten  – stig ich hinab  – hinab zu den rauschenden wassern  – den kristallenen jungfern – blib monate – und als ich – ich – wider emportauchte – klang mir noch – o! meinem or – di flöte – und der mond – spilte mit zwei weißen pudeln – ein knabe – schrib – in ein pergamentenes buch – schrib mir – zeichen – grichische und hebräische – buchstaben – mir – aus denen drachen flogen – farbige schlangen – sich bäumten – er – hörte – mich nicht. Ruttmann erklärt die Regeln. Es handle sich um einen interpersonalen Akkustiferenzapparat. Man könne mit ihm und mit Hilfe des Mediums ferne, auch vergangene Töne und Geräusche im Hier und Jetzt hörbar machen. Jeder dürfe dem Apparat eine Frage stellen, laut und deutlich in den einen Trichter gesprochen. Es dürfe sich aber um keine Fragen, die Zukunft betreffend, handeln. Ein paar Augenblicke herrscht Stille, wie nachmittags bei der Vorführung. Dann geht Ruttmann selbst zum Apparat, stellt sich neben den Propheten, neigt sich zu seinem Ohr, als wollte er ihm wie der Heilige Geist eine Botschaft eingeben. 50

Was sagte meine Frau zu mir, als ich todkrank im Spital lag? Gänsewein alias Lullus legt den einen Trichter beiseite, bewegt den anderen tastend über den Schädel. Es kracht und scharrt. Ein dünnes Glasfenster scheppert im Metall. Dann eine Frauenstimme, leise, teilweise undeutlich, vielleicht unter Tränen. Die Erde blutet. Sterne fallen. Brausen. Wirbeln. Nebel. Weinen. Ferne. Deinen Blick. Ruttmann macht Diebold ein Zeichen. Wir nehmen an, er denkt jetzt an andere Séancen, über die er gern mehr wüsste, in München zum Beispiel. Doch er fragt: Was waren Goethes letzte Worte? Wieder die gleiche Prozedur. Geräusch von raschelnden Kleidern. Glas auf Holz. Undeutliche Laute. Silben mit i oder o. Stimmen in einem anderen Raum. Stille. Wie starb Rosa Luxemburg? Reiniger. Bremsgeräusch. Türenschlagen. Rascheln. Eine leicht schnarrende, höfliche Stimme: Bitte geradeaus in den Wagen. Etwas Dumpfes, mehrfach. Eine andere, jüngere Stimme: Hör auf, es ist genug. Schleifende, wieder dumpfe Geräusche. Eine Autotür schlägt zu. Der Wagen fährt an, entfernt sich. Schon sehr gedämpft: ein Knall, Auspuff oder Schuss. Die Augenbrauen des Amerikaners zucken. Ruttmann zögert. Nickt dann. Uuie klinkt das Uueltrætsel? Das ist nicht ernst gemeint. Der Prophet wird sich 51

äppelt fühlen. Man hört nichts. Nichts. Weiter nichts. Oder doch. Ein Ton. Ist es ein Ton? Eine Frequenz, auf der Grenze des Wahrnehmbaren. Etwas, innen, im Raum, im All, in ihren Köpfen. Eine Spannung, die sie verbindet. Tausend Schmetterlinge auf einer Linie, wie mit der Schnur gezogen. Glas zerspringt keines. Wie begann Georg Simmel seine Vorlesung über das Problem des künstlerischen Stils? Krac. Ein Scharren. Knarzen. Räuspern. Dann unvermittelt mit musikalischem Timbre: Es ist lange ausgesprochen, dass das praktische Dasein der Menschheit in dem Kampf zwischen der Individualität und der Allgemeinheit aufgeht, dass fast an jedem Punkt unserer Existenz der Gehorsam gegen ein für alle gültiges Gesetz  – äußerlicher oder innerlicher Art  – in den Konflikt mit ihrer Bestimmtheit rein von innen heraustritt, mit der nur dem eigenen Lebenssinne gehorsamen Selbständigkeit der Person. Aber es dürfte paradox erscheinen, dass in diesen Kollisionen der politischen, wirtschaftlichen, sittlichen Gebiete sich nur eine viel allgemeinere Gegensatzform ausgestaltet, die nicht weniger das Wesen des künstlerischen Stiles auf seinen fundamentalen Ausdruck zu bringen gestattet. Ich beginne mit einer ganz einfachen kunstpsychologischen Erfahrung. Wie wird in 20 Jahren ein absoluter Film klingen? Der junge Mann mit dem Borsalino, nennen wir ihn Schamoni. Die Frage ist nicht erlaubt. Entrüstete Blicke. Ruttmann stützt die Hände auf den Tisch, als wollte er aufstehen. Alle starren auf den Propheten. Sein Mund öffnet sich langsam 52

wie in einem Film, der mit 16 Bildern in der Sekunde abgespielt wird. Die Lippen formen Laute. Doch niemand hört etwas. Die Lider beginnen zu blinzeln. Da kommt ein Ton aus dem Trichter. Ein hohes Fagott, zu dem sich nach und nach andere Holz- und Blechbläser gesellen. Das Klanggeschehen steigert sich, reißt plötzlich ab. Das Fagott setzt wieder ein. Seine Laute schweben, einen Halbton nach unten transponiert, in der Leere, werden absorbiert von hämmernden Streichern, heftigem Blech. Knalle wie Explosionen. Zerreißende Materie. Splittern. Metall auf Metall. Rauschen. Rauschen. Dem Medium, dem Propheten stehen Schweißperlen auf der Stirn. Man weiß nicht, wird er gleich zusammenbrechen oder zu schreien beginnen. Niemand aus der Gruppe wagt etwas zu sagen. Erschöpft, zaghaft. Dabei können wir uns denken. Fischinger. Würde gern der Sache auf den Grund gehen. Diebold. Bereut seine Frage. In Krac arbeitet es. Hat nicht Simmel den Hinweis auf die äußerliche oder innerliche Art des Gesetzes erst im Druck hinzugefügt? Liegt hier nicht ein großer Betrug vor? Ruttmann scheucht alle aus dem Raum, will im Lichtblick noch eine Runde ausgeben. Diebold aber. Er spürt seinen Magen nicht mehr, dafür seinen Kopf. Er weiß jetzt, was er in seinem Artikel schreiben wird. Er verabschiedet sich schnell. Beim Hinausgehen fällt ihm wieder ein: Scheffauer hat kritische Artikel gegen sein Land geschrieben, gegen den amerikanischen Kriegseintritt, gegen Präsident Wilson, den er als Monster bezeichnete, als Super-Tartüffe, schlimmer als alle Bösewichte bei Shakespeare oder Molière. Er wurde in Abwesenheit wegen Hochverrats angeklagt und kann nicht nach Amerika zurückkehren. 53

Auf den Straßen sind vor allem Taxen unterwegs. Diebold nimmt wieder den hinteren Eingang ins Verlagsgebäude. Fräulein Dr. Tegthoff ist nicht mehr da. Kaffee gibt es keinen. Nur der junge Bernoulli schleicht noch herum. Landsmann. Bei der Chefrunde dabei. Macht den altmodischen, steifbeinigen, leicht sächsisch redenden Herrn mit Schmetterlingskrawatte und Monokel nach. Den andern, steiler deutscher Mensch. Geht nicht, schreitet, sitzt nicht, thront, spricht nicht, verkündet. Mächtige Zaren, traurige Ritter. Wünscht Schreibglück. Diebold. Tippt direkt in die Maschine. Endlich Handfestes für unsere Archive. Zeit. Kunst der Zeit. Übertragung durch Körper und Medium, aber der Körper, wird zum Ornament, das Medium diaphan. Reines Ornament, absoluter Tanz. Feuerwerkskunst. Nicht Naturalismen der Schauspieler, der Landschaften, Pferde, Esel, Palmen. Nicht Dekorbauten. Stilwille, Bewegungsschöpfung. Unvollkommen zwar, in gewisser Weise primitiv. Aber: Die Unmöglichkeit, eine zeitliche Reihe von Vorgängen im räumlichen Nebeneinander zu bannen, überwunden. Erlösung des Raumes in der Zeit. Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aufhebung des Laokoon. Geburt des Films aus dem Geist der Musik. Der Film ist Kulturträger geworden. Den Rest können wir uns denken. Der Redakteur schreibt Kaleidoskop neben die Überschrift und Nonpareille neben den Text, wissend, am Ende würde es ohnehin eine Cicero werden. Dann bringt er die Blätter in die Setzerei. Ein junger Mann mit blauer Schürze überträgt auf den Tasten der Setzmaschine die Buchstaben in seine eigenen Töne. Matrizen lösen sich und gleiten in den Sammler. Die Felgen 54

des Fiebersterns transportieren sie ein Stück weiter. Sätze formen sich, werden umgebrochen. Derweil kommen auf den Schiffen andere Texte in den Raum, werden abgezogen, an Haken hängen lange Fahnen. Feuilleton, Sport, Lokales. Innenpolitik, Außenpolitik. Einen Moment lang fragt sich Diebold, was auf der Seite seines Artikels über dem Strich stehen wird. Dann verlässt er den Saal, tritt in den Hof. Als er seinen Mantel zuknöpft, spürt er den Brief in der Innentasche. Ein Herr Richter aus Berlin schreibt, er habe mit Unterstützung der Ufa einen gezeichneten Film hergestellt und gehört, auch in Frankfurt sei man an so etwas interessiert. Beiliegend ein mehrseitiges Typoskript, betitelt Universelle Sprache. Diebold meint schon die erste Helligkeit im Osten zu sehen.

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New York, Juli 1956 Geträumt. Eine Hand auf dem Fensterbrett. Unbewegt. Halb geöffnet. Vögel im Hintergrund. Einer setzt sich auf den Daumen. Pickt einen Kern, einen Samen. Fliegt davon. Meine Hand. – Ein Baum. Muschelförmige Öffnung. Duchamp tritt heraus. Zigarre in der Hand. Schelmischer Blick. Hose mit Bügelfalte. Flirrende Sonne hinter der Baumkrone. – Eine höfische Dame, Feenwesen, zwischen den Stämmen, vom schwarzen Ritter bedrängt. Er will. Was will er. Deutliches Wissen. Er IST das unterdrückte Begehren. Ihr ausgestreckter nackter Fuß. Er stolpert darüber. Fällt in den Sand. Erlegt. Sie rollt die Teile seiner Rüstung den Hang hinunter. Meine schöne Tänzerin. – Tote träumen nicht. Untote erinnern sich an alles. Alles, was sie je geträumt haben, sie sind angefüllt mit dem Abraum der Zeiten.  – It’s hot. Im Büro. Der Ventilator ist ausgestiegen. Das Fenster lässt sich nicht öffnen. Ich werde nicht lange bleiben. Sie nur ein wenig herumführen. Kracauer kommt noch sich zu verabschieden. Dann ein Rendezvous. Und vielleicht auf die Farm. Southbury. Unser lawn hinter dem Haus. Die kühlen Bäume. Mein Atelier. Kennen Sie das von Bildern. Sie sind mir nach New York gefolgt. Das Büro im Institute wird diese Tage geräumt. Das wird Sie langweilen. Sie werden schwitzen. Vielleicht gehen Sie lieber ins Archive und sehen sich meine alten Filme an. Einige Rollen liegen auch hier herum. Rhythmus 21, das Originalnegativ, von mir neu zusammengeschnitten, mit neuem Titel, ich werde es vernichten, vielleicht im Garten vergraben, niemand soll wissen, aus welcher Zeit die Stücke stammen. Der Schreibtisch, zehn Jahre lang saß ich hier, umgeben von Katalogen, Programmen, Typoskripten. Aus verschiedenen Zeiten. Wie die Gebäude. Die moderne Fußgängerbrücke über Convent Avenue zwischen gotischen Bögen, die grotesken Figuren aus dem College life, der Lesende, der Student, der ein chemisches Experiment durchführt. Der kleine Turm 57

nerte mich an einen italienischen Campanile aus der Stummfilmzeit, das Kirchenfenster könnte aus Paris stammen. In mir trifft alles zusammen. Ich habe etwas aufgebaut hier. Ich habe den Avantgardefilm in die Staaten eingeführt. Ich bin wieder mal zum Pionier geworden. Der hero with a thousand faces. Der Brückenkopf zwischen Alter und Neuer Welt. Ich bekam schnell eine Stelle, hatte Studenten, wurde interviewt, entwickelte Buch- und Filmprojekte. Und sollte mich erinnern, an die frühen Jahre, Dada, den Surrealismus, die Zeit mit Eggeling. Hier liegt das Manuskript im Regal. Nein, nicht das Manuskript des Manifests. Ich habe versucht, den Entwurf einer universellen Sprache zu rekonstruieren. Die weißen und schwarzen Rechtecke, horizontal, vertikal, diagonal, der Generalbass der Malerei. Wozu dienten unsere Rollen. Wir wollten ein Wissen ausdrücken, das nicht theoretisch gefasst werden kann, Maschinen, kompliziert gebaut wie das Leben, organic, alive, ever-changing, nicht wie ein Hammer, der dir auf den Kopf schlägt, eine aktive Kraft. Geometrische Formen abwechselnd mit nichtgeometrischen. Time equal form, positiv, negativ, sich drehend, sich dehnend, kristallisierend. Eggeling hatte seine Theorien dafür. Er dachte von der Dynamisierung der Linie her. Ich suchte nach den technischen Möglichkeiten. Gleich daneben die Entwürfe zu meinem Traumfilm. Anfangs stellte ich mir das Ganze ähnlich vor wie im Golem. Ein armer Dichter, der ein Mädchen liebt. Seine Künstlerfreunde schließen ihre Träume in Flaschen ein und schenken sie, das war Kracauers Idee, dem Mädchen, um es für den Dichter zu gewinnen. Hinter dem Mädchen und den Traumflaschen ist aber auch der reiche Wurstking her, der zwei Spione, hobgoblins, Wichte, beauftragt, die Traumflaschen zu stehlen, wobei sie allerhand Chaos anrichten. Sie müssen sich vor dem Night-judge rechtfertigen. Als er die Geschichte hört, glaubt er, er sei crazy geworden und greift nach einer Whiskyflasche, befürchtet aber, sie sei verhext, und lässt sie zu Boden fallen. Heraus kommt Rauch, das 58

Wort Finis. Einmal stellte ich mir vor, die Tropfen aus den Flaschen würden zu Filmen, von denen man Ausschnitte sähe. Eggelings Diagonal Symphonie, mein Rhythmus 21 und Vormittagsspuk, Duchamps Anemic Cinema, Légers Ballet Mécanique, Buñuels Un chien andalou. Lassen wir das. It’s too hot. Wichtiger ist der Minotaurus hier. Wollen Sie ihn sehen. Ein kühner Entwurf. Der Anfang. Ein Buch auf einem Stein, umspült von Wasser, der Wind blättert die Seiten um, das Wasser steigt bis zum Buch, zu den Seiten, bedeckt es, blubbert, das Blubbern wird zu Worten, die Worte zum oracle. Theseus. Er gewinnt Ariadne. But he is not as happy as a husband of a beautiful princess should be. Allein in seinem Zimmer, erblickt er unter sich – the abyss. Er taucht in die Sphären des Unbewussten ein – the individual and the collective. Ihm erscheint ein junger Optimist, dessen idealistische Reden zu Seifenblasen werden. Ein blinder Eisenmann nimmt ihm seine Augen. Ein Kahlköpfiger, der mit Murmeln spielt und mit seiner Sitzbank verwächst. Theseus in der Falle, dann wieder befreit, seine Augen wiederhergestellt. In den Händen Circes, der Verführerin, der Fressenden, der Naturgewalt. Die Hände halten einen Fächer, expressiver Tanz, übergehend in verführerische Bewegungen des ganzen Körpers. Absolute power. Meine schöne Tänzerin. Dann der Minotaurus, der sich in Theseus verwandelt, schließlich zu der Leiter wird, auf der Theseus in sein Zimmer hinaufsteigt. You don’t get it. Es gibt nichts zu verstehen. Sie müssen sich den Bildern anvertrauen, ihrem Strom, nicht nach Bedeutung suchen, magisch mit den Figuren kommunizieren, mit der Mythe verschmelzen. Fühlen, wie die Erde erzittert, wenn der Minotaurus seinen mächtigen Schädel, kaum hat er ihn aus dem Dreck gehoben, wieder fallen lässt. Ein Krach, dann Stille, Geräusch von Wassertropfen, die sich vom Kopf des Monsters lösen. Es hat geklopft. Kracauer will mich treffen, bevor er seine Europareise antritt. Er ist immer noch schmaler als damals in Berlin, am Hungertuch nagt er nicht mehr. Er steckt tief in einem 59

grundsätzlichen Buch, einer Theorie des Films, auch der Experimentalfilm hat darin ein Kapitel. Er will wissen, warum ich mich vom Abstrakten abgewandt habe. Will Bestätigung, dass bloße Formenspiele langweilig sind, soziologisch unergiebig. Soll ich nochmal eine Lanze für Eggeling brechen. Aber auch mit dem Surrealismus tut er sich schwer. Verzicht auf kohärente Handlung, gut. Innere Bilder, Assoziationen, Tiefenschichten, meinetwegen. Doch er meint, die Stärke des Films läge in seinem materiellen Verhältnis zur Realität, seinen Möglichkeiten, das Wirkliche ans Licht zu bringen. Was ist das Wirkliche. Das äußere, Dinge, Atome, Wellen, Schwingungen. Das innere, Bilder, Träume, Vorstellungen. Dazwischen Wahrnehmungen, Sinnenreize, Gefühle, physiologisch, aber auch seelisch. Das Wirkliche ist das, was wir als wirklich betrachten, dazu erklären. Hat er sich nicht selbst enthusiastisch ausgemalt, was passiert, nachdem die beiden Wichte, die hobgoblins eine Flasche an sich gerissen haben. Sie halten sie für die Flasche, in der die Juwelen versteckt sind, und fliehen damit über die Feuertreppe, aber die Flasche ist de facto eine der Traumflaschen. Als der Dichter dann dem Mädchen eine Traumflasche überreicht, tut sie so, als sei sie entzückt, wirklich begeistert ist sie aber, als sie sieht, was herauskommt. Nicht sein Traum, sondern die Juwelen des Wurstking. Jetzt liebt sie ihn und will vom Wurstking nichts mehr wissen. Nur der Dichter und die Künstler sind entsetzt. Ja, das scheint ihm heute wie aus einer anderen Zeit. Dokumentation ist die Aufgabe der Stunde. Wahrheit, Wahrhaftigkeit. Schade, wir k-k-konnten den An-anangestelltenfilm nicht verwirklichen. Sein Stottern ist immer noch nicht ganz verschwunden, eine Lehrtätigkeit kam nie in Frage. Ich glaube an die Macht der Imagination, die aus dem Vorhandenen erwächst. Ich habe eine Idee, weiß aber nicht, wie sie ausdrücken. Ich sitze in meinem Polsterstuhl und grüble vor mich hin, das Telefon an einem Kabel neben mir. Plötzlich sieht es aus, als würde sich das lange Gummiband bewegen. Blau sieht 60

es aus. Ariadne’s thread. Er wird sein Buch schreiben, mich erwähnen, eine Zeit fruchtbarer Zusammenarbeit von Kunst und Film wird er nicht mehr beschwören. Ich muss weg. Mein Rendezvous. Im St Nicholas Park. Da wird es kühler sein unter den Bäumen. Vorbei an Paul, der am Eingang seine Erweckungsschriften für die letzten Tage verkauft, auch kleine Schiffchen aus Streichhölzern. Bärtig und hünenhaft, ich habe ihn Charon getauft, vor Jahren ging er ins Cinema 16, er hat mich zu einer Collage inspiriert, Füße im Umriss, schwarz auf grün, grün auf schwarz, Fuß aus Zeitung, CLEARANCE, Schnipsel, ein Faden, Kabel, Verbindung zwischen draußen und drinnen. Die Eichhörnchen sind zutraulich wie immer, ich bringe ihnen ein paar Nüsse, sie vollführen ein reizendes Ballett, hin- und hereilend zwischen Adler und Schlange, Himmel und Hölle. Frankie erkenne ich an seiner weißen Nasenspitze und seinen zögernden Sprüngen. Einmal folgte er mir fast bis in das kleine Café W 135th Street, wo im Souterrain Fotografien seines Namensvetters an der Wand hängen. Frankie’s Café. Unser Café. Meine schöne Tänzerin. Sie kam auf die Welt, als ich mich gerade mit Eggeling in Klein-Kölzig niederließ. Sie war zehn, als Higo Hiroshi, der ihren Vater kannte, meine Filme nach Japan mitnahm. Sie wird mir wieder den Kopf verdrehen. Wie Sinatra in The Kissing Bandit. Ihr schwarzes volles Haar, der Pony vorne, die Lockenpracht mit Schleifen, paillettenbesetzt das rote Oberteil, grünbunt der Rock. Passioniert tanzt sie, zeigt ihre nackten Beine, knallt mit der Peitsche, löscht die Kerzen. Der gute Frank versinkt tiefer und tiefer in seinen Sitz. That was beautiful, Miss. Er springt auf, mit der Blume in der Hand. I got to put this in some water. Aber eigentlich gefiel sie mir besser als blutjunge Francesca da Rimini, die große Liebende, von ihrem Ehemann zusammen mit ihrem Geliebten erstochen. Dante begegnet ihr in der Hölle, lässt sich ihre Geschichte erzählen. Die wandelnde Seele. Japanische Grazie und irische Leidenschaft. Alles an ihr ist Tanz. Ihre blitzgeschwinden 61

Füße. Ihre Finger, ihre Hände, Arme, Schultern, ihre Augen, das schmale Kinn, ihre Lippen, grellrot geschminkt. Sie wird alt werden, wird sich nicht mehr an mich erinnern. Sie ist Ariadne und Circe. Sie gibt dem Helden den Faden, in den er sich verstrickt. Sie ist der Faden, an dem er sich aus dem Dunkel zieht. And so she’s still evading in endless masquerading. Sie hätte die Dame in Weiß sein sollen, unnahbar in der Mitte der Felder, die wir auf den Rasen gemalt hatten. Unser Lebendschach auf der Farm. Ich dirigierte und erfand Geschichten. Während der weiße König schläft, besiegt die weiße Königin einen Läufer, einen Turm, schließlich den schwarzen König. Die Geschichte von Melusine, erklärte ich den Freunden, ohne mich genau zu erinnern. Die Schlangenfrau. When she leaves, the holes of her feet in the sand slowly fill with water. Da. Die Spuren der weißen Farbe auf dem Rasen. Da. Mein Atelier. Die angefangene Collage Photo Accident. Blut an einem Baum. Zwei liegende Körper. Ein verbeulter car. Eine Kamera. Ausschnitte aus Paris-Match und New York Times. Miss Monroe wore a sweater and a skirt and no hat. Mr. Miller wore a blue suite and a white shirt but no tie. Roxbury. Hier in der Nähe. Vor wenigen Tagen. – Geträumt. Ich wache an einem Meeresstrand auf. Die Wellen plätschern sachte auf den Kies. Ich richte mich auf. Das Kettenhemd beengt. Ich suche meinen Helm. Ein schwarzer Mann mit dem Kopf des Minotaurus tritt mir in den Weg. Er hebt den Arm, um mich unter seinen Mantel zu nehmen. Etwas sträubt sich in mir. Schwärze. Meine Stimme. Warte noch. Der Arm senkt sich. Ich sehe den Tod. Von der anderen Seite. Mit den Zügen von Duchamp. Er hat ein Schachspiel vor sich. Ich weiß, ich bin kein guter Spieler. Er bekommt heraus, dass ich eine Kombination aus Dame und Läufer plane. Die weiße Dame ist stark. Er stellt mir eine Falle. Ich versinke im Sand. Fallend werfe ich die Figuren um. Er stellt sie wieder auf. Höhnisches Grinsen. Die Dame wirft mir ein Seil zu. Ich versuche mich aus dem Sand zu ziehen. Dann mein letzter Trick. Ich führe den 62

nächsten Zug nicht aus. Lasse ihn warten und warten. Bis er schwarz wird. Aber ich darf nicht einschlafen. – The room, first dark, is slowly lighted by the first rays of the sun falling through the window.

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II Fischinger oder Der Weg

Wir sind mit der Straßenbahn zum Münchner Westfriedhof gefahren. Natürlich fährt die heute nicht mehr. Es gibt die U-Bahn. Man sieht das Waisenhaus nicht mehr. Man kommt nicht mehr am Dante, dem Bezirksstadion am Dantebad, vorbei. Man überquert nicht mehr, man unterquert den Canaletto, der schnurgerade zum Nymphenburger Park führt. Wir sind also mit der Straßenbahn, der Vierer, zum Westfriedhof gefahren. Endhaltestelle. Die Aussegnungshalle ist dem Konstantinmausoleum in Rom nachgebaut. Beim Nebeneingang liegt ein plumper Engel waagrecht auf einer Säule, die Arme nach vorne streckend, als lernte er schwimmen. Einen Katzensprung weiter die Gärten der Borstei, in denen Fischinger in den letzten Jahren manchmal spazieren ging; eine große Siedlung, utopisch, mit viel Grün, wird hier entstehen. Das ließ er jetzt rechts liegen, ging mit seinen Nagelschuhen, die drei Wochen später durchgelaufen sein würden, um den Friedhof herum, am neuen Gaswerk vorbei, zum Ober-Fasangarten und zur Fasaneriekolonie, zwischen Mooren und Hölzern bis zum Birkenschlag. Bei der Torfstecherei legte er die erste kleine Pause ein, aß ein belegtes Brot, eingewickelt in die Rechnung einer Kerzen- und Wachswarenfabrik. Paraffin. Bienenwachs. Biresin weiß. Ob er sie bezahlt hat, interessiert jetzt nicht. Auf der Rückseite hat er sich Notizen gemacht. Brief an Diebold. An meine Eltern. – Verehrter Herr Ruttmann. Leider habe ich Sie nicht angetroffen. Ich bin heute Nachmittag ab 2 Uhr ins Laboratorium berufen. – Diebold 2 Flaschen Likör »Kristall«. – Etwas muß anders werden. 67

Mein Leben gleicht einer faulen Eierschale. Nichts tue ich und lebe und verzehre Gelder die nicht mir gehören. Der Tag morgen ist der Arbeit gewidmet. Von 8–12 Uhr und dann von 2–12 Uhr. Und dann fahre ich nach Berlin. Angestrengt schaut er in die Ferne, ob ein Auto auftaucht. Wir nutzen die Gelegenheit zu Erläuterungen. Oskar Fischinger ist fast 27. Er meint, in ihm stecke ein kleiner Satan. Immer schon wollte er etwas werden. Als Junge lief er einmal viele Stunden, um eine Büste von Schopenhauer zu sehen. Er stahl Bücher. Mit 21 bekam er eine Glatze. Jetzt will er nach Berlin, aber nicht fahren. Laufen, alles zu Fuß, auf kleinen Wegen. Drang nach Freiheit, Fesseln abstreifen, gesund werden. Wir dürfen hinzufügen: Er hat Schulden. In München entwickelte er einen Motorentyp, der Erdgas als Treibstoff nutzt. Mit einem Partner gründete er einen Motoren-Vertrieb. Als der Partner plötzlich verschwunden war, rückten ihm die Gläubiger auf die Pelle. Jetzt geht er. Mit seinem Rucksack, keine Bücher drin, keine Papiere, nur zwei Blätter, zusammengefaltet, das Itinerar, das er sich aufgeschrieben hat. Außerdem ein Kompass, eine Wasserflasche, seine 35-mm-Kamera und ungefähr 100 Meter Rohfilm. Das reicht für ein paar Minuten. Oder einige Hundert Einzelbilder. Sein erstes: die Gleise, bis zum Horizont. Der Kies knirscht. Er geht auf den Feldwegen. Die Sonne brennt jetzt. Seine Glatze glänzt. Er sieht keine Ortsschilder, hat nur ein paar Namen aus dem Atlas im Kopf. Amperpettenbach, Fahrenzhausen, Röhrmoos. Keine Fabriken, keine Läden, keine Werkstätten. Nur Kirchtürme. Hie und da ein Bauer, der grüßt oder nicht. Vogelscheuchen. Ein Baum, der etwas Schatten spendet. Dann wird der Weg rötlich, besät 68

mit Tonsplittern. Die Ziegelei Lichtlein & Söhne. Er geht am Trockenstadel vorbei, wirft einen Blick ins Maschinenhaus. Herumliegende Kittel. Mittagspause. Hinter dem Haus ein hölzerner Wagen, eine zerlegte Drehscheibe. Nicht denken, die könnte ich brauchen. Vergiss die Maschinen, die vielen Kilo Wachs, die zurückgeblieben sind, die Negative der bei Louis Seel produzierten Bilderbogen, die verdammten Patente. Aber er kann nicht anders. In einigen Holzstückchen am Boden sieht er Figuren, die sich bewegen könnten. Pierrette und Harlequin im lustigen Tanz. Scaramouche kommt dazu. Er verkleidet sich als Bösewicht. Stiehlt Pierrettes Juwelen. Will Versöhnung. Sie bleibt hartnäckig. Über eine Leiter verschwinden alle in der Wand. Dann sitzen sie friedlich zusammen um einen expressionistischen Tisch. Als der Abend anbricht, findet er eine offene Scheune und klettert auf den Heuboden. Die Sonne zwischen den Ritzen malt goldene Striche aufs Holz, mehrere Reihen, eine Diagonale dazu, eine Schwarmformation. Durch einen kleinen Durchlass filmt er den Sonnenuntergang hinter den Wiesen. Viele Bilder, um die Bewegung einzufangen, den Wind im Gras. Ein leeres Bild danach, aufblitzend die Nacht zwischen den Tagen. Den nächsten Morgen können wir uns vorstellen. Er hatte einen fauligen Geschmack im Mund. Die Strohhalme piksten. Ein paar Mäuse vollführten ein stockendes Ballett. Er suchte nach einem Bach, einem Brunnen, um zu trinken, sich zu waschen. Weit und breit nichts. Dann eine Siedlung. Vor einem Mietshaus sitzt eine Frau mit ihrem Kleinkind auf dem Schoß. Er bekommt Wasser und eine Milchsuppe. Zieht weiter. Kornfeld an Kornfeld. Ein windschiefer Baum. Plötzlich ist er inmitten einer 69

herde. Ein Marterkreuz. Ein Wäldchen. Zwiebelturm in der Ferne. Ein großer Hof. Im Gras ein blondes Mädchen, vielleicht sechs Jahre, barfuß, mit einem weiß-braunen Kätzchen auf der schönbestickten Schürze. Scheu ist sie erst, dann blickt sie neugierig in den unbekannten Apparat, legt den Kopf schief, Andeutung eines Lächelns. Der Fremde wird zum Essen eingeladen. Kartoffelsuppe, Kohl, das Brot vom Vortag. Die große Tochter verschwindet. Sie hat starkes blondes Haar, wirkt frisch und wild. Er tritt auf den Hof. Sie setzt sich auf einen Holzblock. Hat eine Säge in Händen, ein Sägeblatt. Einen Bogen, wie von einer Violine. Fängt an zu streichen, die Säge an zu singen. Hohe Töne, kein großer Umfang, aber sie flechten ein Netz, das ihn umschlingt. Manche bleiben in der Luft, das Vibrato erzeugt sie mit ihrem zitternden Bein, die struppigen Haare stehen ab wie elektrisiert. Klänge nicht von dieser Welt, hervorgezaubert, synthetisch. Der Pfenninger, der Rudolf, der auch in München bei den Bilderbogen war, hat mit so was experimentiert. Er verschaltete Mikrofone und Lautsprecher, immer auf der Suche nach der genauen grafischen Entsprechung für jeden Ton. Er hätte sein Bruder sein können, beide beständig in Geldnöten, dauernd gezwungen, etwas zu erfinden. Aber sie gingen sich eher aus dem Weg, jeder wollte den Durchbruch schaffen, wollte die tönenden Bilder. Unter Wasser verstricken sich Pitsch und Patsch in einen grotesken Tanz. Erst jetzt merkte Fischinger, dass die junge Frau aufgehört hatte zu spielen und ihn ansah. Die anderen wohl im Haus oder in den Ställen. Er wollte sprechen, sein Mund war trocken. Als er die Kamera holte, kreuzte sie die Arme und streckte die Zunge heraus. Unbeholfen deutete er auf die 70

langsam ziehenden Wolken, als könnten sie etwas über die Musik sagen. Die einzigen Worte, die ihm einfielen, waren: Die Sonne ist eine Malerin, die Natur eine Musikerin. Ein paar Tage später notierte er sich auf der Rückseite seines Itinerars: Die Menschen sind schön hier. Aber eigentlich auch nicht anders wie anderswo. Sie haben Gefühle, sind scheu oder wild, haben Geld oder keins, leben auf flachem oder hügligem Grund. Am Tag danach war er gegangen wie ein Automat. Schritte. Schritte. Rhythmus der Schritte. Einmal verlangsamt durch eine Gänseherde. Ein Marterkreuz am Weg. Er durchquerte einen Wald. Hell, dunkel, dunkel, hell. Wieder zeichnete das Licht Linien und Flächen auf den Boden. Es fiel durch Lochblenden, Folien, braune, grüne, hellgrüne, zerschnitt den Raum und ließ Staubpunkte aufleuchten, kürzer als eine Sternschnuppe. Muss man wirklich Tausende von Bildern malen, mit dem Wachs kämpfen, Matrizen schneiden, wenn die Natur alles von sich aus zeigt? Die ganze Mühe, die eh niemand zu Gesicht bekommt. Für die Berliner Matinee, vor zwei Jahren, hatte er nichts, was sich vorführen ließ. Diebold hatte ihn bedrängt, aber es ging nicht. Hirschfelds Spielkasten war auch noch nicht ausgereift. Drahtseile, mit elektrischen Farblampen verbunden, zwischen ihnen und der Leinwand bewegliche Negativschablonen. Die Lichtdurchlässe projizierten geometrische Farbfelder von hinten auf die Leinwand. Die Projektionslampen konnte man mit Schaltern einzeln ansteuern, die Helligkeit über Regelwiderstände regulieren. Aufwendig. Mehrere Personen waren zur Bedienung nötig. Aber Hirschfeld hatte seinen Apparat bei unzähligen Vorführungen erprobt. Die eigenen Wachsfilme, kaum jemand hatte etwas von ihnen gesehen. 71

Und doch gab es ihm einen Stich, als Ruttmanns neuere Opera abliefen, teilweise auf seiner, Fischingers, Maschine hergestellt. Ein beschwingtes Hin und Her von Paaren, Solisten und Gruppen. Annäherung, Begegnung, Trennung. Verschmelzung, Metamorphose, Kampf. Schwarze und weiße Schwaden. Schwingen gegenläufig, verdichten sich, explodieren zu Piktogrammen, quallenförmigen blauen und roten Gebilden. Nun, die Reiniger war auch nicht dabei. Silhouetten sind nicht absolut genug. Dagegen die schwarz-weißen Rechtecke des Herrn Richter und die Diagonalen des Herrn Eggeling, die ältere Materialien wiederverwenden, unbekümmert, ob sie auf dem Kopf stehen oder nicht zusammengehören. Seine Maschine. Sein Apparat. Er würde noch einmal an Ruttmann schreiben müssen. Erlaube mir, Ihnen Folgendes zu erwidern. Meine Erfindung. Entstanden als Folge meiner Versuche, Dichtungen in bildmäßig bewegte Elemente zu übersetzen. Entstanden, bevor ich mit Ihnen in Verbindung trat. Bevor ich überhaupt wusste, dass ein Herr Ruttmann existiert. Verhandlungen über den Verkauf meiner Erfindung, auch schon vor Ihnen, mit anderen Herren, Belege dafür vorhanden. Sie werden sich erinnern, dass ich Ihnen seinerzeit einige Blaupausen solcher Dichtungen in Linien und Formen zeigte. Durch den Wald begleitete ihn ein nicht ganz nahes Tackern, ein unregelmäßiges Rascheln und Knacken. Dazu der eigene Atem, lauter als gewohnt. Dann wieder Kornfeld an Kornfeld, winzige Dörfer dazwischen, eine Bäuerin mit schöner Strickweste, Scheunen, schnell vergessen. Die Tage verschwammen ihm, die Bilder auf der Kamera konnte er nicht ansehen. In seinem Kopf sprangen in kleinen Sequenzen die Personen slapstickartig herum. 72

Eine Abwechslung. Hopfenstangen. Eine an der andern, wie Telegrafenmasten, ein feines Netzwerk aus Horizontalen und Vertikalen, die Partitur des Hopfens, in der die Arbeiterinnen und Arbeiter die Schlüssel und Noten bilden. Am Rand des Feldes einige Kinder, erst stellen sie sich nach Größe auf, dann wechseln sie die Positionen, grimassieren, schauen ernst, braungebrannt alle, ein Junge sagt stolz die Quadratzahlen bis 500 auf. Abends spiegelten sich die Wolken in einem Weiher. Das Licht der blauen Stunde beleuchtete eine Dörflerin in einem frischen karierten Kleid mit weißem Kragen. Ein rundes Gesicht, glatt, offen, der Blick aufmerksam, mal auf die Ferne, mal auf die Nähe gerichtet. 35, höchstens 40. Sie wusste zu erzählen, von Stickarbeiten und Schnittmustern. Fischinger sprach von elementaren Formen, Dreiecken, Rechtecken, Kreisen. Er blieb einen Tag, äußerte sich zu Farben und Farbkombinationen, reparierte eine Wasserpumpe und eine Deichsel, wusch sein Hemd, aß eine köstliche Dampfnudel. Vielleicht ging er auf ein Tanzfest mit, wo ihn eher die Choreografien der Kinder interessierten als die hochwirbelnden Röcke. Was er der Schneiderin zum Abschied sagte, wissen wir nicht. Fischinger und die Frauen. Das wäre ein Thema. Aber es gäbe Ärger mit der Nachlassverwaltung. Verbrennen wir uns nicht die Finger. Erwähnen wir nur: Er kennt seine künftige Frau schon, ahnt aber noch nichts von seinem Glück. Sie ist im selben Haus aufgewachsen wie er, sogar im selben Bett geboren, zehn Jahre später, die Einrichtung hat sich geändert. Seine Kusine ersten Grades. Die ihn 73

ertragen wird in seinen Stimmungen, seiner Arbeitswut, seinem Zigarrenqualm. Die ihm, in Amerika, helfen wird bei Drehbüchern, Zeichnungen, Kolorierungen. Die mit Argusaugen über sein Erbe wachen und es lieben wird, eingeladen, abgeholt, herumgefahren zu werden. I’m tso gladt you could come oudt to Kenned-tee wit mee. Jetzt ging er wieder. Ein neues, schön gebügeltes Taschentuch hatte er, aber seine Wasserflasche verloren. An einem Tag überquerte er drei Flüsse, darunter die Donau, hier noch nicht sehr mächtig. Eine alte steinerne Brücke, Pferdefuhrwerke, Fässer. Zwei Paddler, das war ihm einige Bilder wert. An manchen Tagen genoss er jeden Atemzug, meinte zu spüren, wie seine Lungenflügel sich weiteten. Andere vergingen ereignis- und erinnerungslos. Wald an Wald, Berg an Berg. Bis schwere Granitfelsen auftauchten, er immer wieder die Richtung ändern, den Kompass zu Rate ziehen musste. Knorriges Astwerk, verwunschene Ecken, ein Labyrinth, in dem er ein unregelmäßiges Zickzack vollführte, ohne Bewegungslogik, ohne musikalische Struktur. Er findet Unterkunft in einer windschiefen Hütte, in den Berg hineingebaut. Frühmorgens hat er das Gefühl, die Dachpappe käme herab. Sie bewegt sich, ringelt sich. Kreuzottern. Eine schwarze, eine rote, mehrere mit dunklem Zickzackband auf dem Rücken. Ballett vollführen sie keines. Gleichgültig geht er. Steigt einen fast senkrechten Weg hinauf. Kommt auf ein kleines Plateau. Heftiger Wind. Die Felsen blähen sich. Er setzt sich auf eine Bank. Steht 74

der auf. Sieht alles verschwinden. Die Trambahn rast ihm durch den Kopf. Er springt über Scheunen und Ziegeleien, kurbelt die Kamera, kurbelt und dreht. Sie wird schwerer und schwerer. Er ist erschöpft. Hat Hunger. Kaut den letzten Rest der drei Tage alten Semmel. Irrt herum. Stolpert über eine Wurzel. Schlägt sich das Knie auf. Der Himmel, wo er ihn zwischen Felsen und Bäumen erspäht, ist grau. Eine Karte bräuchte man, müsste wissen, welche Beeren essbar sind. Es beginnt zu rauschen. Der Wind. Der Regen. Er sucht in einer Höhle Zuflucht. Schläft ein. Irrt weiter, bis er zu einem Baum kommt, der wie ein Affe aussieht. Drei Schlüssel hängen dort, ein grauer, ein blauer und ein gelber. Er nimmt sie, schließt mit dem grauen eine Tür im Felsen auf. Ein Gewölbe voller Erz. Der zweite Schlüssel führt zu einem Gewölbe aus Kobalt, der dritte zu einem aus Kristall und Gold. An einer Kette neben der Tür hängt ein Beil. Er weiß, er darf so viel aus dem Felsen schlagen und mitnehmen, wie er tragen kann. Aber sein Arm ist lahm. Kaum kann er das Beil halten. Er setzt sich auf den Boden. Starrt auf die Wände, die glitzern und gleißen, von irgendwoher beleuchtet, einer Kerze vielleicht, einer Lampe, einer Glühbirne. Schatten auf den zerklüfteten Wänden. Licht und Schatten auf den Schichten des Gesteins, den Treppen und Vorsprüngen, Ecken und Kanten. Tanzende Lichter. Goldflöckchen in der Luft, die sich auf seine Hände legen, seine Stirn, seine Lider, die Nasenlöcher verstopfen. Mühsam reißt er die verklebten Augen auf. Ein Mann mittleren Alters sitzt ihm gegenüber. Schnurbart mit spitzen Enden. Lodenjoppe, in der Tasche steckt eine Pfeife, das 75

Hütchen sitzt schräg, in der Hand ein Stift, auf den Knien hält er einen Block. Sie mustern sich eine Weile. Es ist gefährlich hier, allein. Allerlei Ungeziefer treibt sich im Fichtelgebirge herum. Wilde Tiere? Zwerge, Trolle, Venezianer. Venezianer? Sie suchen Kobalt für ihre Glasbläsereien. Vielleicht auch anderes. Sie sind kleine Teufel. Und Sie? Was machen Sie hier? Eine lange Geschichte. Ich war früher oft hier, auf meinen Zügen durch Deutschland. Jetzt suche ich den weißen Stein. Ein Freund, ein Gadscho, braucht ihn für ein Amulett. Nebenbei zeichne ich das eine oder andere Tier. Er zeigte Fischinger den Block. Ein Habicht im Sturzflug. Ein alter Dachs beim Verlassen seiner Höhle. Die Igelfamilie. Borkenmuster. Ein schlafender Mann zusammengerollt wie ein Tier. Sie müssen am Verdursten sein. Er bot ihm seine Wasserflasche an. Wibich. Sie können mich auch Mantel nennen. Kommen Sie mit. Meine Truppe ist in der Nähe. Können Sie laufen? Kundig führte Wibich den Fremden, den die Füße schmerzten und der sein Knie spürte, aus dem Felsengewirr heraus, zum Eingang eines Tales, wo ein paar Häuser einen kleinen Weiler bildeten und auf der Wiese am Bach zwei Wohnwagen standen. Einige Erwachsene und 76

drei, vier Kinder saßen am Boden um ein Feuer. Ein Mann hatte einen großen Kessel umgedreht und schien schadhafte Stellen auszubessern. Die Kinder waren sofort bei Fischinger, nahmen ihn in die Mitte, trugen ihn fast zum Wagen, wo er sich setzen konnte, an ein Rad gelehnt, und wenig verstand. Schmus’, Kaffer, hauerst begerisch? Bikerich? Schwächerich? Durmerich? Schefft’s dir schofel? Er schüttelte matt den Kopf. Wibich scheuchte die Kinder mit einer Handbewegung fort. Eine der alten Frauen verschwand hinter dem Wagen und kam mit einer Kelle voll Milch zurück. Dankbar nahm er einen Schluck und spie ihn wieder aus. Ziegenmilch kannte er nicht. Später am Abend, er hatte Wibichs Schwager kennengelernt, den sie Gokkel nannten, dessen Frau und einen Vetter, sie hatten ihm eine kleine Ecke im Wagen hergerichtet, da kam Wibich noch einmal, um sich zu entschuldigen für das Wenige, das sie zu bieten hätten. Ziehen Sie das ganze Jahr herum? Ich wohne mit meiner Familie in Stuttgart. Aber viel Arbeit gibt es dort nicht. Immer wieder bin ich mit der Truppe unterwegs. Wenn Sie bis morgen Abend bleiben, können Sie ein Stück von uns erleben. Der Tag verging schnell. Gokkels Frau machte ihm eine Kompresse mit Kräutern für das Knie. Er probierte noch einmal von der Ziegenmilch, sah beim Korbflechten zu und lernte eine Bürste machen. Mit den Kindern spielte er ein Spiel, bei dem unregelmäßige Kugeln in Löcher zu rollen waren. Immer wieder musste er seine Kamera 77

zeigen. Vorsichtig betasteten sie sie oder streichelten sie, ohne sie zu berühren. Einige strenge Sätze Wibichs deutete Fischinger so, dass sie es nicht wagen sollten, die Kamera an sich zu nehmen. Seinerseits staunte er, als Wibich ihm in einem der Planwagen ein unter Decken verstautes Ding zeigte: ein Projektionsapparat für Lichtbilder oder Scherenschnitte, wie auch die Reiniger einen besaß. Er machte sich am Nachmittag nützlich, indem er den Apparat auseinandernahm und die schief sitzende Linse wieder richtig einbaute. Die Überraschungen gab es am Abend. Zuerst das Essen. Um den Gast zu ehren, kochten Wibichs Leute ihr eigenes Lieblingsgericht: gebratenen Igel. Mantel drückte ihm eine der besonders leckeren Hinterpfoten in die Hand. Dann die Vorführung. Sie spielten mit Puppen, selbstgefertigten, die einfache, aber ausdrucksstarke Köpfe besaßen und kunstvoll genähte Gewänder trugen. Die beiden Wägen waren eng zusammengestellt, davor eine niedrige Bühne aufgebaut worden. Die Planen bildeten eine Leinwand für die Projektion von Schattenrissen. Das Spiel begann mit Einbruch der Dämmerung. Die Bühne wurde durch zwei Lampen von hinten und unten angestrahlt, die Planen vom Projektionsapparat beleuchtet, betrieben durch einen Gleichstromdynamo, den ein auf einem Tretapparat sitzender großer Junge in Gang hielt. Zwei Handlungen konnten parallel ablaufen. Das Stück hatte Mantel selbst geschrieben. Die Kinder der Heimatlosen. Anders als beim Kasperltheater gab es kaum Zwischenrufe. Abgesehen von einer kurzen Pause, herrschte fast die ganze Zeit andächtige Stille. Nur einige laute Nachtfalter kreuzten den Lichtstrahl des Apparats. 78

Auf der Leinwand ein langer Zug Menschen, sich langsam bewegend. Auf der kleinen Bühne ein junges Paar. Die Frau, hochschwanger, entfernt sich zum Wald, um Holz zu holen. Plötzlich ruft sie Hilfe, Hilfe. Ein Gendarm hält Madel fest, reißt an ihr herum, will sie fesseln. Er wirft ihr vor, eine Katze gestohlen zu haben. Sie wehrt sich. Er stößt sie brutal mit dem Gewehrkolben. Sie stürzt zu Boden, rappelt sich auf, rennt weg. Der Gendarm schießt. Mit lautem Schrei fällt sie. Ihr Mann, rasend vor Zorn und Wut, springt auf den Gendarmen zu und knallt ihn aus nächster Nähe mit seiner Pistole nieder. Das Hirn spritzt (Kalkmasse). Sie suchen die Frau, die zusammengesunken ist – nicht tot, die brawi Dschuwel hat einem Kind das Leben geschenkt. Immer noch ziehen sie über die Leinwand. Nach der Pause tritt eine Figur mit Sichel auf. Sie hält eine längere Rede. Vom Vergehen der Zeit, von der Veränderung, Menschen, herumgetrieben in der Welt, baledschido, ein schweres Vergehen, gutgeheißen bei der Versammlung, beim zilo. Eine schöne junge Frau. Sie trifft ihren Geliebten, der auf der Flucht ist. Er spielt wunderbar auf der Geige, trägt aber das Totenhemd. Ein früherer Freund verfolgt ihn, weil er sich beleidigt fühlt: Er habe selbst mit dem Mädchen genascht und die Verzeihung des Vaters erlangt. Jetzt muss der junge Mann, Leidschi, die Gelegenheit suchen, seinem Widersacher unerschrocken zu begegnen. Das Mädchen, Meineli, klagt. Wir ahnen, sie ist die damals geborene Tochter der Madel. Die Schatten zeigen einen alten Mann und drei jüngere, seine Söhne. Er nimmt Abschied, verteilt Ringe. Die 79

Söhne, ein Jäger, ein Krieger, ein Hirte, geraten in Streit, scharen andere um sich. Erhobene Lanzen. Eine versöhnende Hand. Die Lanzen werden zu Bäumen. Eine Brücke überquert eine Schlucht. Ein Wirtshaus. Leidschi überrascht seinen Gegner. Es wird geprasst, sie beschimpfen sich, geraten ins Handgemenge, ein Schuss fällt. Die Kugel steckt im Holzrahmen. Der, der Rache geschworen hat, nimmt zwei Gläser, schenkt Wein ein, sie tauschen die Gläser, leeren sie in einem Zug, tauschen sie erneut. Das Kriegsbeil ist begraben. Leidschi und Meineli versinken im Kuss. Danach wurde getrunken, Bier, Wein, Marillenschnaps. Der verwachsene Votter spielte Geige und Harfe, strich virtuos mit der Weidenrute über Instrumente aus nur zwei oder drei Saiten. Mandel erzählte von Hock, dem Akrobaten und Messerschlucker, Schlangenmenschen und Zauberkünstler, dem Unverwundbaren. Die Zuschauer durften ihn in die entblößte Brust schießen, mit einer präparierten Zichorienkugel, die er schnell verschwinden ließ, während er die echte Kugel vorzeigte. Einmal benutzte er versehentlich eine vor längerer Zeit hergestellte Kugel, die, hart geworden, durch die Brust ins Herz drang. Die Kinder johlten. Fischinger träumte. Sprach mit Mantel vom freien Leben, abseits der Städte, außerhalb der Zwänge. Mach dir keine Illusionen. Das ist nicht alles freiwillig und auch nicht frei bei uns. Gewiss ist für viele das Umherziehen normal. Aber oft sind es die Umstände, die uns dazu zwingen. Die Gadsche wollen uns forthaben. Sie fürchten um ihre Wäsche und ihre Habe. Sie sehen es ungern, wenn 80

unsere Kinder zu ihren in die Schule gehen. Schon wenn wir irgendwo auftauchen, sperren sie alle ein. Dabei war es meist umgekehrt: Uns wurden die Kinder weggenommen. Wir wurden zu Ganoven und Verbrechern abgestempelt. Wie ist es dazu gekommen? Da müsste ich dir eine kleine Volkskunde geben. Ich habe einiges darüber geschrieben. Aber ich erzähle lieber noch eine Geschichte. Sie geht so. Vor einer langen, langen Zeit, gewiss ist es wahr, sonst hätten es unsere Väter nicht geglaubt, war unser Volk nicht so arm und verachtet wie jetzt. Unsere Säcke waren voll mit kleinem und großem Geld, mit Silber, Gold und Edelsteinen. Wir waren als ein tüchtiges Volk bekannt. Wir wohnten in einem kleinen Land, weit, weit hinter Deutschland. Da, wo die Störche herkommen sollen und die Sonne wärmer aufgeht, wo es keinen Winter gibt, wo immer Sommer und aller Wein süß ist. Da war ein großer Wald mit schönen, schattigen Bäumen, ein großes Wasser, das vorbeifloss an großen, steinernen Denkmälern, die fast hinauf in die Wolken reichten. Einer unserer Könige hatte sie machen lassen. Als aber der kleine Gott im Lande der Juden geboren wurde, auch so arm wie wir jetzt und auch in einem Stall bei Kühen und Schafen, hatten die Juden einen bösen König, welcher zornig war auf den kleinen Gott. Er schickte seine Soldaten aus, um ihn verhaften zu lassen. Der große Gott im Himmel ließ der Heiligen Gottesmutter Marie sagen, dass sie mit ihrem Kinde flüchten solle. Auf der Flucht kamen sie in unser Land und wollten bleiben. Aber die Männer sangen und spielten gerade, sie tanzten und spielten auf ihren Geigen und hörten nicht auf und nahmen den kleinen Gott nicht auf. Da wurde der große Gott zornig und schickte ein böses Kriegsvolk, das weit, weit hinter ihrem Land wohnte. Das verjagte uns aus unseren Häusern und dem 81

Königreich, in Länder, wo lange Winter ist, wo die Sonne wenig scheint, wo die Leute unsere Sprache nicht verstehen. Nun muss der Wagen unsere Behausung sein, müssen wir von Ort zu Ort ziehen, mit Weib und Kind und Kegel, von Haus zu Haus gehen, mit der Geige in der Hand, müssen singen, tanzen, spielen für unser Essen. Arm wie Läuse, verachtet auf der weiten Erde, in den vier Ecken der großen Welt. Traurig sind wir und verlassen, wissen nicht, wo wir herkommen und wo wir hingehen. Am nächsten Tag ging er wieder. Beschwingt und gestärkt, als glitte er auf einer Saite, höherer Ton, tieferer Ton. Bis Mittag hatte er 20 Kilometer zurückgelegt. Er ließ sich nicht ablenken, machte wenige Bilder. Floh vor einem Schwarm Wespen, die sein Stock in einem Mauerloch aufgestört hatte. Rastete unter dem Nussbaum vor einem Friedhof, weit außerhalb eines Dorfes oder Städtchens. Nagte das letzte Fleisch von der Pfote, die sie ihm mitgegeben hatten. Ein großer hagerer Mann kam des Wegs. Blieb stehen, starrte ihn an, als säße er auf dem falschen, auf seinem Platz, setzte sich ein paar Meter entfernt ins Gras. Sein Rock war zerschlissen, er trug eine Art Sack über den Hosen und hielt einen dicken Stecken in der Hand. Der Bart schütter, die Unterlippe leicht vorgewölbt, die Wangen eingefallen. Plank, der Landstreicher, der Unermüdliche, der Unfassbare, der Freie. Was wissen wir von Plank? Aus dem Hessischen. Ehemaliger Lateinschüler. Hauslehrer, Schnürsenkelverkäufer, Tanzvirtuose. Ist in der Schweiz gewesen, Österreich, Italien. Die hiesige Gegend kennt er. Auf dem Friedhof liegt jemand, an den er immer noch denkt, in einer Ecke, da kommen nur besondere Tote hin. Er ist unterwegs zu einem Ort seiner Jugend, Freunde wohnen 82

noch dort, er hofft sich auszuruhen, im Frühjahr hat er mehrere Wochen im Spital verbracht. Fischinger holt die Kamera heraus und fragt, ob er eine Aufnahme machen dürfe. Kurz blitzt es aus den grauen Augen unter den buschigen Brauen. Zwei Bilder von vorne, eines im Profil, Verbrecherfoto, das tut Fischinger leid, er versucht, ein Gespräch zu beginnen. Die Antworten sind knapp, von trockenem Husten unterbrochen. Sie gehen ein Stück zusammen, ungleich im Schritt. Streifen ein Dorf. Gärten. In einem wird angepflanzt, bei allen Setzlingen liegt ein Kartonstückchen mit dem Anfangsbuchstaben des Namens. Mann und Frau diskutieren über das Problem des S. Spinat, Sellerie, Stiefmütterchen. Is doch kä Wuner, wenn dos ener net ausenaner halten ka. Loß när erscht dos Zeig gruß sei, do wär ichs schie unerscheiden könne. Na, ich gelab, du frisst Stiefmütterle und denkst, de hast Selleriesalat. Es geht auf den Abend zu. Plank organisiert Eier, Brot, einige Karotten, eine Flasche Wein. Sie vespern in einem Gemäuer, das mal zu einer Burg gehörte, zwischen Ameisen, Eidechsen und Grillen. Jetzt wird er gesprächiger. Erzählt von seiner Zeit in der Fahrradfabrik, dem schmalen Hof mit den Haufen von Schienen, Rädern, Blechen, Eisenabfällen. Heißer Dampf aus den Mauerlöchern. Hinter dem Zaun, auf dem Nachbargrundstück, ein paar schwindsüchtige Pflänzchen in winzigen Beeten. Kleine Fenster, aus denen sich hie und da ein dunkler Kopf mit großen Augen reckt. Ein Vierteljahr braucht er, um Worte an diesen Kopf zu richten. Danach ist er so verwirrt, dass 83

er eine Platte in die Schleiferei statt in die Gießerei bringt. Er zieht den Zorn des Meisters auf sich. Er kritzelt einige Zeilen für Bärbel auf ein Blatt, ein Gedicht vielleicht. Dann haut er ab, die Landstraße entlang, schläft im Graben oder in der Scheune, arbeitet dies und das. Als er, wer weiß, wie viel Zeit da vergangen ist, zurückkommt, hat Bärbel einen Baron geheiratet, ein etwas trockener, aber verständnisvoller Mensch, die Ehe bleibt kinderlos. Ihr Wiedersehen nach Jahren. Sie verliert die Fassung, will alles aufgeben. Schnell reist Plank ab, nach Innsbruck, Wien, dann weiter nach Rom. Dort hat er immer noch ein kleines Zimmer. Dort hängt sein abgewetzter Samtanzug. Dort liegt seine Geige. Er verdient sich etwas Geld und spielt wieder in den kleinen Kinos. Cabiria. Quo vadis. I Golem – Come venne al mondo. Fischinger spitzt die Ohren. Was er gespielt habe? Welche Muster? Welche Improvisationen? Wie genau auf die Bilder bezogen? Planks Antworten kennen wir nicht. Er fährt in seiner Geschichte fort. Als er von seiner Zimmerwirtin hört, eine deutsche Dame suche ihn, verlässt er die Stadt. Reist weiter, nach Positano, wo er Herberge findet bei einer Familie mit zwei Töchtern, Stella und Beppina, 15 Jahre, 14 Jahre. Je zurückhaltender er bleibt, desto mehr fangen sie Feuer. Die eine Nacht die Brünette, die jede Sekunde weiß, dass sie sündigt und eben deshalb grauenhaft süß ist in ihrem hingebungsvollen Sichversagen, ihrem Unglücklichsein. Die andere Nacht die Tizianblonde, die mit ihrer Begierde oft selbst den Anfang macht, das geschwinde, kluge Tierchen, das sich hundertfältig gibt und doch nie verliert, das sich und ihn nach allen Seiten aushorcht. Der Tannhäuser im Venusberg. Die Geschichte muss Plank auch noch erzählen. 84

Und die des Burgfräuleins, das hier in den Gemäuern, in denen sie lagern, auf der Zinne ihre Lieder sang, manche von fern erwidert von einem, den der Vater nicht haben wollte, der es versuchte beim Turnier und in der Nacht und dessen Herz schließlich, gebraten dem Fräulein vorgesetzt, deren Herz versagen ließ. Das erzählt Plank, als wäre er selber dabei gewesen. Aber seine Geschichte ist es nicht. Die hat mehr mit Verfehlung zu tun. Mit der Unfähigkeit, zu bleiben, sich festzulegen. Mit Tod und Wasser. So verging der Abend. Plank zeigte sein Geschick mit den Karten. Er ließ sie von einer Hand zur anderen sausen und pickte zielsicher einzelne heraus. Mit der Maultrommel erzeugte er Töne, die für Fischinger zu warmen Farbkreisen wurden, von Leuten, deren Gesichter er nicht erkannte, in die Nacht geworfen, wo sie sich mit den Geraden der Käuzchenschreie und dem Zickzack der Fledermäuse zum unruhigen Klangteppich verwoben. Wir stellen uns vor: Als er am Morgen die Augen öffnete, war Plank verschwunden. Mit ihm die Kamera. Im Rucksack fand sich ein Blatt mit einigen Versen. Gewandert von Ort zu Ort, Als ob mich etwas triebe, Sucht’ ich mein Leben lang Die wahre, große Liebe. Heimatlos, ohne Freunde, Verlorn an keine Welt, Zerstäub’ ich die letzte Brücke, Lös’, was mich nimmer hält. 85

Die Bilder dazu. Das Holzfuhrwerk auf dem Kopfsteinpflaster. Der Brückenturm. Die Paddler. Die Kinder, die Hopfenstangen, die ziehenden Wolken. Fischingers Verzweiflung. Davon wissen wir nichts. Ob er zum Friedhof zurückging oder weiter, in das Städtchen hinein, mit Leuten im Gerberviertel sprach, den Dieb zu beschreiben suchte. Hie und da, versteckt, ein wissendes Lächeln. Eine Wirtin bot ihm ein Zimmer an. Die Wärme lockte ihn. Aber vielleicht zog er doch den Schuppen bei der Schneiderei vor. Da roch es muffig. Aber zwischen den Stoffen, den Ballen und Rollen konnte er liegen wie in Watte, alles gedämpft, allein mit den sich drehenden Figuren, Zylindern, Bärten, Schnurrbärten, einer mit spitzen Enden, unter dem eine Pfeife schwebt. Den gab es wirklich. Der war angemacht an einem Kopf, und der zugehörige Körper lehnte an einem Ballen, die Kamera am Boden daneben. Mantel? Ich hatte den gleichen Weg. Du kannst von Glück sagen. Was habt ihr mit ihm gemacht? Er ist keiner von uns, ein Gadscho. Wir richten ihn nicht. Ohnehin trägt er den großen Tod in sich. Wohin wirst du jetzt gehen? Ich muss noch den weißen Stein suchen. Es ist genug. Wir verstricken uns im Dickicht der Fabel. Was wissen wir? Wie viel Zeit ist vergangen? Lassen wir Fischinger laufen, singend und pfeifend, unter dem wieder blauen Himmel. Er braucht Ruhe, muss seinen Rhythmus finden, jetzt stehen die Fabrikstädte am Horizont, die sächsische Industrie, die Häuser drängen sich dicht. Die 86

Kamera nimmt er kaum mehr aus dem Rucksack, manchmal dünkt sie ihn schwerer als zuvor, manchmal leichter, als wäre kein Film eingelegt. Er konzentriert sich auf den Weg, verschmilzt mit seinen Stiefeln, die kleine Partikel an den Weg, an das Silber und Erz des Weges abgeben. Siebenmeilenstiefel. Damit überwindet er die Täler und Anhöhen, bis wieder die ländliche Welt beginnt, weite Sandstrecken, Kirchen, Burgen, Durchgänge. Die gleichen Formen wie im Süden, ähnliche Gesichter. Endlose Tage, manchmal eine schier unglaubliche Helligkeit. Die Sonne brennt auf eine Großbaustelle. Gruben und Erdhügel, so weit der Blick reicht. Ein Turmdrehkran versetzt Balkenlagen. Es entstehen Füllwände aus Schlackenbetonplatten. Fenster und Türrahmen aus Stahl. Dann weiße Fassaden mit viel spiegelndem Glas, gespannte Glashaut, durchsichtig, leicht, schwebend. Flache Dächer, schnörkellose Strukturen, Regenablaufrinnen braucht es keine. Er geht zwischen den sehr geraden Bäumen, die nur oben belaubt sind, Baumkörper zwischen Baukörpern. Linien. Sieht keinen der berühmten Meister, nur einige Weißkittel zwischen Maschinen. Webstühle und Spulmaschine. Die Decken unverputzt. Zusammenhang des Innenraums mit dem Allraum. Große Gliederpuppen liegen auf dem Tisch in einem lichtdurchfluteten Atelier. Gesunde, gut belichtete Arbeitsplätze steigern die Leistung. Dessau. Wie lang er sich aufhielt, wissen wir nicht. Den Rest geht er zügig. Wälder, Felder, gelegentlich ein See. Nur in einer kleinen Druckerei bleibt er ein paar Stunden oder einen Tag. Studiert die Zweitourenschnellpresse, der Zylinder führt erst den Bogen von der 87

anlage durch den Druckvorgang und befördert dann den bedruckten Bogen zur Auslage. Stößt neben Visitenkarten und Adresskuverts auf Fahnen eines Buches über den modernen Tanz. Liest von Farben, Lichtstrahlen, plastischen Formungen. Miteinander und Beieinander. Bewegungssinfonien. Instrumente wie Klaviere. Sie erzeugen aber keine Töne, sondern farbige Lichtstrahlen, in den Raum gesandt, sich mischend, teilend, ballend, trennend. Eckige Gebilde. Runde, bandförmige, kegelartige. Dann kam schon Berlin. Das Hallesche Tor. 11 Uhr nachts. Ein Hotel. Aber der Schwung war so groß, dass er weiterwollte, bis Stettin, nun auf dem Wasserwege in einem kleinen Isarfaltboot. Ein paar Tage später, zurück in Berlin, kauft er die erste Zeitung. Liest vom tragischen Schicksal eines amerikanisch-deutschen Publizisten. Er hat seine Sekretärin erstochen, sich selbst am Hals verwundet und ist aus seiner Wohnung im dritten Stock in den Tod gesprungen. Ein Abschiedsbrief an seine Frau fand sich in einer Schublade. Fischinger will neu anfangen. Sport. Wassersport. Paddeln. Den Schleimhäuten frische Luft zuführen. Landluft. Mehrfachprojektionen. Wachsbilder nur mehr als Hintergrund, davor Silhouetten. Seelische Konstruktionen. Die Erinnerung an das Gasthaus der Mutter. Mir ist so seltsam, als wäre die ganze Welt betrunken. Mir ist, als würde die Welt erst entstehen, aus Feuer und Wasser, Meere, Einzeller, komplexere Wesen, Symbiosen, Kämpfe. Mit der Morgendämmerung erhebt sich ein neues Geschlecht.

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La Sarraz, September 1929 Ein Schlösschen auf einem bewachsenen Hügel, etwas erhöht gegenüber der Straße. Zwei größere, ungleiche Türme, mehrere kleinere. Im Hof und auf den Anlagen die Büsche und Sträucher akkurat beschnitten. Der Kongress tagt. An kleinen weißen Tischen oder langen Tafeln. Der Kongress raucht. Der Kongress streitet (heftig). Der Kongress isst (ausgezeichnet). Der Kongress tanzt (bisher noch) nicht. Aber er verkleidet sich. Als die Schlossherrin, die sonst in Paris wohnt, noch schläft, plündern wir die Truhen und die Rittersäle und schaffen allerlei Zeug, Rüstungen, Schwerter, Lanzen, Tücher, Straußenfedern, in den Schlosspark. Ich trage eine Rüstung mit aufgeklapptem Visier. Moussinac wird zu d’Artagnan. Mademoiselle de Bouissounouse verzaubert uns als schöne Gefangene im knappen Badeanzug. Eisenstein sitzt als Don Quichotte mit Federhelm und Brustharnisch auf einem Gestell, eine Lanze mit Filmapparatur unter dem Arm. Plötzlich Auftritt unserer Schlossherrin als Gespenst im Nachthemd. Qu’est-ce que vous faites là. Sie ist entsetzt. Erinnert uns an die Bedingungen. Aucun caractère politique ni de propagande. Wir versprechen, bis zum Abend wird alles wieder sorgfältig aufgeräumt sein. Am nächsten Morgen kommt irgendeine historische Kommission. Aber dann bringt sie eigenhändig aus einer Truhe Laken für eine Gespensterepisode und bewirtet uns wie alte Kreuzfahrer mit Erfrischungsgetränken. Der Premier Congrès international du cinéma indépendant. Ein europäisches Ereignis. Viel Presse. Fotografen. Ein straffes Programm mit Plenarsitzungen und Arbeitsgruppen. Es wird geredet, getrunken, gealbert. Auch gedreht. Oder nicht. Später wird man sagen, wir 89

ten alle an der Nase herumgeführt. Es sei kein Film in der Kamera gewesen. Nur ein großer Jux, eine Abwechslung nach ermüdenden Diskussionen, eine spontane Allegorie. Ich habe das manchmal behauptet. Aber ich weiß, es stimmt nicht. Drei Kopien wurden gemacht. Eine für Eisenstein, eine für mich, eine sollte Shigo (Hiroshi Higo) nach Tokio bringen und den Mitgliedern der kommunistischen Partei vorführen. Sie glauben mir nicht. Schauen Sie im Nationalmuseum für moderne Kunst. Die Akten der japanischen Zensurbehörde. Nummer E7612. Kokusai Dokuritsu Eiga Kaigi. Kategorie: andere. Bemerkung: Propaganda. Länge: 61 Meter. Eine Freigabe für die öffentliche Vorführung wurde nicht erteilt. Eisensteins Kopie blieb in einem Hotelzimmer liegen oder bei einem Zollamt hängen. Meine. Vielleicht machen Sie sich auf die Suche. Vielleicht sehen Sie sich das Schloss an. Vielleicht hat sich jemand zur Renovation bereitgefunden. Sicher ein schöner Ort für Ausflüge oder Feste. Hier saßen wir, mitten auf der Wiese, unsere Stühle locker ausgestreut, einander anziehende, abstoßende Elementarteilchen. Wir diskutieren über den Zustand des Films, die Situation der Filmklubs, der Filmtheater. Deplorabel, sage ich, in Deutschland beruhen 99"% aller Filme auf den Schauspielern. Sie gewinnen das Publikum. Dabei sollten sie nur ein Teil der filmischen Mittel sein. Balász sieht das anders. Der Spielfilmreaktionär. Er findet, der Film soll populäre Themen aufgreifen, die alle interessieren. Form ist ihm ein Greuel. Abstrakt, absolut. Schimpfworte. Perfiderweise hat er aus Berlin drei Dokumentarfilme mitgebracht. Schlangen im Urwald, Quastenstachler, gläserne Wundertiere. Die werden vorgeführt nach meiner Inflation, meinem Vormittagsspuk, meiner Filmstudie. Beispiel dafür, welche Stoffe die Natur selbst bietet. Wie wenig es braucht, ein dramatisches Geschehen zu entwerfen. Er begeistert sich dafür, dass wir bei der Liebesidylle des Stachelschweins und dem Drama des Schlangenkampfes so nah und unbemerkt dabei sind. Erregend wie das 90

Eindringen in ein für den Menschen verbotenes Reich. Ekelerregend, finde ich. Vulgäre Psychologie. Und Ruttmann. Den interessiert vor allem der Ton. Er träumt von der mélange de sons et d’images. Wie immer leicht gebückt, als fühle er sich zu groß für die Umgebung. Sein schweres, edles, trauriges Gesicht, kontrastiv zum fanatischen Licht seiner stahlblauen Augen. Blick in unbestimmte Fernen. Trägt als einziger ein gestreiftes Hemd, die 35 mm Kinamo in der Hand. Sind wir die Schlangen oder die Stachelschweine. Wie weit ist es gekommen mit dem Geist der Experimente. Eggeling würde sich im Grab umdrehen. Ansichtskartenansichten. Wollte er nicht. Wollte ich nicht. Erwartete Liebesscenenhaltung mit wohlverdientem Endeffekt. Bekanntes Arrangement der Beine, Arme, Köpfe, in Prunksalons und Fürstenhöfen. Wir wollten Bewegung, organisierte Bewegung, keine Haltepunkte, keine Erinnerung, keine Psychologie, keine Sonnenuntergänge, Beerdigungen. Der unerschütterliche Held, die keusche Jungfrau, der smarte Geschäftsmann, das Streichholzmädchen, der vormals berühmte, jetzt arme Geiger, betrogene Liebe. Wollten wir nicht. Nur Bewegung – weckt auf, weckt Opposition, weckt Reflexe, weckt Genuss. Man ist ausgeliefert, zum Fühlen gezwungen, zum Mitgehen im Rhythmus. Atmen. Herzschlag. Auf und Ab. Eigentümliche Mechanik. Jetzt geht es darum, dem Film überhaupt seine ästhetischen Qualitäten zu retten. Einen guten Film zu ermöglichen. Nicht immer nur Handlung, Handlung, Handlung. Gewiss, die Russen können das meisterhaft verbinden. Wir hatten an meinen Freund Dsiga Werthoff geschrieben. Ruttmann und ich. Eine Postkarte. Er könne bei mir wohnen. Dann musste er nach Moskau zurück. Er dreht gerade einen Tonfilm. Stattdessen kam Eisenstein. Ohne offizielles Mandat. Braucht er nicht. Im Moment, da der mythische Halbgott erscheint, mit seinen Assistenten, mitten am Nachmittag, richtet er wie ein Magnet alle auf sich aus. Begeistert die Madame mit seinem Charme, seiner Höflichkeit, seinen 91

ren. Seinen kurzen Beinen und klobigen Schuhen. Redet aus dem Stand eine Stunde lang. Auf deutsch, zwei Drittel der Leute verstehen nichts. Ohne große Ordnung. Das sowjetische Kino heute. Ausdruck der Masse. Produktionsbedingungen. Einfluss des Publikums. Sujets. Seine eigene Ästhetik. Wissenschaftlich. Keine Nachahmung der Natur. Keine oberflächlichen Erscheinungsbilder. Erforschung der tieferen Ursachen, des Wesens der Dinge. Ein junger Mann soll übersetzen. Eine traduction absolument abracadabrante. Bald bricht er ab. Eisenstein ist ein begnadeter Erzähler. Spricht mit allen in ihrer Sprache oder in der, die ihm gerade passend scheint. Selbst seine Witze haben epische Qualität. Ob er gut geschlafen habe, fragt ihn unsere Gastgeberin. Ja, nur zu wenig, à cause des vaches, à cause des cloches des vaches. Aber die seien doch nötig, damit man das Vieh wiederfinde. Ob es die in Russland nicht gebe? Autrefois. Plus maitenant. Maitenant elles ont des sifflets. Eisenstein und ich. Auf dem Gruppenfoto halte ich einen Heiligenschein aus Pappe hinter seinen Kopf, Mademoiselle de Bouissounouse zwischen uns. Wir bilden eine Phalanx. Gegen die schnöden Kommerzialisten. Gegen die hinkenden italienischen und spanischen Faschisten mit ihren Rautenbrillen. Abends, nach der Filmvorführung, die Leinwand gespannt im mittelalterlichen Gewölbe, zusammen im Hotel. Ich zeige ihm die Rolle mit Eggelings Horizontal-Vertikal-Messe. Frühzeit des absoluten Films. Er staunt. Will wissen, wer Eggeling war. Will unser frühes Pamphlet lesen. Wir diskutieren die gesehenen Filme. Der dokumentarische Blick auf die sich entwickelnde sozialistische Staatsform in der Sowjetunion. Der surrealistische auf den Zerfall des bürgerlichen Bewusstseins. Die junge Bäuerin, die eine Kolchose gründet, gegen den Widerstand des reichen Kulaken, der Gläubigen, der Priester. Der Mann, der sein Rasiermesser schärft, eine Wolke zieht vor dem Vollmond vorbei, das Messer fährt der Frau durchs Aug. Eisenstein schwärmt von den Augen der Mademoiselle. Die eine oder andere Séance 92

schwänzen wir. Fahren zum Fluss. Baden. Krebsefangen. Verwunschene Ecken zwischen den überwucherten Felsen. Foto. Balász im einteiligen Badeanzug, eine Schulter frei, Haare wie eine Perücke. Mein Blick, listig, ein schmächtiger Odysseus, Theseus. Eisenstein, tatkräftig, im Anzug. Plötzlich schreit unser österreichischer Spielfilmreaktionär auf. Nein, er hat keinen Zehnmarkschein gefunden. Ein Krebs hat seinen großen Zeh gepackt. Ich suche einen Stecken, Eisenstein holt die Kamera. Die Rache der Natur. Schnell lässt sie wieder los. Aus Steinen legen wir eine 8 im Fluss. Das ist meine Zahl, chiffre éléctrique, Anfang und Ende, oben und unten, das Unendliche, die Wiederholung, das doppelte Nichts, der gordische Knoten zwischen 0 und 0, das perfekte Gleichgewicht, der in sich geschlungene Faden, mein Jahr, Geburtsjahr, Sterbejahr, Schachfelder, Labyrinth, die achte Karte im Tarot. Justitia. Richterin. Auf dem Rückweg werden wir von der Fremdenpolizei angehalten. Papiere. Aufenthaltsgenehmigung. Das gilt natürlich dem weltberühmten Russen. Man wollte ihn eigentlich gar nicht einreisen lassen, gab ihm keine Visa. Nur die weitgespannten Beziehungen unserer Madame ermöglichten eine Ausnahme. Séjour à La Sarraz autorisé, mais defense formelle de s’éloigner du château. Seit der Conradi-Attentäter freigesprochen und die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind, fürchtet man den russischen Gegenschlag. Wer weiß, welche Weltrevolutionen der Bolschewik anstellen könnte. Die Regierung stürzen. Den Genfer See entführen und ins Asowsche Meer gießen. Jetzt überwachen sie ihn auf Schritt und Tritt und schlagen zu, wenn sie ihre Chance wittern. Was uns rettet. Lazar Wechsler, der Produzent, unser Fahrer, besteht darauf, sein Auto sei eine mobile Immobilie, rollender Privatgrund, dafür brauche es keine Visa. Wird überprüft. Die Argusaugen bleiben wachsam. Die Vorwürfe von Madame werden wir uns gefallen lassen müssen. Auf dem Schloss scheint unsere Abwesenheit kaum aufgefallen zu sein. Die Arbeitsgruppen debattieren über Kinoclubs. In der 93

zung versuchen wir uns zu einigen, was überhaupt ein unabhängiger Film sei. Idee. Produktion. Distribution. Minimaler Kompromiss. Comme les accidents du chemin de fer  – ils ne s’expliquent pas, mais ils se sentent. Mein Vorschlag. Un film qui est basé sur l’optique. Die Fronten verhärten sich. Wir propagieren die Annäherung der künstlerischen Intelligenz an die radikal-revolutionäre Bewegung. Die Ästheten und Paladine der reinen Kunst stellen sich auf die Hinterbeine. Die antisowjetischen Intellektuellen schlüpfen in die Lakaienlivree des Faschismus. Nur die Delegierten Japans bleiben höflich, schweigsam und verneigen sich. Die Resolutionen sind entweder banal oder praktisch. Gründung einer Besucherorganisation, einer Liga der CineClubs. Gründung einer Produktionscooperative, zunächst ohne Kapital. Unser kleines Filmstück ordnet die Kontrahenten nach ihrer Statur. Die stämmigen Kongressteilnehmer bilden die Armee der unterjochenden Filmindustrie. Die mageren bestürmen als Vertreter der Avantgarde das Schloss. Auf dem Turm hält der Filmmogul zusammen mit Ritter Blaubart und weiteren Bösewichtern die Jungfrau des Unabhängigen Films in den Ketten der Merkantilität gefangen. Zwei Filmrollen hängen an ihrem Gewand. Eisenstein, Moussinac und ich führen den Angriff. Unter wehenden Fahnen, geklebt aus Nummern seiner Revue du cinéma, feuert Auriol Maschinengewehrsalven seiner Schreibmaschine ab. Wassereimer werden gegen das Objektiv der Kamera gekippt. Mit Piken und Hellebarden hält er den Angriff der Bösen auf, die unter dem Befehl des geharnischten Balázs die galant-ritterliche Tat verhindern wollen. Als Moussinac aufs Dach steigt, um den Qualen der armen Mademoiselle de Bouissounouse ein Ende zu bereiten, rutschen einige alte Dachziegel weg. Fast wären die Jungfrau, der unabhängige Film und das Kameragestell in die Tiefe gerissen worden. Am Ende erklärt sich Moichiro Tsu-chiya, Vertreter des Kommerzkinos, bereit, das volle Ritual des traditionellen Harakiri, das erwünschte Resultat des Kongresses, vor der 94

Kamera vorzuführen. Madame schwärmt zum Abschied. Die Bolschewiki. Die einzigen Gentlemen. Als ich Eisenstein Zürich zeige, die Orte aus der Dadazeit, das Hotel, wo ich Eggeling traf, wird es der Fremdenpolizei zu bunt. Mademoiselle treffen wir in Paris wieder. Autofahrten. Überraschungsbesuche. Slapstick auf den Dächern. Die ewigen Schachspieler. Berlin ist weit weg. Die Polizei stürmt eine Filmvorführung.  – Geträumt. Der Wecker klingelt. Ich werfe ihn auf den Boden. Er steht wieder auf dem Nachtkästchen. Beine, die aus dem Bett steigen. Beine, in Pyjamahosen, nackte Beine, haarige Beine. Beine, auf der Straße. Bewegen sich gleichtaktig. Der Polizist (Eisenstein) dirigiert. – Blätter verteilen sich auf Ablageordner. Rotationsmaschine. Ich muss Zahlen in Spalten schreiben, immer mehr Zahlen, immer schneller. Die Finger tanzen auf der Schreibmaschine. Die Zehen. Die Tasten, von unsichtbarer Hand bewegt. – Lanzen treffen auf Kameras. Lanzen splittern. Die Kamera springt auf. Der Film rollt heraus. – Ich blättre in einem Modejournal. Der Muff, entmottet, entstaubt, heiter, spielerisch, weiblich. Filmküsse, lang, kurz, auf den Mund, daneben, langes Haar, kurzes Haar, viele Küsse, schnelle Küsse. Kabarett. Brüste wippen. Augen glotzen. Brillengläser im Karussell. – Der Wecker klingelt. Ich werfe ihn auf den Boden.

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III Schamoni oder Der Untergang

Ein feindliches Explosivgeschoss in Herzgegend. Sagt Johann Josef Kuhr, Oberleutnant, Hauptmann der Schutzpolizei, Führer der 1. Kompanie. Vortrag vor dem 2. SS-Polizei-Regiment. Thema: Einsatz an der Ostfront. Dauer: 2 Stunden. Vielleicht mit Lichtbildern. Endlich befinden wir uns wieder auf festerem Boden. Zwei grüne Militärfahrzeuge, gepanzerte Kastenwagen, standen vor dem Haus in der Nähe des Englischen Gartens. Berlin, Altonaer Straße 10. Der große Mercedesstern sticht ins Auge. Sie sind mit Schlafnischen und einem kompletten Film- und Fotolabor ausgerüstet. Die Jungs natürlich fasziniert. Sie klettern auf das Gehäuse. Dürfen in die Kojen kriechen. Sollen fotografiert werden. Wollen wieder nicht stillhalten. Und frotzeln. Der Vorname des Vaters. Victor. Der Besieger des Ostens. Sieg mit der Kamera. Veni vidi vici. Oder. Veni Vidi Vinci. Sagt der Älteste, auch Victor, in Erinnerung an einen Bildband, den der Vati nach einem Museumsbesuch gezeigt hat. Wie lang wird er brauchen nach Russland? Welchen Weg werden sie nehmen? Wird er während der Fahrt fotografieren? Wo wird er sich waschen? Das fragen wir uns auch. Und stochern schon wieder im Nebel. Keine Zeit jetzt. Die Abfahrt steht bevor. Wir müssen nichts erfinden, wenn wir sagen, Schamoni sei freudiger Erwartung gewesen. Die Berliner Jahre als 99

Leutnant der Reserve bei der Film- und Bildstelle hatten ein gesichertes Einkommen gebracht und erlaubt, mit der Kamera zu arbeiten, am Schneidetisch dabei zu sein. Aber vieles war Archivarbeit, Papierkram, Korrespondenz. Die Filme? Lehrfilme zu Schulungszwecken. Sportfeste. Leichtathletik. Skikampf. Der Hund als Helfer der Polizei. Was waren da die wissenschaftlichen Demonstrationsfilme für die I."G. Bayer ein paar Jahre zuvor. Stammhirn und Psyche, chemische Prozesse, ländliche Tänze. Ultramikrokinematografie. Macht uns zu Mitwissern des Lebens, verschafft uns Zugang zu dem, was wir sonst nur ahnen. Wie der Gegenstand auf die Platte gebannt, wie die Bewegungen des Lebens auf den Film gebracht werden, der fruchtbare Blick, mit dem der Kameramann das Ding ansieht, um es andere ebenfalls sehen zu lassen. Darauf kommt es an. Jetzt der Osten. Polen. Ukraine. Der Einsatz der Polizei. Ihr Wirken in den eroberten Gebieten. Soll er festhalten. In Fotografie und Film. Alltag und Nichtalltägliches. Für das Archiv, die Schulung, die Wochenschauen. Vielleicht auch für die Familie, die Erinnerung. Er nimmt seine Agfa Box 45 mit und neben dem Normalfilm einige Rollen Colorfilm, für besondere Gelegenheiten. Kürzlich hatte er in seiner Dunkelkammer Farbdias entwickelt, vom Familienausflug nach Potsdam. Vorbei jetzt die Sonntage mit den Söhnen im Zoo, im Aquarium, im Planetarium. Egal, er liebt das Reisen. Er wird Neues sehen. Er wird neu sehen lernen, in der östlichen Weite. Er wird Kiew sehen, die Sophienkathedrale. Langsam wird er die Kamera über ihre sieben Kuppeln schwenken. Es ist Herbst, Ende September wohl, ideales Licht. Sie brausen auf der Autobahn nach Frankfurt an der Oder, fahrzeugleer, menschenleer. Bald schon endet die 100

strecke. Sie nehmen die Landstraße nach Posen. Pause. Im Wirtshaus ein Heft des Illustrierten Beobachters. Der Fortsetzungsroman. Werbung. Uhu-Erzeugnisse, Blendax, Darmol, Exakta, die vielseitige einäugige Reflexkamera für Fotosport, Beruf und Wissenschaft. Dazwischen eine kurze Notiz. Hans Richter gestorben, 27.  August 1941. Reflexartig: Rechtecke und Quadrate, wechselndes Hell und Dunkel, schneller, langsamer. Kaum mehr als formale Flächenwirkungen. Aber musikalisch. Rhythmische Organisation des Lichts. Führung der Motive, der Melodien. Augenlust. Bei der Matinee, Ewigkeiten her, da schrieb er noch an seiner Dissertation, hatte Schamoni ihn aus der Ferne gesehen. Die Matinee. Die Prominenz. Der absolute Film. Keiner kann sagen, was das genau ist. Experimente mit Farben und Formen. Die französischen Werke stehen ihm noch vor Augen. Das Ballet mécanique. Strohhut, Stuhl, Schreibmaschine, Flaschen, Töpfe, Zahlen, schwingende Christbaumkugeln, prismatisch vervielfältigt. Alte und neue Gegenstände. Küchenformen, Papageien. Gesicht, Augen, Jahrmarkt, Glücksrad, Achterbahn. Kolben, auf und ab, Pleuelstangen, linear, kreishaft. Die Wäscherin, immer wieder die Treppe hoch. Charlot, in wildem Tanz, in seine Teile zerlegt, bis nur noch der Kopf übrig ist. Entr’Acte. Dächer, schräg auf dem Kopf. Puppen, denen die Luft entweicht. Boxhandschuhe wirbeln herum. Das Muster des Schachbretts, Marcel Duchamp und Man Ray über den Dächern von Paris. Ein Jäger wird vom Dach geschossen. Begräbnis, grotesker Trauerzug, parallel montiert mit Verkehrsmitteln. Bäume, Häuser, Landschaften, abstrakte Linien und Streifen. Am Ende springt ein Mann aus der geborstenen Leinwand ins Publikum. Im Umfeld der Werkbundausstellung über Film und Foto, 1929, kreuzten sich ihre Wege. Richter hatte die 101

Filmsektion kuratiert. Schamoni organisierte für das Capitol eine kleine Reihe im Lichthof des ehemaligen Berliner Kunstgewerbemuseums. Städtefilme. Kurzfilme. Messieurs nouveaux, Jacques Feder. Russische und japanische Filme. Am Ende sein eigener: Schöpferische Filmkunst, Entwicklungen, Verirrungen, Möglichkeiten des guten Films, erläutert durch einen Vortrag von Dr. Johannes Eckardt, Leiter der Degeto. Film mehr als fotografisches Abbild der Wirklichkeit, muss hinter die Dinge sehen, Zeitlupe, Zeitraffer, Montage, Überblendung. So kündigt es eine Zeitschrift an. Die Archive wissen davon nichts. Auch Hans Richter nicht. Der war im November 1929 in London, mit Eisenstein, ein Workshop mit Studenten, man dreht, experimentiert. Dann in Paris. Übersee. Ist er dort gestorben? Nein. Die Notiz gilt einem anderen Richter. Auch Johannes, Hans. Schriftsteller, vier utopische Romane, Autor des Buches über den Einsatz der Polizei im Osten. Schönes Fotomaterial. Fast ein Reisebericht. Die Film- und Bildstelle hat einige Exemplare. Wer wirklich gestorben ist. Walter Ruttmann, in Berlin, an den Folgen einer Embolie, heißt es. Bald sind alle dahin. Eggeling tot, Reiniger in London, Filme macht sie da keine, Fischinger in Amerika, in den Disney Studios, es soll nicht ganz so abstrakt sein, neu, aber nicht zu neu, er versucht sich an Bach, an Pinocchio, er schneidet Mickey und Minnie Mouse aus Comic-Heften aus, sie reagieren auf abstrakte Gemälde Kandinskys. Diebold, wohl zurück in der Schweiz, beim Theater. Richter. Ruttmann. Der war geschickt. Ließ sich früh auf den Ton ein. Hörspiele. Geräuschcollagen. Werbung. Passt sich den neuen Verhältnissen an. Mit der Riefenstahl beim Triumph des Willens. Deutsche Waffenschmieden. Panzer. Zeigt die Soldaten 102

der Heimat, die Arbeiter, auf Zechen, in Gruben, vor den Hochöfen, in Werften und Werken. Mensch, Maschine, Stahl, Hochdruck. Entschlossene, harte Gesichter. Kalte, prüfende Augen. Schnelle, zupackende Handgriffe. Parallelmontage. Kurze Schnitte. Technische Präzision. Soldatische Knappheit. Schamoni hatte das auch versucht, an anderen Sujets. Land im Meer. Spuk im Spielklub. Nie kam er auf einen grünen Zweig. Mal verleiht er Filme, mal stellt er Programme zusammen, dann dreht er wieder und schneidet, recherchiert, reist. Der Ministerialrat Leichtenstern hielt ihn hin. Er brauchte zehn Jahre, um seine Dissertation zu veröffentlichen. Der deutsche Film druckt ein paar Ausschnitte, ohne die ausländischen Vorbilder, ohne Richter etc. Fotos dazu von der Riefenstahl. Weiter im grünen Wagen. Woran erkennt man, dass man im Generalgouvernement ist? Die Straßen werden schlecht. Im Schneckentempo geht es vorwärts. Sie überqueren hinter Kalo die Warthe, eine gestrichelte Linie auf der Karte von 1940, DEUTSCHES INTERESSENGEBIET. An Kutno und Warschau vorbei, die Ortsnamen längst nicht mehr deutsch, die Ansiedlungen spärlicher, kilometerweit Sümpfe, Knüppeldämme, Moorwege, Wehrmachtsloch. Die Straßen oft nicht einmal gepflastert, staubige Angelegenheiten, durch den heftigen Regen zu Schlammwüsten geworden, grundlose Sandbänke. Sie schlafen im Wagen. Bei Luzk plötzlich: Asphalt, breit, breit genug für vier Panzer, nebeneinander nach Westen rollend, Richtung Berlin. Die sowjetische Prachtstraße. Rollbahn Nord jetzt, Grundlinie der deutschen Operationen am Herz der Ukraine, das Rückgrat, von dem die einzelnen Nervenstränge abzweigen. 103

Wird er während der Fahrt fotografieren? Die Filmkamera laufen lassen? Das Fenster als Rahmen. Der Zug der entgegenkommenden Fahrzeuge. Die Straße als schnurgerades Band durch den Hochwald. Den großen russischen Wald, eingehüllt von grauen Nebeln, bedeckt von silberstrahlendem Reif, stolz auf seine Kraft, gleichgültig gegen menschliches Unglück, erhaben über niedere Gelüste, stummer Zeuge der vorüberziehenden Ereignisse. Baumgeister huschen hin und her, von Astgabel zu Astgabel, blähen sich auf, machen sich dünn, gierig lange Finger. Schnitt. Nahaufnahme. Sitzen zwischen Stamm und Rinde, die Eschenfrau gießt Wasser über die Wurzeln, sie singt. Vom Ozean, von der tiefen See. Zwölf Männer, gekommen den weiten Weg. Ach Wind, ach Wind, mach ihnen weh. Schnitt. Vergleich mit dem germanischen, dem deutschen Wald. Eiche und Linde. Tandaradei. Der Mensch als Baum. Mythologie. Steht einsam im Dorf und stirbt ab. Nicht Laub noch Rinde halten ihn. So ist der Mann, den niemand liebt. Was soll er länger leben? Odins Worte, Schrift auf dem Baum. Ist er kurz eingenickt? Der Finger weiter auf dem Auslöser? Mehr Grau in Grau? Oder Männer, die Menschen in den Wald führen? Was wird man in Berlin sagen? Die Vorschrift: Der Bildbericht ist kein zufälliges Ergebnis. Er verlangt gedankenmäßige Festlegung der zu fotografierenden Aufnahmen. Ein regiemäßiges Nachhelfen durch Herbeiführen bestimmter Vorgänge wird oft nötig sein. Unbedingt zu beachten: Lebendigkeit. Gestellt wirkende, tote Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung. 104

In die Wochenschau wird ers nicht schaffen. Mit Bildern der Weite. Erde, aufgeworfen von den Einschüssen. Ein Wäldchen. Birken, lose gruppiert, viel Platz dazwischen. Die Kamera fährt, langsam, vielleicht auf einer Draisine. Gerade Stämme, von rechts nach links, unregelmäßig, regelmäßig, gestaffelt, verstreut, dann die Muster der Rinde, Gemälde, Flächen, Ornamente, gemalte Rückseite von Bildern. Die Birke: absolute Einheit von Gleichförmigkeit und Bewegung. Ausgebrannte Panzer. Kleine Dörfer, Gehöfte, zu Ruinen geworden. Keine Mauer steht mehr. Mit schwersten Kanonen wurde auf verstreute Spatzen geschossen. Auf Waldgeister, rote Luftfahrer, rote Soldaten, versteckte Soldaten, überall, Feldstellung an Feldstellung, vorzüglich getarnt, mit MG und Granatwerfer ausgerüstet, durch Grabensysteme miteinander verbunden. Eingegraben in die vertraute Erde, Häuser und Scheunen verteidigungsbereit. Dazwischen jetzt kleine und große Trichter, von den deutschen Granaten erzeugt, zerrissene Bäume, zerschlagene Fahrzeuge, Geschütze, zerfetzte Pferde. In einer Kate schweben Kleiderstücke, hängen an einer ausgerissenen kleinen, zum Menschen gewordenen Birke. Ausgesaugte Eier baumeln an Fäden von den Armen herab. Die ersten Toten. Dunkles, undeutlich, am Weg, vor einer Scheune. Dann genauer. Mäntel, unter denen sich Gerippe verbergen. Stahlhelme über Schädelknochen. Myriaden dicker blauer Fliegen. Tote Bolschewiken aus der Anfangszeit des Kriegs, liegengelassen vor Monaten, unbegraben, namenlos an namenlosen Orten, weiße Flächen auf der Karte, zwischen den Pfeilen, die das Vordringen der Truppen 105

zeigen. Namenlos. Die Kriegsgefangenen, lange Kolonnen, die sie passieren, einförmige Masse, langgezogen, bloße Form, 665.000 sagt das Oberkommando, die BBC hält das für maßlos übertrieben. Einige mit besonders schiefen Gesichtern werden ausgesondert, die Kamera fährt daran entlang. Der sowjetische, kaukasische Untermensch. Hätte man ihm nicht Einhalt geboten, stünde er jetzt in Berlin. Wo ihn nicht mehr viel hält. Vor dem Krieg. Morgens in der Staatsbibliothek. Nachmittags mit Freunden im Romanischen Café. Arbeitet an der Drucklegung der Dissertation, am Buch über den guten Film. Schreibt Verlängerungsgesuche, Lebensläufe, Briefe an die Reichsfilmkammer, den Ministerialrat bei der Ufa, der wegen der Kohlenot spät antwortet. Preist seine Filme. Stammhirn und Psyche. Land im Meer. Spuk im Spielklub. Fremdsprachen: Griechisch, Lateinisch, Französisch, Spanisch, Italienisch. Füllt Fragebogen aus. Eintritt in die Reichsfachschaft Film 27. September 1933, Eintritt in die NSDAP 14. März 1939, SA-Mitgliedschaft keine. Oder doch, ein handschriftliches Kärtchen in Ergänzung des Lebenslaufs, 20. Oktober 1933, Sturm 1/7 (4), mit deutschem Gruß, Heil Hitler. Weiß das die Ehefrau? Maria ist ihm fremd geworden. Sie haben getrennte Wohnungen. Einmal besucht er sie auf dem Land, sie schlafen in einem Bett mit buntkarierten steifen Überzügen. Er kann es nicht glauben, dass sie noch mal schwanger ist. Der vierte Sohn. Er trifft sich mit einer Bildhauerin. Er reist nach Rom. Er fotografiert. Die Zitadelle des Lawraklosters über Kiew in der Ferne, immer wieder sichtbar, immer wieder verborgen, das Ziel, das die deutschen Soldaten antrieb. Jetzt war es nur noch wenige Stunden entfernt. Sie passierten eine gesprengte 106

Brücke. Eine andere. Die Schwabenbrücke, von württembergischen Pionieren gebaut, seit Ende Juli hält sie. Dann Stoppelfelder, ein kalter, nasser Wind, Kiefernwäldchen. An einigen Bäumen Gehängte, Flintenweiber, tragen das Gewehr unter dem Rock. Er klammert sich an die Kamera. Pause. Er rasiert sich in einem kleinen Spiegel. Das Gesicht ist rundlich geworden, ein Beamtengesicht, nicht mehr so schneidig wie damals, beim Quickborn, als Wandervogel, mit Schillerkragen und umgehängter Laute, in Italien, in Spanien, Kloster Montserrat, wo er, das wissen wir, in der berühmten Bibliothek arbeitete. Nicht mehr der Bohemien mit dem breiten schwarzen Künstlerhut, dem abgewetzten braunen Samtjackett, der Maria imponierte, der Klosterschülerin, große blaue Augen. Sie war nach Soest gekommen, wo er die Westfälischen Landeslichtspiele leitete, ein Wanderkino genau genommen. Sie war gekommen, um das Drehbuch für einen Film vorzulegen. Die Beziehungen der Zöglinge und Nonnen zueinander, Ausbruch aus der strengen Zucht, Anziehungs- und Abstoßungskräfte, geballte Energien, bildkräftig sollte es sein. Die katholische Filmarbeit, das war sein Metier. Er machte ein paar Aufnahmen, fragte, ob sie auch reiten, fechten und singen könne. Aus ihrem Film wurde nichts. Kiew. Ein warmer Herbsttag. Starker Brandgeruch. Rauchsäulen an verschiedenen Stellen. Ganze Viertel lagen in Trümmern. Auch die Bildberichterstatter sollten den Helm tragen. Die Einnahme der Stadt war erst wenige Tage her. Schon sind in Gebäuden Minen detoniert. Beim Nationalmuseum werden Hunderte von Boxen aufgeschichtet. Ein Kameramann filmt, von einem Fotografen fotografiert. 107

Eine Box wird geöffnet, Dynamit, 3.500 Kilo, mit Fernzünder. Ein paar Ecken weiter, den Hügel hinauf, auf einem Platz ein graues Betonhaus, Kuben mit kannelierten Säulen, abenteuerlich geschmückt, aus Dach und Fassaden brechen mythische Wesen hervor, wilde Tiere, Nereiden, Nixen, Delphine, Krokodile, Nashörner, Elefanten, die Rüssel Wasserspeier. Wie damals in Paris. Mit René Clair, Man Ray. Richter, eher nicht. Sie fahren langsam, Schutt und Gerümpel liegt herum, einige Skulpturen sind abgefallen. Tauben sitzen darauf. Zwei Straßen später ein Stopp, um nach dem Weg zu fragen. Er liest den Anschlagzettel, der überall an Laternenmasten und Zäunen klebt. Schlechtes Papier, ohne Über- oder Unterschrift, zweispaltig ukrainisch, kyrillisch, die deutsche Übersetzung klein darunter. Saemtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29.  September bis 8 Uhr Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Strasse (neben den Friedhoefen) einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Waesche usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen. Wer in verlassene Wohnungen von Juden eindringt oder sich Gegenstände daraus aneignet, wird erschossen. Weiter mit dem grünen Wagen durch die Stadt. Hinauf zum Lawrakloster, über dem Dnepr. Hinauf auf den heiligen Berg, von den Bolschewiken zum Museumsreservat gemacht. Man sucht die Mitarbeiter des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg. Die Bildberichterstatter sollen sie beim Retten der Bücherbestände filmen. Bücher in der Kirche, Bücherkathedrale, hoch das Gewölbe, Gold, Gold, 108

pös barockisiert. Das Mittelalterliche ist weg. Anders als beim Kölner Dom. Wir erinnern uns: Schamoni hat einen Kulturfilm gedreht. Da war Brüning noch Reichskanzler, aus Münster der, wo Schamoni studierte. Der Film schon mit Ton. Kommentarton. Die beständige Erneuerung des Mauerwerks, angegriffen von den Chemikalien der Züge und Schiffe. Der Hauptbahnhof, der Qualm, die Brücke, die Trams und die Automobile, nur aus bestimmten Winkeln sieht man sie nicht. Zur Moderne gehört beides. Das nach oben strebende Gotteshaus und die über die Fläche herrschenden Bewegungstechniken. Schnell geschnitten, um keine Sentimentalität aufkommen zu lassen, nur der Allerseelenprozession lässt er etwas Zeit, bis wieder ein rauchender Zug ins Bild kommt. Rauch vor der Kathedrale, der Kathedrale über dem Dnepr, September ’41 oder schon Oktober, das würde einen Unterschied machen. Die Frommen sind vertrieben. Bücher werden von verschiedenen Seiten ins Langhaus getragen, abgestellt oder fallengelassen, zu Gebäuden gestapelt, aneinandergelehnt, einsturzgefährdet. Ein ganzer Bezirk, braun und beige, Handschriften und alte Drucke, Einbände aus Holz oder Schweinsleder, Titel eingestanzt oder aufgeklebt, kyrillisch, lateinisch, Biblia, Liber Evangeliorum, Sermones de tempore. Ein Mann mit dicken Brillengläsern mustert die eingehenden Stücke, notiert mit Bleistift in ein Ringbüchlein. Unter der Vierung, wo es noch Licht aus den Oberfenstern gibt, steht er, der Koordinator der Operation Bücherrückführung und -neuordnung. Josef, auch aus Berlin, paar Jahre jünger als Schamoni, Mitarbeiter der Preußischen Staatsbibliothek, Inkunabelabteilung. Er kennt alle Bibliotheken in Kiew, hat den Schlüssel zu den Höhlen, die jetzt gesperrt sind wegen Minengefahr. 109

Weißt du von jenen Heiligen, mein Herr? Er schaut Josef ins Auge. Sie fühlten auch verschlossne Klosterstuben zu nahe an Gelächter und Geplärr, so dass sie tief sich in die Erde gruben. Der macht ein Zeichen. Ein anderer Fotograf, neben Josef stehend, breites Gesicht, schütteres Haar, schmale Lippen, schließt sich an. Sie folgen dem Bibliothekar zu einer steinernen Treppe. Ein paar Stufen nach unten, eine schwere Tür, Kerzengeflacker, jeder bekommt eine in die Hand, Josef hat eine Taschenlampe, ihr Licht schweift über die Wände wie der Suchscheinwerfer der Flak. Schon nach wenigen Metern ist die Luft stickig. Gänge öffnen sich, in den Fels, die Erde geschlagen. Schädel in Nischen, hie und da eine Reliquie, staubig hinter Glas. Sarkophage mit prächtig gewandeten Heiligen, unversehrt über die Jahrhunderte hinweg. Zellen, Zellen, Höhlenzellen, in denen die Mönche lebten, mancher mit einer kleinen Bibliothek, Bibel, Kirchenväter, Wüstenheiligenleben. Zwiesprache mit dem Wort. Oder ertönten ihre Stimmen im Gesang? Schlängelten sie sich durch die Gänge? Erstickten sie vor der Dicke des Felsens? Die Haare, die Bärte wuchsen, keiner wusste, ob sein Nachbarmann nicht stehend starb. Keine fliehenden Schritte, keine Verstecke, keine Katakomben. Vor fünf, sechs Jahren war Schamoni in Rom gewesen. Auf der Suche nach dem wahren Gesicht der Heiligen. Für seinen Bruder Wilhelm, den Priester und Theologen, der jetzt wieder in Dachau ist. Was er aus den Heiligsprechungsberichten herauskristallisieren wollte, sollte Victor im Bild einfangen, im Foto, steinerne Gesichter in der milchigen Aura einer 110

pelle, Totenmasken, Charisma der Bekenner und Märtyrer, das Flüchtige im Verfestigten. Fotografieren in den Katakomben. Die Kamera zu schwach. So hatte er, mit seiner Geliebten die Gänge durchstreifend, das Spiel der Zeichen nachgespielt. Anker, Fische, Pax, der Phönix, Pflanzen und Blumen, kornerntende Putten, Schäflein im Garten, Männer mit Büchern oder Schriftrollen, Zeichen gegen die Herrschenden, Zeichen einer neuen Macht, die wie unsichtbare Lava durch den Untergrund fließt. Sie sahen sich als spätantikes Liebespaar, das den Verfolgungen und Nachstellungen trotzt. Droben in der Kühle des Morgens über den Campo de’ Fiori, vorbei am Cinema Farnese, cinema d’essai, wo vielleicht der Golem lief, Come venne al mondo. Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen, am ähnlichsten der Unvergänglichkeit? Ist das das große Leben deiner Leichen, das überdauern soll den Tod der Zeit? Wieder in der Kirche. Josef zeigt den beiden Fotografen Handschriften aus den Höhlen. Besonders abgegriffen der Beginn des Johannesevangeliums. Einkerbungen mit dem Griffel, aber ohne Tinte, am Rande der Passionsgeschichte. M, O, E, nein R, S. Stichworte, Übersetzungen, Glossen. Vielleicht ein anderer Text der Passion, eine andere Geschichte, andere Lesarten. Beim Verlassen der Kirche flattern ein paar Tauben durchs Seitenschiff. Eine Ikone. Christus fixiert die Betrachter mit seinem Blick. Victor hat Philosophie in Münster studiert. Jetzt will er mit Johannes das Experiment nachvollziehen, das der große Nikolaus von Kues beschrieb: Nimm das in spezieller Weise gemachte Bild eines Allessehenden. Stell dich an einen bestimmten Punkt, 111

einen andern, du wirst merken, der Blick sieht dich hier wie dort an. Geh am Bild vorüber. Du erfährst, der Blick verlässt dich nicht. Lass einen anderen in der Gegenrichtung gehen. Er wird von der gleichen Erfahrung berichten. Ein wunderbares Beispiel für das, was ein Bild vermag. Ein Beispiel, wie wir uns den Bezug zwischen Gott und Mensch denken können. Ein Bild kann den Betrachter frontal treffen, ihn verfolgen, nicht loslassen. Ja, aber jede einzelne Erfahrung gilt nur, insoweit sie transzendiert wird. Uns ist das Absolute nur im Relativen zugänglich. Wir müssen uns ihm aus dem Augenblick nähern. Abends wieder in der Stadt. Johannes ist Mitglied der Propaganda-Kompanie. Er bringt Victor zu seiner Einheit zurück, untergebracht im Haus der Chimären. Familienwohnungen, jetzt verlassen oder geräumt. Unterwasserwelt. Prachtvorhalle. Meeresgrund. Die Haupttreppe hinauf beiderseits fabelhafte Vögel, die mit scharfen Krallen die weißen Marmorstufen halten. Fische, spiralig, Algen. An den Wänden Fledermausgirlanden, Geweihe, Hirschhörner, Wildvogelscheuchen. Vier Weinkeller, ein Eiszimmer, begehbarer Kühlschrank, Wohnungen mit sechs, acht, mehr Zimmern, Vorraum, Küche, Spülraum, Dienstbotenzimmer, Badezimmer, Gästezimmer, Abstellräume. Nach unten zu noch mal drei Stockwerke, in den Hügel hinein. Stallungen für Kutschen und Pferde, Kutscherzimmer, Waschküchen. Im Hof ein echter Kuhstall, so gebaut, wie wir wissen, dass sein Gestank vom Haus wegwehte. Nach Kuh stank es jetzt kaum. Am Morgen. Johannes hat Victor für einen Einsatz angefordert. Fotografieren bei Aufräumarbeiten in einer 112

Schlucht. Als sie aufbrechen, wird auf dem Platz vor dem Haus ein Mann von einem deutschen Offizier erschossen. Ein Taubenhändler, heißt es. Er sei der Aufforderung nicht nachgekommen, seine Tauben abzuliefern. Sie fahren im offenen Einheits-PKW. Der Himmel wolkenbedeckt, immer wieder bricht die Sonne durch, kalte Sonne, ferne Sonne. Sie fahren die Hauptstraße hinunter. Pferdefuhrwerke und Autos. Auf den Trottoirs ein endloser Zug, zu einem Markt unterwegs, erklärt Johannes, oder einer Stelle, wo man sich nach dem Verbleib von Verwandten erkundigen kann. Vorbei am Stadion. Ein Toter am Boden, halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Trottoir, quer zum Strom der Gehenden, ein zweiter, halb nackt, lang ausgestreckt auf der Straße. Johannes hält und fotografiert. Agfacolor. Dann mehrere Friedhöfe, Müllkippen, eine Schlucht öffnet sich, trockene Erde, ohne Baum noch Strauch. Panorama. Am Rand einige Frauen, Kopftuch, Kind auf dem Arm, im Gespräch mit einem Soldaten. Im Innern der Schlucht zahllose Uniformierte mit Schaufeln, Kriegsgefangene wohl. Es wird gegraben, umgegraben, geglättet. Haufen, überall Haufen. Sie steigen hinunter. Kleider, Decken, Taschen, Alltägliches. Die scharfkantig abgeschnittenen Ränder der Schlucht von unten. Deutsche Soldaten durchwühlen die Bündel. Johannes fotografiert. Johannes arrangiert. Frauenschuhe, Halstuch, Handschuh, Brillenetui, Notizbuch. Dann noch einmal mit zwei kleinen Erinnerungsfotos, ein Paar, ein Kind, genau in der Mitte. Was ist mit all den Sachen? Sie gehören den Juden, die sich hier versammelt haben. Wo sind sie hin? Sie werden umgesiedelt. Und lassen alles zurück? 113

Sie haben noch genug. Warum ist das Erdreich aufgeworfen? Sieht aus, als seien die Ränder der Schlucht gesprengt worden. Auf dem Rückweg die breite Straße. Immer noch der gleiche Menschenstrom. Unverändert die Toten. Was sollen wir sagen? Fallen wir in den Ton der Täter? Meldung nach Berlin. Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments Süd am 29. und 30. September 1941 in einer reibungslosen Aktion 33.771 Juden exekutiert. Kein offizieller Bericht darüber, wie zwei Tage lang die Opfer zur Sohle der Schlucht getrieben wurden, wo sie, geschlagen und niedergerissen, sich mit dem Gesicht zur Erde legen mussten, auf die blutigen Leichen der bereits Erschossenen, hinter sich die auf den schwankenden Haufen der Leichen hin- und hergehenden Schützen mit ihren Maschinenpistolen, zwei Mann an der Seite, die die Magazine nachluden, was nicht verhinderte, dass viele Opfer nicht gleich tot waren und manche nachts vergeblich versuchten sich fortzuschleppen. Auch die noch Lebenden werden am nächsten Tag unter den gesprengten Schluchträndern begraben. Und zwei Jahre später, nach Stalingrad, wieder ausgegraben. 10 SD-Männer und 30 deutsche Polizisten enterden die Leichen, berauben sie verbliebener Wertgegenstände und verbrennen sie auf Scheiterhaufen, aus benzingetränkten Eisenbahnschwellen aufgeschichtet, unterstützt von 327 Gefangenen des nahe gelegenen KZ, die anschließend erschossen werden. Wir wissen nicht, was in der Luft lag, als Victor nach Kiew kam. Wir wissen nicht, welche Informationen Johannes, 114

der Fotograf, hatte, als er die Aufräumarbeiten dokumentierte. Wir glauben nicht: Er entwickelt die Abzüge vor Ort, klebt sie in ein Album, sucht sich aus dem Arbeitslager einen alten Juden, Schuhmacher, der einen Einband herstellt, schwarzes Leder, aus konfiszierten Wertgegenständen, Aufschrift Die große Aktion von Kiew. Wir wissen: Johannes liefert alle 188 Schwarz-Weiß-Fotos über den Einsatz im Osten bei der Propagandakompanie ab. Die Agfacolor-Rolle behält er. Seine Witwe verkauft sie später einem Journalisten. Ein Gericht beschlagnahmt sie. Die Fotos verschwinden im Archiv. Eine deutsche Illustrierte sondiert Möglichkeiten der Veröffentlichung und hält die Stimmung für nicht geeignet. Sie gelangen in ein sozialwissenschaftliches Institut. Victor. Fotografiert er auch? Fotografiert er die Fotografen? Plötzlich wird er abgezogen aus dem Osten. Zurück nach Berlin. Kann gerade noch einige Sachen mitnehmen. Aufbruch frühmorgens. Schon außerhalb der Stadt eine gewaltige Detonation. Rauch über dem Lawra. Rauchschwaden. Bilden bizarre Formationen. Monster. Chimären. Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale in Trümmern. Ein Foto gibt es nicht. Dann wieder die Rollbahn, die Kolonnen, die Wälder. Die Ortsschilder werden polnisch. Irgendwo treiben SS-Männer Juden zusammen. Kommandos mit Maschinengewehren. Zum Ortsausgang hin verengt sich die Hauptstraße, wird zur Schlucht. Wollen Sie auch mal, Herr Leutnant? Gruben. Ein Soldat rutscht ab, fällt hinein, wird johlend herausgezogen. Die Gruben reichen nicht aus. Ein Gewächshaus. Frauen und Kinder warten darin auf den morgigen Tag. Ihre Gesichter, weichgezeichnet 115

hinter dem Schachbrettmuster der Fenster, überlagert vom verzerrten Spiegelbild der Kamera. Einen der Soldaten hat er in Kiew schon mal gesehen. Abends ist er einer der wenigen, die nicht stockbetrunken sind. Du meinst wirklich, sie finden sich ab mit dem, was sie erwartet? Ach, lass mer in Frieden. Bei de gilts Menschnlebn nix. Entweder ham se schon Erfahrungn oder se kenn den innern Wert nich. Sie gehen glücklich in den Tod? Ob se glicklich warn, weß ick nich. Se wusstn, wat ihn bevorstand, se ham sich in ihr Schicksal jefügt. Dat is so, mitn Menschn da im Ostn. Ist es dadurch leichter für euch? Na klar. Widerstand jabs nich. Alles ruhig, alles schnell. Aber trotzdem hat sich Bolle, aber trotzdem mitn Nervn runter, mehr als de. Die Schützen müssen betreut werden? Nich nur de Schützn. Stell dir vor, jehst durchn Wäldchen, suchstn Ort für de Leichn. Gräbst. Merkst, liegn schon welche. Überall. Bolschwiki vielleicht. NKWD. Stapfst im Schlamm, Stiefl bleibt steckn, ziehst ihn aus Leichnteiln raus. Was wissen wir schon. Familiengeschichten, aus späterer Zeit. Mündlich weitergegeben. Aber auch Briefe. Es soll Briefe gegeben haben. Berlin. Sequenzen in pastosen Farben, ohne Ton. Schamoni in der Staatsbibliothek, recherchiert über Handschriften. Schamoni in der Filmabteilung des Innenministeriums. Soll 116

einen Plan für die Neugestaltung ausarbeiten. Sammlung. Archivieren. Neue Produktionen. Spielfilm. Kulturfilm. Animationsfilm. Regelmäßiges. Wochenschauen. Wo bleibt das Politische? Und der gute Film? Und Schmalfilme? Lang hatte er von einem privaten Heimprojektor geträumt, hatte den Kindern versprochen, ihnen Fritz und Fratz zu zeigen aus dem Degeto Schmalfilmschrank. Die blinden Passagiere. Der Spuk an Bord. Die wilde Jagd. Onkel bei den Menschenfressern. Dem Tod entronnen. Jetzt staunen sie über die Vasen, die Tanagra-Figuren, die Gemälde und Handschriften, aus Kiew mitgebracht, eine kleine Seelandschaft bei Mondlicht, im Stil von Carl Gustav Carus. Weihnachtsgeschenke aus dem Osten. Der Vater erzählt von der Bibliothek, den Höhlen. Sonst wenig, den Kindern. Er wird vorstellig, macht Besuche, macht Eingaben. Gnadengesuch für seinen in Dachau inhaftierten Bruder Wilhelm. In Büros. Bei verschlossenen Türen. Er redet viel. Das Gegenüber schweigt. Erschreckte, abwehrende Augen. Der Leiter der katholischen Film- und Bildstelle, seine Hände spielen mit einer kleinen Nachbildung des Heiligen Rocks. Aus einem Stück. Das Blut nicht mehr sichtbar. Das Problem Schamoni. Mit dem Soldatenspielen ist es jetzt vorbei. Der Vater nimmt den Söhnen die Spielzeuggewehre weg. Er schläft schlecht. Nachts steht er auf, schaut in die Kinderzimmer. Im Dezember wird der Lehrfilm Die Druckluftbremse von Hans Ewald, hergestellt im Auftrag des Oberkommandos des Heeres, in den Kamera-Lichtspielen uraufgeführt. Animationssequenzen. Er muss an Fischinger denken. 117

Mitte Januar wieder der Marschbefehl. Diesmal an die Front. Leningrad. Polizeibataillon. Ausbruchsversuche der in der Stadt verbliebenen russischen Truppen verhindern. Nichts mit der Kamera. Nicht mehr offiziell. Er packte seine Habseligkeiten in die feldgraue Zeltbahn. Sein Leichentuch. Die Abfahrt verschob er von Stunde zu Stunde. Schließlich der letzte Zug. Bahnhof Charlottenburg, 9. Februar 1942, 2252. Ankunft Lublin, 10. Februar, 1830. Endlich Dokumente, Akten, Tagebücher. Vielleicht nicht eigenhändig. Abgeschrieben vom Bruder für den Sohn, in sorgfältiger Schrift, zum Geburtstag, Initialen um Eichenlaub auf dem Ledereinband. Braucht uns nicht zu stören. 15. Febr. Tag der Polizei. Eintopfessen. Schlittenfahrt. 16. Febr. Fastnacht? 18. Febr. credo quia absurdum. 19.  Febr. Start? wird auf 1430 angesetzt. Fahrt nach Deblin. Nacht im Fliegerhorst. 20. Febr. Abflug nach Riga 1025. Ankunft 1330. Schöner Flug. Wechsel der Landschaft  – Einzelhöfe, umzäunt. Abends in der Stadt. Unterhaltungen: Langemarck. Da sitzt er, in der Junkers Ju 52 oder der Ju 88. Es dröhnt. Fausts Himmelfahrt. Er will von oben in die Hölle sehen. Kommt nicht näher heran. Der Rauch versperrt die Sicht. Mit der Filmkamera ergäbe sich eine schöne Bewegung. Von Muster zu Muster. Die Konturen der Landschaft, überblendet mit Grafiken des Frontverlaufs. Ineinander verzahnte Linien. Grundlinien der Schöpfung, durchkerbt von den Einschlägen der Kultur, der Landnahme, des Kriegs. Was war er naiv gewesen. Er hatte an den Glauben geglaubt. An die katholische Filmarbeit. Die Fahrt 118

nach Oberbayern, am Staffelsee vorbei, mit der Bahn nach Oberammergau, Wochen im Dorf, mit den Schauspielern, die Vorbereitung der Passionsspielaufführung. Die eigene Filmfirma, Fama-Film. Bald schon ging das Geld aus. Die Westfälischen Landeslichtspiele, das bot Möglichkeiten. Filme vorführen. Filme drehen. Das alte Soest, Polizisten, Kinder, dem Putzwagen hinterher, zwischen Petri-Kirche und Patrokli-Dom, der Allerheiligenmarkt. Dann wurde es seinem Jesuitenchef zu bunt. Zuschüsse gestrichen, Projektoren gepfändet, die paar tausend Mark. Ihr Gespräch. Jamoni, sagte er zu ihm, als wäre er ein Spanier, die Menschwerdung, der Kreuzestod, die Auferstehung, das widerspricht doch jedem vernünftigen Gottesbegriff. Die Kunst aber, befreit von Zwängen, gelöst von der bloßen Nachahmung. Glaubte er noch daran? Gibt es eine höhere Ordnung, einen Willen, so stark, dass ihn keine Not zu bezwingen vermag? Ruttmann hatte in seinem Film den Führer zitiert. 21.  Febr. 6h zum Flugplatz. Verpflegung für 2 Tage. 15° Kälte, Bodennebel. Start verschoben. 23.  Febr. 640 zum Flugplatz. Beladen der Wagen. 1125 Abfahrt nach Dorpat. Gute Fahrt. Bin Führer des 4. Zuges. Ankunft 18h. Quartier in Schule primitiv. 26. Febr. Bauernquartier. Mj. krank im Bett. Obl. Kuhr übernimmt die 1. Komp. Feldküchen und Gespanne sind gestellt. 27. Febr. Auswahl der Eingewöhnungstrupps, 16 Mann rücken in Stellung. Wm. Kolp  – mein Schatten  – wird zum Abtransport des Mj. bestimmt und fährt mit Geld, Briefen und vielen Aufträgen zur Heimat. – Nachmittags MG-Schießen im Walde. – Vier Ratas erscheinen. – Empfang der Wintersachen. Feldpostnr. erhalten. 119

1. März. Führer verläuft sich. – Beziehen des Abschnittes. Einweisen. Die Abgelösten rücken früh ab. Schneetreiben. Keine Verpflegung, keine Munition. 2.  März. Völlig eingeschneit. Weg wird freigemacht. Fenster. Wieder Taglicht. – Gute Stimmung. Anfertigung von Gelände- und Grabenskizze. Beobachtung lebhafter Feindbewegung. Späher. Alarm bis 24h. Ari schießt. – Kein Essen? 5.  März. Sehr kalt. Windstill. Helle Sonne. Petersburg bei klarem Wetter gut sichtbar. Schwere Beschießungen. Abends Nordlicht (?). Scheinwerfer. Brände. Unerhörtes Mondlicht. – Wie in Bilderbüchern. 6.  März. Granatwerfer. Ari schießt heftig. Vorgeschobene russ. Stellung erledigt. Stadtbild wie Paris. Rue de l’Odéon. Eine kleine Straße an einem Frühlingsabend. Überraschend still. Keine Taxis, keine Passanten. Fast zu eng für eine Straße. Eher der breite Korridor einer Familienpension, die Ladentüren führen zu möblierten Zimmern, am einen Ende der Salon, am andern die Küche. Schräg einander gegenüber, im Rechteck ihrer Haustüren, zwei Frauengestalten, im Gespräch, die eine grauhaarig, sie trägt ein taubenblaues Schneiderkostüm mit einem kurzen Rock, die andere in weiches Grau gehüllt, der Rock knöchellang. Die Blaue verkauft englische Bücher, die Graue französische. Bei der einen kann man im Hinterzimmer lesen, zwischen verblichenen Fotos, auch wohnen. Bei der anderen widmet ein unbekannter Dichter Eisenstein einen Band seiner Gedichte, ohne je von ihm gehört zu haben. Paris. Unter den Dächern. Schamonis französischer Freund. Eine gewaltige Kamerabewegung, von oben nach unten, von den Häusern auf die Menschen, vom zitternden Nebel, grauen Dunst über das tänzelnde Gewirr 120

der Schornsteine zu den Gassen und ihren Melodien, den langen Fenstern und engen Bistros, dem heiteren Moder der kleinbürgerlichen Wohnungen. Spiel des Helldunkels, die Muster des Straßenpflasters, die Glühbirnenreihen der Tanzlokale, schreitende Beine, bruchstückhafte Architekturen. Die Kamera fährt die Stockwerke rauf und runter, Gesichter, Gegenstände. Der schicke Zuhälter mit dem schwarzen Bärtchen. Das Mädchen, ihre schwarzen Augen, ihr Strumpfhalter, ihre nackten Arme. Musik überall. Musik, nicht Dialoge. Der ehrenhafte Straßensänger. Der schäbige Taschendieb. Die dicke Frau in der Wohnung. Alle singen, kaufen Noten. Der Clochard in der Ecke bearbeitet den vielgefälteten Leib der Ziehharmonika. Romantik, Sentimentalität, aber angenehm, Studioromantik. Clair geht nicht auf die Straßen, sucht nicht die Überraschung. Die Filmkritiker in Berlin und Frankfurt waren begeistert. Einführung in den Tonfilm, im Mozartsaal, da war auch Ruttmanns Melodie der Welt erklungen. Die Sirene des Dampfers heult, die Maschinen stampfen, die Tanzschuhe klappern, die Begleitmusik marschiert im Blech. 8. März. Gute Aufnahme i. Bunker von Lt. Hitzemann. Gute Verpflegung. Radio, Zeitungen usw. 9.  März. Vor Leningrad fährt Fabrikbahn. Einzelne Russen am Berg. Obl. hat Mausefalle gebaut. 4 Stück gef. Nachts viel Leuchtmunition. 12. März. Strahlende Sonne. SS O."G. Jeckeln mit Stab erscheint im Graben. Einige Aufnahmen. Sprengung eines Autos mit Tellermine. Sehr müde. 1. Impfung gegen Cholera. Starker Nebel über Drahthindernis. 13.  März. Um 350 Alarm. Russen im Draht. Durch Handgranate beeindruckt ergeben sich 2. Ein 3. wird erschossen. Zusammengefaßtes Feuer auf Drahthindernis. 121

Schreie. Zwei weitere Tote. Bei Sonnenaufgang zurückkehrende Feinde im Gelände durch Einzelfeuer erledigt. 14.  März. Sehr kalt. Lautsprecher von russ. Stellung. Nicht verständlich. Wasser u. Kaffee im Bunker gefroren. Tür u. Fenster werden gedichtet. Frauen mit Kindern, Jungens, Studentinnen kommen zur Stellung. Eine angeblich ohne Deutsch zu verstehen, aber beherrscht russ. Morsealph. mit Schlüssel. Weint: Will zu meiner Mutter. 15. März. Sehr kalt. Grab für die Russen wird bestimmt. Jetzt gelten die Regeln des Kriegs. Des Polizeibataillons 306. Das hat Erfahrungen. Erzählt abends Herrmann Findeisen, Rheinländer, hellblond, gelernter Anstreicher, seit 1935 in der SS, seit 1940 im Bataillon. Region Lublin gesäubert. Polnische Bauern ausquartiert. Operation Hühnerfarm. Operation Hasenschießen. Dafür gibts ’ne Medaille. 17.  März. Alarmanlage eingebaut. Einzelne Schüsse auf uns. Geld wird ausgezahlt. Sonnenschein. 18.  März. Grabenausbau. Neue Skizze. Zugw. Seeger besucht uns. Skeptisch, wenig optimistisch.  – Keinerlei Nachrichten. Nur Gerüchte: Indien gegen England. Türkei gegen Rußland. Australien will Frieden mit Japan. 19. März. Schwarze Wolken über Leningrad. 20.  März. 8h zum Kochdorf. Abseits auf einer Höhe Hpt. Landwehr getroffen. Werkstätten für Schneiderei, Schusterei. Guter Eindruck.  – Schießverbot.  – Im Batl. Gef. St. Luftaufnahme der Stellungen. 21. März. Ruhige Nacht. Bunkerausbau. Weiße Decke, Teller und Gläser gefunden. 23. März. Erste Feldpost. 2 Briefe aus Berlin. 24. März. Toter Hund gefunden. 17 Mann erhalten keinen Tee. Beschwerde! 122

25. März. Küchendorf. Aufnahme von Grabenarbeiten. Tauwetter. Regen. 26. März. Unser Bunker bricht ein. Grundwasser. Dach wird abgetragen. Ofen raucht! 28. März. Mondlicht. Sonnenaufgang. Dämmerung seit 15 3 . Der Reiz des Feuerwerks. Kapitel darüber in der Diss. Großartige Ausbeute von künstlichen Licht- und Farbenbewegungen. Schon früher gab es nicht nur steigende und fallende Leuchtkörper, auch bewegte bunte Figurengebilde, wirkungsvolle Formspiele, auf das Elementare konzentriert. Farborgeln. Farbklaviere. Farbenlichtspiele. Elektrische Glühbirnen. Reiz des Ornaments. Wiederholung, Reihung, gesetzmäßige Gestaltung. Die Wand als Bildfläche. Bilderzählung. Schöpferische Komposition aller Teile, ihrer Beziehungen und Verhältnisse. Gedanklich durchflutete Formung. Formfantasie. Das Fantastische. Bis sich die Überfülle in kunstvoll gegliederte, lichthaft durchströmte Räume, wunderbar disponierte Bewegungs-Symphonien auflöst, alle Farben durch Licht und Schatten, alles Figürliche mitreißend in übersinnliche Emotionen. Der Mensch? Medium der Bewegung. Eigene Welt, eigene Gefühle, Stimmungen, Bewegungslüste. Überwindet die Schwere und Trägheit seiner irdischen Masse. Erfindet in Tempo, Rhythmus und Verlauf tänzerische, absolute, freie, schwerelose Bewegungskompositionen. Spiel mit unendlichen Möglichkeiten, immer anders, immer neu, einfach und virtuos, elementar und verspielt. 29. März. 1030. Landwehr u. Adj. kommen zur E.-K.-Verleihung. Sagt erst, es sei abgelehnt, Kriegsverdienstkreuz bewilligt. Scherz! Feierliche Verleihung im Graben. Fotos. 123

30. März. Ofen qualmt ungeheuerlich. Gasmasken aufgesetzt. Wetterumschlag. Schneetreiben, dann wieder Sonne. 1540 Aufnahme von Landschaft. Sofort Ari-Beschuß. Am Ohr vorbei. 1. April. Strafexerzieren. Post geschrieben nach Paderborn und Leipzig. Bunker 13 zur Entlausung. Neue Bunker werden gebaut, alte ausgeplündert. Geist bringt Weidenkätzchen mit. – Frühling! – Sacre du Printemps. Frühlingsopfer. Junge Mädchen tanzen. Verschiedene Stämme kommen zusammen, kämpfen miteinander, eine Jungfrau wird auserwählt. Tanz des Todes. Entstehung des Lebens. Von der Amöbe zum Dinosaurier. Jahrmillionen in Minuten. Erst nicht Sand noch See, nicht salzige Wellen, nicht Erde, nicht Himmel, kein Gras. Dann die Sonne. Grün grünt. Sonne von Süden. Weiß nicht, wo wohnen. Mond. Weiß nicht, was tun. Sterne. Wissen nicht, wo bleiben. Leben. Atem. Farben. Rauch der Vulkane, wahrscheinlich erzeugt durch Tinte in klarem Wasser. Platzende Lavablasen, ein Gemisch aus Mehl, Schlamm und Kaffee, in das Luft geblasen wurde. Dinosaurier, groß, friedlich, fressen von den Bäumen, genießen das Geschling. Bis der Feind kommt, der Fleischfresser, der Aggressor. Der Tyranno gegen den Stego. Zweikampf auf Leben und Tod. Sein stachliger Schwanz. Er hält stand. Schlägt zurück. Kommt unter die Räder. Der Schwanz zuckt. Wer weiß noch mehr? Dumpfer Fall, grässliches Heulen, verstärktes Fauchen. Unerhörtes ereignet sich. Keiner schont den andern. Windzeit. Wolfszeit. Kein Baum rauscht mehr. Berge stürzen. Fesseln brechen. Riesinnen straucheln. Der Himmel klafft. Schwarz wird die Sonne. Die Erde sinkt ins Meer. Das Orchester bricht zusammen, staut sich erneut auf, wird vom Schlagwerk 124

getrieben. Wieder taucht was auf. Grün, wenn das Wasser weicht, eine einzelne Flötenstimme, jäh, unbeweglich. Der Schluss fehlt. Am 6. April schied das Bataillon 306 aus der Kampfgruppe Jeckeln aus und bezog neue Stellung im Abschnitt Poretje-Woronowo, 15 km südlich des Ladogasees, zusammen mit der Freiwilligen-Legion Norwegen. Man stand frischen, gutversorgten, an die extremen Minustemperaturen angepassten sibirischen Divisionen gegenüber. Die Front nahm die Form einer Fläche an, über die in mehr oder weniger tiefer Staffelung nach allen Seiten verteidigungsfähige Stützpunkte verteilt worden waren, deren Lage durch Ortschaften und Waldstücke bestimmt waren. Zwischen den Stützpunkten gab es vielfach weite unverteidigte Räume, die – wenn der Gegner in sie eindrang – durch Gegenstöße und Gegenangriffe wieder gesäubert werden mußten. Wo dies nicht sogleich gelang, entstand eine Verzahnung der beiderseitigen Fronten, die sich erst nach wochenlangen Kämpfen wieder löste. Doziert Oberleutnant Kuhr, im Zivilleben Polizeiwachtmeister. Und schreibt an Maria Schamoni. Die hat schon kurz nach Victors Weggang Besuch aus dem Ministerium erhalten. Man beschlagnahmt das Film- und Fotomaterial, schleppt Manuskripte und Bücher fort, Kisten mit den Vorarbeiten für den guten Film. Dann Besuch einer Geldbriefträgerin. 138,50 RM, gefunden in der Börse Ihres Mannes. Am 13. April gegen 11 Uhr war Ihr Gatte im Graben seines Zuges bei der Verbesserung seiner Stellung tätig. Um einen 125

besseren Überblick über den Grabenverlauf zu bekommen, stieg er für einen Augenblick auf den Grabenrand. Kaum hatte er sich auf der Böschung gezeigt, traf ihn auch schon ein feindliches Scharfschützengeschütz mitten ins Herz. Seine Männer haben ihn sofort zum Zuggefechtsstand gebracht. Es konnte nur noch festgestellt werden, dass Ihr Gatte nicht gelitten hat. Da lag er nun vor seinem Bunker aufgebahrt, den er noch kurze Zeit vorher mit besonderem Eifer zu einem wahrhaft wohnlichen Heim ausgebaut hatte. Nun ruht Ihr Gatte unter Kameraden auf dem Heldenfriedhof auf einer Höhe in der Nähe des Batallionsgefechtsstandes. Das Problem Schamoni. Gelöst. Versorgungsansprüche? Dr. Schamoni ist als Spielleiter Mitglied der Fachschaft Film unter der Nummer 941. Er betätigt sich hauptsächlich auf dem Gebiete des Kulturfilms. Seine Einnahmen aus dieser Tätigkeit sind weder hier noch beim Filmnachweis bekannt. Aus dem Wohlfahrtsfonds der Fachschaft Film hat er bisher Unterstützungen oder Darlehen nicht bezogen. Versorgungsansprüche als Schriftsteller von Ruf? Wird Ihnen mitgeteilt, daß der Verstorbene Dr. Schamoni hier nicht organisiert war und daß auch kein Material über ihn vorhanden ist. Er kann daher von hier aus leider nicht als Schriftsteller von Ruf bezeichnet werden. Das Problem Schamoni. Gelöst. Das Grab. Unauffindbar. Die Filme. Verschollen. Oder Nitratrollen. Vorführbar nur mit dem Feuerlöscher daneben. Aber den brauchen wir. Im Morgengrauen erscheinen am Himmel von Norden einige schwarze Punkte. Marienkäfer. Hummeln. Hornissen. Sie lassen andere kleine Punkte fallen. Es dauert, bis der Rauch sich zu Formationen versteigt. 126

Klein-Kölzig, März 1921 Ehemaliges Rittergut, eingeschossiger Putzbau, sieben zu zwei Achsen mit zweigeschossigem Mittelrisalit, Mansardendach mit Krüppelwalm, ursprünglich von Wassergraben umgeben. Sie können das nachlesen, finden vielleicht sogar eine Postkarte, mit Pferd drauf, Karren, ein paar Kühe, viel Himmel. Was tun wir hier, in der Lausitz, nah der polnischen Grenze, wo mehr Wenden als Deutsche wohnen. Wir arbeiten wie besessen. Wir suchen die Wahrheit. Wir fahren nach Berlin. Wir streiten. Viel. Übers Leben. Die Liebe. Die Form. Die Zeit. Das Geld. Was anfangen mit dem, was uns der Bankdirektor zur Verfügung stellt. Als Sicherheit das alte Renaissancebild, das Eggeling aus Italien mitgebracht hat. Das hat er eigentlich meinem Vater versprochen, dafür, dass er hier wohnen darf, zwei Jahre schon. Zeit, sich zu finden, sich zu verlieren. Vorher ist er wütend aus dem Haus gerannt, als ich wieder anfing. Wir müssten neue Wege suchen. Keine Verfilmung unserer Partituren. Das Filmmaterial selbst gestalten. Morgen werde ich einen Techniker treffen bei der Ufa, im Grunewald. Pläne besprechen. Ressourcen kalkulieren. Eggeling wird nicht mitkommen. Er ist menschenscheu. Ein Denker, Grübler. Welch eine Entdeckung, damals in Zürich, im Hotel Limmatquai. Zimmer an Zimmer mit Tzara. Er klopft von seiner Seite an die dünne Wand. Will mir jemanden vorstellen, einen, der auch abstrakte Experimente macht, das Absolute sucht. Schwede, spricht französisch. Untersetzt, blauäugig, hageres Gesicht, scharfes Profil. Er wollte seine Landschaftsbilder in der Galerie Wolfensberg hängen. Sonst lebt er in Ascona, Einsiedler, mit Frau und Hund. Seine kleine, vernachlässigte Frau. Sein kleiner 127

Hund. Sie leben von den Gemüsen des Gartens, die ihm der PelzMeier überlässt. Gelegentlich gibt er ihm ein Bild. Arbeitet als Zeichenlehrer, Schlittschuhlehrer. Aber das war vielleicht vor dem Krieg. Er ist ein paar Jahre älter. Die Ideen sind die gleichen. Kunst, befreit vom Anspruch der Wirklichkeit. Was ist Wirklichkeit. Aufgebauschtes Nichts. Suche nach Einheit, Ganzheit. Glaube an den großen Sinn im Lebendigen. Linie, Form, Bewegung, Protest. Ich glaube an die Revolution. Ich glaube an die Kunst. Ich glaube an die Abstraktion. Meine Dada-Köpfe, keine Porträts mehr, Reduktion auf das Wesentliche. Wesensverbindung, mit Eggeling. Enthusiastische Identität. Das hat man, wenn man jung ist. Im Zürcher Niederdorf war der Krieg weit weg. Nur das Problem der Legalität, manchmal mussten wir eine Freundin nachts über die Grenze bringen. Eines Morgens lag unser Buchhändler tot in seinem Geschäft, wo wir ein- und ausgingen. Kokain. Dada, mondsteinfarben. Jonglieren mit den eigenen Gebeinen, unter Einschluss der Gedärme, während anderswo die Granaten wirkliche Gedärme zerfetzen. Ich flüchte in die Kunst, suche nach dem perfekten Gemälde. Abstrakte Wirklichkeit. Amorphe bunte Gebilde gegen die grauen, schwarzen, weißen Geometrien der Kriegsmaschinen. Ich nehme Eggeling auf unsere Treffen mit. Tzara wenig begeistert. Im Kaufleuten sind fünfzehnhundert Leute. Eggeling. Il relie le mur à la mer et nous dit la ligne propre d’une peinture à venir. Ich bramarbasiere, élégant et malicieux. Gegen für ohne Dada, Dada télégraphique, mentalité dada, dada, dada. Prinzip des Zufalls, der unmittelbare Impuls, die seelische Verteidigungsformel auf Unvorhergesehenes. Damit kann er nichts anfangen, der schwedische Metaphysiker. Disziplin über Bord werfen. Schrulle statt Ordnung. Angst vor Gesetzmäßigkeiten. Nein. Er glaubt an die Vision des Schöpfers. Das will Tzara nicht drucken. Nur eine Zeichnung, nach langem Kampf, nimmt er in den Almanach auf. Er nennt ihn 128

tus in der Sommerfrische. Lo hat mich jetzt wieder daran erinnert. War sie überhaupt bei der Veranstaltung. Getanzt hat sie nicht. Nicht wie vorher. Abstrakte, fantastische Figuren, ausgelöst von Gongschlägen. Ihr Körper eine poetische Lautfolge. Gesang der Flugfische und Seepferdchen. Tanz voller Spitzen und Gräten, voll flirrender Sonne und schneidender Schärfe. Labans Damen. Nicht nackt wie auf dem Berg der Wahrheit. Eingeengt in Röhren, überdimensionaler Kopfschmuck, Gewänder wie archaische Bilder. Vibrierend. Während das Odéon unser irdisches Hauptquartier war, war Labans Tanzschule unser himmlisches. Dabei hatte ich gerade geheiratet. Ihre Beine wirbelten mein Hirn durcheinander. Ihr Lächeln. Sie gibt sich. Und behält sich. Behält ihren Schalk. Sie brachte mich zum Zug, an diesem 9. April, vor zwei Jahren. Ich hatte ein Telegramm erhalten aus München. Die Revolution war ausgebrochen. Ich machte mich gleich nach der Soirée auf den Weg. Toller, Mühsam, Landauer, mein Bruder Richard. Ich werde zum Vorsitzenden des Aktionskomitees ernannt. Wir wollen wichtige Gebäude annektieren, eine allgemeine Krankenversicherung für Künstler einführen. Ich verlese mein Zürcher Manifest. Fliehe, werde festgenommen, zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Meine Mutter interveniert. Zurück in Zürich, ist es fast vorbei mit Dada. Lo war in der Zwischenzeit nicht alleingeblieben. Dramatic upsets. Morgen wird sie kommen. Nach Berlin. Da stehen die Dadaisten vor Gericht, weil sie durch irgendeine Mappe das Ansehen der Reichswehr beschädigt haben, Angriff auf die edelsten Güter der Nation, nicht mal dem Reichskunstwart leuchtet das ein, der Richter wird zum Gesinnungsprüfer. Mich lässt die Sache kalt. Die Phase ist vorbei. Meine Flamme brennt woanders. Lo. Ich werde sie nach dem Treffen mit dem Techniker vom Bahnhof abholen. Werde mit ihr ins Palais de Danse gehen. Eintritt in Gesellschaftstoilette. Saal im Stil Ludwigs. Glänzendes Parkett. Viel Schlenkern, Schieben, 129

Hopsen, Gleiten. Die Damen, in sich versunkene Lieder in Laub. Die Geigisten lassen an der Spitze ihrer Bogen die Herzen zucken. Wir werden in der Pension Mecklenburg in der Nähe der Tauentzienstraße wohnen, protestantisch, da muss ich sie auf dem Anmeldezettel als meine Braut ausgeben. Wenn ich ihn ausfülle. Eggeling hat sich kürzlich in meinem Beisein geweigert, im Feld Religion eine Angabe zu machen. Gedrängt, wurde er wütend, riss der Besitzerin den Zettel aus der Hand und schrieb Heide in das Feld. Seitdem lässt man uns in Ruhe. Später werde ich sie mit aufs Gut nehmen. Ihr die Wälder zeigen. Die alte Ziegelei. Wir werden mit der Feldbahn fahren. Ihre kesse Kappe. Schönes Dekolleté. Sie wird sich amüsieren über die quiekenden Schweine auf dem Hof. Eggeling. Ich muss ihn von ihr fernhalten. Wahrscheinlich ist er ohnehin mit seiner schönen Wendin, der wendischen Magd. Gestern sprach sie mit mir, selten genug. Gesicht nic mehr módry, pan Richter. Eggeling muss ihr mein Gemälde Blauer Mann gezeigt haben. Ich deute auf den Brunnen und mache Waschbewegungen. Später hör ich sie beim Arbeiten ein Lied singen. Tom tom tinz, | Sie buck ’ne Blinz; | Tom, tom tich, | Drauf lüsterts mich. Weiß sie, was sie singt. Wie soll ich sie danach fragen. Sie zeigt mit den Händen etwas Flaches an, Kreisbewegungen, nun horizontal. Tom tom ther, | Ich wollte mehr; | Tom tom ticht, | Sie gab mirs nicht. Ihre runden Schultern. Ja. Ja. Ich soll erzählen, die Finger deuten auf den Mund, wójna, vom Krieg. Wie soll das gehen. Ich zeige ihr mein Bild. Schweine, die menschliche Leichen fressen. Meine Tuschezeichnung Erde ohne Vernunft, ein Tier mit langem Rüssel, Menschen liegen am Boden. Sie will von sich erzählen, vielleicht von ihrer Familie. Da ist auch jemand tot, Handbewegung an der Gurgel. Sie ist noch klein, ein Mädchen, sie versteckt sich, gräbt sich ein, vielleicht unter Stroh, unter Laub, sie hat Angst, der Körper zittert, sie rennt, und rennt. Zur gleichen Zeit zitterten unsere Tänzerinnen im Kaufleuten. Inmitten des Trubels, der Trommeln und Schreie, Schwingungen 130

der Nerven. Erst Geburtsschrei. Dann wilder Tanz grauer Schatten und Larven. Eggeling hurt herum. Seine Frau wird immer grauer. Unser Projekt stagniert. Passé die Nächte hier auf dem Gut, in denen wir verglichen, was wir untertags gemacht hatten. Unsere wenigen Platten hörten. Immer wieder das Menuett von Rameau. Das passt zu den tänzerischen Bewegungen der abstrakten Formen, die wir auf dem Boden ausgelegt haben. Wir gehen an den Zeichnungen entlang. Seine Horizontal-Vertikal-Messe, mein Präludium. Ein schwarzes Rechteck, ein graues Sechseck, einfache Linien, zwei Bögen, dann immer komplexere Formen. Flächen, sich verschiebende Flächen. Wir merken, alles ist da, wir müssen es nur in Bewegung bringen. Nicht mehr Einzelbilder. Rollenbilder. Rollen, Rollen. Wir denken, wir haben was erfunden. Dabei braucht man nur eine Kunstgeschichte aufzuschlagen, die Ägypter, die Chinesen. Abstrakte Formen. Auf Papier. Auf dünnsten Gummischeiben, Gummibändern, Gummihäuten bringen wir sie an. Meine Geschwister müssen sie, wie bei einem Orchester, nach unserem Dirigieren auseinanderzerren. Ja, eine große Familie. Mit kleiner Maus. Die kommt immer, wenn wir das Menuett spielen. Klettert auf den Tisch, setzt sich neben das Grammofon, putzt sich. Nicht bei Bach, bei Beethoven, bei Mozart, nur bei Rameau. Universale Musik, korrespondierend mit inneren Bewegungen der Natur. Unsere Familie, um den großen Tisch, viel Blumenschmuck. Einmal kommt der Fotograf. Eggeling blickt starr, 90 Grad zur Kamera, seine Frau versonnen, meine Schwester Dora daneben, aber sie interessiert sich nicht für Eggeling, nur für Rukser, einen anderen meiner Dadafreunde, der gerade drauf und dran ist, ein erfolgreicher Jurist zu werden. Ich im Schatten, verschmitzt, der Blick des Vaters auf mir. Von Erfolg keine Spur. Sie meinen, ich flunkere wieder. Gutsbesitzersohn, die Mutter eine Rothschild. Warten Sie ab, das kann noch zum Problem werden. Lassen Sie die Inflation zunehmen, all die neuen Papierwerte, Kriegsanleihen, fiktive Wertsteigerungen. 131

Ein schlechtes Geschäft meines Vaters, und das Gut ist weg. Der Bankdirektor verlangt sein geliehenes Geld zurück. Das italienische Bild muss verkauft werden. Alles dreht sich, alles bewegt sich. Unsere Rollen öffnen uns keine Türen. Wir kopieren sie, damit wir sie besser vorzeigen können. Ja, das alte Thema, Kopien, keine Fälschungen. Aber es ist doch ein Zufall, dass auf einer Jagdpartie der Bankdirektor aufmerksam wird. Jetzt können wir es mit der Filmtechnik versuchen. Nur verstehen wir nichts davon. Wir kommen von der Malerei. Film ist teuer. Wir brauchen mehr Werbematerial. Ein Programm, ein Manifest, ein Pamphlet. Neuer Streit. Der entscheidende Akzent. Generalbass der Malerei. Also Verbindung von Musik und Kunst. Oder doch lieber Sprache, Ziel, eine neue Sprache zu entwickeln. Formsprache. Universelle Sprache. Sie beruht auf einem Alphabet, entstanden aus einem elementaren Prinzip der Anschauung. Grundgedanke Polarität. Polarität als generelles Lebensprinzip, Kompositionsmethode jeder formalen Äußerung. Acht Seiten unser Text, schön auf der Maschine getippt, in der Druckerei vervielfältigt. Wir verschicken ihn. Nach München, Frankfurt, Zürich, Paris. Viel positives Echo. Einstein schreibt. Ein glücklicher und berechtigter Gedanke. Übertragung des Wesens der Melodie auf das Gebiet des Sehens. Zeitliche Aneinanderreihung. Dies Unternehmen verdient zweifellos Interesse. Hilft das. Ich brauche einen Assistenten, eine Assistentin. Lo kann der Filmerei nicht viel abgewinnen. Im Kino liebt sie die Borelli und die amerikanischen Grotesken. Wo immer sie wohnt, hängt sie sich zwei Postkarten an die Wand. Charlie Chaplin. Einmal sein Kopf, Gesicht ganz weiß geschminkt, herrliche Zähne, kleiner Schnurrbart, schwarz gemalte Augenbrauen, die Augen sieht man nicht, weil er zur Seite blickt, nur ein schelmischer Schimmer von Schwarz und Weiß, er lacht. Die andere Postkarte, nun die ganze Gestalt, sitzt auf einer Treppe, die derben, zu großen Schuhe, die unmögliche Hose, Knie hochgezogen, Arme über der Brust gekreuzt, neben ihm 132

sein kleiner Hund, sieht genau aus wie sein Herr, an den er sich lehnt, ganz weiß, nur die Augen schwarz, die Schnauze. Vielleicht werde ich sie fragen, ob sie mich heiratet. Einen geschiedenen Mann, dem das Geld fehlt, der aber Beziehungen hat. Würde ich bei ihren Auftritten immer in der ersten Reihe sitzen. Mit Blumen vor der Garderobe warten. Mit Argusaugen ihre Kollegen und Freunde beobachten. Würde sie mir helfen, das Alphabet meiner universellen Sprache zu entwickeln. Die Papier-Rechtecke und -Quadrate herzustellen, zu verschieben, übereinander zu legen, die die Kamera dann in Bewegung versetzt. Wenn es so einfach wäre. Bei der Ufa in Neubabelsberg. Grunewald. Der Techniker, Dr. Lang, lächelt über meine Naivität. Wo fängt welche Figur an. Wann bewegt sie sich wohin. Wie schnell oder langsam. Wann, wie und wohin verschwindet sie. Er hat eines der neuen Tischtelefone, sehr elegant. Es läutet zweimal. Er lässt es sich nicht nehmen, mich durch das Gelände zu führen. Dabei muss ich zum Bahnhof. Wir durchqueren verschiedene Hallen und Ateliers, von Glasdächern bedeckt. Renaissancepaläste, skizzenhaft. Moscheen. Hochhäuser. Wenn man näherkommt. Nur Pappe. Nichts dahinter. Höheneffekte werden mit Hilfe von Spiegeln erzeugt. Ein ganzes altdeutsches Städtchen. Es wird verträumt wirken, jetzt hetzen Statisten, Assistenten, Techniker hin und her. Eine lange Mauer. Im fertigen Film wird sie noch länger aussehen, ein Überblendungstrick zaubert eine Öffnung hinein. Hintergründe im Stil Caspar David Friedrichs. Interieurs, an mehreren Seiten offen, Spitzweg lässt grüßen. Daneben ausgedehnte Sanddünen, lassen sich in wenigen Stunden hinrichten und wieder wegräumen. Das alles modelliert durch das Licht. Die Bauten werden von unten angestrahlt. Durch den Zusammenklang von Schatten und erleuchteten Flächen erhalten die Dekorationen wirklichen Charakter. Architektonische Plastik. Das vom Licht umflossene Relief erscheint als ein Geflecht weißer Linien. Dr. Lang wird ans Telefon gerufen. Lässt mich in einer 133

ältlichen Gasse, Stücke moderner Architektur hineingearbeitet, falsche Empiremöbel neben Fragmenten einer Renntribüne. Gleich daneben Palmenwälder, Bambusdschungel, Wasserfälle. Auch echte Pflanzen. Überseeische Fauna, in der sich Tiere verschiedener Provenienz tummeln. Tauben, Gold- und Silberfasane, Schwarzkappenreiher, ein Rudel Krokodile, der Junge, der bei ihnen steht, ist eine Attrappe. Ich muss zum Bahnhof. Lo. Ich sehe sie. Bei der Schnellbootregatta auf dem Zürisee, einer ihrer reichen Freunde hat sie mitgenommen, ganz vorn steht sie, eine wollene Mütze hält ihre vollen Haare zusammen, die enganliegende Sportjacke schmiegt sich an ihre weichen, schlanken Linien, der weiße Rock flattert im Wind und gibt die zarten, rassigen Füße frei. Lichtflecke, -blitze auf dem Wasser, die Boote orchestrieren den See. Wir werden nicht auf dem Gut leben. Wir brauchen die Stadt. Eggeling kann sich in die Landschaft vertiefen, er tastet ihre Linien und Strukturen ab, kleine Menschen wie Musiknoten auf einer langen, langen Straße. In mir lebt die Revolution. Noch ein anderes Studio will mir Dr. Lang zeigen. Da werden die Trickaufnahmen für eine chinesische Sequenz gedreht. Ein fliegender Teppich, eine Spielzeugarmee, die zu Füßen des Kaisers aus einem Kasten marschiert, Menschen, die sich in Tiere verwandeln. Ein meterlanger Brief, Briefschlange aus Papier, die sich vor dem Kaiser aufrichtet, anmutig hin und her tänzelt, Richtung Himmel davonfliegt. 3 Meter Film. Ungefähr 800 Einzelbilder. 800-mal die Position der Schlange leicht verändert. Dann in die eigentliche Szene hineinkopiert. Ich muss gehen. Ich werde zu spät kommen. Nein, noch etwas. Hier wird ein Film mit Ton gemacht. Nicht Schallplatte oder Begleitmusik. Ton als Lichtton auf dem Filmstreifen, auf 42 Millimeter erweitert. Tri-Ergon. Das Werk einiger Ingenieure. Schallwellen verwandeln sich in elektrische Impulse, die wiederum in Licht, das die Silberbeschichtung des Filmtonnegativs schwärzt. Das durch den Positivstreifen hindurchscheinende Licht der Projektionslampe 134

wird dann in elektrische Impulse verwandelt, die zuletzt eine schallerzeugende Membran zum Schwingen bringen. Es sieht nicht mehr aus, als komme die Stimme aus einem fotografierten Mund. Sie steigt in der Brust eines leibhaftigen Menschen auf. Steigt mir zu Kopf. Verwirrt meine Sinne. Was ist wirklich. So viel Technik. So viel Effekt. So viel Schein. Und die Wahrheit. Unbegrenzte Möglichkeiten. Wir malen und zeichnen noch. Hier entstehen ganze Welten. Und gehen wieder unter. Bleiben die Filme. Ist ihr Material nicht zu schlecht. Werden sie nicht brennen. Spätestens im nächsten Krieg. Wenn ich wieder fliehen werde, alles zurücklassen werde. Auto, Kamera, Kleider. Meine frühen Arbeiten. Das Pamphlet. Stand überhaupt mehr darin als das, was ich in einem Artikel schrieb, den Eggeling unter seinem Namen auf Ungarisch veröffentlichte. Moskau. Prag. Paris. Auftragsfilme. Lissabon. New York. Immer wieder neu anfangen. Dada neu erfinden. Filme darüber. Mehrere Bücher. Erinnerungen. Geschichten. Unser Treffen, vereinbart kurz nach Beginn des Krieges, genau in zwei Jahren, am 15. September 1916, im Café de la Terrasse in Zürich. Da sitzen die beiden Freunde schon, als ich komme. Ich, der lebendige Geist der Vergangenheit. Auf der Suche nach den alten Bildern und Wörtern. Den Bestandteilen des Alphabets, undogmatisch und synthetisch angewandt. Ich rekonstruiere. Totalität aller schöpferischen Kräfte, aus einer gemeinsamen Wurzel zu unendlich vielfältigen Formen. Ich schneide. Mein Leben, vorwärts und rückwärts. 3 steps ahead, 2 back. 6 steps ahead, 1 back. 12 steps ahead, 0 back. Der Ariadnefaden. Schnipsel aus verschiedenen Zeiten. Ich deklamiere. Kunst. Herrschaft über die Mittel, bei äußerster Ökonomie. Nicht subjektive Explosion eines Individuums, sondern organische Sprache von tiefster Bedeutung für die ganze Menschheit, in ihren Grundlagen irrtumsfrei und lapidar. Statt Prinzipien Symmetrien und Rhythmen. Flugkörper, gerade, gebogen, nah zusammen, weit entfernt, einander überlagernd, ineinander übergehend, spread 135

like words in a sentence, or thoughts in an essay. Ich werde Filme machen. Eine Zeitschrift gründen. Eine Ausstellung vorbereiten. Das ist die Wahrheit. Egal, was Sie über mich lesen. Ich schlüpfe nicht in Masken, aus Pappe geschnitten, gemalt, beklebt. Ich unterwerfe mich nicht ihrer motorischen Gewalt, dem Narrenspiel aus dem Nichts, rau, glatt, hart, wolkig, glänzend, stumpf. Die Wahrheit. Synthese × Analyse. Erkenntnis × Mystik. Schnabel. Zunge. Auge. Zusammenspiel. Meine ausgestreckte Hand. Ruhig und steif. Leichtes Muskelzucken der Finger. Die größte Verständlichkeit mit der größten Unverständlichkeit vereinen. Schrieben wir. To determine man’s being, like the wind, the trees. Bin ich zu spät. Sind die Lichter schon aus. Werde ich sie bitten, mich zu heiraten. Flitterwochen am Meer. Sonnenaufgang. Tausendfältiges Licht.

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fragen uns. Ob das so enden kann. Waren wir genau genug oder zu genau? Zu fantasievoll oder zu gehemmt? Zu nachlässig im Zitieren? Oder zu wenig sensationslüstern, um einen Kriminalfall zu konstruieren? Haben wir unseren Akteuren, unseren Erzählern Gerechtigkeit widerfahren lassen oder sie in falsches Licht gerückt? Sollten wir eine andere Geschichte erzählen? Viking Eggeling überlebt seine Angina und wird zum Kinarchen des absoluten Films. Nicht mehr die Schattenfigur Hans Richters, dem es seinerseits gelingt, den Minotaurus zu verwirklichen. Als virtuos-souveräne, philosophisch-gleichnishafte Verbindung von Avantgarde und Erzählkunst erhält der Film 1961 in Venedig den geteilten Goldenen Bären, zusammen mit Alais Resnais’ L’année dernière à Marienbad. Im Jahr zuvor erscheint Siegfried Kracauers große Studie zum Film als Befreiung von der äußeren Wirklichkeit durch formale, optische Gestaltung. Dann kommt Bernhard Diebolds Monumentalroman Das Reich ohne Mitte neu heraus und erhält verspätete Anerkennung, weit über das Feuilleton hinaus. Das wahre Kompendium der geistigen Strömungen der Zeit. Die Bilanz der modernen Avantgarden. Mit Oskar Fischinger stirbt der Star des Animationsfilms. Seine frühen Farbtonfilme, von der Ufa produziert, öffneten ihm den Weg nach Hollywood, wo er, hauptverantwortlich für den atemberaubenden Evolutionsfilm Fantasia, bald schon jeden Stoff der Weltliteratur in klingende Töne übersetzen durfte. Ré Soupault erlangt Unsterblichkeit, indem sie zu Eggelings hundertstem Geburtstag das lang verschollene IR

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Pamphlet Universelle Sprache in einer großen Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich macht. Victor Schamoni? Die Wiederentdeckung seiner ebenfalls für verloren gehaltenen Dissertation über den absoluten Film (1926) stand am Anfang unserer Faszination an der Avantgarde. Nicht auszudenken, sie wäre damals schon im Druck erschienen und hätte den Büchern eines Béla Balázs den Rang abgelaufen. Seine filmischen Arbeiten hätten den Neuen Deutschen Film eingeleitet, der in seinen Söhnen Fortsetzung fand. Wir erinnern uns. Eine Begegnung mit Peter Schamoni. Überzeugt davon, es handle sich um einen unerkannten Caspar David Friedrich, zeigt er uns ein kleines Ölgemälde, das der Vater aus dem Osten mitgebracht habe. Auch von der Berliner Kiste weiß er, in der sich die Aufzeichnungen und Filme befanden. Das eine oder andere habe er, achtjährig, herausgenommen und vor der Vernichtung bewahrt. Zu gegebener Zeit werde er uns Einsicht gewähren.

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