Diatopische Variation im Wörterbuch: Theorie und Praxis 9783110482263, 9783110479973

This monograph examines how modern dictionaries present diatopic variations in standard language. Using detailed analyse

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Diatopische Variation im Wörterbuch: Theorie und Praxis
 9783110482263, 9783110479973

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
Teil I: Theorie
2. Sprachlicher Standard
2.1 Definition von Standardsprache
2.1.1 Normbezogene Definition von Standardsprache
2.1.2 Sprachgebrauchsorientierte Definition von Standardsprache
2.1.3 Regionale Gebrauchsstandards
2.2 Umgangssprache und Dialekt
Umgangssprache
Dialekt
3. Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren
3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität
3.1.1 Plurizentrizität
3.1.2 Pluriarealität
3.1.3 Plurizentrizität und Pluriarealität im Vergleich
3.2 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache
3.2.1 Vollzentren der deutschen Sprache
3.2.2 Halbzentren der deutschen Sprache
Halbzentren mit Deutsch als nationaler Amtssprache
Halbzentren mit Deutsch als regionaler Amtssprache
4. Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung
4.1 Lexikographie: Begriffsbestimmung
4.2 Metalexikographie und Wörterbuchforschung: Begriffsbestimmung
4.3 Nachschlagewerk: Wörterbuch – Lexikon – Enzyklopädie
4.4 Aufbau von Wörterbüchern
4.4.1 Wörterbuchaussentexte
4.4.2 Lemma
4.4.3 Makrostruktur
4.4.4 Zugriffsstruktur
4.4.5 Mikrostruktur
4.4.6 Verweisstruktur
5. Wörterbuchtypen
5.1 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009)
5.1.1 Allgemeinwörterbuch
5.1.2 Spezialwörterbuch
5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten
5.2.1 Vorteile von elektronischen Wörterbüchern
5.2.1.1 Allgemeine Vorteile des elektronischen Mediums
5.2.1.2 Zugriffs- und Verweisstrukturen
5.2.1.3 Pflege des Wörterbuchs
5.2.2 Wörterbuchportale
Teil II: Wörterbuchanalysen – Standardsprachliche Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache
6. Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz
6.1 Gegenstandsbereich
6.2 Intendierte Wörterbuchfunktion
6.3 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise
6.4 Zur Form des Schweizerhochdeutsch-Dudens
6.4.1 Wörterbuchaussentexte
6.4.2 Strukturen im Artikelteil
6.5 Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden
6.5.1 Diatopische Markierungen
6.5.2 Diaphasische Markierungen
6.6 Art der Varianten
7. Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol
7.1 Gegenstandsbereich
7.2 Intendierte Wörterbuchfunktion
7.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise
7.4 Zur Neuauflage des VWB
7.5 Zur Form des VWB
7.5.1 Wörterbuchaussentexte
7.5.2 Strukturen im Artikelteil
7.6 Markierungen im VWB
7.6.1 Diatopische Markierungen
7.6.2 Diaphasische Markierungen
7.7 Grammatische Variation im VWB
8. Duden. Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle
8.1 Gegenstandsbereich
8.2 Intendierte Wörterbuchfunktion
8.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise
8.3.1 Zweifelsfall und Norm
8.3.2 Leitvarietät
8.3.3 Vorgehensweise bei den grammatischen Analysen
8.3.4 Dudenempfehlungen
8.4 Zur Form des Zweifelsfälle-Dudens
8.4.1 Wörterbuchaussentexte
8.4.2 Strukturen im Artikelteil
Makrostruktur
Zugriffsstruktur
Mikrostruktur
Verweisstruktur
8.5 Diatopische Variation im Zweifelsfälle-Duden
8.5.1 Diatopische Markierungen
8.5.1.1 Regionale diatopische Variation: süddeutsche und norddeutsche Varianten
8.5.1.2 Nationale diatopische Variation: Teutonismen, Helvetismen und Austriazismen
8.5.1.3 Fazit zu den diatopischen Markierungen
8.5.2 Art der Varianten
9. Österreichisches Wörterbuch
9.1 Gegenstandsbereich und intendierte Wörterbuchfunktion
9.2 Meilensteine in der Geschichte des ÖWB und die Kritik an der 35. Auflage
9.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise
9.3.1 Theoretische Prämissen
9.3.2 Leitvarietät
9.3.3 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise
9.4 Zur Form des ÖWB
9.4.1 Wörterbuchaussentexte
9.4.2 Strukturen im Artikelteil
Makrostruktur
Zugriffsstruktur
Mikrostruktur
Verweisstruktur
9.5 Diatopische Variation im ÖWB
9.5.1 Innerösterreichisch regionale Varianten
9.5.2 Fremdnationale Variation
9.6 Grammatische Information im ÖWB
10. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der amtlichen Regeln
10.1 Meilensteine in der Geschichte des Rechtschreib-Dudens
10.2 Gegenstandsbereich und intendierte Wörterbuchfunktion
10.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise
Theoretische Prämissen
Vorgehensweise
Dudenausschüsse
10.4 Zur Form des Rechtschreib-Dudens
10.4.1 Wörterbuchaussentexte
10.4.2 Strukturen im Artikelteil
Makrostruktur
Zugriffsstruktur
Mikrostruktur
Verweisstruktur
10.5 Diatopische Variation im Rechtschreib-Duden
10.5.1 Markierungen
10.5.2 Art der Varianten
Teil III: Vergleich der Wörterbücher
11. Vergleich und korpuslinguistische Überprüfung ausgewählter Varianten
11.1 Vorgehen beim Vergleich der diatopischen Varianten
11.2 Zur Methode bei der korpuslinguistischen Überprüfung der Varianten
11.2.1 Das Projekt Variantengrammatik des Standarddeutschen und das Variantengrammatik-Korpus
11.2.2 Vorgehen bei der Korpusanalyse und statistische Auswertung
11.3 Die Markierung ‚mundartnah‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
11.4 Die Markierung ‚Grenzfall des Standards‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
11.5 Die Markierung ‚ist gebräuchlich‘/‚wird gebraucht‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
11.6 Die Markierung ‚landschaftlich‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
11.7 Die Markierung ‚regional‘/‚regionalsprachlich‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
11.8 Die Markierung ‚ugs.‘
Beobachtungen aus den Wörterbüchern
Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus
12. Fazit aus dem Vergleich und der Korpusanalyse
13. Handlungsempfehlungen und Ausblick
13.1 Theoretische Prämissen
Sprachlicher Standard
Plurizentrizität vs. Pluriarealität
13.2 Datenerhebung
13.3 Zur Form des Wörterbuchs
13.3.1 Wörterbuchaussentexte
13.3.2 Makrostruktur
13.3.3 Zugriffsstruktur
13.3.4 Mikrostruktur
13.3.5 Verweisstruktur
13.4 Datenpräsentation
13.5 Ausblick
14. Literaturverzeichnis
Register

Citation preview

Patrizia Sutter Diatopische Variation im Wörterbuch

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger

Band 127

Patrizia Sutter

Diatopische Variation im Wörterbuch Theorie und Praxis

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2015 auf Antrag der Promotionskommission Prof. Dr. Christa Dürscheid (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Hans Bickel als Dissertation angenommen.

ISBN 978-3-11-047997-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048226-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048005-4 ISSN 1861-5651

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Zum Abschluss dieser Arbeit haben verschiedene Personen beigetragen – sowohl fachlich als auch persönlich. Ihnen allen gebührt mein herzlichster Dank. Allen voran möchte ich meinen lieben Eltern danken, die mich auf meinem Weg stets bedingungslos unterstützt haben. Ausserdem möchte ich die engagierte Mitwirkung von Gerard Adarve, Martin Businger, Marcel Müller und Dondup Shelkar hervorheben; durch intensive Diskussionen und wertvolle Anregungen haben sie massgeblich zu dieser Arbeit beigetragen. Besonders danke ich aber meiner Doktormutter Prof. Dr. Christa Dürscheid. Sie hat in ihren begeisternden Seminaren meine Lust an der Variationslinguistik geweckt und mich während der Dissertationsphase mit ihrem Elan in jedem Gespräch wieder aufs Neue motiviert – ohne sie wäre diese Dissertation wohl nie geschrieben worden. Prof. Dr. Hans Bickel, meinem Zweitgutachter, möchte ich für seinen hochgeschätzten Rat in lexikographischen Belangen meinen herzlichsten Dank ausdrücken.

DOI 10.1515/9783110482263-202

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis

XIII

Tabellenverzeichnis

XIV

1

Einleitung

Teil I:

Theorie

2 2.1 2.1.1 2.1.2

Sprachlicher Standard 9 Definition von Standardsprache 14 Normbezogene Definition von Standardsprache Sprachgebrauchsorientierte Definition von Standardsprache 18 Regionale Gebrauchsstandards 19 Umgangssprache und Dialekt 22 Umgangssprache 22 Dialekt 23

2.1.3 2.2

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

1 7

14

Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren 25 Plurizentrizität – Pluriarealität 25 Plurizentrizität 25 Pluriarealität 30 Plurizentrizität und Pluriarealität im Vergleich 31 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache 39 Vollzentren der deutschen Sprache 40 Halbzentren der deutschen Sprache 40 Halbzentren mit Deutsch als nationaler Amtssprache Halbzentren mit Deutsch als regionaler Amtssprache Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung Lexikographie: Begriffsbestimmung 44 Metalexikographie und Wörterbuchforschung: Begriffsbestimmung 46 Nachschlagewerk: Wörterbuch – Lexikon – Enzyklopädie Aufbau von Wörterbüchern 51 Wörterbuchaussentexte 52 Lemma 54 Makrostruktur 55

40 42 44

48

VIII

4.4.4 4.4.5 4.4.6

Inhaltsverzeichnis

Zugriffsstruktur Mikrostruktur Verweisstruktur

57 58 62

5 5.1

Wörterbuchtypen 65 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009) 66 5.1.1 Allgemeinwörterbuch 67 5.1.2 Spezialwörterbuch 69 5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten 72 5.2.1 Vorteile von elektronischen Wörterbüchern 73 5.2.1.1 Allgemeine Vorteile des elektronischen Mediums 5.2.1.2 Zugriffs- und Verweisstrukturen 75 5.2.1.3 Pflege des Wörterbuchs 76 5.2.2 Wörterbuchportale 78

74

Teil II: Wörterbuchanalysen – Standardsprachliche Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache 85 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5 6.5.1 6.5.2 6.6 7

7.1 7.2 7.3 7.4

Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz 87 Gegenstandsbereich 87 Intendierte Wörterbuchfunktion 88 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise 89 Zur Form des Schweizerhochdeutsch-Dudens 90 Wörterbuchaussentexte 90 Strukturen im Artikelteil 91 Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden 94 Diatopische Markierungen 94 Diaphasische Markierungen 96 Art der Varianten 98 Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol 102 Gegenstandsbereich 102 Intendierte Wörterbuchfunktion 103 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise 104 Zur Neuauflage des VWB 105

Inhaltsverzeichnis

7.5 7.5.1 7.5.2 7.6 7.6.1 7.6.2 7.7

IX

Zur Form des VWB 111 Wörterbuchaussentexte 111 Strukturen im Artikelteil 112 Markierungen im VWB 116 Diatopische Markierungen 116 Diaphasische Markierungen 120 Grammatische Variation im VWB 122

8

Duden. Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle 125 8.1 Gegenstandsbereich 126 8.2 Intendierte Wörterbuchfunktion 127 8.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise 128 8.3.1 Zweifelsfall und Norm 128 8.3.2 Leitvarietät 129 8.3.3 Vorgehensweise bei den grammatischen Analysen 131 8.3.4 Dudenempfehlungen 135 8.4 Zur Form des Zweifelsfälle-Dudens 137 8.4.1 Wörterbuchaussentexte 141 8.4.2 Strukturen im Artikelteil 141 Makrostruktur 141 Zugriffsstruktur 142 Mikrostruktur 143 Verweisstruktur 145 8.5 Diatopische Variation im Zweifelsfälle-Duden 146 8.5.1 Diatopische Markierungen 148 8.5.1.1 Regionale diatopische Variation: süddeutsche und norddeutsche Varianten 149 8.5.1.2 Nationale diatopische Variation: Teutonismen, Helvetismen und Austriazismen 154 8.5.1.3 Fazit zu den diatopischen Markierungen 158 8.5.2 Art der Varianten 159 9 9.1 9.2 9.3

Österreichisches Wörterbuch 163 Gegenstandsbereich und intendierte Wörterbuchfunktion 163 Meilensteine in der Geschichte des ÖWB und die Kritik an der 35. Auflage 166 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise 169

X

9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.4.1 9.4.2

9.5 9.5.1 9.5.2 9.6 10

Inhaltsverzeichnis

Theoretische Prämissen 169 Leitvarietät 172 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise Zur Form des ÖWB 175 Wörterbuchaussentexte 175 Strukturen im Artikelteil 180 Makrostruktur 180 Zugriffsstruktur 184 Mikrostruktur 184 Verweisstruktur 186 Diatopische Variation im ÖWB 191 Innerösterreichisch regionale Varianten 193 Fremdnationale Variation 195 Grammatische Information im ÖWB 195

173

Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der amtlichen Regeln 197 10.1 Meilensteine in der Geschichte des Rechtschreib-Dudens 197 10.2 Gegenstandsbereich und intendierte Wörterbuchfunktion 200 10.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise 203 Theoretische Prämissen 203 Vorgehensweise 204 Dudenausschüsse 205 10.4 Zur Form des Rechtschreib-Dudens 207 10.4.1 Wörterbuchaussentexte 207 10.4.2 Strukturen im Artikelteil 209 Makrostruktur 209 Zugriffsstruktur 213 Mikrostruktur 213 Verweisstruktur 216 10.5 Diatopische Variation im Rechtschreib-Duden 218 10.5.1 Markierungen 220 10.5.2 Art der Varianten 227

Inhaltsverzeichnis

Teil III: Vergleich der Wörterbücher 11 11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.3

11.4

11.5

11.6

11.7

11.8

229

Vergleich und korpuslinguistische Überprüfung ausgewählter Varianten 230 Vorgehen beim Vergleich der diatopischen Varianten 230 Zur Methode bei der korpuslinguistischen Überprüfung der Varianten 232 Das Projekt Variantengrammatik des Standarddeutschen und das Variantengrammatik-Korpus 233 Vorgehen bei der Korpusanalyse und statistische Auswertung 234 Die Markierung ‚mundartnah‘ 237 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 238 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 238 Die Markierung ‚Grenzfall des Standards‘ 242 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 242 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 244 Die Markierung ‚ist gebräuchlich‘/‚wird gebraucht‘ 245 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 245 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 248 Die Markierung ‚landschaftlich‘ 249 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 249 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 252 Die Markierung ‚regional‘/‚regionalsprachlich‘ 253 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 254 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 260 Die Markierung ‚ugs.‘ 262 Beobachtungen aus den Wörterbüchern 262 Überprüfung der Varianten anhand des VG-Korpus 262

12

Fazit aus dem Vergleich und der Korpusanalyse

13 13.1

Handlungsempfehlungen und Ausblick Theoretische Prämissen 271 Sprachlicher Standard 271 Plurizentrizität vs. Pluriarealität Datenerhebung 274 Zur Form des Wörterbuchs 277 Wörterbuchaussentexte 277

13.2 13.3 13.3.1

271

273

267

XI

XII

13.3.2 13.3.3 13.3.4 13.3.5 13.4 13.5

Inhaltsverzeichnis

Makrostruktur 280 Zugriffsstruktur 280 Mikrostruktur 288 Verweisstruktur 292 Datenpräsentation 295 Ausblick 298

14 Literaturverzeichnis Register

318

302

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Attribute von Standarddeutsch, Standardsprache, Standardvarietät u.Ä. in ausgewählten Beschreibungen 12 f. Abb. 2: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät 16 Abb. 3: Sehr unspezifische Variantentypen 29 Abb. 4: Nicht mehr als nationale Varianten geltende Variantentypen 29 Abb. 5: Struktur eines typischen Printwörterbuchs 52 Abb. 6: Einfache nicht-integrierte Mikrostruktur 60 Abb. 7: Klassifikation von Wörterbuchtypen 71 Abb. 8: Typen von Zugriffen auf Wörterbücher und Daten in Wörterbuchportalen 79 Abb. 9: Typologie von Wörterbuchportalen 82 Abb. 10: Gliederung Deutschlands im VWB 117 Abb. 11: Gliederung Österreichs im VWB 118 Abb. 12: Innenansicht des Einbands vorne, linke Seite im ÖWB 176 Abb. 13: Innenansicht des Einbands vorne, rechte Seite im ÖWB 177 Abb. 14: Innenansicht des Einbands hinten im ÖWB 179 Abb. 15: Die Verweisstruktur bei Varianten zu Patin im ÖWB 188 Abb. 16: Die Verweisstruktur bei Varianten zu fetthaltiger Teil der Milch im ÖWB 190 Abb. 17: Vorderer Klappentext im Rechtschreib-Duden 208 Abb. 18: Die Verweisstruktur bei Varianten zu Patin im Rechtschreib-Duden 219 Abb. 19: Evaluierung der Suchanfragen zur Optimierung der Precision 236 Abb. 20: Mit ‚mundartnah‘ markierte Lemmata im Vergleich 239 Abb. 21: Mit ‚Grenzfall des Standards‘ markierte Lemmata im Vergleich 243 Abb. 22: Mit ‚ist gebräuchlich‘/‚wird gebraucht‘ markierte Lemmata im Vergleich 246 Abb. 23: Mit ‚landschaftlich‘ markierte Lemmata im Vergleich 250 Abb. 24: Mit ‚regional‘/‚regionalsprachlich‘ markierte Lemmata im Vergleich 255 Abb. 25: Der Wortbestandteil hie- und dazugehörige Komposita im Vergleich 258 Abb. 26: Mit ‚ugs.‘ markierte Lemmata im Vergleich 263 Abb. 27: Auflistung der Artikel zum Suchbegriff Modalverb in der VG 283 Abb. 28: Auflistung von mit dem Buchstaben H beginnenden Artikeln in der VG 284 Abb. 29: Startseite der VG 284 Abb. 30: Kategorienliste in der VG 285 Abb. 31: Startseite der Kategorie Wortbildung in der VG 285 Abb. 32: Unterkategorien bei Wortbildung Verben in der VG 286 Abb. 33: Liste der Einzelartikel zu -ier(en)/ohne Suffix in der VG 287 Abb. 34: Schema Einzelartikel: Wortbildung Verben 290 Abb. 35: Schema Einzelartikel: Genus 291 Abb. 36: Schema Einzelartikel: Flexion Plural 291 Abb. 37: Schema Einzelartikel: Vorfeldfähigkeit 291 Abb. 38: Verweise am Ende des Artikels zu -eur/-or in der VG 294  

DOI 10.1515/9783110482263-204

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Punktesystem für die Beurteilung von Varianten in der Neuauflage des VWB Tabelle 2: Bewertungsschlüssel des Punktesystems zur Evaluierung von Varianten im VWB 109 Tabelle 3: Punktesystem für die Neuauflage des VWB am Beispiel Tschick 110 Tabelle 4: Gesamtzahl der diatopischen Varianten im Zweifelsfälle-Duden 158 Tabelle 5: Anzahl der diatopischen Varianten im Rechtschreib-Duden 222 Tabelle 6: Verteilung der Teutonismen im Rechtschreib-Duden 223 Tabelle 7: Zusatzmarkierungen bei den diatopischen Varianten im Rechtschreib-Duden Tabelle 8: Art der diatopischen Varianten im Rechtschreib-Duden 227

DOI 10.1515/9783110482263-205

108

224

1 Einleitung Die deutsche Sprache setzt sich aus verschiedenen standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varietäten zusammen. Diese Variation hat sowohl diastratische und diaphasische (d. h. gesellschaftlich bedingte bzw. aus einer bestimmten Kommunikationssituation resultierende) Ursachen als auch diatopische, also räumlich bedingte (vgl. Dovalil 2006: 39). Die vorliegende Arbeit hat die standardsprachlich-diatopische Variation des Deutschen zum Gegenstand. Obwohl in der linguistischen Forschung die diatopischen Varietäten (z. B. das schweizerische, österreichische und deutschländische1 Standarddeutsch) als gleichwertig behandelt werden, hat sich diese Vorstellung im Alltag der Sprachbenutzer2 (noch) nicht durchgesetzt (vgl. Maitz/Elspaß 2012: 49). So wurde beispielsweise lange Zeit das Norddeutsche mit dem deutschländischen Standard gleichgesetzt, das Süddeutsche als Abweichung davon betrachtet. Diese Tendenz ist bis heute feststellbar (vgl. Zhao-Heissenberger 2013: 5). Aber nicht nur auf regionaler Ebene bestehen solche Ungleichheiten, sondern auch auf nationaler. Beispielsweise wird auch das Schweizer Standarddeutsch oft als Abweichung vom ‚richtigen‘ (deutschländischen) Standarddeutsch angesehen. Auch das ist – wie verschiedene Untersuchungen zur Spracheinstellung zeigen – bis heute eine Realität (vgl. Scharloth 2006; Sutter 2008; Schmidlin 2013), was nicht zuletzt mit der Darstellung und Erfassung der diatopischen Variation in Wörterbüchern zu tun hat. Dort nämlich schlägt der Sprachbenutzer bei sprachlichen Unsicherheiten üblicherweise nach. Findet er darin nur eine einzige Variante, so muss er davon ausgehen, dass es sich dabei um die einzig richtige Form des gesuchten sprachlichen Ausdrucks handelt. Dies ist allerdings häufig ein Trugschluss, denn oft ist die angezeigte Form nicht die gemeindeutsche Konstante, sondern eine (meist deutschländische) Variante, die allerdings nicht als solche markiert ist. Dieser Umstand ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass es einigen Wörterbuchautoren an Bewusstsein für die gleichwertige Behandlung verschiedener Standardvarietäten fehlt. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag dazu, diesem Missstand zu begegnen, weshalb in einem ersten Schritt der Ist-Zustand der Behandlung von diatopischer Variation in der  

1 In der vorliegenden Arbeit wird das Standarddeutsch Deutschlands als deutschländisches Standarddeutsch und nicht als deutsches Standarddeutsch bezeichnet. Das Attribut deutschländisch mag zwar etwas ungewohnt scheinen, es lässt im Gegensatz zum Attribut deutsch aber keine Mehrdeutigkeiten offen. So ist zum Beispiel eindeutig, was mit dem deutschländischen Standard gemeint ist, nicht aber, was unter deutschem Standard zu verstehen ist. 2 Zur besseren Lesbarkeit verwende ich in der vorliegenden Arbeit stellvertretend für beide Geschlechter das generische Maskulinum.

DOI 10.1515/9783110482263-001

2

1 Einleitung

heutigen Lexikographie präsentiert und auf dieser Grundlage ein Soll-Zustand skizziert wird. Anhand von Wörterbuchanalysen sollen Optimierungsmöglichkeiten in allen Stadien des lexikographischen Prozesses aufgezeigt werden, d. h. sowohl im Bereich der lexikographischen Datenerhebung und der Konzeption der Wörterbuchstrukturen als auch bei der Datenpräsentation. Diatopische Varietäten konstituieren sich durch Varianten auf allen sprachlichen Ebenen (z. B. auf der lexikalischen, grammatischen, phonologischen oder pragmatischen Ebene). In meiner Arbeit liegt das Hauptaugenmerk auf der lexikalisch- und der grammatisch-diatopischen Variation. Dies hat vor allem methodische Gründe: Während lexikalische und grammatische Varianten verschriftet sind und somit in allen schriftlichen Textsorten untersucht werden können, ist dies beispielsweise bei phonologischen Varianten nicht der Fall. Pragmatische Varianten wiederum lassen sich nicht oder nur sehr rudimentär in Wörterbüchern abbilden, weshalb sie für die Lexikographie nur eine marginale Rolle spielen. Lexikalisch- und grammatisch-diatopische Varianten wurden bis heute in unterschiedlichem Masse erforscht. Für die lexikalisch-diatopische Variation finden sich einschlägige Arbeiten, allen voran ist hier die Habilitationsschrift von Regula Schmidlin „Die Vielfalt des Deutschen. Standard und Variation“ (2011) zu nennen. Des Weiteren finden sich in der Festschrift für Ulrich Ammon (vgl. SchneiderWiejowski/Kellermeier-Rehbein/Haselhuber 2013) einschlägige Beiträge zur lexikalisch-diatopischen Standardvariation. Sicherlich dürfen aber auch die wegweisenden Arbeiten Ulrich Ammons in dieser Aufzählung nicht fehlen. Aus der Fülle seiner Arbeiten seien hier lediglich die Monographie „Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten“ (1995a) sowie der umfassende theoretische Vorspann im Variantenwörterbuch (2004) erwähnt. Die grammatisch-diatopische Variation hat bis vor kurzem nur wenig Beachtung gefunden. In jüngster Zeit allerdings sind gleich zwei Projekte initiiert worden, die sich mit der grammatischen Variation des Deutschen beschäftigen: Das Projekt Variantengrammatik des Standarddeutschen3 sowie das Projekt Korpusgrammatik – grammatische Variation im standardsprachlichen und standardnahen Deutsch.4 Ersteres hat explizit die Erforschung der grammatisch-diatopischen Variation zum Ziel, während die Korpusgrammatik der grammatischen „Variabilität prinzipiell jeglicher Art“ nachgeht (Bubenhofer/Konopka/Schneider 2014: 12). Im Zusammenhang mit diesen beiden Projekten sind zahlreiche Publikationen zur grammatisch-diatopischen Variation entstanden. Im Folgenden wird  

3 Vgl. http://variantengrammatik.linguistik.uzh.ch/index.php/Hauptseite . 4 Vgl. http://www1.ids-mannheim.de/gra/projekte/korpusgrammatik.html .

1 Einleitung

3

eine Auswahl dieser Arbeiten aufgeführt: Dürscheid/Elspaß/Ziegler (2011), Ziegler (2011), Ziegler (2012), Elspaß/Engel/Niehaus (2013), Scherr/Niehaus (2013), Dürscheid/Sutter (2014a), Dürscheid/Sutter (2014b), Dürscheid/Elspaß/Ziegler (2015) sowie Konopka et al. (2011), Konopka/Schneider (2012), Konopka/Waßner (2013), Bubenhofer/Konopka/Schneider (2014), Brandt/Fuß (2014), Bubenhofer/ Hansen-Morath/Konopka (2014). Auch die Dissertation von Negele (2011) und die Abschlussarbeit von Siegmund (2010) sowie die Publikationen von Giger (2011) und Wicki (2012) befassen sich mit grammatisch-diatopischer Variation. Im Anschluss an obenstehende Auflistung aktueller Arbeiten zur grammatisch-diatopischen Variation wird nun der Aufbau des vorgelegten Buchs genauer beleuchtet. Dieses ist in drei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil der Arbeit widmet sich theoretischen Aspekten der diatopischen Variation in der Lexikographie, im zweiten Teil werden ausgewählte Wörterbücher analysiert und im dritten Teil wird der Umgang mit diatopischer Variation in den verschiedenen Wörterbüchern anhand ausgewählter Varianten miteinander verglichen und diese anhand korpuslinguistischer Methoden überprüft. Die Arbeit abschliessend werden alle Erkenntnisse zusammengefasst und Optimierungsmöglichkeiten im Bereich der „plurizentrischen Lexikographie“5 (Schmidlin 2011: 112) aufgezeigt. Da sich die vorliegende Arbeit an der Schnittstelle von Variationslinguistik und Lexikographie bzw. Metalexikographie befindet, müssen in einem ersten Schritt einige theoretische Prämissen geklärt werden. Im ersten Teil der Arbeit werden deshalb zentrale Modelle und Termini dieser beiden Disziplinen analysiert und auf die Anwendbarkeit des jeweils anderen Forschungsgebiets hin evaluiert. So soll die Grundlage für eine fundierte Analyse der standardsprachlich-diatopischen Variation und ihrer Repräsentation in Wörterbüchern geschaffen werden. Es muss zunächst die Frage beantwortet werden, was unter dem Begriff Standardsprache respektive Standardvarietät6 zu verstehen ist und durch welche Varianten sich eine Varietät konstituiert (Kap. 2). Hierzu werden unterschiedliche Definitionen von Standardsprache vorgestellt. So wird sowohl auf die normbezogene Definition (vgl. Ammon 1995b: 112 ff. und 2005), die sprachgebrauchsorientierte Definition (vgl. Muhr 1997: 62) als auch auf die Definitionen

5 Unter plurizentrischer Lexikographie wird der Bereich der Lexikographie verstanden, welcher sich mit den diatopischen Varietäten beschäftigt, also beispielsweise mit dem schweizerischen, dem österreichischen und dem deutschländischen Standarddeutsch (vgl. Schmidlin 2011: 111 ff.). 6 In Anlehnung an Vít Dovalil (2013a: 163) und Wolf Peter Klein (2013: 16) werde ich in der vorgelegten Arbeit die Termini Standardsprache, Standardvarietät, sprachlicher Standard und Sprachstandard synonym verwenden.

4

1 Einleitung

von regionalen Gebrauchsstandards (vgl. Berend 2005) eingegangen.7 In Abgrenzung zum Begriff Standardsprache werden ausserdem die Termini Umgangssprache und Dialekt kurz umrissen. Mit einer bestimmten Auffassung von Standardsprache geht meist auch eine bestimmte Ansicht dessen einher, wie der deutsche Sprachraum gegliedert werden soll. Vice versa wird je nach Präferierung eines Gliederungsmodells für den deutschen Sprachraum eine bestimmte Variante als standardsprachlich bzw. als nonstandardsprachlich eingestuft. Aus diesem Grund werden die beiden in der heutigen germanistischen Linguistik vorherrschenden Modelle zur Gliederung des deutschen Sprachraums – das Plurizentrizitätsmodell (vgl. Clyne 1982 und Ammon et al. 2004) und das Pluriarealitätsmodell (vgl. Wolf 1994 und Wiesinger 2006) – eingehend beschrieben, einander gegenübergestellt und auf ihre Praktikabilität im Hinblick auf die Lexikographie analysiert (Kap. 3). Im nächsten Schritt (Kap. 4) müssen lexikographische und metalexikographische Prämissen geklärt werden. Es soll einerseits dargelegt werden, wie der Gegenstandsbereich der beiden Forschungszweige abgesteckt wird, andererseits soll die möglicherweise trivial anmutende Frage geklärt werden, was ein Wörterbuch überhaupt ist. Ausserdem werden der Aufbau von Wörterbüchern und alle zentralen lexikographischen Begriffe, die für die Durchführung einer Wörterbuchanalyse unumgänglich sind, ausführlich erläutert. Für eine fundierte Wörterbuchanalyse ist allerdings auch die Kenntnis verschiedener Wörterbuchtypen von grossem Nutzen, denn je nach Wörterbuchtyp können bestimmte Informationen erwartet, andere a priori ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund werden in Kapitel 5 schliesslich verschiedene Wörterbuchtypen vorgestellt. Im Bereich der digitalen Lexikographie mangelt es jedoch m.W. noch an einer adäquaten Wörterbuchtypologie. Da elektronische Wörterbücher in Zukunft aber aller Wahrscheinlichkeit nach einen immer grösseren Stellenwert einnehmen werden, werden das Kapitel abschliessend die immensen Möglichkeiten für die Lexikographie aufgezeigt, welche mit den neuen Medien einhergehen. In Teil I (Kap. 2–5) wird also sowohl die theoretische Grundlage der Untersuchung geschaffen als auch das nötige Instrumentarium zur Analyse der Wörterbücher im zweiten Teil bereitgestellt. Im zweiten Teil werden ausgewählte gegenwartssprachliche Wörterbücher des Standarddeutschen analysiert. In den jeweiligen Analysen untersuche ich alle Stadien im lexikographischen Prozess. Es wird eruiert, auf welcher Datengrundlage und mit welchen Methoden die Wörterbücher erarbeitet worden sind, welche

7 Am Rande soll auch der Begriff des pragmatischen Standards erwähnt werden (vgl. Hagemann/Klein/Staffeldt 2013a). Da sich dieser allerdings stark auf die gesprochene Sprache bezieht, ist er für die vorliegende Arbeit nur marginal von Bedeutung.

1 Einleitung

5

Kriterien für die Aufnahme von Varianten ausschlaggebend waren und welche Strukturen in das Wörterbuch integriert wurden. Des Weiteren soll die Frage beantwortet werden, welche Arten von diatopischen Varianten in welchem Umfang in den Wörterbüchern verzeichnet sind. Da in elektronischen Wörterbüchern die diatopische Variation bis anhin nur rudimentär Eingang gefunden hat, beschränkt sich die vorliegenden Arbeit auf Printwörterbücher.8 Es werden insgesamt fünf Wörterbücher eingehend untersucht, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Der Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (2012) (kurz: Schweizerhochdeutsch-Duden; siehe Kap. 6); das Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol (2004) (kurz: VWB; siehe Kap. 7); der Duden. Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (2011) (kurz: Zweifelsfälle-Duden; siehe Kap. 8); das Österreichische Wörterbuch (2012) (kurz: ÖWB; siehe Kap. 9) und der Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Regeln (2013) (kurz: Rechtschreib-Duden; siehe Kap. 10).9, 10 Im dritten Teil der Arbeit wird der Umgang der analysierten Wörterbücher mit diatopischen Varianten miteinander verglichen (Kap. 11). Der Vergleich geschieht auf der Grundlage von ausgewählten Lemmata. Es wird aufgezeigt, wie einheitlich oder uneinheitlich die einzelnen Wörterbücher mit diatopischer Variation verfahren. Auch werden die ausgewählten Varianten anhand des Variantengrammatik-Korpus untersucht. Es handelt sich dabei um ein areal ausgewogenes Grosskorpus des Standarddeutschen, das ca. 600 Millionen Wörter umfasst. Aufgrund der Korpusanalysen können einerseits Aussagen über die Zugehörigkeit einzelner diatopischer Varianten zum Standard gemacht werden, andererseits können statistische Berechnungen durchgeführt werden, die eine exakte regionale Verortung der Varianten zulassen. Diese kann dann mit der angegebenen

8 Die elektronischen Wörterbücher, die diatopische Varianten verzeichnen, sind auf der inhaltlichen Ebene meist exakte Abbildungen ihrer Printversion (z. B. die CD-ROM-Version des Duden 9). Genuin digitale Wörterbücher, die diatopische Varianten in grösserem Umfang listen, gibt es m.W. noch nicht. Das digitale Nachschlagewerk Duden.de wiederum, das viele diatopische Varianten führt, muss als Kompilation verschiedener Duden-Bände verstanden werden, weshalb sich auch dieses für die Analyse in der vorliegenden Arbeit nicht eignet. 9 Auf die Kriterien bei der Auswahl der Wörterbücher wird in der Einleitung zu Teil II ausführlich eingegangen. 10 Während der Drucklegung des vorliegenden Buches sind sowohl der Zweifelsfälle-Duden als auch das VWB in einer Neuauflage erschienen. Die Neuauflage des Zweifelsfälle-Dudens (2016) konnte in dieser Arbeit leider nicht mehr berücksichtigt werden, zur Neuauflage des VWB (2016) finden sich in Kapitel 7.4 Informationen.  

6

1 Einleitung

regionalen Verteilung in den untersuchten Wörterbuchartikeln verglichen werden. Der dritte Teil der Arbeit wird durch ein Fazit der Erkenntnisse aus dem Vergleich und der Korpusanalyse abgeschlossen (Kap. 12). In Kapitel 13 werden schliesslich alle Forschungsergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und Optimierungsmöglichkeiten für die plurizentrische Lexikographie im gesamten lexikographischen Prozess gegeben. Ein Ausblick auf mögliche zukünftige Forschungsfragen und Aufgaben in diesem Forschungszweig rundet die Darstellung ab. Die Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, dass die diatopische Variation in Zukunft auch in Wörterbüchern adäquat repräsentiert wird. Dies ist nicht nur ein wissenschaftliches Anliegen, sondern auch ein sprachpolitisches: Erst wenn die Lexikographie der diatopischen Variation innerhalb der Standardsprache gerecht wird, kann sich auch das Bewusstsein für die diatopische Variation unter den Sprachteilnehmern des Deutschen festigen.

Teil I: Theorie Teil I des vorliegenden Buchs beschäftigt sich mit den theoretischen Grundlagen, auf welchen die Arbeit fusst. Es werden in den folgenden Kapiteln alle für die vorliegende Untersuchung relevanten, zentralen Modelle dargelegt sowie alle Termini erläutert, die für die Wörterbuchanalysen in Teil II benötigt werden. Das heisst, es werden sowohl Modelle und Termini aus der Variationslinguistik als auch aus der Lexikographie bzw. aus der Metalexikographie vorgestellt. In Kapitel 2 gehe ich zunächst auf den Begriff der Standardsprache ein. Es werden verschiedene Definitionen von Standardsprache präsentiert, um die Spannbreite der unterschiedlichen Auffassungen dieses Begriffs zu verdeutlichen. Für einen Lexikographen – und insbesondere für denjenigen, der sich mit diatopischer Variation beschäftigt – ist eine klare Definition von Standardsprache von grosser Wichtigkeit: Bei der Beurteilung der Standardsprachlichkeit sprachlicher Ausdrücke sollte er sich an möglichst klaren Kriterien orientieren. Je nachdem, ob diese erfüllt sind, wird der Ausdruck in das Wörterbuch aufgenommen oder nicht – es sei denn, es handelt sich nicht um ein standardsprachliches Wörterbuch. Basiert die Beurteilung der Standardsprachlichkeit nicht auf (mehr oder weniger) klaren Kriterien, so ist es für einen Wörterbuchbenutzer schwer nachvollziehbar, weshalb ein bestimmter Ausdruck in einem Wörterbuch vorkommt, ein anderer aber nicht, beziehungsweise er könnte sich die Frage stellen, weshalb der eine diaphasisch markiert ist, der andere nicht. Auch geht mit der Auffassung von Standardsprache einher, welche Gliederung des deutschen Sprachraums präferiert wird. In Kapitel 3 werden deshalb die zwei vorherrschenden Modelle zur Gliederung des deutschen Sprachraums vorgestellt: das Plurizentrizitätsmodell und das Pluriarealitätsmodell. Diese Unterscheidung ist für die vorliegende Arbeit von Interesse, weil die Bevorzugung eines der beiden Modelle konsequenterweise die methodische Vorgehensweise bei der Datenerhebung beeinflusst. Beispielsweise sollte ein Korpus, das der Untersuchung arealer Variation dienen soll, anders modelliert sein als eines, das vornehmlich nationale Varianten zu erfassen sucht. Kapitel 4 und 5 beschäftigen sich mit Modellen und Termini aus der Lexikographie und der Metalexikographie. In Kapitel 4 wird zunächst eine Begriffsbestimmung von Lexikographie und Metalexikographie vorgenommen, ehe erörtert wird, was ein Wörterbuch ist und wie sich dieses zu den Begriffen Nachschlagewerk und Enzyklopädie verhält. Ausserdem werden alle wichtigen lexikographischen Termini eingehend erläutert. Hier wird also das Instrumentarium bereitgestellt, das für die Durchführung einer fundierten Wörterbuchanalyse unabdingbar ist. Kapitel 5 beschäftigt sich schliesslich mit der Frage, welche Typen von Wörterbüchern man unterscheiden kann – dies ist für die vorliegende Arbeit deshalb relevant, da je nach Wörterbuchtyp andere Informationen in

DOI 10.1515/9783110482263-002

8

Teil I: Theorie

einem Nachschlagewerk erwartet werden. Diese Typologisierung sollte deshalb am Anfang jeder Wörterbuchanalyse stehen. Im Bereich der Lexikographie und der Metalexikographie stützt sich die Arbeit vor allem auf die Konzepte Herbert Ernst Wiegands, der die metalexikographische Forschung bereits seit gut vier Jahrzehnten vorantreibt. Als aktuelle Referenzwerke in diesem Forschungsbereich, können auswahlweise die Folgenden genannt werden: Lexikographie und Wörterbuchbenutzung (Engelberg/Lemnitzer 2009), das Wörterbuch zur Lexikographie und zur Wörterbuchforschung (Wiegand et al. 2010a) sowie der fünfte Band der Reihe Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft mit dem Titel Dictionaries. An International Encyclopedia of Lexicography. Hierbei sind vor allem der erste Teilband (5.1, Hausmann et al. (1989)) und der Zusatzband Recent Developments with Focus on Electronic and Computational Lexicography (5.4, Gouws et al. (2013)) für die vorliegende Arbeit von Interesse. Wie der Titel von Letzterem deutlich macht, behandelt dieser vor allem Themen aus dem Bereich der digitalen Lexikographie. Dies trifft auch auf den Sammelband von Sylviane Granger und Magali Paquot (2012) Electronic Lexicography zu, der in dieser Arbeit wiederholt hinzugezogen wird.

2 Sprachlicher Standard Da in der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt auf der Kodifizierung standardsprachlicher Varianten liegt, muss in einem ersten Schritt dargelegt werden, was unter Standardsprache zu verstehen ist. Hierzu werden in Kapitel 2.1 verschiedene Definitionen von Standardsprache vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden die dazugehörigen Gegenbegriffe Umgangssprache und Dialekt beschrieben (Kap. 2.2). Der Laie verfügt meist über ein intuitives Verständnis von Standarddeutsch bzw. Hochdeutsch und unterscheidet diese Begriffe ganz selbstverständlich von den Begriffen Umgangssprache und Dialekt (vgl. Kellermeier-Rehbein 2013: 3). Entsprechend wäre davon auszugehen, dass die Definition von Standardsprache und die damit einhergehende Abgrenzung von Umgangssprache und Dialekt oder auch von Substandard und Nonstandard für die Sprachwissenschaft eine triviale Aufgabe darstellt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass in der Sprachwissenschaft bis heute kein Konsens darüber besteht, was exakt unter Standardsprache, sprachlichem Standard, Sprachstandard oder auch Standardvarietät zu verstehen ist. Wie Ludwig M. Eichinger im Vorwort zum Jahrbuch 2004 des Instituts für Deutsche Sprache konstatiert, hat in den letzten Jahrzehnten die Standardsprache den sprachlichen Alltag nicht mehr nur in seiner schriftlichen Form, sondern vermehrt auch im Mündlichen geprägt. Dies hat zur Folge, dass es immer diffiziler wird, die Standardsprache von der Umgangssprache und dem Dialekt abzugrenzen, „die Standardsprachlichkeit ist zur gehobenen Alltagssprachlichkeit geworden“ (Eichinger 2005: 3).11 Konkreter: Der gesprochene Standard nimmt vermehrt Merkmale der Mündlichkeit an, was stark mit dem Einfluss der elektronischen Medien zusammenhängt. Insbesondere durch das Fernsehen entwickeln sich „standardsprachliche Muster, die sich der Techniken struktureller Oralität bedienen“ (Eichinger 2005: 4). Diese Muster haben dann vice versa Auswirkungen auf den geschriebenen Standard (vgl. Schneider/Albert 2013: 58). Ausserdem werden weitere Veränderungen im geschriebenen Standard durch die Ausdifferenzierung neuer Textsorten und Schreibstile in den neuen Medien her-

11 Diese Aussage gilt allerdings nicht für den Sprachgebrauch in der Schweiz. Dort ist – im Gegensatz zum Standardsprache-Dialekt-Kontinuum in den übrigen deutschsprachigen Regionen – eine sogenannte Dialekt-Standard-Diglossie vorherrschend (vgl. Scharloth 2005a: 240). In der Schweiz sind fast alle mündlichen Register vom Dialekt besetzt, während die Standardsprache vor allem in der schriftlichen Kommunikation sowie teilweise für öffentliche Kommunikation verwendet wird (vgl. Maitz/Elspaß 2013: 38). Wie Untersuchungen zeigen, wird allerdings auch in der schriftlichen Kommunikation – vor allem in der E-Mail- und SMS-Kommunikation – vermehrt Dialekt benutzt (vgl. Scharloth 2005a: 240).

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10

2 Sprachlicher Standard

vorgerufen (z. B. durch Chat- und SMS-Kommunikation; vgl. Deppermann/Helmer 2013: 129), denn diese Kommunikationsformen werden partiell synchron realisiert und folgen – obwohl schriftbasiert – gesprochenen Kommunikationsmustern (vgl. Schlobinski 2005: 140). Auch diese Entwicklung ist eine Triebfeder von Sprach- respektive Schriftwandelprozessen und erschwert eine klare Abgrenzung von Standard und Sub- bzw. Nonstandard. Es scheint fast, als hätte die hierarchische Trias von Hochsprache (stark schriftorientiert), Umgangssprache (eher sprechsprachlich) und Dialekt (fast ausschliesslich in mündlichen Registern verwendet) weit weniger Schwierigkeiten bei ihrer Definition verursacht als die jüngere Terminologie von Standard, Substandard und Nonstandard. Dies mag daran liegen, dass lange Zeit hauptsächlich die Dialekte und Soziolekte empirisch untersucht wurden, während die Hochsprache mit Orthographie, Orthophonie und Ortho-Grammatik fixiert zu sein schien (vgl. Kellermeier-Rehbein 2014: 5). Die Umgangssprache wurde indes oft als ‚Mischform‘ vernachlässigt (vgl. Löffler 2005: 7). Bei der hierarchischen Trias konnte die Hochsprache eindeutig dem Standard, der Dialekt eindeutig dem Nonstandard zugewiesen werden. Für die Einordnung der Umgangssprache führte Heinrich Löffler den Begriff des Substandards ein (vgl. Löffler 2005: 18). Laut Löffler wird die Abgrenzung von Standard, Substandard und Nonstandard problematisch, sobald man die verschiedenen Varietäten in die Überlegungen miteinbezieht. Denn die Varietäten (standardsprachliche sowie nonstandardsprachliche) bilden jeweils die Grauzonen zwischen Standard, Substandard und Nonstandard (vgl. Löffler 2005: 19).12 Um die Schwierigkeit der Abgrenzung der Standardsprache von der Umgangssprache und den Dialekten beziehungsweise vom Substandard und Nonstandard vorwegzunehmen, soll ein Zitat Heinrich Löfflers (2005: 25) wiedergegeben werden, das meines Erachtens die Lage äusserst treffend beschreibt:  

Wie die deutsche Gemeinsprache ein Kunstprodukt ist und nicht die Sprache eines politischen und kulturellen Mittelpunktes eines Hofes oder einer Hauptstadt – so sind auch alle Einteilungsvorschläge und sogenannten Definitionen zur Binnengliederung der [sic] Deutschen Kunstprodukte allesamt an den Schreibtischen der Sprachwissenschaftler entstanden. Datengrundlage ist dabei die eigene Spracherfahrung, die Introspektion, ausnahmsweise sind es gezielte Beobachtungen an Texten und ganz selten sind es empirische Großversuche, die sich dem „Datensalat“ der Sprachwirklichkeit aussetzen. Dort trifft man ein grenzenloses, nicht abgrenzbares Durcheinander an, einen großen Brei, in den man mit keinem Messer klare Schnitte einbringen oder mit terminologischen Förmchen Figuren ausstechen könnte. Sobald man ansetzt, fließt sofort alles wieder ineinander. So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange

12 Für eine ausführliche Definition des Begriffs Varietät siehe Löffler (2016: 79 ff.).

2 Sprachlicher Standard

11

niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, dies [sic] ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben.

Im Folgenden sollen unterschiedliche ‚Durchschneidungen im grossen Brei der Sprachwirklichkeit‘ vorgestellt und somit die Variabilität in der Auffassung des Begriffs Standardsprache dargelegt werden. Diese Verschiedenheit wird auch anhand der untenstehenden, vom IDS (= Institut für Deutsche Sprache) zusammengestellten Abbildung 1 deutlich, in welcher Attribute von Standardsprache aus ausgewählten Definitionen und Beschreibungen einzelner Linguisten zusammengetragen werden. Die Tabelle zeigt, dass das Attribut ‚geschrieben‘ in den unterschiedlichen Definitionen zu sprachlichem Standard am häufigsten genannt wird. Damit geht allerdings nicht einher, dass der gesprochenen Sprache Standardsprachlichkeit aberkannt wird. Dies ist daran ersichtlich, dass am dritthäufigsten das Attribut ‚gesprochen‘ vorkommt. Weitere häufig erwähnte Merkmale sind ‚normiert‘, ‚kodifiziert‘ und ‚überregional‘. Auffallend ist, dass viele Attribute nur in einer oder zwei Definitionen gelistet sind, so beispielsweise ‚mit Nation/ Nationalstaat assoziiert‘, ‚alle Register umfassend‘, ‚nicht schichten-/gruppenspezifisch‘. Die Abbildung 1 wird hier nicht weiter kommentiert, wichtig war, in einer ersten Annäherung die Unterschiedlichkeit der Auffassungen zu veranschaulichen. Stattdessen sollen einige ausgewählte Definitionen von Standardsprache eingehend beleuchtet werden. Hierdurch kann die Diskrepanz der Auffassungen differenziert aufgezeigt werden. Das Bewusstsein dafür, dass die Definitionen von Standardsprache stark divergieren, ist für die vorliegende Arbeit von grosser Relevanz: Je nachdem, von welcher Auffassung von Standardsprache ein Lexikograph ausgeht, stuft er eine diatopische Variante als standardsprachlich oder nonstandardsprachlich ein und entsprechend nimmt er sie in sein Wörterbuch auf oder er vernachlässigt sie. Ich werde mich an dieser Stelle nicht auf eine bestimmte Definition von Standardsprache und Umgangssprache festlegen, da im Verlauf der Arbeit die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Definitionen von Standard eruiert werden. In Kapitel 13 wird aufgezeigt, welche Kriterien meiner Meinung nach herangezogen werden sollten, um die Standardsprachlichkeit diatopischer Varianten zu beurteilen. Es wird ausserdem dargelegt, welche Methoden sich für die Erhebung von standardsprachlichen Varianten besonders anbieten, damit die Lexikographie der Zukunft die standardsprachlich-diatopische Variation adäquat abzubilden vermag.

x

überregional

x

variierbar

offiziell/öffentlich/ amtlich

x

x

in Schulen unterrichtet

(sozial-)prestigeträchtig

x

durch Medien/ Behörden/ Institutionen verbreitet

als maßgeblich akzeptiert

x

kodifiziert

(auch) gesprochen

x

x

x

normiert

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Barbour Barbour/ Bußmann Duden 2005 Stevenson 2008 1999 „standard 1998 language“

geschrieben

Ammon 2005 „Standardsprache“/ „Standardvarietät“

x

x

x

x

x

x

x

x

(x)

x

x

Durrel 1999

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Eichinger Elspaß Glinz Jäger Lüdtke/ 2005 2005 1980 1980 Mattheier 2005

3

3

4

4

4

4

6

6

6 (7)

8

9

Summe

12 2 Sprachlicher Standard

Abb. 1: Attribute von Standarddeutsch, Standardsprache, Standardvarietät u.Ä. in ausgewählten Beschreibungen (Bubenhofer/Konopka/Schneider 2014: 26 f.)  

x

nicht schichten-/ gruppenspezifisch

mit Nation/Nationalstaat assoziiert

funktional differenziert

durch Selektion entstanden

alle Register umfassend

x

x

(historisch) legitimiert

x

allgemein verbindlich

x

x

x

Barbour Barbour/ Bußmann Duden 2005 Stevenson 2008 1999 „standard 1998 language“

von Mittel- bzw. Oberschicht getragen

nicht-mundartlich

von Gebildeten getragen

Ammon 2005 „Standardsprache“/ „Standardvarietät“

x

x

x

Durrel 1999

x

x

x

x x

x

x

x

Eichinger Elspaß Glinz Jäger Lüdtke/ 2005 2005 1980 1980 Mattheier 2005

1

1

1

1

2

2

2

2

3

3

Summe

2 Sprachlicher Standard

13

Abb. 1: Fortsetzung

14

2 Sprachlicher Standard

2.1 Definition von Standardsprache Das Verständnis des Begriffs Standardsprache hängt stark von der methodischen Herangehensweise ab. In diesem Zusammenhang unterscheidet Rudolf Muhr zwei grundsätzliche Ansätze, welche er als den „normbezogen[en]“ (Kap. 2.1.1) und den „sprachgebrauchsbezogen[en]“ (Muhr 1997: 60) Ansatz bezeichnet (Kap. 2.1.2). In jüngerer Zeit hat sich ausserdem ein sogenannter regionaler Gebrauchsstandard (vgl. Berend 2005: 143) herauskristallisiert, der zwar Berührungspunkte mit Muhrs sprachgebrauchsorientierter Definition von Standardsprache aufweist, jedoch nicht direkt mit ihr in Verbindung gebracht werden sollte (Kap. 2.1.3). Viel eher kann der (regionale) Gebrauchsstandard mit dem jüngst vermehrt auftretenden Begriff des pragmatischen Standards assoziiert werden (vgl. Hagemann/ Klein/Staffeldt 2013a). Den beiden Auffassungen von Standardsprache ist gemeinsam, dass der gesprochene Standard stärker in den Fokus der linguistischen Forschung gerückt wird. In Bezug auf die in dieser Arbeit untersuchten Wörterbücher ist der pragmatische Standard allerdings nur bedingt von Relevanz, weshalb er nur am Rande erwähnt wird.

2.1.1 Normbezogene Definition von Standardsprache Unter die normbezogene Definition von Standardsprache können diejenigen Definitionsansätze subsumiert werden, die einen sogenannten kodifizierten Standard (vgl. Hagemann/Klein/Staffeldt 2013b: 2) beschreiben.13 Eine entsprechende Definition hat Ulrich Ammon vorgelegt, dessen Ansatz näher betrachtet werden soll. Gemäss Ammon legen massgeblich vier Instanzen eines sozialen Kräftefeldes fest, was standardsprachliche Gültigkeit hat: Dies sind die Normautoritäten, der Sprachkodex beziehungsweise die Kodifizierer, die Sprachexperten mit ihren Fachurteilen sowie die Modellsprecher und -schreiber mit ihren Modelltexten (vgl. Ammon 1995a: 80 und 2005: 33). Mit den Normautoritäten sind Fachkräfte gemeint, die sich beruflich mit der Korrektheit der Sprache der Bevölkerung auseinandersetzen und befähigt sind, diese in ihrer Richtigkeit zu beurteilen. Dabei stützen sie sich auf den Sprachkodex ihrer standardsprachlichen Varietät, demnach bilden Wörterbücher ver-

13 Auf die Diskussion der Begriffe Norm und Normierung wird in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen, siehe dazu exemplarisch Dürscheid (2012), Dovalil (2006 und 2013b) und Maitz/Elspaß (2012).

2.1 Definition von Standardsprache

15

schiedener Art und Regelbücher wie beispielsweise Grammatiken oder Orthographien das normautoritäre Instrumentarium.14 Der Sprachkodex bzw. die Kodifizierer stützen sich ihrerseits auf die Fachurteile der Sprachexperten, womit meist Sprachwissenschaftler bezeichnet werden. Diese beurteilen die von den Kodifizierern zusammengestellten Kodizes und beeinflussen sie insofern, als ihre Kritik bei einer Neuauflage berücksichtigt wird. Mit der vierten Instanz, den Modellsprechern und -schreibern, sind einerseits Berufssprecher wie beispielsweise Fernsehnachrichtensprecher oder Radiomoderatoren und andererseits Journalisten, Schriftsteller oder Wissenschaftler gemeint. An ihrer Sprache orientieren sich wiederum die Kodifizierer. Man könnte diese Aufzählung noch weiterführen, da jede Instanz jeweils die drei anderen beeinflusst und im Gegenzug auch von jeder geprägt wird (vgl. Ammon 1995a: 73 ff.). Vít Dovalil sieht die Stärke des von Ammon herausgearbeiteten sozialen Kräftefelds darin, dass es die Dynamik des Prozesses der Standardisierung anschaulich abbildet. Anhand des Instrumentariums, das Ammons Kräftefeld bietet, kann herausgearbeitet werden, „[w]ie eine Instanz von einer Variante ‚erobert‘ wurde“ (Dovalil 2003: 138). Auch in meinen Augen ist die Veranschaulichung der gegenseitigen Beeinflussung der vier Instanzen des sozialen Kräftefelds in Ammons Modell ein wichtiger Aspekt, den es hervorzuheben gilt. Denn bei der Beschreibung von Standardisierungsprozessen ist die Tatsache, dass es sich bei Sprache um ein dynamisches Konstrukt handelt, von grosser Bedeutung. Das interaktive Kräftefeld wird von der untenstehenden Graphik veranschaulicht:

14 Es muss allerdings die Frage aufgeworfen werden, welche Texte bzw. Nachschlagewerke überhaupt zum Kodex gezählt werden sollen. Denn staatlich legitimiert ist lediglich der Bereich der Orthographie, für alle anderen sprachlichen Ebenen gibt es keine statuierten Normen. Ich orientiere mich bei der Definition von Sprachkodex an Wolf Peter Klein: „Zum Kodex gehören diejenigen metasprachlichen Texte mit Nachschlagecharakter, die in sprachlichen Zweifelsfällen für die Sprachgemeinschaft relevante Orientierungen anbieten, von der Sprachgemeinschaft auch als solche genutzt werden und deren Nutzung, zumindest zum Teil, von relevanten Institutionen (z. B. Ministerien, Schulen, Verlage) gestützt wird.“ (Klein 2013: 27)  

16

2 Sprachlicher Standard

Abb. 2: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät (Ammon 2005: 33)

Da sich die Kodifizierer hauptsächlich auf Modelltexte stützen, konzentrieren sie sich vor allem auf die öffentliche Kommunikation. Dies gibt auch die folgende Aussage Ammons (1995a: 82) wieder: „Die Entwicklung einer Standardvarietät dient massgeblich der Schaffung eines öffentlichen Kommunikationsmittels für die ganze Nation bzw. die ganze Sprachgemeinschaft in der betreffenden Nation.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Standardsprache oder auch eine Standardvarietät überregionale Gültigkeit hat und in der öffentlichen Kommunikation verwendet wird. Dies bedeutet, dass sprachliche Ausdrücke, die nur von einer spezifischen sozialen Schicht benutzt werden und dadurch stilistisch konnotiert sind (beispielsweise in der Jugendsprache und im Slang), nicht zur Standardsprache zählen. Nur Formen, die „in die normale Erwachsenenwelt integriert sind“15 (Ammon 1995a: 86), werden zum Standard gezählt. „Jede Beschränktheit von Sprachformen durch nur nichtöffentliche, private Verwendbarkeit“ bezeichnet Ammon als „hinderlich“ (Ammon 1995a: 86). Es existieren allerdings ver-

15 Diese Aussage ist etwas vage, denn die Begriffe ‚normal‘ und ‚Erwachsenenwelt‘ sind nicht klar umrissen.

2.1 Definition von Standardsprache

17

schiedene Grade der öffentlichen Kommunikation. In der belletristischen Literatur beispielsweise werden Themen aus sehr intimen Bereichen behandelt, wobei aus Gründen einer künstlerischen und greifbaren Darstellung auch äusserst familiäre oder gar derbe Wörter benutzt werden. Entsprechend den obenstehenden Ausführungen können allen voran die folgenden Attribute der normbezogenen Definition von Standard bzw. dem kodifizierten Standard zugeordnet werden: Überregionalität, Ausgebautheit, Oberschichtlichkeit16 und Kodifiziertheit (vgl. Ammon 1986: 17 ff.). In Bezug auf diese vier Hauptmerkmale von Standardsprache müssen allerdings einige Anmerkungen gemacht werden: Was das Attribut Überregionalität anbelangt, sollte unterstrichen werden, dass Ammon stets die diatopischen Standardvarietäten im Blick hat. Das heisst, mit Überregionalität ist nicht gemeint, dass ein sprachlicher Ausdruck im gesamten deutschen Sprachraum Gültigkeit haben muss, um als standardsprachlich zu gelten. Es wird damit lediglich ausgedrückt, dass sich standardsprachliche Varietäten in der Regel über eine grössere Region erstrecken als Dialekte (vgl. Ammon 2005: 29). In Bezug auf das Attribut Ausgebautheit plädiere ich in Anlehnung an Wolf Peter Klein (2013: 18) dafür, besser vom Merkmal der stilistischen Neutralität zu sprechen. Dieses ist m.E. leichter fassbar und scheint mir zudem zutreffender. Zum Kriterium Oberschichtlichkeit möchte ich anfügen, dass dieses nicht mehr zwangsläufig mit dem heutigen Verständnis von Standardsprache korreliert. Mit diesem Begriff geht die Konnotation des Elitären einher, allerdings kann die Standardsprache nicht (oder nicht mehr) automatisch mit einer bestimmten sozialen Schicht assoziiert werden, schon alleine deshalb nicht, weil in der Schule Angehörige aller Schichten die Standardsprache erlernen (vgl. auch Kellermeier-Rehbein 2013: 5). Wie Klein (2013: 18) bin ich der Ansicht, dass die Bindung der Standardsprache an eine höhere soziale Schicht nicht a priori angenommen werden darf, sondern aufgrund empirischer Untersuchungen überprüft werden muss. Neben den oben erwähnten Hauptmerkmalen, welche die Standardsprache gemäss der normbezogenen Definition beschreiben, nennt Ammon auch die Attribute Schriftlichkeit und Invarianz (vgl. Ammon 1986: 34 ff.). Schriftlichkeit muss hier im Sinne einer Möglichkeit verstanden werden. Das heisst: Jedes standardsprachliche Wort kann in schriftlicher Form auftreten, aber nicht nur schriftliche Formen sind standardsprachlich. Das Kriterium Invarianz wird ebenfalls – wie alle anderen im Übrigen auch – als potenzielles Merkmal betrachtet. In diesem Falle wird die Standardisierung der Sprache in ihrem alltagssprachlichen

16 Dieses Merkmal hat für die Schweiz keine Relevanz, da in der Schweiz eine Diglossiesituation vorherrscht (vgl. Löffler 2016: 73).

18

2 Sprachlicher Standard

Sinne verstanden, ergo handelt es sich um Reduktion von Variation. Da in Ammons Definition von Standardsprache aber stets von den unterschiedlichen nationalen und regionalen Standardvarietäten ausgegangen wird, muss dieses Attribut relativiert werden. Das Merkmal Invarianz stellt weder ein hinreichendes noch ein notwendiges Kriterium dar, weshalb an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen wird (vgl. Ammon 1987: 27 ff.). Fasst man die Vor- und Nachteile der normbezogenen Definition von Standardsprache zusammen, so sind die folgenden Aspekte hervorzuheben: Ein grosser Vorteil eines derart definierten Standardbegriffs ist, dass er „zumindest theoretisch in einer – sozial differenzierten – Sprachgemeinschaft klare Orientierung bieten kann“ (Schneider/Albert 2013: 49). Dies scheint mir weniger für die Sprachwissenschaft, umso mehr aber für den linguistisch ungeschulten Laien ein wichtiges Kriterium zu sein. Wie in Kapitel 10.2 dieser Arbeit noch gezeigt wird, wünscht sich der Sprachbenutzer meist klare normative Vorgaben. Dies kann der normbezogene Standard – wenn auch nicht umfänglich – bieten. Negativ hervorzuheben ist, dass er sich zu wenig am tatsächlichen Sprachgebrauch orientiert (vgl. Schneider/Albert 2013: 50). Als Modelltexte und somit als Grundlage für den Standard werden formelle, meist schriftliche Texte herangezogen. Aber auch zur Abbildung des gesprochenen Standards zieht Ammon Modelltexte heran, die meist schriftlich konzipiert sind und lediglich mündlich wiedergegeben werden (z. B. öffentliche Reden, Texte von Nachrichtensprechern, Predigten). „Somit ist die (spontane) Mündlichkeit de facto aus dem Standardbegriff ausgeschlossen“ (Schneider/Albert 2013: 50). Dies ist in Anbetracht der einleitend zu diesem Kapitel festgestellten komplexen Wechselbeziehungen zwischen geschriebenen und gesprochenen Varietäten problematisch. Die Sprachwirklichkeit und der normbezogene Standard driften diesbezüglich auseinander.  

2.1.2 Sprachgebrauchsorientierte Definition von Standardsprache Der sprachgebrauchsorientierte Ansatz stammt von Rudolf Muhr (vgl. Muhr 1997: 62). Muhr schlägt in diesem Zusammenhang die Termini Innenstandard versus Aussenstandard vor. Mit dem Innenstandard ist jene Sprachform gemeint, die Benutzer derselben Varietät in der alltagssprachlichen Kommunikation untereinander verwenden. Er tritt – gemäss Muhr – meist nur in gesprochener Form auf und ist regional unterschiedlich spezifiziert (vgl. Muhr 1997: 62). Der Aussenstandard beschreibe hingegen jene Sprachform, die sich „nach aussen“ (Muhr 1997: 62) richte und in formalen Situationen verwendet werde. Beispielsweise würde dieser Terminus im deutschen Sprachraum „die österreichische Variante der deutschen Standardsprache“ (Muhr 1997: 62) umfassen.

2.1 Definition von Standardsprache

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Muhr schlägt vor, mittels dieser Definitionen den schwer fassbaren Begriff Umgangssprache abzuschaffen, und regt an, zusätzlich die folgenden Markierungen zur genaueren Bestimmung des Standards einzuführen: „gesprochener – geschriebener Standard, überregional – regional (mit Angabe der Region), allgemeinsprachlich – gruppensprachlich – fachsprachlich, distanzsprachlich – nähesprachlich, neutral – wertend (positiv, negativ, ironisch usw.)“ (Muhr 1997: 63; Hervorheb. i. O.). Diese sprachgebrauchsorientierte Auffassung von Standardsprache scheint die Zuordnung einzelner sprachlicher Ausdrücke zum Dialekt oder zur Standardsprache zu erschweren anstatt sie zu vereinfachen. Müsste man den gesamten, oben genannten Markierungskatalog bei jedem einzelnen Wort anwenden, so ergäben sich unzählige Kombinationen, was zu Unübersichtlichkeit führen würde. Zwar wäre das Problem der Begriffsklärung hinsichtlich Umgangssprache durch die Ausmusterung eben dieses Begriffs zwangsläufig gelöst, es würden sich aber exakt dieselben Abgrenzungsprobleme bezüglich Aussen- und Innenstandard stellen. Ausserdem scheint die Abgrenzung des Innenstandards – der ja keines Kodexes bedarf, weil er sich stets ändert (vgl. Muhr 1997: 63) – vom Dialekt umso schwieriger. Muhrs Vorschlag trägt m.E. nicht zur Klärung der Definition von Standardsprache bei. Er wurde in der vorliegenden Arbeit dennoch angeführt, um die grosse Divergenz verschiedener Beschreibungen von Standardsprache zu veranschaulichen.

2.1.3 Regionale Gebrauchsstandards In jüngerer Zeit taucht im Zusammenhang mit der Definition der Standardsprache sowie mit der Diskussion über Plurizentrizität und Pluriarealität (siehe Kap. 3) vermehrt die Frage nach der Existenz von regionalen Gebrauchsstandards auf. Bereits Ammon (1995a) konzipierte in Abgrenzung zum kodifizierten Standard eine nicht kodifizierte Form der Standardsprache, den regionalen Gebrauchsstandard. Der Gebrauchsstandard konstituiert sich nach Ammon durch jene Varianten, die zwar in den Modelltexten vorkommen, die allerdings (noch) nicht kodifiziert sind. Er umfasst die „Sektoren der Sprache, für die es noch gar keine unumstrittenen nationsweiten Varianten gibt, wo also der Prozess der Standardisierung im Sinne der überregionalen Vereinheitlichung nicht zum Abschluss gebracht ist“ (Ammon 1995a: 85). Auch andere Linguisten wie Peter Auer (1997), Ludwig M. Eichinger (2001) und Nina Berend (2005) beschreiben regionale Gebrauchsstandards: Auer sieht den regionalen Gebrauchsstandard als Folge eines Prozesses der Destandardisierung des Deutschen. Dem regionalen Gebrauchsstandard wird in der jeweiligen Region das höchste Prestige zugesprochen, zudem wird er in allen offiziellen

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2 Sprachlicher Standard

Situationen als angemessen empfunden. Nichtsdestotrotz handelt es sich für Auer lediglich um ein Subsystem einer alles „überspannende[n] allgemeindeutsche[n] normative[n] Hochsprache“ (Auer 1997: 136). Eichingers Auffassung des Gebrauchsstandards kontrastiert Auers Definition. So versteht Eichinger den regionalen Gebrauchsstandard gerade nicht als Subsystem einer alles überdachenden Standardsprache, sondern als „Varietäten- und Sprachgebrauchsmuster, das sich durch eine spezifische Auswahl aus Optionen auszeichnet, die im deutschen Sprachraum zur Verfügung stehen“ (Eichinger 2001: 62). Entsprechend hält er eine umfassende Beschreibung regionaler Gebrauchsstandards nicht für nötig. Nina Berend geht noch einen Schritt weiter: [Unter regionalen Gebrauchsstandards] sind geographisch definierte Varietäten- und Sprachgebrauchsmuster zu verstehen, die im jeweiligen regionalen Kontext ein entsprechend hohes Prestige tragen und die sowohl im informellen als auch im formellen Sprachgebrauch angemessen sind und akzeptiert werden. Sie weisen auf allen Sprachebenen spezifische regionaltypische Formen auf und unterscheiden sich von Dialekten und Umgangssprache einerseits und von der kodifizierten Schrift- und Standardsprache andererseits. (Berend 2005: 143)

Berend plädiert für eine erweiterte Auffassung des Begriffs Standardsprache. Sie kritisiert die traditionelle Auffassung des Standardbegriffs insofern, als dass alles, was vom schriftsprachlichen Standard abweicht, als umgangssprachlich eingestuft und somit mit einem tieferen Prestige versehen werde. Deshalb postuliert sie eine Auffassung von Standardsprache, die weniger schriftsprachenorientiert ist und die gesprochenen Register der Standardsprache stärker miteinbezieht (vgl. Berend 2005: 146). Berend sieht den Gebrauchsstandard in zwei Dimensionen: einer geographischen bzw. horizontalen einerseits und einer vertikalen andererseits. In der horizontalen Dimension wird das deutschsprachige Gebiet gemäss dem Pluriarealitätsmodell in verschiedene Regionen und somit in regionale Gebrauchsstandards unterteilt (siehe Kap. 3.1.2). Mit der vertikalen Dimension bezieht sich Berend auf die Hochsprache-Dialekt-Dichotomie (mit dazwischenliegender Umgangssprache), in welche die deutsche Sprache oft untergliedert wird. Varianten der gesprochenen Sprache würden dabei bevorzugt der Umgangssprache zugeordnet und somit als divergierend zur Standardsprache wahrgenommen. Berend plädiert nun dafür, dass gerade solchen, bis anhin als umgangssprachlich eingestuften und entsprechend niedriger bewerteten Varianten ein normativer Charakter zugestanden werden solle. Anstelle der Hochsprache-Dialekt-Dichotomie schlägt sie eine Differenzierung in einen „formellen“ und einen „informellen“ (Berend 2005: 146) Standard vor, wie dies im Englischen der Fall sei. Damit baut sie auf einem Gedanken von Martin Durrell auf und plädiert dafür, dass analog zum colloquial English, einer „alltäglichen britischen Sprech-

2.1 Definition von Standardsprache

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sprache“ (Durrell 2003: 250), die auch im Englischunterricht gelehrt und zum informellen Standardenglisch gerechnet wird, für das Deutsche eine Sprachform akzeptiert werde, die der „alltäglichen Sprechsprache“ (Durrell 2006: 114) entspricht – ein colloquial German also, das zum Standard gezählt wird (vgl. Berend 2005: 146 f.).17 Vor diesem Hintergrund schlägt Berend (2005: 167) vor, dieser Sprachschicht, welche die Dialekte und die Umgangssprache überlagert, die Attribute ‚schriftfern‘, ‚informell‘ und ‚sprechsprachlich‘ zuzuschreiben. Im Unterschied zum Englischen müsse der deutsche Sprechstandard allerdings auch regional differenziert werden, weshalb sie für das colloquial German den Terminus des regionalen Gebrauchsstandards bevorzugt. Wichtig bleibt zu betonen, dass Berend die Gebrauchsstandards nicht nur auf eine Aussprachenorm beschränkt. Vielmehr sieht sie diese „als Muster, die im sprechsprachlichen nichtformellen Register wirksam sind. Die Sprecher treffen eine standardsprachliche Auswahl aus lautlichen, lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Varianten gemäß den regionalen Mustern bzw. Normen in den entsprechenden sprachlichen Situationen“ (Berend 2005: 147 f.). Berends Definition von regionalen Gebrauchsstandards ist mit dem eingangs dieses Kapitels erwähnten Vormarsch der Mündlichkeit in die Standardsprache kompatibel. Sie scheint mir der Dynamik, die der Sprache innewohnt, gerecht zu werden und widerspiegelt eine Entwicklung, die gerade angesichts neuer Kommunikationsformen und -medien unaufhaltsam ist. Auch der pragmatische Standard verfolgt einen „usus-orientierten“ (Klein 2013: 24) Zugang bei der Definition von Standardsprache. Hierbei können zwei prominente Sichtweisen auf diesen Begriff hervorgehoben werden: Einerseits wird als pragmatischer Standard der „Standard des Gesprochenen“, andererseits „der auf der Ebene sprachlichen Handelns und Verhaltens zu beschreibende Standard“ (Hageman/Klein/Staffeldt 2013b: 3) verstanden. Geht man von Ersterem aus, so ergeben sich sehr viele Überschneidungen zwischen dem Verständnis von regionalen Gebrauchsstandards (im Berend’schen Sinne) und demjenigen von pragmatischem Standard. Da sowohl der gesprochene Standard als auch der Standard auf der Ebene des sprachlichen Handelns – also der sprachpragmatische Standard – für die vorliegende Arbeit nur am Rande von Relevanz sind, wird im Weiteren nicht näher auf die Definitionen von pragmatischem Standard eingegangen.18  



17 Siehe hierzu auch Durrell (1999 und 2003). 18 Für einen umfassenden Überblick zum pragmatischen Standard siehe Hagemann/Klein/Staffeldt (2013a).

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2 Sprachlicher Standard

2.2 Umgangssprache und Dialekt Im Folgenden werden die Begriffe Umgangssprache und Dialekt kurz umrissen. Auf die Erläuterung der Begriffe Substandard und Nonstandard wird bewusst verzichtet. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache begründet, dass beide Begriffe meist nur negativ definiert werden, in Abgrenzung zum Standard. Des Weiteren herrscht bei ihrer Bestimmung oft grosse Uneinheitlichkeit. Hinzu kommt, dass die beiden Termini in den Wörterbüchern, die in Teil II dieser Arbeit untersucht werden, nicht explizit zur Markierung einer Sprachebene verwendet werden, die Begriffe Umgangssprache und Dialekt hingegen schon.19

Umgangssprache Der Begriff Umgangssprache ist – wie oben bereits erwähnt – bis anhin am wenigsten eindeutig umrissen worden. Obwohl er in der Fachliteratur oft verwendet wird, lässt sich seine Bedeutung nur intuitiv erschliessen, eine exakte Definition oder eine einheitliche Verwendungsweise gibt es nicht, seine ‚Undefinierbarkeit‘ ist schon nahezu sprichwörtlich geworden (vgl. Dovalil 2006: 9). Bereits im Jahr 1973 machte Ulf Bichel auf diesen Sachverhalt aufmerksam: „Deshalb erscheint es mir geboten, vorläufig auf exakte Definitionen zu verzichten und stattdessen den gebräuchlichen Begriff ‚Umgangssprache‘, der wissenschaftlichen Ansprüchen ganz gewiß nicht genügt, dennoch wissenschaftlich ernst zu nehmen. Mit anderen Worten: der Begriff ‚Umgangssprache‘ muß ernst genommen werden, weil er in wissenschaftlichen Arbeiten eine bedeutende Rolle spielt, ohne selbst wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen“ (Bichel 1973: 4). Teilweise wird das Attribut ‚umgangssprachlich‘ mit dem Standard assoziiert, dann wieder mit dem Nonstandard oder es wird – wie in Kapitel 2.1 erwähnt – als substandardsprachlich kategorisiert. Ammon (1995a: 82 f.) beispielsweise nähert sich dem Begriff an, indem er vier Arten von dessen Gebrauch unterscheidet: 1. Man bezieht sich mit dem Wort ‚umgangssprachlich‘ auf die Verbreitung/ Reichweite eines sprachlichen Ausdrucks. Ein umgangssprachlicher Ausdruck hat einen grossräumigeren Gültigkeitsbereich als ein dialektaler, aber einen kleineren als ein standardsprachlicher Ausdruck. 2. Ein sprachlicher Ausdruck wird damit stilistisch bewertet und/oder auf eine bestimmte soziale Gemeinschaft beschränkt. So werden mitunter „Slang, Jugend-, Schüler-, Studenten-, Gaunersprachen oder Argot“ (Ammon 1995a:  

19 Eine Übersicht zu Substandard/Nonstandard bietet Dovalil (2006: 63 ff.).

2.2 Umgangssprache und Dialekt

23

82) mit Umgangssprache betitelt. In diesem Fall wäre der Begriff als Synonym zu Jargon zu verwenden und könnte als stilistisches Gegenstück zur Standardsprache betrachtet werden. 3. Umgangssprache kann auch eine stilistische Unterscheidung innerhalb der Standardsprache bezeichnen. Ammon schlägt vor, hier von einer „kolloquialen Stilebene“ (Ammon 1995a: 83) zu sprechen, da die Markierung ‚umgangssprachlich‘ in diesem Fall ‚in der mündlichen Kommunikation, im Gespräch üblich‘ bedeutet. 4. Man bezieht sich mit ‚umgangssprachlich‘ ausschliesslich auf den Gebrauch des Wortes. Das heisst, ein umgangssprachliches Wort wird als solches bezeichnet, sobald es im alltäglichen ‚Umgang mit Sprache‘ realisiert wird. Es kann dialektal, standardsprachlich oder umgangssprachlich sein (verwendet wie in 1, 2 oder 3). Ammons Zusammenfassung verschiedener Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs Umgangssprache zeigt anschaulich, wie diffus die Definition von Umgangssprache ist. An diesem Umstand hat sich bis heute nichts geändert.

Dialekt Auch bei der Definition des Begriffs Dialekt herrscht keine Einigkeit darüber, wie er exakt zu fassen ist. Löffler schreibt hierzu: „So stellt sich die einfache Frage nach der Definition des Begriffes Mundart und Dialekt gleich zu Beginn als eines der Probleme, wenn nicht gar als eines der Hauptprobleme der Dialektforschung heraus. Eine wissenschaftliche Disziplin, dazu noch eine der exakt sein wollenden kennt offenbar ihren Gegenstand nicht“ (Löffler 2003: 1; Hervorheb. i. O.). Dialekt wird oft lediglich durch die Abgrenzung von anderen Begriffen definiert, vor allem durch jene von Sprache oder Standardsprache. So wird beispielsweise als eines der Hauptcharakteristika von Dialekten derselben Sprache ihre gegenseitige Verständlichkeit genannt – dies im Unterschied zu unterschiedlichen Sprachen, auf welche dieses Merkmal nicht zutrifft (vgl. Britain 2004: 269). Gleichzeitig unterliegen Dialekte aber einer funktionalen Eingeschränktheit, da sie sich im Unterschied zur Standardsprache nicht für transregionale Kommunikation eignen (vgl. Ammon 1998: 197). Bußmann sieht den Dialekt als die ursprünglichste Sprachform an, wobei diese (beinahe) ausschliesslich in gesprochener Form auftritt und nicht standardisiert ist, das heisst, dass der Dialekt – gemäss Bußmann – eindeutig dem Nonstandard zugeordnet werden kann. Es gibt zwar Dialektwörterbücher, diesen kann jedoch kein normativer Charakter attestiert werden. Dialekte beschränken sich ausserdem auf ein bestimmtes Gebiet, sie überschneiden sich also nicht mit anderen Dialekten. Häufig werden sie auch

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2 Sprachlicher Standard

durch topographische Gegebenheiten wie Gebirge oder Gewässer eingezäunt (vgl. Bußmann 2008: 131). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass weder bei der Definition von Standardsprache noch bei derjenigen von Umgangssprache Einigkeit unter den Sprachwissenschaftlern herrscht. Dies gilt nicht zuletzt auch für den Begriff Dialekt. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem die Frage danach, was unter Standardsprache zu verstehen ist bzw. welche Kriterien eine diatopische Variante erfüllen muss, um als standardsprachlich zu gelten, von Interesse. Aus diesem Grund wurden in Kapitel 2 verschiedene Definitionen dieses Begriffs vorgestellt, die im weiteren Verlauf der Arbeit – im Speziellen aber im Hinblick auf die Wörterbuchanalysen in Teil II – als Grundlage für das Verständnis der unterschiedlichen Auffassungen von Standardsprache, wie sie in den Wörterbüchern in Erscheinung treten, dienen werden.

3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren Unter Sprachwissenschaftlern besteht Konsens darüber, dass in der deutschen Sprache verschiedene diatopische Standardvarietäten nebeneinander existieren. Darüber, über welche Regionen sich die standardsprachlichen Varietäten erstrecken bzw. wie der deutsche Sprachraum zu gliedern ist, herrschen allerdings verschiedene Auffassungen vor. Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Ansätze für eine diatopische Gliederung der deutschen Sprache präsentiert und kritisch gegenübergestellt: das Plurizentrizitätsmodell und das Pluriarealitätsmodell (Kap. 3.1). Anschliessend wird die Gliederung des deutschen Sprachraums nach den Kriterien des Plurizentrizitätsmodells eingehend erläutert (Kap. 3.2), da sich die meisten Lexikographen bei der Aufnahme diatopischer Varianten an diesem Modell orientieren (siehe auch Teil II). In Bezug auf die Lexikographie sind die Kriterien, die zur Gliederung des deutschen Sprachraums herangezogen werden, deshalb von Bedeutung, weil mit der Präferenz eines der beiden Modelle korreliert, welche Varianten als standardsprachlich eingestuft und somit in ein (standardsprachliches) Wörterbuch aufgenommen werden.

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität Das Plurizentrizitäts- und das Pluriarealitätsmodell spalten Variationslinguisten in zwei Lager. Bei genauerer Betrachtung erkennt man allerdings, dass es sich dabei nicht um zwei sich widersprechende Modelle handelt, sondern lediglich um grundsätzlich unterschiedliche Methoden der Herangehensweise an das Fachgebiet der Variationslinguistik. In Kapitel 3.1.1 wird zuerst das Plurizentrizitätsmodell, anschliessend wird das Pluriarealitätsmodell vorgestellt (Kap. 3.1.2). Die beiden Modelle werden abschliessend in Kapitel 3.1.3 miteinander verglichen.

3.1.1 Plurizentrizität Als Begründer des linguistischen Plurizentrizitätsmodells kann Michael Clyne betrachtet werden. Zwar entwickelte bereits vor ihm Heinz Kloss die Grundlagen zu diesem Modell (vgl. Kloss 1978), doch Clyne war derjenige, der das Konzept substanziell ergänzte, erweiterte und weitläufig bekannt machte (vgl. Clyne 1982,

DOI 10.1515/9783110482263-004

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

1989, 1992a, 1992b, 1995).20 Michael Clyne sowie auch Ulrich Ammon (1995a) können als treibende Kraft bei der Diskussion um Deutsch als plurizentrische Sprache betrachtet werden. Dem Begriff plurizentrische Sprache ist immanent, dass es sich um eine Sprache mit verschiedenen Zentren handelt. Davon besitzt jedes seine eigene Sprachnorm, seine eigene standardsprachliche Varietät. Im Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) umschreibt Ammon den Begriff der Plurizentrizität wie folgt: Von einer plurizentrischen Sprache spricht man dann, wenn diese in mehr als einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch ist und wenn sich dadurch standardsprachliche Unterschiede herausgebildet haben. […] Die plurizentrische Auffassung von der deutschen Sprache bedeutet, dass sprachliche Besonderheiten nationaler Zentren nicht als Abweichungen von einer nationenübergreifenden deutschen Standardsprache gelten, sondern als gleichberechtigt nebeneinander bestehende standardsprachliche Ausprägungen des Deutschen. (Ammon et al. 2004: XXXIf.)

Nach Clyne (1989) handelt es sich bei den Varietäten um nationale Varietäten, weshalb der Begriff Plurinationalität häufig mit dem Plurizentrizitätsmodell einhergeht.21 Für Ammon (1995a) ist der Terminus der Plurinationalität eine Spezifizierung von Plurizentrizität. Eine Sprache kann nur dann als plurinational bezeichnet werden, wenn die verschiedenen Nationen, über die sich die Sprache erstreckt, jeweils auch ein Zentrum dieser Sprache bilden, das heisst, wenn die nationalen Zentren auch über eine eigene Standardvarietät verfügen. Der Fakt allein, dass sich die Sprache über verschiedene Nationen ausdehnt, reicht folglich nicht aus, um sie als plurinational zu bezeichnen. Spricht man von der plurizentrischen deutschen Sprache, so ist laut Ammon die trinationale Gliederung gemeint, bei der ein Zentrum in Deutschland, eines in Österreich und eines in der Deutschschweiz liegt. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands sind die nationalen und die staatlichen Grenzen wieder deckungsgleich. Aus diesem Grund schlägt Ammon in Bezug auf die deutsche Sprache den Begriff der Plurinationalität vor (vgl. Ammon 1996: 156).

20 Geht man noch weiter in der Geschichte zurück, so findet man das Konzept von „nationalen Varianten in der Literatursprache“ (Riesel 1962 zit. nach Ammon 1995a: 44) erstmals bereits 1962 bei der österreichischen Germanistin Elise Riesel. Auch die Begriffe monozentrische und polyzentrische Standardsprache treten schon 1968 in Texten des amerikanischen Soziolinguisten William A. Stewart auf (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 106). 21 „The term pluricentric(ity) indicates that a language has more than one centre, i.e. several centres, each providing a national variety with its own norms.“ (Clyne 1989: 358; Hervorheb. i. O.)

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

27

Nun stellt sich die Frage, ab wann von einer Standardvarietät gesprochen werden kann. Eine Varietät kann nach Ammon (vgl. Ammon 1995a: 64) streng genommen bereits dann als standardsprachlich bezeichnet werden, wenn sie über eine einzige spezifische standardsprachliche Variante verfügt. Varianten sind sprachliche Ausdrücke, die sich voneinander unterscheiden und im Sprachgebrauch der jeweiligen Zentren verankert sind, das heisst beispielsweise für den Bereich der Lexik, dass für dasselbe signifié unterschiedliche signifiants existieren. Durch diese Varianten22 konstituieren sich die einzelnen Varietäten. Nationale Varietäten einer Sprache decken sich grösstenteils mit den jeweils anderen derselben Sprache, was heisst, dass sie mehrheitlich Konstanten enthalten (vgl. Ammon 1995a: 66); demnach sind die linguistischen Unterschiede zu gering, als dass es sich um verschiedene Sprachen handeln könnte. Varianten lassen sich auf allen sprachlichen Ebenen finden; so gibt es sowohl lexikalische, semantische, syntaktische, morphologische, phonetisch-phonologische als auch pragmatische Varianten. Der Begriff Variante lässt sich hierbei mittels einer Analogie zur Mathematik erläutern. In diesem Kontext geht man von sprachlichen Variablen aus. Ebenso wie in der Mathematik können auch die Variablen der Sprache verschiedene Werte annehmen, es resultieren sprachliche Varianten. Zur Veranschaulichung kann hierzu die Variable FAHRRAD angeführt werden. Sie nimmt in der Schweiz die Form der sprachlichen Variante ‚Velo‘ ein, in Deutschland und Österreich lautet sie hingegen ‚Fahrrad‘ (vgl. Ammon 1995a: 61). Varianten lassen sich – gemäss Ammon – in spezifische und unspezifische unterscheiden: Eine spezifische nationale Variante gehört ausschliesslich zu einer Standardvarietät, eine unspezifische ist hingegen mindestens zwei Varietäten zugehörig. Wäre sie Bestandteil aller vorhandenen Varietäten, würde es sich nicht mehr um eine Variante handeln, sondern um eine Konstante. Die unspezifischen Varianten wiederum können in solche unterteilt werden, die im gesamten Zentrum gültig sind, zu welchem sie gehören, und jene, deren Geltungsbereich sich nur auf eine Teilregion des Zentrums erstreckt. Daraus leitet Ammon (1996: 163) untenstehende Differenzierung unspezifischer Varianten ab: (a) (b) (c) (d)

Gesamtregion des eigenen Zentrums + Gesamtregion eines anderen Zentrums, Gesamtregion des eigenen Zentrums + Teilregion eines anderen Zentrums, Teilregion des eigenen Zentrums + Gesamtregion eines anderen Zentrums, Teilregion des eigenen Zentrums + Teilregion eines anderen Zentrums.

22 Mit dem Begriff Variante beziehe ich mich im Folgenden stets auf standardsprachliche Varianten.

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

Ammon fügt zudem an, dass für die deutsche Sprache hauptsächlich Typ (a) und (b) relevant sind. Die Abgrenzung unspezifischer nationaler von nicht mehr nationalen Varianten erweist sich teilweise als äusserst problematisch. Aufgrund dieser Unschärfen führt Ammon den Begriff des Grenzfalls des Standards ein. Als Grenzfälle des Standards bezeichnet er allgemein alle sprachlichen Ausdrücke, die nicht eindeutig dem Standard oder dem Nonstandard zugewiesen werden können. Diese würden in Nachschlagewerken oft als umgangssprachlich markiert. Ammon wirft die Frage auf, ob diese Markierung als weitere Normebene zwischen dem Standard und dem Nonstandard zu verstehen ist oder ob sie eine bestimmte Stilebene innerhalb des Standards anzeigt, einen kolloquialen Standard (vgl. Ammon 2005: 35). Auf ebensolche Markierungen, bei denen nicht klar ersichtlich ist, wie sie diaphasisch einzuordnen sind, wird in den einzelnen Wörterbuchanalysen in Teil II der Arbeit ausführlich eingegangen. Ausserdem werden in Kap. 11.4 einzelne Lemmata, die im Variantenwörterbuch als ‚Grenzfall des Standards‘ markiert sind, eingehend untersucht. Ammon nennt als Beispiele für ‚Grenzfälle des Standards‘ Varianten, die in der Gesamtregion zweier Nationen sowie in einer Teilregion der dritten Nation gelten, beispielsweise die Perfektbildung mit sein bei Verben wie liegen, sitzen oder stehen. Diese gilt in der Schweiz und in Österreich, aber auch in Süddeutschland (vgl. Ammon 1996: 164). Um das erwähnte Abgrenzungsproblem unspezifischer nationaler Varianten zu solchen, die keine nationalen Varianten sind, zu lösen, differenziert Ammon seine Typologie der Varianten weiter in (einfach) unspezifische nationale Varianten und sehr unspezifische nationale Varianten (vgl. Ammon 1996: 165). Ammon unterscheidet hierbei zwei Typen von sehr unspezifischen nationalen Varianten: i. Varianten, die im ‚eigenen‘ Zentrum nur in einer Teilregion gelten, während sie in einem anderen Zentrum in der Gesamtregion anerkannt sind und im dritten Zentrum keine Geltung mehr beanspruchen können (z. B. gilt Kren in Deutschland nur in Bayern, in Österreich in der Gesamtregion und in der Schweiz gar nicht. Folglich ist Kren eine sehr unspezifische Variante Deutschlands und eine (einfach) unspezifische Variante Österreichs). ii. Varianten, die in allen drei Regionen gelten, jedoch mindestens in einem anderen Zentrum nicht in der Gesamtregion anerkannt sind (z. B. ist die oben erwähnte Perfektbildung mit sein bei Verben wie liegen, sitzen, stehen als sehr unspezifische nationale Variante der Zentren Österreich und Schweiz zu kategorisieren, sie ist allerdings keine nationale Variante Deutschlands, da sie dort nur in Süddeutschland gilt) (vgl. Ammon 1996: 165 f.).  





Diese beiden Typen von sehr unspezifischen Varianten werden anhand der folgenden Abbildung veranschaulicht (vgl. Abb. 3).

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

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Abb. 3: Sehr unspezifische Variantentypen (Ammon 1996: 166)

Ammon ist sich durchaus bewusst, dass es sich bei den sehr unspezifischen nationalen Varianten um Grenzfälle des Standards handelt: „[Diese Definitionen von sehr unspezifischen nationalen Varianten] dehnen den Begriff ‚nationale Variante‘ bis aufs äußerste, sprengen ihn aber nicht“ (Ammon 1996: 167). Er räumt allerdings auch ein, dass es neben den nationalen Varianten und den gesamtsprachlichen linguistischen Einheiten einer „Zwischenkategorie“ (Ammon 1996: 167) bedarf. Diese könnte Einheiten kategorisieren, die bis anhin weder als nationale Varianten eingestuft werden können noch Konstanten darstellen. Es handelt sich dabei um regionale Standardvarianten. In der untenstehenden Graphik (Abb. 4) illustrieren Typ α und β regionale Varianten, während Typ γ Konstanten darstellt. Die Graphik ist aus der Perspektive der Varietät A zu lesen.

Abb. 4: Nicht mehr als nationale Varianten geltende Variantentypen (Ammon 1996: 167)

Die Varianten der drei nationalen Zentren bezeichnet Ammon als Teutonismen23 (deutschländische Varianten), Austriazismen (österreichische Varianten) und Hel-

23 Neben dem Begriff Teutonismus werden für die nationalen Varianten Deutschlands auch die Begriffe Deutschlandismus, Germanismus oder Germanizismus verwendet. Rudolf Muhr beispielsweise propagiert den Begriff Deutschlandismus, da Teutonismus negativ konnotiert sei, während der Begriff Germanismus sich auf das Gesamtdeutsch beziehe und Interferenzen zwischen Deutsch und anderen Sprachen darstelle (vgl. Muhr 1997: 50). Auch Polenz plädiert für den Begriff Deutschlandismus (vgl. Polenz 1999a: 120). Er argumentiert, dass der Begriff Teutonismus mit den Teutonen assoziiert und somit vor allem politisch-polemisch „im Sinne des historischen

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

vetismen (schweizerische Varianten). Allerdings schliesst er nicht aus, dass andere Nationen sich ebenfalls zu nationalen Zentren des Deutschen entwickeln werden. Dies könnten diejenigen Nationen sein, in welchen Deutsch ebenfalls den Status einer staatlichen Amtssprache innehat, die sogenannten Halbzentren Liechtenstein, Luxemburg, Belgien (Deutschsprachige Gemeinschaft) und Italien (Provinz Bozen-Südtirol) (vgl. Ammon 1996: 159; siehe auch Kap. 3.2).

3.1.2 Pluriarealität Mitte der neunziger Jahre schlug Norbert Richard Wolf für die deutsche Sprache das Modell der Pluriarealität vor: „Vorerst scheint es mir günstiger und adäquater zu sein, das Deutsche als eine pluriareale Sprache zu bezeichnen“ (Wolf 1994: 74). Dem pluriarealen Modell zufolge reicht das Kriterium ‚Nation‘ nicht aus, um die deutsche Sprache zu gliedern – vielmehr orientiert es sich an dialektalen Grossräumen bzw. an kulturräumlichen Regionen (vgl. Wiesinger 1997: 49). So betonen die Anhänger des Pluriarealitätsmodells24, dass Sprache ein grenzüberschreitendes Phänomen darstellt. Sie attestieren den Verfechtern des Plurizentrizitätsmodells zwar, dass es Varianten gibt, die tatsächlich nur von einer Nation verwendet werden, bemängeln allerdings die Stichhaltigkeit einer solchen Argumentationsweise, da die Existenz von Varianten, die nur in einer Nation gültig sind, zur Konstitution nationaler Varietäten nicht ausreiche. Einerseits würden die spezifischen lexikalischen Varianten vornehmlich aus dem Gastronomie- oder Verwaltungsbereich stammen (vgl. Pohl 1997: 76), andererseits überwiege die Anzahl der unspezifischen Varianten diejenige der spezifischen bei Weitem (vgl.

deutschen Radikalnationalismus“ (Polenz 1999b: 422) verstanden werde. Schneider-Wiejowski hingegen hebt hervor, dass Deutschlandismus sich als Begriff nicht eigne, da unspezifische Varianten damit nur umständlich begrifflich benannt werden könnten. So funktioniere beispielsweise Helveto-Teutonismus gut, Deutschland(ismus)-Helvetismus hingegen nicht (vgl. SchneiderWiejowski 2013b: 48). Des Weiteren hat eine empirische Umfrage von Schneider-Wiejowski und Ammon – an welcher vor allem Germanisten und einige wenige Laien teilnahmen – ergeben, dass der Begriff Teutonismus zwar teilweise als negativ konnotiert wahrgenommen werde, Deutschlandismus dafür aufgrund seiner „Hybridbildung“ (deutschsprachiger Wortstamm, lateinische Endung) „überwiegend als abstoßend“ (Schneider-Wiejowski/Ammon 2013: 56) empfunden werde. Auch dies ist ein Grund dafür, dass Schneider-Wiejowski und Ammon sich für den Begriff Teutonismus aussprechen. Auch in der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Teutonismus verwendet. 24 Das Modell der Pluriarealität vertreten unter anderen Norbert Richard Wolf (1994), Hermann Scheuringer (1997), Heinz Dieter Pohl (1997), Peter Wiesinger (1997), Werner Koller (1999), Ingo Reiffenstein (2001) und Stephan Elspaß (2010).

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

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Wiesinger 2006: 6).25 Letzteres hat mit diachronischen Aspekten der deutschen Sprache und ihrem Wandel über die Jahrhunderte zu tun: Im Pluriarealitätsmodell wird von sprachlichen Grundlagen ausgegangen, die im Rückblick je nach Stammeszugehörigkeit ihre spezifischen Ausformungen aufweisen. Diese haben sich über die Jahrhunderte hinweg aufgrund von kulturellem und kommunikativem Austausch sowie durch territoriale Verschiebungen immer wieder neu durchmischt (vgl. Wiesinger 2006: 6). Die heutigen Staatsterritorien, von denen in dieser Arbeit die Rede ist, sind ein junges Gebilde: Das heutige Österreich besteht seit 1918, die Wiedervereinigung Deutschlands zum heutigen deutschen Staat fand 1989 statt. Das Pluriarealitätsmodell trägt der Tatsache Rechnung, dass die sprachlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte einen gewichtigeren Einfluss auf die Varietäten haben als die relativ jungen Nationalstaaten. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass beispielsweise bestimmte oberdeutsche Varianten in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz gleichermassen verwendet werden. Zu diesem Aspekt äussert sich Hermann Scheuringer (1990: 372) in Bezug auf die sprachlichen Gemeinsamkeiten von Bayern und Österreich wie folgt: „[A]ngesichts der engen historisch-kulturellen Zusammenhänge zwischen Bayern und Österreich [wäre] es vermessen, [hier] eine Sprachgrenze sehen zu wollen.“ Als sprachliches Beispiel dieser regionalen sprachlichen Gemeinsamkeiten könnte man das Verb ‚abstreifen‘ nennen, das in Süddeutschland, Westösterreich und in der Schweiz verwendet wird, während man in Nord- und Mitteldeutschland sowie in den restlichen Regionen Österreichs im gleichen Zusammenhang das Wort ‚abtreten‘ benutzt (vgl. Ammon et al. 2004: 16). Auch das Wort ‚Schreiner‘ kann hier als Exempel angeführt werden. Dieses wird in Mittelwest- und Süddeutschland sowie in Westösterreich und in der Schweiz gebraucht, in Nord- und Mitteldeutschland sowie in allen Gebieten Österreichs mit Ausnahme von Westösterreich wird hierfür das Wort ‚Tischler‘ verwendet.

3.1.3 Plurizentrizität und Pluriarealität im Vergleich Wie in Kapitel 3.1.2 erwähnt wurde, bemängeln die Kritiker des Plurizentrizitätsbzw. des Plurinationalitätsmodells, „dass der Terminus plurizentrisch den arealen Mustern des deutschen Sprachgebietes nicht gerecht werden kann“ (Scheuringer 1996: 151 f.; Hervorheb. i. O.). Dabei führen sie zwei Hauptargumente ins Feld, die  

25 Bei dieser Aussage wurden Wörter, die aus der Verwaltungsterminologie stammen, vernachlässigt.

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

Rudolf Muhr als das Uneinheitlichkeitsargument und das Überschneidungsargument bezeichnet (vgl. Muhr 1997: 54). Das Uneinheitlichkeitsargument bezieht sich auf die Feststellung, dass nicht die gesamte Varietät in allen Gebieten des jeweiligen Landes benutzt wird. Dies bedeutet folglich, dass man nicht von einem homogenen nationalen deutschländischen, österreichischen oder Schweizer Standarddeutsch sprechen kann – dies würde der Begriff plurizentrisch allerdings suggerieren, so Scheuringer (vgl. Scheuringer 1996: 150). Vielmehr gibt es innerhalb der einzelnen Standardvarietäten nachweisbare Unterschiede (vgl. Elspaß 2005: 305), die auf „durch dialektale Großräume bestimmten Arealen“ (Pohl 1997: 69) basieren. Das heisst, es gibt Varianten, deren Verbreitung und Gültigkeit sich lediglich auf bestimmte Regionen eines Landes beschränken, aber auch Varianten, deren Verbreitung und Gültigkeitsbereich länderübergreifend ist. Das Überschneidungsargument betrifft die Tatsache, dass es sich bei der Mehrzahl der nationalen Varianten um unspezifische Varianten handelt, um Varianten also, die in mehr als einer Nation gelten (siehe Kap. 3.1.1). Länderübergreifende regionale Unterschiede wie beispielsweise die Nord-Süd-Unterschiede seien prägnanter als nationale Divergenzen (vgl. Wiesinger 2006: 7). Ausserdem würden die meisten spezifischen nationalen Varianten vorwiegend aus dem Bereich der Gastronomie und der Verwaltung stammen (vgl. Wiesinger 1997: 49), wobei den „tatsächlich staatsabhängigen Verwaltungsterminologien wenig alltagssprachliche Präsenz und Bedeutung beigemessen“ (Wiesinger 2006: 7) werde. Die Verfechter des Pluriarealitätsmodells beurteilen die insgesamt geringe Anzahl nationaler Varianten als weiteren Grund für die Ablehnung des Plurizentrizitäts- bzw. des Plurinationalitätsmodells. Nationale Souveränität, abweichendes Gesellschaftssystem und ähnliches reichen allein [für eine Unterteilung der deutschen Sprache in nationale Varietäten] jedenfalls nicht aus. Wenn man als Kriterium festsetzen wollte, daß von nationalen Varianten erst dann gesprochen werden kann, wenn für bestimmte Varietäten ein eigenes, in sich kohärentes Normensystem kodifiziert wird, dann gibt es innerhalb des Deutschen keine nationalen Varianten. Die je kodifizierten lexikalischen Besonderheiten sind nach meiner Meinung ein zu schmaler Ausschnitt eines Sprachsystems, um das Kriterium eines kohärenten Normensystems erfüllen zu können. (Reiffenstein 1983: 23)

Reiffenstein argumentiert von einem strukturlinguistischen Standpunkt aus. Diesem steht eine soziolinguistische Auffassung von Sprache gegenüber, wie sie beispielsweise Ammon vertritt. Dem soziolinguistischen Ansatz zufolge genügen die von Reiffenstein aufgeführten aussersprachlichen Faktoren – nationale Souveränität, abweichendes Gesellschaftssystem – für die Konstitution einer nationalen Varietät. Der Kritik, dass die Mehrheit nationaler Varianten unspezifisch sei

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

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und man entsprechend besser von Pluriarealität als von Plurinationalität sprechen sollte, entgegnet Joachim Scharloth von einem soziolinguistischen Standpunkt aus wie folgt: „Diese Kritik übersieht jedoch, dass es per definitionem nicht linguistische Qualitäten sind, die eine Varietät zur Standardsprache machen, sondern sprachsoziologische Prozesse und Sachverhalte“ (Scharloth 2005b: 22; Hervorheb. i. O.). Ammon hat das Setzen von standardsprachlichen Normen als Zusammenwirken eines Kräftefeldes beschrieben, das durch vier Instanzen beeinflusst wird (siehe Kap. 2.1.1). Nun sind zwei dieser vier Kräfte staatlich legitimiert: Die Normsetzer, die demokratisch legitimierte staatliche Institutionen sind (bspw. die Kultusministerkonferenz in Deutschland), und die Normvermittler (bspw. Lehrer), die vom Staat angestellt sind. Daraus folgert Scharloth (2005b: 22 f.), „dass die Gültigkeit und Vermittlung standardsprachlicher Norm(en) des Deutschen aus sprachsoziologischer Perspektive national geregelt sind.“ Des Weiteren sei, so Scharloth, die Kodifiziertheit einer Varietät ein wichtiges Kriterium für deren Standardsprachlichkeit und die Existenz nationaler Kodizes ein Kriterium für das Bestehen einer nationalen Varietät. Dies sei in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchaus der Fall, obwohl der Umfang der Kodizes in den verschiedenen Ländern stark divergiere (vgl. Scharloth 2005b: 23). Welche Texte Scharloth als Kodexbestandteile der einzelnen Varietäten betrachtet, legt er nicht dar. Die Auffassung dessen, was als standardsprachlich bewertet werden soll, ist aufs Engste damit verknüpft, ob man die deutsche Sprache als plurizentrisch bzw. plurinational oder als pluriareal betrachtet, weshalb die Diskussion über die Gliederung des deutschen Sprachraums für die vorliegende Arbeit von grosser Relevanz ist. Dass es bei dieser Diskussion um mehr geht als um einen Streit bezüglich der zu verwendenden Terminologie, verdeutlichen die folgenden Zitate:  

Dies sind keineswegs rein terminologische Scharmützel. Es geht im Grunde um die Weiterführung der sprachpolitischen Diskussion über den Status einer Standardsprache als homogener „Einheitssprache“ vs. eines – in gewissen Grenzen – heterogenen Standards und dem Raum, der darin der Variation gegeben wird. (Elspaß 2005: 305) Während die Kritiker des Konzeptes nationaler Varietäten die komplexe Sprachwirklichkeit im Blick haben, scheinen die Befürworter vor dem Hintergrund einer Standardsprachauffassung zu argumentieren, in der die Linguistik nicht nur Beobachterin und treue Chronistin standardsprachlicher Entwicklungen, sondern Akteurin im Prozess der Standardisierung ist und zudem an der Konstruktion des Gegenstandes mitwirkt. (Scharloth 2006: 83)

Scharloth spricht in Bezug auf die Standardisierung des Deutschen auch von einem sogenannten „Rückkopplungseffekt“ (Scharloth 2005b: 23): Da das Plurizentrizitätsmodell allgemeine Akzeptanz geniesse, würden die Kodifizierer ge-

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

drängt, Kodizes anzulegen oder bereits bestehende auszubauen. Die Kodifiziertheit einer Sprache wiederum sei eines der wichtigsten Kriterien der Standardsprachlichkeit (siehe Kap. 2.1.1), welches eine nationale Varietät konstituiere (vgl. Scharloth 2005b: 23). Die Verfechter des Plurizentrizitätsmodells führen als Argument ins Feld, dass „das nationale Moment der Sprache als Identifikationsmerkmal“ (Wiesinger 2006: 7) einen wichtigen Aspekt von Sprachen darstelle. Dieses Moment wird beim Pluriarealitätsmodell vollständig vernachlässigt. Dass aber gerade die Sprache bzw. die jeweilige Varietät das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation stark fördert und sie damit mit einer Abgrenzung zu anderen Nationen einhergeht, zeigt sich auch im Alltag immer wieder. Dies kann exemplarisch am folgenden österreichischen Zeitungsausschnitt veranschaulicht werden: „Lasst uns den sprachlichen Anschluss beenden und einen papierenen Vorhang hochziehen, wo diesseits der Grenze der ‚Fleischhauer‘ den ‚Metzger‘ absticht und ‚Paradeiser‘ die ‚Tomaten‘ pürieren! Wir Österreicher sind eine Nation, nun wollen wir auch eine eigene Sprache!“ (Greber 2004: 2; Hervorheb. i. O.). Die Anhänger des Pluriarealitätsmodells problematisieren nun aber gerade diesen Begriff der Nation und damit einhergehend den Begriff der nationalen Varietät. Der Begriff sei zu schwierig zu definieren und zu vieldeutig (Reiffenstein 2001, 82 ff.). Sprache sei zwar unbestritten identitätsstiftend, einer ideologisch aufgeladenen nationalen Varietät als nationales Symbol bedürfe es aber nicht (vgl. Reiffenstein 2001: 87). An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass es vor allem in Österreich auch unter Sprachwissenschaftlern vereinzelt sogar Stimmen gab, die sich dafür aussprachen, das österreichische Deutsch nicht als Varietät des Deutschen, sondern als eigene Sprache Österreichisch zu definieren (vgl. Steinegger 1998: 307 ff.). Dies hat wohl mit Ressentiments gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit des Deutschen Reichs zu tun (vgl. Sutter 2008: 38). Während der Begriff der nationalen Varietät in Österreich ein Politikum darstellt, findet er in der Schweiz bisweilen kaum Beachtung. Gerade in der Schweiz wäre die Anerkennung der nationalen Varietät Schweizer Standarddeutsch allerdings höchst wünschenswert. Die Förderung des Bewusstseins für die Existenz einer eigenen nationalen Varietät könnte sich durchaus positiv auf die Einstellung zur eigenen Sprache auswirken, denn dadurch könnte der wiederholt diagnostizierte Minderwertigkeitskomplex der Schweizer ihre standardsprachliche Kompetenz betreffend minimiert werden. Diese Problematik soll hier nicht weiter ausgeführt werden, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde (vgl. dazu Sutter 2008: 38 f.). Den Gegnern des Plurizentrizitätsmodells ist zwar insofern zuzustimmen, als dass es aus einer rein strukturlinguistischen Perspektive problematisch ist, von einer nationalen Varietät zu sprechen, da die Anzahl der spezifischen Varianten,  

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

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die sich über eine ganze Nation erstrecken, tatsächlich eher gering ist. Sie reicht dennoch aus, um von einer nationalen Varietät auszugehen, denn durch die rechtlichen, verwaltungstechnischen, politischen und anderen Organisationen sowie die intensiveren Kommunikationsverhältnisse innerhalb eines Staates (z. B. Radio und Fernsehen) haben sich Eigenheiten herausgebildet, die tatsächlich nur innerhalb der Staatsgrenze Gültigkeit haben. Solche Entwicklungen bzw. die Herausbildung spezifischer Varianten wird es in Nationalstaaten wohl immer geben. Ausserdem muss man zu bedenken geben, dass aussersprachliche Faktoren als Kriterien unvermeidlich einen grossen Einfluss auf eine Sprache haben und deshalb nicht ausgeblendet werden dürfen. Dies kann beispielsweise am sprachpolitischen Diskurs veranschaulicht werden, der zu einem grossen Teil länderspezifisch abgehandelt wird – viele Normen werden national geregelt. Sprache oder im vorliegenden Fall die nationale Ausprägung einer Sprache stellt ein identitätsstiftendes Moment dar und es ist entsprechend wichtig, eine standardsprachliche Varietät auch als solche zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang möchte ich eine empirische Studie von Regula Schmidlin heranziehen, in welcher sie die „strukturierende Wirkung der Landesgrenze auf die kognitive Repräsentation der Variation“ (Schmidlin 2013: 36) belegt. In einer Umfrage zum Gebrauch und zur Einschätzung standardsprachlicher Varianten unter rund 900 Gewährspersonen weist Schmidlin nach, dass areale Nähe keinen Einfluss auf die Kenntnis und den Gebrauch einer Variante hat. Beispielsweise zeigt die Untersuchung, dass Befragte aus der Schweiz oder Südostdeutschland keine höheren Kenntnis- oder Gebrauchswerte für den spezifischen Austriazismus ‚einlangen‘ aufweisen als Probanden aus Mittel- und Norddeutschland (vgl. Schmidlin 2013: 35 f.). Gleichzeitig legt Schmidlin dar, dass die Loyalität zu Eigenvarianten ebenfalls stark national bestimmt ist. „Die typologisch-dialektale Verwandtschaft führt nicht zu einem ähnlichen Normverhalten. Es ist stattdessen die Landesgrenze, die als Variantenloyalitätsgrenze sichtbar wird“ (Schmidlin 2013: 35). Weiter wird aus der Studie ersichtlich, dass die Variantenloyalität und somit die Akzeptanz der Eigenvarietät noch immer stark divergiert. Während die Probanden aus Nord- und Mitteldeutschland die höchsten Loyalitätswerte erreichen, weisen die Schweizer Probanden die niedrigsten Werte auf (vgl. Schmidlin 2013: 34 ff.). Es besteht folglich nach wie vor Aufklärungsbedarf in Bezug auf das Plurizentrizitätsbewusstsein der Sprachteilhaber. Das Bewusstsein der Vielfalt gleichberechtigter Varietäten und eine damit einhergehende erhöhte Akzeptanz der Variation der deutschen Sprache muss stärker gefördert werden – ein Schritt in diese Richtung ist die gleichberechtigte Behandlung von Varianten in Wörterbüchern. Ich schliesse mich deshalb Ingo Reiffensteins (2001) Meinung an, dass man den Begriff der nationalen Varietät  



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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

beibehalten sollte, vorausgesetzt diese konstituiert sich ausschliesslich durch spezifische Varianten. Die nationale Gliederung der deutschen Sprache sollte als eine Möglichkeit unter vielen betrachtet werden. Das Argument, dass die heutigen Staatsnationen junge Gebilde sind und die ihnen vorausgehenden historischen Strukturen Spuren hinterlassen haben, hat unbestritten seine Berechtigung. Diese Spuren relativieren die nationalen Varietäten. Ausserdem muss beachtet werden, dass die staatenübergreifende Kommunikation die nationalen Varietäten ebenfalls abschwächt. Zweifellos gibt es sowohl Varianten, die länderübergreifend sind, als auch solche, die sich nicht über das gesamte Gebiet eines nationalen Zentrums erstrecken. Aus diesem Grund sollte der deutsche Sprachraum nicht nur in nationale Zentren, sondern darüber hinaus in staatsübergreifende regionale Zentren und innerstaatliche regionale Zentren untergliedert werden. Anders formuliert kann man mit Reiffenstein (2001: 88) sagen, dass es ältere Faktoren gibt, die eine Art regionale Plurizentrizität geschaffen haben, welche die nationale Plurizentrizität über- respektive unterlagern. Allerdings erscheint es mir notwendig, den Begriff der regionalen Plurizentrizität zu überdenken. Der Zentrumsbegriff verweist auf etwas Punktuelles oder zumindest auf etwas Abgeschlossenes, dies kann aber nicht auf die sprachlichen Regionen übertragen werden, da zwischen ihnen fliessende Übergänge existieren. Ein Modell, das von verschiedenen Ebenen ausgeht – in denen sich Zentren, Regionen und Areale über- und unterlagern –, und welches fliessende Übergänge annimmt, sollte weder als plurizentrisch noch als regional plurizentrisch noch als pluriareal bezeichnet werden. Letzteres nicht, weil das Pluriarealitätskonzept schon zu stark mit der Ablehnung der nationalen Varietäten assoziiert wird. Die deutsche Sprache verfügt m.E. sowohl über areale als auch über nationale standardsprachliche Varietäten. Gewisse sprachliche Phänomene machen tatsächlich an der Grenze Halt (bspw. die Verwaltungsterminologie). Betrachtet man die verschiedenen Möglichkeiten, durch welche Varianten entstehen, kann man grob die untenstehenden Gruppen bilden. Die Aufzählung erhebt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr soll in einer Auswahl auf unterschiedliche Ursachen bei der Entstehung von Varianten hingewiesen werden. a) Verwaltungsterminologie und an das Rechtswesen sowie an andere nationenspezifische Institutionen gebundene Varianten (z. B. Ständerat), b) aus Fremdsprachen generierte Varianten (z. B. Trottoir), c) aus dem Dialekt stammende sowie aus geographischen und kulturräumlichen Gegebenheiten entstandene Varianten26 (z. B. Schlipf),  





26 Beispielsweise südliche, alpine versus nördliche, maritime Kultur.

3.1 Plurizentrizität – Pluriarealität

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d) durch nationale und regionale Medien sowie durch Grossverteiler und Konsumgüter generierte Varianten (z. B. Tesafilm). (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 102 ff.)  

Varianten der Gruppe a) sind zwangsläufig an eine Nation gebunden, entsprechend dem politischen System. Bei Varianten, die aus Fremdsprachen hervorgehen b), könnte gemutmasst werden, dass sprachpolitische Gründe ausschlaggebend für ihre Aufnahme in die Standardsprache sind. Da sich die Sprachpolitik ebenfalls meist auf nationaler Ebene abspielt, kann auch hier vermutet werden, dass ihre Anerkennung an der Grenze Halt macht. In Deutschland beispielsweise wurden im 19. Jahrhundert viele Fremdwörter eingedeutscht, während in der Schweiz weiterhin die entsprechenden Fremdwörter verwendet wurden (vgl. Bickel 2006: 17). Damit in Einklang steht auch die Vermutung, dass in der viersprachigen Schweiz noch heute Wörter aus dem Französischen und dem Italienischen mit grosser Wahrscheinlichkeit eher in die Standardvarietät aufgenommen werden als in den anderen deutschsprachigen Ländern. Hier scheint also wiederum das Plurizentrizitätsmodell adäquat. Bei c) hingegen ist dies nicht der Fall, denn weder die Dialekte noch die geographischen und kulturräumlichen Gegebenheiten enden an der Staatsgrenze. Bei den Dialekten wird dies besonders deutlich, wenn man die historisch gewachsenen Grossdialekte betrachtet. Dass geographische und kulturräumliche Gegebenheiten nicht mit den Staatsgrenzen in Verbindung gebracht werden können, ist augenscheinlich (die Alpen erstrecken sich bspw. über Gebiete Deutschlands, Österreichs und der Schweiz). Deshalb scheint für die Gruppe c) das Pluriarealitätsmodell passender zu sein als das Plurizentrizitätsmodell. Auch die Medien sowie Geschäfte und Grossverteiler haben einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Herausbildung von Varianten – tendenziell entstehen in dieser Gruppe d) eher nationale als areale Varianten. Im Vorspann zum Schweizer Wörterbuch (2006) schreibt Hans Bickel: „Staaten sind Kommunikationsgemeinschaften“ (Bickel 2006: 16). Radiosender, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften würden zwar nicht ausschliesslich in einem Land konsumiert, „[d]ennoch haben die nationalen und regionalen Medien gegenüber der ausländischen Konkurrenz eine ungleich grössere Verbreitung innerhalb der eigenen Nation und sie haben eine gewisse sprachliche Vorbildfunktion für die Sprachteilhaber des betreffenden Zentrums“ (Bickel 2006: 16). Die Geschäfte und Grossverteiler beeinflussen in manchen Fällen durch die Benenennung ihrer Produkte den Sprachgebrauch, beispielsweise kann sich ein gewählter Produktename (z. B. ‚Tempo‘ für Papiertaschentücher) in einer bestimmten Nation zum Synonym für das Produkt selbst entwickeln. Bei dieser Art der Variantenbildung ist also eher das Plurizentrizitätsmodell als das Pluriarealitätsmodell angemessen.  

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

Ob die ausgeführten Vermutungen tatsächlich zutreffen, kann nur auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen überprüft werden. Falls sie sich als richtig erweisen, kann man von einem Modell sprechen, welches das Plurizentrizitätsmodell und das Pluriarealitätsmodell je nach ‚Phänomengruppe‘ zulässt. Für die deutsche Sprache werden derzeit umfassende Korpora kompiliert (z. B. das Variantengrammatik-Korpus, siehe Kap. 11.2.1). Dank dieser Korpora rückt der Zeitpunkt näher, an dem empirisch überprüft werden kann, wieviele Isoglossen in welchem Raum zusammenfallen und entsprechend wie das deutsche Sprachgebiet gegliedert werden kann. Abschliessend bleibt noch zu erwähnen, dass die Abbildung von diatopischer Variation in Wörterbüchern meist auf dem Plurizentrizitätsmodell basiert, was im zweiten Teil dieser Arbeit noch eingehend dargelegt wird. Dies ist unter anderem auf die geringere Komplexität des Plurizentrizitätsmodells zurückzuführen. Auch wenn das Pluriarealitätsmodell der sprachlichen Realität in gewissen Fällen eher gerecht wird, so ist die Erhebung arealer Varianten methodisch problematisch: Während bei der statistischen Frequenzanalyse nationaler Varianten von einer festen aussersprachlichen Grösse (Nation) ausgegangen werden kann, ist dies bei derjenigen arealer Varianten nicht möglich. Und nicht nur für den Lexikographen, der Varianten ermittelt und überprüft, ist die plurizentrische Gliederung des deutschen Sprachraums leichter greifbar, auch für den Wörterbuchbenutzer gilt dies. Dieser kann sich anhand der Einteilung in Nationen schneller darüber orientieren, in welchem Land eine bestimmte Variante Gültigkeit hat. Obwohl die areale bzw. die regionale Gliederung der in den untersuchten Wörterbüchern verzeichneten Varianten ebenfalls analysiert wird, wähle ich als Bezugsgrösse die -ismen (Helvetismen, Teutonismen und Austriazismen). So wird eine gewisse Vergleichbarkeit der Wörterbücher untereinander sichergestellt. Es ist dennoch wichtig, zu erwähnen, dass hier keines der beiden Modelle a priori präferiert, sondern für eine Einteilung des deutschen Sprachraums aufgrund empirischer Daten plädiert wird. Diese zu erheben ist ein dringendes Forschungsdesiderat, denn die Ergebnisse haben grossen Einfluss auf die Diskussion, wie eine Standardvarietät zu definieren ist. Dies wird grosse Auswirkungen auf die lexikographische Aufnahmepraxis von Varianten haben. Was in Wörterbüchern verzeichnet ist, beeinflusst wiederum das Korrekturverhalten von Normautoritäten und auf längere Sicht wird sich bestenfalls dadurch das Sprachbewusstsein aller Sprachbenutzer entsprechend verändern.  

3.2 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache

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3.2 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache Wie im vorangehenden Kapitel erwähnt wurde, ist das nationale Moment einer Sprache im Bereich der Lexikographie u. a. deshalb relevant, weil die normsetzenden Instanzen sowie Normvermittler staatlich legitimiert sind (siehe Kapitel 2.1.1). Aus diesem Grund ist es sinnvoll, in dieser Arbeit von Deutsch als plurizentrischer Sprache – im Sinne Ammons – auszugehen. Entsprechend wird im Folgenden die nationale Gliederung der deutschen Sprache vorgestellt. Eine plurizentrische Sprache wird als solche anerkannt, wenn sie in mehr als einem Land über den Status einer nationalen oder regionalen Amtssprache verfügt. Deutsch gilt insgesamt in sieben Ländern bzw. in gewissen Regionen dieser Länder als Amtssprache, diese können in sogenannte Voll- und Halbzentren der deutschen Sprache unterteilt werden (vgl. Ammon 1995a: 391). In jüngerer Zeit werden darüber hinaus auch sogenannte Viertelzentren des Deutschen beschrieben (siehe Kap. 7.4). Ein Land erfüllt die Kriterien eines Vollzentrums, wenn die Sprache als nationale Amtssprache betrachtet wird und die standardsprachlichen Besonderheiten27 in einem Kodex Niederschlag gefunden haben (Kap. 3.2.1). Bestehen keine Kodizes, so kann die Frage nach der Standardsprachlichkeit der Besonderheiten nicht eindeutig geklärt werden. Dadurch können diese nicht zweifellos als nationale Varianten und die Sprachform nicht als nationale Varietät anerkannt werden. Nichtsdestotrotz verfügen auch die Halbzentren über nationale Besonderheiten, die in Schulaufsätzen, Zeitungstexten oder der Nationalliteratur als vollständig korrekt und gleichwertig beurteilt werden. Doch ohne Kodizes wird die exakte Trennung von dialektalen – sprich nonstandardsprachlichen – und standardsprachlichen Formen äusserst problematisch. Aus diesem Grund betrachten viele Sprachbenutzer ausschliesslich kodifizierte Sprachformen als standardsprachlich (vgl. Ammon 2000: 511). Dennoch gilt Deutsch in den Halbzentren als nationale bzw. regionale Amtssprache (Kap. 3.2.2). Anders verhält es sich in den Viertelzentren. Als solche gelten Rumänien, Namibia und das Mennoniten-Deutsch in Amerika (vgl. Kellermeier-Rehbein 2014: 29 f.). In den Viertelzentren existieren zwar auch Modelltexte, die deutsche Sprache verfügt hier allerdings nicht über einen amtlichen Status. Zwar wird dieser im Plurizentrizitätsmodell nicht explizit als Kriterium für ein Zentrum der deutschen Sprache genannt, faktisch trifft dies aber bei allen Voll- und Halbzentren zu. Aus diesem Grund bezeichnet Kellermeier-Rehbein die Viertelzentren als „einen Grenzfall des Begriffs ‚Sprachzentrum‘“ (Kellermeier-Rehbein 2014: 30). Da die Varianten aus  

27 Mit ‚Besonderheiten‘ sind Paradigmen der verschiedenen sprachlichen Ebenen gemeint (syntaktische, grammatische, phonetische etc.).

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

den Viertelzentren bis anhin noch keinen Niederschlag in der plurizentrischen Lexikographie gefunden haben, werden sie im Folgenden nicht weiter behandelt.28 Entsprechend den vorangegangenen Ausführungen kann man in Bezug auf die deutsche Sprache von drei Vollzentren (Deutschland, Österreich und Schweiz) und vier Halbzentren (Liechtenstein, Luxemburg, Italien und Belgien) sprechen.

3.2.1 Vollzentren der deutschen Sprache Deutschland, Österreich und die Schweiz verfügen über eigene Sprachkodizes, auf die sich die Sprachnormautoritäten – gemeint sind Personen, die beruflich das Sprachverhalten ihrer Mitmenschen bewerten und korrigieren wie beispielsweise Lehrer oder Lektoren – stützen können. Die drei Varietäten sind jedoch zu einem unterschiedlichen Grad kodifiziert.29 Im Falle von Deutschland und Österreich kann man von der „Solo-Offizialität des Deutschen auf der nationalen Ebene“ (Ammon 1991: 14) sprechen. Demnach fungiert Deutsch als alleinige nationale Amtssprache. Analog bezeichnet man den Status des Deutschen in der Schweiz als „Ko-Offizialität auf nationaler Ebene“ (Ammon 1991: 14), da die Schweiz neben Deutsch über zwei weitere nationale Amtssprachen (Französisch und Italienisch) sowie über eine regionale Amtssprache (Rätoromanisch) verfügt.

3.2.2 Halbzentren der deutschen Sprache Zu den Halbzentren des Deutschen gehören Liechtenstein, Luxemburg, Italien und Belgien. Dabei gilt Deutsch in Liechtenstein und Luxemburg als nationale Amtssprache, in Italien und Belgien als regionale.

Halbzentren mit Deutsch als nationaler Amtssprache In Liechtenstein ist Deutsch als nationale Amtssprache mit solo-offiziellem Status anerkannt (vgl. Kellermeier-Rehbein 2014: 24), hinzu kommt, dass Deutsch die Muttersprache der gesamten Bevölkerung ist.30 Anhand dieser Tatsachen scheint

28 In der Neuauflage des Variantenwörterbuchs werden die Viertelzentren erstmalig berücksichtigt (siehe Kap. 7.4). 29 Zu den Kodexbestandteilen der einzelnen Standardvarietäten siehe Schmidlin (2011: 107 ff.). 30 Selbsterklärend sind eingewanderte und eingebürgerte Personen von dieser Aussage ausgeschlossen.

3.2 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache

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Liechtenstein dazu prädestiniert, eine Vollvarietät des Deutschen zu sein beziehungsweise zu werden. Das Fürstentum besitzt aber keinen Sprachkodex – weder einen Binnen- noch einen Aussenkodex – und aufgrund der Grösse des Landes und der damit einhergehenden geringen Bevölkerungszahl ist ein solcher in naher Zukunft auch nicht absehbar. Ausserdem ist das Bewusstsein über das Bestehen von spezifischen Besonderheiten („Liechtensteinismen“ (Ammon 1995a: 392)) geringer als in den drei anderen Halbzentren. Einzig in der Verwaltungsterminologie und im Rechtswesen manifestieren sich solche sprachlichen Eigenheiten (vgl. Ammon 1995a: 394). In Luxemburg gilt Deutsch ebenfalls als nationale Amtssprache, allerdings in ko-offizieller Funktion neben dem Französischen und dem Letzeburgischen (vgl. Kellermeier-Rehbein 2014: 24). Obwohl die meisten Zeitungen in deutscher Sprache schreiben, ist das Deutsche dem Französischen subordiniert, da Letzteres als Gesetzessprache dient. Das Letzeburgische wird als Nationalsprache, mit welcher sich die Luxemburger identifizieren, wahrgenommen. In einer Umfrage gab die Mehrheit der Bevölkerung Letzeburgisch und nicht Deutsch als Muttersprache an (vgl. Newton 1987: 164). Dies hängt offenbar mit einer historisch bedingten Aversion gegenüber der deutschen Sprache zusammen: Seit das Großherzogtum zweimal von deutschen Heeren überrannt wurde (1914 und 1940) hat das Hochdeutsche [die deutsche Sprache in Form einer seiner Standardvarietäten! U.A.] vor allem in den mittleren und unteren Sprachschichten an Prestige verloren. So sind heute in Kreisen, wo das Hochdeutsche neben dem Letzebuergeschen ausschliessliches Sprachinstrument ist, hochdeutsche Heirats-, Geburts- und Todesanzeigen sowie Inschriften auf Kranzschleifen und Gräbern schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Zwar gewinnt das Letzebuergesche hier an Boden, aber das Französische ist trotzdem noch vorrangig. Desgleichen kann sich der Luxemburger in seinen Ortschaften und Städten keine deutschen Geschäfts- und Strassenschilder vorstellen. (Hoffmann zit. nach Ammon 1995a: 398)

Wie in Liechtenstein liegt auch in Luxemburg kein Binnenkodex vor. Allerdings sind im Rechtschreib-Duden einige sogenannte „Luciburgismen“ (Ammon 1995a: 399) verzeichnet, wenn auch deren Anzahl äusserst klein ist. Da, wie oben erwähnt, die meisten Zeitungstexte in Deutsch verfasst sind, existiert eine grosse Anzahl von Modelltexten, die als Grundlage für die Kodifizierung des luxemburgischen Deutsch dienen könnten. Auch an Sprachnormautoritäten mangelt es nicht und die Bevölkerungsgrösse überragt jene Liechtensteins immerhin um das Zehnfache (vgl. Ammon 1995a: 400). Trotz dieser Rahmenbedingungen könnten die oben erläuterten historischen Tatsachen den Wunsch nach einer Kodifizierung massgeblich eindämmen.

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3 Deutsch als Sprache mit verschiedenen Zentren

Halbzentren mit Deutsch als regionaler Amtssprache In Italien – genauer gesagt in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol – und im Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien hat Deutsch den Status einer regionalen Amtssprache inne. Beide Regionen wurden nach dem ersten Weltkrieg an den jeweiligen Staat angegliedert, allerdings erlangte Deutsch erst nach dem zweiten Weltkrieg die Funktion einer regionalen Amtssprache. Deutsch stellt in beiden Ländern eine ko-offizielle Amtssprache dar, in Bozen-Südtirol neben dem Italienischen sowie in den ladinischen Tälern neben dem Ladinischen, in Belgien neben dem Französischen und Flämischen (vgl. Ammon 1991: 15 f.). Bozen-Südtirol kann zwar keinen Binnenkodex vorweisen, im Österreichischen Wörterbuch sind jedoch einige wenige „Südtirolismen“ (Ammon 1995a: 406) aufgeführt. Ausserdem erschien im Duden-Verlag der Band Besonderheiten der deutschen Sprache in Südtirol (Riedmann 1972). Dieser ist allerdings nicht als Nachschlagewerk konzipiert, sondern dient hauptsächlich wissenschaftlichen Betrachtungen. Die Deutschsprachigen Gemeinschaften in Belgien werden seit der Verfassungsreform 1978 offiziell als solche bezeichnet (vgl. Ammon 1995a: 412). Sie gehören zur Region Wallonien und bestehen aus neun Gemeinden (vgl. Ammon 1995a: 412). Der Verfassung zufolge gilt Deutsch in diesen Gemeinden als solooffizielle regionale Amtssprache, da aber sowohl im Schul- als auch im Gerichtswesen ebenfalls Französisch verwendet wird, spricht man dennoch gemeinhin von einer ko-offiziellen Amtssprache. Die deutschsprachigen Gemeinschaften verfügen über keinerlei Kodizes, weder über einen Binnen- noch über einen Aussenkodex. Den einzigen Ansatz einer Kodifizierung bildet eine Liste der regionalen und umgangssprachlichen Abweichungen im deutschsprachigen Gebiet Belgiens (Heinen/Kremer 1986). Da hier, wie der Titel bereits besagt, nonstandardsprachliche Abweichungen verzeichnet sind, vermag die Liste nicht zu einer Standardisierung einer belgischen Varietät des Deutschen beizutragen. Die Liste soll – wie in ihrem Vorwort geschrieben steht – den Lehrern helfen, Abweichungen zu erkennen und auf diese Weise korrigieren zu können (vgl. Heinen/Kremer 1986). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Bezug auf die deutsche Sprache heute meist von drei Vollzentren (Deutschland, Österreich und der Schweiz) und vier Halbzentren (Luxemburg, Liechtenstein, Südtirol und den deutschsprachigen Gemeinschaften in Belgien) ausgegangen wird. In jüngster Zeit rücken ausserdem sogenannte Viertelzentren in den Fokus linguistischer Betrachtungen. Als solche werden Rumänien, Namibia und das Mennoniten-Deutsch in Amerika bezeichnet, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich in Zukunft weitere Viertelzentren herausbilden werden (siehe Kap. 7.4). Diese Gliederung geht von nationalen Zentren aus und entspricht somit dem Plurizentrizitätsmodell. Es ist mir aber ein Anliegen, zu betonen, dass sowohl das  

3.2 Die nationale Gliederung der deutschen Sprache

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Plurizentrizitäts- als auch das Pluriarealitätsmodell ihre Berechtigung haben. Ich betrachte die beiden Modelle nicht als konkurrierend, vielmehr ist für die Gliederung der deutschen Sprache eine Darstellung adäquat, in welcher sich nationale, regionale und areale Varianten über- und unterlagern. Diese Über- und Unterlagerungen können möglicherweise auf die unterschiedlichen Ursachen, die für die Entstehung von Varianten verantwortlich sind, zurückgeführt werden. Bei einer Gruppe von Varianten könnte das Plurizentrizitätsmodell passend sein (z. B. bei aus der Verwaltungsterminologie stammenden Varianten), während bei einer anderen Phänomengruppe das Pluriarealitätsmodell eher zutrifft (z. B. bei aus dem Dialekt stammenden Varianten). Ob dies tatsächlich der Fall ist, müsste allerdings erst aufgrund empirischer Forschungen ermittelt werden.  



4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung Im folgenden Kapitel sollen das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Lexikographie, Metalexikographie und Wörterbuchforschung verdeutlicht sowie wichtige lexikographische und metalexikographische Begriffe erläutert werden. Dies ist umso wichtiger, als sowohl in der lexikographischen als auch in der metalexikographischen Literatur zentrale Begriffe oft nicht konsequent, geschweige denn einheitlich verwendet werden, so auch Lexikographie, Metalexikographie und Wörterbuchforschung. Sie werden oft nicht klar voneinander unterschieden oder gar synonym verwendet. Es scheint deshalb für eine sich an der Schnittstelle von Variationslinguistik und Metalexikographie befindende Arbeit wichtig, diese Begriffe zu klären und mein Verständnis derselben darzulegen. Kapitel 4.1 geht der Frage nach, in welchem wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Bereich die Lexikographie anzusiedeln ist und welche lexikographischen Ausprägungsformen es gibt. Die Definition des Gegenstandsbereichs der Metalexikographie und die Darlegung ihres Verhältnisses zur Wörterbuchforschung inklusive aller dazugehörigen Forschungszweige stehen im Fokus von Kapitel 4.2. All diese Teilbereiche beschäftigen sich mit Wörterbüchern. Dies führt zu der Frage, was ein Wörterbuch überhaupt ist und welche Informationen der Benutzer darin erwarten darf. Auskunft darüber soll Kapitel 4.3 geben, in dem auch ausgeführt wird, inwiefern sich ein Wörterbuch von einem Lexikon und einer Enzyklopädie unterscheidet und in welchem Zusammenhang die drei Typen von Nachschlagewerken zueinander stehen. Da aber auch der Aufbau von Wörterbüchern bei der Beschäftigung mit diesen einen zentralen Stellenwert einnimmt, werden die Makro-, die Zugriffs-, die Mikro- und die Verweisstrukturen in Kapitel 4.4 eingehend beleuchtet – denn schliesslich sind es die Strukturen des Wörterbuchs, die für den Erfolg oder Misserfolg einer Wörterbuchbenutzungshandlung und somit gleichzeitig für die Brauchbarkeit eines Wörterbuchs ausschlaggebend sind. Die Erläuterung schliesst alle Strukturen, die ein Wörterbuch konstituieren, sowie die dazugehörigen, für eine Wörterbuchanalyse unabdingbaren lexikographischen Begriffe mit ein. Auf diese Weise wird das Instrumentarium für die Wörterbuchanalysen in Teil II dieser Arbeit bereitgestellt.

4.1 Lexikographie: Begriffsbestimmung Die Frage nach dem Status der Lexikographie wird inner- und ausserhalb der Sprachwissenschaft kontrovers diskutiert. Bis in die 1980er-Jahre wurde die

DOI 10.1515/9783110482263-005

4.1 Lexikographie: Begriffsbestimmung

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Lexikographie üblicherweise in der Linguistik verortet als Teildisziplin der angewandten Linguistik. In Anbetracht der Tatsache, dass es aber nicht möglich ist, die Lexikographie einer spezifischen Theorie zuzuordnen, erweist sich diese Verortung als problematisch. So schreibt Geeraerts (1987: 1): „As a linguistic discipline, lexicography has a rather paradoxical nature. On the one hand, almost everybody will agree to classify lexicography as a form of applied linguistics, but on the other hand, it is virtually impossible to give an adequate reply to the question what linguistic theory lexicography might be the application of.“ Obwohl es folglich problematisch ist, die Lexikographie als Teildisziplin der angewandten Linguistik zu betrachten, ist sie doch unbestritten eng mit der Linguistik verbunden. Bei verschiedenen Fragestellungen wird in der Lexikographie auf sprachwissenschaftliche Ergebnisse zurückgegriffen, beispielsweise auf Erkenntnisse aus dem Bereich der lexikalischen Semantik, der Valenztheorie, der Flexionsmorphologie oder auch der Soziolinguistik (vgl. Wiegand 2013: 29). Die Lexikographie ist auch eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen verknüpft, beispielsweise mit der Lexikologie. So gab es immer Stimmen, welche die Lexikographie als angewandte Lexikologie betrachteten: „Das Verhältnis zwischen Lexikologie und Lexikographie ist allgemein das zwischen einer theoretischen und einer Anwendungsdiziplin“ (Schwarze/Wunderlich 1985: 9). Hier können dieselben Einwände geltend gemacht werden wie bei der Annahme, die Lexikographie gehöre zur angewandten Linguistik; es lässt sich auch in der Lexikologie keine spezifische Theorie finden, deren Anwendung die Lexikographie darstellen würde. Vielmehr steht die Lexikographie in einem reziproken Verhältnis zur Lexikologie, denn sie bedient sich verschiedener Erkenntnisse aus der Lexikologie und wendet bestimmte Methoden aus dieser Disziplin an (vgl. Wiegand 1998: 62). Umgekehrt profitiert die Lexikologie von den Datensammlungen, welche die Lexikographie bereitstellt. Auch zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen steht die Lexikographie in einem engen Verhältnis, beispielsweise zur Semasiologie, Pädagogik oder Informatik. Sie ist ausserdem eng verknüpft mit der Typographie. Entsprechend sollte die Lexikographie nicht als angewandte Wissenschaft betrachtet werden, sondern „als eigenständige kulturelle Praxis, die darauf ausgerichtet ist, dass Wörterbücher als Gebrauchsgegenstände entstehen“ (Wiegand et al. 2010b: 3). Diese Praxis umfasst alle abgeschlossenen oder sich noch im Gange befindlichen lexikographischen Prozesse, die für den gesamten Herstellungsprozess eines Nachschlagewerks notwendig sind (vgl. Wiegand 2013: 17). Versucht man nun, die Lexikographie in verschiedene Teilbereiche aufzufächern, so bietet sich in einem ersten Schritt die Gliederung nach dem Gegenstandsbereich der unterschiedlichen Nachschlagewerke an. Daraus ergibt sich die

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

Unterteilung in Sprach-, Sach- und Allbuchlexikographie (vgl. Wiegand et al. 2010b: 3). Bei dieser Segmentierung ist der sogenannte „genuine Zweck“ (Wiegand et al. 2010b: 23) des Nachschlagewerks das ausschlaggebende Abgrenzungskriterium. Unter dem genuinen Zweck ist Folgendes zu verstehen: Ein bestimmtes Nachschlagewerk kann aufgrund bestimmter Eigenschaften benutzt werden, um Fragen zu klären, zu deren Beantwortung das Nachschlagewerk erstellt worden ist oder anders gesagt: ein bestimmtes lexikographisches Nachschlagewerk wird mit dem Ziel benutzt, eine Information zu erhalten, die zum Gegenstandsbereich des Nachschlagewerks gehört (vgl. Wiegand et al. 2010b: 23). Folglich liegt dann ein sprachlexikographisches Nachschlagewerk vor, wenn dieses als zentralen Aspekt Informationen zu Eigenschaften von sprachlichen Ausdrücken liefert. Sachlexikographische Zwecke sind dann gegeben, wenn die Kommentierung im Nachschlagewerk Informationen zu Gegenständen respektive Sachen liefert. Ist das Nachschlagewerk dergestalt aufgebaut, dass es in seiner Kommentierung zentral sowohl Informationen zu sprachlichen Eigenschaften von Ausdrücken als auch solche zu nichtsprachlichen Gegenständen bereitstellt, so spricht man von der Allbuchlexikographie. Da sich die vorliegende Arbeit ausschliesslich mit der Sprachlexikographie beschäftigt, wird im Folgenden unter Lexikographie stets Sprachlexikographie verstanden, wie dies in der wissenschaftlichen Literatur zur Sprachlexikographie verbreitet ist. Die Einteilung lexikographischer Werke nach Gegenstandsbereichen ist auf der obersten Ebene einer phänomenologischen Nachschlagewerktypologie anzusiedeln. Eine spezifizierte Typologie der Sprachlexikographie folgt in Kapitel 5.

4.2 Metalexikographie und Wörterbuchforschung: Begriffsbestimmung Die theoretische Disziplin, die sich mit Nachschlagewerken beschäftigt, sollte von der praxisbezogenen Lexikographie getrennt betrachtet werden. Sie stellt ein vergleichsweise junges Phänomen dar. Obwohl erste Vorboten einer systematischen, wissenschaftlichen Beschäftigung mit Nachschlagewerken bereits im 17. Jahrhundert zu erkennen sind, kann man erst seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einer breiter entwickelten und abgestützten wissenschaftlichen Disziplin sprechen (vgl. Schläfer 2009: 77). Der Metabereich, der die wissenschaftlichen prozessexternen Gegebenheiten der Lexikographie behandelt, wird als Metalexikographie bezeichnet: „Si on appelle lexicographie la pratique scientifique qui a pour but de confectionner un dictionnaire […], on pourra appeler métalexicographie toute activité qui fait du dictionnaire un objet de réflexion et de recherche mais qui, elle-même, ne vise pas à la production du

4.2 Metalexikographie und Wörterbuchforschung: Begriffsbestimmung

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dictionnaire“ (Hausmann 1989a: 216; Hervorheb. i. O.).31 Analog zur Untergliederung der Lexikographie kann auch die Metalexikographie in die Wörterbuch-, die Lexikon- und die Allbuchforschung segmentiert werden. Auf die Lexikon- und die Allbuchforschung wird im Folgenden nicht näher eingegangen, da sich die vorliegende Arbeit – wie bereits erwähnt – ausschliesslich mit der Sprachlexikographie beschäftigt, deren Metabereich die Wörterbuchforschung darstellt. Üblicherweise wird der Begriff Wörterbuchforschung mit dem Begriff Metalexikographie gleichgesetzt, wenn es sich nicht explizit um Unterschiede zwischen der Sprach-, der Sach- und der Allbuchforschung handelt (vgl. Wiegand 1998: 73). Dies wird auch in der vorliegenden Arbeit so gehandhabt. Die Wörterbuchforschung kann in vier zentrale Forschungsgebiete unterteilt werden: die Wörterbuchbenutzungsforschung, die kritische Wörterbuchforschung, die historische Wörterbuchforschung und die systematische Wörterbuchforschung (vgl. Wiegand et al. 2010b: 7). Die Wörterbuchbenutzungsforschung hat den Wörterbuchbenutzer im Fokus, auf den der gesamte lexikographische Prozess ausgerichtet ist. Dieses Forschungsfeld der Wörterbuchforschung hat zum Ziel, den Nutzungswert künftiger Nachschlagewerke zu optimieren. Die kritische Wörterbuchforschung entwickelt Grundlagen für eine theoretische Kritik der Lexikographie; sie arbeitet Kriterien und Standards aus, mit deren Hilfe Tests zur kritischen Analyse von Wörterbüchern gemacht werden können (vgl. Wiegand et al. 2010b: 8). Die historische Wörterbuchforschung befasst sich einerseits mit lexikographischen Prozessen in ihrer „historischen Individualität“ (Wiegand et al. 2010b: 8), andererseits damit, wie jeder einzelne lexikographische Prozess mit anderen lexikographischen Prozessen im Zusammenhang steht und wie er in andere historische und kulturelle Prozesse eingebettet ist. In diesem Forschungszweig wird aber nicht nur die Beschreibung der Geschichte der Lexikographie und metalexikographischer Theorien und Methoden angestrebt, darüber hinaus sollen auch Theorieentwürfe und Perspektiven für die zukünftige lexikographische Praxis erarbeitet werden (vgl. Wiegand 1990: 2101 ff.). Die systematische Wörterbuchforschung schliesslich hat die Analyse invarianter Eigenschaften lexikographischer Prozesse zum Gegenstand. Zu ihr gehört die Theorie der Datenbearbeitung, die Theorie der lexikographischen Textträger sowie die Theorie der Wörterbucheinteilung (vgl. Wiegand et al. 2010b: 7).

31 Der Begriff Lexikographie wird in der Praxis oft auch polysem verwendet und subsumiert dann die Lexikographie sowie die Metalexikographie (vgl. Herbst/Klotz 2003: 14).

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

4.3 Nachschlagewerk: Wörterbuch – Lexikon – Enzyklopädie Da in der vorliegenden Arbeit gegenwartssprachliche Wörterbücher untersucht werden, soll hier die Frage gestellt werden, was ein Wörterbuch überhaupt ist. Diese Frage mag trivial anmuten, eine erste spontane Antwort könnte lauten: Ein Wörterbuch ist ein Buch, in welchem Wörter verzeichnet sind, die einer bestimmten Ordnung entsprechend gelistet sind, sodass ein Wörterbuchbenutzer, der diese Ordnung (beispielsweise die alphabetische Ordnung) kennt, durch Nachschlagen schnell Informationen zu einem gesuchten Wort findet. Diese Aussage ist zwar korrekt, allerdings so allgemein, dass sie etliche Fragen offen lässt: Ist folglich ein Telefonbuch als Wörterbuch zu bezeichnen? Was unterscheidet ein Wörterbuch von einem Lexikon oder einer Enzyklopädie? Welche Art von Informationen dürfen in einem Wörterbuch erwartet werden und damit einhergehend: Kann eine Grammatik, beispielsweise die Duden-Grammatik (2016), als Wörterbuch bezeichnet werden? Falls ja, weshalb lautet ihr vollständiger Titel Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch ohne einen Hinweis darauf, dass es sich um ein Wörterbuch handelt? Und wieso wird im Gegensatz dazu der Duden. Richtiges und gutes Deutsch (2011) im Untertitel als Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle benannt, obwohl er zu einem sehr grossen Teil grammatische Phänomene behandelt und nicht lexikalische – wie man es von einem Wörterbuch vielleicht erwarten würde? In Bezug auf die vorliegende Arbeit ist die Frage danach, welche Informationen sich in einem Wörterbuch finden, von grosser Bedeutung, da sowohl lexikalische als auch grammatische Varianten in den Wörterbüchern untersucht werden. Entsprechend ist es wichtig, zu wissen, inwiefern grammatische Informationen überhaupt in einem Wörterbuch erwartet werden dürfen. Im Folgenden wird versucht, in Bezug auf diese Fragen systematisch Klärung zu schaffen, beginnend mit dem Hyperonym Nachschlagewerk: Ein Nachschlagewerk ist ein Produkt, welches den punktuellen Zugriff auf einzelne Informationen ermöglicht. Eine äussere Zugriffsstruktur (siehe Kap. 4.4.4), also eine Ordnung (z. B. alphabetisch), erlaubt es, auf einzelne Zugriffseinheiten, sprich Stichwörter bzw. Lemmata (siehe Kap. 4.4.2), zuzugreifen. Unter dem Begriff Nachschlagewerk können die unterschiedlichsten Produkte subsumiert werden: von der Enzyklopädie über das Dialekt-Wörterbuch, das Telefonbuch bis hin zum Fahrplan der Schweizerischen Bundesbahnen (kurz: SBB) (vgl. Schierholz 2013: 6). Nachschlagewerke können aber weiter unterteilt werden in lexikographische und nicht-lexikographische Nachschlagewerke (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 6). Um als lexikographisches Nachschlagewerk zu gelten, muss das Nachschlagewerk nicht nur über eine äussere Zugriffsstruktur verfügen, diese Zugriffsstruktur muss ausserdem entweder: „i) über lexikalische Einheiten wie Wörter, Morpheme und Idiome gelegt [sein], zu denen sprachliche oder sachliche Informationen  

4.3 Nachschlagewerk: Wörterbuch – Lexikon – Enzyklopädie

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gegeben werden, oder ii) über visuell oder sprachlich repräsentierte begriffliche Einheiten, denen sprachliche Ausdrücke zugeordnet werden, wie z. B. in Bildwörterbüchern und anderen onomasiologischen Wörterbüchern“ (Engelberg/ Lemnitzer 2009: 6). Zu den nicht-lexikographischen Nachschlagewerken können solche gezählt werden, deren Ordnung nicht sprachlichen Einheiten folgt und die keine sprachlichen Informationen zum Gegenstand liefern. Der Fahrplan der SBB sowie Farbtafeln würden dementsprechend in die Kategorie der nicht-lexikographischen Nachschlagewerke fallen. Allerdings müsste nach dieser Definition das Telefonbuch zu den lexikographischen Nachschlagewerken gezählt werden; es verfügt über eine äussere Zugriffsstruktur, die einer alphabetischen Ordnung folgt und über die sprachliche Einheiten (Eigennamen) abgerufen werden können. Dies zeigt, dass die Unterteilung nach lexikographischem und nicht-lexikographischem Nachschlagewerk systematisch schwierig ist (vgl. Wiegand 1998: 74). Die lexikographischen Nachschlagewerke können weiter in Wörterbücher und Lexika bzw. Enzyklopädien unterteilt werden. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Nachschlagebedürfnis des Benutzers, das an das jeweilige Werk herangetragen wird: Im Wörterbuch sucht der Benutzer nach Sprachwissen, im Lexikon oder in der Enzyklopädie aber nach Sachwissen. Das Lexikon und die Enzyklopädie unterscheiden sich ihrerseits hauptsächlich im Umfang (vgl. Herbst/Klotz 2003: 21), wobei die Enzyklopädie meist umfangreicher als das Lexikon ist. Das Wörterbuch ist also Produkt der Sprachlexikographie, die Enzyklopädie und das Lexikon sind hingegen Produkte der Sachlexikographie, während das Allbuch aus der Allbuchlexikographie resultiert (siehe Kap. 4.1; vgl. auch Schläfer 2009: 74). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass weder in der wissenschaftlichen noch in der nicht-wissenschaftlichen Lexikographie die Begriffe Wörterbuch, Lexikon und Enzyklopädie strikt voneinander getrennt verwendet werden. Dies zeigt sich bereits in einer Untersuchung von Kirsten Hjort aus dem Jahr 1967, in der die Autorin die Titelgebung von Nachschlagewerken untersuchte: „Es wurde gezeigt, daß die Begriffe Wörterbuch und Lexikon ohne nähere Spezifizierung viel zu ungenau sind. Es ist nicht gelungen, einen faktischen Unterschied zwischen beiden aufzuzeigen, da die Anwendung beider Termini sich weitgehend überschneidet“ (Hjort 1967: 564; Hervorheb. i. O.). Diese Feststellung hat bis heute Gültigkeit und steht mit der Tatsache in Verbindung, dass zwischen den beiden Typen von Nachschlagewerken so manche Überlappungen bestehen: Einerseits enthalten Wörterbücher teilweise Informationen, die man eher in einem Lexikon erwarten würde und andererseits ist es je nachdem, welche Semantiktheorie ein Lexikograph vertritt, schwierig, sprachliches von aussersprachlichem Wissen abzugrenzen. Dass phonologische, morphologische oder auch syntaktische Informationen dem Sprachwissen zuzuordnen sind, ist durchwegs einleuchtend und unproblematisch. Schwieriger ist es, eine klare Trennung zwischen semantischem und enzyklo 

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

pädischem Wissen zu machen, denn insbesondere Ansätze wie die Prototypensemantik oder die kognitive Linguistik erschweren eine einheitliche Trennung (vgl. Herbst/Klotz 2003: 21 und Engelberg/Lemnitzer 2009: 8 ff.). Diesen Ausführungen entsprechend kann die Frage, weshalb der Zweifelsfälle-Duden als Wörterbuch bezeichnet wird, nicht aber die Duden-Grammatik, wie folgt beantwortet werden: Beim Zweifelsfälle-Duden handelt es sich um ein Nachschlagewerk mit einer äusseren Zugriffsstruktur. Initialalphabetisch gelistet werden hier lexikalische Einheiten, zu denen grammatische, stilistische oder orthographische, also sprachliche Informationen gegeben werden. Die Duden-Grammatik verfügt zwar auch über eine äussere Zugriffsstruktur (numerisch), diese ist aber nicht über lexikalische Einheiten gelegt, sondern folgt thematischen Aspekten. Das heisst: Ausschlaggebend dafür, ob ein Wörterbuch als solches bezeichnet wird, ist nicht primär die Art der sprachlichen Informationen, sondern die Art, wie auf diese zugegriffen werden kann. Oder mit anderen Worten: Ein Wörterbuch kann ebenso lexikalische wie auch grammatische Informationen beinhalten. Dies steht im Einklang mit der Annahme, dass die beiden Bereiche ohnehin nicht klar voneinander abgrenzbar sind, dass es also einen Raum dazwischen gibt (vgl. Eichinger 2011: VIIff.).32 In den 1990er-Jahren hat in der Lexikographie ein Umdenken eingesetzt. Die Grundidee enzyklopädischer Wörterbücher wurde wieder aktuell, da sich die Lexikographie vermehrt Fachwörterbüchern zuwandte. Hierdurch wurde die Frage, wie Sach- und Sprachinformationen verknüpft werden können, neu aufgeworfen. Denn gerade bei fachsprachlichen Wörterbüchern ist gut ersichtlich, dass eine strikte Differenzierung von Wörterbüchern und Lexika schwierig ist; in Fachwörterbüchern werden die enzyklopädischen Informationen häufig gleich stark, wenn nicht sogar stärker gewichtet als die sprachlichen Informationen (vgl. Schläfer 2009: 74). Ausserdem sind in dieser Periode verschiedene multimediale Sammlungen von Nachschlagewerken auf CD-ROM erschienen, in welchen gleichzeitig auf sprach- und sachlexikographische Werke zugegriffen werden konnte. Des Weiteren sind im Internet neben Wörterbuchportalen (siehe Kap. 5.2.2) andere Plattformen entstanden, die über gemeinsame Zugriffsstrukturen das Abrufen von Informationen aus Werken der Sprach- und der Sachlexikographie erlauben (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 15). Dank der neuen Möglichkeiten der elektronischen Medien scheint der Weg für neue hybride Formen geebnet zu sein. So beschreibt Nesi eine mögliche zukünftige Entwicklung in der Lexikographie wie folgt: As lexicographers and language educators explore new ways to present information about word meaning and use, the traditional distinctions between different categories of reference

32 Auch das Tagungsthema der IDS-Tagung 2010 „Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik“ veranschaulicht die Relevanz dieser Diskussion.

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

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work are becoming increasingly blurred. Many recently published dictionaries are hybrids, merging features associated with more than one kind of wordbook, and taking some of the duties of encyclopedias, pedagogic grammars and teaching materials, and this is particularly true of electronic dictionaries which do not have the organizational and spatial constraints of hardcopy dictionaries, and can retrieve and combine information according to the specifications of the user. (Nesi 2000: 839)

Folgt man Nesi, so entstehen nicht nur Hybridformen zwischen Wörterbüchern und Lexika, sondern auch zwischen klassischen, pädagogischen Grammatiken und Wörterbüchern. Grund dafür ist die mit dem elektronischen Speichermedium einhergehende Befreiung von organisatorischen und platztechnischen Beschränkungen, dank derer die Abbildung von syntagmatischen Beziehungen in grossem Umfang überhaupt erst möglich wird. Eine weitere Ursache dafür, dass vermehrt grammatische Aspekte Eingang in Wörterbücher finden, hängt aber auch damit zusammen, dass es durch den Einsatz immer grösserer elektronischer Textkorpora und die Entwicklung neuer Werkzeuge in der Korpuslinguistik neue Möglichkeiten der Datenauswertung gibt (siehe Kap. 5.2). Die von Nesi skizzierte Richtung hin zu Hybridformen von Nachschlagewerken kann als wünschenswerte Entwicklung betrachtet werden, da der Benutzer auf diese Weise verschiedene Arten von Informationen in nur einem Nachschlagewerk finden kann.

4.4 Aufbau von Wörterbüchern Wörterbücher bestehen aus einem Beziehungsgefüge von mehreren Informationskomplexen, die sich gegenseitig ergänzen. Die einzelnen Informationskomplexe können als Wörterbuchteile beschrieben werden. Der sogenannte Artikelteil bildet dabei den Informationsschwerpunkt eines Wörterbuchs. Neben dem Artikelteil bestehen weitere Wörterbuchteile, sogenannte komplementäre Wörterbuchteile, die auch Umtexte oder Wörterbuchaussentexte genannt werden. Als solche fungieren beispielsweise Einleitungen, Benutzungshinweise, Quellenverzeichnisse oder auch Wörterbuchgrammatiken (Kap. 4.4.1). Der Artikelteil bietet Wissen über Einzelwörter oder Wortgruppen an, wobei die einzelnen Stichworte Lemmata genannt werden (Kap. 4.4.2). Die inhaltliche Gliederung des Artikelteils entsteht ihrerseits aus dem Setzen einer übergeordneten alphabetischen oder systematischen Gesamtordnung, die den einzelnen Artikeln respektive den Lemmata mit den jeweils dazugehörigen Artikeln ihre Position im Wörterbuch zuweist (vgl. Schläfer 2009: 80) – die sogenannte Makrostruktur (Kap. 4.4.3). Die Struktur, die es ermöglicht, auf die einzelnen Lemmata zuzugreifen, wird als Zugriffsstruktur bezeichnet, sie wird in Kapitel 4.4.4 erörtert. Das Lemma ist allerdings nicht nur der Makrostruktur zugehörig, es ist ebenfalls Teil der Mikrostruktur (Kap. 4.4.5), welche die Struktur

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

der jedem Lemma zugeordneten Angaben bestimmt. Eine weitere wichtige Struktur in Wörterbüchern, die zusammen mit den anderen die Ordnungsstruktur von Wörterbüchern bestimmt, wird durch sogenannte Verweise konstituiert. Man nennt sie aus diesem Grund Verweisstruktur oder auch Meso- bzw. Mediostruktur (Kap. 4.4.6). Hierbei handelt es sich um ein wörterbuchspezifisches Verweissystem, das von einer Stelle im Wörterbuch auf Angaben an einer anderen Stelle im Wörterbuch verweist (oder auch auf wörterbuchexterne Informationen). Diese grob skizzierte Gesamtstruktur eines typischen Printwörterbuchs wird anhand der folgenden Graphik von Engelberg/Lemnitzer (2009) anschaulich illustriert (vgl. Abb. 5):

Abb. 5: Struktur eines typischen Printwörterbuchs (Engelberg/Lemnitzer 2009: 135)

4.4.1 Wörterbuchaussentexte Wörterbuchaussentexte oder auch Umtexte werden jene Teiltexte eines Wörterbuchs genannt, die nicht dem zentralen Wörterverzeichnis angehören, sondern diesem vor- oder nachgestellt sind, weshalb sie in Printwörterbüchern auch als Vor- bzw. Nachspann bezeichnet werden. Ausserdem existieren auch Wörterbücher, bei welchen das Wörterverzeichnis selbst durch Einschübe eben solcher Teiltexte weiter untergliedert ist. Die Menge der Wörterbuchaussentexte konstituiert

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

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die textuelle Rahmenstruktur des Wörterbuchs (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 135 f.). Als Beispiele für häufig auftretende Wörterbuchaussentexte können Titel, Klappentext, Impressum, Vorwort, Einleitung, Benutzungshinweise oder auch Wörterbuchgrammatiken genannt werden.33 Von diesen sind Titel, Impressum und ein einleitender Text (in welcher Form auch immer) in fast jedem Wörterbuch vorhanden. Die zentralen Texte des Wörterbuchvorspanns sollen den Leser über die Entstehung, die Struktur und den Zweck des Wörterbuchs unterrichten, es werden also Einsichten in die lexikographischen Grundlagen und die zugrundeliegenden metalexikographischen Vorstellungen der jeweiligen Wörterbuchmacher gegeben. Dies geschieht meist in der Form von Vorwort, Einleitung und Benutzungshinweisen (vgl. Schläfer 2009: 81). Hierbei bietet das Vorwort häufig eine kurze, prägnante Orientierung darüber, was von dem entsprechenden Wörterbuch zu erwarten ist; es informiert über den Wörterbuchgegenstand und darüber, welche Benutzungsfunktionen von dem jeweiligen Lexikographen intendiert sind (z. B. Textrezeption vs. Textproduktion). Auch sollte hier dargelegt werden, welche Art von Informationen wie differenziert aufgenommen und wiedergegeben werden. An dieser Stelle ist ausserdem eine Einordnung des Werks in die Wörterbuchlandschaft wünschenswert (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 137). In der Wörterbucheinleitung werden bestenfalls Einblicke in die metalexikographischen Überlegungen der jeweiligen Wörterbuchautoren gegeben, beispielsweise werden dem Wörterbuch zugrundeliegende Überlegungen zur Konzeption des Wörterbuchs oder zur Wörterbuchbasis dargelegt. Des Weiteren sollten die Kriterien, die bei der Lemmaselektion eine tragende Rolle spielen, offengelegt werden. Gerade in Bezug auf die plurizentrische Lexikographie wäre dies durchaus begrüssenswert. So könnten Unklarheiten bezüglich der Aufnahme einer bestimmten Variante und der Weglassung einer anderen erläutert werden. Auch eine Positionierung hinsichtlich der zugrundeliegenden linguistischen Annahmen sowie eine kurze Erläuterung der Organisation des lexikographischen Arbeitsprozesses sind hier am Platz (vgl. Herberg 1989: 752). Die Wörterbuchbenutzungshinweise sollen den Benutzer in komprimierter Form über die Makro- und Mikrostruktur des vorliegenden Wörterbuchs informieren, sodass er nach der Lektüre der Benutzungshinweise möglichst problemlos und schnell auf alle im Wörterbuch vorhandenen Informationen zugreifen kann (vgl. Herberg 1989: 752). Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in der Linguistik die Verwobenheit der Grammatik und des Lexikons (hier im Sinne des mentalen Lexi 



33 Eine Auflistung von weiteren häufigen Wörterbuchaussentexten findet sich in Engelberg/ Lemnitzer (2009: 136).

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

kons) immer stärker wahrgenommen und betont. Dies hat sich auch in der Lexikographie niedergeschlagen und zwar in der Forderung nach Implementierung von Wörterbuchgrammatiken in die Wörterbuchaussentexte. Es wurde betont, dass phonetische, morphologische, semantische und syntaktische Beschreibungen von Lexemen in Wörterbüchern eines grammatischen Regelapparates bedürfen, an welchen sie angebunden sind. Diese Wörterbuchgrammatiken sollen dabei die folgenden Funktionen übernehmen (vgl. Mugdan 1989: 732): – Erläuterung der in den Wörterbuchartikeln erwähnten grammatischen und semantischen Termini. – Darstellung der Grammatikkonzeption, an welcher sich die Lexembeschreibungen orientieren. – Beschreibung der Regularitäten, die bei komplexen Wörtern – welche im Wörterverzeichnis oft nicht aufgenommen sind – angewandt werden. – Darstellung der orthographischen, phonologischen und morphologischen Regeln, die bei der Bildung von Wortformen zu beachten sind. – Überwindung der Makrostruktur durch überblicksartige Darstellungen grammatisch zusammengehöriger Gruppen von Lexemen (z. B. Pronomen, Wortbildungsaffixe etc.). – Entschlüsselung von Angaben, die im Artikel in kodierter Form gegeben werden (z. B. Flexionsklassen).  



Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Grammatiken in ein Wörterbuch zu integrieren: Sie können entweder als kohärenter, geschlossener Text in der textuellen Rahmenstruktur des Wörterbuchs, also thematisch geordnet vor oder nach dem Wörterverzeichnis auftreten, oder die grammatischen Informationen sind alphabetisch geordnet, sozusagen als alphabetisches grammatisches Wörterbuch, in die textuelle Rahmenstruktur integriert. Die grammatischen Termini können aber auch Teil des alphabetischen Hauptwörterverzeichnisses sein, das heisst, sie teilen sich mit den übrigen Lemmata eine gemeinsame Zugriffsstruktur (vgl. Mugdan 1989: 743), wie dies beispielsweise beim Duden. Richtiges und gutes Deutsch (2011) der Fall ist (siehe Kap. 8.4.2). In elektronischen Wörterbüchern können die grammatischen Informationen ausserdem durch Anklicken eines entsprechenden grammatischen Feldes in den Artikeln abgerufen werden.

4.4.2 Lemma Das Lemma ist, wie oben bereits erwähnt, sowohl Bestandteil der Makrostruktur als auch der Mikrostruktur und bildet somit den Dreh- und Angelpunkt eines jeden Wörterbuchs. Mit dem Begriff Lemma wird die kanonische Form (oder anders

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

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ausgedrückt: die Grundform eines Wortes) bezeichnet, so wie sie im Wörterbuch steht. Das heisst, dass in jedem Wörterbuch eine Art Normalform definiert werden muss und alle Stichwörter der jeweils gleichen Wortart in dieser Form stehen sollten. Normalerweise wird dabei der Infinitiv beziehungsweise der Nominativ Singular gewählt (vgl. Haß-Zumkehr 2001: 24). Die Lemmata leiten typischerweise jeden Wörterbuchartikel ein und stellen somit die wesentliche Zugriffsstruktur (siehe Kap. 4.4.4) auf die Elemente in einem Wörterbuch dar, das bedeutet, dass das Lemma für jeden Wörterbuchartikel obligatorisch ist (vgl. Wolski 1989: 363). Mit dem Begriff Lemmazeichen ist das sprachliche Zeichen gemeint, das lexikographisch bearbeitet wird (z. B. Wallis; vgl. Wiegand 1983: 429), die Lemmazeichengestaltangabe ist das Lemmazeichen, wie es exakt im Wörterbuch wiedergegeben wird, also inklusive zusätzlicher Angaben wie beispielsweise Angaben zur Betonung oder zur Silbentrennung (z. B. Wạl|lis; vgl. Wiegand 2005: 207).  



4.4.3 Makrostruktur Unter Makrostruktur wird die Ordnung verstanden, die über die Menge aller in einem Wörterbuch verzeichneten Lemmata gelegt ist (vgl. Wiegand/Gouws 2013: 78). Dabei können die Lemmata nach verschiedenen Prinzipien geordnet sein: Einerseits können sie auf einer alphabetischen Ordnung basieren, andererseits auf einer konzeptuellen, wie dies beispielsweise bei Thesauri der Fall ist. Alphabetische Makrostrukturen kommen sowohl als initialalphabetische als auch als finalalphabetische Makrostrukturen vor. Bei initialalphabetischer Anordnung werden die Lemmata auf der Basis der konventionellen Reihenfolge der Buchstaben in Schriftrichtung geordnet. Die finalalphabetische Anordnung orientiert sich ebenfalls an der konventionellen Reihenfolge des Alphabets, allerdings wird die Ordnung der Buchstaben entgegen der Schriftrichtung gewählt – salopp gesagt, heisst das, dass man die Buchstaben eines Lemmas von hinten betrachtet. Die initialalphabetische Ordnung stellt die am häufigsten vorkommende makrostrukturelle Anordnung dar.34 In den Wörterbuchanalysen in Teil II dieser Arbeit werden ausnahmslos initialalphabetische Wörterbücher untersucht, weshalb dieser Typ von Makrostruktur hier weiter differenziert werden soll. Initialalphabetische Makrostrukturen können in striktalphabetische und nicht-striktalphabetische Makrostrukturen 34 Nichtalphabetisch-schriftbezogene Makrostrukturen, wie sie bei Sprachen zur Anwendung kommen, die nicht über alphabetische Schriften verfügen, sowie inhaltliche/ideologische Makrostrukturen sind in dieser Arbeit nicht von Bedeutung und werden deshalb nicht weiter besprochen (siehe dazu Wiegand/Gouws 2013: 90 f.).  

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

unterschieden werden. Die striktalphabetischen Makrostrukturen werden einerseits durch glattalphabetische Strukturen repräsentiert, durch Anordnungsformen also, bei welchen jedes Lemma linksbündig in einem neuen Absatz steht. Dies ist beispielsweise im Schweizerhochdeutsch-Duden (2012) der Fall (siehe Kap. 6.4.2). Andererseits gibt es die Möglichkeit der Nischenbildung, bei der mehrere, meist aufgrund der Wortbildung zusammengehörende Lemmata in einem Absatz angeordnet werden. Auch die nischenalphabetische Anordnung wird durch die strikte Einhaltung der alphabetischen Ordnung charakterisiert. Diese Einhaltung bezieht sich sowohl auf die alphabetische Ordnung der vertikal angeordneten Hauptlemmata als auch auf die Ordnung der Sublemmata innerhalb der Nische. Die strikte Anordnung zeigt sich aber auch dadurch, dass sie in Bezug auf das letzte horizontal angeordnete Lemma in der Nische und das darauffolgende vertikal angeordnete Hauptlemma eingehalten wird. Bei einer Nischenstruktur wird die alphabetische Ordnung sogar dann befolgt, wenn semantisch zusammengehörige Lemmata nicht im selben Artikel aufgeführt werden können, weil sie unter Umständen aufgrund der alphabetischen Ordnung durch ein semantisch fremdes Lemma getrennt werden (vgl. Gouws 2009: 5 f.). Beispiele für Nischen finden sich im Österreichischen Wörterbuch (siehe Kap. 9.4.2). Die nicht-striktalphabetischen Anordnungsformen treten im Falle der Nestbildung auf. Bei der Nestbildung stehen ebenfalls mehrere Lemmata in einem Absatz, allerdings wird teilweise die alphabetische Ordnung innerhalb des Absatzes zum Zwecke einer bestimmten Gruppierung unterbrochen (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 148). Ausserdem kann unter Umständen die alphabetische Ordnung auch zwischen dem letzten Sublemma des Nestes und dem nächsten vertikal geordneten Hauptlemma unterbrochen werden. Somit erhält die semantische Zugehörigkeit von Wortfamilien ein stärkeres Gewicht als dies bei der Anordnung in Nischen der Fall ist (vgl. Gouws 2009: 7). Nestbildung tritt in der jüngeren Lexikographie allerdings eher selten auf.35 Bei der Nischen- und Nestbildung nennt man das Lemma, das als erstes aufgeführt wird – also jenes, das am Anfang eines Artikels steht –, das Eingangslemma, die anderen Lemmata im Artikel werden als Sublemmata respektive Nischen- oder Nestlemmata bezeichnet (vgl. Engelberg/ Lemnitzer 2009: 148).36  

35 Eine Art der Nestbildung findet sich im Zweifelsfälle-Duden (siehe Kap. 8.4.2). 36 In elektronischen Wörterbüchern wird die alphabetische Makrostruktur aufgebrochen, weshalb die obenstehenden Erläuterungen zur Makrostruktur nur teilweise auf elektronische Wörterbücher übertragen werden können. Für weitere Erläuterungen zur Makrostruktur in elektronischen Wörterbüchern sei auf Engelberg/Lemnitzer (2009: 149 ff.) verwiesen.

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4.4 Aufbau von Wörterbüchern

4.4.4 Zugriffsstruktur Im Folgenden werden Bergriffe erläutert, die benötigt werden, um das „Datenakzessivitätsprofil“ (Wiegand 2005: 196) von Wörterbüchern analysieren zu können, um also die unterschiedlichen Zugriffsstrukturen eines Wörterbuchs zu unterscheiden. Bei der Datenakzessivität wird zwischen externer und interner unterschieden (vgl. Wiegand/Beer 2013: 111). Die externe Datenakzessivität wird durch äussere, die interne durch innere Zugriffsstrukturen etabliert. Dabei ist die externe Datenakzessivität bei jedem Wörterbuch obligatorisch, jedes Wörterbuch muss über mindestens eine äussere Zugriffsstruktur verfügen (vgl. Wiegand/Beer/ Gouws 2013: 31). Die interne Datenakzessivität ermöglicht hingegen den Zugriff innerhalb akzessiver Wörterbucheinträge und ist fakultativ. Die interne Datenakzessivität ist für die vorliegende Arbeit aber nur von geringer Bedeutung, weshalb sie nicht vertieft behandelt werden (siehe dazu Wiegand/Beer 2013: 139 ff.). Bei den äusseren Zugriffsstrukturen als lineare Ordnungsstrukturen werden verschiedene Typen differenziert. Als häufig auftretende äussere Zugriffsstrukturen können alphabetische äussere Zugriffsstrukturen, numerische mediostrukturelle Zugriffsstrukturen oder auch Registerzugriffsstrukturen genannt werden (vgl. Wiegand 2005: 196).37 Kurz gesagt: Es werden diejenigen Komponenten von Wörterbüchern als äussere Zugriffsstrukturen bezeichnet, die sicherstellen, dass ein Wörterbuch über akzessive Wörterbucheinträge und damit über akzessive Daten verfügt. Akzessive Wörterbucheinträge bilden die Basis von Wörterbüchern, meist sind hiermit die Wörterbuchartikel gemeint. Verfügt ein Wörterbuch lediglich über ein Wörterverzeichnis und über nur einen Pfad, der zum jeweiligen Lemma führt, so sind Makrostruktur und äussere Zugriffsstruktur identisch (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 146), man spricht in diesem Fall von einem monoakzessiven Wörterbuch mit genau einer äusseren Zugriffsstruktur. Nicht selten allerdings verfügt ein Wörterbuch über mehrere Wörterverzeichnisse mit mehreren möglichen Suchpfaden zu den einzelnen Wörterbuchartikeln; die Makrostruktur zerfällt in mehrere äussere Zugriffsstrukturen. So gibt es beispielsweise Wörterbücher, die über ein Register verfügen, von welchem aus auf Lemmata im Hauptwörterverzeichnis verwiesen wird. Es stehen in diesem Fall also zwei mögliche Suchpfade zur Verfügung: ein alphabetischer im Hauptwörterverzeichnis und ein thematischer über das Register. Man spricht hier von einem polyakzessiven Wörterbuch mit zwei äusseren Zugriffsstrukturen. Daneben gibt es Wörterbücher, die verschiedene Wörterverzeichnisse beinhalten, solche führen beispielsweise im Anhang verschiedene gesonderte Wörterverzeichnisse auf (z. B. ein  

37 Für eine detaillierte Auflistung äusserer Zugriffsstrukturen siehe Wiegand (2008).

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

Verzeichnis von Eigennamen und ein Verzeichnis sprachwissenschaftlicher Ausdrücke). Zu jedem Lemma in diesen Wörterbüchern existiert allerdings nur ein Suchpfad, weshalb man von monoakzessiven Wörterbüchern mit mehreren äusseren Zugriffsstrukturen spricht. Schliesslich gibt es auch polyakzessive Wörterbücher mit nur einer äusseren Zugriffsstruktur. Als solche werden Wörterbücher bezeichnet, die innerhalb eines einzigen Wörterverzeichnisses mehrere Suchpfade erlauben (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 146). Die häufigsten Typen von äusseren Zugriffsstrukturen sind (zumindest in unseren Breitengraden) die alphabetischen. Will man diese verstehen, so muss man über Kenntnisse des jeweiligen Alphabets verfügen, mit denen sich eine lineare Ordnung herstellen lässt. Durch die intuitive Kenntnis der Ordnungsaxiome, die dem Alphabet zugrundeliegen und ihm die eben erwähnte lineare Ordnungsstruktur garantieren, kann man auf die Wörterbucheinträge zugreifen und beherrscht somit die allgemeine Wörterbuchbenutzungspraxis (vgl. Wiegand 2005: 203). Eine alphabetische äussere Zugriffsstruktur kann als Menge sprachlicher äusserer Zugriffstextelemente bezeichnet werden, die mithin eine lineare Ordnungsstruktur darstellt. Die Kenntnis des Alphabets ermöglicht dem Benutzer den externen Zugriff auf jedes einzelne sprachliche äussere Zugriffstextelement: Wenn ein Benutzer das Alphabet kennt – also die wörterbuchexterne lineare Ordnungsstruktur –, so kann er auf jedes alphabetisch eingeordnete äussere Zugriffstextelement zugreifen, d. h. auf jedes Lemma im Wörterbuch, das nach einer wörterbuchinternen linearen Ordnungsstruktur in das Wörterbuch eingeordnet ist. Denn die wörterbuchexterne und die wörterbuchinterne lineare Ordnungsstruktur sind auf denselben Ordnungsaxiomen aufgebaut. Der Benutzer kann nach einem sprachlichen Ausdruck – einem sogenannten Leitelement – im Wörterbuch suchen, da er die Buchstabenfolge des Alphabets kennt, also die wörterbuchexterne lineare Ordnungsstruktur, und diese mit der wörterbuchinternen linearen Ordnungsstruktur übereinstimmt (vgl. Wiegand 2005: 204).

4.4.5 Mikrostruktur Die einzelnen Wörterbuchartikel stellen meist die grössten selbstständigen Informationseinheiten in Wörterbüchern dar. Sie sind inhaltlich abgeschlossen und verfügen über eine hohe Textkohärenz und Informationsautonomie. Die Gliederung der einzelnen Artikel beruht auf einer Struktur, die für alle Artikel gilt, also standardisiert ist und als Mikrostruktur bezeichnet wird. Die einzelnen Angaben in der Mikrostruktur erhalten ihren Informationswert nicht durch semantisch-syntaktische oder textuelle Verkettung, sondern vielmehr durch die Position innerhalb der Mikrostruktur. Dank der mikrostrukturellen Ordnung können kom-

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

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plexe Wissensinhalte komprimiert dargestellt werden. Als Mikrostruktur wird zusammengefasst die zu jedem Lemma verzeichnete, strukturierte Information, das heisst, die Binnengliederung eines Wörterbucheintrags zu einem Lemma verstanden (vgl. Wiegand 1989a: 423 ff.). Man kann verschiedene Arten von Mikrostrukturen unterscheiden: Betrachtet man einen Wörterbuchartikel genauer, so findet sich meist einerseits das funktionale Textsegment, das Angaben zur Form eines Lemmazeichens macht, und andererseits das funktionale Textsegment, das Angaben zum Inhalt des Lemmazeichens beinhaltet. Ersteres kann als Formkommentar, zweiteres als semantischer Kommentar (vgl. Wiegand 1989a: 434 f.) beschrieben werden.38 Formkommentar und semantischer Kommentar bilden zusammen die Basisstruktur des Artikels. Dabei kann der Formkommentar als linke Kernstruktur, der semantische Kommentar als rechte Kernstruktur definiert werden (vgl. Wiegand/Smit 2013a: 150). Ein Wörterbuchartikel, der genau diese beiden Kommentare beinhaltet, wird als Artikel mit einer einfachen Mikrostruktur bezeichnet (vgl. Bsp. 1).  

Bsp. 1: Einfache Mikrostruktur im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 48)

Einfache Mikrostrukturen, die polyseme Lemmazeichen beschreiben, sind komplexer aufgebaut. Sie können in integrierte und nicht-integrierte Mikrostrukturen gegliedert werden (vgl. Wiegand 1989b: 482 ff.).39 Die integrierten Mikrostrukturen setzen sich aus einem Formkommentar und mehreren semantischen Subkommentaren zusammen. Die einzelnen semantischen Subkommentare bestehen jeweils aus einer Bedeutungsangabe und einer Kollokations- und/oder einer Beispielangabe. Dabei finden sich alle inhaltsbezogenen Angaben, die einer bestimmten Bedeutungsangabe zugeordnet werden können, jeweils im selben Subkommentar (vgl. Wiegand/Smit 2013a: 176 f.). Als Beispiel für eine einfache integrierte Mikrostruktur kann der folgende Wörterbuchartikel aus dem VWB herangezogen werden (vgl. Bsp. 2).  

38 Ein Kommentar fasst Angaben zusammen, die aus sprachtheoretischer Sicht zusammengehörig sind (vgl. Wiegand et al. 2010b: 46). 39 Wiegand/Smit (2013a: 181 ff.) unterscheiden weiter partiell integrierte Mikrostrukturen. Diese sind für die vorliegende Arbeit jedoch nicht von Bedeutung, weshalb ich nicht näher auf sie eingehen werde.

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

Bsp. 2: Einfache integrierte Mikrostruktur im VWB (VWB 2004: 352)

Das Lexem Hochschaubahn hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits kann darunter „Achterbahn“ verstanden werden, andererseits steht Hochschaubahn für den „ständige[n] Wechsel zwischen Auf und Ab, Aufwärts- und Abwärtstrend“ (VWB 2004: 352). Die beiden Subkommentare werden durch die Ordinalzahlen 1. und 2. voneinander abgetrennt, danach folgt die jeweilige Bedeutung und direkt dahinter, im selben Subkommentar, sind mehrere Beispiele aufgeführt. Somit werden also zwei voneinander getrennte semantische Subkommentare gelistet, die jeweils eine Bedeutungserläuterung sowie die dazugehörigen Beispiele beinhalten. Würden alle Bedeutungserläuterungen in einem Subkommentar stehen und alle Beispiele in einem zweiten Subkommentar, z. B. am Schluss des Artikels anstatt hinter der entsprechenden Bedeutungserläuterung, so würde man von nicht-integrierten Mikrostrukturen sprechen (vgl. Wiegand 1989b: 488 ff.). Anhand der untenstehenden Graphik wird die Struktur einer einfachen nicht-integrierten Mikrostruktur veranschaulicht.  

Abb. 6: Einfache nicht-integrierte Mikrostruktur (Engelberg/Lemnitzer 2009: 165)

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

61

Neben den einfachen Mikrostrukturen differenzieren Wiegand et al. weiter in erweiterte und zusammengesetzte Mikrostrukturen (vgl. Wiegand et al. 2010b: 47 ff.). Erweiterte Mikrostrukturen nennt man diejenigen, die neben der Form- und der Bedeutungsangabe noch weitere unmittelbare Konstituenten des Wörterbuchartikels angeben (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 164). Dies ist dann der Fall, wenn neben den Kernstrukturen eine sogenannte Randstruktur, beispielsweise in Form eines Verweises, vorhanden ist. Im untenstehenden Beispiel 3 folgt dem Lemma die Herkunftsangabe und dieser die Bedeutungserläuterung. Anschliessend wird mit dem Pfeil auf das Lemma dito verwiesen.  

Bsp. 3: Erweiterte Mikrostruktur im ÖWB (ÖWB 2012: 166)

Zusammengesetzte Mikrostrukturen hingegen liegen dann vor, wenn in einem Artikel Sublemmata verzeichnet sind und diese jeweils über eine eigene Basisstruktur, also über einen eigenen Form- sowie einen semantischen Kommentar verfügen. Das Hauptlemma des untenstehenden Beispiels 4 ist patzen, zusätzlich werden aber die Sublemmata Patzen, Patzer, Patzerei, Patzerl, Patzerlguggelhupf, patzert, patzig und patzweich gelistet. Alle Sublemmata verfügen über eine eigene Basisstruktur: Beim ersten Sublemma Patzen wird beispielsweise im Formkommentar der bestimmte Artikel, der Genitiv Singular und der Nominativ Plural angegeben, im semantischen Kommentar folgt die Bedeutungserläuterung „Klecks | Klumpen“ sowie ein Verweis zum Lemma Batzen.40

40 Die Mikrostruktur in elektronischen Wörterbüchern unterscheidet sich von derjenigen in Printwörterbüchern vor allem in zwei Aspekten: Einerseits ist sie im elektronischen Wörterbuch oft vom Benutzer selbst manipulierbar, der Benutzer kann sich nur diejenigen Angaben anzeigen lassen, die für ihn relevant sind. Andererseits lassen sich die unterschiedlichen Struktureinheiten, also Makro- und Mikrostruktur sowie auch die Wörterbuchaussentexte, nicht mehr klar voneinander trennen. Mehr zu Mikrostrukturen in elektronischen Wörterbüchern findet sich in Engelberg/Lemnitzer (2009: 166 ff.).

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

Bsp. 4: Zusammengesetzte Mikrostruktur im ÖWB (ÖWB 2012: 526)

4.4.6 Verweisstruktur Neben der Makro- und der Mikrostruktur wird eine weitere Strukturebene in Wörterbüchern durch Verweise gebildet. Durch die Verweis- oder auch Mediobzw. Mesostrukturen werden vernetzende Beziehungen zwischen den Lemmata oder bestimmten Artikelinformationen gebildet.41 Was unter dem Begriff Mediostruktur präzis zu verstehen ist, wird in der metalexikographischen Forschung bis heute kontrovers diskutiert. Eine detaillierte Typologie der Mediostrukturen und der dazugehörigen Teilstrukturen stellt ein Forschungsdesiderat dar. Obwohl der Mediostrukturbegriff bis heute noch nicht zufriedenstellend definiert wurde, können zumindest die zwei Hauptursachen, die nach einer ausgeprägten Verweisstruktur in einem Wörterbuch verlangen, benannt werden: i) In semasiologischen Wörterbüchern können inhaltliche Zusammenhänge einzelner Lexeme nur dadurch aufgezeigt werden, dass jeweils auf die inhaltlich verknüpften Wörter verwiesen wird. Ein onomasiologisches Wörterbuch wiederum muss ein alphabetisch sortiertes Register beinhalten, anhand dessen man auf ein gesuchtes sprachliches Zeichen in den semantisch geordneten Wörterbuchartikeln zugreifen kann. Es muss also eine Verweisstruktur vom Register zum Artikel geben (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 179). ii) Printwörterbücher unterliegen organisatorischen und platztechnischen Beschränkungen. Verdoppelungen sind schon aus rein ökonomischen Gründen nicht möglich. Aus diesem Grund muss Printwörterbüchern ein differenziertes Verweissystem zugrunde gelegt werden, damit sie alle jeweils zu erwar-

41 In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Verweisstruktur, Mediostruktur und Mesostruktur synonym verwendet.

4.4 Aufbau von Wörterbüchern

63

tenden Informationen bereitstellen können, ohne diese an mehreren Stellen aufführen zu müssen (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 179). Des Weiteren kann der Begriff des Verweises folgendermassen präzisiert werden: Bei einem Verweis existiert immer etwas, von dem aus verwiesen wird, und etwas, auf das verwiesen wird – der Verweisursprung und das Verweisziel. Darüber hinaus gibt es stets jemanden, der verweist, und jemanden, der verwiesen wird: das Objekt, also der Lexikograph, und das Subjekt, also der Wörterbuchbenutzer. Objekt und Subjekt können im Folgenden vernachlässigt werden, da es sich hierbei um Konstanten handelt; es ist stets der Lexikograph, der einen Wörterbuchbenutzer verweist (vgl. Blumenthal/Lemnitzer/Storrer 1988: 355). Weitere Aspekte von Verweisen sind das Verweissymbol, der Verweiszielrepräsentant, die Verweisangabe sowie die Verweisrelation (vgl. Blumenthal/Lemnitzer/ Storrer 1988: 355). Unter Verweissymbol versteht man dasjenige Symbol, mittels dessen der Verweis kenntlich gemacht wird, also verschiedene Pfeile oder Abkürzungen, die dem Subjekt anzeigen, dass es verwiesen wird. Als Verweiszielrepräsentant wird dasjenige lexikographische Textsegment bezeichnet, welches das Verweisziel repräsentiert. Die Verweisangabe konstituiert sich aus dem Verweissymbol und dem Verweiszielrepräsentanten, d. h. aus dem Symbol, das den Verweis markiert sowie dem Textsegment, das anzeigt, worauf verwiesen wird. Die Verweisrelation bezeichnet ihrerseits die Beziehung von Verweisursprung und Verweisziel und wird durch die Verweisangabe konstituiert (vgl. Blumenthal/ Lemnitzer/Storrer 1988: 356). Da Verweise immer gerichtet sind und immer nur in eine Richtung gehen – immer vom Verweisursprung zum Verweisziel –, bedarf es keines Verweisursprungsrepräsentanten, der Verweis steht ja stets beim Verweisursprung (vgl. Blumenthal/Lemnitzer/Storrer 1988: 356).42 Um den Begriff der Verweisstruktur zusammenzufassen, kann die Definition von Sandro Nielsen (1999) herangezogen werden, die äusserst nützlich für das Grundverständnis von Verweisstrukturen ist. Generally speaking, a lexicographic structure is a set of relations that exists between elements of a whole, i.e. the dictionary. The lexicographic mediostructure may then be said to deal with a set or sets of relations that exists between elements used in cross-referencing. The overall, abstract mediostructure of a dictionary consists of all the possible sets of crossreferencing relations, whether realised by concrete sets or not in the dictionary concerned.

42 Die eben ausgeführten Präzisierungen von Verweisen nutzen Blumenthal/Lemnitzer/Storrer (1988: 358), um einen Vorschlag zu einer Klassifizierung von Verweisen zu machen. Wiegand (2002: 212) stellt einen anderen Vorschlag zur Typologie von Verweisen anhand von acht unterschiedlichen Kriterien vor. Die Explizierung der beiden Vorschläge würde hier aber zu weit führen.

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4 Lexikographie und Metalexikographie: Begriffsbestimmung

The actual realisation of these referential networks may, for instance, be function related and the primary function of the dictionary may then be given priority. The actual crossreferences at this level are then the concrete sets of relations depending on the function of the dictionary, the distribution of the information, and the search path involved in retrieving the relevant information. (Nielsen 1999: 112)

Als Fazit kann konstatiert werden, dass viele der zentralen Begriffe aus den Bereichen der Lexikographie und der Metalexikographie nicht einheitlich verwendet werden. Aus diesem Grund war es umso wichtiger, ausführlich darzulegen, wie diese in der vorliegenden Arbeit verstanden werden. Die hier vorgestellten Definitionen stellen das grundlegende Instrumentarium für die späteren Analysen bereit. Dieses wird es erlauben, die Wörterbuchstrukturen der fünf zu untersuchenden Wörterbücher präzis zu beschreiben.

5 Wörterbuchtypen Im vorliegenden Kapitel wird der Versuch unternommen, die äusserst vielfältige Wörterbuchlandschaft in einzelne Wörterbuchtypen zu gliedern. Dies ist für diese Arbeit in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens ist die Kenntnis verschiedener Wörterbuchtypen für die Auswahl der in Teil II dieser Arbeit untersuchten Wörterbücher von Relevanz, da diese zumindest ansatzweise vergleichbar sein müssen. Ausserdem erleichtert die Kenntnis der Wörterbuchtypen die Wörterbuchanalysen: Je nachdem, zu welchem Typ ein zu analysierendes Wörterbuch gezählt wird, können bestimmte Informationen erwartet bzw. kann das Fehlen bestimmter Informationen bemängelt werden. Steht beispielsweise ein schweizerisches Wort in einem Dialektwörterbuch ohne Markierung, so kann davon ausgegangen werden, dass das Wort als dialektal eingestuft wird. Steht jedoch dasselbe Wort in einem Schweizer Standardwörterbuch unmarkiert, so wird damit genau das Gegenteil davon ausgedrückt, nämlich dass es sich um einen standardsprachlichen Helvetismus handelt. Diese Feststellung mag trivial klingen, doch ist das Bewusstsein dafür, was in einem Wörterbuch erwartet werden darf, unverzichtbar, um eine fundierte, kritische Wörterbuchanalyse überhaupt durchführen zu können. Eine Typologisierung von Wörterbüchern ist allerdings ausgesprochen schwierig. Wie in Kapitel 4.3 bereits erwähnt wurde, erschweren die neuen Möglichkeiten, die mit den elektronischen Medien einhergehen, eine Typologisierung zusätzlich, da einerseits vermehrt Hybride entstehen (vgl. Hartmann 2013: 383) und es andererseits wünschenswert wäre, auch die unterschiedlichen Datenträger in die Typologie miteinzubeziehen. Obwohl bereits eine Vielzahl von Typologisierungsvorschlägen von Wörterbüchern existiert, verlangen gerade die neuen Medien nach neuen Vorschlägen. Wörterbuchtypologien beschränken sich meist auf ein Kriterium, nach welchem versucht wird, die einzelnen Werke zu gliedern. Da allerdings Individualität eines der hervorstechendsten Merkmale von Wörterbüchern ist, ist jede Typologie immer nur prototypisch zu verstehen und nie vollständig distinktiv, weil sich verschiedene Aspekte einzelner Wörterbücher stets überschneiden (vgl. Herbst/Klotz 2003: 22).43 Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Typologie von Stefan Engelberg und Lothar Lemnitzer (2009) vorgestellt, die auf der phänomenologischen

43 Einige interessante Typologien, die in der vorliegenden Arbeit nicht vorgestellt werden, sind die Folgenden: Peter Kühns Typologie nach Benutzungsmöglichkeiten (1989), Oskar Reichmanns merkmaltypologisches System (1984) sowie die Einteilung von Bergenholtz/Tarp (2002: 255) nach Wörterbuchfunktionen. Des Weiteren sind die speziell für elektronische Wörterbücher konzipierten Typologien von Sharpe (1995: 41), Lehr (1996: 315) und Nesi (2000: 842) zu erwähnen.

DOI 10.1515/9783110482263-006

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5 Wörterbuchtypen

Typologie von Franz Josef Hausmann (1989b) aufbaut (Kap. 5.1). Die Einordnungskriterien dieser Typologie sind gut nachvollziehbar und auf alle Arten von Wörterbüchern anwendbar. Allerdings vernachlässigen sie die Art des Mediums vollständig. Dieses spielt aber eine ausschlaggebende Rolle bei der Konzeption eines Wörterbuchs. Meines Erachtens existiert keine Typologie, die den Aspekt des Mediums adäquat berücksichtigt und ausreichend aktuell ist.44 Die neuen Medien dürfen dennoch nicht vollständig ausser Acht gelassen werden, denn sie haben einen immensen Einfluss auf die moderne Lexikographie. Aus diesem Grund werde ich in Bezug auf elektronische Wörterbücher45 die potenziellen Vorteile derselben skizzieren (Kap. 5.2). Diese Darstellung kann als Denkanstoss für einen zukünftigen Typologisierungsvorschlag verstanden werden. Gerade die Möglichkeit eines Zusammenschlusses von elektronischen Wörterbüchern zu Wörterbuchportalen birgt enormes Potenzial. In Wörterbuchportalen kann dem Benutzer Wissen aus verschiedenen Bereichen gebündelt angeboten werden. Ebendiese neuen Möglichkeiten werden die zukünftige Lexikographie massgeblich beeinflussen, weshalb das Kapitel 5.2 abschliessend eine grobe Gliederung von Wörterbuchportalen vorgestellt wird. Die Ausarbeitung einer differenzierten Wörterbuchtypologie, die das Speichermedium miteinbezieht und welche der mit dem digitalen Medium einhergehenden Innovationsgeschwindigkeit gerecht werden kann, stellt ein Forschungsdesiderat dar.

5.1 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009) Die phänomenologische Typologie wurde ursprünglich von Franz Josef Hausmann (1989b) entwickelt. Er nennt sie phänomenologisch, da sie gut erkennbare Eigenschaften der Struktur der Wörterbücher als Hauptkriterium für die Typologisierung wählt. Ziel seiner Typologie ist es, einen Überblick über inhaltliche sowie

44 Die meist zitierte Typologie von denjenigen, die den Aspekt des Mediums in den Vordergrund stellen, ist die sogenannte three-step typology von Gilles-Maurice de Schryver (2003). Sie wird vor allem für die Typologisierung elektronischer Wörterbücher herangezogen und beruht auf der Grundfrage „WHO ACCESSES WHAT WHERE?“ (de Schryver 2003: 147; Hervorheb. i. O.). De Schryver entwickelte seine Typologie mit dem Ziel, über die Flexibilität zu verfügen, auf zukünftige Innovationen reagieren bzw. diese miteinbeziehen zu können. Aus heutiger Sicht scheint sie diesem Ziel allerdings nicht mehr gerecht zu werden (vgl. Dziemanko 2012: 320). 45 Der Begriff elektronisches Wörterbuch wird in dieser Arbeit aufrechterhalten. Der möglicherweise irreführenden Assoziation mit einem tatsächlichen Buch bin ich mir durchaus bewusst. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff siehe Müller-Spitzer (2007: 29 f. und 2013: 367 f.), de Schryver (2003: 146) sowie Nesi (2000: 839).  



5.1 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009)

67

strukturelle Ähnlichkeiten der Wörterbücher zu schaffen. Die Typologie von Engelberg/Lemnitzer (2009) ist eng an diejenige Hausmanns angelehnt. Wie auch Hausmann versuchen Engelberg/Lemnitzer (2009) das jeweils zentrale Charakteristikum eines Wörterbuchs herauszufiltern. Sie stellen fest, dass Wörterbücher ihren Schwerpunkt auf sehr unterschiedliche charakteristische Merkmale legen und dass das zentrale Augenmerk auf völlig unterschiedlichen Aspekten der Wörterbuchstruktur und -benutzung gelegt ist. So wird in einem Wörterbuch der Schwerpunkt beispielsweise auf eine bestimmte Benutzergruppe (bspw. bei Lernerwörterbüchern), eine Beschränkung der Lemmatypauswahl (bspw. bei Dialektwörterbüchern) oder die Beschränkung auf die Angabeklasse beziehungsweise den Informationstyp (bspw. bei Valenzwörterbüchern) gelegt (vgl. Engelberg/ Lemnitzer 2009: 21). Bei der Eruierung des Merkmals, das einem spezifischen Wörterbuch seine hauptsächliche Prägung gibt, unterscheiden Engelberg/Lemnitzer (2009: 25 ff.) – Hausmann (1989b: 971) folgend – in einem ersten Schritt zwischen Allgemeinwörterbuch und Spezialwörterbuch (siehe Kap. 5.1.1 und Kap. 5.1.2).

5.1.1 Allgemeinwörterbuch Als Allgemeinwörterbücher werden diejenigen Wörterbücher bezeichnet, die sich bei ihrer Lemmaauswahl an der Standardsprache orientieren. Dabei sind die Lemmata initialalphabetisch geordnet und üblicherweise bieten sie das volle Informationsprogramm46 für die einzelnen Lemmazeichen (orthographische, phonetische, morphologische, syntaktische, semantische, pragmatische und oft auch etymologische Angaben). Unter die Allgemeinwörterbücher werden Standardwörterbücher, die oft auch als allgemeine einsprachige Wörterbücher oder Definitionswörterbücher bezeichnet werden, sowie enzyklopädische47 und historische Wörterbücher subsumiert (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 25). Dass Standardwörterbücher auch als allgemeine einsprachige Wörterbücher benannt werden beziehungsweise dass der Begriff Standardwörterbuch teilweise synonym zu dem des allgemeinen einsprachigen Wörterbuchs benutzt wird, kann zu Missver-

46 Unter Informationsprogramm wird die abstrakte Mikrostruktur für einen Typ von Lemmazeichen verstanden (siehe Kapitel 4.4.5). 47 Zu den enzyklopädischen Wörterbüchern werden jene Nachschlagewerke gezählt, welche bewusst Informationen aus der Sach- und der Sprachlexikographie miteinander kombinieren, bspw. Brockhaus Enzyklopädie und Lexikon. Dieses Nachschlagewerk tendiert allerdings mehr zur Enzyklopädie als zum Wörterbuch (siehe auch Kapitel 4.3).

68

5 Wörterbuchtypen

ständnissen führen. Dadurch wird suggeriert, dass Standardwörterbücher zwangsläufig einsprachig seien. Da in der Metalexikographie der Begriff des allgemeinen einsprachigen Wörterbuchs sehr heterogen verwendet wird, sei an dieser Stelle Mitar Pitzeks (1999) Definition des einsprachigen Allgemeinwörterbuchs zu den oben bereits erwähnten Definitionskriterien hinzugezogen. Dadurch soll Missverständnissen bei der Verwendungsweise des Begriffs in der vorliegenden Arbeit vorgebeugt werden. Nach Pitzek (1999: 1; Hervorheb. i. O.) zeichnet sich ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch dadurch aus, dass es: – in erster Linie auf die Erklärung der sprachlichen Eigenschaften des Wortschatzes ausgerichtet ist; – den Wirklichkeitsausschnitt Wortschatz einer Sprache unter synchronem Aspekt erfasst; – auf unterschiedlichen Medienträgern (Buch, Karteikarten, Disketten und CD-Rom etc.) erscheinen kann; – für einen heterogenen muttersprachlichen Adressatenkreis vorgesehen ist (dazu gehört sowohl der mit dem Minimum an allgemeinem Schulwissen ausgestattete Laie als auch der über das Spezialwissen verfügende Fachmann); – die Lexik in erster Linie nach dem semasiologischen Prinzip kodifiziert und onomasiologische Relationen im Wortschatz zu berücksichtigen versucht; – sich nicht ausschließlich und ausführlich einem Spezialbereich der Sprache widmet, sondern allgemeine Informationen bereitstellt, wie z. B. zur Rechtschreibung, Grammatik, Herkunft, Bedeutung, Verbreitung, Stil, Aussprache und Idiomatik der Wörter und Wortgruppen etc.; – die Bedeutungserklärung nach Möglichkeit mit stilistisch und funktional neutralen Mitteln durchführt (die Standardsprache gilt als Metasprache); – die Bedeutungserklärung nicht als Selbstzweck behandelt, sondern stets versucht, den Adressaten sowie die grundlegenden typologischen Zielstellungen zu berücksichtigen; – der Standardsprache zugewandte Subsysteme (Fach- und Sonderwortschätze sowie die regional und umgangssprachlichen Ausdrücke etc.) erfasst, ‚sofern sie für die Allgemeinheit von Bedeutung sind‘.  

Pitzek erhebt bei diesen Kriterien keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr versucht er, einen Rahmen abzustecken, der es ermöglicht, eine spezifiziertere Typologie anzuschliessen (vgl. Pitzek 1999: 1). Wie bereits erwähnt, sind für die vorliegende Arbeit von der Klasse der Allgemeinwörterbücher lediglich die einsprachigen von Bedeutung und unter den einsprachigen wiederum nur die Standardwörterbücher, weshalb auf das enzyklopädische Wörterbuch sowie auf das historische Wörterbuch nicht näher

5.1 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009)

69

eingegangen wird.48 Zu den Standardwörterbüchern kann gesagt werden, dass sie „den klassischen Wörterbuchtyp dar[stellen]: das bezüglich Lemmaauswahl, Mikrostruktur und Benutzerorientierung unmarkierte Wörterbuch, das den Bezugspunkt für die Definition der anderen Wörterbuchtypen bildet“ (Engelberg/ Lemnitzer 2009: 25). Was den Adressatenkreis von Allgemeinwörterbüchern betrifft, konstatieren Herbst/Klotz (2003: 200), dass das allgemeine Wörterbuch einen viel undifferenzierteren Adressatenkreis anzusprechen versucht als das Spezialwörterbuch und dass die vorhandenen Informationen oder Informationstypen viel breiter angelegt sind. Zu den wichtigsten neueren Vertretern der einsprachigen Standardwörterbücher können die folgenden gezählt werden (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 25): Printwörterbücher: – Duden. Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden (Duden 1999)49 – Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Akademie der Wissenschaften der DDR; Klappenbach/Steinitz 1961–1977) – Brockhaus-Wahrig: Deutsches Wörterbuch (Wahrig-Burfeind 2011)50 – Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Kempcke et al. 1984) – Duden. Deutsches Universalwörterbuch (Duden 2011b)51 Genuine, elektronische Wörterbücher: – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache52 – elexiko53 – Wortschatzlexikon (des Projekts Deutscher Wortschatz)54

5.1.2 Spezialwörterbuch Den Allgemeinwörterbüchern stehen die Spezialwörterbücher gegenüber. Sie richten sich im Unterschied zu den Allgemeinwörterbüchern an ein meist kleineres, spezifisches Zielpublikum. Bei den Spezialwörterbüchern wird ein definierter

48 49 50 51 52 53 54

Vgl. dazu Engelberg/Lemnitzer (2009: 26). Der zehnbändige Duden ist als CD-ROM-Version zuletzt 2012 erschienen. Wahrig digital – Deutsches Wörterbuch wurde zuletzt 2007 als DVD-ROM-Version publiziert. Das Duden Universalwörterbuch wurde 2012 als CD-ROM-Version verlegt. Vgl. http://www.dwds.de . Vgl. http://www.owid.de/wb/elexiko/start.html . Vgl. http://wortschatz.uni-leipzig.de .

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5 Wörterbuchtypen

Schwerpunkt entweder auf ein bestimmtes Segment der Sprache bzw. der Sprachschreibung oder auf einen bestimmten Nachschlagezweck gelegt (vgl. Herbst/ Klotz 2003: 200 f.). Beispielsweise richten sich Fachwörterbücher an einen Adressatenkreis, der sich explizit mit dem Fach beschäftigt, welches das entsprechende Fachwörterbuch zum Gegenstand hat. Das heisst, dass z. B. ein linguistisches Fachwörterbuch mit grosser Wahrscheinlichkeit hauptsächlich von Linguisten oder Studierenden der Linguistik gelesen wird (vgl. Herbst/Klotz 2003: 201). Hingegen richtet sich ein Aussprachewörterbuch an ein breiteres Zielpublikum, allerdings jeweils nur an ein solches, dessen Nachschlageziel ein ähnliches ist: Im Fall des Aussprachewörterbuchs ist das Nachschlageziel des Benutzers, sich Wissen über die richtige Aussprache eines Wortes anzueignen, denn hier wird ausschliesslich dieser Aspekt der Sprache in den Vordergrund gestellt. Das Spektrum von Spezialwörterbüchern ist äusserst breit. So können gemäss Engelberg/Lemnitzer (2009: 23) die folgenden Grundtypen unterschieden werden: – Wörterbücher, deren hervorstechendstes Merkmal es ist, dass sie die Bedürfnisse einer bestimmten Benutzergruppe in den Mittelpunkt stellen. – Wörterbücher, deren hervorstechendstes Merkmal es ist, dass sie nur bestimmte Arten von Informationen zu den einzelnen Lemmata geben. – Wörterbücher, deren hervorstechendstes Merkmal es ist, dass sie bestimmte Sprachvarietäten lexikographisch beschreiben. – Wörterbücher, deren hervorstechendstes Merkmal es ist, dass sie nur Wörter mit bestimmten Merkmalen verzeichnen.  



Den beiden Autoren ist bewusst, dass die Bestimmung des ‚hervorstechendsten‘ Merkmals nicht ohne ein gewisses Mass an Subjektivität getroffen werden kann. Sie konstatieren allerdings, „dass diese Klassifikation zu Klassen führt, innerhalb derer sich die Wörterbücher in interessanter Weise in Bezug auf strukturelle und funktionale Eigenschaften vergleichen lassen“ (Engelberg/Lemnitzer 2009: 23). Ich stimme dieser Einschätzung zu. Die Wörterbücher werden also auf der ersten Ebene entsprechend ihrem ‚hervorstechendsten‘ Merkmal klassifiziert. Anschliessend werden sie entsprechend dem Merkmal auf der ersten Ebene auf der zweiten Ebene weiter gegliedert. Das heisst beispielsweise, dass die Wörterbücher, deren ‚hervorstechendstes‘ Merkmal die Orientierung an einer bestimmten Benutzergruppe ist, anschliessend in Wörterbuchtypen unterteilt werden, die dann jeweils einer eigenen Benutzergruppe zugeordnet werden wie beispielsweise Schülern (z. B. Schülerwörterbücher). Die untenstehende Graphik (vgl. Abb. 7) ermöglicht einen Überblick zur Klassifikation der verschiedenen Wörterbuchtypen mit besonderem Augenmerk auf den Spezialwörterbüchern:  

5.1 Phänomenologische Typologie nach Engelberg/Lemnitzer (2009)

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Abb. 7: Klassifikation von Wörterbuchtypen (Engelberg/Lemnitzer 2009: 22)

Die aufgeführten Wörterbuchtypen sind selbsterklärend, weshalb nicht näher auf sie eingegangen wird. In Teil II dieser Arbeit werden ein lemmatyporientiertes Wörterbuch mit pragmatisch beschränkter Lemmaauswahl (der ZweifelsfälleDuden), zwei informationstyporientierte Wörterbücher (das ÖWB und der Rechtschreib-Duden) sowie zwei varietätenorientierte Wörterbücher (der Schweizerhochdeutsch-Duden und das VWB) analysiert. Bei den beiden Rechtschreibwörter-

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5 Wörterbuchtypen

büchern (ÖWB und Rechtschreib-Duden) muss allerdings erwähnt werden, dass sie vermehrt auch Kriterien eines Allgemeinwörterbuchs erfüllen (mehr dazu siehe Kap. 9 und 10).

5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten Mit den neuen Medien entsteht auch die Notwendigkeit einer neuen Typologie in der Metalexikographie. Würde man beispielsweise ausschliesslich Engelberg/ Lemnitzers phänomenologische Typologie anwenden, so würden ein orthographisches Internetwörterbuch und ein orthographisches Printwörterbuch zum selben Typ gezählt werden. Dies wäre nicht ausreichend differenziert: Dem orthographischen Printwörterbuch und dem orthographischen Internetwörterbuch ist zwar offenkundig das hervorstechendste Merkmal gemein, nämlich Hilfestellungen bei orthographischen Problemen zu bieten (informationstyporientiert), allerdings ist ihr Potenzial in verschiedenen Bereichen sehr divergent. Dies zeigt sich beispielsweise in Bezug auf die unterschiedlichen Strukturen, die je nach Speichermedium implementiert werden und vollkommen anders organisiert sein können, sowie hinsichtlich unterschiedlicher Möglichkeiten der Datenpräsentation oder auch der Interaktion mit den Benutzern – um nur einige wenige Beispiele zu nennen (vgl. Klosa 2013: 518). Hinzu kommt, dass je nach Datenträger ganz unterschiedliche Möglichkeiten bestehen, das Informationsangebot im Wörterbuch auszuweiten. Es existieren zwar noch heute orthographische Internetwörterbücher, die tatsächlich nur das kongruente Abbild von Printwörterbüchern in elektronischer Form darstellen, allerdings ist dies immer seltener der Fall. In den 1980er-Jahren bestanden die ersten befangenen Versuche in der Computerlexikographie vor allem in der Übertragung von Printwörterbüchern auf elektronische Datenträger, ohne dass das Potenzial, das mit den neuen Datenträgern einherging, genutzt wurde (vgl. Müller-Spitzer 2007: 21). Dieser Umstand änderte sich aber schnell und man begann, die immensen neuen Möglichkeiten des elektronischen Mediums zu explorieren. Nebst den Erkenntnissen hinsichtlich der neuen Möglichkeiten von Informationsabfragen sowie der Datenpräsentation wurde der Computer – wie in Kap. 4.3 erwähnt – vermehrt in die verschiedenen Stadien des lexikographischen Prozesses integriert und dieser computerunterstützte Prozess eröffnete neue Horizonte, sei dies bezüglich der Datengewinnung aus elektronischen Textkorpora oder der Datenaufbereitung (vgl. Müller-Spitzer 2007: 21). So gehören heutzutage Kookkurrenzanalysen, n-Gramm-Analysen und Frequenzanalysen zum korpuslexikographischen Standard (vgl. Müller-Spitzer/Engelberg 2011: 559). Kookkurenzanalysen ermöglichen mittels statistisch-mathematischer Analyseverfahren die Ermittlung signifikanter

5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten

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Regelmässigkeiten im Auftreten von Wortkombinationen. Anhand solcher Analysen können also beispielsweise Kollokationen und Redewendungen (semi-) automatisch ermittelt werden (vgl. Perkuhn/Belica 2004). Mithilfe von n-GrammAnalysen kann die Gebräuchlichkeit von Mehrwortausdrücken eruiert werden, indem die Frequenz von Wortkombinationen berechnet wird (vgl. Müller-Spitzer/ Engelberg 2011: 559). Andere Frequenzanalysen berechnen Häufigkeiten wie beispielsweise diejenige lexikalischer Einheiten in bestimmten Konstruktionen (vgl. Klosa 2007 und Prinsloo 2009). Atkins formulierte in Bezug auf die neuen Möglichkeiten in der Lexikographie treffend: „If new methods of access (breaking the iron grip of the alphabet) and a hypertext approach to the data stored in the dictionary do not result in a product light years away from the printed dictionary, then we are evading the responsibilities of our profession“ (Atkins 1992: 521). Dieser Ansicht ist absolut zuzustimmen: Ein gelungenes elektronisches Wörterbuch muss mehr sein als ein exaktes Abbild eines Printwörterbuchs. Vielmehr ist es meines Erachtens so, dass die reine Abbildung von Printwörterbüchern in elektronischer Form ein Auslaufmodell darstellt, weshalb eben auch bezüglich der Typologie von Wörterbüchern neue Wege eingeschlagen werden müssen. Im Folgenden werden zuerst einige Vorteile von elektronischen Wörterbüchern gelistet (Kap. 5.2.1), bevor der Fokus auf sogenannte Wörterbuchportale gerichtet wird und in Bezug auf diese der Versuch einer groben Typologisierung unternommen wird (Kap. 5.2.2).

5.2.1 Vorteile von elektronischen Wörterbüchern Lexicography is on the move, transformed not by nature, but by society. The new technologies have placed lexicography in the troubled waters between the ‚old‘ printed dictionaries and the new electronic ones. However, the metamorphosis is far from conclusion. Lexicography is making for a safe port which it has still not entered. Just as a ship cannot make for its final destination without a captain, lexicography cannot evade the many hidden rocks on its long and never-ending Odyssey without an advanced theory. (Tarp 2009: 43)

Wie Tarp treffend formuliert, befindet sich die Lexikographie inmitten eines Umwandlungsprozesses, ausgelöst durch die neuen Medien. Im Folgenden sollen deshalb einige Vorteile aufgeführt werden, die mit dem elektronischen Medium einhergehen. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dies wäre eine Aporie, da bei der heutigen Innovationsgeschwindigkeit der digitalen Medien die digitale Lexikographie konstant Veränderungen unterworfen ist. In Kapitel 5.2.1.1 gehe ich zuerst auf allgemeine Vorteile, die mit dem elektronischen Medium einhergehen, ein. Anschliessend werden die Vorteile bezüglich der Zugriffs- und Verweisstrukturen beleuchtet (Kap. 5.2.1.2), ehe Aspekte in den Blick

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5 Wörterbuchtypen

genommen werden, die mit der Pflege bzw. mit den Aktualisierungsmöglichkeiten des elektronischen Wörterbuchs zu tun haben (Kap. 5.2.1.3).

5.2.1.1 Allgemeine Vorteile des elektronischen Mediums Als prägnantester Vorteil von elektronischen Wörterbüchern im Gegensatz zu Printwörterbüchern kann die Befreiung von organisatorischen und platztechnischen Beschränkungen genannt werden. Diese ermöglicht, dass das elektronische Wörterbuch eine potenziell unbeschränkte Menge an Informationen beinhalten kann. Ausserdem kann in einem elektronischen Wörterbuch auf die im Print üblichen Textverdichtungsstrategien verzichtet werden, das heisst beispielsweise, dass der Kommentar zu einem Lemma ausgeschrieben werden kann. Diese Entkomprimierung macht den Artikeltext für den Benutzer lesbarer (vgl. Granger 2012: 3). Ein weiterer Vorteil von elektronischen Wörterbüchern zeigt sich darin, wie der Benutzer seine Suchabfrage gestalten kann; nicht jeder Benutzer benötigt in jeder Situation die gleichen Informationen wie ein anderer Benutzer. Im elektronischen Wörterbuch besteht die Möglichkeit, die Suche zu spezifizieren, zu personalisieren und so diejenigen Informationen zu filtrieren, die in einer bestimmten Situation das Nachschlagebedürfnis des Benutzers befriedigen. Das heisst, dass das elektronische Wörterbuch die Möglichkeit der Reduzierung der sonst stark strukturierten und kondensierten Informationen in Wörterbuchartikeln bietet (vgl. Dziemanko 2012: 321). Ausserdem wird der Suchprozess für den Benutzer dadurch vereinfacht, dass er zu einem gewissen Mass von der alphabetischen Ordnung befreit ist. Dies ist beispielsweise durch die Implementierung von fuzzy searches möglich, also der ‚meinten Sie‘-Funktion, wie sie von der Suchmaschine Google bekannt ist (vgl. de Schryver 2003: 176). Zusammengefasst kann gesagt werden, dass elektronische Wörterbücher vor allem in Bezug auf den Zugriff auf die bereitgestellten Daten über grosse Vorteile verfügen: „[A]ccess to the data can be made more effective (i. e. successful) and efficient (quicker) in electronic dictionaries than in their paper predecessors“ (Lew 2012: 361). Dies hat auch zur Folge, dass Benutzer in elektronischen Wörterbüchern häufiger nachschlagen als in Printwörterbüchern (vgl. Dziemanko 2012: 329 f.). Ausserdem kann der Benutzer jederzeit und ortsunabhängig auf ein Internetwörterbuch zugreifen, was seit der Einführung von Smartphones noch stärker zum Tragen kommt. Dies und die oft preiswerten oder gar kostenlosen Zugriffsmöglichkeiten sind auch der Hauptgrund für die weite Verbreitung von Internetwörterbüchern.  

5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten

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5.2.1.2 Zugriffs- und Verweisstrukturen Wörterbücher werden grundsätzlich punktuell benutzt. Sie werden kaum von Anfang bis Ende linear gelesen. Die Artikel im Wörterbuch sind auf sehr vielfältige und komplexe Weise miteinander vernetzt. Gerade dieser vielfältigen Vernetzung können Printwörterbücher mit ihrer linearen Struktur nur bis zu einem gewissen Grad gerecht werden, da sie aus Platzgründen und zum Zweck der Übersichtlichkeit nur über bestimmte Verweisstrukturen verfügen. Im elektronischen Wörterbuch hingegen können Lemmata je nach Bedürfnis gruppiert und miteinander verlinkt werden (vgl. Müller-Spitzer 2007: 12); die lineare Struktur kann aufgebrochen werden. Das bedeutet, dass bei einem elektronischen Wörterbuch die Verweisstrukturen wörterbuchintern optimiert werden können, einerseits dadurch, dass die einzelnen Artikel stärker miteinander verlinkt werden (z. B. durch anklickbare Hyperlinks), andererseits dadurch, dass bestimmte Artikel auch mit den Wörterbuchaussentexten vernetzt werden können, sodass der interessierte Benutzer problemlos auf zusätzliche Hintergrundinformationen zugreifen kann. Neben der Verlinkung per Hyperlink kann ausserdem eine Volltextsuche in die Software eingebaut werden. Diese erlaubt es, alle Einträge zu finden, in denen die gesuchte Wortform auftritt. Je nach Umsetzung wird dabei nach der tatsächlichen Wortform gesucht (z. B. eine Suche nach Aufenthalter findet nur Aufenthalter) oder es wird nach der Zeichenfolge gesucht (z. B. eine Suche nach Aufenthalter findet auch Jahresaufenthalter) (Simone Ueberwasser, p.c.). Um bei einer Suchanfrage nicht zuviele Treffer zu erhalten, welche die Sicht auf die wesentlichen Treffer versperren, ist es sinnvoll, eine lemmabasierte Suche und eine Volltextsuche zu implementieren. Das heisst, dass man einerseits nur die Treffer abrufen kann, bei welchen das gesuchte Wort als Lemma (Leitlemma oder Sublemma) vorkommt, andererseits diejenigen, in denen das gesuchte Wort auch in Beispielsätzen oder Erläuterungen zu einem Lemma auftritt. Ein weiterer Vorteil des elektronischen Mediums besteht in der Möglichkeit der Verlinkung mit illustrierenden Graphiken, sofern diese dem genuinen Zweck des Wörterbuchs zuträglich sind. Je nach Gegenstand des Wörterbuchs könnte beispielsweise graphisch eine morphologische Analyse des Lemmas dargestellt oder eine etymologische Herkunft illustriert werden. Hiermit wurden bereits Aspekte der Datenpräsentation angesprochen. Speziell was die diatopische Variation anbelangt, bietet sich die Verlinkung zu Karten und Tabellen an, welche die Verbreitung und Vorkommenshäufigkeit eines sprachlichen Ausdrucks pro Region darstellen. Ausserdem kann Audio- oder auch Videomaterial verlinkt werden (vgl. Herbst/Klotz 2003: 252 ff.). So können auch dem Benutzer, welcher der phonetischen Lautschrift nicht mächtig ist, die Aussprachevarianten verdeutlicht werden. Eine weitere Option könnte durch die Implementierung thematisch strukturierter Suchpfade oder einer Art Lesemodus  





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5 Wörterbuchtypen

geboten werden, mithilfe dessen sich der Benutzer sinnvoll geordnet einen Überblick über den Gegenstandsbereich verschaffen könnte, ohne konkret nach einem Lemma zu suchen. Neben den wörterbuchinternen Verweisstrukturen besteht bei Internetwörterbüchern auch die Möglichkeit zu wörterbuchexternen Verweisen, beispielsweise auf ein Korpus (vgl. Klosa 2013: 521). Durch die Zugriffsmöglichkeit auf ein Korpus, das bei der Erstellung des Wörterbuchs als Datenbasis diente, kann Transparenz geschaffen werden. Gerade im Bereich der standardsprachlich-diatopischen Variation erscheint diese Möglichkeit als ausgesprochen reizvoll, da sich der Benutzer selbst ein Bild davon machen kann, welche Variante in welchen Kontexten verwendet wird. Eine Auswahl von wenigen Beispielsätzen – wie dies wegen platztechnischer Beschränkungen in einem Printwörterbuch unabdingbar ist – kann diese Transparenz nur bedingt gewährleisten, da die Auswahl der Beispielsätze meist vom Lexikographen subjektiv getroffen wird. Kann der Zugriff auf ein Korpus aus rechtlichen oder wartungstechnischen Gründen nicht gewährt werden, so kann im elektronischen Wörterbuch ein Lemma dennoch in verschiedenen Benutzungszusammenhängen präsentiert werden, dadurch, dass viele aus dem Korpus gewonnene Beispielsätze angefügt werden (vgl. Granger 2012: 3). Zu mehr Transparenz würden bei korpuslinguistisch fundierten Wörterbüchern zudem auch statistische Angaben zur Vorkommenshäufigkeit der jeweiligen Lemmata führen. Auch dies wäre gerade bei diatopischen Varianten von besonderem Interesse. Als wörterbuchexterne Verweise könnten ausserdem Links zu Texten, die sich mit einem bestimmten Lemma beschäftigen, eingearbeitet werden.

5.2.1.3 Pflege des Wörterbuchs Internetwörterbücher weisen von den elektronischen Wörterbüchern das höchste Innovationspotenzial auf und ihre Bedeutung wird in Zukunft wohl noch mehr wachsen (vgl. Müller-Spitzer 2013: 367). Ein Internetwörterbuch bringt die Möglichkeit mit sich, den Benutzer dazu einzuladen, Artikel zu kommentieren oder auch Rückmeldungen zu einzelnen Lemmata zu machen sowie neue Lemmata zu melden, die zum Gegenstandsbereich des entsprechenden Wörterbuchs gehören. Das Internetwörterbuch bietet folglich die Möglichkeit der Interaktivität. Dieses direkte, explizite Feedback der Benutzer ist ein sehr gutes Instrument, um den Wünschen und Bedürfnissen der Benutzer gerecht zu werden. Feedback kann auch bereits während des lexikographischen Prozesses eingeholt werden, nämlich dadurch, dass ein Internetwörterbuch schon vor seiner Fertigstellung online gestellt wird. Der Benutzer kann dadurch direkt auf den Wörterbuchentstehungsprozess Einfluss nehmen, durch sogenanntes simultaneous feedback (vgl. de Schryver 2013: 548 ff.). Neben dem expliziten Feedback können sich Redaktoren

5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten

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eines Wörterbuchs auf ein implizites Feedback stützen, das anhand sogenannter Log-Files generiert werden kann. Als Log-Files werden automatisch generierte Protokolle bezeichnet, mittels derer das Verhalten eines Benutzers gespeichert und rekonstruiert wird. Das heisst, der Lexikograph kann sich jederzeit vergegenwärtigen, welche Lemmata die Benutzer eines Wörterbuchs besonders häufig nachschlagen, welchen Verweisen sie folgen und nach welchen Lemmata sie vergeblich suchen, da sie noch keinen Eingang in das Nachschlagewerk gefunden haben (vgl. Bergenholtz/Johnsen 2013: 557). Seit dem Aufkommen sogenannter Wikis übernimmt der Benutzer aber nicht mehr nur die wichtige Rolle des Feedbackgebenden, immer häufiger wird er selbst zum kollaborierenden Lexikographen. Die kollaborative Lexikographie kann als die wohl einschneidendste Neuerung in der jüngeren Lexikographie betrachtet werden. Einer der Hauptvorteile derselben besteht – neben der ungeheuren ‚manpower‘, die mit ihr einhergeht – darin, dass sie die Veränderungen in der Sprache nahezu zeitgleich zu dokumentieren vermag. Als Nachteil kollaborativer Wörterbuchprojekte wird allerdings immer wieder ihre ungenügende wissenschaftliche Fundiertheit und mangelnde Qualitätssicherung genannt. Es ist deshalb für zukünftige kollaborative Wörterbuchprojekte ausgesprochen wichtig, präzise Mechanismen für die Qualitätskontrolle zu entwickeln (vgl. Granger 2012: 5). Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass ein grosser Vorteil von Internetwörterbüchern darin besteht, dass sie dynamisch und leicht zu aktualisieren sind. Nichtsdestotrotz darf nicht vernachlässigt werden, dass diese Aktualisierungen trotzdem mit Aufwand verbunden ist, denn es müssen neue Versionen von Programmen und Betriebssystemen installiert sowie veraltete Geräte ersetzt werden. Auch das Wörterbuch selbst respektive die Datenbank muss gewartet werden, das heisst beispielsweise, dass gemeldete Fehler oder auch Neuerungen korrigiert bzw. eingearbeitet und Links zu externen Quellen kontrolliert und allenfalls korrigiert werden müssen (Simone Ueberwasser, p.c.). Dies ist ein Aspekt, der bei der Konzeption eines digitalen Wörterbuchs gut durchdacht sein muss. Meines Erachtens ist diese Problematik der grösste Nachteil digitaler Wörterbücher. Im Gegensatz zum elektronischen Wörterbuch kann ein Printwörterbuch, sobald es publiziert ist, zeitlos bestehen – selbstverständlich veralten die Inhalte, wenn keine Überarbeitungen und Neuauflagen produziert werden. Auch dann hat das Printwörterbuch allerdings noch einen nicht zu vernachlässigenden Wert: Es kann als Sprachstadienwörterbuch, das die Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt abbildet, weiterhin nützlich sein. Dies ist beim Internetwörterbuch nur bedingt möglich.55

55 Eine sehr detaillierte und zukunftsweisende Auflistung weiterer Vor- und Nachteile elektronischer Wörterbücher findet sich in de Schryver (2003).

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5 Wörterbuchtypen

Die Chancen, die sich durch elektronische Wörterbücher auftun, sind nahezu grenzenlos. So beschreibt beispielsweise Grefenstette bereits 1998 das Wörterbuch der Zukunft als „three and four and five dimensional in which information is stored about how each word is used with each other word, and how that pair of words is used with a third word and that triple with a fourth word“ (Grefenstette 1998: 39). Als ein erster Schritt in diese Richtung können sicherlich die Wörterbuchportale betrachtet werden, die im folgenden Teilkapitel genauer beschrieben werden.

5.2.2 Wörterbuchportale Wörterbuchportale stellen eine wichtige Form der Erneuerung dar, die mit den neuen Medien einhergeht. Während der Wörterbuchbenutzer früher unter Umständen in verschiedenen Typen von Wörterbüchern nachschlagen musste, um zu seinem Erkenntnisziel zu gelangen, kann in Wörterbuchportalen aufgrund der implementierten Verweisstrukturen Wissen aus verschiedenen Wörterbüchern gleichzeitig abgerufen werden, was dem Benutzer das Nachschlagen erheblich erleichtert (vgl. Engelberg/Müller-Spitzer 2013: 1023). Das Wörterbuchportal ermöglicht dem Benutzer Zugriff auf mehrere unterschiedliche Wörterbücher, besser gesagt: Zugriff auf einen Wörterbuchverbund. Es ist „ein webbasiertes System, das [...] als eine Menge von miteinander verlinkten Webseiten [...] den Zugriff auf eine Menge von Wörterbüchern anbietet, [...] die auch unabhängig als Einzelwörterbücher genutzt werden können“ (Engelberg/Lemnitzer 2009: 73). Ausserdem besteht bei einigen Portalen die Möglichkeit der Personalisierung des Portals entsprechend den Bedürfnissen des Benutzers. Obwohl in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird, Wörterbuchportale gesondert von enzyklopädischen und lexikologischen Portalen zu betrachten, ist dies nicht immer möglich, da – wie bereits erwähnt – viele Portale immer stärker auch auf Weltwissen bzw. auf lexikologisches Wissen referieren. Daraus entstehen vermehrt Hybride, die Mischformen von lemmabasierten lexikologischen bzw. enzyklopädischen Portalen sowie von eigentlichen Wörterbuchportalen darstellen. Bei der Differenzierung von Wörterbuchportalen in unterschiedliche Typen sind nach Engelberg/Müller-Spitzer (2013: 1026) vier Kriterien ausschlaggebend: 1. Wörterbuchportale unterscheiden sich stark aufgrund ihrer Zugriffsstrukturen (siehe Kap. 4.4.4). Es existieren Wörterbuchportale, die einem Benutzer lediglich über externe Zugriffsstrukturen den Zugang auf die im Portal integrierten Wörterbücher ermöglichen (vgl. Abb. 8, EXT-A). Konkret bedeutet dies, dass der Benutzer zwar eine Auflistung diverser Wörterbücher inklusive Links zu diesen findet, den Inhalt dieser Nachschlagewerke kann er allerdings

5.2 Neue Medien – neue Möglichkeiten

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erst abrufen, wenn er in dem entsprechenden Wörterbuch, also auf der entsprechenden Webseite sucht. Hierbei handelt es sich also einfach ausgedrückt lediglich um Wörterbuchlinklisten. Daneben bestehen aber auch Wörterbuchportale, welche dem Benutzer über gemeinsame externe Zugriffsstrukturen die Möglichkeit bieten, auf die Lemmata aller integrierten Wörterbücher zuzugreifen (vgl. Abb. 8, OUT-A). Und zuletzt gibt es auch Wörterbuchportale, die über interne Zugriffsstrukturen verfügen und entsprechend den direkten Zugriff auf Angaben in den Wörterbuchartikeln erlauben (vgl. Abb. 8, INN-A).

Abb. 8: Typen von Zugriffen auf Wörterbücher und Daten in Wörterbuchportalen (Engelberg/ Müller-Spitzer 2013: 1025)

2.

Einige Wörterbuchportale verfügen über eine sogenannte explizite Vernetzung. Das heisst, die Verweisstrukturen (siehe Kap. 4.4.6) können wörterbuchübergreifend sein, die einzelnen Wörterbuchartikel sind über Hyperlinks miteinander vernetzt, sodass man jeweils zwischen den Wörterbuchartikeln zum selben Lemma in den unterschiedlichen Wörterbüchern hin und her springen kann. Die einzelnen Wörterbücher eines Portals weisen einen hohen Grad an Integrierung auf.

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5 Wörterbuchtypen

3.

Sind in einem Wörterbuchportal innere Zugriffsstrukturen oder explizite Vernetzungen implementiert, so unterhält der Betreiber einen privilegierten Zugriff auf die eingebundenen Wörterbücher. Entweder ist er auch der Eigentümer der einzelnen Wörterbücher oder er besitzt zumindest bestimmte Rechte. Dieses Kriterium kann als Kriterium des Ressourcenbesitzes bezeichnet werden (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 74). Man kann also unterscheiden zwischen Wörterbuchportalen, deren Besitzer gleichzeitig der Inhaber der integrierten Wörterbücher ist, und solchen, bei denen dies nicht zutrifft. Diese Unterscheidung ist oft – aber nicht immer und nicht vollständig – kongruent mit der Unterscheidung von Wörterbuchportalen, welche die digitale Struktur der integrierten Wörterbücher beeinflussen können, und solchen, die diese Möglichkeit nicht aufweisen. 4. Als letztes Kriterium kann der unterschiedliche Umgang mit der Benutzeroberfläche genannt werden. Während die Benutzeroberfläche einiger Wörterbuchportale einheitlich ist, die Benutzeroberflächen der integrierten Wörterbücher also gleich gestaltet sind, ist bei anderen Portalen die Benutzeroberfläche bei jedem einzelnen Wörterbuch anders. Anhand dieser vier Kriterien können drei Typen von Wörterbuchportalen definiert werden. Diese unterscheiden sich jeweils vor allem im Grad der Integrierung in das Portal, also hinsichtlich der funktionalen und inhaltlichen Vernetzung der einzelnen Wörterbücher. Auch hier muss angemerkt werden, dass es sich bei dieser Typologie um Prototypen handelt (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 74). Die drei Typen können als i) Wörterbuchnetze, ii) Wörterbuchsuchmaschinen und iii) Wörterbuchsammlungen bezeichnet werden: i) Wörterbuchnetze weisen den höchsten Grad an lexikographischer Integration der Wörterbücher auf. Diese Integration manifestiert sich in einer einheitlichen Benutzeroberfläche, gemeinsamen internen, externen und äusseren Zugriffsstrukturen sowie direkten internen Verweisen auf die verschiedenen Wörterbücher. Der Besitzer des Wörterbuchportals verfügt über privilegierte Rechte an den integrierten Wörterbüchern oder ist selbst der Besitzer der Wörterbücher (vgl. Engelberg/Müller-Spitzer 2013: 1030 ff.). Als berühmte Vertreter dieses Typs von Wörterbuchportalen können das Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (kurz: OWID)56, das Trierer Wörterbuchnetz57 oder auch canoonet58 genannt werden. Um einen hohen Grad an

56 Vgl. http://www.owid.de . 57 Vgl. http://woerterbuchnetz.de . 58 Vgl. http://www.canoo.net .

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Integrierung der diversen Wörterbücher aufweisen zu können, müssen bei der Entwicklung der inneren Zugriffsstrukturen bereits wörterbuchübergreifende, konkrete Mikrostrukturen berücksichtigt werden (vgl. Engelberg/Lemnitzer 2009: 78). Dies ist unproblematisch bei Wörterbuchportalen wie canoonet, wo eigens zur gegenseitigen Ergänzung weitere Wörterbücher geschaffen wurden und die konkreten Mikrostrukturen entsprechend von Beginn der Konzeption an berücksichtigt werden konnten. Bei anderen Wörterbuchnetzen, wie beispielsweise bei OWID, ist dies schwieriger, da hier unabhängige Wörterbücher zusammengeführt werden. ii) Wörterbuchsuchmaschinen basieren auf einem Index der Lemmata aller integrierten Wörterbücher. Sie verfügen über äusseren und externen Zugriff und sie weisen keine wörterbuchübergreifenden Verlinkungen auf; der Portalund der Wörterbuchbesitzer sind nicht identisch. Das Portal zeichnet sich nicht über eine gemeinsame Benutzeroberfläche aus, auch kann bei Wörterbuchsuchmaschinen die Datenpräsentation stark divergieren. Während einige Suchmaschinen lediglich eine Liste mit Links zu Wörterbuchartikeln zur Verfügung stellen, zeigen andere eine Liste mit ganzen Wörterbuchartikeln an, oder zumindest die Anfänge der Artikel, die sich per Klick vollständig öffnen lassen. Wörterbuchsuchmaschinen verfügen oft über eine überaus grosse Anzahl integrierter Wörterbücher. Der bekannteste Vertreter einer Wörterbuchsuchmaschine ist wohl OneLook59 mit über 1'000 indexierten Wörterbüchern, aber auch das Akademie-Wörterbuchportal60 (vgl. Engelberg/ Müller-Spitzer 2013: 1029 f.). Einige Wörterbuchsuchmaschinen erlauben neben der Suche nach einzelnen Lemmata bereits eine onomasiologische Suche, so beispielsweise das OneLook-Portal. iii) Wörterbuchsammlungen verfügen lediglich über einen externen Zugriff auf die integrierten Wörterbücher. Die Portal- und Wörterbuchbesitzer sind üblicherweise nicht identisch (vgl. Engelberg/Müller-Spitzer 2013: 1028 f.). Als typischer Vertreter von Wörterbuchsammlungen kann beispielsweise Your Dictionary61 genannt werden. Auch die Erlanger Liste62 war früher eine reine Linkliste, unterdessen integriert sie allerdings teilweise Elemente von Suchmaschinen.  



In Abbildung 9 werden die verschiedenen Wörterbuchportale gemäss der obenstehenden Kriterien typologisiert: 59 60 61 62

Vgl. http://onelook.com . Vgl. http://www.woerterbuch-portal.de . Vgl. http://www.yourdictionary.com . Vgl. http://www.erlangerliste.de/ressourc/eltext.html .

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5 Wörterbuchtypen

Abb. 9: Typologie von Wörterbuchportalen (Engelberg/Lemnitzer 2009: 74)

Neben den eben erläuterten vier Hauptkriterien, nach denen sich Wörterbuchportale unterscheiden lassen, gibt es noch weitere Merkmale, die für eine Typologie hinzugezogen werden sollten: die Präsentation der Suchresultate, die beschriebenen Sprachen, die Anzahl der integrierten Wörterbücher sowie das Medium. Neben Internetportalen existieren beispielsweise auch PC-basierte CDROM-Portale, welche m.E. aber von geringerer Bedeutung sind als Internetportale, da sie ein kleineres Innovationspotenzial aufweisen. Ausserdem verfügen viele Computer heute schon nicht mehr über ein CD-Laufwerk. Das bedeutet, dass die CD-ROM-Portale heute wohl schon wieder als Auslaufmodelle eingestuft werden können, sie sind die Vorläufer der Internetportale. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die unterschiedlichen Typen von Wörterbuchportalen verschiedene Strategien verfolgen. Beispielsweise weisen Wörterbuchnetze den höchsten Grad an Integrierung der einzelnen Wörterbücher auf. Überdies bieten sie dem Benutzer sehr differenzierte Suchmöglichkeiten. Ihr Nachteil besteht allerdings in der oft kleinen Anzahl der integrierten Wörterbücher. Daraus könnte geschlossen werden, dass sie möglicherweise nur für eine kleine Benutzergruppe mit einem spezifischen Nachschlagebedürfnis von Bedeutung sind. Wörterbuchsuchmaschinen hingegen bieten eine überaus grosse Anzahl von integrierten Wörterbüchern. Sie sind für jene Benutzer geeignet, die eine möglichst grosse Anzahl von Suchresultaten zur Auswahl erhalten möchten. Hier ist allerdings die Fähigkeit der Nutzer unabdingbar, die gewonnenen Daten evaluieren zu können. Wörterbuchportale repräsentieren eine Entwicklung in der Lexikographie vom einzelnen lexikographischen Werk hin zum benutzerorientierten OnlineService. Die empirische Benutzungsforschung in Bezug auf elektronische Wörterbücher und somit auch auf Wörterbuchportale steckt allerdings noch in den Kinderschuhen, weshalb die Frage danach, inwiefern heutige Wörterbuchportale bereits das Bedürfnis der Wörterbuchportalbenutzer abdecken, verfrüht ist (vgl.

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Müler-Spitzer/Koplenig/Töpel 2012: 425). Es ist ein wünschenswertes Forschungsdesiderat, dieser Frage nachzugehen. Nobody knows how dictionaries will develop in the future, but one direction will probably be the „individualization“ of the lexicographic product, adapting it to the concrete needs of a concrete user in a concrete situation and providing much quicker and easier access to the relevant data. (Tarp 2009: 61)

Was bereits konstatiert werden kann, ist, dass die Wörterbuchportale rege genutzt werden – dies ist an der Anzahl Klicks abzulesen. Daraus kann geschlossen werden, dass eine grosse Nachfrage für Wörterbuchportale besteht (vgl. Engelberg/Müller-Spitzer 2013: 1033). Abschliessend zu Kapitel 5 kann festgehalten werden, dass am Beginn einer jeden Wörterbuchanalyse die Typologisierung des Wörterbuchs stehen sollte. Dadurch kann sich der Analysierende vergegenwärtigen, welche Informationen er im entsprechenden Wörterbuch erwarten darf und welche nicht. Nur mit diesem Vorwissen ist es möglich, eine fundierte Analyse durchzuführen. Meines Erachtens existiert allerdings bis heute noch keine Typologie, die dem Medium angemessene Beachtung schenkt und die gleichzeitig mit der Innovationsgeschwindigkeit der neuen Medien Schritt halten kann. Eine solche Typologie stellt ein dringendes Forschungsdesiderat dar.

Teil II: Wörterbuchanalysen – Standardsprachliche Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache In Teil II der vorliegenden Arbeit werden fünf standardsprachliche Spezialwörterbücher der deutschen Gegenwartssprache eingehend analysiert: Der Schweizerhochdeutsch-Duden (2012) (Kap. 6), das Variantenwörterbuch (2004) (Kap. 7), der Zweifelsfälle-Duden (2011a) (Kap. 8), das Österreichische Wörterbuch (2012) (Kap. 9) und der Rechtschreib-Duden (2013) (Kap. 10). Bei der Auswahl der Wörterbücher waren verschiedene Kriterien ausschlaggebend. Einerseits wurde darauf geachtet, dass mindestens ein Wörterbuch aus jedem der drei Vollzentren des Deutschen einbezogen wird. Für die Schweiz wurde der SchweizerhochdeutschDuden selektiert und für Österreich das ÖWB. Ein Wörterbuch, das explizit die deutschländische Varietät verzeichnet, existiert nicht. Allerdings ist der Rechtschreib-Duden ein Nachschlagewerk, das – wenn auch nicht explizit – das deutschländische Standarddeutsch zur Leitvarietät hat, was nebst seiner Popularität ein Grund für seine Aufnahme ist. Man könnte an dieser Stelle monieren, dass der Schweizerhochdeutsch-Duden ebenfalls im Duden-Verlag erschienen ist und es deshalb problematisch sei, dieses Wörterbuch als Vertreter eines Schweizer Wörterbuchs zu betrachten. Da allerdings die beiden Autoren dieses Nachschlagewerks, Hans Bickel und Christoph Landolt, schweizerischer Herkunft sind, ist es m.E. vertretbar, den Schweizerhochdeutsch-Duden als Schweizer Wörterbuch zu kategorisieren. Für Österreich wurde das ÖWB ausgewählt, da dieses als einziges Wörterbuch offiziell als Binnenkodex Österreichs akzeptiert ist. Ein weiteres Kriterium bei der Selektion der Wörterbücher ist inhaltlicher Art: Der Zweifelsfälle-Duden ist äusserst ergiebig für die vorliegende Arbeit, da es sich bei sprachlichen Zweifelsfällen oft auch um diatopische Varianten handelt. Ausserdem verzeichnet er vornehmlich stilistische und grammatische Zweifelsfälle. Für diese Arbeit ist das von besonderem Interesse, da die anderen Wörterbücher ihren Hauptfokus auf die Lexik legen. Dass das VWB in dieser Untersuchung nicht fehlen darf, ist ebenfalls inhaltlich begründet; es handelt sich bei diesem Nachschlagewerk um das erste Wörterbuch, das sich explizit zum Ziel gesetzt hat, die diatopischen Varietäten des Deutschen symmetrisch abzubilden. Als drittes Kriterium wurde die Aktualität der Nachschlagewerke berücksichtigt. Abgesehen vom VWB entstand keines der untersuchten Wörterbücher nach 2011 bzw. liegt die aktuellste Auflage nicht weiter als 2011 zurück.63 63 Das VWB sowie auch der Zweifelsfälle-Duden sind während der Drucklegung des vorliegenden Buches in einer Neuauflage erschienen.

DOI 10.1515/9783110482263-007

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Teil II: Wörterbuchanalysen

Die Wörterbuchanalysen haben zum Ziel, die einzelnen Werke möglichst umfassend zu beschreiben. So wird der gesamte lexikographische Prozess – soweit dies vom Standpunkt eines Aussenstehenden möglich ist – dargestellt. Es werden der Gegenstandsbereich, die Intention der jeweiligen Lexikographen bei der Erstellung der Nachschlagewerke sowie die jeweiligen methodischen Vorgehensweisen analysiert. Weiter werden formale Aspekte, also die einzelnen Wörterbuchteile inklusive der implementierten Strukturen, genau betrachtet und – wo möglich – auch auf die Adäquatheit für die Abbildung der diatopischen Variation hin beurteilt. In einem nächsten Schritt wird untersucht, inwiefern die einzelnen Wörterbücher diatopische Varianten führen und wie diese gekennzeichnet sind, was anhand der Analyse der diatopischen Markierungen vollzogen wird. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf das Plurizentrizitätsbewusstsein der einzelnen Lexikographen ziehen. Schliesslich wird untersucht, welche Arten von diatopischen Varianten in den einzelnen Wörterbüchern verzeichnet sind. Die derart aufgebauten Wörterbuchanalysen haben zum Ziel, allfällige Optimierungsmöglichkeiten im gesamten lexikographischen Prozess aufzuzeigen.64

64 In einer weiterführenden Arbeit wäre es interessant, zusätzliche Registerangaben bei diatopischen Varianten wie bspw. ‚gehoben, salopp, derb’ zu untersuchen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit musste auf eine solche Analyse verzichtet werden.

6 Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz Der Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (kurz: Schweizerhochdeutsch-Duden) ist das aktuellste variationsorientierte Spezialwörterbuch, das sich mit der schweizerischen Standardvarietät beschäftigt. Das 96-seitige Printwörterbuch wurde im Jahr 2012 vom „Schweizerischen Verein für die deutsche Sprache (SVDS)“ zum 50-Jahre-Jubiläum des „Schweizerischen Dudenausschusses“65 herausgegeben. Die Autoren dieser Duden-Publikation sind Hans Bickel66 und Christoph Landolt. Im Folgenden wird zuerst auf den Gegenstandsbereich (Kap. 6.1), die intendierte Wörterbuchfunktion (Kap. 6.2) und die methodischen Grundlagen und Vorgehensweisen (Kap. 6.3) eingegangen, ehe ich mich in Kapitel 6.4 formalen Aspekten des Schweizerhochdeutsch-Dudens widme. In Kapitel 6.5 werden die diatopischen und diaphasischen Markierungen eingehend untersucht, bevor abschliessend betrachtet wird, welche Art von diatopischen Varianten (z. B. lexikalische, grammatische, phonologische) Eingang in dieses Nachschlagewerk gefunden haben (Kap. 6.6).  

6.1 Gegenstandsbereich Beim Schweizerhochdeutsch-Duden handelt es sich um ein Differenzwörterbuch des Standarddeutschen. Das heisst, dass im Gegensatz zu einem Vollwörterbuch hier nicht der gesamte deutschsprachige Wortschatz aufgenommen ist, sondern lediglich der Teil, der „spezifisch schweizerisch ist oder vom allgemein bekannten, in allen deutschsprachigen Ländern geläufigen Wortschatz abweicht“ (Bickel/Landolt 2012: 7). Es finden sowohl spezifische als auch unspezifische Helvetismen (siehe Kap. 3.1.1) Eingang in den Schweizerhochdeutsch-Duden. Dabei werden „die prägnantesten Helvetismen“ (Bickel/Landolt 2012: 7) verzeichnet, die in standardsprachlichen Texten unmarkiert verwendet werden. Darüber hinaus werden Helvetismen aufgenommen, die zwar in schweizerischen journalisti-

65 Auf die Dudenausschüsse wird in Kapitel 10.3 zum Rechtschreib-Duden noch ausführlich eingegangen. 66 Hans Bickel ist nicht nur Mitautor des Schweizerhochdeutsch-Dudens, sondern selbst auch Mitglied des Schweizerischen Dudenausschusses. Er ist ausserdem Mitherausgeber des VWB (Ammon et al. 2004; siehe Kap. 7) und verfasste einen wichtigen theoretischen Beitrag für den Vorspann des Schweizer Wörterbuchs (Meyer 2006).

DOI 10.1515/9783110482263-008

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schen oder literarischen Texten vorkommen, allerdings von einem informelleren Charakter geprägt sind und somit als ‚mundartnah‘ oder ‚umgangssprachlich‘ eingestuft und markiert werden (vgl. Bickel/Landolt 2012: 7; siehe Kap. 6.5.2).67 Ausserdem werden feste Wendungen und Phraseologismen aufgenommen, es finden sich aber keine Informationen darüber, in welchem Mass dies geschieht. Auf marginale und veraltete Wörter wird bewusst verzichtet (vgl. Bickel/Landolt 2012: 9).68 Insgesamt umfasst der Schweizerhochdeutsch-Duden rund 3'000 Einträge.

6.2 Intendierte Wörterbuchfunktion Beim Schweizerhochdeutsch-Duden handelt es sich – wie im Vorwort zu lesen ist – um eine „Volksausgabe“ (Wyss 2012: 3). So wendet sich das Wörterbuch denn auch an „Schulen aller Stufen“ und „sprachlich Interessierte“ (Wyss 2012: 3). Ziel des Duden-Bändchens ist es, „den Reichtum der schweizerhochdeutschen Besonderheiten [zu] dokumentieren“ (Wyss 2012: 3). Man sollte allerdings zu bedenken geben, dass dieses Wörterbuch m.E. eher für ein nicht-schweizerisches Publikum nützlich ist, da es, wie in Kapitel 6.6 noch ausgeführt wird, lediglich die Bedeutung der lexikalischen Helvetismen erläutert und keine zusätzlichen Informationen bietet – zumindest verhält sich dies in der Wörterbuchartikelstrecke so. Die Bedeutungen der standardsprachlichen Helvetismen dürften dem Schweizer Wörterbuchbenutzer aber mehrheitlich bekannt sein. Auch in den Fällen, in denen der Schweizer Benutzer unsicher über den standardsprachlichen Charakter eines Helvetismus ist, ist der Schweizerhochdeutsch-Duden nur bedingt dienlich: Ist der Helvetismus (unmarkiert) aufgenommen, so gilt er als standardsprachlich. Der Umkehrschluss ist hingegen unzulässig, da nur die prägnantesten Helvetismen Eingang in das Wörterbuch gefunden haben. Ist also das Nachschlageergebnis negativ, kann der Benutzer keinen definitiven Entscheid darüber fällen, ob es sich um einen standardsprachlichen Helvetismus handelt oder nicht. Dieser Aspekt hätte in den Umtexten thematisiert werden können. Stattdessen wird lediglich erwähnt, dass die intendierte Funktion dieses Wörterbuchs einerseits eine textrezeptive ist; es soll Bedeutungserklärungen zu den Helvetismen liefern. Andererseits werde auch eine textproduktive Funktion angestrebt; das Wörterbuch soll ein Hilfsmittel für Personen sein, die „ein korrektes Standarddeutsch schweizeri-

67 Auf die Problematik dieser Markierungen werde ich in Kapitel 11.3 und 11.8 vertieft eingehen. 68 Vereinzelt finden sich allerdings dennoch Wörter mit der Markierung ‚veraltet‘, bspw. das Sparbüchlein oder das Sparheft.

6.3 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise

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scher Prägung schreiben wollen“ (Bickel/Landolt 2012: 7). Daneben will der Schweizerhochdeutsch-Duden Informationen zur Entstehung von Helvetismen sowie zu Besonderheiten der Aussprache und Grammatik geben (vgl. Wyss 2012: 3). Inwiefern dies erfüllt wird, beleuchtet Kapitel 6.6.

6.3 Methodische Grundlagen und Vorgehensweise Bickel und Landolt sind klare Verfechter des Plurizentrizitätsmodells: „[...] Staatsgrenzen sind auch Sprachgrenzen“ (Bickel/Landolt 2012: 8). Die Betrachtung der Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden bestätigt diese Aussage; diatopische Markierungen existieren lediglich auf der nationalen Ebene respektive werden die nationalen Standardvarianten mit den gemeindeutschen Standardvarianten kontrastiert (siehe Kap. 6.5.1). Informationen zur Datenbasis und zur Vorgehensweise bei der Erstellung des Schweizerhochdeutsch-Dudens findet man im Wörterbuch nicht. Dies ist sicherlich einerseits auf den Umfang des Nachschlagewerks zurückzuführen und andererseits auf das Zielpublikum; ein Laie interessiert sich wohl nur marginal für die lexikographischen Prozesse und metalexikographischen Überlegungen, die hinter dem Werk stehen. Als Datenbasis für den Schweizerhochdeutsch-Duden fungierten gemäss Landolt (2013: Interview69) bereits bestehende Wörterbücher: das VWB (2004), der Rechtschreib-Duden (2009a) sowie das Schweizer Wörterbuch (2006). „[Die] Angaben wurden allerdings nicht tel-quel übernommen, sondern immer kontrolliert und sehr oft optimiert bis korrigiert (insbesondere was Übernahmen aus dem Variantenwörterbuch betraf)“ (Landolt 2013: Interview). Die aus anderen Wörterbüchern gewonnenen Helvetismen wurden „soweit nötig“ (Landolt 2013: Interview) mittels einer Google-Recherche überprüft. Elektronische Archive und Korpora wurden nur in seltenen Fällen hinzugezogen. Falls dies als notwendig betrachtet wurde, beriefen sich Bickel und Landolt auf das Korpus Cosmas II.70 Bei Neuaufnahmen in den Schweizerhochdeutsch-Duden war vor allem das eigene Sprachwissen, die Sprachkompetenz der Autoren ausschlaggebend. So wurden beispielsweise „Entdeckungen“ (Landolt 2013: Interview) aus dem sprachlichen Alltag der Autoren mittels Google-Recherchen sowie mittels Cosmas II überprüft und, falls als frequent bestätigt, in das Wörterbuch aufgenommen.

69 Die nachfolgenden Informationen stammen aus Gesprächen, welche die Autorin mit Hans Bickel geführt hat, sowie aus einem schriftlichen Interview mit Christoph Landolt vom 08. 03. 2013. Ich danke beiden herzlich für die bereitwillige Auskunft. 70 Vgl. http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/ .

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

6.4 Zur Form des Schweizerhochdeutsch-Dudens 6.4.1 Wörterbuchaussentexte Der Schweizerhochdeutsch-Duden verfügt sowohl über einen Vor- als auch über einen Nachspann. Im Vorspann wird erläutert, welches Zielpublikum mit dem Werk angesprochen werden soll, was der Gegenstandsbereich und was die intendierte Funktion des Wörterbuchs ist.71 Des Weiteren werden im Vorspann kurz und prägnant einige Einblicke in die linguistischen Grundannahmen der Verfasser gewährt (siehe Kap. 6.3). In einem kurzen Abschnitt, der den Titel „Der Wortschatz des Schweizerhochdeutschen“ (vgl. Bickel/Landolt 2012: 9 f.) trägt, wird erklärt, welche Ausprägungen der semantische Kommentar der Mikrostruktur hat. Am Ende des Vorspanns schliesslich wird ein alphabetisch geordnetes Abkürzungsverzeichnis präsentiert. Im Nachspann findet sich eingangs ein Abschnitt, in welchem Helvetismen aus drei Bereichen („Haus und Haushalt“, „Esswaren“, „Recht“) onomasiologisch der entsprechenden Kategorie zugeordnet sind, innerhalb dieser Bereiche sind die einzelnen Lemmata alphabetisch angeordnet (vgl. Bsp. 5 für den Bereich „Haus und Haushalt“). Direkt anschliessend werden in einem Abschnitt zu „Einflüssen aus anderen Sprachen“ (Bickel/Landolt 2012: 83 ff.) Beispiele für Lehnwörter aus dem Französischen, dem Englischen und dem Lateinischen den entsprechenden Sprachen zugeordnet und alphabetisch aufgelistet. Des Weiteren enthält der Nachspann acht Seiten mit vier inhaltlich geschlossenen Kapiteln zu den Themen „Rechtschreibung“, „Aussprache“, „Betonung“ und „Grammatik“.72 Hier werden jeweils die wichtigsten Unterschiede des Schweizer Standarddeutsch zum gemeindeutschen Standarddeutsch thematisch gegliedert besprochen. Am Ende des Nachspanns wird der Wörterbuchbenutzer schliesslich auf weitere Wörterbücher aufmerksam gemacht, die sich speziell der schweizerischen Standardvarietät widmen. Ausserdem ist eine Bibliographie ausgewählter Literatur zum Schweizer Standarddeutsch angefügt.  

71 Auf die Erwähnung von Textteilen des Vorspanns wie Titel, Impressum und Inhaltsverzeichnis wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet, da sie in allen untersuchten Wörterbüchern, wie erwartet, vorhanden sind. 72 Auf das Kapitel „Grammatik“ wird in Kapitel 6.6 vertieft eingegangen.

6.4 Zur Form des Schweizerhochdeutsch-Dudens

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Bsp. 5: Besonderer Wortschatzbereich „Haus und Haushalt“ im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 82)

6.4.2 Strukturen im Artikelteil Der Schweizerhochdeutsch-Duden verfügt über eine initialalphabetische, glattalphabetische Makrostruktur.73 Da – wie im vorangehenden Abschnitt erwähnt –

73 Da alle untersuchten Wörterbücher initialalphabetisch und nicht finalalphabetisch geordnet sind, wird in der vorliegenden Arbeit im Folgenden unter alphabetischer Struktur stets eine initialalphabetische Struktur verstanden.

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

im Nachspann des Wörterbuchs Helvetismen aus verschiedenen thematischen Bereichen onomasiologisch geordnet auffindbar sind, könnte auf den ersten Blick von einem polyakzessiven Wörterbuch mit mehreren äusseren Zugriffsstrukturen ausgegangen werden. Diese Aussage lässt sich allerdings berechtigterweise anzweifeln: Der Schweizerhochdeutsch-Duden kann zwar deshalb als polyakzessiv bezeichnet werden, weil im Nachspann die Möglichkeit besteht, per Themenbereich nach einem Lemma zu suchen, allerdings wird – obwohl in jenen Listen viele Lemmata aufgeführt werden, die auch im Artikelteil verzeichnet sind – explizit darauf hingewiesen, dass es sich lediglich um eine Auswahl von Lemmata aus den entsprechenden Bereichen handelt (vgl. Bickel/Landolt 2012: 82 ff.). Aus diesem Grund ist es fraglich, ob die Listen tatsächlich als verlässliche äussere Zugriffsstruktur betrachtet werden können oder ob sie nicht eher als ein zusätzlicher Nutzerservice eingestuft werden sollten: Dem Nutzer werden zur Illustration einige ausgewählte Lexeme aus Bereichen, in denen besonders viele Helvetismen auftreten, exemplarisch aufgezeigt. Betrachtet man die Listen auf diese Weise, so könnte man von einem monoakzessiven Wörterbuch mit genau einer äusseren Zugriffsstruktur sprechen. Bei der mikrostrukturellen Ordnung finden sich mehrheitlich einfache Mikrostrukturen, die aus genau einem Formkommentar und einem semantischen Kommentar zusammengesetzt sind (siehe Kapitel 4.4.5). Der semantische Kommentar besteht aus einer Bedeutungserklärung, die folgenderweise realisiert wird: Definition mittels des gemeindeutschen oder des deutschländischen Synonyms, anhand einer Umschreibung oder durch einen Verweis zu einem synonymen Helvetismus (vgl. Bickel/Landolt 2012: 9 f.). Im untenstehenden Beispiel 6 wird die Definition bspw. durch das gemeindeutsche Pendant von Blaukabis beschrieben.  

Bsp. 6: Einfache Mikrostruktur im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 21)

Bei polysemen Lemmazeichen existieren im Schweizerhochdeutsch-Duden ausserdem einfache integrierte Mikrostrukturen, wie in Bsp. 7 gut zum Ausdruck kommt. Im ersten semantischen Subkommentar wird die erste Bedeutung des Lexems erläutert („Berufung einlegen“), darauf folgt in einem weiteren Subkommentar die zweite Bedeutung („auf etw. zurückgehen; Bezug auf etwas nehmen“).

Bsp. 7: Einfache integrierte Mikrostruktur im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 15)

6.4 Zur Form des Schweizerhochdeutsch-Dudens

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Bei festen Wendungen und Phraseologismen wird lediglich die Bedeutung derselben angegeben und nicht jene des Lemmas, unter dem die Wendung oder der Phraseologismus zu finden sind. Deshalb folgt dem Lemma Anschein in Beispiel 8 kein Formkommentar, sondern direkt die feste Wendung den Anschein machen, deren Bedeutung erklärt wird.

Bsp. 8: Wendung im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 15)

Die Verweisstruktur im Schweizerhochdeutsch-Duden ist eindimensional, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann. Es gibt ‚Verweise‘ von Lemmata zu synonymen Lemmata im Wörterbuch. Als Verweissymbol kann die Abkürzung ‚svw.‘ (= soviel wie) betrachtet werden (vgl. Bsp. 9).

Bsp. 9: Verweis im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 49)

Die Abkürzung ‚svw.‘ findet sich allerdings auch in jedem semantischen Kommentar, in welchem ein Lemma mit einem gemeindeutschen oder einem deutschländischen Ausdruck definiert wird. Selbsterklärend wird das ‚svw.‘ in diesen Fällen nicht als Verweissymbol gelesen, da weder Teutonismen noch gemeindeutsche Lexeme im Schweizerhochdeutsch-Duden als Leitlemmata verzeichnet sind. Aus diesem Grund scheint es fragwürdig, bei solchen ‚svw.‘-Hinweisen tatsächlich von Verweisen zu sprechen. Von den Artikeln zu den Wörterbuchaussentexten oder umgekehrt existieren im Übrigen auch keine Verweise. Zwar kommen die im Nachspann onomasiologisch gelisteten Lexeme auch im Wörterbuchartikelteil vor, es wird jedoch kein expliziter Verweis mit einem Verweissymbol konstituiert. Die in Kapitel 6.4.1 erwähnte Bibliographie zu weiteren Wörterbüchern des Schweizer Standarddeutsch sowie zu weiterführender Literatur zum Thema könnte – ginge man von einem sehr weit gefassten Begriff des Verweises aus – als wörterbuchexterne Verweisstruktur betrachtet werden. Verweisursprung wäre dabei der Schweizerhochdeutsch-Duden, Verweisziel die entsprechenden anderen Wörterbücher bzw. die anderen Texte. Da aber unter anderem ein Verweissymbol fehlt, das üblicherweise ein Teil des Verweises ist, würde dies m.E. zu weit führen.

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

6.5 Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden Im Schweizerhochdeutsch-Duden gibt es zwei Arten von Markierungen, die für die vorliegende Arbeit von Interesse sind. Dies sind einerseits die diatopischen Markierungen ‚dtl.‘ (= deutschländisch) und ‚schweiz.‘ (= schweizerisch) sowie die Markierung ‚gemeindt.‘ (= gemeindeutsch) (Kap. 6.5.1), andererseits sind es diaphasische Markierungen, also solche, die auf eine bestimmte Gesprächssituation verweisen bzw. mit bestimmten Sprechstilen korrespondieren (vgl. Koch/Oesterreicher 2011: 15; siehe auch Kap. 6.5.2). Bei den diaphasisch markierten Lemmata stellt sich die Frage, ob die Autoren diese Varianten zum Standard, zum Substandard oder zum Nonstandard zählen und aufgrund welcher Kriterien diese Kategorisierung vorgenommen wird. Als diaphasisch gelten die Markierungen ‚ugs.‘ (= umgangssprachlich) und ‚mundartnah‘.

6.5.1 Diatopische Markierungen Wie erwähnt, werden im Schweizerhochdeutsch-Duden ausschliesslich Helvetismen – sowohl spezifische als auch unspezifische – aufgenommen. Aus diesem Grund ist es interessant, zu untersuchen, welchen Lemmata die Markierungen ‚gemeindt.‘, ‚dtl.‘ sowie ‚schweiz.‘ beigefügt sind. Die Markierung ‚gemeindt.‘/‚gemeindeutsch‘ findet sich in diesem Wörterbuch fünf Mal und zwar ausschliesslich in den Umtexten. Im Vorspann wird darauf hingewiesen, dass eine Möglichkeit der Definition der Helvetismen in diesem Wörterbuch darin besteht, sie mittels ihres gemeindeutschen Pendants zu erläutern (vgl. Bickel/Landolt 2012: 9 f.). Im Nachspann wird im GrammatikKapitel an zwei Stellen darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine bestimmte schweizerische von der entsprechenden gemeindeutschen Variante unterscheidet (vgl. Unterkapitel „Präpositionen“, Bickel/Landolt 2012: 91 f.). Die Markierung ‚deutschl.‘ respektive ‚deutschländisch‘ tritt ebenfalls in den Umtexten auf: In den Kapiteln „Aussprache“ und „Betonung“ wird auf grundsätzliche Unterschiede zwischen dem deutschländischen und dem Schweizer Standarddeutsch aufmerksam gemacht. Ausserdem steht im Vorspann folgender Hinweis: „Wäre eine eigene Definition unnötig aufwendig, wird (in seltenen Fällen) mit einem Teutonismus definiert und die Definition mit ‚soviel wie deutschländisch‘ (abgekürzt: svw. dtl.) eingeleitet, siehe z. B. Achtungsstellung“ (Bickel/Landolt 2012: 9; Hervorheb. i. O.). Aufgrund der Aussage, Teutonismen würden nur in seltenen Fällen zur Definition herangezogen, erstaunt es umso mehr, dass auf nahezu jeder Seite des Artikelteils (mit Ausnahme von drei Seiten) zwischen einer und zehn deutschländische Varianten stehen, die im semantischen Kommentar das jeweilige Lem 





6.5 Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden

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ma erläutern. Als ein Beispiel hierzu kann der Artikel zum Lemma Abstellplatz hinzugezogen werden (vgl. Bsp. 10). Hier wird neben der Bedeutungsumschreibung „Platz zum Abstellen eines Fahrzeugs“ und dem Synonym „Parkplatz“ zusätzlich die deutschländische Variante „Stellplatz“ aufgeführt. Allein für das Verständnis des Lemmas wäre dies nicht nötig.

Bsp. 10: Definition mittels Teutonismus im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 11)

Bemerkenswert ist, dass die deutschländischen Varianten so zahlreich zur Definition herangezogen werden, die österreichischen hingegen nie. Dies könnte damit zusammenhängen, dass das deutschländische Standarddeutsch in der Schweiz das höchste Prestige geniesst (vgl. Sutter 2008: 55 ff.). Andererseits kann diese Praxis darauf zurückzuführen sein, dass das deutschländische Standarddeutsch in der Schweiz medial stärker präsent ist als das österreichische. Ein pragmatischer Erklärungsansatz wiederum könnte darauf abzielen, dass der Duden-Verlag seinen Sitz in Deutschland hat. Hier muss es aber bei Vermutungen bleiben. Die Markierung ‚schweiz.‘ bzw. ‚schweizerisch‘ findet sich – wie zu erwarten – hauptsächlich in den Umtexten, wo die grundsätzlichen Unterschiede von Schweizerhochdeutsch zu den anderen standardsprachlichen Varietäten erläutert werden. Im Artikelteil kommt die Markierung nicht vor, da das Schweizer Standarddeutsch als Leitvarietät fungiert, das heisst, dass schweizerische, standardsprachliche Varianten den unmarkierten Fall darstellen. Anhand der Markierungen wird bestätigt, dass die Verfasser des Schweizerhochdeutsch-Dudens vom Plurizentrizitätsmodell ausgehen (siehe Kap. 6.3) und dass sie eine klare Trennung des deutschländischen und des gemeindeutschen Standarddeutsch vollziehen, was positiv hervorgehoben werden soll. Zwar sollte man eine konsequente Trennung von deutschländischem und gemeindeutschem Standarddeutsch immer dann erwarten dürfen, wenn ein Autor bzw. ein Autorenteam nicht von Deutsch als monozentrischer Sprache ausgeht, dennoch ist dies bedauerlicherweise im Allgemeinen nur selten der Fall. Darauf wird im Verlauf der Arbeit noch eingegangen.

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

6.5.2 Diaphasische Markierungen Da der Schweizerhochdeutsch-Duden grundsätzlich standardsprachliche Helvetismen verzeichnet, wird im Folgenden untersucht, wie diese von den nonstandardsprachlichen abgegrenzt werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie die als ‚umgangssprachlich‘ markierten von den als ‚mundartnah‘ gekennzeichneten Helvetismen unterschieden werden. Als Abgrenzungskriterium für standardsprachliche und nonstandardsprachliche Helvetismen ist bei der Bearbeitung des Schweizerhochdeutsch-Dudens „die Gebrauchsfrequenz in gedruckten und digitalen Medien“ (Landolt 2013: Interview) ausschlaggebend. Ausserdem werden die Textsorten ausgewertet, in welchen die jeweilige Variante vorkommt. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass nonstandardsprachliche Helvetismen aufgenommen werden, die in den entsprechenden Texten lediglich als Mittel zur Erzeugung von Lokalkolorit fungieren (Landolt 2013: Interview). Bei der Abgrenzung von standardsprachlichen und mundartnahen Helvetismen wird die „Einpassung des Wortes oder der Wendung in die standardsprachliche Laut- und Formenstruktur“ sowie wiederum die „Gebrauchsfrequenz in standardsprachrelevanten Textsorten“ (Landolt 2013: Interview) als Kriterium zur Unterscheidung hinzugezogen. Es bleibt allerdings die Frage, was unter ‚standardsprachrelevanter Textsorte‘ zu verstehen ist. Die Durchsicht der mit ‚mundartnah‘ markierten Belege führt zu folgender Erkenntis: Es finden sich Lemmata, die erwartungsgemäss nicht in standardsprachlichen Texten vorkommen, wie beispielsweise das Lemma Büezer (vgl. Bsp. 11). Dass dieses aufgrund der nicht vorhandenen Einpassung des Wortes in die standardsprachliche Laut- und Formenstruktur nicht dem Standard zugeordnet wird, ist nachvollziehbar. Dass es aber frequent in schweizerischen, standarddeutschen Texten gebraucht wird, erstaunt – auch wenn es sich dabei um informellere journalistische und literarische Texte handelt.

Bsp. 11: ‚Mundartnaher‘ Helvetismus im Schweizerhochdeutsch-Duden ohne Einpassung in die standardsprachliche Laut- und Formenstruktur (Bickel/Landolt 2012: 22)

Überhaupt überrascht die hohe Anzahl der mit ,mundartnah‘ markierten Lemmata; mit rund 300 Einträgen machen die mundartnahen Helvetismen einen Zehntel aller aufgenommenen Stichwörter aus. Nicht eindeutig geklärt ist, ob diese Lemmata als sogenannte „Grenzfälle des Standards“ (vgl. Ammon 2005: 35) zu betrachten sind. Der Begriff Grenzfall des Standards selbst wird von Bickel und Landolt als problematisch bewertet und findet deshalb keinen Eingang in ihr

6.5 Markierungen im Schweizerhochdeutsch-Duden

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Wörterbuch. Der Umstand, dass es sich beim Schweizerhochdeutsch-Duden um ein Nachschlagewerk zum Schweizer Standarddeutsch handelt und eine so grosse Anzahl mundartnaher Helvetismen aufgenommen ist, lässt darauf schliessen, dass die Autoren die mundartnahen Helvetismen zum Standard rechnen. Andere als ‚mundartnah‘ markierte Lemmata scheinen von ihrer Laut- und Formenstruktur her in den Standard eingebettet zu sein, beispielsweise das Lemma Aufsteller (vgl. Bsp. 12). Da aber auch dieses als ‚mundartnah‘ gekennzeichnet ist, kann angenommen werden, dass es hauptsächlich in Texten vorkommt, die nicht durchgehend „standardsprachrelevant“ (Landolt 2013: Interview) sind. Auch solche Helvetismen, die von ihrer Laut- und Formenstruktur her in den Standard passen, aber dennoch als ‚mundartnah‘ gekennzeichnet sind, werden in Kapitel 11.3 überprüft.

Bsp. 12: ‚Mundartnaher‘ Helvetismus im Schweizerhochdeutsch-Duden mit Einpassung in die standardsprachliche Laut- und Formenstruktur (Bickel/Landolt 2012: 16)

Des Weiteren wirft die Markierung ‚umgangssprachlich‘ im Schweizerhochdeutsch-Duden Fragen auf: Da in der Deutschschweiz von einer Diglossie-Situation und nicht von einem Standardsprache-Dialekt-Kontinuum ausgegangen wird, verwundert es, dass eine solche Sprachebene im Schweizerhochdeutsch-Duden etabliert wird. Auch muss die Abgrenzung von ‚mundartnah‘ und ‚umgangssprachlich‘ hinterfragt werden. Im Interview bestätigt Landolt die Bedenken der Autorin bezüglich der Markierung ‚umgangssprachlich‘: P.S.: Wurden bestimmte Abgrenzungskriterien zur Unterscheidung von mundartnahen und umgangssprachlichen Helvetismen hinzugezogen? Wenn ja, welche? C.L.: Was verstehen Sie unter dem Unterschied zwischen ‚mundartnah‘ und ‚umgangssprachlich‘? In der Schweiz IST die Mundart die Umgangssprache.

Dennoch finden sich sechs Lemmata mit der Markierung ‚ugs.‘ (vgl. Bsp. 13–18). Bsp. 13:

Bsp. 14:

Bsp. 15:

Bsp. 16:

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

Bsp. 17:

Bsp. 18:

Bsp. 13–18: ‚Umgangssprachliche‘ Helvetismen im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/ Landolt 2012: 21, 24, 24, 24, 27, 80)

Auf diese Lemmata aufmerksam gemacht, erklärten die Autoren, dass die Markierung ‚ugs.‘ dann verwendet werde, „wenn ein Wort zwar nicht dialektal, aber auch nicht ganz standardsprachlich ist“ (Hans Bickel, p.c.). Dass dieses Kriterium hinterfragbar ist, ist Bickel und Landolt durchaus bewusst. An diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, wie komplex die Abgrenzung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Helvetismen ist und dass sich ein Lexikograph oft auch auf das eigene Sprachgefühl berufen muss. Dieses kann sich allerdings eklatant von demjenigen anderer Sprachteilnehmer unterscheiden – die Autorin der vorliegenden Arbeit würde beispielsweise alle obenstehenden Helvetismen eindeutig dem Standard zuordnen. Massgeblichen Einfluss auf die Problematik der Abgrenzung hat sicherlich auch die Dynamik der Sprache, die dazu führt, dass ein nonstandardsprachliches Lexem innert kurzer Zeit den Status eines standardsprachlichen erhalten kann, beispielsweise durch die Präsenz in einer Werbekampagne. Umgekehrt kann einem standardsprachlichen Lexem der standardsprachliche Charakter abgesprochen werden, wenn dieses beispielsweise veraltet und ein moderneres Synonym präsenter wird.

6.6 Art der Varianten Der Schweizerhochdeutsch-Duden behandelt im Artikelteil lexikalische Varianten und Wendungen jeglicher Art und bietet die dazugehörigen Bedeutungserläuterungen. An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass eine grosse Anzahl von Lemmata sich streng genommen lediglich morphologisch von den gemeindeutschen oder deutschländischen Varianten unterscheidet. Damit könnten diese Lemmata auch dem Bereich der grammatischen Variation zugesprochen werden, was die Verzahnung von Lexikon74 und Grammatik ver-

74 Hier ist mit Lexikon nicht das Produkt eines lexikographischen Prozesses gemeint, sondern das Lexikon im allgemeinen Sinne als Beschreibungsebene, die den Wortschatz einer Sprache abbildet, also das mentale Lexikon.

6.6 Art der Varianten

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deutlicht.75 Es gibt zahlreiche Beispiele für unterschiedlich gebildete grammatisch-morphologische Varianten im Schweizerhochdeutsch-Duden (vgl. Bsp. 19– 21). Ausserdem finden sich teilweise grammatische Varianten, die im Schweizerhochdeutsch-Duden als Wendungen behandelt werden, weshalb sie auch nicht systematisch erfasst sind (vgl. Bsp. 22): Bsp. 19:

Bsp. 20:

Bsp. 21:

Bsp. 19–21: Grammatisch-morphologische Helvetismen im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/Landolt 2012: 58; 15; 48)

Bsp. 22:

Bsp. 22: Grammatischer Helvetismus/Wendung im Schweizerhochdeutsch-Duden (Bickel/ Landolt 2012: 14)

Dass grammatische Varianten wie in Beispiel 22 als feste Wendungen betrachtet werden, ist problematisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesen Wendungen um grammatische Muster handelt, die in ähnlicher Weise bei anderen Wortverbindungen vorkommen, ist ausgesprochen hoch. Dadurch, dass die grammatischen Unterschiede als feste Wortverbindungen dargestellt werden, wird ein systematischer Zugriff auf sie verunmöglicht. Beispielsweise findet man im Schweizerhochdeutsch-Duden die Wendung Ende Jahr, es wird aber nicht auf den Artikel zu Anfang Jahr (vgl. Bsp. 22) verwiesen, obwohl hier ganz offensichtlich dasselbe grammatische Muster vorliegt. Abgesehen von den morphologischen Varianten und der grammatischen Variation in festen Wendungen wird zur grammatisch- und phonetisch-diatopischen Variation sowie zur Entstehung der Helvetismen lediglich ein knapper Überblick in den Wörterbuchaussentexten geboten, obwohl im Vorwort angekündigt wird, dass auch diese Informationen bereitgestellt würden. Allerdings muss bei dieser Kritik der Umfang des Wörterbuchs berücksichtigt werden, der einen umfassenderen Überblick nicht zulässt. Auf die lexikalischen Varianten wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, da jedes Lexem und jede Wendung im Schweizerhochdeutsch-Duden grundsätzlich vorkommen kann, sobald die Varian-

75 Zum Verhältnis von Lexikon und Grammatik siehe Eichinger (2011) und Engelberg/Holler/ Proost (2011).

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6 Duden. Schweizerhochdeutsch

te in schweizerischen standarddeutschen Texten unmarkiert verwendet wird. Interessanter ist es, zu untersuchen, welche Informationen zur grammatischdiatopischen Variation im Schweizerhochdeutsch-Duden eingegangen sind – und zwar in der textuellen Rahmenstruktur einerseits und in den Wörterbuchartikeln andererseits. In Bezug auf die grammatischen Informationen innerhalb der Wörterbuchartikel lässt sich konstatieren, dass sie sich auf ein Minimum beschränken. So wird bei den Verben lediglich die Konjugationsart festgehalten, bei den Substantiven der bestimmte Artikel, der Genitiv Singular sowie der Nominativ Plural. Bei den übrigen Wortarten stehen keine grammatischen Informationen, auch konkrete Hinweise auf grammatisch-diatopische Unterschiede finden sich in den Artikeln selbst keine. Das hängt damit zusammen, dass grammatische Varianten – im Gegensatz zu solchen im VWB – nur dann in den Artikelteil aufgenommen werden, wenn das Lexem an sich als schweizerische Variante eingestuft wird. Wenn sich also lediglich die grammatische Markierung vom Gemeindeutschen unterscheidet, wird die Variante nicht im Artikelteil gelistet. Ein Verb wie speisen beispielsweise kommt demzufolge nicht im Artikelteil vor, da seine Bedeutung gemeindeutsch und lediglich die starke Konjugation des Verbs schweizerisch ist. Das Verb beigen hingegen wird sowohl im Artikelteil als auch im Grammatikteil geführt, da sowohl seine Bedeutung als auch die starke Konjugation schweizerisch sind. Dasselbe gilt auch für Substantive, deren Genus sich im Schweizer Standarddeutsch von demjenigen des gemeindeutschen Standarddeutsch unterscheidet wie der Butter oder der Salami. In den Umtexten stehen Informationen zur grammatischen Variation in Form eines kohärenten, in sich geschlossenen Textes. Dieses Grammatik-Kapitel umfasst jedoch nur knapp zwei Seiten. Es wird betont, dass nur einige „prägnante Beispiele“ (Bickel/Landolt 2012: 90) genannt würden, ansonsten begnügt sich das Buch mit dem Verweis auf das Schweizer Wörterbuch von Kurt Meyer (2006). Die Erläuterungen sind untergliedert in vier Unterkapitel: „Verb“, „Substantiv“, „Präposition“ und „produktive Wortbestandteile“. Dabei werden die folgenden Unterschiede grammatisch-diatopischer Varianten thematisiert: – Verben: starke Konjugation bei bestimmten Verben; Hilfsverben bei der Perfektbildung bei Verben der Körperhaltung; Rektion; „abweichende“ (Bickel/ Landolt 2012: 91)76 Präpositionen bei Verben.

76 Es kann moniert werden, dass das Adjektiv ‚abweichend‘ impliziert, dass sich etwas anders von einer gesetzten Normalform unterscheidet. Geht man aber von der Prämisse aus, dass die verschiedenen Standardvarietäten des Deutschen gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander bestehen, so sollte hier ein neutraleres Adjektiv wie beispielsweise ‚unterschiedlich‘ verwendet werden.

6.6 Art der Varianten

– – –

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Substantive: grammatisches Geschlecht; Pluralbildungen; Diminutivbildungen. Präpositionen: Rektion. Produktive Wortbestandteile: Auflistung von 23 speziell im Schweizer Standarddeutsch auftretenden produktiven Wortbestandteile.

Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass der Leser im Schweizerhochdeutsch-Duden zwar einen Überblick darüber erhält, wo grundsätzlich grammatisch-diatopische Variation erwartbar ist, als Nachschlagewerk für konkrete grammatisch-diatopische Phänomene kann er aber nicht dienen. Hingegen ist der Schweizerhochdeutsch-Duden aufgrund seiner Strukturen ein sehr übersichtliches Wörterbuch für die lexikalisch-diatopische Variation des Schweizer Standarddeutsch. Ausserdem ist schon alleine die Tatsache, dass mit diesem Wörterbuch ein Nachschlagewerk geschaffen wurde, das den Titel Duden. Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz trägt, als positiv zu bewerten. Denn dass ein Wörterbuch existiert, das den Markennamen Duden – den viele Sprachbenutzer mit einer normativen Autorität in Verbindung bringen – und gleichzeitig den Begriff Schweizerhochdeutsch im Titel führt, kann das Bewusstsein der Sprachbenutzer stärken. Diese wissen nämlich bis heute oft nicht, dass ein Schweizer Standarddeutsch überhaupt existiert.

7 Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol Das Variantenwörterbuch (kurz: VWB), das im Jahr 2004 erschienen ist, umfasst rund 11'800 Artikel (vgl. Schmidlin 2011: 135). Eine Neuauflage ist derzeit in Arbeit und wird voraussichtlich 2016 publiziert (Karina Schneider-Wiejowski, p.c.). Das VWB ist das erste Wörterbuch, das sich zum Ziel gesetzt hat, die standardsprachlich-diatopische Variation im deutschen Sprachraum symmetrisch umzusetzen. Symmetrisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass in diesem Wörterbuch keine Varietät als Normalvarietät dargestellt wird. Vielmehr werden Varianten aller Zentren des deutschen Sprachraums als solche markiert. Beispielsweise ist das Substantiv Brennspiritus als in Österreich (‚A‘) und Deutschland (‚D‘) gebräuchliche Variante ausgewiesen und das Pendant dazu, das Substantiv Brennsprit, ist mit der Markierung ‚CH‘ versehen. Das VWB entstand zwischen 1998 und 2004 an den drei Projektstandorten Duisburg, Innsbruck und Basel und wurde von Ulrich Ammon, Hans Bickel, Jakob Ebner, Heinrich Löffler, Hans Moser und Robert Schläpfer geleitet (vgl. Bickel 2011: 7). Im Folgenden wird zuerst der Gegenstandsbereich dieses Nachschlagewerks abgesteckt (Kap. 7.1) und die intendierte Wörterbuchfunktion beschrieben (Kap. 7.2), bevor in Kapitel 7.3 auf die dem Wörterbuch zugrunde liegenden theoretischen Prämissen sowie auf die methodischen Grundlagen und die Vorgehensweise bei der Erstellung des VWB eingegangen wird. In Kapitel 7.4 werden die Neuerungen besprochen, die in die noch nicht erschienene Neuauflage eingehen werden. Anschliessend werden formale Aspekte analysiert (Kap. 7.5) und die Markierungen untersucht (Kap. 7.6). Das abschliessende Kapitel 7.7 widmet sich speziell der grammatisch-diatopischen Variation im VWB.

7.1 Gegenstandsbereich Wie der Schweizerhochdeutsch-Duden, so ist auch das VWB ein Differenzwörterbuch des Standarddeutschen, das heisst, es werden nur diejenigen Wörter und Wendungen abgebildet, die nationale oder regionale Unterschiede aufweisen (sowie deren gemeindeutschen Entsprechungen zwecks Bedeutungserläuterung oder als Verweise). Das VWB beschäftigt sich hauptsächlich mit den lexikalischdiatopischen Unterschieden. Wie der Titel des Nachschlagewerks anzeigt, sind

DOI 10.1515/9783110482263-009

7.2 Intendierte Wörterbuchfunktion

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nicht nur Varianten Österreichs, Deutschlands und der Schweiz, sondern auch diejenigen der Halbzentren Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol im VWB verzeichnet. Bei Letzteren werden allerdings – wie Regula Schmidlin, Mitautorin des VWB, erläutert – aus Gründen der Übersichtlichkeit nur spezifische Varianten berücksichtigt; also solche, die auf die jeweilige Nation beschränkt sind (vgl. Schmidlin 2011: 137). Für die als Vollzentren bezeichneten Nationen – Deutschland, Österreich und die Schweiz – werden sowohl spezifische als auch unspezifische Varianten erfasst; also Varianten, die nur einer Varietät zugehörig sind sowie Varianten, die in mehreren Nationen bzw. in Regionen mehrerer Nationen, nicht aber im gesamten deutschen Sprachraum standardsprachliche Gültigkeit haben (siehe Kap. 3.2). Dialektale und umgangssprachliche Wörter und Wendungen sind nur dann gelistet, wenn sie vermehrt unmarkiert – bspw. nicht typographisch durch Anführungszeichen hervorgehoben – in standardsprachlichen Texten vorkommen. Diese sprachlichen Ausdrücke bezeichnen die Autoren des VWB als Grenzfälle des Standards (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 113). Auf fachsprachliche und veraltete Wörter und Wendungen sowie auf Ad-hoc-Bildungen, individualsprachliches Wortgut und drei- und mehrgliedrige Zusammensetzungen wird verzichtet (vgl. Schmidlin 2011: 138). Das VWB enthält zum einen Lemmata, die nur in einer Region vorkommen, zum anderen solche, die sich entweder bezüglich der Orthographie, in der Bedeutung, der Benutzung in bestimmten Situationen, nach Sprach-, Stil- und Altersschicht oder in der Verwendungshäufigkeit vom gemeindeutschen Standard unterscheiden (vgl. Ammon et al. 2004: XI).

7.2 Intendierte Wörterbuchfunktion Das VWB soll, wie im Vorwort zu lesen ist, nicht nur wissenschaftlichen Zwecken dienen, sondern darüber hinaus all jenen ein Hilfsmittel sein, die sich für die deutsche Standardsprache interessieren (vgl. Ammon et al. 2004: IXf.). Ebenda liest man auch, dass das VWB sowohl ein praktisches Nachschlagewerk für Personen sei, die sich beruflich mit der deutschen Sprache beschäftigen, also bspw. für Übersetzer, Journalisten, Werbetexter oder Lehrer, als auch für Sprachteilnehmer, die sich aus einem privaten Interesse heraus mit Deutsch auseinandersetzen, also bspw. für Leser deutscher Literatur, Touristen oder allgemein sprachlich Interessierte jeder Couleur. Wie erwähnt, soll das VWB aber nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Zwecken dienen sowie eine Grundlage für Lexikographen darstellen (vgl. Ammon et al. 2004: IXf.). Spezifisch auf die Schweiz bezogen erwähnen Hans Bickel und Regula Schmidlin ausserdem, dass das VWB der vorherrschenden Tendenz entgegenwirken soll, dass Deutschschweizer Mut-

104

7 Variantenwörterbuch

tersprachler die Eigenvarietät als minderwertig betrachten. Das sprachliche Selbstbewusstsein von Schweizern in Bezug auf die eigene Standardvarietät könne gestärkt werden und zwar dadurch, dass im Muttersprachunterricht – auf der Grundlage des VWB – vermehrt auf die Unterschiede der verschiedenen Varietäten aufmerksam gemacht werde (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 119).

7.3 Theoretische Prämissen, methodische Grundlagen und Vorgehensweise Das VWB geht von der Konzeption der deutschen Sprache als plurizentrischer Sprache aus (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 107). So findet man im Wörterbuchvorspann ein umfangreiches Kapitel, welches das Plurizentrizitätsmodell vorstellt, einschliesslich einer detaillierten Beschreibung der Voll- und Halbzentren des deutschen Sprachraums (vgl. Ammon et al. 2004: XXXIff.).77 Dies ist nicht weiter erstaunlich, da Ulrich Ammon, der das Plurizentrizitätsmodell für den deutschsprachigen Raum differenziert ausarbeitete (siehe Kap. 3.1.1), als Hauptautor dieses Nachschlagewerks fungiert. Für die Erhebung der Daten im VWB wurden verschiedene empirische Methoden angewandt: Zum einen wurden Wörterbücher und Sammlungen diatopischer Varianten wie die beiden Duden-Bände Wie sagt man in der Schweiz? (Meyer 1989) und Wie sagt man in Österreich? (Ebner 1998) gesichtet. Zum anderen wurde ein Korpus von standardsprachlichen Texten erstellt (bestehend aus rund 2'000 Tageszeitungen, Zeitschriften, amtlichen Schriften, Romanen, Erzählungen, öffentlichen Reden sowie Fachmonographien). Diese stammen mehrheitlich aus den 1990er-Jahren, einige Sachtexte reichen allerdings bis in die 1970er-Jahre zurück, belletristische Quellen gar bis in die 1950er-Jahre (vgl. Schmidlin 2011: 144).78 Das Korpus wurde manuell ausgewertet. Konkret heisst das, dass die Projektmitarbeiter jeweils die Texte der Fremdvarietät lasen und alle ihnen auffällig oder unbekannt erscheinenden sprachlichen Ausdrücke aus den Bereichen Lexik, Morphologie, Syntax und Pragmatik markierten (vgl. Bickel 2011: 7). Auf diese Weise ist dem vom Projekt postulierten deskriptiven Ansatz Rechnung getragen worden. Daraus ist eine rund 340'000 Belege umfassende Datenbank entstanden (vgl. Schmidlin 2011: 135).

77 Für die Neuauflage des VWB werden ausserdem die Viertelzentren Rumänien, Namibia sowie das Mennoniten-Deutsch in Amerika berücksichtigt (siehe Kap. 7.4). 78 Eine detaillierte Analyse des VWB-Korpus bietet Schmidlin (2011: 144 ff.).

7.4 Zur Neuauflage des VWB

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Ziel dieser Arbeit sei – so Bickel und Schmidlin – die Präzisierung von regionalen Markierungen bereits kodifizierter Varianten sowie die Ermittlung neuer nationaler Varianten gewesen (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 107). Elektronische Korpora wie Cosmas79 sind vor allem für die Ermittlung der Nennformen von Phraseologismen und ihrer typischen Verwendungsweisen hinzugezogen worden. Ob eine Variante im VWB berücksichtigt wurde, hing letztlich von ihrer Vorkommensfrequenz ab, was jeweils mit der (damals noch existenten) Suchmaschine AltaVista und mit Google überprüft wurde (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 109). Dies war anhand der Endung der url-Adresse möglich, der den Ursprungsort einer Internetseite anzeigt (.ch, .at, .de). Daraus ergab sich die Möglichkeit, spezifisch nach der Vorkommenshäufigkeit in Texten nur einer Nation zu suchen (vgl. Bickel/Schmidlin 2004: 109).80 Des Weiteren sei aber auch „unvermeidlich“ (Ammon et al. 2004: XI) das Sprachwissen der Projektmitarbeiter des VWB für die Aufnahme einer Variante hinzugezogen worden. Wenn eine Variante eher dem Non- oder Substandard zugerechnet werde, sie aber dennoch vermehrt in standardsprachlichen Texten vorkomme, so werde sie als ‚Grenzfall des Standards‘ markiert (vgl. Ammon et al. 2004: XII).81

7.4 Zur Neuauflage des VWB Das Projektteam des VWB arbeitet zur Zeit an einer Neuauflage des Nachschlagewerks. Das Variantenwörterbuch des Deutschen – NEU hat eine „Neubearbeitung, Erweiterung und ein Update“ (vgl. Projekthomepage des VWB)82 zum Ziel. Die wichtigsten Änderungen für die Neuauflage seien – so Andreas Gellan, Mitarbeiter im VWB-Projekt – die Aufnahme von Varianten aus den Viertelzentren des Deutschen (also Varianten Rumäniens, Namibias und des Mennoniten-Deutsch in Amerika) sowie eine Überprüfung der Varianten der Erstauflage, insbesondere der ‚Grenzfälle des Standards‘ und der stilistisch markierten Varianten (Andreas Gellan, p.c.). Des Weiteren müssten „Lücken“ bezüglich der Binnendifferenzierung Deutschlands geschlossen werden, da diese im Jahr 2004 „nur schemenhaft erfasst“ (vgl. Schneider-Wiejowski 2013b: 43) worden sei. Ausserdem werden die

79 Für weitere Informationen siehe http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/cosmas_I/ . 80 Eine detaillierte Evaluation des WWWs als Korpus für das VWB findet sich in Bickel (2011). 81 Für die Neuauflage des VWB wurde die Vorgehensweise bei der Überprüfung und Neuaufnahme von Varianten weiter differenziert (siehe Kap. 7.4). Da die Zweitauflage erst während der Drucklegung des vorliegenden Buches fertiggestellt wurde, bezieht sich die Analyse in dieser Arbeit stets auf die Erstauflage. 82 Vgl. https://vwb.germa.unibas.ch .

106

7 Variantenwörterbuch

Namenartikel entfernt, da Namen im heutigen deutschsprachigen Raum kaum mehr einer bestimmten Region zugeordnet werden könnten (Karina SchneiderWiejowski, p.c.). Auf diese Neuerungen wird im Folgenden ausführlich eingegangen. Ein Novum in der deutschsprachigen Lexikographie stellt die Aufnahme von Varianten aus den sogenannten Viertelzentren des Deutschen dar. Ein Viertelzentrum wird als solches bezeichnet, wenn Deutsch dort nicht als Amtssprache gilt und keine Kodizes der Varietät vorliegen, aber dennoch Modelltexte und Sprachnormautoritäten im Ammon’schen Sinne existieren (vgl. Schneider-Wiejowski 2013a: 118 ff.; siehe auch Kap. 3.2). Für die Neuauflage des VWB werden 41 Varianten aus Namibia, 85 aus Rumänien und 50 Varianten aus dem MennonitenDeutsch Amerikas – genauer gesagt Mexikos – berücksichtigt (Andreas Gellan, p.c., Stand 17. 03. 2015). Varianten aus Rumänien werden als Rumänismen, jene aus Namibia als Namibismen und Varianten aus dem Mennoniten-Deutsch analog dazu als Mennonitismen83 bezeichnet. Wie Karina Schneider-Wiejowski – Projektkoordinatorin des VWB – aber betont, sind dies nicht zwangsläufig die einzigen Viertelzentren des Deutschen.84 Es sei durchaus möglich, dass auch andere Sprachminderheiten über Modelltexte und Sprachnormautoritäten verfügen. Auch sei denkbar, dass Sprachminderheiten sich in Zukunft neu formieren und neue Medien wie Zeitungen gründen, die dann wiederum als neue Modelltexte betrachtet werden könnten (vgl. Schneider-Wiejowski 2013a: 121). Festzuhalten bleibt allerdings, dass die Erforschung von Deutsch in den Viertelzentren bis heute ein Desiderat darstellt. Neben der Aufnahme von Rumänismen, Namibismen und Mennonitismen stellen die Überprüfung der Varianten der ersten Auflage sowie die Neuaufnahme von Varianten der Voll- und Halbzentren die grössten Neuerungen dar. Die Lemmata der Erstauflage des VWB werden hinsichtlich der folgenden drei Punkte überprüft: a) auf die Berechtigung hin, weiterhin im VWB geführt zu werden, also standardsprachlich aber nicht gemeindeutsch zu sein; b) auf die Regionalmarkierungen hin; c) in Bezug auf die stilistischen Markierungen (vgl. Schneider-Wiejowski 2013b: 52).

83 Bei der Benennung der Varianten aus dem Mennoniten-Deutsch Amerikas ist das VWB-Team noch nicht zu einem Konsens gekommen. Neben Mennonitismus wird auch der Begriff Amerikanismus-Mexikanismus diskutiert (Andreas Gellan, p.c.). Ich halte mich im Folgenden an Ersteren. 84 Für mehr Information zur Entwicklung der Viertelzentren des Deutschen siehe SchneiderWiejowski (2013a).

107

7.4 Zur Neuauflage des VWB

Die Verfasser des VWB gehen bei der Beurteilung einer Variante von Ammons normbezogener Auffassung von Standardsprache aus. Das heisst, sie setzen das soziale Kräftefeld, so wie es in Kapitel 2.1.1 beschrieben wurde (bestehend aus Normautoritäten, Kodifizierern/Kodizes, Modellsprechern/-schreibern und Sprachexperten), als ausschlaggebend für die Beurteilung der Standardsprachlichkeit eines Ausdrucks voraus. Schneider-Wiejowski betont, „dass Entscheidungen zur Standardsprachlichkeit von nationalen Varianten des Deutschen nicht aufgrund eines ‚Schwarz-Weiß-Schemas‘ getroffen werden können und eine Vielzahl an Kriterien zu berücksichtigen ist“ (Schneider-Wiejowski 2013b: 43). Ausgehend von Ammons Vier-Instanzen-Modell (siehe Kap. 2.1.1) werden für die Überarbeitung des VWB Sprachexperten – in diesem Fall Regionalexperten – gebeten, die Lemmata der Erstauflage entsprechend ihrem Sprachgefühl auf ihre Standardsprachlichkeit und ihre stilistische Markiert- beziehungsweise Unmarkiertheit hin zu überprüfen. Eine Evaluierung durch eine repräsentative Anzahl von Normautoritäten (z. B. Lehrer) sei aus zeitlichen Gründen nicht möglich (vgl. Schneider-Wiejowski 2013b: 55). Sporadisch seien ausserdem andere Kodizes, z. B. der Rechtschreib-Duden, konsultiert worden (Karina Schneider-Wiejowski, p.c.). Neben dem qualitativen Zugang durch das Hinzuziehen von Regionalexperten wurde zusätzlich ein quantitativer gewählt: eine korpuslinguistische Überprüfung von Modelltexten (der vierten Instanz des sozialen Kräftefelds) anhand der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Datenbank wiso-net (kurz: WISO).85 Über WISO kann auf mehrere Millionen Artikel aus verschiedenen Medien zurückgegriffen werden.86 Die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden ist ideal für die Ermittlung von Varianten, denn das Vertrauen auf das Sprachgefühl von Experten allein könnte zu Fehleinschätzungen führen, gleichzeitig darf man sich auch nicht ausschliesslich auf die quantitativen korpuslinguistischen Methoden bzw. auf Frequenzen und Schwellenwerte verlassen. Letzteres hat unter anderem damit zu tun, dass nicht alle sprachlichen Ausdrücke gleich häufig in Pressetexten verwendet werden. Setzt man einen hohen Schwellenwert an, was in vielen Fällen sinnvoll sein kann, so werden Ausdrücke herausfallen, die beispielsweise aus inhaltlichen Gründen nur selten in Pressetexten  



85 Auch andere Datenbanken seien zur Verfügung gestanden wie die Cosmas-Korpora des Instituts der deutschen Sprache in Mannheim (vgl. http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/ ) oder das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) (vgl. http://www.dwds.de ). Vornehmlich sei aber WISO (vgl. http://www.wiso-net.de ) für die Recherche benutzt worden (Karina Schneider-Wiejowski, p.c.). 86 Bei den Zeitungsquellen verfügt WISO über gut 7 Millionen Artikel aus Schweizer Medien, knapp 15 Millionen Artikel aus der österreichischen Presse, 125 Millionen Artikel aus der deutschen Presse und rund 178'000 Artikel aus Luxemburg (Stand 13. 03. 2015).

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7 Variantenwörterbuch

verwendet werden. Setzt man den Schwellenwert wiederum zu niedrig an, so läuft man Gefahr, dass teilweise auch non- und substandardsprachliches Wortgut aufgenommen wird. Ausserdem finden sich in den Pressetexten immer wieder dialektale und umgangssprachliche Wörter, beispielsweise in der direkten und indirekten Rede oder auch typographisch markiert (z. B. in Anführungszeichen), um Lokalkolorit zu vermitteln. Aus diesen Gründen ist es ausgesprochen sinnvoll, dass sich bei der Überarbeitung des VWB quantitative und qualitative Methoden ergänzen. Dafür entwickelten die Bearbeiter des VWB ein Punktesystem, das bei der Überprüfung der Varianten systematisch angewandt wird und quantitative sowie qualitative Beurteilungen gleichermassen miteinschliesst: Bezogen auf die jeweilige Teilkorpusgrösse im WISO werden ein Schwellenwert und ein Normalwert angesetzt.87 Der Schwellenwert beträgt für Österreich 150, für die Schweiz 50 und für Deutschland 1'000 Belege. Der Normalwert liegt in Österreich bei 12%, in der Schweiz bei 5% und in Deutschland bei 84%. Die tolerierte Abweichung beträgt jeweils 10%, sodass schliesslich ein Normalwert von 10,5% für Österreich, 3,5% für die Schweiz und 73,5% für Deutschland erreicht werden muss. Mindestens einer dieser beiden Werte muss erzielt werden, damit ein Ausdruck überhaupt weiter untersucht wird (Andreas Gellan, p.c.). Für die Punktevergabe zur Bewertung einer Variante werden die folgenden Aspekte beachtet: Lautung, das Vorhandensein einer gemeindeutschen Alternative, die stilistische Markiertheit und schliesslich der prozentuale Anteil der Belege, die in direkter und indirekter Rede stehen oder typographisch markiert sind. Konkret sieht das Punktesystem folgendermassen aus:  

Tabelle 1: Punktesystem für die Beurteilung von Varianten in der Neuauflage des VWB Kriterien für die Punktevergabe a)

Punkte

Werte (Schwellenwert/Normalwert): Schwellenwert und/oder Normalwert müssen erreicht sein, für eine weitere Punktevergabe.

b)

c)

Lautung: dialektal

0

neutral

2

Vorhandensein einer gemeindeutschen Alternative:

87 Im Folgenden wird angelehnt an die Präsentation der Mitarbeiter des VWB Andreas Gellan, Juliane Fink und Andrea Kleene an der Universität Wien (19. 09. 2013) nur auf die drei Vollzentren Bezug genommen.

109

7.4 Zur Neuauflage des VWB

Tabelle 1: Fortsetzung Kriterien für die Punktevergabe

d)

e)

Punkte

gemeindt. Alternative häufiger benutzt

0

gemeindt. Alternative nicht ganz identisch

1

gemeindt. Alternative seltener benutzt

2

gemeindt. Alternative fehlt

3

Stil: markiert

0

unmarkiert

2

gehoben

3

Punkteabzüge für direkte und indirekte Rede bzw. für Markiertheit im Text z. B. durch Anführungszeichen:  

>25 % quoted

-1

>50 % quoted

-2

Der Schlüssel, der entscheidet, welche Ausdrücke zur Standardsprache gerechnet, welche als ‚Grenzfall des Standards‘ markiert und als nicht-standardsprachlich eingestuft werden, setzt sich wie folgt zusammen: Tabelle 2: Bewertungsschlüssel des Punktesystems zur Evaluierung von Varianten im VWB Gesamtzahl der Punkte -1, 0, 1

Löschkandidat

2

Löschkandidat oder Markierung

3

Markierung

4

markierte oder unmarkierte Variante

5, 6, 7, 8

unmarkierte Variante

Als Beispiel kann das Wort Tschick angeführt werden, das in Österreich für das gemeindeutsche Wort Zigarettenstummel benutzt wird.

110

7 Variantenwörterbuch

Tabelle 3: Punktesystem für die Neuauflage des VWB am Beispiel Tschick Tschick

Punktevergabe

Werte

2'020 Belege

Schwellenwert: erreicht Normalwert: erreicht

Lautung

neutral

2

gemeindt. Alternative

gemeindt. Alternative nicht ganz identisch

1

Stil

markiert

0

Punktabzüge