Diakonie und Öffentliche Theologie Diakoniewissenschaftliche Studien [1. Auflage] 9783788731465, 378873146X

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Diakonie und Öffentliche Theologie Diakoniewissenschaftliche Studien [1. Auflage]
 9783788731465, 378873146X

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© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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UlrichH.J.Körtner 

 

Diakonie undÖffentlicheTheologie   DiakoniewissenschaftlicheStudien   

 



  

   

  

 



 Vandenhoeck&Ruprecht © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3146-5 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Elizabeth Morgan-Bukovics, Wien

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Vorwort

Die diakoniewissenschaftlichen Studien dieses Bandes schlagen einen Bogen von Grundfragen und Grundlagen der Diakoniewissenschaft zu praktischen Einzelthemen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fragestellungen der Pflege und der Altenhilfe. Zugleich sind sie als Beiträge zu einer Öffentlichen Theologie zu verstehen, die heute Gegenstand eines breiten interdisziplinären und internationalen Diskurses ist. Die grundlegende These lautet, dass Diakoniewissenschaft, diakonische Ethik und diakonische Theologie grundsätzlich als Gestalt Öffentlicher Theologie zu verstehen sind, ist doch Diakonie gleichermaßen Ort wie Akteur Öffentlicher Theologie. Sie beteiligt sich nicht nur an gesellschaftlichen Diskursen, sondern sie ist zugleich ein Lernort Öffentlicher Theologie, die als Aufgabe diakonischer Bildungsprozesse zu sehen ist. Öffentliche Theologie ist die kritische Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Gesellschaft hinein. Sie beteiligt sich zugleich an den öffentlichen Diskursen über Menschenwürde und Menschenbild, Gerechtigkeit und Solidarität, kurz: an der Diskussion darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Öffentliche Theologie fragt nicht nur nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, sondern auch, wie solche Geltungsansprüche und ihre Begründungen öffentlich kommuniziert werden können. Und schließlich hat sie zu klären, welche Rolle die Kirche in diesen Kommunikationsprozessen spielt. Wenn es zutrifft, dass Kirche wesentlich Diakonie ist, liegt es unmittelbar auf der Hand, dass diakonische Theologie als Öffentliche Theologie zu treiben ist. Zugleich zeigt sich, dass die Probleme Öffentlicher Theologie – etwa die Frage nach der Übersetzbarkeit christlicher Überzeugungen in die säkulare Sprache einer pluralistischen Gesellschaft und die Frage nach dem Verhältnis von Kirche, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft – in der Diakonie heute besonders drängend sind. Das zeigen die Diskussionen um das Schlagwort der diakonischen Identität.

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VI

Vorwort

Diakonische Theologie als Gestalt Öffentlicher Theologie ist eine Suchbewegung und weithin noch ein uneingelöstes Desiderat. An dieser Suchbewegung, möchte sich dieses Buch beteiligen. Lydia Abrell hat gemeinsam mit Mag. Elizabeth Morgan-Bukovics die Druckvorlage erstellt und war ebenso wie Mag. Ulrike Swoboda und Mag. Marcus Hütter bei den Korrekturen behilflich. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank, ebenso Ekkehard Starke vom Verlag, der das Buch in bewährter Weise betreut hat. Gewidmet ist das Buch dem Andenken meines Vaters Günther Körtner (1926–2015), der neben seinem Amt als Gemeindepfarrer mehr als dreißig Jahre das Evangelische Krankenhaus in meiner Heimatstadt Enger geleitet und frühzeitig mein Interesse an Theologie und Diakonie geweckt hat. Wien, 14. August 2016

Ulrich H.J. Körtner

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Inhalt

Vorwort 1 Diakonie und Wissenschaft 1.1 Gegenstand und Aufgabe der Diakoniewissenschaft 1.1.1 Der wissenschaftliche Reflexionsbedarf der Diakonie 1.1.2 Interdisziplinarität und Multidisziplinarität heutiger Diakoniewissenschaft 1.2 Diakonie und Theologie 1.2.1 Die geschichtliche Entwicklung der Diakoniewissenschaft 1.2.2 Die kybernetische Funktion diakonischer Theologie 1.2.3 Ausdifferenzierungsprozesse in Diakonie und Kirche 1.2.4 Die ökumenische Perspektive heutiger Diakoniewissenschaft 1.3 Diakoniewissenschaft und Ethik 1.3.1 Diakonische Ethik 1.3.2 Topische Ethik 1.3.3 Die prekäre Funktion von Ethik in diakonischen Einrichtungen 1.3.4 Güte, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – Grundbegriffe diakonischer Ethik 1.4 Human- und Sozialwissenschaften in der Diakonie 1.4.1 Diakonie und Sozialwissenschaften 1.4.2 Gerechte Teilhabe 1.4.3 Diakoniewissenschaft und Soziale Arbeit 1.5 Diakonik und Ökonomik 1.5.1 Theologie und Ökonomie 1.5.2 Diakonie und Ökonomie

21 25 25 27 29 30 30 32

2 2.1 2.2 2.3

35 35 38 41

Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie Religion im öffentlichen Raum Öffentliche Theologie Engführungen Öffentlicher Theologie © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

V 1 1 1 2 3 3 5 6 10 13 13 15 19

VIII 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Inhalt

Rede von Gott und Religionskritik als Aufgabe Öffentlicher Theologie Öffentliche Theologie und Theologie der Diaspora Öffentliche Theologie und Diakonie Protestantische Perspektiven einer Sozialethik in Europa Sozialethik in der Arbeit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa Evangelische Ethik und ökumenische Ethik Evangelium und Ethik »Pluralismus als Markenzeichen« Freiheit, Liebe und Verantwortung Barmherzigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit Ausblick: europäische Perspektiven evangelischer Sozialethik Christliches Ethos und Gottesliebe Erwägungen zum Doppelgebot der Liebe Das Doppelgebot der Liebe in der biblischen Tradition Systematisch-theologische Fragen Liebe als transmoralische Orientierung Nächstenliebe und Gottesliebe Konsequenzen für die christliche Ethik Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit als Kernbegriffe diakonischer Ethik Diakonische Ethik – eine nichtexklusive Ethik? Inklusives Ethos: biblische Impulse Der Kampf um Anerkennung und die Rechtfertigung des Gottlosen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Inklusion und Exklusion als eine Frage von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Die Logik der Barmherzigkeit und die Logik der Ökonomie Von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt Die Logik der Ökonomie im modernen Gesundheitswesen und im Sozialstaat Abkehr von der unternehmerischen Diakonie? Qualität in der Diakonie Konkretion: Ökonomie und Ethik in der Psychiatrie Die Güte Gottes als Grund und Maßstab diakonischen Handelns © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

44 50 55 57 57 63 66 69 71 73 76 79 79 80 81 82 85 89 89 93 97 102 107 113 113 116 118 120 123 129

Inhalt

7 7.1 7.2 7.3 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 9 9.1 9.2 9.3 9.4 10 10.1 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.4 10.5 10.5.1 10.5.2

IX

MenschenPflege Pflegeethik und christliches Menschenbild Pflegeethik als praktische Anthropologie Christliches Menschenbild Gelingendes Leben?

133 133 138 140

Würde, Respekt und Mitgefühl aus der Sicht der Pflegeethik Verständigung über das Thema Würde, Respekt und Mitgefühl: ethische Werte? Menschenwürde und Autonomie Respekt, Achtung und Anerkennung Mitgefühl und Empathie Zu guter Letzt

147 147 149 151 158 161 163

Seelsorge im Gesundheitswesen Veränderte Rahmenbedingungen für Klinik- und Altenheimseelsorge Konzepte heutiger Krankenhaus- und Altenheimseelsorge Von der Pastoral Care zur Spiritual Care? Seelsorge im Gesundheitswesen – gemeinsame Aufgaben von Klinikseelsorge und Gemeindeseelsorge Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft und die Irritation Demenz Unwürdiges Dasein? Produktive Herausforderung Auseinandersetzung Bewusstsein, Geist und Verstand Subjekt, Person und Identität Autonomie und Abhängigkeit Passivität Verlust und Abschied Resignation Fragment und Vollendung Auf der Suche nach Heimat Inklusion: Die Herausforderung Demenz aus sozialethischer Perspektive Die inklusive Gesellschaft: Utopie oder realistisches Ziel? Inklusion von Menschen mit Demenz – praktische Überlegungen

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165 165 170 176 180 183 183 185 188 188 190 194 199 199 201 204 206 206 206 210

X 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5

Inhalt

Ethik in Altenhilfe und Pflege Umgang mit dem Alter(n): Ethik und Anthropologie Altenhilfe und Pflege im Spannungsfeld von Autonomie und Fürsorge Ethische Fragen in Verbindung mit Aktivitäten des täglichen Lebens Assistive Technologien Ethik am Lebensende

Literaturverzeichnis Nachweise

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215 215 219 222 223 224 229 255

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Diakonie und Wissenschaft

1.1

Gegenstand und Aufgabe der Diakoniewissenschaft

1.1.1

Der wissenschaftliche Reflexionsbedarf der Diakonie

Die Diakoniewissenschaft oder Diakonik ist eine noch relativ junge Wissenschaftsdisziplin. Ihre Geschichte hängt mit der Entwicklung der modernen Diakonie von einem erfahrungsgeleiteten zu einem wissensbasierten Handeln zusammen. Noch immer trifft man auf das Missverständnis, es bestehe zwischen Diakonie als gelebter Praxis des christlichen Glaubens und wissenschaftlicher Theorie eine tiefe Kluft, wobei Theorie grundsätzlich als verkopft und lebensfern beargwöhnt wird. Bis heute gibt es »eine tief greifende, beinahe mythologisch verwurzelte Bewusstseinsspaltung zwischen helfendem Handeln und wissenschaftlichem Reflektieren«1. Der Wandel in der sozialen Arbeit hat jedoch schon längst »zu einem erhöhten Bedarf an professionellen, qualitativ hochwertigen Dienstleistungen« geführt, »für die wissenschaftlich fundierte Kompetenzen nötig sind«2. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung diakonischer Handlungsfelder und Hilfsangebote sowie Prozessen der Dezentralisierung, auf welche diakonische Einrichtungen z.B. mit dem Instrument der mehrdimensionalen Zielvereinbarung reagieren, steigt der wissenschaftliche Reflexionsbedarf weiter. Die zunehmende Mehrdimensionalität diakonischen Handelns, die sich in der Komplexität diakonischer Unternehmensstrukturen und in der von Managementmodellen niederschlägt, verlangt nach einer hinreichend komplexen Theorie der Diakonie, welche zugleich ihre innere Einheit und Identität zu bestimmen erlaubt. 1 2

Haslinger, Diakonie, 22. Haslinger, Diakonie, 22. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1. Diakonie und Wissenschaft

1.1.2

Interdisziplinarität und Multidisziplinarität heutiger Diakoniewissenschaft

Diakoniewissenschaft ist ein praxisorientierter Verbund von unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen aus Theologie, Human- und Sozialwissenschaften sowie der Wirtschaftswissenschaften (Ökonomik). Ihre innere Einheit wird durch ihren Gegenstand, nämlich das diakonische Handeln, geschaffen, dessen Begriff theologisch zu bestimmen ist.3 Diakonisches Handeln ist christliches Hilfehandeln zugunsten von Menschen, die sich in sozialer, physischer oder psychischer Not befinden, und dessen Motivation, Methoden und Zielsetzungen theologisch zu begründen und zu reflektieren sind. Insofern hat die Theologie im Disziplinenverbund der Diakoniewissenschaft eine Grundlegungs- und Steuerungsfunktion. Jedoch ist der interdisziplinäre Charakter der Diakoniewissenschaft hervorzuheben, welcher die theoretische und methodische Eigenständigkeit human- und sozialwissenschaftlicher sowie ökonomischer Wissenschaft gegenüber der Theologie respektiert. Zwar werden die wissenschaftlich zu bearbeitenden Fragestellungen, Themenbereiche und Forschungsschwerpunkte der genannten Disziplinen durch die Erfordernisse diakonischer Praxis generiert und gesteuert, doch geht es nicht um eine christliche Human- oder Sozialwissenschaft oder eine christliche Ökonomik, sondern um Human- und Sozialwissenschaften sowie um Ökonomik im diakonischen Kontext und in diakonischer Perspektive. Auch steht die Diakonik mit Medizin und Pflegewissenschaft sowie Medizin- und Pflegeethik im intensiven Austausch.4 Im Zusammenhang einer umfassenden Bildungstheorie bestehen Verbindungen zwischen Diakoniewissenschaft und Konzeptionen des diakonisch-sozialen Lernens.5 Die Diakoniewissenschaft zeichnet sich durch ihren Querschnitts-, Koordinations- und Verbindungscharakter aus. Sie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, in der die Human- und Sozialwissenschaften sowie die Ökonomik aber nicht in eine Form der Theologie überführt würden bzw. ganz dem theologischen Wissensbegriff und Wirklichkeitszugang untergeordnet würden. Ebenso wenig geht es freilich darum, die theo3

4 5

Einführend siehe Haslinger, Diakonie; Rüegger/Sigrist, Diakonie; Ruddat/ Schäfer (Hg.): Diakonisches Kompendium; Herrmann/Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik; Turre, Diakonik. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus. Vgl. dazu Diakonisches Werk der EKD, Charakteristika, 17ff; Collmar/Rose, das soziale lernen; Schmidt, Diakonisches Lernen, 421–438. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

1. Diakonie und Wissenschaft

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logische Perspektive reduktionistisch in eine human- und sozialwissenschaftliche oder eine ökonomische zu überführen. Die Interdisziplinarität der Diakoniewissenschaft ist vielmehr als Multiperspektivität zu bestimmen, so dass sich die Theologie und die übrigen Wissenschaftsdisziplinen wechselseitig bereichern und befragen. Im Kontext der Diakoniewissenschaft hat die Theologie zwar einerseits eine kybernetische Steuerungsfunktion, andererseits entwickelt sie im Kontext der Diakonie gegenüber der allgemeinen Theologie eine eigenständige Form, die man als diakonische Theologie bezeichnen kann.6 Diakonische Theologie ist eine besondere Form von angewandter Wissenschaft. Das zeigt sich auch daran, dass diakoniewissenschaftliche Studiengänge, auch wenn sie teilweise an theologischen Fakultäten angeboten werden, doch eigenständige Studienangebote neben den üblichen theologischen Studiengängen sind, welch letztere für das Pfarramt oder das Lehramt an Schulen qualifizieren. Diakoniewissenschaftliche Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten enden nicht mit einem fachtheologischen Abschluss, sondern mit eigenen Abschlüssen wie Bachelor oder Master of Arts (M.A.) der Diakoniewissenschaft, Master of Arts »Diakoniemanagement«, »Management in sozialwirtschaftlichen und diakonischen Einrichtungen«, »Gemeindepädagogik und Diakonie« oder Ähnliches sowie Doktor (PhD) der Diakoniewissenschaft. Derartige Studienabschlüsse qualifizieren für den Beruf des Diakons oder der Diakonin oder für Tätigkeiten im mittleren und gehobenen Diakoniemanagement. Die Entwicklung der Diakoniewissenschaft ist also nicht nur als fortschreitende Akademisierung der Diakonenausbildung zu verstehen – analog zur Akademisierung der Pflegeberufe –, sondern sie trägt dem Bedarf nach akademischer Aus-, Fort- und Weiterbildung in allen Bereichen diakonischer Arbeit Rechnung. 1.2

Diakonie und Theologie

1.2.1

Die geschichtliche Entwicklung der Diakoniewissenschaft

Nach wie vor kann die Theologie als grundlegende Bezugswissenschaft der Diakonie gelten, bietet sie doch die Grundlage für die wissenschaftliche Reflexion des christlichen Selbstverständnisses diakoni6

Zur Diskussion vgl. auch Schibilsky/Zitt (Hg.), Diakonie und Theologie; Rüegger/Sigrist, Diakonie, 160ff.; Starnitzke, Überlegungen; Geyer, Diakoniewissenschaft; Anselm, Diakonie. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1. Diakonie und Wissenschaft

schen Handelns. Die Diakoniewissenschaft ist heute eine Teildisziplin der Praktischen Theologie, wenngleich sie nur vereinzelt in theologischen Fakultäten und eher an kirchlichen Fachhochschulen vertreten ist.7 Bereits bei Johann Hinrich Wichern (1808–1881) findet sich die Forderung, die Arbeit der von ihm »Innere Mission« genannten Diakonie müsse auch an den Universitäten ihren Platz finden. Richard Rothe (1799–1867), der das Ende des kirchlichen Zeitalters heraufziehen sah, verstand die freien christlichen Vereine als Sozialform des Christentums der Zukunft und behandelte die Innere Mission innerhalb seiner Ethik, die zugleich eine Geschichtstheorie des neuzeitlichen Christentums war. Es war schließlich Theodor Schäfer (1846–1897), der die Diakonik zwischen Seelsorgetheorie (Poimenik) und Kybernetik in die Praktische Theologie eingliederte.8 Daneben hat es lange den Versuch gegeben, die Diakonik ganz der Poimenik einzugliedern.9 In der Geschichte der Diakonik wurden unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Subjekt der Diakonie gegeben: Sind es Einzelpersonen, besondere Berufsgruppen, oder ist es die Kirche als Ganze? Entsprechend den unterschiedlichen Antwortversuchen »schwankt die Stellung der Praktischen Theologie zur Diakonik zwischen dem Versuch, das Sachanliegen der Diakonie für die pastorale Handlungsfigur zurechtzuschneidern und der wachsenden Erkenntnis, das Subjekt der Diakonie in der christlichen Gemeinde sehen zu müssen«10. Im 20. Jahrhundert wurden in Deutschland eigene wissenschaftliche Einrichtungen für Diakoniewissenschaft geschaffen. 1927 gründete Reinhold Seeberg (1859–1935) an der Humboldt-Universität Berlin das »Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission«. Der Anstoß ging vom Centralausschuß für die Innere Mission aus. Wie die Namensgebung zeigt, wurde die Diakonik nun in den Zusammenhang der Ethik gerückt.11 1954 entstand auf kirchliche Initiative als Nachfolgeinstitution das Heidelberger Diakoniewissenschaftliche Institut, das schließlich in die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg eingegliedert wurde. Letztlich gehört aber auch die Gründung der Theologischen Schule Bethel – heute Kirchliche Hochschule Wuppertal Bethel (Hochschule für Kirche und Diakonie) – durch Frie7 8 9 10 11

Vgl. Strohm, Diakoniewissenschaft, 801–803; Haslinger, Diakonie, 22–24; Lehner, Caritaswissenschaft, 68–70. Schäfer, Diakonik, 158–264. Albert/Philippi, Diakonie III, 658. Albert/Philippi, Diakonie III, 657. Vgl. auch das »Institut für Sozialethik und Diakonie« an der Universität Helsinki. Siehe Albert/Philippi, Diakonie III, 659. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

1. Diakonie und Wissenschaft

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drich von Bodelschwingh im Jahr 1905 zur Geschichte der Diakoniewissenschaft in Deutschland. Ebenso muss die Augustana-Hochschule Neuendettelsau erwähnt werden, die 1947 nach dem Modell von Bethel auf Initiative ihres Gründungsrektors Georg Merz auf dem Gelände der von Wilhelm Löhe gegründeten Diakonissenanstalt Neuendettelsau errichtet wurde, nachdem bereits Hermann Bezzel am Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechende Pläne gefasst hatte, ohne sie selbst verwirklichen zu können. Außerdem gibt es Fachhochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen in diakonischer Trägerschaft wie die 2006 gegründete Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld/Bethel oder das 2009 gegründete International DiaLog College and Research Institute der Diakonie Neuendettelsau in Zusammenarbeit mit der Stadt Fürth. Auch wenn die Diakonik heute allgemein der Praktischen Theologie zugeordnet wird, verdient doch auch ihre Verbindung zur Ethik besondere Aufmerksamkeit. Für Pieter Johan Roscam Abbing gewinnt der ethische Aspekt in der Diakonie erstrangige Bedeutung, weil in ihr alles darauf abgestellt ist, dem Doppelgebot der Liebe zu gehorchen und dem Mitmenschen in seiner Not zu helfen. »Kapselt sich diakonischer Dienst im Gottesdienst ein, so hat man es mit einer Fehlentwicklung zu tun oder es steht überhaupt etwas anderes zur Sprache. Ist die Rede von einer Selbstverwirklichung der Kirche oder des Christen in der Diakonie, so kommt damit eine sekundäre Folge, nicht ihre primäre Zweckbestimmung zur Geltung. Unternimmt man eine dogmatische Sinngebung, so kann es sich dabei nur um eine dogmatische Ortsbestimmung des Ethischen handeln.«12 Dem ethisch bestimmten Tun darf es nach Abbings Überzeugung allerdings »nicht um Verdienst, um eigene Werkgerechtigkeit oder Selbstverwirklichung gehen. Im Mittelpunkt steht der Samariterdienst an dem unter die Räuber gefallenen Mitmenschen.«13 1.2.2

Die kybernetische Funktion diakonischer Theologie

Schleiermacher hat die Theologie als praktische Wissenschaft definiert, und zwar als »Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment

12 13

Abbing, Diakonie II, 644. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1. Diakonie und Wissenschaft

nicht möglich ist«14. In diesem Sinne hat die Theologie auch für die Diakonie eine kybernetische Funktion. Theodor Strohm erklärt, die Diakoniewissenschaft entfalte sich »inmitten der herkömmlichen theologischen Disziplinen«15. Sie ist nach diesem Verständnis also eine Dimension der Theologie in all ihren Teildisziplinen. Mit dem Wandel diakonischer Arbeit und den entsprechenden Veränderungen ihrer Organisations- und Managementstrukturen geht freilich eine Neubestimmung der kybernetischen Funktion von Theologie in der Diakonie einher, die sich in der Entwicklung der Diakoniewissenschaft widerspiegelt. Sozialwissenschaften und Ökonomik sind heute nicht länger bloße Hilfswissenschaften der Theologie, sondern stehen gleichberechtigt neben der Theologie als Bezugswissenschaften der Diakonik. Die Aufwertung von Human- und Sozialwissenschaften sowie der Ökonomik gegenüber der Theologie darf freilich nicht zur Enttheologisierung der Diakoniewissenschaft und der institutionalisierten Diakonie führen. Diese »kann es sich bei Gefahr ihrer fahrlässigen Selbstliquidierung nicht auf Dauer leisten, dass sie einerseits ständig die christliche Qualität ihrer Hilfeleistungen als spezifisches Profil gegenüber anderen Trägern sozialer Arbeit beschwört, dass sie aber andererseits nichts investiert in die verlässliche Absicherung dieser ideellen Ressource, d.h. dass sie das kontinuierliche Bemühen um die theologische Vergewisserung, worin nun eigentlich die christliche Qualität diakonischer Praxisformen besteht, nicht systematisch in ihre Strukturen und alltäglichen Arbeitsformen einbaut«16. Theologie in der Diakonie bzw. in der sozialen Arbeit muss von der Gleichsetzung von Theologie und Diakonik allerdings unterschieden werden. Eben darum plädiere ich für ein multidisziplinäres und integratives Modell von Diakoniewissenschaft, das auch aus der jüngeren Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Diakonie die notwendigen theoretischen Konsequenzen zieht. 1.2.3

Ausdifferenzierungsprozesse in Diakonie und Kirche

Sowohl die Gemeindediakonie als auch die Anstaltsdiakonie waren in ihren Anfängen rechtlich und organisatorisch fest in die Kirche eingebunden, ihre Leitung lag in Händen von Theologen. Landeskirchen 14 15 16

Schleiermacher, Kurze Darstellung, 2. Strohm, Ist Diakonie lehrbar?, 148. Haslinger, Diakonie, 307. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

1. Diakonie und Wissenschaft

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und EKD haben diakonische Werke gegründet, in denen auch die großen diakonischen Unternehmen Mitglieder sind. Auch in dienstrechtlicher und tarifpolitischer Hinsicht ist die Diakonie in Deutschland nach wie vor ein Teilsystem der Kirche. Sie unterliegt dem gesetzlich garantierten Tendenzschutz, auch auf europäischer Ebene (europäische Dienstleistungsrichtlinie). Allerdings finden in Kirche und Diakonie – soziologisch betrachtet – wie in anderen gesellschaftlichen Systemen auch seit längerem Prozesse der Ausdifferenzierung statt, mit denen Tendenzen zur Verselbständigung der Diakonie gegenüber den Landeskirchen und den Kirchengemeinden verbunden sind.17 Liegen die Anfänge der Diakonie, modern gesprochen, in zivilgesellschaftlichen Initiativen von Einzelpersonen, Vereinen und Kirchengemeinden, so hat im 20. Jahrhundert verstärkt eine organisatorische Ausgliederung diakonischer Tätigkeitsfelder und Einrichtungen stattgefunden. Beispielsweise wurden Krankenhäuser, die ursprünglich in Trägerschaft einer Kirchengemeinde standen, als eigene Betriebe ausgegliedert. Die Arbeit der Gemeindeschwester wurde durch eigenständige Diakoniestationen abgelöst. Diakonische Einrichtungen entwickelten sich von Anstalten zu modernen Wirtschaftsunternehmen und Konzernen, deren Organisationsstruktur und Management sich von der parochialen Gliederung, dem Organisationsaufbau und der Leitung von Landeskirchen grundlegend unterscheiden. So »lockert sich die bereits lose Klammer, die Kirche und Diakonie bisher verband – ein Sachverhalt, der sich nicht zuletzt im abnehmenden Steuerungseinfluss der Spitzenverbände zeigt, die bis dato als eine zentrale Schnittstelle zwischen Anstaltsdiakonie und verfasster Kirche fungieren«18. Auch innerhalb der Diakonie selbst gibt es Spannungen zwischen Verbandswesen, ökonomischen Unternehmen und Konzernbildungen sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationsformen. An der Leitbildentwicklung der vergangenen Jahrzehnte lassen sich die Auswirkungen der organisationalen Veränderungen auf das Selbstverständnis der Diakonie ablesen. So bezeichnet das Leitbild des Diakonischen Werkes der EKD die Diakonie nicht nur als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, sondern erklärt programmatisch: »Wir sind Kirche«19. Wird Diakonie als eigenes soziales System verstanden, so 17 18 19

Vgl. dazu Starnitzke, Diakonie als soziales System. Maaser, Evangelische Diakonie, 250. Leitbild Diakonie, 8 (http://www.diakonie.de/media/Leitbild.pdf [letzter Zugriff am 2.3.2016]). Das Leitbild Diakonie wurde von der Diakonischen Konferenz auf ihrer Sitzung am 15. Oktober 1997 in Bremen angenommen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1. Diakonie und Wissenschaft

kann man mit Fug und Recht davon sprechen, dass sich Diakonie und Kirche heute als voneinander verschiedene soziale Systeme gegenüberstehen, die sich im Sinne der funktionalen Systemtheorie Luhmanns wechselseitig wie System und Umwelt zueinander verhalten. Es ist daher unterkomplex, wenn in Leitbildern diakonischer Unternehmen und Werke oder in Veröffentlichungen zur diakonischen Theologie noch immer pauschal und undifferenziert von der Kirche als Subjekt diakonischen Handelns gesprochen wird. Diese These wird durch den Hinweis auf das kirchliche Selbstverständnis der Diakonie keineswegs entkräftet. Wenn sich Diakonie programmatisch als Kirche und nicht etwa nur als Teilgestalt der Kirche definiert, tritt neben die konfessionelle Pluralität von Kirche und Christentum eine funktionale. Kirche differenziert sich in unterschiedliche funktionale Erscheinungsformen aus, die durch unterschiedliche soziale Systeme repräsentiert werden, deren Eigenständigkeit auch die wissenschaftliche Theoriebildung Rechnung tragen muss, so sehr zwischen Kirche und Diakonie auch weiterhin organisationale Verbindungen bestehen mögen. Blickt man in andere Länder, z.B. die Schweiz, so sieht man, dass die Emanzipation der Diakonie von der Kirche teilweise noch weiter vorangeschritten ist, freilich um den Preis, dass der kirchliche oder christliche Charakter ehemals kirchlicher Einrichtungen zunehmend fraglich geworden ist.20 Damit einhergehend stellt sich auf der Ebene diakonischer Praxis die Frage, ob die Diakonie in ihrer helfenden Zuwendung zum Einzelnen auch auf die Liturgie des Glaubens Bezug nehmen kann und vielleicht sogar muss, oder ob, wie Johannes Degen behauptet, »kirchliche Handlungen und formale Merkmale (z.B. Kirchenzugehörigkeit)« für die »diakonische Markenidentität« völlig »sekundär« sind.21 Dies ist gegenwärtig eine der zentralen Fragen diakonischer Theologie. Richtig ist aber zweifellos, dass das christliche Profil und die christliche Qualität diakonischer Arbeit nicht primär über dienstrechtliche Anforderungen an die Kirchenzugehörigkeit und die Religiosität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sichergestellt werden kann, wie es z.B. das Qualitätshandbuch der »proCum Cert GmBH«, einer von mehreren kirchlichen Organisationen getragenen Zertifizierungsgesellschaft, nahelegt.22 20 21 22

Zur Entwicklung in der Schweiz siehe Stückelberger, Ethische, ekklesiologische und ökonomische Herausforderungen, 185–202. Degen, Diakonie als Unternehmen, 235 mit Anm. 16. Vgl. dazu auch Hermelink, Kirche als Diakonie, 28. Vgl. die Kritik bei Haslinger, Diakonie, 304. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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In Deutschland legt die Loyalitätsrichtlinie von 2005 fest, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diakonischen Einrichtungen in der Regel der evangelischen Kirche oder einer Mitgliedskirche der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen angehören müssen.23 Ein Kirchenaustritt ist in der Regel ein Kündigungsgrund. In Ostdeutschland könnten viele diakonische Einrichtungen jedoch gar nicht bestehen, wenn von dieser Richtlinie nicht beständig Ausnahmen gemacht würden. Auch in Westdeutschland ist die Einhaltung der Loyalitätsrichtlinie zunehmend ein Problem. Schon rechtlich ist es ein Problem, wenn die Ausnahme durch ihre massenhafte Anwendung zur Regel wird. Manche fordern daher, die bisherige Regelung aufzugeben.24 Die Kirchenzugehörigkeit soll nach ihrer Auffassung für die Tätigkeit in einer evangelischen Einrichtung – sei es der Diakonie oder sei es der Kirche –grundsätzlich keine Rolle mehr spielen. Ausgenommen blieben Personen, die in der Verkündigung, in der Seelsorge oder in der evangelischen Bildung tätig sind oder in anderer Weise für die christliche bzw. evangelische Identität einer Einrichtung besondere Verantwortung tragen.25 Alle anderen Mitarbeit wäre lediglich in dem Sinne zur Loyalität, dass sie sich vertraglich verpflichten, den kirchlichen oder diakonischen Auftrag zu beachten und die ihnen übertragenen Aufgaben im Sinne des Trägers erfüllen. Die Verantwortung für die evangelische und diakonische Identität kirchlicher und diakonischer Einrichtungen liegt demnach bei den kirchlichen und diakonischen Anstellungsträgern – wobei freilich dann wieder die Frage auftaucht, welche Personen konkret diese Verantwortung übernehmen und wie es um ihre Kirchenmitgliedschaft bestellt ist. Grundsätzlich muss man sich über die ekklesiologischen Fragen im Klaren sein, welche die angesprochenen Entwicklungen im Bereich der Diakonie aufwerfen. Will man an der Regel festhalten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Normalfall der evangelischen Kirchen angehören sollen, muss sich die Diakonie aus vielen Tätigkeits- bzw. Geschäftsfeldern des Sozialmarktes zurückziehen. Bislang diakonische Einrichtungen könnten, wie in der Schweiz geschehen, aus ihrer kirchlichen Trägerschaft herausgelöst werden. Sie hätten dann noch eine kirchlich-diakonische Geschichte, die zu ihrer Identität gehören mag, 23

24 25

§ 3 der Richtlinie des Rates über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 1. Juli 2005 (ABl. EKD 2005, 413). So z.B. Joussen, Die neue Gretchenfrage. Zur Unternehmenskultur diakonischer Einrichtungen siehe Hofmann (Hg.), Diakonische Unternehmenskultur. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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würden aber nicht mehr im strikten Sinne als Funktion der Kirche oder gar als eine Gestalt von Kirche gelten. Wenn man den gemäßigteren Weg geht, den die EKD und die diakonischen Werke und Unternehmen in Deutschland eingeschlagen haben, der auf eine gemäßigte Anpassung der Loyalitätsrichtlinie an die heutigen Gegebenheiten hinausläuft, ohne die Regelanforderung der evangelischen Kirchenmitgliedschaft ganz zu streichen, bleibt dennoch die Frage nach dem ekklesialen Charakter diakonischer Einrichtungen. Was macht ihr Kirchesein aus, wenn es nicht mehr mehrheitlich über die Kirchenzugehörigkeit der Mitarbeiterschaft begründet ist? Nun kann man an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Organisation einführen.26 Johannes Fischer unterscheidet folgendermaßen: »Die Institution der Kirche wird konstituiert durch die genuin kirchlichen Ämter Verkündigung, Seelsorge, Unterricht, Diakonie und Kirchenleitung, durch die sich das vermittelt, was die Kirche in ihrem Wesen ausmacht. Die kirchliche Organisation ist demgegenüber – wie jede Organisation – durch die Ziele definiert, die sie verfolgt und um deretwillen es sie gibt.«27 Organisationstheoretisch kann man die Kirchlichkeit diakonischer Einrichtungen durchaus auch dann begründen, wenn eine große Zahl an Mitarbeitern nicht der evangelischen Kirchen angehört. Doch wenn man das Kirchesein ekklesiologisch, d.h. systematisch-theologisch bestimmen soll, wird die Sache schon schwieriger. Folgt man der klassischen Definition in Confessio Augustana 7, dann ist die Kirche die Versammlung aller Gläubigen, in welcher das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente stiftungsgemäß gereicht werden.28 Hier haben wir es nun mit einen theologischen Begriff von Kirche als Institution zu tun, der auf dem Gedanken der Priesterschaft aller Gläubigen bzw. aller Getauften beruht. Dies zeigt noch einmal, wie sehr die Ausdifferenzierungsprozesse in Kirche und Diakonie weiterer theologischer Reflexion bedürfen, die als Aufgabe nicht nur der Systematischen Theologie, sondern auch der Diakoniewissenschaft wahrzunehmen ist. 1.2.4

Die ökumenische Perspektive heutiger Diakoniewissenschaft

Ein besonderes Thema diakonischer Theologie ist die ökumenische Dimension diakonischen Handelns. Sie spielt in der Geschichte der 26 27 28

Vgl. Preul, Kirchentheorie, 204ff. Fischer, Sittlichkeit und Rationalität, 370. BSLK 61,3–5. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ökumenischen Bewegung von Beginn an eine tragende Rolle, ist doch eine ihrer Wurzeln die Bewegung für Praktisches Christentum (»Life and Work«). Auch in Zeiten, in denen auf dem Gebiet ökumenischer Lehrgespräche kaum große Erfolge und Durchbrüche zu feiern sind, gibt es doch erfreuliche Beispiele für die Kooperation der Kirchen auf diakonischen und gesellschaftspolitischen Handlungsfeldern. Wenn es um Flüchtlingshilfe, Asylrecht und Armutsbekämpfung, um Katastrophenhilfe und die Forderung nach Gerechtigkeit geht, findet eine gute und inzwischen für selbstverständlich gehaltene Zusammenarbeit zwischen den Kirchen wie auch zwischen Diakonie und Caritas statt. Auch auf dem Gebiet der Diakonik gibt es Kooperationen zwischen evangelischer Diakoniewissenschaft und katholischer Caritaswissenschaft.29 Neue Impulse für die offenkundig in einer Orientierungskrise steckende ökumenische Bewegung erhofft sich der evangelische Sozialethiker Heinrich Bedford-Strohm von einer »ökumenischen Soziallehre von unten«, die sich am konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sowie an den immer zahlreicher werdenden ökumenischen Sozialworten und Stellungnahmen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage festmachen lasse. Abgesehen von einem hohen Maß an inhaltlicher Übereinstimmung setze auch die ethische Methodologie solcher bi- und multilateralen kirchlichen Stellungnahmen Maßstäbe. Traditionelle konfessionelle Prägungen wie die Alternative zwischen biblischer Ethik und naturrechtlich geprägter Vernunftorientierung würden zugunsten einer neuen »Komplementarität« von biblischer Begründung und Vernunftbegründung überwunden.30 Schaut man ein wenig genauer hin, sollte man mit dem Begriff der Komplementarität ethischer Begründungsmodelle allerdings etwas vorsichtiger umgehen. Von einer einheitlichen ökumenischen Methodik ethischer Urteilsbildung kann jedenfalls derzeit noch keine Rede sein. Die bisherigen von konfessionell verschiedenen Kirchen verantworteten Stellungnahmen wählen in Bezug auf ethische Grundsatzfragen durchaus unterschiedliche Zugangsweisen und lassen auch Spannungen auf der Begründungsebene erkennen. Zutreffend urteilt der katholische Sozialethiker Helge Wulsdorf: »Wenngleich sich die Themenfelder der beiden konfessionellen Sozialethiken mittlerweile weitestgehend als konvergent erweisen, lässt sich nicht leugnen, dass 29 30

Anerkennung verdient z.B. die ökumenische Ausrichtung des Lehrbuchs von Herbert Haslinger, Diakonie (2009). Vgl. Bedford-Strohm, Freiheit und Verbindlichkeit, 408. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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gerade bei der Grundlagen- und Methodenreflexion weiterhin unterschiedliche konfessionelle Traditionen zum Tragen kommen.«31 Auch die in der Konsensökumene beliebte Formel vom »differenzierten Konsens« klingt daher allzu wohlfeil, wenn es darum geht, verbleibende konfessionelle Unterschiede in der Methodologie christlicher Sozialethik zu erklären.32 Zwar glaubt auch der katholische Theologe Wolfgang Thönissen Komplementaritäten zwischen evangelischer und katholischer Sozialethik zu beobachten, doch könnten diese ökumenisch bedeutsamen Konvergenzen nicht über die fortbestehenden fundamentalen Differenzen im Kirchenverständnis hinwegtäuschen. »Die nicht gelöste Kontroverse hinsichtlich der Träger des Lehramtes sowie der lehramtlichen Verantwortung in Fragen der Glaubens- und der Sittenlehre zeigt die Grenzen der erzielten Verständigungen unmittelbar auf […] Ob in diesen Fragen überhaupt ein differenzierter Konsens möglich ist, läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur als Problemanzeige formulieren.«33 Studiert man z.B. das Schreiben der römischen Glaubenskongregation vom Juli 2007 zu einigen Fragen der katholischen Lehre über die Kirche, ist allerdings Skepsis angebracht. Dass die institutionellen Abgrenzungen der Kirchen voneinander an Bedeutung verlieren, wenn man sich auf das gemeinsame Zeugnis in Wort und Tat besinnt, wie Wolfgang Huber hofft, klingt zu optimistisch. Eher ist zu befürchten, dass die fundamentalen Differenzen in der Ämterfrage und im Kirchenverständnis die Konsenssuche auch auf ethischem Gebiet erschweren. Mögliche Unterschiede zwischen evangelischer, katholischer und orthodoxer Ethik betreffen nicht nur die fundamentalethische oder die materialethische Ebene, sondern auch das methodische Verfahren der ethischen Urteilsbildung.34 Was katholische und evangelische Ethik heute unterscheidet, ist die unterschiedliche Diskurskultur, die sich auf die bereits angesprochenen Differenzen im Kirchen- und Amtsverständnis sowie die Rolle des kirchlichen Lehramtes in der katholischen Kirche und für die katholische Universitätstheologie zurückführen lässt. 31 32 33 34

Wulsdorf, Auf dem Weg, 28. Von einem differenzierten Konsens in der christlichen Sozialethik spricht z.B. Thönissen, »… zum Leben ermutigen…«, 117f. Thönissen, »… zum Leben ermutigen…«, 116. Vgl. dazu auch das 1996 veröffentlichte Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-Katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen, Der ökumenische Dialog, 362ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Wie die theologische Sozialethik bedarf auch die Diakoniewissenschaft heute der ökumenischen Zusammenarbeit. Der ökumenische Dialog lässt den Pluralismus der Konfessionen freilich nicht hinter sich, sondern hat ihn gerade zur Voraussetzung. Darum können auch ökumenische Sozialethik und Diakoniewissenschaften nicht jenseits der konfessionellen Unterschiede, sondern nur multiperspektivisch betrieben werden.35 Damit wird nicht zuletzt der Tatsache Rechnung getragen, dass Diakonie und Caritas trotz der oben beschriebenen Ausdifferenzierungsprozesse weiterhin rechtlich und organisatorisch mit ihrer jeweiligen Kirche verbunden sind. Damit geht einher, dass es bei aller ökumenischen Gemeinsamkeit unterschiedliche konfessionelle Kulturen diakonischer Arbeit gibt. Auch darf nicht ignoriert werden, dass die Kirchen unbeschadet ihrer ökumenischen Bemühungen um Einheit auf dem Sozialmarkt miteinander konkurrieren. 1.3

Diakoniewissenschaft und Ethik

1.3.1

Diakonische Ethik

Innerhalb der Theologie steht die Diakoniewissenschaft nicht nur in einem engen Verhältnis zur Praktischen Theologie und ihren Teildisziplinen, sondern auch zur Ethik als Teildisziplin der Systematischen Theologie. Von Haus aus ist Ethik freilich keine exklusiv theologische Disziplin, sondern eine Disziplin der Philosophie. Diakoniewissenschaft muss sich daher auch über das Verhältnis zwischen philosophischer und theologischer Ethik klar werden und die Frage beantworten, welche Rolle philosophische und nicht-theologische Ethikkonzeptionen innerhalb der Diakonie spielen. Seit geraumer Zeit wird über Aufgaben und Grundlagen einer diakonischen Ethik diskutiert.36 In den vergangenen Jahrzehnten sind verschiedene Bereichsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik oder Technikethik entstanden. Auch die diakonische Ethik lässt sich als eine solche Bereichsethik verstehen.37 35 36 37

Vgl. Körtner, Evangelische Sozialethik, 15ff.; Körtner, In der Lehre getrennt, 271–294; Gabriel/Papaderos/Körtner, Perspektiven. Vgl. einführend Ammermann, Gegenwärtige Anforderungen, 122–140. Anders Rüegger/Sigrist, Diakonie, 192ff, die bestreiten, dass es auf diakonischen Handlungsfeldern eigene Fragestellungen gibt, die sich von Medizinethik, Pflegeethik usw. unterscheiden und daher lieber von einer Ethik des Sozialen sprechen. Meine Begründung für den Begriff der Diakonischen Ethik ist aber durch den Begriff des Topischen gegeben. Siehe Abschnitt 1.3.2. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Wie die allgemeine ethische Entwicklung reagiert diakonische Ethik auf den gestiegenen ethischen Reflexionsbedarf einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Der moderne Pluralismus und die Individualisierungsschübe der Moderne führen zu einer Pluralisierung auch der moralischen Überzeugungen. Der Philosoph Otfried Höffe bezeichnet die Moral als »Preis der Moderne«.38 Man sollte besser von der Ethik, welche die selbstreflexive Theorie der Moral ist, als »Preis der Moderne« sprechen. Der Charakter der Ethik unterliegt dabei einem Wandel von der Prinzipienethik zur Verfahrensethik. Aufgabe der Ethik in einer moralisch pluralistischen Gesellschaft ist es nicht, eine bestimmte Moral durchzusetzen, zum Beispiel auf dem Feld der Politik, sondern Verfahren zur Bearbeitung moralischer Konflikte bereitzustellen und zu einer diskursiven Entscheidungsfindung beizutragen. Ethik gewinnt damit grundlegend eine beratende Funktion. So gewiss jede Ethik normative Anteile hat, tritt doch die deskriptiv-hermeneutische Aufgabe der Ethik heutzutage in den Vordergrund. Diese Entwicklung kennzeichnet auch die Aufgabenstellung einer diakonischen Ethik. Der steigende ethische Reflexionsbedarf diakonischer Arbeit ist auf doppelte Weise durch die Pluralisierungsprozesse in modernen Gesellschaften herausgefordert. Zum einen dient diakonische Ethik der Identitätsvergewisserung und Profilbildung von Diakonie auf dem Markt der unterschiedlichen sozialen Dienstleister. Zum anderen reagiert sie auf Pluralisierungsprozesse, die innerhalb der Diakonie selbst stattfinden. Diese betreffen sowohl die Mitarbeiter als auch die Klienten diakonischer Arbeit. Weder die Mitarbeiterschaft in diakonischen Einrichtungen noch deren Klientel ist weltanschaulich oder religiös und moralisch so homogen wie in den Anfängen der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert oder auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg.39 Diakonische Ethik leistet somit einen Beitrag zur Entwicklung einer diakonischen Unternehmenskultur.40 Sie steht vor der Herausforderung, Vielfalt und Verbindlichkeit eines christlichen Ethos im Gegenüber zu anderen Ethosformen zu vertreten und zu profilieren. Zwar bemühen sich diakonische Einrichtungen, Unternehmungen und Werke nach wie vor um ein klares und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern akzeptiertes christliches Profil, indem sie entsprechende Leitbilder formulieren.41 Umfragen zeigen allerdings, dass sich die 38 39 40 41

Höffe, Moral. Vgl. Eurich, Auswirkung. Vgl. auch Hofmann, Diakonische Unternehmenskultur. Exemplarisch: Kirchenamt der EKD, Herz und Mund. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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christliche Motivation der Mitarbeitenden nur noch zwischen 19 und 56 Prozent bewegt.42 Nur noch ein Teil der Beschäftigen gibt an, dass selbst so weiche Formulierungen wie: »Können sie sich mit der Vorstellung einer christlichen Nächstenliebe identifizieren?« für ihren beruflichen Alltag wichtig sind. Eine vor allem von Begründungsfragen beherrschte diakonische Ethik ist freilich keine wirkungsvolle Antwort auf die Individualisierungsprozesse, die in der Mitarbeiterschaft stattfinden. Diakonische Paradigmen und Leitbilder »werden fast ausschließlich auf leitender oder auf lehrender Ebene vertreten, selten werden sie von den Mitarbeitern an der Basis des Hilfehandelns für ihr berufliches Selbstverständnis übernommen«43. Wenn diakonisches Denken den Kontakt zum diakonischen Handeln verliert, ist auch eine diakonische Ethik bestenfalls ein Krisensymptom, aber keine Lösungsstrategie. Das gilt auch im Hinblick auf die Adressaten diakonischen Handelns. Zwischen dem in einem Leitbild beschriebenen Ethos einer diakonischen Einrichtung und demjenigen der in ihnen betreuten Menschen kann es zu Konflikten kommen. Diakonisches Handeln, welches im Sinne des vielbeschworenen christlichen Menschenbildes nicht nur die Würde, sondern auch die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen ernstnimmt, muss der Individualität von Lebensstilen und Lebensentwürfen, von weltanschaulichen und moralischen Überzeugungen respektvoll begegnen. Auch das christliche Ethos selbst tritt nicht als homogene Größe in Erscheinung, sondern in der geschichtlichen Vielfalt konfessioneller und individueller Interpretationen.44 So besteht eine grundlegende Aufgabe diakonischer Ethik darin, den christlichen Dienstgedanken, der im Handeln und Leben Jesu sein Urbild und Vorbild findet, mit der Autonomie im Sinne eines christlichen Freiheitsverständnisses zusammenzudenken.45 1.3.2

Topische Ethik

Verhindern lässt sich die Entfremdung zwischen ethischer Theoriebildung und diakonischer Praxis nur, wenn diakonische Ethik konsequent als Bereichsethik – und das heißt auch als »topische« Ethik – konzi42 43 44 45

Vgl. Haas, Diakonie Profil, 234. Weber, Diakonie, 10. Vgl. dazu Körtner, Was ist das Evangelische?, 91–115. Vgl. Weber, Diakonie, 92, der den Freiheitsbegriff im Anschluss an Hannah Arendt neu zu bestimmen versucht. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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piert wird.46 Topoi, »Örter«, lateinisch loci sind in der antiken Rhetorik, vor allem bei Aristoteles und Cicero, allgemeinste Kategorien, in denen ein Redner plausible Argumente aufsucht.47 Wir sprechen auch heute noch von »Gemeinplätzen« (lateinisch loci communes). Das Ziel der Topik ist die situative Angemessenheit von Argumentationsstrategien. Eben darum geht es auch beim Begriff der Bereichsethik. Das bereichsethische Denken unterscheidet sich vom Begriff der angewandten Ethik, der den Eindruck erweckt, als ginge es in der konkreten Praxis lediglich um die Anwendung oder Umsetzung allgemein anerkannter und theoretisch begründeter Prinzipien. In der Diakonie hieße dies also, dass ethische Prinzipien, die aus »dem« christlichen Menschenbild abgeleitet werden, in den diakonischen Alltag zu übersetzen wären. Der Begriff der Bereichsethik geht stattdessen davon aus, dass uns unterschiedliche Praxisfelder mit ganz verschiedenen Arten von Problemen konfrontieren, die unterschiedliche Arten der ethischen Reflexion erforderlich machen. »Ethik entsteht«, wie der evangelische Theologe Reiner Anselm schreibt, »nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte der Entscheidung. Dies im Gegensatz zu allen Versuchen, die Kontextabhängigkeit der Ethik zu negieren, in den verschiedenen Handlungsfeldern helfenden Handelns deutlich zu machen, könnte ein wichtiger Beitrag der Selbstreflexion diakonischen Handelns für die gegenwärtige Ethik sein.«48 Aufgabe diakonischer Ethik ist es, konkret nach Bereichen oder Orten des Ethischen (Klaus Tanner) zu fragen, deren Topographie es sorgfältig zu analysieren gilt. Nimmt man den Grundgedanken topischer Ethik ernst, so muss auch noch innerhalb einer Konzeption diakonischer Ethik zwischen den unterschiedlichen Handlungsfeldern und Orten diakonischen Handelns unterschieden werden. Die Gliederung orientiert sich dabei nicht wie die klassische Einteilung diakonischer Arbeit an den Personengruppen, die auf Hilfe angewiesen sind – also Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Altenhilfe, Krankenhilfe usw. – sondern systemisch oder organisationstheoretisch an den institutionellen Orten, Strukturen oder Geschäftsfeldern, innerhalb derer Hilfe geleistet wird 46

47 48

Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 14f.55f.72ff. Siehe auch Haas, Theologie und Ökonomie, 462ff (im Anschluss an den Schweizer Ökonomen Peter Ulrich). Zur Bedeutung der Topik für die Ethik siehe auch von Soosten, Vertrauen, 83–100. Vgl. Zachhuber, Topik, 475–476. Anselm, Ethik, 173. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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und Menschen interagieren.49 Ein topisches oder bereichsethisches Verständnis diakonischer Ethik vollzieht außerdem die Abkehr von der traditionellen Anstaltsdiakonie hin zu einem kooperativen Hilfeverständnis, das die Selbstbestimmung und die Ressourcen der Betroffenen wertschätzt und aktiviert.50 Diakonische Ethik hat außerdem die grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu reflektieren, innerhalb deren diakonisches Handeln stattfindet. Dazu zählen nicht nur die Finanzierungsprobleme des Sozialstaats und der Versicherungssysteme sowie der Wandel vom Sozialstaat zum Sozialmarkt, der die Diakonie nötigt, sich im öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesen neu zu positionieren und auch neue Finanzierungsmodelle zu entwickeln, sondern auch die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Elements. Dabei geht es nicht nur um die wieder zu stärkende Rolle von ehrenamtlicher Tätigkeit in der Diakonie. Die Bipolarität von Kirche und Staat wird grundsätzlich durch die Triade von Kirche, Staat und (Zivil-) Gesellschaft abgelöst.51 Wie die zunehmende Emanzipation der großen diakonischen Unternehmungen systemtheoretisch als kirchlicher Ausdifferenzierungsprozess verstehbar wird, so müssen Kirche und Diakonie je für sich und auch gemeinsam ihr Verhältnis zum Staat wie zur Zivilgesellschaft klären. Auch dies ist eine Aufgabe diakonischer Ethik. Mit Reiner Anselm lässt sich nicht nur nach dem Beitrag der Ethik zur Identitätsbildung der Diakonie, sondern auch nach demjenigen einer diakonischen Ethik für die Gesellschaft fragen. Nach Anselm hat die theologische Ethik, jedenfalls dann, wenn sie als beratende Tätigkeit begriffen wird, selbst eine diakonische Funktion. Sie ist »theologische Dienstleistung der Diakonie in der Gesellschaft«52. Nun hat sich im Selbstverständnis der Diakonie ein Wandel vom Gedanken des Dienstes und der Dienstgemeinschaft zur Leitidee der Dienstleistung und des Dienstleistungsunternehmen vollzogen.53 Er trägt der Professionalisierung und Spezialisierung diakonischer Arbeit Rechnung, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Auch die Seelsorge, die neben der Fürsorge zu den Grundaufgaben der Diakonie gehört54, versteht sich heutzutage im diakonischen Kontext als Dienstleistung, die 49 50 51 52 53

54

Vgl. dazu auch Nassehi, Ethik der Diakonie, 177–186. Vgl. Bartmann, Diakonie, 371f. Vgl. Huber, Kirche, 267ff. Siehe auch Körtner, Kirche, 79–103. Anselm, Ethik, passim. Vgl. Degen, Diakonie als soziale Dienstleistung. Zur Diskussion über die Konsequenzen für das Dienstrecht in Diakonie und Kirche siehe Anselm/ Hermelink, Der Dritte Weg. Vgl. Schibilsky, Diakonie VI, 799. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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nicht nur die Aufgabe hat, dem Einzelnen seelische und geistliche Hilfe anzubieten, sondern auch »eine religiös und ethisch geprägte Beziehungskultur«55 in einem diakonischen Unternehmen oder einem Krankenhaus zu entwickeln, das möglicherweise keinen diakonischen Träger hat. Im Zuge einer Modernisierung des diakonischen Dienstverständnisses wird mittlerweile freilich verstärkt auf den betriebswirtschaftlichen Aspekt des Dienstleistungsbegriffs zurückgegriffen. Bei allem Verständnis für ökonomische Sachgerechtigkeit in der Diakonie wie auch im staatlichen Gesundheitswesen dürfen doch die Gefahren für die Gestaltung diakonischer Praxis nicht übersehen werden. Die Dienstleistungsorientierung führt »unweigerlich zu einer Kostenträgerorientierung«56. Problematisch ist auch der Begriff des Kunden, der zunehmend im Gesundheitswesen wie auch in diakonischen Arbeitsbereichen Einzug hält, einmal, weil die Kennzeichnung von Hilfsbedürftigen als Kunden im Sozialbereich oftmals schlicht falsch oder verschleiernd ist, sodann, weil das Geld im diakonischen Bereich häufig »gerade nicht vom ›Kunden‹ kommt, sondern vielmehr von meist staatlichen Kostenträgern«57. Dies ändert sich freilich in dem Ausmaß, wie von Betroffenen oder Angehörigen immer höhere finanzielle Eigenleistungen gefordert werden. Die Aufgabe der Ethik als Dienstleistung zu bestimmen – sei es als Dienstleistung innerhalb diakonischer Einrichtungen, sei es als diakonische Dienstleistung für die Gesellschaft – ist also durchaus prekär. Die Vorbehalte rühren nicht nur von der Sorge vor einer Ökonomisierung ethischen Denkens her, sondern auch von der Ambivalenz, die sich mit der zunehmenden Professionalisierung, Spezialisierung und Institutionalisierung von Ethik in Form von Ethikkommissionen und instituten verbindet. Ein Verständnis von theologischer Ethik als einer Form der gesellschaftlichen Diakonie verdient aber grundsätzlich Zustimmung.

55 56

57

Allwinn/Schneider-Harpprecht, Psychosoziale Dienste, 13. Vgl. dazu ausführlich Schneider-Harpprecht, Profil, 150–174. Weber, Diakonie, 37. Äußerst kritisch Fleßa, Arme, bes. 132ff, der bemängelt, dass diakonische Einrichtungen in vielen Ländern zu einem großen Teil ihre Dienstleistungen primär für den Mittelstand anbieten, nicht mehr jedoch für die Schwächsten und Armen. Weber, Diakonie, 37. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1.3.3

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Die prekäre Funktion von Ethik in diakonischen Einrichtungen

Die Rolle der Ethik in diakonischen Einrichtungen ist freilich differenziert zu betrachten. Vordergründig wird nach Ethik gerufen, um Tendenzen zu einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch in Diakonie und Kirche gegenzusteuern. Im Zusammenhang mit Qualitätssicherungskonzepten gibt es Versuche, diakonische Ethik als angewandte Wertethik zu konzipieren und diakonische Unternehmen als christliche Wertegemeinschaften zu definieren.58 Ein solcher Ansatz stand offenkundig hinter dem Jahresthema der Diakonie in Deutschland 2003: »Handeln mit Werten«59. Im Kontext der allgemeinen Wertediskussion wollte man der Frage nachgehen, welche Werte das kirchlich-diakonische Handeln bestimmen, wie sie begründet und wo sie gelebt werden. Moralische Werte stehen in ethischen und politischen Diskursen allgemein hoch im Kurs. Auch die Kirchen, Diakonie und Caritas werden von Staat und Gesellschaft gern als Agenturen der Wertevermittlung verstanden. Die Frage, wie es mit dem Wertbezug diakonischen Handelns steht, ist aber bei näherem Hinsehen brisant, weil der Wertbegriff als solcher eine Reihe gewichtiger Fragen ethischer und auch theologischer Natur aufwirft. Aus der Frage nach dem moralischen und religiösen Werteprofil der Diakonie spricht nämlich die Sorge, dass der Geist einer ungezügelten Ökonomie den Geist der Nächstenliebe verdrängen könnte. Diakonisches Handeln steht in Spannung zwischen ökonomischer und moralisch-religiöser Wertorientierung. Es ist eben nicht von vornherein ausgemacht, inwieweit das Wirken mit ökonomischen Werten in einem religiös-moralischen Wertehaushalt sein Fundament besitzt oder zu diesem im Widerspruch steht. Derartige Fragen werden heute im Rahmen einer diakonischen Unternehmensethik diskutiert, die zu entsprechenden Leitbildprozessen geführt hat. Die Grundfrage jeder Unternehmensethik kann freilich in zwei Richtungen gestellt werden. Einerseits lautet sie: »Wie moralfähig ist die Ökonomie?«, andererseits aber: »Wie ökonomiefähig ist die Moral?« Lassen sich ökonomische Sachgerechtigkeit, Menschengerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit in einer fruchtbaren Spannung halten, oder dominiert einseitig die Logik der Ökonomie mit ihrer vermeintlichen Eigengesetzlichkeit? 58 59

Zum Konzept der Wertegemeinschaft in der gegenwärtigen Ökonomik siehe Schanz, Unternehmen, 129–142. Vgl. Gohde, Handeln mit Werten. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Aus soziologischer Sicht fällt das Urteil bei Niklas Luhmann einigermaßen ernüchternd aus. Die Teilsysteme der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft – und zu ihnen gehört auch die Diakonie – werden zwar weiterhin durch Moral gestützt, soweit sie nämlich auf wechselseitiges Vertrauen angewiesen sind, das sich weder durch Recht erzwingen noch für Geld kaufen lässt. Daraus lasse sich aber keinesfalls schließen, dass die einzelnen Funktionssysteme selbst oder gar die Gesellschaft als ganze auf Moral oder auf einen Grundbestand gemeinsamer Werte gegründet seien. »Eher liegt der umgekehrte Schluß nahe, daß das fluide Medium der Moral dort ankristallisiert, wo Funktionssysteme ihm eine Funktion geben können.«60 Konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass Unternehmensethik in einem Wirtschaftsunternehmen soweit gefördert wird, wie dies das Betriebsklima fördert und zugleich die Akzeptanz der Firma und ihrer Produkte am Markt verbessert. »Ethische« Produkte oder eine auf Ökologie und Nachhaltigkeit ausgerichtete »Unternehmensphilosophie« können sich durchaus rechnen. Jenseits einer fundamentalen Gesellschafts- oder Kapitalismuskritik, wie sie heute vor allem von den neuen sozialen Bewegungen gegen die Globalisierung formuliert wird, ist Ethik aus unternehmerischer Sicht durchaus ökonomisch interessant und willkommen. Es gehört zu den brisanten Themen diakonischer Ethik, inwiefern Luhmanns Analyse auch auf die Diakonie zutrifft. Konkret kann das Problem nicht nur an den unterschiedlichen Beispielen von Leitbildern, sondern auch an der Stellung von Theologie und Seelsorge in modernen diakonischen Unternehmen durchgespielt werden. Das beginnt schon bei der Frage, aus welchem Budget die Seelsorge bezahlt werden soll. Gelegentlich ist vom »Soft-Management« die Rede, wenn die heutige Rolle von Unternehmensethik und Seelsorge in diakonischen Einrichtungen zur Diskussion steht. Für die ökonomischen Werte ist das »Hard-Management« zuständig, die Seelsorge für die »Seele« des Betriebs, für religiöse und moralische Werte, für die Klimapflege also, die man braucht, um Vertrauen unter den Mitarbeitern und auf Seiten der »Kunden« zu fördern.61 Wieweit aber werden bei solcher Arbeitsteilung christliche Werte und Normen nicht nur als Faktor der Stabilisierung und Optimierung des diakonischen Betriebs, sondern auch noch als Quelle möglicher Kritik und Selbstkritik begriffen?

60 61

Luhmann, Ethik, 433. Vgl. Jäger, Seelsorge, 136–138. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

1. Diakonie und Wissenschaft

1.3.4

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Güte, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – Grundbegriffe diakonischer Ethik

Eine wertethische Konzeption diakonischer Ethik sieht sich jedoch mit denselben Schwierigkeiten wie die materiale Wertethik konfrontiert, deren Ideen vor allem mit den Namen Max Schelers (1874–1928) und Nikolai Hartmanns (1882–1950) verbunden sind. »Wert« ist nämlich zunächst ein Begriff der Ökonomie. Der Wert einer Sache bestimmt ihren Preis, der am Markt zu erzielen ist. Auch das Wort »Grundwert« stammt aus der Wirtschaftssprache und bezeichnet von Haus aus den »Bodenwert«. Wir sprechen vom Gebrauchswert, Tauschwert oder Realwert von Gütern. Das erwähnte Motto der Diakonie »Wirken mit Werten« hat also nicht zufällig einen doppelsinnigen Klang. Fragen der Ökonomie spielen schließlich in Diakonie und Diakoniewissenschaft eine ganz zentrale Rolle. Modernes Management hat in diakonischen Einrichtungen längst Einzug gehalten und wird durch eine entsprechende »Management-Theologie« (Alfred Jäger) unterstützt. Diakonische Einrichtungen definieren sich als Unternehmen im NonProfit-Bereich. »Wirken mit Werten«, das heißt zunächst auf wirtschaftliche Effizienz zu achten und sich der fortschreitenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen offensiv zu stellen. Auch in der Diakonie diskutiert man heutzutage über »Wertschöpfung durch Qualitätsmanagement«. Scheler und Hartmann haben freilich zwischen ökonomischen und moralischen Werten zu unterscheiden versucht. Im Anschluss an Platons Ideenlehre nehmen beide Philosophen eine überzeitliche Wertordnung an, die an intuitiven Werterfahrungen Anhalt findet und in einem »Wertapriori« gründet. Tatsächlich handelt es sich bei der materialen Wertethik aber um eine Reaktion auf die massive Infragestellung abendländischer Ethiktraditionen durch die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Industrialisierung, die besonders klarsichtig in Friedrich Nietzsches philosophischem Nihilismus und seiner Idee von der »Umwertung aller Werte« reflektiert worden sind. Bereits Nietzsche hat klar ausgesprochen, dass alle Werte, auch solche der Moral, gesetzt werden und konvertierbar sind. Sie sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Werte werden tradiert, aber nicht durch apriorische Wesensschau erkannt. Die Idee einer vermeintlich objektiven Hierarchie von Werten kann nicht über den faktisch vorhandenen beständigen Wertekonflikt in der modernen pluralistischen Gesellschaft hinwegtäuschen. So entpuppt sich selbst noch die Idee eines metaphysischen Wertekosmos als eine bloße Setzung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Dass es überhaupt möglich sei, den Wertbegriff von seiner ursprünglich ökonomischen Logik zu befreien, wird vom evangelischen Theologen Eberhard Jüngel bezweifelt. »Wertethik und christliches Ethos«, so lautet seine provokante These, »sind einander feind.«62 Wer das bezweifelt, sollte sich zunächst mit Krysztof Michalski daran erinnern, dass »die frühen Christen, soweit wir wissen, nicht von ›Werten‹« sprachen: »weder von ›christlichen‹ noch von ›Familienwerten‹ und erst recht nicht von ›europäischen‹ oder ›nationalen‹ Werten«63. Wie bereits der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt kritisiert auch Jüngel die »Tyrannei der Werte«, weil jedes Wertdenken seiner Tendenz nach eminent aggressiv sei. »Nicht das Sein der Werte, wohl aber die Realisierung der Werte führt leicht zum Rigorismus, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert.«64 Gerade die Diakonie sollte sich ein Sensorium für die Gefahr einer Tyrannei der Werte bewahren. Denn sie weiß sich für jene Menschen verantwortlich, die in unserer Gesellschaft abgewertet und ausgegrenzt werden. Geschichte und Gegenwart kennen genügend Beispiele dafür, dass das menschliche Leben selbst zum Gegenstand von Wertungen gemacht und nach seiner Verwertbarkeit und Nützlichkeit taxiert wurde und wird. Der menschenverachtenden Logik der Unterscheidung zwischen Wert und Unwert von Menschenleben entkommt man freilich nicht einfach dadurch, dass man Gegenwerte etabliert und eine Umwertung der Werte propagiert. Das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist, unterbricht vielmehr auf heilsame Weise die Logik des Wertens und Umwertens. »Nicht Werte«, so Jüngel, »leiten das Handeln des Christen, sondern allein die aus der Wahrheit kommende Liebe, die ebensowenig wie Wahrheit einen Wert hat oder darstellt. Wahrheit und Liebe sind wertlos und jedweder Tyrannei der Werte abhold.«65 Der Beitrag von Diakonie und Kirche zur gegenwärtigen Wertedebatte besteht vielleicht gerade darin, den Wertbegriff vom Evangelium her kritisch zu beleuchten und seine Anwendung im Bereich der Ethik zu begrenzen. Es gehört zum Leitbild der Diakonie, jeden Menschen unabhängig von seinen Fähigkeiten, seiner körperlichen und geistigen Verfassung, seiner sozialen Herkunft und Stellung als Person zu achten, die ihre Würde einzig und allein von Gott empfängt. Die Würde der Person ist aber kein Wert im üblichen Sinne und eben deshalb un62 63 64 65

Jüngel, Wertlose Wahrheit, 105. Michalski, Politik, 209. Jüngel, Wertlose Wahrheit, 97. A.a.O., 105. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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antastbar, weil sie sich nicht verwerten lässt. Wie die Würde des Menschen so gilt es, auch andere Güter, Ziele und Ideale gegen ihre Umwandlung in marktförmige, konvertierbare und verwertbare Werte zu schützen. Statt von Werten sollte man daher besser von ethischen Zielen und Gütern sprechen. Allenfalls in einem uneigentlichen Sinn kann man von unendlichen oder unersetzlichen Werten sprechen. In Wahrheit ist jeder Wert ersetzbar und austauschbar. Im Kampf der Werte aber stehen Güter auf dem Spiel, die für uns in der Tat unersetzlich sind. Im Zusammenhang mit Qualität und Qualitätsmanagement in der Diakonie ist freilich nicht nur von Gütern, sondern auch von Güte zu sprechen. Unser deutsches Fremdwort »Qualität« leitet sich bekanntlich vom lateinischen »qualitas« ab, das die Güte einer Sache meint. Im Zusammenhang diakonischen Handelns geht es freilich nicht nur um die Güte von Sachen, nämlich von Dienstleistungen, sondern auch um die Güte von Personen, um gütiges Verhalten, um Wohlwollen und Empathie. Kritischer Maßstab für den Begriff der Qualität in der Diakonie ist freilich nicht unsere eigene menschliche Güte, an der es nur zu oft mangelt, sondern die Güte Gottes, der sich uns Menschen – und insbesondere den Hilfsbedürftigen, den Armen und Notleidenden – vorbehaltlos zuwendet.66 Die Rede von der Güte Gottes durchzieht das gesamt biblische Zeugnis. Das Neue Testament spricht außerdem von der Güte Christi67 bzw. von der Güte, die Gott gegen uns in Jesus Christus erzeigt hat.68 Die Güte Gottes veranschaulicht Jesus im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), das ja jeder ökonomischen Logik und einem üblichen Begriff von Leistungs- und Lohngerechtigkeit widerspricht.69 Auch Gottes Wort kann als gütig oder gut bezeichnet werden.70 Gütig ist das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Wie Gott seine Güte in seinem Tun erweist, so werden auch die Christen im Neuen Testament zu einem der Güte Gottes bzw. der Güte Christi entsprechendem Verhalten aufgerufen.71 Güte ist, wie Paulus in Gal 5,22

66 67 68 69 70 71

Vgl. auch Gohde, Gemeinsam, 13ff. 2 Kor 10,1. Eph 2,7. Die griechischen Wörter für Güte sind  und . Letzteres bedeutet wörtlich Nachsicht oder Milde. Mit »gütig« übersetzen Lutherbibel, Zürcher Bibel und Einheitsübersetzung in V. 15 das griechische Wort . Hebr 6,5. Phil 4,5. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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erklärt, die Frucht des Geistes. Ähnlich spricht der Epheserbrief von der Güte als Frucht des Lichts (Eph 5,9).72 Mit dem Gedanken der Güte Gottes gewinnt Diakonie einen Begriff von Qualität, der nicht notwendigerweise im Widerspruch zur ökonomischen Sachgerechtigkeit steht, sich aber nicht ökonomisch verrechnen lässt, sondern einen Überschuss hat, an dem diakonische Arbeit auch unter heutigen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen festzuhalten hat, will sie nicht ihr Profil und damit ihre Daseinsberechtigung verlieren. Konkret schärft der Blick auf die Güte Gottes, wie sie uns in der Bibel bezeugt wird, das Bewusstsein für die Güter des Lebens, die nicht marktfähig und käuflich sind, ohne die der Mensch aber nicht leben kann und verkümmern muss. Hilfsbereitschaft, Liebe und Vergebung – all das können wir uns weder selbst geben noch können wir es uns kaufen. Ein universales Ethos des Helfens, das zum diakonischen Handeln motiviert, ist keineswegs exklusiv christlich begründet, es liegt aber sehr wohl und entschieden im Gefälle des Neuen Testamentes. Heißt dies nun, dass auf eine dezidiert christliche Begründung eines Ethos des Helfens heute verzichtet werden kann? Ist sie in ihrer religiösen Partikularität vielleicht sogar hinderlich, weil sie den universalen Geltungsanspruch einer Ethik des Helfens einschränkt? Wer so argumentiert, sollte bedenken, dass inzwischen auch eine säkular-humanistische Ethik, die in nicht geringem Ausmaß davon zehrt, dass unsere Kultur bislang in starkem Maße vom Christentum geprägt war, keineswegs mehr fraglos akzeptiert wird. Im Pluralismus der Moralen und Ethiken erscheint auch das Erbe der europäischen Aufklärung als eine partikulare Gestalt von Ethos und Kultur. Die zunehmende Ökonomisierung des Lebens einschließlich der sozialstaatlichen Angebote macht dies deutlich. Eine utilitaristische Ethik der Interessen rückt auch der humanistischen Tradition der Aufklärung zu Leibe. Umso bedrängender ist die Frage, aus welchen Quellen sich eine Kultur des Helfens, die unbeschadet ihrer säkularen Begründung christliches Gedankengut im Erbe hat, erneuern und fortentwickeln soll, wenn diese religiösen Wurzeln endgültig gekappt werden sollten. Wie nach einem viel zitierten Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann,73 so hängt auch unser ökonomisches System von Rahmenbedingungen ab, die jenseits des ökonomischen Kos72 73

Das griechische Wort für Güte lautet in Gal 5,22 und Eph 5,9 . Vgl. Böckenförde, Recht, 112. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ten-Nutzen-Kalküls liegen. Eine Kultur des Helfens, die diesen Namen verdient, ist immer auch eine Kultur der Barmherzigkeit.74 Freilich darf die Aufforderung zur Barmherzigkeit nicht dazu führen, dass die ebenso biblische Forderung nach Gerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt wird. Das würde auf lange Sicht die »sozialpolitische Selbstentkernung der kirchlichen Diakonie«75 befördern. Barmherzigkeit bedeutet nach biblischem Verständnis keine Alternative zur Gerechtigkeit, sondern beschreibt im Sinne der Option für die Armen die Perspektive wahrer Gerechtigkeit, die diesen Namen verdient. 1.4

Human- und Sozialwissenschaften in der Diakonie

1.4.1

Diakonie und Sozialwissenschaften

Zu den grundlegenden Fragen in Diakonie-, Sozial- und Humanwissenschaften gehört die Frage nach dem jeweiligen Menschenbild.76 Welches Verständnis des Menschen, seiner Würde und Gottebenbildlichkeit, seiner leiblich-seelischen-Einheit und seiner Bestimmung, seiner Leistungs- und Leidensfähigkeit, seiner Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit, von Freiheit und Unfreiheit, von Macht und Ohnmacht, von Verantwortung, Eigennutz und Gemeinschaftssinn prägt die unterschiedlichen Gesellschaftsbilder sowie die diversen Bildungstheorien oder psychologische und psychotherapeutische Konzeptionen? Wie verhält sich z.B. ein christliches Menschenbild zum Menschenbild einer humanistischen Psychologie in der Tradition von Abraham Maslow, Carl Rogers oder Fritz Perls oder wie zur Psychoanalyse in der Tradition Sigmund Freuds?77 Welche Rolle spielen Begriffe wie Schuld und Sünde, Befreiung und Vergebung? Und wie wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestimmt? Diakoniewissenschaft ist insbesondere ohne die Einbeziehung der Sozialwissenschaften nicht möglich, weil Theorie und Praxis diakonischer Arbeit eine wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen voraussetzen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gesellschaftstheorien in den Sozialund Politikwissenschaften. Diakonisches Handeln kann seine Ziele nur 74 75 76 77

Vgl. dazu auch Welker, Erbarmen, 39–42; Welker, Routinisiertes Erbarmen, 143–160. Maaser, Evangelische Diakonie, 249. Vgl. dazu Körtner, Lasset uns Menschen machen. Siehe einführend Heine, Grundlagen der Religionspsychologie. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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dann sinnvoll bestimmen, wenn sie sich ein klares Bild von den gesellschaftlichen Strukturen und den Ursachen sozialer Not verschafft. Armut und Reichtum, Inklusion und Exklusion, Arbeit und Bildung, Geschlechterverhältnisse und Familienstrukturen, aber auch Krankheit, Gesundheit und Behinderung als soziale Konstruktionen sind zentrale Themen sozialwissenschaftlicher Forschung im diakoniewissenschaftlichen Kontext. Sozialwissenschaftliche Kenntnisse und Reflexionen sind nicht nur im Blick auf die Adressaten diakonischer Arbeit unabdingbar, sondern auch im Blick auf die individuellen und institutionellen Akteure sozialer Arbeit. Auch bedarf es genauer Kenntnisse über den Aufbau und den Wandel des modernen Sozialstaats. Zu den Herausforderungen, mit denen Diakonie und Diakoniewissenschaften seit einiger Zeit konfrontiert sind, gehört der Wandel vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, welcher sich z.B. in der Forderung nach stärkerer Eigenverantwortung und in der Formel »Fördern und Fordern« ausdrückt. Die Aktivierung soll Vorrang vor der Versorgung haben, so dass die Gewichte zwischen Eigenverantwortung und Solidarität neu austariert werden.78 Diakonische Arbeit setzt ferner eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung auf dem Sozialmarkt voraus. Nicht nur gibt es neben kirchlichen Anbietern nichtkonfessionelle Institutionen im Non-Profit-Bereich, sondern es haben sich auf dem Gesundheits- und Pflegemarkt ebenso wie in anderen Bereichen sozialer Arbeit kommerzielle Anbieter etabliert. Abgesehen von der Frage, wie weit man soziale und diakonische Dienstleistungen marktgängig machen kann und soll, muss die Diakonie ihre eigene Rolle und ihr Profil auf einem grundlegend veränderten Sozialmarkt neu bestimmen. Zu den sozialwissenschaftlichen Fragestellungen innerhalb der Diakoniewissenschaft gehört auch eine Analyse der unterschiedlichen Sozialgestalten von Diakonie. Es gibt spontane und organisierte Diakonie, institutionalisierte Diakonie und situativ wechselnde Hilfeleistungen, berufliche und ehrenamtliche Diakonie, offizielle und private Diakonie, kirchliche und außerkirchliche Diakonie, Diakonie im Mikrobereich und Diakonie im Makrobereich.79 Besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf die Verhältnisbestimmung von Diakonie und Zivilgesellschaft zu legen, die bereits weiter oben angesprochen wurde. Im Laufe ihrer Geschichte hat 78 79

Vgl. dazu Evers/Olk, Wohlfahrtspluralismus; Esping-Andersen, Warum, 61– 81; Nullmeier, Eigenverantwortung, 175–181. Vgl. Haslinger, Diakonie, 20f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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die Diakonie eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung erfahren. Diakoniewissenschaft darf aber nicht nur den Blick auf die Unternehmensdiakonie richten, sondern muss sich wieder verstärkt mit zivilgesellschaftlichen Formen der Diakonie beschäftigen, deren Entwicklung in jüngster Zeit verstärkt gefordert wird. Ein Beispiel sind Hospizarbeit und Palliative Care. Die Hospiz- bzw. die Palliativbewegung versteht sich inzwischen als eine globale Bürgerbewegung, die der zunehmenden Professionalisierung von Palliative Care durchaus kritisch gegenübersteht.80 Aus einem zivilgesellschaftlichen Ansatz von Diakonie heraus kann auch auf anderen Gebieten sozialer Arbeit die Forderung nach Deprofessionalisierung erhoben werden. Der Psychiater Klaus Dörner vertritt z.B. die Ansicht, dass 70 Prozent der chronisch psychisch Kranken und 50 Prozent der geistig Behinderten unter fachlichen Gesichtspunkten auf der Stelle aus den Heimen und Anstalten entlassen werden könnten, in denen sie derzeit untergebracht sind.81 Solche Forderungen haben selbstverständlich einschneidende, auch ökonomische Konsequenzen für diakonische Unternehmen. 1.4.2

Gerechte Teilhabe

Die Fragen nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Verantwortung, von Solidarität, Fürsorglichkeit und Eigenverantwortung führen uns auch zum Begriff der Gerechtigkeit. Die Diskussion über eine Neubestimmung des Sozialstaats und das heutige Selbstverständnis der Diakonie führt uns ins Zentrum gegenwärtiger Gerechtigkeitsdebatten. Neben die Begriffe der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva), der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) und der gesetzlichen Gerechtigkeit (iustitita legalis) tritt heute der Begriff der Teilhabegerechtigkeit. In der bisherigen Diskussion über Teilhabegerechtigkeit lassen sich zwei grundlegend verschiedene Konzepte unterscheiden.82 Das erste schließt an die neuere Sozialstaatsdebatte und einige philosophische Theorien an, die im Sinne einer Güterlehre und empfängerzentriert argumentieren. Aufgabe des Staates ist es demnach, Grundrisiken des Lebens abzudecken und durch eine Politik der Umverteilung und spezifischen Förderung Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung und Arbeit zu 80 81 82

Vgl. Höfler, Geschichte, 11ff. Vgl. Dörner, Gegen die Schutzhaft, 6–8. Vgl. dazu Forst, Kontexte; Forst, Die erste Frage. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schaffen. Dieses Modell von Teilhabegerechtigkeit orientiert sich an menschlichen Grundbedürfnissen und garantiert bestenfalls eine Grundsicherung, spart aber die Frage nach einer prinzipiellen Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit aus. Das zweite Verständnis von Teilhabegerechtigkeit beruft sich demgegenüber auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Der Sozialstaat hat demnach die Aufgabe, institutionelle Schritte hin zur Verwirklichung fundamentaler Gerechtigkeit zu machen. Das politische Ziel besteht darin, »in den Basisinstitutionen die Idee der Gesellschaft als faires System der Kooperation zwischen Bürgern umzusetzen, die als freie und gleiche Personen gesehen werden. Um das zu erreichen, müssen diese Institutionen dafür sorgen, daß genügend Produktionsmittel nicht nur in die Hände weniger, sondern von Anfang an in die Hände aller Bürger gelegt werden, so daß sie als Gleiche voll kooperierende Angehörige der Gesellschaft sein können. Zu diesen Mitteln gehört nicht nur reales, sondern auch menschliches Kapital, d.h. Wissen und Kenntnis der Institutionen, Bildung und geschulte Fertigkeiten.«83 Was Rawls vorschwebt, ist also nicht nur eine Grundversorgung aller Bevölkerungsschichten, sondern auch eine Stärkung der politischen Teilhabemöglichkeiten derer, die über die geringsten Einkommensmöglichkeiten verfügen, sowie strukturelle Verbesserungen der Institutionen von Bildung und Ausbildung, der Verteilung von Arbeit und der Mitbestimmungsmöglichkeiten bei zentralen ökonomischen Entscheidungen. Das Konzept der Teilhabegerechtigkeit wird in Deutschland auch von der evangelischen Kirche vertreten. Es verbindet sich mit der Forderung nach einer Reform des Sozialstaates, nicht aber mit seiner Abschaffung. Im Sinne der Teilhabegerechtigkeit oder »Befähigungsgerechtigkeit« soll der Sozialstaat seine Bürger als Subjekte fördern und nicht zu bloßen Objekten der Betreuung und Versorgung degradieren. Unbeschadet des Grundsatzes, dass Sozialleistungen des Staates keine Gnadenakte, sondern Rechtsansprüche sind, spricht sich die EKD in ihrer 2006 veröffentlichten Denkschrift »Gerechte Teilhabe. Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität« für den »Vorrang der Aktivierung vor der Versorgung«84 aus. Teilhabe oder Beteiligung am öffentlichen und politischen Leben setzt die ökonomischen und bildungsmäßigen Fähigkeiten dazu voraus. Wo diese fehlen, geht die Forderung nach Teilhabegerechtigkeit in diejenige nach Befähigungsgerechtigkeit über. Die EKD spricht sich daher für »eine sinnvolle 83 84

Rawls, Gerechtigkeit, 217f. Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe, 50. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Komplementarität von Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit«85 aus. Theologisch lässt sich die Forderung nach Befähigungsgerechtigkeit als konkrete Umsetzung der biblischen Option für die Armen begründen. Die Armen – wobei unter Armut keineswegs nur materielle Not, sondern z.B. auch ein Mangel an Bildungschancen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten zu verstehen ist – sollen dabei nicht als Objekt paternalistischer Betreuung, sondern im Sinne der Gottebenbildlichkeit als gleichberechtigte und zur Selbstbestimmung bestimmte Subjekte gesehen werden. Befähigungsgerechtigkeit ist außerdem als Weiterentwicklung des Subsidiaritätsprinzips zu verstehen, das nicht nur zu den grundlegenden Prinzipien katholischer Soziallehre zählt, sondern auch in der evangelischen Sozialethik anerkannt ist.86 Wenn heute über die Grenzen des Solidarprinzips und die Zumutbarkeit von Eigenverantwortung im Sozial- und Gesundheitswesen diskutiert wird, sollte von Kirche und Diakonie freilich, wie bereits oben angesprochen, auch an das biblische Ethos der Barmherzigkeit erinnert werden, das mit dem Glauben an die Rechtfertigung in einer innigen Verbindung steht. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder an der Gesundheitsversorgung ist weder allein eine Frage der Verteilungsnoch der Tauschgerechtigkeit, sondern auch eine solche der Barmherzigkeit. In der Debatte um die Reform des Sozialstaates und seiner künftigen Finanzierung steht also nicht nur eine Neubestimmung des Solidaritätsprinzips sowie seiner Reichweite im Verhältnis zur individuellen Autonomie beziehungsweise zur Subsidiarität zur Diskussion. 1.4.3

Diakoniewissenschaft und Soziale Arbeit

Innerhalb der Sozialwissenschaften beginnt sich ein neuer Wissenschaftszweig mit der Bezeichnung »soziale Arbeit« zu etablieren.87 Da Diakonie selbst eine spezifische Form der sozialen Arbeit ist, liegt es auf der Hand, sich eingehend mit den Entwicklungen in dieser noch jungen Disziplin zu beschäftigen und an ihnen mitzuwirken. Zu bemängeln ist freilich, wenn eine Theorie sozialer Arbeit ganz ohne theologische Reflexion auszukommen glaubt. So mehren sich in jüngster Zeit Versuche, eine spezifische Form von Theologie in der Sozialen 85 86 87

A.a.O., 56. Vgl. Kirchemant der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe, 44. Siehe Staub-Bernasconi, Seitenwechsel; Engelke, Theorien; Engelke, Wissenschaft; Mühlum, Sozialarbeitswissenschaft. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Arbeit zu entwickeln und zu etablieren,88 wobei sich gelegentlich ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen Diakoniewissenschaft an Universitäten und einer Theologie in der Sozialen Arbeit an Fachhochschulen beobachten lässt, das unnötig und kontraproduktiv ist.89 Wie schon für die Diakoniewissenschaft insgesamt, so gilt auch für die Disziplin der Sozialen Arbeit, dass ihre theologische Reflexion eine ökumenisch-theologische Aufgabe ist. Soziale Arbeit in der pluralistischen Gesellschaft von heute, deren kulturelle, religiöse und weltanschauliche Pluralität sich auch in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen und sonstigen Einrichtungen von Diakonie und Caritas niederschlägt – und zwar auch auf Seiten ihrer Klienten und Bewohner – erfordert heute zudem eine interreligiöse Kompetenz, und das heißt konkret Kenntnisse einer praxisorientierten Theologie der Religionen.90 1.5

Diakonik und Ökonomik

1.5.1

Theologie und Ökonomie

Während das interdisziplinäre Gespräch zwischen der Theologie und den Human- und Sozialwissenschaften bereits in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv geführt wurde, steht das Gespräch zwischen Theologie und Wirtschaftswissenschaften noch in den Anfängen. Mit der Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip in der Diakonie und den veränderten ökonomischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen sozialer Arbeit ist jedoch eine grundlegende Neuorientierung des Verhältnisses von Theologie und Ökonomik unabdingbar geworden.91 Noch immer begegnet man der Auffassung, zwischen Diakonie oder Sozialer Arbeit und Ökonomie bestehe ein geradezu natürlicher Gegensatz. Nun ist richtig, dass diakonisches Handeln nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, sondern zum Non-Profit-Bereich gehört. Doch ist diakonisches Handeln ohne Akquisition und verantwortliche Bewirtschaftung von Ressourcen gar nicht möglich. Diakonie hatte schon immer mit Geld zu tun und den Umgang mit ihm nie als nebensächliche Frage abgetan, sondern theologisch reflektiert. 88 89 90 91

Vgl. Krockauer/Bohlen/Lehner, Theologie. Vgl. Haslinger, Diakonie, 24. Vgl. Diakonisches Werk der EKD, Charakteristika, 46f. Vgl. auch Eurich/Maaser (Hg.), Diakonie in der Sozialökonomie. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Was Silvia Staub-Bernasconi für die Sozialarbeitswissenschaft schreibt, gilt ähnlich auch für die Diakoniewissenschaft: »Vor nicht allzu langer Zeit waren Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse eines der zentralen konzeptuellen Bezugssysteme der Sozialen Arbeit. Umso erstaunter war ich, bei der Aufarbeitung der professionellen Anfänge Sozialer Arbeit vor rund 100 Jahren fast ausschließlich auf sozialwissenschaftlich orientierte Ökonominnen und Ökonomen zu stossen.«92 Wie Hans-Stefan Haas feststellt, ist das Modell der klassischen Subordination der Ökonomie unter die Theologie – gewissermaßen als deren Dienstmagd – längst zum Auslaufmodell geworden. Andererseits lässt sich das Alleinstellungsmerkmal der Diakonie auf dem modernen Sozialmarkt ohne Theologie nicht begründen und sicherstellen. Haas plädiert darum für einen partnerschaftlichen Diskurs zwischen Theologie und Ökonomie bzw. Theologie und Wirtschaftswissenschaften »jenseits von Dominanzmodellen oder einer Vermischung der jeweiligen Fachlichkeiten«93. Seine Konzeption für den Dialog zwischen beiden Wissenschaften entspricht dem von mir vertretenen Verständnis von Diakoniewissenschaft als multidisziplinärer Wissenschaft, in der die Theologie eine kybernetische Funktion ausübt und wie die Ethik einen topischen Charakter trägt. Fruchtbar ist der Diskurs zwischen beiden Wissenschaftsdisziplinen nur dann, wenn jede von ihnen eine spezifische und nur durch sie einzubringende Perspektive auf diakonisches Handeln hat. Das Gespräch zwischen Theologie und Ökonomik wird freilich nach wie vor durch Barrieren auf beiden Seiten erschwert. Dazu gehört eine mangelhafte Kenntnis der jeweiligen anderen Wissenschaft, ihrer Codes und methodischen Regeln. Nüchtern diagnostiziert Alfred Jäger: »Theologie und Ökonomie entfernten sich in Theorie und Praxis so weit voneinander, dass es nicht einmal mehr zur gegenseitigen Wahrnehmung kommen konnte«94. Und nach Einschätzung von Hans-Stefan Haas hat der Dialog von Theologie und Ökonomie bis heute »nicht einmal ansatzweise das Niveau erreicht […], das für die Theologie sonst durchaus im Blick auf andere Wissenschaften festgestellt werden kann«95. Zu beklagen ist z.B., dass auf Seiten der Theologie oftmals noch immer Grundkenntnisse der modernen Ökonomik fehlen. Freilich muss 92 93 94 95

Staub-Bernasconi, Seitenwechsel, 136. Im Anschluss daran Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 24–33. Haas, Theologie und Ökonomie, 17. Jäger, Epilog, 203. Haas, Theologie und Ökonomie, 37. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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man auch von der Ökonomik im Rahmen der Diakoniewissenschaften Lernbereitschaft gegenüber der Theologie erwarten. Auf Seiten der Wirtschaftswissenschaft bestehen ernste Diskurshindernisse vor allem dort, »wo die Ökonomie und die ihr verbunden[en] Theorien einen grundsätzlichen Diskursbedarf mit außerökonomischen Wissenschaftssphären um die Gestaltung der Wirtschaft nicht erkennen oder einen solchen Diskurs gar nicht erst für möglich halten«96. Vorausgesetzt ist also, dass jede Theorie des Ökonomischen rückgebunden ist an eine bestimmte Sozialtheorie und ein grundlegendes Verständnis des Menschen, das nicht nur einer philosophischen, sondern auch einer theologischen Klärung und Überprüfung bedarf. Insofern ist gerade die Anthropologie ein zentrales gemeinsames Thema von Theologie und Ökonomie im diakoniewissenschaftlichen Kontext. 1.5.2

Diakonie und Ökonomie

Im Anschluss an Arnd Götzelmann lassen sich drei diakonische Grundmodelle unterscheiden, die auch verschiedene Sichtweisen auf die Ökonomie haben.97 Da ist zum ersten das Konzept der unternehmerischen Diakonie, das derzeit vor allem durch das durch Alfred Jäger begründete Bielefelder Diakonie-Managementmodell vertreten wird.98 Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass erfolgreiche und effiziente diakonische Arbeit nur durch Anpassung an die gültigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gelingen kann. Theoretische Basis ist das Managementkonzept des Schweizer Ökonomen Hans Ulrich (St. Gallen), das systemtheoretische und konstruktivistische Elemente enthält. Die Stärken des Konzepts liegen im Ernstnehmen von systemischen Eigenlogiken und sozialen Ausdifferenzierungsprozessen. Positiv ist auch hervorzuheben, dass die Klienten diakonischer Arbeit als Handlungssubjekte aufgewertet werden. Der Kundenbegriff führt zur Stärkung der Autonomie der Klienten und fördert die Entwicklung von Instrumenten der Qualitätssicherung. Allerdings besteht die Gefahr, dass ökonomische Kategorien wie Gewinn, Konkurrenz und Marktgängigkeit christliche Leitbilder und Sinnentwürfe konterkarieren. »Diakonische Unternehmen richten sich an sicheren Geschäftsfeldern aus und 96 97 98

A.a.O., 458. Vgl. Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 25–28. Neben den Arbeiten von Jäger (z.B. Jäger, Diakonie) und Haas siehe v.a. Lohmann, Das Bielefelder Diakonie-Managementmodell. Vgl. aber auch das Management-Modell von Johannes Degen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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benötigen Gewinne. Auf der Strecke kann hier die diakonische Ausrichtung an den Geringsten und Schwächsten der Gesellschaft bleiben.«99 Dieser Gefahr versucht das Modell einer anwaltschaftlichen Diakonie zu begegnen, wie es z.B. Steffen Fleßa engagiert vertritt.100 Diese orientiert sich vorrangig an der biblischen Option für die Armen und versteht Diakonie und Kirche als Anwälte derer, die in der Gesellschaft ausgegrenzt werden und keine Stimme haben. Fleßa fordert eine radikale Abkehr von der unternehmerischen Diakonie hin zu gemeindenahen diakonischen Initiativen. Die biblisch-theologische Ausrichtung dieses Konzepts gehört zweifellos zu seinen Stärken. Problematisch an diesem Modell ist allerdings, dass es das Gegenüber von Starken und Schwachen, Helfenden und Hilfsbedürftigen verfestigt, statt es in Richtung eines symmetrischen Verhältnisses aufzubrechen. Das Konzept einer advokatorischen Diakonie steht in der Gefahr, den Paternalismus vergangener Zeiten wiederaufleben zu lassen, der ungewollt zur Bevormundung derer führen kann, für die man sich einsetzen möchte. »Eine weitere Gefahr ist, dass sich eine solche Diakonie nicht auf gesellschaftliche Entwicklungen einlässt, sondern sich auf die Kritik dessen zurückzieht, was andere soziale Dienste falsch machen.«101 Als drittes Modell ist die Konzeption einer zivilgesellschaftlichen oder bürgerschaftlichen Diakonie im Gespräch, für das sich z.B. Götzelmann ausspricht. Es versteht sich nicht als Alternative zu den beiden vorgenannten Modellen, sondern versucht deren Anliegen zu verbinden und im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe zu ergänzen. Götzelmann greift dabei Impulse Johann Hinrich Wicherns auf, die im gegenwärtigen Diskurs zur Zivilgesellschaft fruchtbar gemacht werden sollen. Bürgerschaftliche Diakonie im Sinne Götzelmanns »basiert auf Freiwilligkeit, Freiheit von Gewinnorientierung, Gemeinwohlbezug und Gemeinschaftlichkeit. Sie nimmt den sozialen Wandel, den gesellschaftlichen Pluralismus und die ökonomischen Herausforderungen ebenso wahr und an wie das spezifisch christliche Profil diakonischen Handelns«102. Sie setzt sich mit Ursachen und Folgen ökonomischer Ausgrenzungsmechanismen ebenso auseinander wie mit den Chancen eines lebensdienlichen Wirtschaftens. Die genannten Modelle können hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass es zwischen unternehmeri99 100 101 102

Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 26. Vgl. Fleßa, Arme. Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 27. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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1. Diakonie und Wissenschaft

scher Diakonie und bürgerschaftlicher Diakonie keineswegs nur Synergieeffekte, sondern hinsichtlich der Zielsetzungen und Arbeitsformen auch zu Spannungen und Konflikten kommen kann, z.B. dann, wenn ein radikaler Umbau der Diakonie und ein drastischer Abbau an stationären Plätzen in Psychiatrie und Behindertenhilfe gefordert wird. Diakonische Unternehmen tragen der Entwicklung bereits durch eine fortschreitende Dezentralisierung und Regionalisierung ihrer Arbeitsund Geschäftsfelder Rechnung. Stationäre Einrichtungen werden zugunsten ambulanter Dienste reduziert. Das kann freilich dazu führen, dass gemeindenahe diakonische Initiativen zu neuen regionalen Dienstleistungsangeboten diakonischer Großunternehmen in Konkurrenz geraten. Die diakoniewissenschaftliche Begleitung dieser Entwicklung erfordert einen differenzierten Dialog mit der Ökonomik, der über betriebswirtschaftliche Managementmodelle hinausführt. Zu den künftigen Aufgaben der Diakoniewissenschaft gehört, dass neben dem Gespräch mit der Mikroökonomie, d.h. mit Betriebswirtschaft und Unternehmensethik, eine neue Phase des Dialogs mit der Makroökonomie über die Zukunft des Sozialstaates und menschen- wie umweltgerechtes Wirtschaften in einer globalisierten Welt eingeleitet wird.

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Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie1

2.1

Religion im öffentlichen Raum

Zu den Umbrüchen, die sich seit 1989 vollzogen haben, gehört die verstärkte Präsenz von Religion im öffentlichen Raum. Befreiungsbewegungen, auch in der arabischen Welt, die sich in den Jahrzehnten nach 1945 eine marxistische Ideologie vertraten, haben nach 1989 dramatisch an Bedeutung verloren. Dafür treten nun Religionen wie der Islam als neue politische Ideologie auf. Die Retheologisierung der Politik hat aber auch in der vom Christentum geprägten westlichen Welt stattgefunden. Man denke vor allem an die religiöse Rechte in den USA, deren Gedankenwelt sich aus einem evangelikalen Fundamentalismus speist. Und auch in Israel haben religiöse Kräfte, ultraorthodoxe Gruppierungen, starken Einfluss auf die Politik gewonnen, etwa unter den Siedlern im Westjordanland. Während es sich beim modernen Zionismus, der bei der Staatengründung Israels eine treibende Kraft war, um eine säkulare politische Bewegung handelte, gibt es heute einen religiös motivierten Zionismus mit messianischen Zügen. Auch die Rolle orthodoxer Kirchen im heutigen Russland und in Südosteuropa, die Melange zwischen Orthodoxie und Nationalismus und die kritische Haltung der Russischen Orthodoxen Kirchen zu den modernen Menschenrechten müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Der französische Soziologe und Politikwissenschaftler Gilles Kepel hat die im Einzelnen sehr unterschiedlichen, strukturell jedoch auch 1

Das Kapitel basiert auf einem Vortrag im Rahmen der Tagung »Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften«, 23.–25.2.2015 an der Friedrich-SchillerUniversität Jena, zuerst ershienen in: Rose/Wermke (Hg.), Religiöse Rede, 183–201. Für das vorliegende Buch wurde der Text um den Abschnitt 2.5 erweitert. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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verwandten Strömungen in Christentum, Islam und Judentum unter dem Begriff der »Rache Gottes« analysiert.2 Zwar unterscheiden sich die religiösen Bewegungen in ihrer Einstellung gegenüber der modernen Demokratie, doch ist ihnen das Bemühen um eine Repolitisierung der Religion, besser gesagt eine Retheologisierung der Politik, gemeinsam. Man sollte aus den erwähnten Entwicklungen allerdings nicht den voreiligen Schluss ziehen, die Säkularisierung, die vor allem als Spezifikum der gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa seit der Aufklärung gilt, habe sich nun endgültig als Trugschluss und moderner Mythos erwiesen.3 Die religiöse Lage ist komplex, auch innerhalb der einzelnen europäischen Länder, und ebenso die Gründe, weshalb Individuen ein verstärktes Interesse an Religion haben – oder aber im Gegenteil den Kontakt zur Religion immer mehr verlieren. Komplex sind die Verbindungen von religiöser und kultureller Identität, nicht zuletzt in Verbindung mit Migration. Vielgesichtig ist aber die gegenwärtige religiöse Landschaft auch deshalb, weil sich neben starker Zugehörigkeit zu einer der in Europa präsenten Religionen und christlichen Konfessionen nicht minder starke Tendenzen von Konfessionslosigkeit, Religionslosigkeit und religiösem Indifferentismus beobachten lassen.4 Auch unter Menschen mit muslimischer Herkunft gibt es vergleichbare Entwicklungen. Was das Christentum betrifft, trifft es längst nicht nur auf Ostdeutschland oder ein Land wie Tschechien zu, dass sich ein großer Teil der Konfessionslosen selbst als religionslos versteht und mit der Verbindung zur Kirche überhaupt den Zugang zur Religion verloren hat. Religiöser Indifferentismus ist inzwischen auch in Westdeutschland ein wachsendes Phänomen. Sofern sich »Indizien für eine verbreitete alternative Spiritualität« kaum finden5, erscheint es nicht nur für Ostdeutschland gerechtfertigt, Konfessionslosigkeit »mit dem Begriff der Säkularität zu verbinden«6. Da Konfessionslosigkeit aber nicht in allen Fällen mit religiöser Unbestimmtheit einhergehe, spricht Domsgen von »multipler Säkularität« und verweist auf die Typologie von Gerd Pickel, der sieben Typen von Konfessionslosen unterscheidet.7 2 3 4 5 6 7

Vgl. Kepel, Die Rache Gottes. Siehe außerdem Riesebrodt, Rückkehr. Vgl. Pollack, Säkularisierung. Vgl. dazu auch Kirchenamt der EKD (Hg.) Engagement und Indifferenz. Pittkowski, Konfessionslose in Deutschland, 103. Domsgen, Konfessionslosigkeit, 19. Vgl. Domsgen, Konfessionslosigkeit, 19ff. Zur Typologie Pickels siehe dort 21f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Ob man die Gesellschaften Europas insgesamt als postsäkular oder doch als säkular bezeichnen soll, sei dahingestellt. M.E. bedeutet der Begriff einer säkularen Gesellschaft nicht notwendigerweise, dass Religion völlig privatisiert oder marginalisiert ist. Säkularisierung lässt sich im Anschluss an Luhmann zunächst als funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft verstehen, mit der Folge, dass die Religion – d.h. in unseren Breitengraden geschichtlich betrachtet das Christentum – nicht mehr das soziale System ist, welches alle anderen integriert, sondern lediglich ein System neben anderen ist. Man sollte sich religionstheoretisch aber auch vor der Alternative zwischen Säkularisierungs- und Pluralisierungsparadigma hüten. Pluralisierung und Säkularisierung schließen einander nicht aus. Eine der drängenden Fragen einer auch in religiöser Hinsicht pluralistischen Gesellschaft lautet, was sie in ihrem Innersten zusammenhält, wenn es nicht mehr »die« Religion oder eine Mehrheitsreligion ist. Nach einer vielzitierten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes lebt der »freiheitliche, säkularisierte« – und das heißt eben pluralistisch verfasste – Staat »von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«8. »Als freiheitlicher Staat kann er«, wie Böckenförde ausführt, »nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert«9, ohne diese Regulierungskräfte durch rechtliche Sanktionen erzwingen zu können. Böckenförde deutet die Situation des modernen Staates freilich noch mittels des Säkularisierungsbegriffs und unterstellt eine Homogenität, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird.10 Doch eben dies versteht sich in der multikulturellen und multireligiösen Situation heutiger Gesellschaften nicht mehr von selbst, wie z.B. die Diskussion in Deutschland um den Begriff einer Leitkultur und darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, zeigt.11 Ob die pluralistische Demokratie oder auch das Konzept einer Zivilgesellschaft in jedem Fall auf irgendeine Form von Religion, d.h. eine Form der Zivilreligion angewiesen bleibt, ist aber umstritten.12 8 9 10 11

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Böckenförde, Entstehung, 112 (im Orig. kursiv). Ebd. Vgl. Böckenförde, Entstehung, 115f. Auch Böckenförde sieht dies inzwischen differenzierter. Vgl. sein Interview in der taz vom 23.9.2009 (http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/ digi-artikel/?ressort=sw&dig=2009%2F09%2F23%2Fa0090&cHash=21e4e4c527, letzter Zugriff am 3.3.2016). Vgl. dazu Diekmann, Religion. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Steht im Hintergrund der Überlegungen Böckenfördes die Frage, wieviel Religion der säkulare Staat braucht, so wird inzwischen eindringlich darüber debattiert, wieviel Religion der moderne demokratische und weltanschaulich plurale Rechtsstaat verträgt.13 Die Auseinandersetzungen um Mohammed-Karikaturen, Meinungsfreiheit und Rücksicht auf religiöse Gefühle nach den Attentaten vom Januar 2015 in Paris gehören dazu ebenso wie die Debatten und gerichtlichen Auseinandersetzungen um religiöse Symbole im öffentlichen Raum. Zugleich stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig die Religionen sind, d.h. in welchem Maße sie in der Lage sind, sich der Moderne zu öffnen, ohne ihre Substanz preiszugeben und ihre Kritikfähigkeit einzubüßen. Das gilt insbesondere für die monotheistischen Religionen, deren Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott traditionellerweise zur Behauptung eines exklusiven Geltungsanspruchs für die eigene Religion führt. Die Religionen sind deshalb herausgefordert, sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche und ihrer grundsätzlichen Relativierung in modernen pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen. 2.2

Öffentliche Theologie

Auf diese Gemengelage von Religion im öffentlichen Raum reagieren unterschiedliche Konzeptionen einer Öffentlichen Theologie. Der Begriff verbindet sich im deutschsprachigen Raum vor allem mit Werk und Wirken Wolfgang Hubers und seiner Schüler, unter denen Wolfgang Vögele und Heinrich Bedford-Strohm besonders erwähnt seien. Öffentliche Theologie, wie Huber sie versteht, ist eine alle Disziplinen einschließende Form von kirchlicher Theologie, nämlich jene Theologie, mit deren Hilfe die Kirche im Pluralismus ihren Öffentlichkeitsauftrag angemessen wahrnimmt. Im Sinne Hubers ist Öffentliche Theologie »die kritische Reflexion über das Wirken und die Wirkungen des Christentums in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein sowie die dialogische Teilnahme am Nachdenken über die Identität und die Krisen, die Ziele und die Aufgaben der Gesellschaft«14. Ebenso definiert Wolfgang Vögele den Begriff.15 Der Begriff selbst stammt jedoch aus Nordamerika. Erstmals hat ihn Martin E. Marty zu Beginn der 1970er-Jahre in einem Beitrag zur De13 14 15

Vgl. Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland? Huber, Offene und öffentliche Kirche, 206. Vgl. Vögele, Menschenwürde, 23f. Vgl. ders., Zivilreligion, 418ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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batte über Zivilreligion gebraucht. Damit ist auch schon einer der Diskurse benannt, innerhalb derer der Terminus Öffentliche Theologie/public theology verortet ist. Öffentliche Theologie ist nach wie vor ein offenes Paradigma, das in unterschiedlichen Kontexten verschiedenartig interpretiert wird. Wichtige Grundtexte seit den Anfängen der Debatte sind jetzt bequem zugänglich in einer von Florian Höhne und Frederike van Oorschot besorgten Edition.16 Er umfasst Beiträge aus Nordamerika, Südafrika, Ozeanien, Australien und Asien, aus Lateinamerika sowie aus Europa. Seit 2007 besteht ein Internationales Netzwerk für Öffentliche Theologie (Global Network for Public Theology [GNPT]), das sich mit dem »International Journal of Public Theology« ein eigenes Publikationsorgan zugelegt hat. Es sind verschiedene Diskurse, die sich in der Debatte über Öffentliche Theologie überlagern.17 Neben der Debatte über Zivilreligion im nordamerikanischen Raum, die seit einiger Zeit auch für den europäischen Kontext geführt wird, steht der Diskurs über Begriff und Konzeptionen einer politischen Theologie. Aber auch der Diskurs über kontextuelle Theologien und die verschiedenen Spielarten einer Theologie der Befreiung findet in demjenigen über Öffentliche Theologie bzw. die Vielfalt öffentlicher Theologien eine Fortsetzung. Eine weitere Überschneidung besteht mit dem Diskurs über öffentliche Religion.18 Wurde unter diesem Begriff seit Beginn der 1990er-Jahre zunächst die Rolle von Religionen als Quellen und Prägekräften zivilgesellschaftlichen Engagements diskutiert, richtet sich das Forschungsinteresse inzwischen auch auf Religionen als Institutionen und politische Akteure. Die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, aber auch ihre Organisationen wie etwa Caritas und Diakonie, treten als Akteure im öffentlichen Raum auf, genauso wie die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften, Kultur- und Sportorganisationen. Sie agieren nicht nur als Teil der Zivilgesellschaft, sondern haben in vielen Ländern nach wie vor ein besonderes Verhältnis zum Staat, das staatskirchenrechtlich geregelt ist. Im Fall der römisch-katholischen Kirche kann es sich sogar um völkerrechtliche Verträge handeln, tritt doch der Apostolische Stuhl als Völkerrechtssubjekt auf. Der Begriff Öffentliche Religion hat inzwischen freilich auch noch eine andere Bedeutung erlangt. Namentlich im Zusammenhang mit den Fällen von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Raum – vornehmlich, aber eben leider kei16 17 18

Zur Vertiefung siehe auch Höhne, Öffentliche Theologie; Faix/Künkler, Glauben im öffentlichen Raum. Vgl. dazu auch Smit, Paradigma Öffentlicher Theologie. Vgl. Casanova, Public Religions. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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neswegs nur im Bereich der römisch-katholischen Kirche – ist deutlich geworden, dass die Öffentlichkeit keine Abschottung der Kirchen vor missliebiger Kritik oder gar vor weltlicher Strafverfolgung duldet. Auch beim Umgang mit ihrem Geld sehen sich die Kirchen der Forderung nach Transparenz gegenüber. Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und der professionelle Umgang mit den Massenmedien sind eine Facette öffentlicher Religion. Ein anderes Beispiel für die angesprochene Seite öffentlicher Religion ist die Forderung nach deutschen Predigten in hiesigen Moscheen, um die hier stattfindende religiöse Kommunikation öffentlich transparent zu machen. Wiederum bemühen sich die Moscheegemeinden selbst um den Abbau von bestehendem Misstrauen, wenn regelmäßig Tage der offenen Moschee abgehalten werden. Der Diskurs über Öffentliche Theologie berührt auch all diese angeschnittenen Fragen. Umstritten ist unter anderem, ob Öffentliche Theologie und politische Theologie synonyme Begriffe sind. Während Jürgen Moltmann in jüngerer Zeit die Bezeichnung »Öffentliche Theologie« verwendet hat, um sein früher als politische Theologie bezeichnetes Anliegen zu benennen,19 plädiert der amerikanische Theologe Max Stackhouse mit Nachdruck für die Unterscheidung zwischen politischer und Öffentlicher Theologie. Nach Stackhouse ist die gesellschaftliche Sphäre der politischen vorgeordnet. Die politische Theologie räume dagegen der Sphäre des Politischen Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen ein. Für Stackhouse sind der Staat, politische Parteien, Regierungen und politische Strategien zwar »immer notwendig, aber zugleich Nebenprodukte jener religiösen, kulturellen, familiären, wirtschaftlichen und sozialen Traditionen, die der Regierung vorgeordnet sind«20. Auch favorisiere Öffentliche Theologie solche Sozialtheorien, »die eine tiefe religiöse Prägung der kulturellen, familiären, ökonomischen und intellektuellen Traditionen annehmen«21. Vom Konzept der Zivilreligion grenzt Stackhouse seinen Begriff von Öffentlicher Theologie dahingehend ab, dass diese im Unterschied zum Erbe der Zivilreligion, »das soziale System und seine Kultur nicht so« feiere, »wie sie ist«22, sondern sie wolle bestehende Zustände verändern. Öffentliche Theologie strebe aber weder politische Macht an, wie es die politische Theologie tue, noch rufe sie mit utopischen Visionen nach radikalen Veränderun-

19 20 21 22

Vgl. Moltmann, Theologie im Projekt der Moderne. Stackhouse, Zivilreligion, 67. Ebd. A.a.O., 61. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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gen, sondern im Wissen um die Tiefe menschlicher Sünde freue sie sich »an bescheidenen Veränderungen«23. Klärungsbedürftig ist außerdem der jeweilige Öffentlichkeitsbegriff, der von unterschiedlichen Konzeptionen einer Öffentlichen Theologie vorausgesetzt wird. Besonders einflussreich ist der Vorschlag von David Tracy, den er bereits zu Beginn der 1980er-Jahre unterbreitet hat. Tracy unterscheidet drei Öffentlichkeiten der Theologie, nämlich die akademische Öffentlichkeit, die kirchliche Öffentlichkeit und die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Zu allen der Öffentlichkeiten habe sich die Theologie kritisch und nicht etwa nur affirmativ ins Verhältnis zu setzen, weil ihre Loyalität zu allen drei Öffentlichkeiten nur »so lange erhalten« bleiben sollte, »wie die Loyalität zu Gott die erste und durchdringende Loyalität bleibt«24. M.E. ist Tracys Unterscheidung der drei Öffentlichkeiten auch für eine Öffentliche Theologie im europäischen Kontext recht brauchbar. Die Unterscheidung lässt sich im Blick auf die einzelnen Öffentlichkeiten und ihre wechselseitige Durchdringung bzw. Überlagerung durchaus noch verfeinern, weil innerhalb von Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft weitere Ausdifferenzierungsprozesse stattfinden. Man denke nur an die Ausdifferenzierung von Kirche und moderner Diakonie. Auch die Schule ist ein eigener Öffentlichkeitsraum. Es lohnt sich von daher, den Ort und die Aufgabe der Religionspädagogik im Raum der Schule auch unter dem Blickwinkel einer Öffentlichen Theologie zu diskutieren. Wenn also Huber und Vögele die Aufgabe von Öffentlicher Theologie als kritische Reflexion über das Wirken und die Wirkungen des Christentums in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein bestimmen, möchte ich diese Definition etwas variieren und Öffentliche Theologie als kritische Reflexion über das Wirken und die Wirkungen des Christentums in den verschiedenen Öffentlichkeiten bestimmen. 2.3

Engführungen Öffentlicher Theologie

Im Unterschied zum Modell einer politischen Theologie, wie sie Carl Schmitt vertreten hat, begreift Öffentliche Theologie den Pluralismus nicht als Verhängnis, sondern als Frucht des Christentums. Sie beteiligt sich engagiert am gesellschaftlichen Diskurs, ohne doch für den eigenen Standpunkt einen privilegierten Status einzufordern, der mit

23 24

A.a.O., 62. Tracy, Verteidigung, 45. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Hilfe staatlicher Macht oder der Gesetzgebung für alle Bürgerinnen und Bürger vorgeschrieben werden soll. Für den Protestantismus ist gelegentlich sogar vom Pluralismus als »Markenzeichen« gesprochen worden.25 Wie Christofer Frey klarstellt, kann die Aussage, der Protestantismus sei seinem Wesen nach pluralistisch, »ohne Selbstwiderspruch nicht auf jener grundsätzlichen Ebene gelten, die Voraussetzung jeglichen humanen Pluralismus ist und deshalb die Anerkennung des anderen, den Zuspruch der Menschenwürde und den Schutz menschlichen Lebens begründen will. Ein Pluralismus gilt aber angesichts der Frage, welche empirischen Identifikatoren, gegebenenfalls mit Nachhilfe philosophischer Interpretation, zur Identifikation herangezogen werden können, um zu bestimmen, wann und wie der Schutz menschlichen Lebens oder die Konsequenzen des Zuspruchs der Menschenwürde relevant werden.«26 Nicht im Bereich der ethischen Grundlegung, wohl aber »im Bereich der pragmatischen Umsetzung in Problembereiche, die empirische Sachverhalte und hermeneutische Perspektiven in einem umfassen, ist ein Pluralismus der Anwendung prinzipieller Einsichten in Grenzen zu vertreten.«27 Öffentliche Theologie meint nun keineswegs bloße Lobbyarbeit der Kirchen oder der universitären Theologie im öffentlichen Raum. Die EKD-Version einer Öffentlichen Theologie, wie sie vor allem von Wolfgang Huber und seinem Schüler Heinrich Bedford-Strohm vertreten wird, sieht sich dieser Kritik ausgesetzt. Christian Albrecht gelangt zu dem Befund, Öffentliche Theologie verstehe »die Betonung der politischen Verantwortung […] als Mittel gegen die Marginalisierung von Kirche und Frömmigkeit«28. Die Mitglieder der Kirche wie der Gesellschaft erwarteten ein geordnetes Feld »von Zuverlässigkeiten. Zu dessen Ordnung gehört, dass die Kirche verlässlich als Anwalt der Armen und Wächter der Gerechtigkeit auftritt (übrigens genauso wie der Umstand, dass dem Politiker die politischen Stellungnahmen der Kirche zu bunt werden)«29. Albrecht vergleicht die Kirche mit dem ADAC und anderen Verbänden. »So leicht prognostizierbar ist, was 25

26 27 28 29

Vgl. Anselm/Fischer/Frey/Körtner/Kreß/Rendtorff/Rössler/Schwarke/Tanner, Pluralismus als Markenzeichen. Der vollständige Text trägt den Titel »Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung« und ist abgedruckt in: Anselm/Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin, 197–208. Frey, Pluralismus, 173. A.a.O., 174. Albrecht, Bibel. Ebd. Albrecht spielt auf einen Beitrag des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble an. Siehe Schäuble, Das Reformationsjubiläum 2017, 46. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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der ADAC zur Forderung nach einem Tempolimit sagt, der BDI zu TTIP und die Grünen zur Erleichterung des Hochschulzugangs für bildungsferne Schichten, so vorhersehbar ist, was der EKD-Protestantismus dazu sagt.«30 Hier setzt die Kritik von Johannes Fischer ein. Eine Kirche, die ihr Profil vornehmlich auf ethischem Gebiet ausweisen will, begünstigt die seiner Ansicht nach irrtümliche »Vorstellung, in ethisch kontroversen Fragen müsse es genau einen, ›den‹ christlichen Standpunkt geben, den die Kirche in der öffentlichen Debatte zur Geltung bringen muss«31. Fischer kritisiert nicht nur den »Zwang zur Eindeutigkeit«32, sondern auch die Art und Weise, in der sich Vertreter Öffentlicher Theologie auf Bonhoeffer berufen. Man werde Bonhoeffers Theologie nicht gerecht, wenn man ihr nur den Satz entnimmt, dass die Kirche eine Kirche für die Welt und für andere sein soll, »um sie alsdann hinter sich zu lassen und auf diesen Satz das Konzept einer Öffentlichen Theologie zu gründen«33. Nicht die Welt, sondern die Wirklichkeit Jesu Christi, »des menschgewordenen Gottes, in welche die Welt hineingenommen ist«34, sei der Bezugspunkt der Theologie Bonhoeffers. Öffentliche Theologie, wie sie die EKD und ihre leitenden Personen formulieren, setze den christlichen Glauben und die christliche Liebe ungerechtfertigterweise als fraglos gegeben voraus. Dabei sei keineswegs schon klar, wie das Wirken des Geistes Gottes im Leben eines Menschen gegenwärtig ist. »Wie gewinnt sie sprachliche Artikulationsund gedankliche Ausdruckskraft? Welche Rolle spielen dabei gottesdienstliche Vollzüge und die Frömmigkeitspraxis? Sind es nicht solche Fragen, durch die theologisches Nachdenken auf den Plan gerufen wird? Gerade diese Fragen«, so Fischers Kritik, »liegen außerhalb des Interesses Öffentlicher Theologie«35. Fischers Einwand spricht meines Erachtens nicht gegen das Programm einer Öffentlichen Theologie überhaupt. Für unzureichend halte ich aber ein Verständnis von Öffentlicher Theologie, welche diese im Wesentlichen auf Fragen der Sozialethik reduziert. Die von Fischer gestellten Fragen sind nicht nur im Raum der Kirche, sondern auch im Raum der Öffentlichkeit zu thematisieren. Dabei sollte man sich aber vor einer falschen Alternative hüten. Fischer fragt: »Ist die theologi30 31 32 33 34 35

Albrecht, Die Bibel folgt keiner Partei. Fischer, Gefahr der Unduldsamkeit, 45. Ebd. A.a.O., 44. A.a.O., 45. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sche Aufgabe in ihrem Kern eine Ethik für die Welt oder die geistliche Orientierung derer, die sich zur Kirche halten oder religiös auf der Suche sind?«36 So sehr ich Fischers Kritik an einer auf Ethik reduzierten Öffentlichen Theologie teile und so sehr ich auch die Aufgabe der Theologie darin sehe, der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden zu dienen und ihr Orientierung zu geben, so sehr bin ich doch davon überzeugt, dass sich die Aufgabe der geistlichen Orientierung, von der Fischer spricht, nicht auf die Kirche und diejenigen beschränkt, die sich zur Kirche halten. Nicht nur gibt es auch außerhalb der Kirche Menschen, die religiös auf der Suche sind. Sondern das Nachdenken darüber, was das Evangelium von dem menschgewordenen Gott, in dessen Wirklichkeit die ganze Welt hin eingenommen ist, ist für die Öffentlichkeit selbst von Interesse. Sie ist es auch für solche Mitglieder der Gesellschaft, die nicht zum Christentum gehören oder sich überhaupt für religionslos halten. 2.4

Rede von Gott und Religionskritik als Aufgabe Öffentlicher Theologie

Wiederholt hat Jürgen Habermas klargestellt, dass die Säkularisierung der Staatsgewalt nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft zu verwechseln ist. Er kritisiert daher eine »einäugig-säkularistische Lesart der säkularisierten Staatsgewalt, die falsche Fronten aufbaut«37. Der falschen Alternative von aufgeklärtem Universalismus und multikulturellem Relativismus hält Habermas entgegen, dass sich das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten erfülle. In den religiösen Traditionen und ihrer Semantik liege ein möglicherweise noch unabgegoltenes Deutungspotential menschlicher Existenz, das durch eine säkulare Sprache – zumindest bis auf weiteres – nicht vollständig ersetzt werde. Habermas denkt dabei etwa an die jüdische und christliche Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in bioethischen und biopolitischen Zusammenhängen die Unverfügbarkeit des Menschen in einer Weise zum Ausdruck bringe, die der Begrifflichkeit der Menschenwürde in bestimmter Hinsicht überlegen sei. Daher müsse »der liberale Staat den säkularen Bürgern nicht nur zumuten, religiöse Mitbürger, die ihnen in der politischen Öffentlichkeit begegnen, als Personen 36 37

Ebd. Jürgen Habermas, Wieviel Religion verträgt der liberale Staat? © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ernst zu nehmen. Er darf von ihnen sogar erwarten, dass sie nicht ausschliessen, in den artikulierten Inhalten religiöser Stellungnahmen und Äusserungen gegebenenfalls eigene verdrängte Intuitionen wiederzuerkennen – also potenzielle Wahrheitsgehalte, die sich in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation einbringen lassen.«38 So sehr sich religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften in öffentlichen Diskursen – z.B. über Fragen der Bioethik und Biopolitik – explizit einer religiösen Sprache und entsprechender Argumente bedienen dürfen, müssen sie nach Ansicht von Habermas allerdings akzeptieren, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Diskussionsbeiträge erst dann in die politischen Entscheidungsprozesse Eingang finden kann, nachdem er in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt worden ist. Solche Übersetzungsarbeit zu leisten, ist das Anliegen Öffentlicher Theologie. Wie Heinrich Bedford-Strohm erläutert, muss Öffentliche Theologie einerseits in der christlichen Tradition gegründet sein, andererseits aber »zweisprachig« agieren können: »Öffentliche Theologie hat über ihre eigenen biblischen und theologischen Quellen Aufschluss zu geben, aber sie muss auch eine Sprache sprechen, die von der Öffentlichkeit als Ganzer verstanden werden kann«39, d.h. sie muss zwischen biblischer Begründung und Vernunftbegründung hermeneutisch und argumentativ vermitteln können. Wie bei jeder Übersetzungsarbeit stellt sich jedoch auch für religiöse Sprachen und Sprachspiele die Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit.40 Die Grenzen der Übersetzbarkeit ergeben sich m.E. daraus, dass alle Theologie von Gott zu reden hat. Als Name für die alles bestimmende Wirklichkeit, wie sie in der biblischen Überlieferung bezeugt wird, ist das Wort »Gott« unaufgebbar und lässt sich nicht durch andere Begriffe wie »Sinn« oder »Transzendenz« ersetzen. Gott ist auch nicht die Bezeichnung für eine besondere Weise der Mitmenschlichkeit, wie der Bultmann-Schüler Herbert Braun behauptet hat, sondern deren Grund. Christliche Theologie muss es auch heute wagen, von Gott zu reden, nicht nur von (gelebter) Religion oder irgendwelchen »Gottesgedanken« als Restbeständen moderner Religionskulturen.41 Sie unternimmt das Wagnis, menschliche Lebenswelt im Licht der Gottesrede zu interpretieren, und versetzt damit potentiell alle Menschen in die Teilnehmerperspektive, insofern sie ihrer aller »Be38 39 40 41

Ebd. Bedford-Strohm, Öffentliche Theologie, 349. Vgl. auch Tietz, … mit anderen Worten. Vgl. dazu auch Körtner, Amen; ders., Mut machen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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troffenheit« durch die biblisch begründete Gottesrede einsichtig zu machen versucht. Das aber wird nicht schon dadurch erreicht, dass überhaupt und allgemein von Gott gesprochen wird, sondern dadurch, dass – ausgehend von den biblischen Texten – das Angegangensein des Menschen und seiner Lebenswirklichkeit durch Gott konkret beschrieben wird. Gewiss muss das Evangelium von dem menschgewordenen Gott, der Liebe ist, auch den »Religiösen« bezeugt werden. Es gilt aber auch den Religionslosen, denen, die sich selbst wie einst Max Weber oder heute Jürgen Habermas für »religiös unmusikalisch« halten. Ihnen erst einreden zu wollen, dass sie in Wahrheit doch auch alle religiös sind, entspricht der von Paulus scharf zurückgewiesenen Forderung, sogenannte Heiden müssten sich erst beschneiden lassen, das heißt Juden werden, bevor sie Christen werden könnten. Das ist nicht nur theologisch falsch, sondern auch unanständig, wie Dietrich Bonhoeffer unmissverständlich klargestellt hat. Seine Frage lautete, wie man Christus auch den Religionslosen verkündigen kann. Und diese Frage ist nach wie vor drängend, weil es neben religiösen Neuaufbrüchen in unseren Breitengraden auch einen massenhaften Gewohnheitsatheismus (Wolf Krötke)42 gibt, dem die Frage nach Gott schlicht abhandengekommen ist, ohne dass die Menschen irgendetwas zu vermissen glauben. Dieser Gewohnheitsatheismus arbeitet sich nicht mehr wie noch vor Jahrzehnten der Protestatheismus an der Theodizeefrage ab, sondern lebt ganz selbstverständlich ohne Gott. Nicht, dass der Gewohnheitsatheismus keine Sinnfragen kennen würde. Aber mit dem Tod und anderen Sinnwidrigkeiten kann man offenbar auch ohne Gott fertig werden, wie schon Bonhoeffer in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hellsichtig erkannt hat. Theologie und Kirche können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der biblische Gott zumindest im Modus einer offenen und offengehaltenen Frage präsent ist. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit. Nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst scheint in Vergessenheit zu geraten. Diese »Gotteskrise« (Johann Baptist Metz) wird durch ein schwammiges Gerede von Religion nur vernebelt, aber nicht behoben. Unter neuzeitlichen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten 42

Vgl. Krötke, Massenatheismus. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Gottesoffenbarung, so gewiss es keinen natürlichen oder evolutionären Weg von einem allgemeinen Religionsbegriff zum Geltungs- und Wahrheitsanspruch jedes wirklichen Monotheismus gibt. Ludwig Wittgensteins grundsätzliche philosophische Feststellung trifft auch auf den biblisch bezeugten Gott zu: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.«43 Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen. Wenn von Bonhoeffer etwas für Öffentliche Theologie im säkularen und pluralistischen Kontext zu lernen ist, so an erster Stelle, erneut die Frage zu stellen, wer Jesus Christus für uns heute ist. Diese Frage ist keineswegs schon beantwortet, so dass nur noch über das zeitgemäße Wie christlicher Verkündigung zu diskutieren wäre. Theologie, welche sich mit letzter Redlichkeit einer Situation stellt, in welche der christliche Glaube eben nicht fraglos gegeben ist, ist wartende Theologie,44 die eben nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat, sondern zu vielen ethischen Fragen nur qualifiziert schweigen kann und auch in Glaubensfragen ihre Sprachnot nicht kaschiert. Sie ist ferner in dem Sinne wartende Theologie, dass sie das Erbe des biblischen Zeugnisses hütet, getragen von der Hoffnung, dass es neu zu sprechen beginnt.45 Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, in zweierlei besteht, nämlich im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.46 Öffentliche Theologie hat freilich nicht nur die Grenzen der Übersetzbarkeit, sondern auch die Möglichkeiten des wechselseitigen Sprachgewinns im mehrsprachigen Diskurs zu reflektieren. Dadurch, dass ein Wort Eingang in eine andere Sprache findet, verändert sich möglicherweise seine Bedeutung. Sie kann auch angereichert werden. Und damit sind wir nun bei der Frage, was nicht etwa nur die säkulare Gesellschaft von der Kirche oder den Kirchen lernen kann, sondern auch, was Kirche und Theologie von der säkularen Gesellschaft, der modernen Wissenschaft, dem modernen Recht, den Künsten usw. lernen können. Wenn sich Theologie und Kirche auf den Diskurs mit der modernen Welt und der pluralistischen Gesellschaft einlassen, hat das Rückwirkungen auf die Bestimmung der Glaubensinhalte, mit anderen Worten 43 44 45 46

Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 114 (Nr. 6.5). Vgl. auch Rosenau, Vom Warten. Vgl. dazu Körtner, Theologie in dürftiger Zeit; ders., Anfänge. Vgl. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 435. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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auf die Dogmatik. Und darum möchte ich Öffentliche Theologie so verstehen, dass sie nicht etwa nur der Transmissionsriemen für theologisch-ethische Grundüberzeugungen ist, die bereits feststehen, sondern als gesellschaftlicher Lernort, in der nun gerade theologische Grundfragen in »einer ergebnisoffenen Diskursivität« im öffentlichen Raum neu durchdacht werden. So sind ja auch staatliche Universitäten eine Form der Öffentlichkeit und keine abgeschiedenen Institutionen. Zu den Aufgaben Öffentlicher Theologie, die mit der öffentlichen Rede von Gott auf biblischer Grundlage unmittelbar zusammengehören, rechne ich die Religionskritik. Grundsätzlich ist kein Bereich der Wirklichkeit von der Wirklichkeit Gottes getrennt. Es gibt so gesehen keine theologisch neutralen Zonen. Wenn Luther im Großen Katechismus erklärt, unser Gott sei das, woran wir unser Herz hängen,47 dann hat Theologie die kritische Aufgabe im öffentlichen Raum und in den verschiedenen Öffentlichkeiten zu fragen, woran Menschen de facto ihr Herz hängen und welche Folgen dies nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene hat. Freilich ist auch die eigene Rede Öffentlicher Theologie von Gott im Sinne des ersten Dekaloggebots der beständigen Kritik und Selbstkritik zu unterziehen, steht doch alle Rede von Gott, auch und gerade in Theologie und Kirche in der Gefahr, für politische oder sonstige Zwecke instrumentalisiert und missbraucht zu werden. Das Verhältnis von Gottesglaube und Religionskritik ist einigermaßen komplex. Das liegt unter anderem daran, dass der Begriff Religionskritik in drei verschiedene Bedeutungen vorkommt. 48 Unter Kritik der Religion ist erstens ihre Untersuchung von einem Standpunkt außerhalb derselben zu verstehen, sei es aus einem philosophischen, religionswissenschaftlichen, human- oder kulturwissenschaftlichen Blickwinkel. Religionskritik kann zweitens die Kritik von Religion aus der Binnenperspektive einer konkreten Religion bedeuten. Hierfür gibt es im Alten wie im Neuen Testament genügend Beispiele. Drittens schließlich kann Religionskritik von einem dezidiert antireligiösen Standpunkt aus mit dem Ziel betrieben werden, die Haltlosigkeit oder gar Schädlichkeit von Religion für Individuen wie für Gemeinschaften oder für die Gesellschaft im Ganzen nachzuweisen. In diesem Fall verschreibt sich die Religionskritik der Bekämpfung von Religion, sei es, dass eine andere Form der Weltanschauung an ihre Stelle treten soll, sei es, dass man glaubt, ersatzlos auf sie verzichten zu können. 47 48

Vgl. BSLK 560, 22–24. Vgl. dazu Körtner, Gottesglaube und Religionskritik. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Weil also der Begriff der Religionskritik eine mehrfache Bedeutung und der biblische Gottesglaube selbst ein religionskritisches Potential hat, stehen einander Gottesglaube und Religionskritik nicht einfach als zwei gegensätzliche Größen gegenüber – hier der Glaube, dort die Kritik –, sondern sie durchdringen einander vielfältig. Deshalb kann auch die Auseinandersetzung mit heutigen Formen von Religionskritik oder den neuen Atheismus-Spielarten nicht nach einem einfachen Schema von Frage und Antwort geführt werden, sondern nur in einem Wechselspiel von unterschiedlichen Formen der Kritik von Religion. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Theologie. Theologie im christlichen Kontext ist die Selbstprüfung des christlichen Glaubens in einer wissenschaftlichen Form. Auch wenn moderne Theologie religionswissenschaftliche Elemente enthält, ist die Theologie als Ganze doch von Religionswissenschaft zu unterscheiden, weil sie die eigene wie fremde Religionen nicht von einem neutralen oder a-religiösen Standpunkt aus betrachtet, sondern explizit einen religiösen Standpunkt einnimmt. Sie beschreibt eben nicht nur die eigene oder fremde Religionen, sondern bezieht inhaltlich Stellung. Sie verfährt nicht nur deskriptiv, sondern sie argumentiert normativ und somit kritisch, mag dies auch noch so zurückhaltend geschehen. Theologie als Selbstprüfung des christlichen Glaubens unter historischen, systematischen und praktischen Gesichtspunkten ist ein unaufgebbares Moment des Glaubens. In ihr verhält sich der Glaube kritisch zu sich selbst. Nicht nur gibt es eine explizite theologische Religionskritik, sondern Theologie als Wissenschaft ist insgesamt als Religionskritik zu verstehen. Es handelt sich bei ihr um die institutionalisierte religiöse Religionskritik des Christentums, die sich in der Moderne ihrerseits zu a-religiösen oder antireligiösen Formen der Religionskritik verhalten muss. Unter den Bedingungen der Moderne kann theologische Religionskritik nicht einfach aus der Binnenperspektive des Glaubens geübt werden. Seine Binnenperspektive muss sich vielmehr ausdrücklich zu den unterschiedlichen Außenperspektiven ins Verhältnis setzen. Dazu gehört die produktive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Spielarten von außertheologischer Religionskritik in der mehrfachen Bedeutung des Begriffs. Hierbei geht es nicht nur darum, eine Außenperspektive in die theologische Binnenperspektive zu integrieren, sie also von einer Außenperspektive zu einem Moment der Binnenperspektive zu transformieren und damit als Außenperspektive aufzuheben. Die eigentliche Herausforderung besteht vielmehr darin, die Außenperspektive am Ort der Binnenperspektive so zur Sprache zu bringen, dass das Andere zur eigenen Perspektive als dieses gewahrt bleibt. Dabei setzt sich Theologie, wenn sie es ernst meint, immer wieder © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

selbst aufs Spiel, weil ihr Nachdenken über Gott nicht mit der fraglosen Gewissheit seines Seins, sondern mit seinem Strittigsein konfrontiert. Als eine Form des »schwachen Denkens« (Gianni Vattimo)49 hat die Theologie teil an der Ohnmacht und Strittigkeit des gekreuzigten Gottes. So ist das Wort vom Kreuz (1 Kor 1,17f) Grund und Inbegriff einer religionskritischen Öffentlichen Theologie, die sich selbst der permanenten Kritik durch den biblisch bezeugten Gott ausgesetzt sieht. 2.5

Öffentliche Theologie und Theologie der Diaspora

Mit Florian Höhne lassen sich drei Grundfragen Öffentlicher Theologie formulieren: die sozialethische Frage nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, die fundamentaltheologische Frage nach der öffentlichen Kommunizierbarkeit derartiger Geltungsansprüche und ihrer Begründungen sowie schließlich die ekklesiologische Frage nach der Rolle der Kirche in den genannten Kommunikationsprozessen.50 Alle drei Grundfragen sind nun m.E. in Richtung auf eine Theologie der Diaspora hin zu vertiefen. Die Partikularität christlicher Überzeugungen und Orientierungen hängt mit dem theologischen Thema der Diaspora auf engste zusammen. Konkrete Erfahrungen der Diasporaexistenz z.B. protestantischer Kirchen sind exemplarisch für die Diasporaexistenz der Kirche in dieser Welt überhaupt. In der modernen pluralistischen Gesellschaft findet sich das Christentum in einer Diasporasituation vor. In vielen Ländern Europas bilden evangelische Christen und Kirchen eine Minderheit. Auch gesamteuropäisch betrachtet ist die Zahl der Protestanten in Europa geringer als die von römischen Katholiken und orthodoxen Christen zusammengenommen. Zunehmend machen aber auch katholische Christen die Erfahrung, zur gesellschaftlichen Minderheit zu werden. Die Diasporaexistenz des Glaubens wird zur gemeinsamen ökumenischen Erfahrung. Migration und die Existenz von Migrationskirchen und -gemeinden und ihre Auswirkungen auf die Kirchengemeinschaft sind in diesem Kontext ebenso zu bedenken wie der interreligiöse Dialog und die Pluralität der Religionen. Der australische Theologe James Haire reflektiert z.B. die Diasporasituation des Christentums im asiatischen Kontext. Eine sich als Öffentliche Theologie positionierende Theologie der Diaspora hat demnach 49 50

Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, bes. 121–139. Vgl. Höhne, Öffentliche Theologie, 41f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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den interkulturellen Charakter christlicher Theologie und seine Implikationen für die Frage zu bedenken, welche Beitrag eine Öffentliche Theologie zu den Debatten einer Zivilgesellschaft leisten kann, in welcher der christliche Glaube der Glaube einer Minderheit ist.51 Im asiatischen Kontext ist »die Interaktion zwischen der christlichen Minderheitsgemeinschaft und der größeren Gemeinschaft«52 ein zentrales Thema. Dabei sieht Haire die Anliegen Öffentlicher Theologie »schon im multikulturellen Kontext der Anfänge des Christentums«53 gegeben. Die australische, jetzt in Neuseeland lebende und lehrende Theologin Elaine M. Wainwright berichtet von der Arbeit des PaCT (Public and Contexual Theology Strategic Research Center) an der Charles Sturt University (Australien), dessen Tagungen regelmäßig Menschen aus verschiedenen pazifischen Nationen zusammenbringen. Diese Veranstaltungen und ihre Publikationen seien »Öffentliche Theologie, insofern sich Menschen mit ihrem Leben und den unvorstellbaren Herausforderungen und Möglichkeiten des Lebens in der Diaspora befassen«54. 2011 wurde in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ein Projekt zum Thema Theologie der Diaspora begonnen, das sich an Studierende der Theologie richtet und an dem mehrere theologische Fakultäten beteiligt sind. Das Projekt wurde – im 40. Jahr der Leuenberger Konkordie – mit einer Konferenz in Italien beendet. 2012 hat die GEKE auf ihrer Vollversammlung in Florenz einen Studienprozess empfohlen, für den vom Rat der GEKE eine Expertengruppe eingesetzt worden ist, die ihre Arbeit bereits begonnen hat.55 Es geht in diesem Studienprozess ausdrücklich darum, eine Theologie der Diaspora zu entwickeln, die sich als eine Gestalt von Öffentlicher Theologie begreift. Wie in einer ersten Thesenreihe aus dem Studienprozess festgestellt wird, sind im Diskurs über eine Theologie der Diaspora freilich drei Diaspora-Begriffe zu unterscheiden: 1. »Ein deskriptiv-soziologischer Begriff, welcher sich auf die zahlenmäßig erfassbare Situation von Kirchen hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen in einer Gesellschaft bezieht. In dieser Hinsicht wird der Begriff synonym mit Minderheitensituation verwendet.« 2. »Ein deskriptiver Begriff, der die Selbstdeutung 51 52 53 54 55

Vgl. Haire, Öffentliche Theologie, 154. A.a.O., 159. A.a.O., 158. Wainwright, »Texts@Context«, 146. Vgl. dazu die Beiträge in: GEKE focus 20, 2013 (http://issuu.com/ecumenix/ docs/geke_focus-20_web?e=1141279/5894576 [letzter Zugriff am 20.7.2016). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

einer Kirche beschreibt. ›Diaspora‹ meint dann ein bestimmtes Selbstverständnis einer Kirche angesichts ihrer Minderheitensituation.« 3. »Ein theologischer Interpretationsbegriff, der die Minderheitensituation von Kirche(n) aus einer biblisch-christlichen Tradition heraus deutet. Im theologischen Begriff von Diaspora sind immer ein bestimmtes theologisches Geschichtsbild und eine bestimmte Ekklesiologie impliziert.«56 Zu den weiter zu bearbeitenden Fragestellungen gehört die interdisziplinäre Analyse von Minderheitensituationen und ihrer jeweiligen Dynamik. Die Beschäftigung mit soziologischen, politikwissenschaftlichen, historischen und ökonomischen Analysen zu Minderheitensituationen und ihren Bewältigungsstrategien kann auch für einen theologischen Begriff der Diaspora förderlich sein. Allerdings ist die theologische und kirchliche Interpretation von Minderheitensituationen nicht notwendigerweise auf den Diaspora-Begriff angewiesen. Neben diesem gibt es noch weitere biblische Motive und theologische Topoi, weshalb das Anliegen einer Theologie der Diaspora, die sich zugleich als Gestalt Öffentlicher Theologie versteht, nicht ausschließlich an den Diaspora-Begriff gebunden ist. Für eine Öffentliche Theologie der Diaspora finden sich wegweisende Impulse bei Ernst Lange sowie im Werk des österreichischen lutherischen Theologen Wilhelm Dantine (1911–1981), einer der Väter der Leuenberger Konkordie. Diese Impulse gilt es aufzugreifen und für unsere Situation und die Herausforderungen der Gegenwart weiterzuentwickeln. Das Leben in der Diaspora ist keineswegs nur die spezifische Situation von Minderheitenkirchen, sondern ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens und der Kirche, das in ökumenischer Perspektive zu bedenken ist. Unter dem Titel »Ekklesia und Diaspora« hat Ernst Lange die Existenz und das Leben der Kirche im Wechselspiel zwischen Sammlung und Zerstreuung beschrieben. Die Situation der Diaspora trifft nach diesem Verständnis in modernen Gesellschaften auch auf solche Kirchen zu, deren Mitglieder statistisch betrachtet einen hohen Bevölkerungsanteil oder sogar die religiöse Mehrheit bilden. Bei Sammlung (Ekklesia) und Zerstreuung (Diaspora) handelt es sich nach Lange um einander abwechselnde und aufeinander bezogene Phasen, wobei er sein Phasenmodell auf das Gemeindeleben bezieht:

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Die englische Fassung dieser Thesen ist in dem in Anm. 55 zitierten Heft, 10– 12 veröffentlich (hier 11). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

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»In der Versammlung geht es von vornherein und ausschließlich um die Kommunikation des Glaubens, freilich in dem breiten Sinn, in dem wir das Wort zu verstehen suchten: letztlich ist die ganze Wirklichkeit Gegenstand der Verhandlung. In der Zerstreuung kann der Glaubende nur darauf hoffen, dass er, wo er präsent und verfügbar ist, Kommunikation finden und in der Kommunikation den Durchbruch der Verheißung erfahren wird. […] In der Versammlung geht es darum, die Verheißung im Licht der Wirklichkeit wahrzunehmen. Da helfen viele Augen und viele Ohren mit. In der Zerstreuung geht es darum, die Wirklichkeit im Licht der Verheißung wahrzunehmen. Da ist der Glaubende auf seine eigenen Augen und Ohren angewiesen.«57 »Das Problem und zugleich die Chance heutigen Gemeindelebens ist, dass die Diasporaphase gegenüber der Gemeinde in Versammlung unerhört an Gewicht und auch an Ausdehnung gewonnen hat. Die Ekklesia ist abgedrängt in einen ganz schmalen Bereich der Freizeit. Verlassen die Christen die Versammlung, dann wechseln sie buchstäblich die Welt, und zwar muß jeder den Übergang in seine Welt finden.«58 Nach Lange liegt die »Last der Bürgschaft in der Diasporaphase« weniger auf den Pfarrerinnen und Pfarrern oder anderen hauptamtlichen Mitarbeitern, als vieler »fast ganz auf den nichtbeamteten Christen, den sogenannten ›Laien‹«59.

Langes Phasenmodell ist darin wegweisend, dass es den Diasporabegriff nicht auf die demographische Minderheitensituation beschränkt, sondern auf die Existenz von Kirche und Gemeinde in der modernen säkularen Gesellschaft anwendet. Die Gegenüberstellung von versammelter Gemeinde und Vereinzelung der Christen in der Diasporaphase bietet freilich eine verengte Sicht der Präsenz der Kirche in der modernen Gesellschaft, weil kirchliche Formen der Vergemeinschaftung außerhalb des Gottesdienstes und ihre Schnittstellen zu außerkirchlichen Vergemeinschaftungsformen unberücksichtigt bleibt. Sie reichen vom Kirchenchor über diverse Gemeindegruppen und -aktivitäten, Gemeindefeste und kulturelle Aktivitäten bis zum Kindergarten. Hier wären auch die Zusammenhänge zwischen Gemeindearbeit und Gemeinwesenarbeit zu bedenken. Weitere Impulse für eine Theologie der Diaspora, die sich als Öffentliche Theologie versteht, findet man bei Wilhelm Dantine. In ökumenischer Ausrichtung hat Dantine die Diasporaexistenz der evangelischen Kirche in Österreich als »protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt«60 beschrieben. Sein gleichnamiger Aufsatz aus 57 58 59 60

Lange, Chancen des Alltags, 142f. A.a.O., 149. Ebd. Dantine, Protestantisches Abenteuer. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

dem Jahr 1959 plädierte für den Aufbruch und theologischen Neubeginn seiner Kirche nach 1945. Gelegentlich konnte er die Diasporagemeinde auch als »christliche Partisanengruppe« bezeichnen.61 Das hat ihn bisweilen in Konflikt mit seiner eigenen Kirche, jedenfalls mit der Amtskirche, gebracht. Ihm war daran gelegen, die biblische Botschaft der Freiheit in einer Gesellschaft zu Gehör zu bringen, die noch immer tief durch das Erbe der Gegenreformation und der Restauration nach dem Wiener Kongress geprägt war. Die von Gott geschenkte Freiheit grenzt Dantine gleichermaßen gegen Tendenzen zur Privatisierung des Glaubens wie gegen moderne Tendenzen der Entindividualisierung und Vermassung ab. Als Institution der Freiheit könne der »Minderheitsprotestantismus aus einem Kuriosum zur einer ›Stadt auf dem Berge‹« werden, freilich nur dann, wenn sich die evangelische Kirche nicht als Selbstzweck begreife. Das protestantische Abenteuer, von dem Dantine spricht, und auf das einzulassen er seine Kirche ermutigt, besteht darin, »unter Verzicht auf jegliche Proselytenmacherei das Beste des Landes zu suchen, in dem man lebt. […] Es geht um das Abenteuer des Glaubens und der Liebe, die nie das Ihre sucht, sondern sich der Müden, Ratlosen und Gehetzten annimmt.«62 Diaspora meint die in die Völkergemeinschaft eingestreute Kirche. In Anspielung auf Joh 12,24 hat Dantine seine Theologie der Diaspora kreuzestheologisch zugespitzt: »›Diaspora‹ aber heißt eingestreut sein als Weizenkorn Gottes im zerpflügten Acker der Welt. Das Weizenkorn bringt viel Frucht, wenn es stirbt. Zukunftswillige Kirche wird ›sterbende Kirche‹. […] Sterbende Kirche ist hier wesentlich verstanden als jene Kirche, die sich um ihres Zeugnisses willen jeweils in den Tod begibt, weil sie nicht um ihrer selbst leben will. Kirche in der Nachfolge ihres Herrn ist nicht nur Kirche in der Welt, sondern Kirche ›für die Welt‹.«63 Öffentliche Theologie als Theologie der Diaspora könnte ein neues ökumenisches Projekt für Europa und eine ökumenische Zeitansage werden. Nicht als Ausdruck des Rückzugs aus der säkularen Welt, sondern im Gegenteil als Ermutigung, sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes, seiner Agape oder Caritas, in Wort und Tat zu bezeugen.

61 62 63

Zitiert nach Trinks, »Offene Kirche«, 12. Dantine, Protestantisches Abenteuer, 46. Zitiert nach Trinks, »Offene Kirche«, 21. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

2.6

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Öffentliche Theologie und Diakonie

Wie die Kirche ist auch die Diakonie als deren Wesens-und Lebensäußerung gleichermaßen Akteurin wie Ort Öffentlicher Theologie. Die Reflexion diakonischen Handelns auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene ist ein konkretes Beispiel dafür, wie das Wirken und die Wirkungen des Christentums in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein kritisch zu reflektieren sind. Die Diakonie beschränkt sich nicht auf das praktische Hilfehandeln, sondern sie beteiligt sich an gesamtgesellschaftlichen Diskursen über Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität, kurz: an der Diskussion darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welche Gesellschaft im Sinne des Evangeliums als wohlgeordnet gelten kann. So heißt es im Leitbild der Diakonie Österreich: »Ziel diakonischen Handelns ist eine inklusive und gerechte Gesellschaft. Dazu muss die Kirche Verbündete suchen. Sie wird Lösungen nicht alleine verwirklichen können. Ihr Auftrag, für Gerechtigkeit und Inklusion einzutreten, bleibt unaufgebbar.«64 Wie das diakonische Handeln geschieht auch seine Reflexion im Horizont der Hoffnung auf das Reich Gottes als Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, in der die Schwachen und die Armen in vollem Umfang am Leben als guter Gabe Gottes teilhaben können. Die Diakonie in Deutschland beruft sich für ihr Verständnis ihres Öffentlichkeitsauftrags auf Johann Hinrich Wichern. So liest man in den Leitsätzen des Diakonischen Werkes in Deutschland zum Wichernjahr 2008: »An Wichern erinnern heißt für uns heute: Diakonie engagiert sich zivilgesellschaftlich.«65 Und: »An Wichern erinnern heißt für uns heute: Sozialpolitik global denken und gestalten«66. Diakonische Theologie als Öffentliche Theologie ist freilich ein keineswegs schon eingelöstes Desiderat, zumal die weiterreichenden politischen und gesellschaftlichen Bezüge nicht unbedingt das Hauptmotiv haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter für ihren praktischen Einsatz im Dienst am Mitmenschen sind. Öffentliche Theologie liegt zunächst einmal nicht in ihrem Blickfeld. Zwar wird »durch diakonisches Handeln auf der Mikroebene Öffentlichkeit hergestellt, insofern auch diese Aktivitäten politisch nicht folgenlos sind. Gleichwohl stellt es […] eine unabdingbare Herausforderung dar, dass auch die diakonischen Ak64 65 66

Text unter https://diakonie.at/ueber-uns/leitbild-und-diakonischer-gedanke (letzter Zugriff am 20.7.2016). These 9, zitiert nach http://www.krankenpflege-journal.com/ethik/42-kirche/ 58-wichernroeper.html (letzter Zugriff am 20.7.2016). A.a.O., These 10. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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2. Aufgabe und Gestalt von Öffentlicher Theologie

teure sich die weiterreichende, gleichsam meso- und makroskopisch relevante Bedeutung ihrer jeweiligen Tätigkeit vor Augen führen bzw. dass sie durch eine entsprechende Begleitung dafür sensibilisiert und dazu motiviert werden.«67 Diakonische Theologie und diakonische Ethik sind auch insofern Öffentliche Theologie, dass sie den in der Diakonie engagierten Menschen helfen, »sich der weiterreichenden Bedeutung und damit auch der politischen Signalfunktion ihres Handelns bewusst« zu werden, statt dieses nur »als Kompensation bestehender gesellschaftlicher Härten« zu erfahren und zu interpretieren.68 Die Beteiligung der Diakonie – d.h. konkret der diakonische Werke, Verbände und Unternehmen – an öffentlichen Diskursen kann sich aber nicht nur auf Fragen der Ethik beschränken, sondern muss auch die theologisch-dogmatische Dimension Öffentlicher Theologie einbeziehen. Die von Florian Höhne formulierten Grundfragen Öffentlicher Theologie – nämlich die sozialethische Frage nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, die fundamentaltheologische Frage nach der öffentlichen Kommunizierbarkeit derartiger Geltungsansprüche und ihrer Begründungen sowie die ekklesiologische Frage nach der Rolle der Kirche in den genannten Kommunikationsprozessen – sind auch von der Diakonie zu bearbeiten, wenn denn der Anspruch, dass die Kirche grundsätzlich Diakonie ist, eingelöst werden soll. Auch die Herausforderung der Zweisprachigkeit Öffentlicher Theologie, von der Heinrich Bedford-Strohm spricht, stellt sich für die Diakonie in besonderem Maße. Es geht ja nicht nur um die Übersetzungsarbeit, die zu leisten ist, wenn sich die Diakonie an gesellschaftlichen Diskursen beteiligt und christliche Überzeugungen im Kontext der pluralistischen und säkularen Gesellschaft und eines säkularen Sozialstaates vertreten will. Das Problem der Zweisprachigkeit stellt sich vielmehr auch innerhalb diakonischer Unternehmen und Organisationen, weil heute ein Großteil der Mitarbeiter gar nicht mehr einer christlichen Kirche angehört und in der kirchlichen Binnensprache gar nicht beheimatet ist. In der Folge steht auch die kybernetische Orientierungs- und Steuerungsfunktion der Theologie innerhalb der Diakonie und in der Diakoniewissenschaft zur Diskussion. Dieser Diskurs überschneidet sich aber, wie leicht einzusehen ist, mit demjenigen über eine Theologie der Diaspora als Gestalt Öffentlicher Theologie.

67 68

Schlag, Öffentliche Kirche, 83f. A.a.O., 84. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Protestantische Perspektiven einer Sozialethik in Europa

3.1

Sozialethik in der Arbeit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa

Am 16. März 1973, wurde auf dem Leuenberg bei Basel die »Konkordie reformatorische Kirchen in Europa« unterzeichnet. Nach dem Ort, an dem die feierliche Unterzeichnung stattfand, trägt sie den Namen Leuenberger Konkordie.1 Sie ist die theologische Grundlage der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa (GEKE), die bis 2003 Leuenberger Kirchengemeinschaft hieß und der heute 105 protestantische Kirchen aus ganz Europa sowie einige Kirchen aus Südamerika angehören. Seit ihrer 5. Vollversammlung in Belfast 2001 hat die GEKE das Thema einer evangelischen Sozialethik im europäischen Kontext auf ihre Tagesordnung gesetzt und seither ihre sozialethische Arbeit konsequent ausgebaut. Zunächst wurde ein Fachkreis Ethik eingerichtet, der den Rat der GEKE in ethischen Fragen berät und auch mit der Erarbeitung von Stellungnahmen beauftragt wird. Außerdem gibt es einen Sozialethikbeauftragten der GEKE, der hauptamtlich bei der Church and Society Commission der Konferenz Europäischer Kirchen in Brüssel mitarbeitet. Die sozialethische Arbeit der GEKE ist auf diese Weise mit den Aktivitäten anderer Kirchen vernetzt. Gleichzeitig gewinnt die GEKE auf diese Weise innerhalb der Konferenz Europäischer Kirchen an sozialethischem Profil. In den vergangenen Jahren ist die GEKE wiederholt mit Dokumenten zu ethischen Fragen an die Öffentlichkeit getreten. Zwei Beispiele seien genannt. Große Beachtung hat z.B. die 2011 veröffentlichte Orien1

Die Konkordie wird im Folgenden LK abgekürzt. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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3. Protestantische Perspektiven einer Sozialethik in Europa

tierungshilfe »Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit« zu ethischen Fragen am Lebensende gefunden, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden ist.2 Die 7. Vollversammlung der GEKE in Florenz 2012 verabschiedete ein Wort zur gegenwärtigen Lage Europas mit dem Titel »Frei für die Zukunft – Verantwortung in Europa«3. In Anbetracht der anhaltenden Finanzkrise setzt sich die GEKE dafür ein, Mut zur Wahrheit zu fassen, die Demokratie auf europäischer Ebene zu stärken, die sozialen Folgen der Krise wie auch die sozialen Härten der von Europas Politikern gewählten Krisenbewältigungsstrategien zu beachten, die Steuerpolitik gerecht auszurichten, den Finanzmarkt zu regulieren, einen Rückfall in den Nationalismus zu verhindern, das geltende Wirtschaftsmodell zu überprüfen und für ein solidarisches Europa einzutreten, dessen Bereitschaft zur Solidarität nicht an den Grenzen einzelner Staaten endet und über die Grenzen Europas hinausreicht. Das zunehmende Engagement der GEKE in sozialethischen Fragen bedeutet in der Geschichte der Leuenberger Konkordie und der auf ihr gründenden Kirchengemeinschaft eine neue Entwicklung. In der Vergangenheit haben sich Lehrgespräche der Leuenberger Kirchengemeinschaft bzw. der GEKE zunächst nur mit Fragen der Bekenntnisses und der Dogmatik befasst. Fragen der Ethik haben in der Anfangszeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Jedoch erklären die Signatarkirchen in LK 11 zu erkennen, »dass Gottes fordernder und gebender Wille die ganze Welt umfasst. Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern. Dies macht es notwendig, dass sie mit anderen Menschen nach vernünftigen, sachgemäßen Kriterien suchen und sich an ihrer Anwendung beteiligen. Sie tun dies im Vertrauen darauf, dass Gott die Welt erhält, und in Verantwortung vor seinem Gericht.« Auch verpflichtet die Leuenberger Konkordie die Signatarkirchen, »eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt [zu] erstreben« (LK 29). Zur Verwirklichung der Kirchengemeinschaft gehört nach LK 36, dass die Verkündigung der Kirchen in der Welt an Glaubwürdigkeit gewinnt, »wenn sie das Evangelium in Einmütigkeit bezeugen. Das Evangelium befreit und verbindet die Kirchen zum gemeinsamen Dienst. Als Dienst der Liebe gilt er dem Menschen mit seinen Nöten und sucht deren Ursachen zu beheben. Die Bemühung um Gerechtig2 3

Der Originaltext ist auf Englisch veröffentlich worden und liegt auch in französischer Übersetzung vor. Text in: Bünker/Fischbach/Heidtmann (Hg.), Evangelisch in Europa, 279–285 (engl. Übersetzung 308–314). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

3. Protestantische Perspektiven einer Sozialethik in Europa

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keit und Frieden in der Welt verlangt von den Kirchen zunehmend die Übernahme gemeinsamer Verantwortung.« In Aufnahme der Beschlüsse der Vollversammlung von 1994 und entsprechend den Grundsätzen der Leuenberger Konkordie zum gemeinsamen Zeugnis und Dienst an der Welt (v.a. Nr. 29 und 36) hat sich die GEKE auf ihrer 5. Vollversammlung das Ziel gesetzt, »profilierter und zeitnaher als bisher in aktuellen wichtigen Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Ökumene ein deutliches evangelisches Zeugnis abzulegen und insbesondere die Präsenz der evangelischen Kirchen auf europäischer Ebene auszubauen«4. Dazu wurde unter anderem beschlossen, es sollten zugleich »in theologischen Lehrgesprächen die spezifisch evangelischen Voraussetzungen und Kriterien ethischer Urteilsbildung herausgearbeitet werden, die es im ökumenischen Gespräch und in der europäischen Öffentlichkeit deutlicher zu vertreten gilt. Grundlegend sind der Begriff evangelischer Freiheit, die Zuordnung von Freiheit und Liebe im Sinne der Rechtfertigungslehre, der Begriff des Gewissens und die evangelische Gewissensbildung sowie ein evangelisches Verständnis von Verantwortung.«5 So hat sich die GEKE am Beginn der 2000er-Jahre eingehend mit den Stellungnahmen verschiedener Kirchen, der konfessionellen Weltbünde, der KEK und des ÖRK zu Fragen der Wirtschaft und der Globalisierung beschäftigt.6 Für die GEKE stellt sich dabei die Frage, welche Konsequenzen solche Stellungnahmen für die Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie haben: Was bedeutet es für die einzelnen Signatarkirchen, ihre Beziehungen untereinander und für die Verwirklichung der Kirchengemeinschaft in der GEKE insgesamt, wenn sozialethische Fragen zum Gegenstand kirchlicher Lehre oder der Bekenntnisbildung gemacht werden? Die 6. Vollversammlung der GEKE in Budapest hat in ihrem Schlussbericht ausdrücklich begrüßt, »dass es in den vergangenen Jahren gelungen ist, das Profil der GEKE in diesem Bereich nachhaltig zu stärken. Die Fachkompetenz des GEKE-Fachkreises für ethische Fragen und die enge Verzahnung der sozialethischen Arbeit der GEKE mit der 4 5 6

Abschlussbericht der 5. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft, in: Hüffmeier/Müller (Hg.), Versöhnte Verschiedenheit, 386. Ebd. Vgl. die Erklärung der Vollversammlung des LWB von Winnipeg 2003, das »Bekenntnis des Glaubens (confession of faith) angesichts wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung« der Vollversammlung des RWB in Accra 2004, die Konsultation von Soesterberg 2002 oder den AGAPE-Prozess zur Vorbereitung der Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre 2006. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gewährleisten dabei einerseits die Vertretung einer ›evangelischen Stimme in Europa‹, andererseits das geschlossene Auftreten der Kirchen gegenüber den politischen Institutionen in Europa. Die Diaspora- und Minderheitssituation vieler Mitgliedskirchen sind ein besonderes Kennzeichen der GEKE. Aber auch für die ›großen‹ Kirchen gilt, dass sie ihre Interessen glaubwürdiger vertreten, wenn dies im Rahmen der Gemeinschaft mit den anderen Kirchen geschieht. Wenn immer möglich, sollten die Kirchen in Europa mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Damit erfüllen sie die Verpflichtung, die sie mit der Unterzeichnung der Charta Oecumenica eingegangen sind.«7 Schon LK 39 führt das Thema »Kirche und Gesellschaft« sowie Probleme, »die sich im Blick auf Zeugnis und Dienst, Ordnung und Praxis neu ergeben« ausdrücklich unter den Themenfeldern auf, auf denen »an Lehrunterschieden, die in und zwischen den beteiligten Kirchen bestehen, ohne als kirchentrennend zu gelten, weiterzuarbeiten« sei. Zwar ist die 6. Vollversammlung nicht dem Vorschlag des GEKEFachkreises für ethische Fragen gefolgt, ein Lehrgespräch zur »Bekenntnisbildung zu sozialethischen Fragen« zu beschließen, doch hat sie dem Rat empfohlen, nach geeigneten Wegen zur Bearbeitung des Themas »Die evangelischen Kirchen vor neuen Herausforderungen sozialer Gerechtigkeit« zu suchen. So wurde 2007 ein Studienprozess auf den Weg gebracht, an dem junge Theologinnen und Theologen aus den Mitgliedskirchen der GEKE beteiligt waren. Sein Ergebnis ist die Studie »Tretet ein für Gerechtigkeit. Ethische Urteilsbildung und soziales Engagement der evangelischen Kirchen in Europa«,8 den die 7. Vollversammlung 2012 in Florenz entgegengenommen und in ihrem Schlussbericht als »einen wegweisenden Beitrag für den Prozess der Reflexion, Kommentierung und Behandlung sozialethischer Fragen« und als Bekräftigung der bereits oben zitierten Aussagen von LK 11 gewürdigt hat. Neue Probleme im Blick auf Zeugnis und Dienst, Ordnung und Praxis ergeben sich im Sinne von LK 39, wenn man an die sozialethischen Herausforderungen der europäischen Integration, der Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Globalisierung denkt. Zum 50. 7

8

»Freiheit verbindet«, Schlussbericht der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europe (GEKE) in Budapest, 12.–18.9.2006, Abschnitt 2.2.2.1. Tretet ein für Gerechtigkeit, in: Bünker/Fischbach/Heidtmann (Hg.), Evangelisch in Europa, 63–178. Englische Version »Stand Up für Justice«, a.a.O., 179–278. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Jahrestag der Römischen Verträge 2007 hat das Präsidium der GEKE fünf Glück-Wünsche für Europa ausgesprochen: 1. Europa muss weiter zusammenwachsen. 2. Die Europäische Union braucht mehr Demokratie. 3. Die Europäische Union bracht mehr Gerechtigkeit. 4. Die Europäische Union braucht mehr Offenheit. 4. Die Europäische Union braucht eine tragfähige kulturelle Identität. Zur Notwendigkeit von mehr Gerechtigkeit in Europa heißt es: »Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge leben in der EU noch immer fast 80 Millionen Menschen an der Armutsgrenze, jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht. Mehr als 17 Millionen Menschen in der EU sind ohne Arbeit. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in vielen europäischen Ländern immer weiter auseinander. Die evangelischen Kirchen in Europa wünschen sich eine Europäische Union, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik in ein Gleichgewicht bringt, das sich gegenseitig unterstützt und die Armut und soziale Ausgrenzung in Europa stärker als bisher bekämpft.«9 Die Forderung nach mehr Offenheit bedeutet konkret: »Die EU braucht eine Politik, die die Lebensmöglichkeiten für die zukünftigen Generationen offen hält. Dies gilt nicht nur für die Umwelt- oder Entwicklungspolitik, sondern für alle Politikbereiche, die insgesamt nachhaltiger ausgerichtet werden müssen. Dazu sind im Hinblick auf die demographische Entwicklung in Europa neue Formen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den Generationen notwendig. Gegenüber den armen Ländern der Erde ist die EU einerseits größter Geldgeber der Entwicklungsarbeit, zugleich trägt sie aber mit der Abgrenzung ihrer Märkte und ihrer Handelspolitik zum wirtschaftlichen Ungleichgewicht und zur Armut in der Welt bei. Die evangelischen Kirchen in Europa wünschen sich eine Europäische Union, die sich nicht nach außen abschottet, sondern auch in den gegenwärtigen Globalisierungsprozessen zu mehr Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt beiträgt, z. B. in den Grenzregionen Europas im Nahen Osten und in Nordafrika.«10 Und was die kulturelle Identität Europas bedeutet, hat das Präsidium der GEKE 2007 erklärt: »Die Europäische Union wird nur dann Frieden, Freiheit und Wohlstand weiter entwickeln können, wenn sie sich auf eine gemeinsame Wertebasis der Menschen stützen kann. Der christliche Glauben ist eine der Wurzeln, die Europa geprägt hat und weiterhin prägen wird. Für die Kirchen der Reformation, die aus einer religiösen Freiheitsbewegung hervor gegangen sind, gehört dazu in be9 10

Präsidium der GEKE, 5 Glückwünsche für die Zukunft Europas, 2. A.a.O., 2f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sonderer Weise ein verantwortlicher Umgang mit der Freiheit. Die Kirchen setzen sich für den Dialog zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen ebenso ein wie für das Gespräch mit Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller, durch den Dialog zum Aufbau einer friedlichen und gerechten Gesellschaft beizutragen. Das gilt insbesondere dort, wo es Konflikte und Meinungsverschiedenheiten gibt.«11 Damit sind wesentliche soziale Herausforderungen Europas wie auch der Kirchen benannt. Wollen die evangelischen Kirchen, wie sie versichern, ihren Beitrag zur Zukunft Europas leisten, werden sie sich aber auch verstärkt über die theologischen Grundlagen ihres sozialethischen Engagements verständigen müssen. Zwar gibt es schon einige ältere Dokumente der GEKE zur ethischen Urteilsbildung, nämlich zur Zwei-Reiche-Lehre und zur Lehre von der Königsherrschaft Christi, zum »iure bellare« aus CA 1612 sowie zu Gesetz und Evangelium13. Doch können diese Texte nur als erste Schritte in einem umfassenden Konsultations- und Studienprozess zur evangelischen Bekenntnisbildung in ethischen Fragen gesehen werden. Stellungnahmen zu materialethischen Einzelfragen setzen voraus, dass die Konsequenzen kirchlicher Lehre und Bekenntnisbildung in sozialethischen Fragen für die Kirchengemeinschaft theologisch gründlich bedacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kirchen ihre Lehrfunktion in sozialethischen Fragen in vielfältiger Form ausüben: In Synodalerklärungen, Denkschriften und spezifischen Stellungnahmen, gegebenenfalls und unter besonderen (politischen und sozialen) Umständen auch in Form von Bekenntnissen. Ein Lehrgespräch über die Fragen von »Kirche und Gesellschaft« kann sich deshalb nicht allein auf die Bekenntnisbildung beschränken, sondern muss die unterschiedlichen Formen berücksichtigen, in denen sich die Kirchen zu sozialethischen Fragen äußern. Dabei ist insbesondere die Frage der Verbindlichkeit solcher Lehräußerungen zu beachten. Kann es in ethischen Fragen einen status confessionis geben? Was wären dafür allgemeine theologische und bekenntnismäßige Kriterien? Gegenstand des Lehrgesprächs sind aber auch die Umsetzung solcher Lehrentscheidungen und ihre Auswirkungen für die Glaubenden, die einzelnen Kirchen, das Verhältnis zwischen den Kirchen und die Kirchengemeinschaft insgesamt.

11 12 13

A.a.O., 3. Vgl. Hüffmeier (Hg.), Texte. Vgl. Bünker/Friedrich (Hg.), Gesetz und Evangelium. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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In diesem Zusammenhang ist auf die »Krise« ethischer Urteilsbildung hinzuweisen. Angesichts der wachsenden Grenzfragen in verschiedenen Bereichen (wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Medizin usw.) findet sich die evangelische Sozialethik auf einem Markt verschiedener Lösungsangebote wieder. Was ist hier die spezifische Aufgabe der evangelischen Kirchen: Ethische Theoriebildung, theologische Reflexion, praktische Lebenshilfe oder gesellschaftskritische Aktion? Zu klären ist auch die Frage der Frage, wo und wie in neuerer Zeit noch Bekenntnisbildung geschieht Dabei ist der Unterschied zwischen christlicher bzw. evangelischer Soziallehre und theologischer Sozialethik zu beachten. Ferner müssen die Unterschiede z. B. zwischen einem römisch-katholischen Verständnis von christlicher bzw. kirchlicher Soziallehre und einem evangelischen Verständnis derselben herausgearbeitet werden. Insofern ist nochmals zwischen den Begriffen »Lehre« und » (verbindlichem) Zeugnis« zu unterscheiden. Im Einzelnen stellen sich folgende Fragen: Welche Auswirkungen hat die Bekenntnisbildung auf die Schwesterkirchen (bis hin zur Aufkündigung der Kirchengemeinschaft?). Wie steht es mit der gegenseitigen Anerkennung von Bekenntnissen? In welchen Bereichen muss es innerhalb der GEKE Verbindlichkeit geben, in welchen Bereichen sind Unterschiede in der Lehre hinnehmbar? Es genügt für die GEKE nicht, die Bekenntnisbildung der Mitgliedskirchen zu rezipieren und die Frage zu stellen, welche Auswirkung diese für die Kirchengemeinschaft hat. Vielmehr geht es auch um die Frage, inwiefern die GEKE von ihrer Ekklesiologie her eine eigene Form der Lehrbildung zu sozialethischen Fragen entwickeln kann. Konkret stellen solch folgende Fragen: Wieviel Gemeinsamkeit in der Bekenntnisbildung braucht die GEKE? Wieviel Verschiedenheit in der Bekenntnisbildung erträgt die GEKE? Wie werden kirchliche Lehre und Bekenntnisse zu sozialethischen Fragen praktisch umgesetzt? Ich möchte nun im Folgenden einige Überlegungen zu den theologischen Grundlagen und Aufgabenstellungen evangelischer Sozialethik anstellen. Dabei geht es mir auch um die Kriterien evangelischer Urteilsbildung in ethischen Fragen und ihre Verortung im ökumenischen Kontext. 3.2

Evangelische Ethik und ökumenische Ethik

Zur Signatur der ethischen Diskussionslage gehört heute ein Pluralismus von Moral und Ethik, der nicht nur die ethische, sondern auch die politische und die juristische Konsenssuche – z.B. auf dem Gebiet der Biomedizin – erheblich erschwert. Die christlichen Kirchen haben den © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ethischen Monopolanspruch längst eingebüßt. Selbst die seit der Aufklärung propagierte Idee einer Synthese von christlicher und humanistisch-säkularer Ethik hat in den letzten Jahrzehnten an Überzeugungskraft verloren. Namentlich utilitaristische Konzeptionen medizinischer Ethik positionieren sich oftmals als dezidiert nachchristliche Ethikentwürfe. Freilich lassen auch christliche Moral und Anthropologie eine Vielfalt von Ausdeutungen erkennen, die sich inzwischen nicht mehr ohne weiteres mit konfessionellen Unterschieden deckt. Im Gegenzug gibt es ernsthafte Bemühungen, in ökumenischer Perspektive konfessionsübergreifende Grundzüge christlicher Ethik zu formulieren und als gesamtchristliche Position in der Öffentlichkeit zu vertreten. Dezidiert theologische Argumente finden jedoch in ethischen Diskursen immer schwerer Gehör. Zum gesellschaftlichen Pluralismus gesellt sich die ökumenische Pluralität der Kirchen bzw. der Christenheit. Theologische Ethik, also auch eine evangelische Sozialethik muss daher heute in ökumenischer Perspektive betrieben werden. Dass dieses Erfordernis zunehmend auch von den Kirchen selbst erkannt wird, dafür stehen z.B. der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und die beiden Europäischen Ökumenischen Versammlungen in Basel 1989 und in Graz 1997. Ferner wurde im Frühjahr 2001 von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) die »Charta Oecumenica« unterzeichnet. So unzureichend man dieses Dokument auch halten mag, es formuliert immerhin die Selbstverpflichtung, »auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen« (Charta Oecumenica, Abschnitt 4) und »bei Kontroversen, besonders wenn bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangeliums zu erörtern« (Abschnitt 6). Das Beispiel der Charta Oecumenica zeigt freilich auch, dass der ökumenische Dialog den Pluralismus der Konfessionen nicht hinter sich lässt, sondern ihn gerade zur Voraussetzung hat. Daher kann auch eine ökumenische Sozialethik nicht jenseits der konfessionellen Unterschiede, sondern nur multiperspektivisch betrieben werden. Bemühungen um einen ökumenische Soziallehre – also Ökumenische Initiativen der Kirchen auf ethischen Themenfeldern, z.B. gemeinsame Erklärungen wie das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) vom November 2003 oder das Sozialwort der © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Evangelischen Kirche in Deutschland und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz von 1997 – müssen freilich von der Ethik als wissenschaftlich-theologischer Disziplin unterschieden werden.14 Ökumenische Ethik ist nicht mit kirchlichen Stellungnahmen gleichzusetzen, sondern macht derartige Stellungnahmen zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Als Theorieprogramm ist eine ökumenische Ethik bislang noch weitgehend ein Desiderat.15 Seine Verwirklichung hat mit ähnlichen theoretischen Schwierigkeiten zu kämpfen wie auch die ökumenische Theologie im Allgemeinen. Beide, sowohl eine ökumenische Theologie wie eine ökumenische Ethik haben eine Theorie der Ökumene zur Voraussetzung, die je nach konfessioneller Ausprägung sehr unterschiedlich ausfallen kann. Das Problem einer als ökumenische Theologie bezeichneten Theorie der Ökumene ist eigentlich sie selbst, weil mit dem Begriff des Ökumenischen keine feststehende begriffliche Theorie, sondern das von einer solchen zu bearbeitende Problem von Einheit und Vielfalt des Christentums benannt ist. Folglich genügt es nicht, lediglich den Begriff der Einheit oder von Strategien, sie zu erreichen, zu diskutieren. Es bedarf vielmehr einer theologischen Theorie, in welcher der Begriff der Einheit überhaupt erst eine sinnvolle Funktion bekommt. Vor diesem Hintergrund werden alte Fragen neu gestellt: Gibt es überhaupt eine spezifisch christliche Ethik, und wenn ja: worin besteht ihr Proprium gegenüber anderen Gestalten einer religiös begründeten sowie gegenüber den unterschiedlichen Konzeptionen einer philosophischen Ethik? Gesetzt man bejaht die Frage nach einer spezifisch christlichen Ethik, wie verhält sich dann ihre Christlichkeit zur konfessionellen Pluralität des Christentums? Gibt es also zwar unterschiedliche christliche Konfessionen und damit unterschiedliche Ausprägungen einer christlichen Glaubenslehre, aber nur eine christliche Ethik, oder muss man davon ausgehen, dass es konfessionsspezifische Merkmale 14

15

Außer Acht gelassen wird die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik wie auch zwischen (ökumenischer) Soziallehre und Sozialethik z.B. in dem Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe des Ökumenischen Rates der Kirchen und der römisch-katholischen Kirche »Der ökumenische Dialog über ethisch-moralische Fragen: Potentielle Quellen des gemeinsamen Zeugnisses oder der Spaltung« (1995, veröffentlich in ÖR 45, 1996). Auch bei Heinrich Bedford-Strohm kommt der Unterschied nicht deutlich genug heraus, vgl. Bedford-Strohm, Freiheit. Zu den methodischen Problemen und Desideraten einer ökumenischen Sozialethik siehe u.a. Thönissen, Perspektiven; Wulsdorf, Auf dem Weg. Vgl. Robra, Ökumenische Sozialethik; Schöpsdau, Glaube; Gabriel/Papaderos/Körtner, Perspektiven. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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christlicher Ethik gibt, so dass man zwischen einer katholischen, einer evangelischen und einer orthodoxen Ethik unterscheiden kann? 3.3

Evangelium und Ethik

Um diese Fragen sinnvoll bearbeiten zu können, ist zunächst zwischen Ethik und Ethos bzw. Moral zu unterscheiden.16 Während Ethos oder Moral – ich verwende die Begriffe hier synonym – die sittliche Grundorientierung menschlicher Lebensführung sowie die Verhaltensnormen einer Gesellschaft oder einer Gemeinschaft bezeichnet, ist unter Ethik eine Theorie der Moral oder des Ethos zu verstehen. Von einer rein deskriptiven Ethosforschung oder einer Moralsoziologie unterscheidet sich Ethik dadurch, dass es sich um die selbstreflexive Theorie der Moral handelt.17 Als selbstreflexive Theorie der Moral ist Ethik aber nicht moralfrei, sondern selbst moralhaltig. Sie verfährt also nicht nur deskriptiv-hermeneutisch,18 sondern argumentiert auch normativ. Dementsprechend ist unsere Ausgangsfrage dahingehend zu präzisieren, dass einerseits nach der Möglichkeit eines spezifisch christlichen bzw. evangelischen Ethos und andererseits nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer spezifisch christlich-theologischen bzw. evangelischen Ethik gefragt wird.19 Im Anschluss an Friedrich Schleiermacher lässt sich argumentieren, dass es ein spezifisch christliches Ethos gibt, so dass die Eigenart theologischer Ethik in ihrer Bindung an dieses Ethos begründet ist.20 In jüngster Zeit wird eine vergleichbare Konzeption vor allem von Johannes Fischer vertreten. So wie es christliche Theologie gibt, weil es den christlichen Glauben gibt, gibt es nach Fischers Auffassung auch »so etwas wie ›theologische Ethik‹«, weil es faktisch ein unterscheidbar christliches Ethos gibt.21 Folgt man dieser Bestimmung, wäre das Unternehmen einer evangelisch-theologischen Ethik dann begründet, wenn mit der Existenz eines spezifisch evangelischen Ethos zu rechnen wäre. Folgt man dieser Konzeption, wäre das Unternehmen einer evangelisch-theologischen Ethik dann begründet, wenn mit der Exis16 17 18 19 20 21

Die folgenden Passagen sind entnommen aus Körtner, Was ist das Evangelische?, 91–115. Sie finden sich auch in: Körtner, In der Lehre getrennt. Vgl. Luhmann, Ethik. So z.B. Fischer, Bioethik. Zur Einführung in die Diskussion siehe Ulrich, Evangelische Ethik. Vgl. Schleiermacher, Die christliche Sitte. Fischer, ioethik, 78f. Zu seiner Ethikkonzeption vgl. auch Fischer, Theologische Ethik. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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tenz eines spezifisch evangelischen Ethos zu rechnen wäre. Davon ist nun allerdings auszugehen, wie aus Ernst Troeltschs klassische Darstellung der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen zu lernen ist.22 Auch heute ist mit solch einem gelebten Ethos zu rechnen, wenngleich sein Profil in der pluralistischen Gesellschaft von heute weitaus schwerer als noch zu Zeiten Troeltschs zu charakterisieren sein dürfte, hat doch in gewisser Hinsicht eine Protestantisierung auch der übrigen Konfessionen stattgefunden.23 Um nun aber den Begriff eines evangelischen Ethos bzw. denjenigen einer evangelisch-theologischen Ethik bestimmen zu können, müssen wir in einem weiteren Gedankenschritt zwischen »evangelisch« und »protestantisch« bzw. zwischen einem deskriptiv-konfessionskundlichen und einem systematisch-normativen Begriff des Evangelischen unterscheiden. Als konfessionskundliche Kategorie bzw. als Selbstbezeichnung von Kirchen umfasst der Begriff »evangelisch« im deutschsprachigen Bereich nicht nur die lutherischen und die reformierten Kirchen, sondern auch die evangelisch-methodistische Kirche und die Baptisten, die in Deutschland im »Bund Evangelisch-freikirchlicher Gemeinden« organisiert sind. Das englische Wort »evangelical« kann sowohl mit »evangelisch« als auch mit »evangelikal« übersetzt werden. Die letztgenannte Bezeichnung trifft wiederum auf unterschiedliche freikirchliche Gemeinden und Bewegungen zu. Der neben der Bezeichnung »evangelisch« international gebräuchliche Terminus »protestantisch« bezeichnet noch weitere Kirchen, die aus der Reformation oder sogar aus vorreformatorischen Traditionen hervorgegangen sind, wie z.B. die Waldenser, die Hussiten, die Mennoniten oder die Herrnhuter Brüdergemeine. Evangelische Sozialethik ist zunächst eine deskriptiv-analytische Beschreibung der Soziallehren aller evangelischen bzw. protestantischen Kirchen und Gruppen. Freilich kommt auch ein deskriptiv-hermeneutisches Verständnis von theologischer Ethik um die Problematik normativer Gehalte der von ihr verwendeten Beschreibungskategorien nicht herum, weil man in jedem Fall ein gehaltvolles Vorverständnis des zu interpretierenden Phänomens voraussetzen muss. In diesem Sinne ist auch die Frage nach dem Evangelischen evangelischer Ethik bzw. nach dem evangelischen Charakter eines evangelischen Ethos zu verstehen. Ein systematisch-normativer Begriff des Evangelischen benennt nun nicht etwa ein kontroverstheologisches Kriterium für die Unterschei22 23

Vgl. Troeltsch, Soziallehren. Siehe außerderm Jähnichen, Geschichte. Vgl. Berger, Zwang. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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dung zwischen verschiedenen konfessionell gebundenen Typen theologischer Ethik, sondern bezeichnet im Gegenteil ein grundlegendes Kriterium theologischer Ethik überhaupt. Das Evangelische ist nämlich nichts anderes als das Evangeliumsgemäße und als solches keineswegs auf den Bereich protestantischer Theologie beschränkt. Ja, es kann hier bisweilen sogar fehlen oder verdunkelt werden, während es in Ethikkonzeptionen anderer konfessioneller Provenienz zum Tragen kommt. So wie seinerzeit Karl Barth in seiner Baseler Abschiedsvorlesung 1962 lapidar erklärte, alle gute Theologie sei rechtverstanden evangelische Theologie,24 so lässt sich auch – und zwar durchaus protestantismuskritisch! – argumentieren, dass alle theologische Ethik evangelische, nämlich evangeliumsgemäße Ethik zu sein hat. Das Evangelische im Sinne des Evangeliumsgemäßen lässt sich nun aber nicht gegen das Anliegen einer ökumenischen Ethik ausspielen, sondern muss gerade im ökumenischen-theologischen Dialog immer wieder neu bestimmt werden. Ganz in diesem Sinne hat auch Barth mit seinem normativen Begriff des Evangelischen ein ökumenisches Kriterium guter Theologie benennen wollen. Dementsprechend hat Barth auch zwischen evangelischer und protestantischer Theologie unterschieden. Letztere, zumal in ihrer neu- oder kulturprotestantischen Variante, war häufig genug Gegenstand seiner theologischen Kritik und galt ihm keineswegs als Inbegriff guter, sondern im Gegenteil schlechter Theologie. »Nicht alle ›protestantische‹ ist evangelische Theologie. Und es gibt evangelische Theologie auch im römischen, auch im östlich-orthodoxen Raum, auch in den Bereichen der vielen späteren Variationen und auch wohl Entartungen des reformatorischen Neuansatzes«, lautet das Urteil Barths.25 Ganz in diesem Sinne soll nun im Folgenden die Frage nach dem Evangelischen eines evangelischen Ethos und einer evangelischen Ethik im ökumenischen Kontext gestellt werden. Mit dem Begriff des Evangeliumsgemäßen wird nicht nur das entscheidende Kriterium benannt, sondern auch nach der Identität des christlichen Ethos und seiner selbstreflexiven theologischen Theorie in der Pluralität und den Gegensätzen der Kirchen und Konfessionen gefragt.

24 25

Vgl. Barth, Einführung, 10f. A.a.O., 10. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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3.4

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»Pluralismus als Markenzeichen«

Eine evangeliumsgemäße Ethik steht im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Glaubens und des Gewissens auf der einen und der Verbindlichkeit des Glaubens und der Nachfolge Christi auf der anderen Seite. Glaube im evangelischen Sinne ist gleichbedeutend mit der Gewissheit des Heils, der bedingungslosen Annahme des Menschen und der Unbedingtheit der göttlichen Liebe. Diese Gewissheit begründet jedoch keine letzten Gewissheiten oder theologischen Überbietungsansprüche auf dem Gebiet von Moral und Ethik. Diese kann es zumindest auf den sozial- und umweltethischen Ebenen heutiger ethischer Konflikte schon deshalb nicht geben, weil nicht etwa nur die Handlungsnormen, sondern schon die Analyse der Sachverhalte, also die Beschreibung der Phänomene strittig ist. Wenn es sich als Irrtum erweist, von theologischen Gewissheiten ausgehend rigorose ethische Ansprüche zu deduzieren, so bleibt auch für eine theologische Ethik nur der von Martin Honecker beschriebene Weg, »von den Ungewißheiten auszugehen, die zur ethischen Reflexion herausfordern«26. Dies bedeutet, dass der faktische Pluralismus gesellschaftlichen Lebens und ethischer Reflexion auch von Theologie und Kirche zur Kenntnis zu nehmen ist. Ethik in einer pluralen Gesellschaft ist eine offene Suchbewegung, ausgelöst durch die Frage nach den Folgen neuer Handlungsmöglichkeiten, die in Ratlosigkeit und Verlegenheit stürzen. Die dem Glauben gebotene Weltverantwortung wird nicht durch universalethische Überbietungsansprüche wahrgenommen, sondern durch die solidarische Beteiligung am Prozess der Antwortsuche. Hierbei ist nochmals zwischen binnenkirchlichen Verständigungsprozessen in ethischen Fragen und der Beteiligung der Kirche und ihrer einzelnen Mitglieder am gesellschaftlichen Ethikdiskurs zu unterscheiden. Denn die Kirchenmitglieder treten in den gesellschaftlichen Teilsystemen als funktionale Rollenträger auf, deren individuelle Werthaltungen durch die religiöse Sozialisation zumindest mitgeprägt sind. So kommt es zwischen den Kirchen und anderen sozialen Systemen zu vielfältigen Überschneidungen. Pluralität kennzeichnet dabei nicht nur das gesellschaftliche Umfeld der Kirchen, sondern diese selbst. Weder innerhalb noch außerhalb der Kirchen ist in der pluralen Gesellschaft mit einem Einheitsethos zu rechnen. Problematisch erscheinen daher auch Konzepte einer »kirchlichen Ethik«, wie sie derzeit von Stanley Hauerwas, John H. Yoder, Rein26

Honecker, Einführung, XII. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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hard Hütter und anderen vertreten werden.27 Man kann in ihnen die kirchliche Variante des Kommunitarismus sehen, wobei der kommunitaristische Gemeinschaftsbegriff auf die Kirche übertragen wird.28 Positiv ist an diesem Ansatz, dass er eine individualistische bzw. personalethische Engführung christlicher Ethik zu überwinden versucht. Zustimmung verdient auch seine These, dass die Eigenart theologischer Ethik in ihrer Verpflichtung begründet ist, die sie dem gelebten christlichen Ethos gegenüber hat. Wie es christliche Theologie nur deshalb gibt, weil es den christlichen Glauben gibt, so auch theologische Ethik als Theorie der Moral, weil es ein christliches Ethos gibt, dessen Eigenart sich nicht einseitig über den Begriff des Gebots bzw. der Pflicht, sondern tugendethisch über die Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe erschließt.29 Die Gefahr einer kirchlich-kommunitaristischen Ethik liegt jedoch in einer einseitig antagonistischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft mit der Folge einer möglichen Selbstimmunisierung der Kirche gegenüber kritischen Anfragen von außen und binnenkirchlicher Reduktion ethischer Urteils- und Konsensbildung auf Bekenntnissätze. Eine »kirchliche Ethik« droht die Komplexität der konfessionellen Vielfalt und der realen ökumenischen Situation auf einen abstrakten Kirchenbegriff oder aber auf die binnenkirchliche Identität einer Einzeldenomination zu reduzieren.30 Die Unterscheidbarkeit der Kirche von anderen Institutionen und Gruppen in der pluralen Gesellschaft, die heute unter dem Stichwort der Profilierung diskutiert wird,31 ist kein Selbstzweck, sollte aber in einer nachkirchlichen Gesellschaft auch nicht gescheut werden. Die Kirche kann ihrem historischen Ursprung und ihrem Wesen nach durchaus als »Kontrastgesellschaft« verstanden werden.32 Sie muss sich deshalb aber nicht im Konkreten zu jeder denkbaren Gesellschaftsform im permanenten Dauerkonflikt befinden. Das entbindet Theologie und Kirche freilich nicht von der Aufgabe, die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die 27 28 29

30 31 32

Vgl. dazu Körtner, Evangelische Sozialethik, 74f. Vgl. Arens, Kommunitarismus. Vgl. dazu Fischer, Bioethik und Fischer, Theologische Ethik. Eine Konzeption einer evangelischen Tugendethik hat Konrad Stock vorgelegt, siehe Stock, Grundlegung, sowie Stock, Gottes wahre Liebe. Zur Kritik an den Konzepten von Hauerwas und Hütter siehe auch Honecker, Themen, 88f; Arens, Kommunitarismus, 498ff. Vgl. z.B. Josuttis, Für eine evangelischen Fundamentalismus; Körtner, Gemeinschaft, 29–44. Der Ausdruck stammt von Gerhard Lohfink, siehe Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?; ders., Bergpredigt. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Gestaltung der Gesellschaft ernst zu nehmen. Gerade weil der moderne Pluralismus prinzipiell ist, ist die »Wiedergewinnung des Positionellen«33 eine zentrale theologische und kirchliche Herausforderung. Das innerkirchliche Bemühen um eine größere Verbindlichkeit des Glaubens auf dem Gebiet der Lebensführung darf freilich nicht gegen die Autonomie des Gewissens der Kirchenmitglieder ausgespielt werden, die als mündige Christinnen und Christen ernstgenommen werden wollen.34 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Stellungnahme »Starre Fronten überwinden«, die mehrere evangelische Ethiker im Januar 2002 zur Forschung an humanen embryonalen Stammzellen veröffentlicht haben, vom Pluralismus als »Markenzeichen« des Protestantismus spricht.35 Gegenüber Kritikern auf katholischer wie evangelischer Seite hat Christofer Frey klargestellt, dass es den Autoren der Stellungnahme »Starre Fronten überwinden« mitnichten darum geht, die Wahrheitsfrage auf dem Gebiet der Ethik zu suspendieren. Der Pluralismus betreffe die pragmatische Umsetzung normativer Grundüberzeugungen in Problembereichen, in denen empirische Sachverhalte und hermeneutische Zugänge auf komplexe Weise miteinander verwoben sind.36 Mögliche Unterschiede zwischen evangelischer, katholischer und orthodoxer Ethik betreffen freilich nicht nur die fundamentalethische oder die materialethische Ebene, sondern auch das methodische Verfahren der ethischen Urteilsbildung. Was katholische und evangelische Ethik heute unterscheidet, ist die unterschiedliche Diskurskultur, die auf zum Teil erhebliche Differenzen im Kirchen- und Amtsverständnis sowie die Rolle des kirchlichen Lehramtes in der katholischen Kirche und für die katholische Universitätstheologie hinweisen. 3.5

Freiheit, Liebe und Verantwortung

Grundsätzlich kann evangelische Ethik, d.h. eine Ethik in der Perspektive des Evangeliums als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik begründet werden. Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr be33 34 35 36

Klumbies, Diakonie, 37ff. Vgl. Renesse, Handeln. Anselm/Fischer/Frey/Körtner/Kreß/Rendtorff/Rössler/Schwarke/Tanner, Pluralismus als Markenzeichen. Vgl. Frey, Pluralismus, 173f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ruht die Unterscheidung von Person und Werk, welche vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird. Der Verantwortungsbegriff als solcher kann freilich kein hinreichendes Prinzip evangelischer Ethik sein, weil Liebe das Phänomen des Moralischen transzendiert. Theologische Ethik ist vielmehr eine Form der integrativen Ethik, welche die Ansätze einer pflichtenethischen und einer strebensethischen Moraltheorie bzw. die Aspekte einer Pflichtenethik, eine Güterlehre und einer Tugendethik spannungsvoll verbindet.37 Neben Liebe und Verantwortung steht die Freiheit als Grundbegriff evangelischer Ethik.38 Das biblische Evangelium ist in seinem Kern eine Botschaft der Freiheit. »Zur Freiheit hat uns Christus befreit!« schreibt Paulus in Gal 5,1 und warnt davor, die stets gefährdete Freiheit des Glaubens durch eine neue Gesetzlichkeit zu verspielen. Das Christentum ist die Religion der Freiheit, und alle Kirchen sind daran zu messen, inwieweit sie eine Institution der Freiheit sind. Das in Theorie und Praxis neu zur Geltung gebracht zu haben, ist die bleibende Bedeutung der Reformation. 1520 veröffentlichte Luther seine Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen«. Sie beginnt mit einer paradox anmutenden Doppelthese, die es in sich hat: »Eine Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein 37

38

Vgl. Körtner, Evangelische Sozialethik, 19f.101.105. Zum Begriff einer integrativen Ethik siehe Krämer, Integrative Ethik; Endreß (Hg.), Zur Grundlegung. Die GEKE-Studie »Tretet ein für Gerechtigkeit« (s. Anm. 8) rechnet die Liebe neben Schöpfung und Leben zu den biblischen Grundlagen des Engagements der Kirchen (105ff), Freiheit und Verantwortung (vgl. 131ff) hingegen zu den Kriterien ethischer Reflexion, genauer gesagt zu den ethischen Grundwerten und Prinzipien neben Würde und Gerechtigkeit. Problematisch erscheint mir die Analogie, welche die Studie zwischen der Verantwortung des Menschen und dem verantwortlichen Handeln Gottes herstellt: »Das verantwortliche Handeln Gottes ist ein Modell und eine Richtlinie für das christliche Verständnis von Verantwortung« (133). Der Begriff der Verantwortung stammt ursprünglich aus der Rechtssphäre und bezieht sich im christlichen Kontext auf das Jüngste Gericht. Wenn man analog von göttlicher Verantwortung spricht, wird entweder der kategoriale Unterschied zwischen dem Mensch als Sünder vor Gott und Gott, der den Sünder rechtfertigt, missachtet, oder aber das Theodizeeproblem eingehandelt. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Freiheit im biblischen und reformatorischen Sinne ist eben nicht mit schrankenlosem Individualismus und dem vermeintlichen Recht des Stärkeren zu verwechseln, sondern sie ist stets mit Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen gepaart und kann nur im Geist der Gottes- und Nächstenliebe gelebt werden. Freiheit und Verantwortung gehören jedoch mit der Liebe zusammen. Liebe im umfassenden Sinne übersteigt aber jede moralische Forderung, wie auch eine Kultur des Erbarmens das Prinzip der auf Gegenseitigkeit beruhenden Solidarität übersteigt. Darum wird eine evangelische Ethik durch den Gedanken der Verantwortung keineswegs hinreichend bestimmt. Wie nach einem vielzitierten Wort des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenfördes der demokratische Rechtsstaat, so lebt auch die soziale Marktwirtschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen und garantieren kann. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur die Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit, sondern auch derjenige der Freiheit. Die Freiheit ist nicht nur im Sinne der Solidarität zu beschränken, sondern andererseits auch zu fördern. Das gilt freilich nur von der Freiheit, die sich nicht als unmittelbarer Wille zur Selbstbehauptung realisiert, sondern sich als Geschehen wechselseitiger Anerkennung versteht. Im Widerspruch dazu wird der Wert der Freiheit neoliberal und individualistisch umgewertet wird. Das spricht aber nicht gegen den Begriff der Freiheit, sondern dafür, ihn gegen seine Umdeutung zu verteidigen. Dazu ist ganz offensichtlich der Gemeinsinn gesellschaftlich zu stärken bzw. neu zu entwickeln. Um die Entwicklung und Förderung einer entsprechenden Kultur von Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein geht es dem Ansatz einer Verantwortungsethik. Dass alles Handeln, auch im Bereich der Wirtschaft, eine soziale Dimension hat, heißt nicht, dass das Individuum und seine ökonomische Verantwortung bedeutungslos werden. Im Gegenteil sind Politik und Gesellschaft auf das Vorhandensein bzw. die Wiedergewinnung sich verantwortlich wissender moralischer Subjekte angewiesen. Es geht aber nicht allein um die verantwortliche Lebensund Amtsführung des Einzelnen, sondern um die Förderung einer sozialen Kultur der Verantwortung. 3.6

Barmherzigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit

Zu den heutigen sozialethischen Herausforderungen gehört eine neue Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gerechtigkeit. Ökumenische © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Dokumente der vergangenen Jahre betonen die Dimension der Gerechtigkeit. Neben den klassischen Begriffen der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva), der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) und der legalen Gerechtigkeit (iustitia legalis) spielen neuerdings Begriffe wie Teilhabegerechtigkeit oder Befähigungsgerechtigkeit eine wichtige Rolle.39 Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht auf Verteilungsgerechtigkeit oder auf die Alternative zwischen dieser und der Tauschgerechtigkeit reduzieren. Wenn heute zu Recht mehr Eigenverantwortung in der Daseinsvorsorge gefordert wird, z.B. im Gesundheitssystem, in der Altersvorsorge und im Bildungsbereich, so bleibt diese Forderung abstrakt und unsozial, wenn nicht zugleich von der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit gesprochen wird. Damit Menschen aus sozial schwachen Schichten Eigenverantwortung für ihr Dasein übernehmen können, müssen sie dazu allererst befähigt werden. Um die dafür notwendige Bildung und das entsprechende Einkommen zu erlangen, bedarf es einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik. Ohne eine solche bleibt die politische Maßgabe eines Umbaus und einer Verschlankung des Sozialstaats zynisch. Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben 1997 in ihrem gemeinsamen Sozialwort von der Barmherzigkeit als Erfüllung der Gerechtigkeit gesprochen und eine Kultur des Erbarmens eingemahnt. Die GEKE-Studie »Tretet ein für Gerechtigkeit« argumentiert, dass ein christlich-ethisches Verständnis von Gerechtigkeit in der Gerechtigkeit Gottes gründe, die wiederum in Beziehung zu Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu verstehen sei. Solche biblisch-theologischen Impulse verdienen es, stärker als bisher diskutiert zu werden. Inwiefern Barmherzigkeit nicht nur biblisches Motiv, sondern auch eine (sozial-) politische Kategorie ist, sagt die GEKE-Studie nicht. Die Frage ist aber brisant, zumal es gerade auch im Bereich der Diakonie kritische Stimmen zu einem Ethos der Barmherzigkeit gibt, weil man in ihm eine Rechtfertigung zur Bevormundung von Menschen und ihrer Reduzierung auf die Rolle der hilfsbedürftigen Opfer sieht. Mit der Aussage, Barmherzigkeit erfülle und überbiete die Gerechtigkeit, ist jedenfalls weder theologisch noch politisch das letzte Wort gesprochen. Auch darf über der Debatte über einen neuen Begriff der Gerechtigkeit der Gedanke der Freiheit nicht aus dem Blick geraten. Andernfalls hat der Begriff der Teilhabegerechtigkeit keinen Sinn. Wenn die 6. Vollversammlung der GEKE in Budapest ihren Schlussbericht unter die Überschrift »Freiheit verbindet« gestellt hat, war das ebenso program39

Vgl. z.B. die EKD-Denkschrift »Gerechte Teilhabe«. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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matisch wie die Positionierung der Evangelischen Kirche in Deutschland als »Kirche der Freiheit« in ihrem gleichnamigen Strategiepapier. Schaut man daraufhin verschiedene kirchliche Sozialwort der vergangenen Jahre an, so fällt auf, dass häufig zu einseitig »der Staat« als Adressat sozialpolitischer Forderungen angesprochen wird, weniger die Gesellschaft oder die Zivilgesellschaft. Sozialpolitische Forderungen der Kirchen richten sich zumeist an »die politisch Verantwortlichen«. Die Forderung nach einem starken Staat steht in einer gewissen Spannung zur Absicht der Kirchen, das Entstehen zivilgesellschaftlicher Strukturen zu fördern. Zu den Herausforderungen der Gegenwart aber gehört m.E. die Wiedergewinnung und Förderung von Gemeinsinn, der sich in der Bereitschaft von Eigenverantwortung zeigt. Allerdings weist auch der Begriff der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit, den auch die Studie der GEKE »Tretet ein für Gerechtigkeit« verwendet, einige Unschärfen auf. Wie Hans-Richard Reuter mit Recht einwendet, kann die Rede von der Teilhabegerechtigkeit missverstanden werden, als sei die Beseitigung struktureller sozialpolitischer Probleme wie Arbeitslosigkeit oder neuer Armut nicht mehr eine Aufgabe der Gesellschaft, sondern ausschließlich das Problem der Betroffenen, wenn diese trotz staatlicher Maßnahmen zur Stärkung ihrer persönlichen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt nicht unterkommen.40 Zwischen Teilhabe und Teilnahme sei zu unterscheiden, weil Teilhabe eher auf den passiven Empfang von Leistungen des Wohlfahrtsstaates, Teilnahme dagegen auf aktive Beteiligung an der Gesellschaft und am Erwerbsleben zielt. Der Begriff der Teilhabegerechtigkeit deutet auf einen Wechsel von der Verteilungsgerechtigkeit zur Chancengerechtigkeit hin. Er bleibt aber einigermaßen vage und ist dann problematisch, wenn er Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ausblendet. Die Forderung nach vermehrter Eigenverantwortung und das Prinzip der Solidarität, ebenso Teilhabegerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit, müssen sich keineswegs ausschließen, wie die Kommunitarismus-Debatte hinlänglich zeigt. Nicht jedes Reformvorhaben muss gleich als Neoliberalismus gegeißelt werden. Ziel einer sinnvollen Sozialpolitik muss es gerade sein, die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu stärken bzw. jene Unterstützung zu geben, die sie benötigen, um zu eigenständiger Verantwortungsübernahme fähig zu werden. Neben Solidarität und Gerechtigkeit müsste darum nun aber auch der Freiheit größerer Wert beigemessen werden, als es z.B. im gemeinsa40

Vgl. Reuter, Teilhabegerechtigkeit. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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men Wort von EKD und deutscher Bischofskonferenz von 1997 geschieht. Gerade in Auseinandersetzung mit neoliberalen Konzepten wäre ein christliches Verständnis von Freiheit zu entwickeln, welche das Wohl des Mitmenschen stets mit im Blick hat. Das wäre m.E. ein wesentlicher Beitrag der evangelischen Kirchen zu einer europäischen Sozialethik und zur Förderung der politischen Kultur in Europa. 3.7

Ausblick: europäische Perspektiven evangelischer Sozialethik

Die Studie der GEKE »Tretet ein für Gerechtigkeit«, schließt mit einer Reihe von Empfehlungen zur evangelischen Urteilsbildung in ethischen Fragen sowie einer Reihe von sozialen Selbstverpflichtungen, die den Mitgliedskirchen vorgeschlagen werden. Wir konzentrieren uns auf die Empfehlungen, die hilfreiche Anregungen für die Weiterentwicklung einer evangelischen Sozialethik im europäischen Kontext bieten. Die erste Empfehlung an die Mitgliedskirchen der GEKE lautet, für Gerechtigkeit einzutreten. Dieses Engagement gehöre wesentlich zum Auftrag der Kirche. Wie die Studie jedoch auch zu bedenken gibt, bedeutet der Einsatz für Gerechtigkeit »nicht, dass man seine Stimme zu allem und jedem erheben muss. Der Einsatz für Gerechtigkeit benötigt eine sorgfältige Betrachtung des Kontextes, der biblischen Botschaft und der ekklesiologischen und ethischen Grundlage der evangelischen Kirchen, um nicht in einen andauernden Aktionismus abzugleiten, der als Hintergrundgeräusch der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen wird.«41 Die zweite Empfehlung lautet, die Menschen in ethischen Fragen nicht bevormunden zu wollen, sondern ihnen zu helfen, eigenständig ihre Entscheidungen zu fällen, die sich an der Trias von Freiheit, Verantwortung und Liebe orientieren sollen. Wie die Studie hervorhebt, verbinden Prozesse evangelischer Urteilsbildung demokratische Verfahren und verantwortliche Leitung. Wichtig erscheint mir auch die dritte Empfehlung: »Fürchtet euch nicht vor komplexen Antworten zu komplexen Themen.«42 Tatsächlich besteht eine große Gefahr in ethischen und politischen Debatten, auf komplexe Fragen und Herausforderungen mit einfachen Lösungen zu antworten, die der Komplexität – und auch den Unwägbarkeiten und Dilemmata des Lebens und der sozialen und politischen Realitäten 41 42

Tretet ein für Gerechtigkeit, 139. A.a.O., 140. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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nicht gerecht werden. Zu Recht hat auch die 7. Vollversammlung der GEKE in ihrem Wort zur gegenwärtigen Lage Europas davon gesprochen, dass das Eingeständnis eigener Ratlosigkeit oder Unsicherheit kein Zeichen politischer Schwäche, sondern der Stärke ist. Gerade so könne das Vertrauen in die Politik gestärkt werden, ohne welches das europäische Projekt zu scheitern drohe. Die vierte Empfehlung ermutigt die Mitgliedskirchen der GEKE, klar Stellung zu beziehen. Mutig sollen sie als Anwalt der Stimmlosen ihre Stimme erheben und gesellschaftliche Missstände beim Namen nennen. Zurückhaltung wird jedoch angemahnt, wenn es darum geht, ethische Fragen zu Bekenntnisfragen – zum status confessionis – zu erklären. Die Einheit der Kirchen und die unter ihnen bestehende Gemeinschaft darf jedenfalls nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Alleingänge sollten nach Möglichkeit vermieden werden und stattdessen das Gespräch unter den Mitgliedskirchen gesucht werden. Die fünfte Empfehlung ruft die Kirchen dementsprechend dazu auf, mit gemeinsamer Stimme zu sprechen, haben sie doch im Evangelium ihren gemeinsamen Grund. Die sechste Empfehlung lautet, die Gemeinschaft zu stärken, und zwar nicht die Gemeinschaft der Kirchen untereinander, sondern auch die Zusammenarbeit mit Menschen und Institutionen außerhalb der Kirchen. Dabei sollen die Kirchen bereit sein, von anderen zu lernen und ihre eigene Argumentationsweise und Sprache in Frage stellen zu lassen. Die siebente und letzte Empfehlung ruft zum Zeugnis des Evangeliums im gemeinsamen Dienst auf, also zur engen Verbindung zwischen Wort und Tat sowie zwischen der gottesdienstlichen Feier der Gemeinde und dem Gottesdienst im Alltag der Welt. Prägnant formuliert: »Das Teilen des Brotes am Tisch des Herrn und das Teilen des Brotes mit dem Hungrigen gehören zusammen.«43 Es steht außer Frage, dass die Profilierung der evangelischen Stimme in Europa nicht in Konkurrenz zur Ökumene steht. Die Mitarbeit der GEKE im Rahmen der Konferenz Europäischer Kirchen und der Church and Society Commission wie auch die Bezugnahme auf die Charta Oecumenica unterstreichen das ökumenische Engagement und den ökumenischen Geist, aus dem der Protestantismus seinen spezifischen Beitrag zur christlichen Sozialethik in Europa leisten will. Freilich wissen wir auch, dass es die eine protestantische Stimme so gar nicht gibt. Es ist schon viel gewonnen, wenn der Protestantismus nicht in lauter Einzelstimmen zerfällt, die unter Umständen sogar eine Kakophonie erzeugen können, sondern seine Stimmen in einem viel43

A.a.O., 145. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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stimmigen Chor vereint, dessen Musik zwar komplex sein kann, aus der man aber doch ein gemeinsames Grundthema heraushören kann.

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Christliches Ethos und Gottesliebe Erwägungen zum Doppelgebot der Liebe

4.1

Das Doppelgebot der Liebe in der biblischen Tradition

Als Inbegriff christlicher Ethik gilt das sogenannte Doppelgebot der Liebe. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den biblischen Befund. Das Gebot, Gott und den Mitmenschen zu lieben, wird im Neuen Testament als Summe der alttestamentlichen Tora verstanden. Dtn 6,4f, das Schema Israel, mit Lev 19,18 kombinierend lautet das Doppelgebot: »›Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‹ Das andere ist dies: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹« (Mk 12,29–31). Nach der markinischen Version ist es Jesus, der mit dieser Antwort die Frage eines Schriftgelehrten nach dessen Urteil richtig beantwortet.1 In der matthäischen Version fehlt der Anfang des Schema Israel. Dafür betont Mt 22,39 die Gleichrangigkeit des Gebotes der Nächstenliebe mit der Forderung der Gottesliebe. Mt 22,40 fügt hinzu: »In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« Nach Mt gilt das Doppelgebot der Liebe folglich als Inbegriff der jüdischen Bibel. Paulus dagegen kennt dieses Doppelgebot offensichtlich nicht als eine feststehende Jesusüberlieferung. Er zitiert in Gal 5,14 und Röm 13,9 nur Lev 19,18 und kommentiert, das Gebot der Nächstenliebe fasse al1

Ähnlich wird die Szene im Lukasevangelium dargestellt. Allerdings unterstellt Lk, der Schriftgelehrte habe Jesus versuchen wollen und zur Rechtfertigung seiner Frage eine weitere nachgeschoben, nämlich wen man denn unter seinem Nächsten zu verstehen habe, worauf Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Vgl. Lk 10,25ff. Auch nach Mt 22,35 soll Jesus mit der Frage nach dem höchsten Gebot eine Falle gestellt werden. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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4. Christliches Ethos und Gottesliebe

le Gebote der Tora zusammen. »So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung« (Röm 13,10). Das Corpus Ioanneum zitiert das Doppelgebot der Liebe in 1Joh 4,21. Lev 19,18 wird in den johanneischen Schriften zum Gebot der Bruderliebe abgewandelt, welches bald als ein neues, das Alte Testament offenbar überbietendes Gebot auf Jesus zurückgeführt wird (Joh 13,34), bald als ein in Wahrheit altes Gebot lediglich neu in Erinnerung gerufen wird (1Joh 2,7f; 2Joh 5). Seine Steigerung erfährt das Gebot der Nächstenliebe in der Forderung nach Feindesliebe (vgl. Mt 5,44; Röm 12,14–20; Lk 23,34; Act 7,60), wie in gewisser Weise auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verdeutlicht, bestand doch zwischen Samaritanern und Juden eine alte Feindschaft. 4.2

Systematisch-theologische Fragen

In systematischer Hinsicht wirft das doppelte Liebesgebot eine Reihe von Fragen auf. Dass es das Proprium christlicher Ethik, eine spezifisch christliche Grundnorm der Moral aufstellt, lässt sich aufgrund seiner alttestamentlichen Herkunft nicht behaupten. Sodann ist zu fragen, ob man das Liebesgebot im Sinne einer ethischen Maxime oder einer ethischen Norm interpretieren darf. »Denn Liebe ist etwas Ursprüngliches.«2 Kann man Liebe überhaupt befehlen, wie es das biblische Gebot augenscheinlich tut? Ist Liebe nicht ein Gefühl, ein Affekt, der sich spontan einstellt oder ausbleibt, ohne gefordert oder erzwungen werden zu können? Zerstört die Forderung nach Liebe jede wirkliche Liebe nicht schon im Keim? Solche Einwände haben Rudolf Bultmann zu seiner bekannten These geführt, es gebe »keine christliche Ethik im Sinne einer einsichtigen Theorie über das, was der Christ zu tun und zu lassen hat«3, da die im Zentrum des christlichen Glaubens stehende Liebe kein allgemein einsichtiges ethisches Prinzip sei. So wird offenbar von theologischer Seite die Kritik der Philosophie bestätigt, eine christliche oder sonstige religiöse Ethik könne in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft von heute allenfalls einen partikularen Geltungsanspruch erheben. Allerdings ist zwischen Ethik und Ethos zu unterscheiden. Ethik als selbstreflexive Theorie von Ethos und Moral ist an diese immer auch rückgebunden. Partikularität und Universalität bilden keine Alternative, sondern stehen zueinander stets in einer komplexen Wechselbezie2 3

Honecker, Einführung, 152. Bultmann, Das christliche Gebot, 239. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

4. Christliches Ethos und Gottesliebe

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hung. Universale Prinzipien und Geltungsansprüche treten immer nur in der Gestalt partikularer Vermittlungen auf. Sie sind niemals beobachterneutral, sondern werden stets aus einer bestimmten Perspektive formuliert und vertreten. Dessen unbeschadet ist freilich sowohl theologisch als auch philosophisch geltend zu machen, dass christlicher Glaube etwas anderes als Moral ist. Dementsprechend soll das Doppelgebot der Liebe im Folgenden gerade nicht als Inbegriff von Moral, sondern im Spannungsfeld von Glaube und Moral bedacht werden. 4.3

Liebe als transmoralische Orientierung

Christliches Ethos besteht im Kern darin, aus Liebe zu handeln, welche das Phänomen des Ethischen und seine Konflikte transzendiert. Wer aus Liebe handelt, handelt nicht ausschließlich aus moralischen Gründen, weil die Liebe selbst nicht moralisch, sondern transmoralisch ist. Der Begriff des Transmoralischen ist von Paul Tillich geprägt worden, um ein Gewissen zu bezeichnen, »das nicht aus Gehorsam gegenüber einem moralischen Gesetz urteilt, sondern auf Grund der Partizipation an einer Wirklichkeit, die den Bereich moralischer Gebote transzendiert. Ein transmoralisches Gewissen verleugnet nicht den moralischen Bereich, aber es wird durch die unerträglichen Spannungen in der Sphäre des Gesetzes darüber hinausgetrieben.«4 Was aber das Gewissen über das Gesetz hinaustreibt, ist nach biblischem Zeugnis die Liebe, die das Gesetz als Struktur verantwortlichen Lebens zwar nicht verachtet, jedoch über dem Gesetz steht und sich zu ihm in Freiheit verhält.5 Wir können hinzufügen, dass das Selbst- und Weltverständnis des Menschen, seine Weise, sein In-der-Welt-Sein zu verstehen, wie auch sein Handeln in hohem Maße bestimmt, ohne doch selbst das Resultat moralischer Reflexion zu sein. Transmoralisch sind die letzten Gewissheiten, ohne welche Leben und Handeln nicht möglich sind, die aber unserem Tun und Lassen immer schon vorausliegen. Dass gerade die Liebe in diesem Sinne keine Norm, sondern eine transmoralische Orientierung unseres Handelns ist, verdeutlich Johannes Fischer am Beispiel eines Mannes, der von mehreren Personen, die sich in einem brennenden Haus befinden nur eine retten kann und sich

4 5

Tillich, Das religiöse Fundament, 66. Vgl. a.a.O., 75. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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4. Christliches Ethos und Gottesliebe

für seine Frau entscheidet.6 Er handelt in diesem Augenblick spontan aus Liebe. Im Nachhinein wird er seine Liebe als Motiv bzw. als Rechtfertigungsgrund für seine Handlungsweise anführen können. Sein Handeln ist aber nicht das Resultat einer kasuistischen Ableitung von einer allgemeinen moralischen Norm auf den konkreten Fall. Würde er sich zunächst die Frage stellen, warum er gerade seine Frau und nicht einen anderen der im brennenden Haus befindlichen Menschen retten soll, und diese Frage aufgrund einer allgemeinen Regel beantworten: »Weil es moralisch geboten ist, in einer solchen Situation die Person vorzuziehen, der man in Liebe verbunden ist«, dann würde er seine Frau zwar aufgrund einer am »Wert« der Liebe orientierten moralischen Erwägung retten, jedoch nicht aus Liebe.7 4.4

Nächstenliebe und Gottesliebe

Ein fundamentalethisches Problem von erheblichem Gewicht wirft nun auch die geforderte Gottesliebe auf. Zum einen ist zu fragen, wie das Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe näher zu denken ist. Zum anderen müssen wir klären, was die Forderung, Gott zu lieben, eigentlich konkret bedeutet. Die synoptischen Evangelien stellen die Forderung, den Nächsten zu lieben, und die Forderung, Gott zu lieben, gleichrangig nebeneinander. Bedeutet dies, dass der Begriff »lieben« (/agapan) univok gebraucht wird? Oder handelt es sich um einen äquivoken Sprachgebrauch? Ist aus dem Doppelgebot der Liebe theologisch zu folgern, dass Gott als eigenständig zu denkende Entität neben dem Mitmenschen und in gleicher Weise zu lieben ist? Welche konkreten Verhaltensweisen sind dann aber in beiden Fällen gemeint? Hat das Doppelgebot möglicherweise theologisch höchst fragwürdige ontologische bzw. metaphysische Implikationen, weil es Gott auf problematische Weise vergegenständlicht? Wie aber soll man den als Gegenüber zu denkenden Gott lieben können? In welchen Handlungen oder Verhaltensweisen soll sich die Gottesliebe praktisch äußern? Eine denkbare Antwort lautet, dass die Gottesliebe nur in der Nächstenliebe Gestalt gewinnen kann. In dieser Antwort liegt eine Kritik an allem Kultischen und Rituellen beschlossen, das Gott zum direkten 6

7

Vgl. Fischer, Bioethik, 87. Das Argument findet sich bereits bei Williams, Personen, bes. 20ff. Zum transmoralischen Charakter der Liebe vgl. auch Fischer, Über moralische und andere Gründe. Vgl. auch Bultmann, Das christliche Gebot, 241: Ein »›Entschluß‹ zur Liebe wäre kein Entschluß zur ›Liebe‹. Die Liebe muß schon vorher da sein.« © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

4. Christliches Ethos und Gottesliebe

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Adressaten hat. Dieser Lesart entspricht die Auffassung von der Abschaffung der kultischen Teile des alttestamentlichen Gesetzes durch Christus und das Evangelium von der freien Gnade Gottes. Übrig bleibt nur das moralische Gesetz, das aber von seinem sozialen und religiösen Kontext im alten Israel gelöst und zu einer universalen lex naturae umgedeutet wird. Diese Deutung ist mit einer ganzen Reihe von Problemen behaftet, von denen hier nur eines näher verfolgt werden soll: Wenn sich die Gottesliebe überhaupt nur als Nächstenliebe realisiert, führt dies dann nicht zu einer religiösen Instrumentalisierung des Mitmenschen? Ist der Nächste nur um Gottes willen – und nicht vielmehr um seiner selbst willen zu lieben? Ist es nicht gerade die Negation zwischenmenschlicher Liebe, wenn ein Mensch lediglich Gott oder Jesu zuliebe geliebt wird? »Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt«, so der matthäische Christus in Mt 25,40, »das habt ihr mir getan.« Im Gleichnis Jesu vom großen Weltgericht sind die so Angeredeten überrascht, da sie ganz absichtslos Christus Gutes getan haben, indem sie notleidenden Menschen halfen. Die Intention ihres Handelns war gerade nicht die Hinwendung zu Christus, sondern die Zuwendung zum Notleidenden. Wird das Gleichnis vom großen Weltgericht nun aber von seinen Leserinnen und Lesern als Anleitung zur Christusliebe bzw. zur Gottesliebe verstanden, verkehrt sich die Intention ihres Handelns ins Gegenteil. Man stelle sich vor, dass sich jemand für eine Hilfeleistung bedankt, und sein Wohltäter entgegnet ihm: »Das galt nicht Dir, sondern Jesus.« In diesem Fall führt die intendierte Gottesliebe gerade zur Missachtung des Gebotes der Liebe zum Nächsten, den wir wie uns selbst, d.h. aber doch auch um seiner selbst willen lieben sollen. Soll diese Konsequenz vermieden werden, kann eine gründlichere Beschäftigung mit dem 1. Johannesbrief hilfreich sein. Nach Bultmann behauptet dieser nicht die Identität von Gottes- und Nächstenliebe, wohl aber ihre Gleichzeitigkeit. Im Sinne des 1. Johannesbriefes sei »die Liebe zum Nächsten nur echt und wahr, wenn sie zugleich Liebe zu Gott ist; denn nur dann ist sie ja möglich«8. Bultmann deutet also die Liebe zu Gott als Ermöglichungsgrund der Nächstenliebe. Was aber ist unter der die Nächstenliebe ermöglichenden Liebe zu Gott zu verstehen? Der 1. Johannesbrief legt das Doppelgebot der Liebe in zweifacher Richtung aus. Zum einen schreibt der Verfasser: »Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben« (1Joh 8

A.a.O., 243. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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4. Christliches Ethos und Gottesliebe

4,11). Entscheidend ist die Aussage, dass Gottes Liebe zu den Menschen aller Gottes- und Nächstenliebe des Menschen vorausliegt. Es verbietet sich deshalb, die Liebe zu Gott oder die Nächstenliebe als eine moralische Forderung zu interpretieren. Beides ist vielmehr zu verstehen als Erwiderung der Liebe, die dem Menschen von Gott entgegengebracht wird. Gottes- und Nächstenliebe sind die Reaktion auf die Erfahrung, von Gott bedingungslos geliebt zu sein. Mit Bultmann gesprochen besteht die Erwiderung der Liebe Gottes im Glauben, »der die im Wort Gottes angebotene Sündenvergebung ergreift, in ihr sich geliebt und zum Lieben befreit weiß«9. Wird die von Gott ausgehende Liebe nicht durch eine unverbunden neben der Nächstenliebe stehende Gottesliebe erwidert, sondern als Ermöglichungsgrund der Nächstenliebe interpretiert, ist die Nächstenliebe gerade kein Medium der Gottesliebe, mittels dessen der Mitmensch für außerhalb seiner selbst liegende religiöse Zwecke instrumentalisiert würde. So wird sie auch im 1. Johannesbrief als ein Sein in Gott gedeutet bzw. als Sein Gottes in den Glaubenden: »Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat« (1Joh 4,12f). Wohlgemerkt: 1Joh spricht von der Liebe Gottes zu uns, nicht von unserer Liebe zu Gott! An anderer Stelle argumentiert 1Joh freilich umgekehrt, dass Liebe zu Gott das Kriterium dessen sei, was unter Nächstenliebe zu verstehen ist: »Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten« (1Joh 5,2f). Hier redet 1Joh nun also doch von einer eigenständigen Liebe zu Gott neben der Nächstenliebe. Sie äußert sich im Halten der Gebote, ferner in der Zuversicht der Glaubenden am Tag des Jüngsten Gerichts, also in der Furchtlosigkeit gegenüber Gott (1Joh 4,17f). Der Gedanke, dass sich die Liebe des Menschen nicht unmittelbar auf Gott richten kann, wendet sich einerseits offenbar gegen das Verlangen nach unmittelbarer Gottesschau, welche die /agápe zu einem innerlichen, geistigen Vorgang erklären würde.10 Andererseits ist der Verweis auf das Jüngste Gericht in 1Joh 4,17f offenbar doch wohl so zu verstehen, dass die Gottesliebe nicht einfach mit der Nächstenliebe identisch ist. Da 1Joh summarisch von »den Geboten« spricht, realisiert sich in seinem Sinne das Gottesverhältnis offenbar nicht nur im 9 10

Ebd. Vgl. Balz, Der erste Johannesbrief, 192. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

4. Christliches Ethos und Gottesliebe

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Halten derjenigen Gebote, welche das Verhältnis zum Mitmenschen betreffen, sondern, wie man schließen darf, auch in der Befolgung jener aus dem Dekalog bekannten Gebote, die vom Missbrauch des Namens Gottes, dem Bilderverbot, dem Sabbat und allen voran von der Monolatrie handeln. 4.5

Konsequenzen für die christliche Ethik

Welche systematischen Konsequenzen lassen sich aus diesen exegetischen Beobachtungen für das Verhältnis von christlichem Ethos und Gottesliebe ziehen? Im Anschluss an Dietz Lange lässt sich vielleicht Folgendes sagen: Der Begriff »Liebe zu Gott« ist wegen der Gefahr der Vergegenständlichung Gottes zwar problematisch, gleichwohl notwendig, um »den gefühlsmäßigen Aspekt des Glaubens« zu wahren.11 Zur Näherbestimmung dessen, was unter der Liebe zu Gott zu verstehen ist, kann der Begriff der Dankbarkeit dienen.12 Ausdrücklich wird diese einerseits im Gebet, andererseits in der Nächstenliebe. Wir folgen mit dieser Überlegung dem Aufriss des Heidelberger Katechismus, der die Auslegung des Dekalogs und die Lehre vom Gebet im dritten Hauptteil unter der Überschrift »Von der Dankbarkeit« entfaltet. Wenn Lange demgegenüber erklärt, die Dankbarkeit des Glaubens müsse »als unmittelbar durch die Liebe Gottes geweckt verstanden werden und nicht etwa im Sinne eines tertius usus legis [...] als Forderung und dann in diesem Sinne als Motiv ethischen Verhaltens, wie das in der calvinistischen Tradition üblich ist«13, muss man eine derart pauschale Kritik als Verkürzung der keineswegs nur in der reformierten, sondern auch in der lutherischen Tradition geläufigen Lehre vom tertius usus legis zurückweisen. Die Probleme dieser Lehre können hier nicht weiter erörtert werden. Es ist aber Friedrich Mildenberger darin zuzustimmen, dass nicht der zwischen Luther und Calvin bzw. Melanchthon strittige tertius usus legis, sondern vielmehr der primus usus legis das zentrale Problem darstellt.14 Die herkömmliche Auffassung vom primus usus legis suggeriert nämlich, dass das Gesetz Gottes abseits der biblisch bezeugten Offenbarung eine zeitlose Norm sei, gleichbedeutend mit einer außerbiblisch ermittelten lex naturalis (natürliches Sittengesetz). Dieser 11 12 13 14

Lange, Ethik, 433. Vgl. a.a.O, 433. Ebd. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 193ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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4. Christliches Ethos und Gottesliebe

Deutung widerspricht aber schon die Herleitung der Tora im Alten Testament, ist diese doch nicht lex naturalis, sondern geoffenbarter Gotteswille für ein konkretes Volk in Raum und Zeit. Das Gesetz als Inbegriff des Willens Gottes ist nicht zeitlos zu denken, weil Gott zeitlos wäre. Sondern wie Gott nicht dem philosophischen Begriff des unbewegten Bewegers entspricht, so auch nicht sein Gesetz einem abstrakt philosophischen Begriff der lex naturalis. Nach neutestamentlichem Zeugnis ist das Evangelium der letztgültige Erkenntnisgrund des Gesetzes. Unter der Prämisse des Christusgeschehens bleibt das Gesetz in gewisser Hinsicht gültig, ist jedoch in gewisser Hinsicht – und zwar nicht nur, was seine jüdische, sondern überhaupt seine vorchristliche Gestalt betrifft – abgetan. Das Gesetz Gottes ist nun das Gesetz Christi und insofern ein neues Gebot (Joh 13,34), nicht nur die Erneuerung des alten Gebotes. Der Glaube kann und muss, mit Luther gesprochen, neue Dekaloge schreiben15, wobei das Kriterium, besser gesagt das Krites, d.h. die prüfende Instanz, die Liebe ist16, welche die überlieferten Gestalten des Gesetzes bzw. seine historisch-kontingenten Interpretamente sichtet, gemäß dem Grundsatz aus 1Thess 5,21: »Prüft alles, und das Gute behaltet.« In diesem Sinne aber kann man nun wirklich sagen, dass Gottes- und Nächstenliebe in ihrem Wechselverhältnis des Gesetzes Erfüllung sind. Proprium christlicher Ethik ist nicht das Doppelgebot der Liebe als solches, sondern die christologische Perspektive, in der es neu interpretiert wird. Praktisch bedeutet dies, dass Gottes- und Nächstenliebe im Lichte der Vergebungserfahrung gedeutet werden. »Unsere Liebe zu Gott«, führt dazu R. Bultmann aus, »ist nur wahr, wenn sie zugleich Liebe zum Nächsten ist. Und diese Liebe hat, wie sie selbst auf der empfangenen Sündenvergebung beruht, ihren reinsten Ausdruck in der Bereitschaft zu vergeben.«17 dass gerade auch in dieser Hinsicht zwischen Nächstenliebe und Gebet ein enger Zusammenhang besteht, zeigt die Bitte des Vaterunsers: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« (Mt 6,12; vgl. Lk 11,4). In der Bereitschaft zur Vergebung gewinnt die Dankbarkeit Gott gegenüber konkrete Gestalt, ohne dass damit derjenige, dem ich vergebe, für meine eigenen religiösen Zwecke instrumentalisiert würde. Das veranschaulicht Jesu Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,21–35). Die Erfahrung, dass ihnen selbst von Gott vergeben ist, gibt Menschen die Kraft zu verzeihen. 15 16 17

Vgl. WA 39 I, 47. Vgl. Rich, Wirtschaftsethik, 162ff, bes. 168f. Bultmann, Das christliche Gebot, 244. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

4. Christliches Ethos und Gottesliebe

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So gewiss Nächstenliebe und Gottesliebe die Sache des Einzelnen sind, so wenig bleiben beide auf den Einzelnen beschränkt. Der Geist der Liebe erfüllt nicht nur Individuen, sondern stiftet Gemeinschaft. Stärker als es z.B. bei Bultmann der Fall ist, muss das Doppelgebot der Liebe auch in seinen ekklesiologischen und seinen sozialethischen Bezügen bedacht werden. Grundlegendes Prinzip jeder Sozialethik ist dasjenige der Gerechtigkeit. Ebenso wichtig ist aber auch das Prinzip des Wohlwollens. In christlicher Zuspitzung ist nicht nur Wohlwollen, sondern Barmherzigkeit geboten, die wiederum theologisch begründet ist: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist« (Lk 6,36). Der christliche Glaube befreit nicht zur Barmherzigkeit auf der individuellen Ebene, sondern begründet eine Kultur des Erbarmens, welche die Gerechtigkeit keineswegs außer Kraft setzt, sondern in sich aufhebt.

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Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit als Kernbegriffe diakonischer Ethik

5.1

Diakonische Ethik – eine nichtexklusive Ethik?

Als Diakonie bezeichnet man das soziale Handeln der Kirche. Während der Begriff Diakonie vor allem im evangelischen Bereich beheimatet ist, spricht man in der katholischen Kirche von Caritas. Seit geraumer Zeit wird über Aufgaben und Grundlagen einer diakonischen Ethik diskutiert.1 In den vergangenen Jahrzehnten sind verschiedene Bereichsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik oder Technikethik entstanden. Auch die diakonische Ethik lässt sich als eine solche Bereichsethik verstehen. Wie die allgemeine ethische Entwicklung reagiert diakonische Ethik auf den gestiegenen ethischen Reflexionsbedarf einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Der moderne Pluralismus und die Individualisierungsschübe der Moderne führen zu einer Pluralisierung auch der moralischen Überzeugungen. Der Philosoph Otfried Höffe bezeichnet die Moral als »Preis der Moderne«.2 Man sollte besser von der Ethik, welche die selbstreflexive Theorie der Moral ist, als Preis der Moderne sprechen. Der Charakter der Ethik unterliegt dabei einem Wandel von der Prinzipienethik zur Verfahrensethik. Aufgabe der Ethik in einer moralisch pluralistischen Gesellschaft ist es nicht, eine bestimmte Moral durchzusetzen, zum Beispiel auf dem Feld der Politik, sondern Verfahren zur Bearbeitung moralischer Konflikte bereitzustellen und zu einer diskursiven Entscheidungsfindung beizutragen. Ethik gewinnt damit grundlegend eine beratende Funktion. So gewiss jede Ethik 1 2

Vgl. einführend Ammermann, Gegenwärtige Anforderungen, 122–140. Höffe, Moral. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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5. Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit

normative Anteile hat, tritt doch die deskriptiv-hermeneutische Aufgabe der Ethik heutzutage in den Vordergrund. Diese Entwicklung kennzeichnet auch die Aufgabenstellung einer diakonischen Ethik. Der steigende ethische Reflexionsbedarf diakonischer Arbeit ist auf doppelte Weise durch die Pluralisierungsprozesse in modernen Gesellschaften herausgefordert. Zum einen dient diakonische Ethik der Identitätsvergewisserung und Profilbildung von Diakonie auf dem Markt der unterschiedlichen sozialen Dienstleister. Zum anderen reagiert sie auf Pluralisierungsprozesse, die innerhalb der Diakonie selbst stattfinden. Diese betreffen sowohl die Mitarbeiter als auch die Klienten diakonischer Arbeit. Weder die Mitarbeiterschaft in diakonischen Einrichtungen noch deren Klientel ist weltanschaulich oder religiös und moralisch so homogen wie in den Anfängen der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert oder auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Diakonische Ethik steht vor der Herausforderung, Vielfalt und Verbindlichkeit eines christlichen Ethos im Gegenüber zu anderen Ethosformen zu vertreten und zu profilieren. Zwar bemühen sich diakonische Einrichtungen, Unternehmungen und Werke nach wie vor um ein klares und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern akzeptiertes christliches Profil, indem sie entsprechende Leitbilder formulieren.3 Umfragen zeigen allerdings, dass sich die christliche Motivation der Mitarbeitenden nur noch zwischen 19 und 56 Prozent bewegt. Nur noch ein Teil der Beschäftigen gibt an, dass selbst so weiche Formulierungen wie: »Können sie sich mit der Vorstellung einer christlichen Nächstenliebe identifizieren?« für ihren beruflichen Alltag wichtig sind.4 In Anbetracht der geschilderten Problemlagen stellt sich die Frage, ob oder inwiefern man diakonische Ethik als eine nichtexklusive Ethik bezeichnen kann. Dazu ist zunächst zu klären, was überhaupt unter einer nichtexklusiven Ethik zu verstehen ist. Martin W. Schnell erhebt Forderung nach einer Ethik als einem nichtexklusiven Schutzbereich, die insbesondere Menschen mit Pflegebedarf, kranke und behinderte Menschen stärker als andere Typen von Ethik berücksichtigt und beim gelebten Leben dieser Menschen ihren Ausgangspunkt nimmt.5 »Nichtexklusiv« bedeutet nach Schnell, »dass eine Ethik niemanden von der Gewährung von Achtung, Schutz und Würde ausschießt«6. 3 4 5 6

Exemplarisch: Kirchenamt der EKD, Herz und Mund. Vgl. Haas, Diakonie Profil, 234. Vgl. Schnell, Ethik als Schutzbereich; ders., Pflege und Philosophie. Schnell, Ethik als Schutzbereich, 15. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Exklusive Ethiken sind demgegenüber solche, die Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen oder fehlenden Eigenschaften wie Bewusstsein oder aktueller Fähigkeit zur Selbstbestimmung aus dem Kreis der moralisch relevanten Subjekte ausschließt. Schnell rechnet dazu die utilitaristische Ethik von Peter Singer, aber auch die Konzeptionen von Tom L. Beauchamp oder Richard M. Hare. Im Sinne Schnells lässt sich diakonische Ethik insofern als nichtexklusive Ethik charakterisieren, als sie dem universalen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet ist, wie es im Alten Testament 7 formuliert und in der Jesustradition des Neuen Testaments bekräftigt wird8. Jesus radikalisiert die Nächstenliebe in der Bergpredigt sogar bis zur Feindesliebe.9 Die Botschaft Jesu begründet die Option für die Armen, die ihrerseits alttestamentliche Wurzeln hat, und der auferstandene Christus wird in den notleidenden Menschen erkannt.10 Das Gebot der Nächstenliebe steht allerdings in Spannung zum modernen Liebesbegriff einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Während diese die Anerkennung eines Einzelnen auf die individuelle Liebeswahl gründet, fordert das Gebot der Nächstenliebe eine uneingeschränkte Anerkennung individueller Bedürfnisse entsprechend konkret wahrgenommener Notlagen.11 Nichtexklusiv ist diakonische Ethik im Blick auf die möglichen Adressaten christlich motivierten Handelns. Anders steht es freilich mit ihrer Begründung. Eine biblisch begründete Ethik mag einen universalen Geltungsanspruch erheben. Ihre Plausibilität beschränkt sich jedoch zunächst auf diejenigen, die an Christus bzw. an Gott im christlichen Sinne glauben. Mögen sich christliche Gehalte streckenweise auch in eine nichtreligiöse Ethik übersetzen lassen oder mit materialethischen Normen anderer religiöser oder philosophischer Traditionen konvergieren, so haben doch ihre spezifisch biblischen oder religiösen Begründungen für Nichtchristen keine unmittelbare Überzeugungskraft. Man mag mit Peter Dabrock davon sprechen, dass eine christliche Ethik auf Transpartikularisierung ihrer Prinzipien und Normen ausgerichtet ist,12 weil sie der Überzeugung ist, dass der Heilswille Gottes allen Menschen gilt.13 Insofern jedoch christliche Ethik darin gründet, 7 8 9 10 11 12 13

Lev 19,18. Mk 12,28–34; Mt 22,34–40; Lk 10,25–37. Mt 5,43–48; Lk 6,27. Vgl. Mt 25,31–46. Vgl. Behrens, Inklusion, 27.33. Vgl. Dabrock, Zugehörigkeit; ders., »Suchet der Stadt Bestes«. Vgl. 1Tim 2,4. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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5. Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit

dass allein in Christus das Heil des Menschen begründet ist, muss man hinsichtlich ihrer Letztbegründung wohl sogar von einer exklusivistischen Ethik sprechen. Die Begründungsfragen einer christlichen und damit auch einer diakonischen Ethik berühren das Problem einer Theologie der Religionen, wobei exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Theorien sowie Mischformen derselben vertreten werden. Auf den Stand der Diskussion dazu kann hier aber nicht näher eingegangen werden.14 Weiters wäre zu diskutieren, ob eine Ethik, gleich, ob religiös oder nicht, welche zwischen Menschen – mögen auch alle inkludiert sein –, Tieren und Pflanzen Abstufungen hinsichtlich ihrer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit vornimmt, als nichtexklusive Ethik bezeichnet werden darf. Albert Schweitzer hat dies verneint und mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben eine universale Ethik propagiert, welche grundsätzlich alles Leben als schützens- und erhaltenswert einstuft, vom Menschen bis zur Mikrobe.15 Schweitzers Ethik leidet freilich an ernsten Begründungsproblemen, die daran zweifeln lassen, ob eine nichtexklusive Ethik mit einem derart entgrenzten Adressatenkreis, der zwischen der Tötung eines Menschen und der Vernichtung von Krankheitserregern keinen grundsätzlichen Unterschied sieht, widerspruchsfrei plausibel, geschweige denn praktisch zu befolgen ist. Die jüdische und die christliche Tradition achten zwar die gesamte Welt als Schöpfung Gottes, nehmen aber Abstufungen hinsichtlich der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit der außermenschlichen Natur vor, wie wir sie auch aus anderen Ethiktraditionen kennen. Allerdings lässt sich fragen, ob eine im radikalen Sinne nichtexklusive Ethik überhaupt ein plausibles Konzept sein könnte. Zutreffend stellt Hans-Ulrich Dallmann fest: »Menschen können weder nicht nichtinkludieren noch nicht nicht-exkludieren. Folglich kann nicht das Faktum von Exklusion und Inklusion Gegenstand der ethischen Reflexion sein, sondern die daraus resultierende Frage nach dem angemessenen Umgang damit.«16 Das gilt für diakonische Ethik ebenso wie für jede andere Ethik.17

14 15 16

17

Vgl. dazu Danz/Körtner, Theologie der Religionen. Vgl. Schweitzer, Kultur und Ethik. Dallmann, Recht, 589f. Zu Inklusion und Exklusion in systemtheoretischen Zusammenhängen siehe Luhmann, Soziologische Aufklärung, 237–264; Stichweh, Inklusion. Zu begrifflichen Unschärfen der Luhmannschen Terminologie vgl. Merten, Inklusion/Exklusion. Vgl. auch Dallmann, Nutzen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Hinsichtlich der Adressaten und Produzenten diakonischer Ethik entscheidet sich ein angemessener Umgang mit Inklusion und Exklusion eben auch daran, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diakonischer Einrichtungen mit ihren unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in ethische Reflexionsprozesse eingebunden werden. Zwischen der Trägerethik einer diakonischen Einrichtung und den ethischen Überzeugungen der einzelnen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können Abweichungen und Konflikte entstehen, welche die Frage nach den Grenzen ethischer Diversität aufwerfen. Auch im Blick auf die Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb von Kirche und Diakonie sowie das komplexe Wechselspiel von Kirche, Diakonie, Staat, Zivilgesellschaft und Sozialmarkt wird man nicht einfach von einer nichtexklusiven Ethik sprechen können. Im Blick auf die systemischen Überlagerungen, Interaktionen und möglichen Konflikte ist vielmehr zu fragen, welcher Umgang mit Inklusion und Exklusion jeweils ethisch zu rechtfertigen ist. Die Grundlage dafür kann ein Verständnis von diakonischer Ethik als Bereichsethik oder topischer Ethik bieten, das im ersten Kapitel diskutiert wurde.18 5.2

Inklusives Ethos: biblische Impulse

Diakonische Ethik orientiert sich grundlegend an der Praxis Jesu, die man als Inklusion von Ausgegrenzten charakterisieren kann. Geradezu stereotyp verweisen diakonische und kirchliche Dokumente auf Jesu Umgang mit Sündern und Zöllner, Aussätzigen, Kranken und Ehebrechern. Die neutestamentlichen Evangelien berichten, dass die Praxis Jesu immer wieder zu Konflikten mit Repräsentanten des zeitgenössischen Judentums führt. Der Jude Jesus stellt die alttestamentliche strikte Trennung zwischen Rein und Unrein in Frage.19 Er wendet sich Aussätzigen zu, die außerhalb der Ortschaften in eigens gekennzeichneten Bereichen leben mussten, und heilt sie.20 Ebenso heilt er einen Besessenen, der aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist.21 Er beruft einen Zöllner, der als Kollaborateur der römischen Besatzungsmacht geächtet war, in seinen Jüngerkreis22 und verkehrt auch sonst

18 19 20 21 22

Vgl. oben 15–17. Vgl. Mk 7,1–23; Mt 15,1–20. Mk 1,40–45; Mt 8,2–4; Lk 5,12–16; 17,11–19. Mk 5,1–20; Mt 8,28–34; Lk 8,26–39. Mk 2,13–17; Mt 9,9–13; Lk 5,27–32. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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mit Zöllnern23. Er lässt sich von einer als Sünderin titulierten Frau die Füße salben, was sein Gastgeber, ein Pharisäer, für einen Skandal hält.24 Er bricht mit familiären Konventionen und erklärt, seine Mutter und seine Brüder seien alle, die auf Gottes Wort hören und seinen Willen befolgen.25 In einem Gleichnis schildert Jesus das Reich Gottes als ein Festmahl, zu dem die Armen und Elenden von den Hecken und Zäunen eingeladen werden, nachdem die vornehmen Gäste, die ursprünglich eingeladen waren, dem Gastgeber eine Absage erteilt haben.26 Die Version des Gleichnisses im Matthäusevangelium erzählt, der königliche Gastgeber habe alle herbeiholen lassen, die seine Knechte finden konnten, »Böse und Gute« (Mt 22,10), so wie Gott nach Jesu Aussage in der Bergpredigt auch über Bösen und Guten seine Sonne aufgehen und es über Gerechten und Ungerechten regnen lässt27. In diesen Aussprüchen wird keineswegs die Unterscheidung zwischen Gut und Böse aufgehoben, wohl aber die Grenze zwischen Guten und Bösen. Allerdings endet die Fassung im Matthäusevangelium damit, dass einer der Geladenen, der nicht im Festgewand erschienen ist, hinausgeworfen wird. Das ist ein Hinweise darauf, dass das Problem von Inklusion und Exklusion auch in der Jesusüberlieferung virulent bleibt. Lukas gibt dem Gleichnis in der Rahmenerzählung eine ethische Wendung: Wie der Gastgeber im Gleichnis sollen auch die Hörer oder Leser handeln. Man soll nicht seine Freunde, Verwandten oder reiche Nachbarn zu sich einladen, sondern Arme, Krüppel, Lahme und Blinde, »weil sie es dir nicht vergelten können; denn es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten« (Lk 14,13f). Schließlich durchbricht Jesus auch religiöse Grenzen. Er heilt die Tochter einer syrophönizischen Frau, deren Bitte er zunächst schroff zurückweist, weil sie keine Jüdin ist, lässt sich dann aber von dieser umstimmen.28 Inbegriff der im Alten Testament und von Jesus gebotenen Nächstenliebe ist der barmherzige Samariter aus Jesu Gleichnis in Lk 10,30–37. Dieser als Vorbild hingestellte Mann, der einen unter die Räuber gefallenen Menschen rettet und versorgen lässt, ist kein Jude – und schon gar kein Christ, sondern ein aus jüdischer Sicht häretischer 23 24 25 26 27 28

Lk 5,27–32. Vgl. auch das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lk 18,9–14. Lk 7,36–50. Mk 3,31–35; Mt 12,46–50; Lk 8,19–21. Mt 22,1–10; Lk 14,16–24. Mt 5,45. Mk 7,24–30; Mt 15,21–28. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Samaritaner. War vorhin davon die Rede, dass eine diakonische Ethik letztlich an ein exklusives Bekenntnis zur Heilsbedeutsamkeit Christi rückgebunden ist, so kommt diese christologische Begründung des christlichen Ethos im Gleichnis vom barmherzigen Samariter interessanterweise – zumindest explizit – nicht zum Tragen. Als inklusiv wird auch Jesu Einstellung zu fremden Wundertätern dargestellt. Als seine Jünger von einem fremden Dämonenaustreiber berichten, der im Namen Jesu böse Geister austreibt, jedoch nicht zum Jüngerkreis Jesu gehört, erklärt dieser: »Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns« (Mk 9,40; Lk 9,50). Freilich darf man nicht außer Acht lassen, dass es ausdrücklich heißt, der fremde Exorzist rufe den Namen Jesu an. Die Inklusion des fremden Dämonenaustreibers gründet also durchaus in einer Exklusion, die sich bei Matthäus und Lukas an anderer Stelle in der Umkehrung des Jesuswortes zeigt: »Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut« (Mt 12,30; Lk 11,23). Das inklusive Ethos der Jesusüberlieferung kommt auch im großen Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 zum Ausdruck. Ob jemand den Willen Gottes befolgt oder zu Christus gehört, erweist sich dadurch, dass jemand Hungrigen zu essen gibt, Durstigen zu trinken, Fremde aufnimmt, Nackte bekleidet, Kranke und Gefangene besucht. Wer Christus dienen will, soll sich den Geringsten, den Armen und Ausgeschlossenen zuwenden. Was man einem der Geringsten getan hat, das hat man im Gleichnis dem König, d.h. im wirklichen Leben Christus getan.29 Aus Mt 25 hat die christliche Tradition die sieben Werke der Barmherzigkeit abgeleitet30, wobei die Liste der Werke aus Mt 25 noch um die Bestattung der Toten ergänzt worden ist.31 In Mt 25 und der daran anschließenden Tradition der Werke der Barmherzigkeit besteht ein Wechselverhältnis zwischen exklusivem Christusglauben und inklusivem Ethos: Wer Christus dienen will, ist einem Ethos der Inklusion verpflichtet, das sich gerade denen zuwendet, die marginalisiert, verletzlich, schwach und schutzbedürftig sind. Die Aufforderung, Fremde zu beherbergen, begegnet uns freilich schon im Alten Testament. Den Fremden, d.h. den Nichtisraeliten, gilt die besondere Fürsorge des Gottes Israels, ebenso wie den Witwen und Waisen, wie Tora und Propheten immer wieder einschärfen. Das Alte 29 30 31

Mt 25,40. Vgl. Peters, Werke, 636. Diese Erweiterung geht auf den Kirchenvater Laktanz zurück, der sich auf Tob 1,17 berufen hat. Das Jesuswort Mt 8,22, man solle die Toten ihre Toten begraben lassen, wurde nicht als Widerspruch empfunden. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Testament enthält zahlreiche Fürsorgeregelungen gegenüber sozial schwachen Gliedern der altisraelitischen Gesellschaft. Allerdings ist zu beachten, dass die Fremden nicht deshalb besonders zu achten sind, weil sie fremd, sondern sofern sie sozial schwach und schutzbedürftig sind. Das alttestamentliche Fremdenrecht bedeutet z.B. nicht, dass den Fremden eine eigene religiöse Identität zugestanden würde.32 Hier zeigt sich der Jahweglaube exklusiv und auch unnachgiebig gegenüber anderen religiösen Kulten. Das Alte Testament kennt sogar sehr strikte Formen von Inklusion und Exklusion, wie allen voran das erste Gebot des Dekalogs zeigt, dass die ausschließliche Jahweverehrung fordert. Auch spielt die Unterscheidung zwischen rein und unrein kultisch und ethisch eine tragende Rolle. Die Kategorie des Fremden oder der Fremdheit prägt auch das Selbstverständnis des ältesten Christentums. Viele Texte des Neuen Testaments sind aus der Perspektive einer marginalisierten Gruppe geschrieben. Paulus charakterisiert zum Beispiel die von ihm gegründete Christengemeinde als eine Gemeinschaft von Menschen mit geringem Ansehen. »Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme.« (1Kor 1,26–29)

Der Hebräerbrief betont, dass Jesus außerhalb der Stadt Jerusalem gekreuzigt und somit aus der Gesellschaft und religiösen Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Wie er, so haben auch die Christen keinen bleibenden Ort in dieser Welt, Christusnachfolge bedeutet, selbst zum Ausgestoßenen zu werden: »So laßt uns nun vor das Lager hinausgehen und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« (Hebr 13,13f) Die bleibende Fremdheit der Christen in der Welt bringt Paulus auf die Formel des »Haben als hätte man nicht« (vgl. 1Kor 7,29–31). Die radikalen Konsequenzen der in der Jesusüberlieferung zu beobachtenden Entgrenzungs- und Inklusionsstrategien zieht Paulus in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, die im folgenden Abschnitt genauer untersucht wird. Die Rechtfertigungslehre führt zu einer völli32

Vgl. Dallmann, Recht, 530. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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gen Neubewertung der alttestamentlichen Tora, mit der Konsequenz, dass in den christlichen Gemeinden die Beschneidungspraxis abgeschafft und die Trennung zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben wird. Das zeigt sich konkret am Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochia, als Petrus mit nichtjüdischen Christen, welche die jüdischen Speisevorschriften nicht einhalten, keine Tischgemeinschaft mehr pflegen will.33 Paulus schreibt im Galaterbrief, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau für die Zugehörigkeit zu Christus und seiner Gemeinde keine Rolle mehr spielt.34 Der deuteropaulinische Epheserbrief beschreibt die Einheit der Gemeinde aus Juden und Griechen als Existenz eines neuen Menschen, nämlich eines aus Juden und Nichtjuden bestehenden Leibes, der infolge der Aufhebung des alttestamentlichen Gesetzes mit seinen Geboten und Satzungen besteht.35 Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, dass für den Christusglauben Grenzziehungen überhaupt ihre Geltung verloren hätten. Ohne Grenzziehungen könnte es gar keine christliche Identität, weder der einzelnen Glaubenden noch der Kirche geben. »Will man an der Sozialität der Kirche festhalten, sind Grenzbestimmungen unumgänglich. Denn soziale Gruppen sind ohne Grenzen nicht einmal denkbar.«36 Allerdings zeigt sich, dass die unumgänglichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen im Neuen Testament nicht über ethnische, sondern über religiöse Semantiken laufen. 5.3

Der Kampf um Anerkennung und die Rechtfertigung des Gottlosen

Das – in einem differenzierten Sinne – nichtinklusive Ethos der Jesusüberlieferung und des christlichen Glaubens reagiert auf seine Weise auf den Kampf um Anerkennung, der sich in der biblischen Überlieferung auf Schritt und Tritt festmachen lässt.37 Am gründlichsten ist dieser Zusammenhang wohl in der Theologie des Paulus und seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bzw. des Gottlosen allein aus Gnade durch den Glauben durchdacht worden. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören schon nach alt33 34 35 36 37

Gal 2,11–21. Gal 3,28. Eph 2,15f. Dallmann, Recht, 533. Zum Terminus »Kampf um Anerkennung« vgl. Honneth, Kampf. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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testamentlicher Auffassung zusammen. Als Kain sich von Gott gegenüber seinem Bruder Abel zurückgesetzt fühlt, erschlägt er diesen.38 Die Schlange verheißt Adam und Eva im Paradies, sie würden sein wie Gott, wenn sie sich über das göttliche Verbot hinwegsetzen und vom Baum der Erkenntnis essen würden.39 Man kann die Sünde geradezu als das Streben des Menschen definieren, wie Gott sein zu wollen, also nicht etwa nur Anerkennung durch Gott zu erfahren, sondern sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen radikal als Feind Gottes.40 Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt. Die bedingungslose Anerkennung durch Gott hebt nach paulinischem Verständnis nicht etwa jede Verantwortlichkeit des Menschen auf, sondern begründet sie zuallererst. Theologisch betrachtet liegt der Rechenschaftspflicht des ethischen Subjekts nämlich die Rechtfertigung, d.h. aber die Gerechtsprechung des Sünders durch den gnädigen Gott voraus. Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet aber auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht. Darin besteht der schöpfungstheologische Sinn der Aussage des Paulus in 2Kor 5,17: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung.« Die rechtfertigungstheologische Konsequenz aus diesem Sachverhalt hat vor allem Martin Luther in seiner Erklärung zum ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses gezogen.41 Der Glaube an den Schöpfer wird in diesem Text als Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit formuliert, das Handeln des Schöpfers an seinem Geschöpf als Weise seiner bedingungslosen, unverdienten Gnade, d.h. als Zeichen der Rechtfertigung des Sünders. Das philosophische Argument, wonach personale Anerkennung bzw. Achtung der Grund von Moral ist, hat seine theologische Pointe darin, dass aller zwischenmenschlichen Anerkennung das Anerkanntsein der Person – und zwar auch derjenigen, welche eigentlich das Recht auf Anerkennung schuldhaft verwirkt hat – durch Gott vorausliegt. Hieraus folgt, dass die Würde der Person und ihre Freiheit unbedingt zu 38 39 40 41

Gen 4,1–16. Gen 3,4f. Röm 5,10. Luther, Kleiner Katechismus (1529), BSLK 510f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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achten sind. Wenn das Daseinsrecht des Einzelnen theologisch verstanden in der Rechtfertigung des Gottlosen gründet, kann es zwischenmenschlich nicht an moralische Bedingungen geknüpft werden. Vielmehr ist umgekehrt alle Moral an seiner Achtung zu bemessen. Die Anerkennung des Sünders ist nun aber nicht ein bloßes Postulat, sondern eine im Glauben erfahrbare Wirklichkeit, eindrücklich in den Paulusbriefen dargelegt, auf die sich spätere Formulierungen der Rechtfertigungslehre berufen haben. Es verhält sich nicht so, wie etwa Trutz Rendtorff in seinem Entwurf einer »ethischen Theologie« unterstellt, dass die theologische Rechtfertigungslehre in besonderer Weise die der moralischen Verantwortung korrespondierende Realität von Schuld in der Weise thematisiert, dass die notwendige Anerkenntnis von Schuld »die Antizipation der Vergebung von Schuld« ist.42 Es ist in der Schuldanerkenntnis die Vergebung der Schuld nicht bereits impliziert, sondern diese muss real vermittelt werden. Das geschieht im Zuspruch des Evangeliums. In der Kommunikation des Evangeliums wird die Rechenschaft fordernde Instanz zugleich als diejenige erfahren, welche die Schuld vergibt. Der die Ethik transzendierende Zuspruch der Sündenvergebung wirkt wiederum auf die Ethik zurück, insofern nämlich die Anerkenntnis der Schuldhaftigkeit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz zur Absage an jeden ethischen Rigorismus führt.43 Als an der Rechtfertigungslehre gewonnener Begriff transzendiert der Begriff der Verantwortung freilich deren ethischen Sinn. Er bezieht sich nicht allein auf die Zurechenbarkeit von Handlungen, sondern meint zugleich ein Sich-Überantworten im Sinne der Hingabe an Gott. Solches Sich-Überantworten führt nicht zur Selbstlosigkeit, wohl aber zur Selbstvergessenheit, in der der Mensch von seiner permanenten Selbstsorge und Selbstbezüglichkeit befreit wird. Ein grundlegendes Problem heutiger Sozialethik besteht darin, dass die herkömmliche Annahme, nach welcher die Person das organisierende Zentrum alles menschlichen Handelns ist, durch die Vergesellschaftung menschlichen Handelns in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zunehmend außer Kraft gesetzt wird.44 Droht an diesem Sachverhalt jedes Konzept von Ethik als Theorie einer personal zen42 43 44

Rendtorff, Ethik I, 83. So mit Recht Rendtorff, Vom ethischen Sinn, 125ff. Vgl. Reese-Schäfer, Niklas Luhmann, 119: »Auch die Person ist heute zerlegt und kommt als Ganzes höchstens noch im Theater vor.« Zur sich hieraus ergebenden theologischen Problematik siehe auch Fischer, Theologische Ethik und Christologie, 504f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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trierten Lebensführung zu scheitern, so lässt sich gegenläufig eine Tendenz zur Wiederkehr des totgesagten Subjekts als sozialem Konstrukt beobachten.45 Die am Arbeitsmarkt geforderte hohe räumliche, zeitliche und funktionale Mobilität verleiht dem Individualismus eine neue ökonomische Basis. Dies bedeutet freilich auch, dass die persönliche Biographie eines Menschen immer mehr »das Doppelgesicht einer institutionenabhängigen Individuallage« annimmt.46 Die Frage ist nun aber, ob sich Personalität nur institutionenabhängig oder auch institutionentranszendent wiedergewinnen lässt. Nur dann lässt sich Moral begründen. Die Möglichkeit einer institutionentranszendenten Wiedergewinnung des ethischen Subjektes ist nun das Thema der Theologie, genauer gesagt der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade. Sie handelt von der Wiedergewinnung endlicher Freiheit und damit der moralfähigen Subjektivität. Ihre Pointe besteht nicht etwa darin, eine vorgängige Struktur von Subjektivität religiös zu interpretieren, sondern darin, dass die konkret angesprochene Person im Rechtfertigungsgeschehen als einem Sprachgeschehen neu konstituiert wird: »Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf« (2Kor 5,17). Grundsätzlich kann das mögliche Subjekt von Verantwortung nur sein, wer sich zur Verantwortung gerufen weiß. Genau dies aber geschieht im Geschehen der Rechtfertigung des Sünders, weil mit dem Freispruch von der Sünde gerade nicht die Entlastung von Verantwortung, sondern gerade der Ruf zu bewusster Verantwortungsübernahme verbunden ist. Die christliche Rechtfertigungslehre verweist damit auf eine Möglichkeit, wie das ethische Einzelsubjekt von Verantwortung, welches durch die fortschreitende Vergesellschaftung unseres Handelns zu entschwinden droht, neu konstituiert werden kann. Die praktischen Konsequenzen für eine diakonische Ethik und einer Ethik des Gesundheitswesens seien zumindest in ihren Grundzügen beschrieben: Die paulinische Rechtfertigungslehre zielt auf das grundlegende Existenzrecht des Menschen, indem sie zwischen Person und Werk, zwischen Sünder und Sünde zu unterscheiden lehrt. Jede Anthropologie sucht letztlich immer auch nach Gründen, die das Dasein des Menschen rechtfertigen. Wenn ein Mensch sich selbst bzw. das Daseinsrecht nicht rechtfertigen kann, z. B. weil er noch gar nicht geboren ist, weil er geistig schwer behindert oder verwirrt ist, weil er im Koma liegt und dauerhaft das Bewusstsein verloren hat, wer oder was rechtfertigt dann sein Recht auf Leben? Die Antwort, die hierauf 45 46

Vgl. Ulrich Beck, in: Beck/Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos, 56ff. A.a.O., 60. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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die paulinische und die reformatorische Tradition des Christentums geben, lautet: Gott rechtfertigt das Leben eines jeden Menschen. Der Mensch ist der von Gott gerechtfertigte Mensch und eben deshalb braucht er sich selbst und sein Dasein nicht zu rechtfertigen. In welcher Weise auch der Schöpfungsglaube und die Bestimmung des Menschen als Geschöpf Gottes von der Rechtfertigung her ihre Akzentuierung erfahren, lässt sich schön an Martin Luthers Erklärung zum dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zeigen. Er führt aus: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuhe, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt, wider alle Gefahr beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt, und das alles aus lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin; das ist gewißlich wahr.«47

Das physische Dasein und seine Erhaltung, aber nicht nur das bloße Überleben, sondern auch die Fülle des Lebens kommt dem Menschen grundlos zu. Das geschöpfliche Leben ist die irdische Konkretion der Rechtfertigung des Sünders. Das Empfangen kommt vor dem Tun, die Verheißung bzw. der Zuspruch (promissio) vor dem Gebot, der Glaube vor den Werken. Zugleich verweist die innere, an der Rechtfertigungslehre gewonnene Struktur von Luthers Erklärung zum Credo auf die Christologie. Das Bild, welches sich Gott vom gerechtfertigten Sünder macht, ist das Bild Christi, das er in jedem von uns sieht. Darum hängt auch das Lebensrecht eines Menschen gerade nicht von bestimmten intellektuellen Fähigkeiten oder seiner körperlichen Verfassung ab. Dies folgt aus dem Zusammenhang, der zwischen Rechtfertigungslehre und Christologie besteht. Die christliche Anthropologie nimmt nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß, der »keine Gestalt« hatte, »die uns gefallen hätte« (Jes 53,2). Von hier aus ist auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre ausgesagt wird, näher zu bestimmen. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt nicht nur für die so genannten Gesunden, sondern auch für Behinderte, Kranke, Unheilbare und Sterbende. Welches Maß an Solidarität eine Gesell47

Luther, Kleiner Katechismus (BSLK, 510f. Schreibweise modernisiert). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schaft den Schwächsten ihrer Mitglieder entgegenbringt, ist das entscheidende Maß für ihre Menschlichkeit. Wem es gegeben ist, Gott Gott sein zu lassen, der ist auch frei, seine Mitmenschen sein zu lassen. Den Anderen sein lassen aber heißt, ihm sein Existenzrecht weder mit Worten noch mit Taten streitig zu machen. Es bedeutet sodann, dem Mitmenschen das Seine zukommen zu lassen, nämlich das, was er nötig hat. Die paulinische Rechtfertigungslehre und das in ihr implizierte Freiheitsverständnis lenken jedoch den Blick darauf, »das ethische Grundproblem weniger im Engagement als in der Distanznahme zum anderen zu sehen, der aus dem Zugriff des Subjekts befreit werden muß«48. Den Mitmenschen sein lassen können, hängt wiederum »unmittelbar mit der Fähigkeit zusammen, Gottes Sein im eigenen Geschöpfsein, in der eigenen Endlichkeit zu verifizieren und sich hier jeglichen Progreß in einen Welthorizont zu versagen«49. So bestünde denn der Beitrag des Christentums zur anthropologischen und gesellschaftspolitischen Diskussion der Gegenwart darin, auf eine andere Möglichkeit der Kontingenzbewältigung hinzuweisen, die vom Zwang des selbstproduzierten bzw. von anderen verfügten Schicksals befreit. Es ist dies ein Ethos des Sein-Lassens, das sich darauf gründet, dass sich der Mensch nicht selbst verdankt und in die Welt bringt. Für den Kontext von Diakonie und sozialer Arbeit bedeutet dies, dass der Kampf um Anerkennung und Inklusion nicht mit dem Ziel einer unterschiedslosen »Vollintegration« des Anderen verwechselt werden darf. Verstanden als Vollintegration wäre Integration ein paternalistisches Sozialkonzept, das mit der Einschränkung von Freiheitsgraden verbunden wäre.50 5.4

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Nun besteht im Neuen Testament ein enger theologischer Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und bedingungsloser Anerkennung des Sünders, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit gehört auch zu den grundlegenden Motiven diakonischen Handelns in der christlichen Tradition. Der Ausbau des modernen Sozialstaates, an dem Diakonie und Caritas aktiv beteiligt sind, wird oft als Fortschritt von der Barmherzigkeit zur Gerechtigkeit gedeutet. Diakonisches und 48 49 50

Mostert, Frage, 119. Ebd. Vgl. Dabrock, Inklusion, 135f.142f. Siehe auch Wansing, Teilhabe. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sozialstaatliches Hilfehandeln ist demnach kein Gnadenakt, sondern ein Rechtsanspruch, wobei man in kirchlichen und theologischen Kontexten die biblische Tradition einer umfassenden Gerechtigkeit betont, wie sie schon für das Alte Testament und insbesondere die prophetische Tradition Israels kennzeichnend ist. Seit mehr als einem Jahrzehnt findet freilich ein Umbau des Sozialstaats einschließlich des Gesundheitswesens statt, der sich formelhaft als Paradigmenwechsel von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt bezeichnen lässt, bei dem der Staat sich zunehmend auf seine Gewährleistungsverantwortung zurückzieht und die Leistungsverantwortung einer Vielzahl von Anbietern überlässt.51 Die freien Wohlfahrtsverbände bekommen privatwirtschaftliche Konkurrenz, auch im Bereich von Medizin und Pflege. In dieser Situation wird in Diakonie und Kirche nicht nur die Frage gestellt, ob die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, sondern auch eine Rückbesinnung auf die biblische Tugend der Barmherzigkeit gefordert. Tatsächlich gehört Barmherzigkeit zu den grundlegenden Tugenden – heute würde man wohl sagen »Werten« – christlicher Diakonie. Diakonisches Handeln orientiert sich biblisch an Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) ebenso wie am Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 und weiß sich zu den sieben Werken der Barmherzigkeit berufen, wie sie in der christlichen Tradition genannt werden: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten. Der Katechismus der Katholischen Kirche unterscheidet zwischen geistlichen und leiblichen Werken der Barmherzigkeit und rechnet unter die erstgenannten: belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben und geduldig ertragen.52 Wir könnten ganz allgemein von Seelsorge sprechen, die auch nach evangelischem Verständnis zum diakonischen Auftrag der Kirche gehört. Problematisch ist allerdings die »teilweise naive Aufwertung der Barmherzigkeitsperspektive«, mit welche diakonische Unternehmen und Träger auf die neuen Ökonomisierungszwänge und die ihnen aufgedrängte Alternative von Sozialwohlstrategie oder Wettbewerbsstrategie reagieren. Sie begünstigt nämlich »auf lange Sicht eine sozialpolitische Selbstentkernung der kirchlichen Diakonie« und entfernt sich »weit von den Programmatiken kirchlicher Stellungnahmen«53, die differenziert auf das Spannungsverhältnis zwischen Barmherzigkeit und 51 52 53

Vgl. Jähnichen, Von der »Barmherzigkeit« zum »Sozial-Markt«. Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), Nr. 2447. Maaser, Evangelische Diakonie, 249. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Gerechtigkeit eingehen, das uns noch beschäftigen wird.54 Im Übrigen verstehen sich nicht nur andere Wohlfahrtsverbände, sondern auch privatwirtschaftliche Unternehmen heutzutage durchaus als Wertegemeinschaften.55 Ein vorschneller Rekurs auf die sogenannte Werteorientierung diakonischen Handelns einschließlich der Barmherzigkeitsrhetorik stellt also auch in dieser Hinsicht eine Verkürzung dar, zumal die praktische Zuwendung zu den Bedürftigen und eine Ethik des Helfens kein spezifisch kirchliches Proprium sind.56 Dass der Begriff der Barmherzigkeit oder des Erbarmens auch in der modernen Diakonie neben denjenigen der auf Gegenseitigkeit beruhenden Solidarität und der Gerechtigkeit seinen festen Platz im modernen Sozialstaat und im öffentlichen Gesundheitswesen behalten muss, ist nicht unumstritten. Das Recht auf medizinische Versorgung und Pflege gehört heute zu den grundlegenden Menschenrechten. Auch auf Hilfe in sozialen Nöten besteht im modernen Sozialstaat ein einklagbares Recht. Medizin und Pflege sowie die verschiedenen Formen der Sozialhilfe werden auch in diakonischen Einrichtungen als zu vergütende Dienstleistungen verstanden, nicht als Akte der Barmherzigkeit. Wenn einer Kultur des Erbarmens das Wort geredet wird, kann dies leicht als Rückfall hinter die Errungenschaften des modernen Sozialstaates missverstanden werden, durch den die Adressaten diakonischer Hilfe von Rechtssubjekten zu Betreuungsobjekten degradiert werden. Wie nach einem viel zitierten Diktum des Verfassungsrechtlers ErnstWolfgang Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann57, so hängen auch unser ökonomisches System und der Sozialstaat von Rahmenbedingungen ab, die jenseits des ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalküls liegen. Eine Kultur des Helfens, die diesen Namen verdient, ist immer auch eine Kultur der Barmherzigkeit bzw. des Erbarmens, wie sie die Kirchen zu Recht einfordern.58 Der Begriff des Erbarmens oder der Barmherzigkeit bleibt in kirchlichen Dokumenten allerdings oftmals unbestimmt. Die EKD-Denkschrift »Gerechte Teilhabe« von 2006 gibt 54 55 56 57 58

Zum Stand der Debatte siehe auch Kuhn/Schäfer, Barmherzigkeit. Zum Konzept der Wertegemeinschaft in der gegenwärtigen Ökonomik siehe Schanz, Unternehmen. Vgl. Maaser, Evangelische Diakonie, 252. Zur Ethik des Helfens siehe ausführlich Körtner, Ethik im Krankenhaus, 25ff. Vgl. Böckenförde, Recht, 112. Siehe v.a. Rat der EKD/Katholische Deutsche Bischofskonferenz, Für eine Zukunft, Nr. 13. Vgl. dazu auch Welker, Erbarmen; ders., Routinisiertes Erbarmen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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z.B. nur die vage Auskunft, eine Kultur der Barmherzigkeit wurzele im Gebot der Nächstenliebe. Barmherzigkeit wolle und könne den organisierten Sozialstaat nicht ersetzen, sei aber »für spezielle Notfälle und eine ganzheitliche Hilfestellung auch deshalb unverzichtbar, weil sie sich auch auf die emotionalen und seelischen Aspekte der menschlichen Existenz richtet«59. Warum aber »gerade der Sozialstaat« letztlich von einer »breit verankerten« Kultur der Barmherzigkeit lebt,60 ist damit nicht genau erklärt. An dieser Stelle verdient die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. »Deus Caritas est« Erwähnung. Was er über das Wesen der Caritas schreibt, lässt sich in ökumenischer Gesinnung auch von der evangelischen Diakonie sagen: »Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. [...] Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinne gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung. [...] Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe ›nur vom Brot‹ (Mt 4,4; vgl. Dtn 8,3) – eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.«61

Wenn über den Zusammenhang von Ökonomie, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Diakonie und Gesundheitswesen nachgedacht wird, darf zum Beispiel die Bedeutung des Spendenwesens nicht außer Acht gelassen werden, das ja keineswegs nur in zivilgesellschaftlichen Initiativen, sondern auch in der modernen unternehmerischen Diakonie eine wichtige Rolle spielt. Auch sonst ist das Spenden- und Stiftungswesen im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen ein wichtiger Bestandteil. Die freiwillige Unterstützung durch einzelne Bürger oder Unternehmungen reicht von Spenden für Einzelprojekte bis zur Unterstützung von national und international in Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, Umweltschutz und Gesundheitswesen tätigen Organisationen. Hier ist nun wirklich von Barmherzigkeit zu sprechen, weil es sich eben nicht um finanzielle Leistungen handelt, die der Staat von seinen Bürgern einfordern kann, deren freiwilliges Engagement er aber 59 60 61

Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe, 140 (Nr. 76). Vgl. a.a.O., 15. Benedikt XVI., Deus Caritas est, Nr. 28b. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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zum Beispiel durch die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden und das Stiftungsrecht fördert. Gerade das Spendenwesen zeigt nun aber auch, wie problematisch eine abstrakte Gegenüberstellung von unternehmerischer und zivilgesellschaftlicher Diakonie wäre. Längst ist das Spendenwesen oder Fundraising zu einem hart umkämpften Markt geworden, an dem ganze Branchen mitverdienen, von der Werbebranche bis zur professionellen Spendenakquise durch eigene Agenturen. Um schwarze Schafe auszusondern, wurden eigene Spendengütesiegel geschaffen, und für die rechtmäßige Verwendung von Spenden gibt es gesetzlich vorgeschriebene Kontrollmechanismen. Eine ökonomische Theorie des Spendenwesens in diakonisch-ethischer Perspektive wäre ein eigenes Thema.62 Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie verantwortungsvoll mit Spendenmitteln zu wirtschaften ist, sondern grundlegend um eine Besinnung auf die Logik der Gabe gegenüber der Logik des Tausches. Das Thema der Gabe ist letztlich ein hoch theologisches, gründet doch nach christlicher Überzeugung alles Leben in der zuvorkommenden Gnade und Gabe Gottes, wie sich auch an der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade zeigt. Wir müssen es bei diesen wenigen Hinweisen belassen. Speziell im Gesundheitswesen gibt es noch einen weiteren Spendenbereich, der zumindest kurz erwähnt sei, nämlich den Bereich der Gewebe- und Organspende. Hierbei ist zwischen Totenspenden und Lebendspenden zu unterscheiden. Auch hier müssen wir es bei einigen generellen Hinweisen belassen. Organspenden werden auch von den Kirchen grundsätzlich für wünschenswert gehalten. Die Überlassung von Organen darf aber nur freiwillig erfolgen. Die Vorstellung einer Sozialpflichtigkeit des menschlichen Körpers widerspricht nicht nur dem Prinzip der Menschenwürde, sondern auch heutigen Kodifizierungen von Menschenrechten auf dem Gebiet der Biomedizin wie z.B. der Biomedizinkonvention des Europarates. Diese wie auch andere Regelwerke bestimmten außerdem, dass der menschliche Körper und seine Teile nicht kommerzialisiert werden dürfen.63 62 63

Vgl. dazu auch unten Kapitel 6.3. Siehe Artikel 21 der Oviedo-Konvention (auch: Menschenrechtskonvention zur Biomedizin): »Der menschliche Körper und Teile davon dürfen als solche nicht zur Erzielung eines finanziellen Gewinns verwendet werden.« (Zitiert nach Eser [Hg.], Biomedizin und Menschenrechte, 18.) Allerdings wird seit einiger Zeit international darüber diskutiert, ob finanzielle Anreize für Lebendspenden von Organen grundsätzlich unethisch sind oder nicht. Vgl. dazu Taupitz, Kommerzialisierung. Auch auf diese Debatte wie auf weitere ökonomische Aspekte der Transplantationsmedizin können wir hier nicht näher © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Eine Kultur des Erbarmens beschränkt sich freilich nicht nur gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf das individuelle Verhalten und die Förderung zivilgesellschaftlicher caritativer oder diakonischer Initiativen. Sie fordert vielmehr auch den Staat selbst und seine Behörden dazu auf, über gesetzlich geregelte Rechtsansprüche hinaus in konkreten Einzelfällen, etwa gegenüber Asylsuchenden, Migranten und sozial Bedürftigen, Barmherzigkeit zu zeigen und unter den eigenen Mitarbeitern wie in der Gesellschaft ein Klima der Mitmenschlichkeit zu fördern. Eine Kultur des Erbarmens wird unzureichend bestimmt, wenn man sie lediglich als Korrektur negativer Auswüchse der Marktwirtschaft begreift. Die Dimension des Sozialen ist keine humane Zutat der sogenannten sozialen Marktwirtschaft, sondern ein grundlegendes Element derselben, das nicht zur Disposition gestellt werden darf. »Die unabstellbare Spannung zwischen Barmherzigkeit und Recht wird jenseits der jeweils kontextuell-historischen Gerechtigkeitsforderungen zu einem unabdingbaren fruchtbaren Spannungsmoment diakonischer Zuwendung zur Welt. Sie löst immer wieder den Diskurs über die inhaltliche Gestalt des Rechts für die Armen aus, ohne praktische Hilfeleistungen überflüssig zu machen.«64

5.5

Inklusion und Exklusion als eine Frage von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Die unabstellbare Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entzündet sich allgemein gesprochen an den Problemen von Inklusion und Exklusion.65 Im Gesundheitswesen wird dies z.B. in der Diskussion um marginalisierte Patienten und Patientengruppen konkret. Der Begriff der Marginalisierung ist freilich nicht nur eine soziologische Beschreibungskategorie, sondern auch ein politischer Kampfbegriff. Das gilt es zu beachten, wenn über tatsächliche oder vermeintliche Marginalisierung im Gesundheitswesen gesprochen wird.66 Der Begriff hat eine dreifache Bedeutung: Erstens sind Patientengruppen gemeint, die von unserem Gesundheitssystem, sei es in der Therapie,

64 65 66

eingehen. Halten wir jedoch fest, dass Organ- und Gewebespenden eine Form der Barmherzigkeit im Gesundheitswesen sind, ohne welche ein ganzer Bereich der modernen Medizin nicht bestehen könnte. Maaser, Evangelische Diakonie, 253. Vgl. Farzin, Inklusion/Exklusion. Vgl. Körtner, Der marginalisierte Patient. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sei es in der Forschung, gegenüber der Mehrheit der Patienten vernachlässigt werden. Man denke zum Beispiel an Patienten mit einer besonders seltenen und daher kaum erforschten Krankheit. Zweitens geht es darum, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer Erkrankung gesellschaftlich marginalisiert und stigmatisiert werden. Aids oder psychische Erkrankungen führen noch immer zur Stigmatisierung und damit auch zur Marginalisierung von betroffenen Patienten. Drittens ist schließlich auch davon zu reden, dass der Medizinbetrieb den Menschen als Patienten in gewisser Hinsicht grundsätzlich marginalisiert. Das ist eine soziologische Erkenntnis, die sich vor allem der funktionalen Systemtheorie verdankt. Die Marginalisierung von Patienten zu überwinden, ist ebenso eine medizinethische, eine medizinrechtliche wie eine gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe. Medizinethisch betrachtet besteht die beständige Herausforderung, nicht nur den Patienten als Subjekt ernstzunehmen und seine Autonomie zu stärken, sondern überhaupt die Rollen des Arztes und des Patienten kritisch zu reflektieren. Selbstverständlich kann der medizinische Betrieb nicht funktionieren, wenn Arzt und Patient nicht die für sie vorgesehene Rolle spielen. Zu einem ethisch reflektierten Arzt-Patienten-Verhältnis gehört es aber, dass weder der Patient noch der Arzt auf ihre jeweilige Rolle reduziert, sondern immer auch als Mensch, als »ganze Person« gesehen und geachtet werden. Die »Betriebsstörungen«, die im medizinischen Alltag dann auftreten, wenn sich die Person – als das Kontingente und nicht in das System Integrierbare – zu Wort meldet, dürfen nicht einfach ausgeblendet werden, sondern müssen in einer humanen Medizin ihren Platz haben. Im Sinne der gruppendynamischen Methode der themenzentrierten Interaktion möchte ich sagen: Störungen haben Vorrang. Damit der Patient nicht auf die Rolle des Leidenden, des Opfers und des Objekts reduziert wird, muss er freilich auch befähigt werden, seine Selbstbestimmung auszuüben und sich als Subjekt seiner Krankheit und seiner Therapie zu verhalten. Autonomie gilt zwar seit Kant als grundlegende Bestimmung unseres Menschenbildes, sie ist aber in der Realität eine fragile Eigenschaft. So stellt sich im medizinischen Alltag die Frage, wie die Autonomie von Patienten aktiv gefördert oder, wo sie beeinträchtigt ist, gestärkt und wiedererlangt werden kann. Dazu bedarf es nicht nur einer entsprechenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient, zwischen Patient und Pflegenden, sondern auch des Rechtes, das heißt der Stärkung und Weiterentwicklung allgemeiner und spezieller Patientenrechte. Die gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe besteht darin, für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu sorgen. Der Theorie nach haben © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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alle Menschen den gleichen Anspruch auf Zugang zum Gesundheitssystem und auf die bestmögliche medizinische Versorgung. Tatsächlich aber gibt es soziale Ungleichheiten. Die Zwei- oder Mehrklassenmedizin, vor der immer wieder gewarnt wird, ist im Grunde längst schon eine Realität. Auf den Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen, geringer Bildung und erhöhtem Krankheitsrisiko ist ebenso hinzuweisen wie auf die prekäre Gesundheitssituation von Migranten. Erinnert sei auch daran, dass es nicht nur in den immer wieder als Negativbeispiel angeführten USA, sondern auch in Deutschland oder Österreich Menschen ohne Krankenversicherung gibt. Gerechtigkeit im Gesundheitswesen lässt sich nicht auf Verteilungsgerechtigkeit oder auf die Alternative zwischen dieser und der Tauschgerechtigkeit reduzieren. Wenn heute zu recht mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen gefordert wird, bei der Prävention ebenso wie bei der Therapie und ihrer Finanzierung, so bleibt diese Forderung abstrakt und unsozial, wenn nicht zugleich von der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit gesprochen wird. Damit Menschen aus sozial schwachen Schichten Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können, müssen sie dazu allererst befähigt werden. Um die dafür notwendige Bildung und das entsprechende Einkommen zu erlangen, bedarf es einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik. Ohne eine solche bleibt die politische Maßgabe eines Umbaus und einer Verschlankung des Sozialstaats ebenso zynisch wie die Forderung nach Kostendämpfung im Gesundheitswesen auf dem Rücken der Patienten, welche soziale Ungleichheiten verstärkt. In der Diskussion über Teilhabegerechtigkeit lassen sich zwei grundlegend verschiedene Konzepte unterscheiden.67 Das erste schließt an die neuere Sozialstaatsdebatte und einige philosophische Theorien an, die im Sinne einer Güterlehre und empfängerzentriert argumentieren. Aufgabe des Staates ist es demnach, Grundrisiken des Lebens abzudecken und durch eine Politik der Umverteilung und spezifischen Förderung Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung und Arbeit zu schaffen. Dieses Modell von Teilhabegerechtigkeit orientiert sich an menschlichen Grundbedürfnissen und garantiert bestenfalls eine Grundsicherung, spart aber die hier drängende Frage nach einer prinzipiellen Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit aus. Das zweite Modell von Teilhabegerechtigkeit beruft sich demgegenüber auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Der Sozialstaat hat demnach die Aufgabe, institutionelle Schritte hin zur Verwirklichung 67

Vgl. dazu Forst, Kontexte; ders., Die erste Frage; Schnell, Zugänge. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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fundamentaler Gerechtigkeit zu machen. Was Rawls vorschwebt, ist also nicht nur eine Grundversorgung aller Bevölkerungsschichten, sondern auch eine Stärkung der politischen Teilhabemöglichkeiten derer, die über die geringsten Einkommensmöglichkeiten verfügen, sowie strukturelle Verbesserungen der Institutionen von Bildung und Ausbildung, der Verteilung von Arbeit und der Mitbestimmungsmöglichkeiten bei zentralen ökonomischen Entscheidungen.68 Es ist nun aber gerade die Stigmatisierung und soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit eine Ursache dafür, dass bestimmte Personengruppen de facto aus dem politischen System ausgeschlossen oder zumindest an seinen Rand gedrängt werden. Im Alltag ist die Teilhabe dieser Menschen an politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen erheblich eingeschränkt oder praktisch gar nicht gegeben. Insofern ist soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit eine demokratiepolitische Herausforderung. Im Sinne von Rawls ist zu sagen, dass es für eine Ethik des Gesundheitswesens nicht nur darum geht, allen Menschen eine medizinische Mindestversorgung zu garantieren. Vielmehr sind alle bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, also auch das Gesundheitswesen, gleichermaßen rechtfertigungsoffen wie rechtfertigungsbedürftig. So führt uns das Nachdenken über marginalisierte Patienten zu der Grundsatzfrage, ob die soziale Grundstruktur unseres Gesundheitssystems (noch) hinreichend gerechtfertigt ist. Die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns legt ihr besonderes Augenmerk auf die Frage, wer oder was von einem sozialen System ausgeschlossen oder eingeschlossen ist. Marginalisierte Patienten lenken unseren Blick genau auf die Problematik von Ausschluss und Einschluss nicht nur im Gesundheitswesen, sondern überhaupt in unserer Gesellschaft. Wer der Marginalisierung von Patienten wirkungsvoll entgegentreten will, wird um eine Grundsatzdebatte über soziale Gerechtigkeit nicht herumkommen. Aus christlicher Sicht ist hinzuzufügen, dass die Teilhabe an der Gesundheitsversorgung weder allein eine Frage der Verteilungs-, der Tausch- oder der Teilhabegerechtigkeit ist – die EKD spricht auch von »Befähigungsgerechtigkeit«69 –, sondern auch eine der Barmherzigkeit. Das der Sozialgesetzgebung und der Pflichtversicherung zugrunde liegende Solidaritätsprinzip ist vom Ethos der Barmherzigkeit historisch und systematisch zwar zu unterscheiden. Allerdings wäre die Entstehung eines Gesundheitswesens im Abendland historisch ohne 68 69

Rawls, Gerechtigkeit, 217f. Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe, 43ff (Nr. 59ff). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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den Einfluss des Christentums nicht denkbar gewesen. In der Debatte um die Reform des Gesundheitswesens und seiner künftigen Finanzierung steht darum nicht nur eine Neubestimmung des Solidaritätsprinzips und seiner Reichweite im Verhältnis zur individuellen Autonomie bzw. zur Subsidiarität zur Diskussion. Auf der Tagesordnung steht vielmehr eben auch eine Kultur des Erbarmens, wie sie im vorigen Abschnitt skizziert wurde. Die Aufgabe einer Verhältnisbestimmung von Solidarität und Barmherzigkeit führt uns zur Frage nach der Anthropologie. Medizinökonomische Gerechtigkeitstheorien setzen stets ein Menschenbild und ein Grundverständnis von Krankheit und Gesundheit voraus, das keineswegs kulturneutral, sondern soziokulturell werthaltig ist. »Ein Kampf um die Form der Wohlfahrt ist auch ein Kampf um mögliche Lebensformen.«70 In diesem Kampf bleibt Barmherzigkeit neben Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit eine unaufgebbare Kategorie diakonischer Ethik.

70

Frey, Zur Begründung, 34. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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6

Die Logik der Barmherzigkeit und die Logik der Ökonomie

6.1

Von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt

Diakonisches Handeln und diakonische Ethik orientieren sich grundlegend an der Barmherzigkeit, genauer gesagt, an der Barmherzigkeit Gottes, der sich in Jesus Christus uns Menschen in all unserer Not zugewandt hat und zuwendet. Barmherzigkeit gehört zu den grundlegenden Tugenden – heute würde man wohl sagen »Werten« – christlicher Diakonie.1 Diakonisches Handeln orientiert sich biblisch an Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) ebenso wie am Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 und weiß sich zu den sieben Werken der Barmherzigkeit berufen, wie sie in der christlichen Tradition genannt werden: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten.2 Die ersten sechs Werke sind Mt 25 entnommen, die Reihe wurde durch den Kirchenvater Laktanz unter Berufung auf Tob 1,17 um die Totenbestattung ergänzt.3 Der Katechismus der Katholischen Kirche unterscheidet zwischen geistlichen und leiblichen Werken der Barmherzigkeit und rechnet unter die erstgenannten: »Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen«4. Wir könnten ganz allgemein von Seelsorge sprechen, die auch nach evangelischem Verständnis zum diakonischen Auftrag der Kirche gehört. Versteht man die Aufforderung, die Kranken zu besuchen, ganz umfassend, so ist Barmherzigkeit nach christlichem Verständnis nicht nur 1 2 3 4

Zum Folgenden vgl. Körtner, Barmherzigkeit. Vgl. Peters, Werke, 636. Das Jesuswort Mt 8,22, man solle die Toten ihre Toten begraben lassen, wurde nicht als Widerspruch empfunden. Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), Nr. 2447. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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eine Kategorie des Gesundheitswesens, sondern ein ausgebautes Gesundheitswesen muss überhaupt als Werk der Barmherzigkeit verstanden werden und seine Praxis danach ausrichten. Allemal gilt das von Gesundheitseinrichtungen in kirchlicher oder diakonischer Trägerschaft. In Deutschland bilden Diakonie und Caritas seit den Anfängen des Bismarck’schen Sozialstaats einen festen Bestandteil des Systems sozialer Dienstleistungen. Nach wie vor sind sie die quantitativ größten Anbieter. Ähnlich liegen die Verhältnisse in Österreich. Seit mehr als einem Jahrzehnt findet freilich ein Umbau des Sozialstaats einschließlich des Gesundheitswesens statt, der sich formelhaft als Paradigmenwechsel von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt bezeichnen lässt, bei dem der Staat sich zunehmend auf seine Gewährleistungsverantwortung zurückzieht und die Leistungsverantwortung einer Vielzahl von Anbietern überlässt.5 Die freien Wohlfahrtsverbände bekommen privatwirtschaftliche Konkurrenz, auch im Bereich von Medizin und Pflege. Konfessionelle Krankenhäuser stehen nun nicht nur mit kommunalen Einrichtungen, sondern beide auch mit privaten Spitälern und Krankenhausketten im Wettbewerb um Patienten. Vergleichbares gilt für ambulante und stationäre Pflegedienste. Verbunden ist mit dieser Entwicklung die Abkehr vom früheren Kostendeckungsprinzip zur Einführung von Fallpauschalen. Die Auswirkungen dieser Entwicklung zeigen sich auch im Bereich der Mitarbeiterentlohnung, wie die an Schärfe gewinnenden Auseinandersetzungen um den »dritten Weg« und die Einführung niedrigerer Lohntarife zeigen, teilweise verbunden mit einer Entkoppelung formaler Qualifikationen von der konkreten Stellenbeschreibung und Entlohnung.6 Die Diakonie hat sich diese sozialwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwar nicht ausgesucht, ist aber an ihrer Ausgestaltung aktiv beteiligt. So hat sich die Diakonie selbst für die Implementierung von Grundsätzen der Qualitätssicherung in der Sozialgesetzgebung eingesetzt, wobei Idee und Instrumente des Qualitätsmanagements doch nicht aus der kirchlichen Arbeit stammen, sondern aus der modernen Ökonomie. Anfang 1999 wurde das Diakonische Institut für Qualitätsmanagement gegründet, das 2004 in Diakonisches Institut für Qualitätsentwicklung umbenannt und in das Diakonische Werk der EKD eingegliedert wurde. Gemeinsam mit den diakonischen Partnern hat man z.B. ein Diakonie-Siegel Pflege entwickelt, das an den gängigen 5 6

Vgl. Jähnichen, Von der »Barmherzigkeit« zum »Sozial-Markt«. Vgl. Maaser, Evangelische Diakonie, 259. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Modellen ISO und TQM angelehnt ist.7 Weitere fachspezifische Qualitätsmanagement-Systeme und Modelle für andere Fachgebiete sind in Arbeit. Qualitätsmanagement, Selbst- und Fremdevaluation gehören inzwischen zum festen Instrumentarium diakonischer Unternehmenskultur. Aber auch in der Seelsorge, zumindest in der Krankenhausseelsorge, haben Qualitätsentwicklung und Qualitätshandbücher inzwischen Einzug gehalten.8 Die Ziele von Qualitätsmanagement und Qualitätsentwicklung in der Diakonie werden allgemein klientenzentriert definiert. Als Maßstab gelten »der Erhalt, die Sicherung und – wo immer dies möglich ist – die Verbesserung von Lebensqualität« der hilfsbedürftigen Personen.9 Allerdings stellt sich die Frage, welches konkret die Anforderungen sind, denen diakonisches Handeln zu genügen hat, und wer sie definiert.10 Und worin besteht genau die christliche Qualität diakonischen Handelns?11 Sind Lebensqualität und Achtung der Menschenwürde schon eine hinreichende Bestimmung des christlichen Ethos bzw. eine angemessene Übersetzung biblischer Gehalte in die Sprache einer säkularen Gesellschaft? Überhaupt darf das diakonische Profil nicht auf die ethische Dimension reduziert werden. Auch die Dimension der Spiritualität muss systemisch integriert werden, wobei allerdings zeitgemäße Formen einer christlichen Spiritualität zu entwickeln und zu pflegen sind, die gegenüber den vielfältigen Formen heutiger Religiosität ein unverwechselbar christliches Profil bewahrt. Die Rückbesinnung auf »Werte«, welche diakonische Einrichtungen für sich reklamieren,12 muss in diesem Zusammenhang durchaus kritisch gesehen werden. Zumindest für evangelische Ethik gibt es gute Gründe, sich zu jeder Form der Wertethik kritisch zu verhalten und auf die Gefahren einer »Tyrannei der Werte« hinzuweisen, verkündigt doch das Evangelium – mit Eberhard Jüngel gesprochen – eine »wertlose Wahrheit«13. Auch der Philosoph Krzysztof Michalski erinnert daran, dass »die frühen Christen, soweit wir wissen, nicht von ›Werten‹« sprachen: »weder von ›christlichen‹ noch von ›Familienwerten‘ und 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. Diakonisches Institut für Qualitätsmanagement und Forschung (Hg.), Bundesrahmenhandbuch, Version 1. Vgl. Körtner, Ethik und Seelsorge im Krankenhaus. Degen, Qualitätsfrage, 256. Vgl. auch Schwarzer, Qualitätsentwicklung; Hanselmann, Qualitätsentwicklung. Vgl. auch Körtner, Diakonie im Spannungsfeld. Siehe z.B. Gohde, Handeln mit Werten. Jüngel, Wertlose Wahrheit. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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erst recht nicht von ›europäischen‹ oder ›nationalen‹ Werten«14. Im Übrigen nehmen keineswegs nur diakonische Einrichtungen für sich in Anspruch, ihr unternehmerisches Handeln an ethischen Werten auszurichten. Auch die in der Diakonie gepflegte Barmherzigkeitsrhetorik erweist sich als ambivalent. Einerseits erinnert sie an ein unaufgebbares Element biblischer Verkündigung. Andererseits kann sie zur Schwächung diakonischen Engagements auf dem Gebiet der Sozialpolitik führen, wohingegen kirchliche Dokumente und Stellungnahmen die politische Dimension des Evangeliums betonen und auf die Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit eingehen.15 Die Barmherzigkeitsperspektive darf nicht gegen die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ausgespielt und nicht als Refugium christlicher Gesinnung in einer ansonsten durchökonomisierten Diakonie missverstanden werden. 6.2

Die Logik der Ökonomie im modernen Gesundheitswesen und im Sozialstaat

Ein Ethos der Barmherzigkeit scheint in grundsätzlichen Widerspruch zur ökonomischen Logik zu geraten, die hinter der Einführung von Fallpauschalen und Kundenorientierung im Sozialbereich wie speziell im Gesundheitswesen steht. Die Modernisierung des diakonischen Dienstverständnisses reagiert auf diese Entwicklung durch den verstärkten Rückgriff auf den betriebswirtschaftlichen Aspekt des Dienstleistungsbegriffs. Bei allem Verständnis für ökonomische Sachgerechtigkeit in der Diakonie wie auch im staatlichen Gesundheitswesen dürfen doch die Gefahren für die Gestaltung diakonischer Praxis nicht übersehen werden. Die Dienstleistungsorientierung führt »unweigerlich zu einer Kostenträgerorientierung«16. Problematisch ist auch der Begriff des Kunden, der zunehmend im Gesundheitswesen wie auch in diakonischen Arbeitsbereichen Einzug hält, einmal, weil die Kennzeichnung von Hilfsbedürftigen als Kunden im Sozialbereich oftmals schlicht falsch oder verschleiernd ist, sodann, weil das Geld im diakonischen Bereich häufig »gerade nicht vom ›Kunden‹ kommt, sondern vielmehr von meist staatlichen Kostenträgern«17. Dies ändert sich freilich in dem Ausmaß, wie von Betroffenen 14 15 16 17

Michalski, Politik und Werte, 209. Vgl. Maaser, Evangelische Diakonie, 249. Weber, Diakonie in Freiheit?, 37. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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oder Angehörigen immer höhere finanzielle Eigenleistungen gefordert werden. Schon vor Jahren hat Johannes Degen mit Recht davor gewarnt, dass das Pathos der Kundenfreundlichkeit und Lebensqualität nur der Verschleierung ökonomischer Ziele dienen könnte, bei denen es in erster Linie um Kostendämpfung und Kostensenkung im Interesse der Trägereinrichtungen geht.18 Ähnliche Entwicklungen wie im Gesundheitswesen lassen sich auch in anderen Bereichen des Sozialwesens beobachten. Man denke nur an die Kommerzialisierung der Betreuung von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Es besteht die Gefahr, dass Patienten oder sonstige hilfesuchende Menschen zum Produktionsfaktor mutieren, der möglichst gewinnbringend einzusetzen ist. Auf diese Weise kommt es zu einer »Verkehrung der Nutzen-Mittel-Relation«, bei der sich eine fremdnützige Instrumentalisierung des Menschen anbahnt. In seinem Buch »Was man für Geld nicht kaufen kann« regt der amerikanische Philosoph Michael Sandel dazu an, die Rolle von Märkten zu überdenken. Neben der gesellschaftlichen Ungleichheit, die durch Märkte verstärkt werden kann, wenn diese nicht im Sinne der sozialen Marktwirtschaft reguliert werden, besteht das Problem der Korruption. Gemeint ist nicht nur die Zahlung von Schmiergeldern oder das »Anfüttern« von Politikern, sondern viel grundlegender die Korrosion zwischenmenschlicher Beziehungen. Sandel schreibt: »Manche Dinge werden beschädigt oder herabgesetzt, wenn man sie in Waren verwandelt.«19 In dem Moment, wo wir nicht länger nur eine Marktgesellschaft haben, sondern durch und durch eine Marktgesellschaft sind, ist die Marktwirtschaft nicht länger ein neutrales Instrument zur Verteilung von Gütern, Waren und Ressourcen, sondern »eine Lebensweise, in der das Wertesystem des Marktes in alle Aspekte menschlicher Bemühung eingesickert ist. Sie ist ein Ort, an dem alle sozialen Beziehungen marktförmig geworden sind.«20 Auch die Barmherzigkeit, Geschenk und Gabe – damit auch das für Diakonie so wichtige Spendenwesen – verändern ihren Charakter, wenn sie warenförmig behandelt werden. Eine wesentliche Herausforderung an die Diakonie und ihre Ethik sehe ich darin, aus biblischer Perspektive die Frage zu stellen, was man für Geld nicht kaufen kann bzw. was man für Geld nicht kaufen können soll.

18 19 20

Vgl. Degen, Qualitätsfrage, 256. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann, 17. A.a.O., 18. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

118 6.3

6. Die Logik der Barmherzigkeit und die Logik der Ökonomie

Abkehr von der unternehmerischen Diakonie?

Nun könnte man aus dieser Forderung den Schluss ziehen, die Diakonie solle sich überhaupt aus dem Sozialmarkt zurückziehen, zumindest solle sie sich von der unternehmerischen Diakonie verabschieden und nur noch das zivilgesellschaftliche Engagement praktischer Nächstenliebe fördern. In seinem vieldiskutierten Buch »Arme habt ihr allezeit!« hält Steffen Fleßa ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie und fordert den radikalen Ausstieg aus dem Sozialmarkt.21 Fleßa erhebt den Vorwurf, dass diakonische Einrichtungen in wohlhabenden Ländern wie Deutschland oder Österreich zu einem großen Teil ihre Dienstleistungen primär für den Mittelstand anbieten, nicht mehr jedoch für die Schwächsten und Armen. Er kritisiert, dass sich diakonische Unternehmen nicht mehr als Samariter aus Jesu Gleichnis verstehen, sondern als den Wirt, zu dem der Verletzte gebracht wird. Wenn sich diakonische Unternehmen auf Konkurrenzmärkte begeben, würden sie sich aufgrund der ökonomischen Logik, der sie sich unterwerfen müssen, am Ende von ihren kommerziellen Konkurrenten nicht mehr unterscheiden. Fleßa fordert die Diakonie auf, ihre Einrichtungen zu verkaufen und sich auf die Suche nach neuen Tätigkeitsfeldern zu begeben, in denen es aufgrund mangelnder Profiterwartungen keine kommerziellen Mitbewerber gibt. Fleßas radikale Vorschläge haben freilich berechtigte Kritik auf sich gezogen. Zum einen scheint er zu übersehen, »dass die Diakonie gar nicht so viele Einrichtungen verkaufen und mit deren Erlös so viele Projekte der Armutsbekämpfung organisieren kann, wie der Sozialstaat Hilfe anbieten kann«22. Zum anderen leiten Fleßas Vorschläge zusätzliches Wasser auf die Mühlen jener, die den Rückbau des Sozialstaates vorantreiben, weil sie den Staat aus seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht minder entlassen wie die Diakonie aus ihrer gesellschafts- und ordnungspolitischen Verantwortung. So besteht bei Fleßa die Gefahr, dass sich seine armutsorientierte Diakonie nicht produktiv auf gesellschaftliche Entwicklungen einlässt, »sondern sich auf die Kritik dessen zurückzieht, was andere soziale Dienste falsch machen.«23 »Barmherzigkeit«, die Lehnübersetzung des lateinischen »misericordia«, bedeutet in der genauen Bedeutung des zusammengesetzten 21 22 23

Fleßa, Arme. Segbers, Sozialwirtschaft, 36. Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 27. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Wortes: bei den Armen sein Herz zu haben. Die Selbstprädikation Gottes als gnädig und barmherzig (Ex 34,6) hat für das biblische Gottesverständnis grundlegende Bedeutung.24 Gottes Barmherzigkeit zeigt sich in der grundlegenden biblischen Option für die Armen. Der Vorschlag, eine armutsorientierte Diakonie solle sich auf die »wirklich Bedürftigen« konzentrieren, kapituliert letztlich jedoch vor dem durchökonomisierten Sozialmarkt und weicht der Frage aus, ob die Diakonie – z.B. im Bereich des Gesundheitswesens – ihren Grundüberzeugungen, denen sie ihr Entstehen verdankt – also auch dem Ethos der Barmherzigkeit – auch im Wettbewerb mit anderen Anbietern treu bleiben kann.25 Fleßas Konzept einer advokatorischen Diakonie steht in der Gefahr, ein paternalistisches Verständnis von Barmherzigkeit wiederaufleben zu lassen, das ungewollt zur Bevormundung derer führen kann, für die man sich einsetzen möchte. Von der unternehmerischen Diakonie und dem Modell einer anwaltschaftlichen Diakonie im Sinne Fleßas unterscheidet Arnd Götzelmann das Modell einer bürgerschaftlichen Diakonie.26 Dieses versteht sich nicht als Alternative zu den beiden vorgenannten Modellen, sondern versucht deren Anliegen zu verbinden und im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe zu ergänzen. Götzelmann greift dabei Impulse Johann Hinrich Wicherns auf, die im gegenwärtigen Diskurs zur Zivilgesellschaft fruchtbar gemacht werden sollen. Bürgerschaftliche Diakonie im Sinne Götzelmanns »basiert auf Freiwilligkeit, Freiheit von Gewinnorientierung, Gemeinwohlbezug und Gemeinschaftlichkeit. Sie nimmt den sozialen Wandel, den gesellschaftlichen Pluralismus und die ökonomischen Herausforderungen ebenso wahr und an wie das spezifisch christliche Profil diakonischen Handelns«27. Sie setzt sich mit Ursachen und Folgen ökonomischer Ausgrenzungsmechanismen ebenso auseinander wie mit den Chancen eines lebensdienlichen Wirtschaftens. Freilich ist damit zu rechnen, dass es zwischen unternehmerischer Diakonie und bürgerschaftlicher Diakonie keineswegs nur zu Synergieeffekten, sondern hinsichtlich der Zielsetzungen und Arbeitsformen auch zu Spannungen und Konflikten kommen kann, z.B. dann, wenn ein radikaler Umbau der Diakonie und ein drastischer Abbau an stationären Plätzen in Psychiatrie und Behindertenhilfe gefordert wird. Diakonische Unternehmen tragen der Entwicklung bereits durch eine fort24 25 26 27

Vgl. Preuß, Barmherzigkeit; Scoralick, Barmherzigkeit. Vgl. Segbers, Sozialwirtschaft, 36. Vgl. Götzelmann, ›Ökonomisierung‹, 25–28. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schreitende Dezentralisierung und Regionalisierung ihrer Arbeits- und Geschäftsfelder Rechnung. Stationäre Einrichtungen werden zugunsten ambulanter Dienste reduziert. Das kann freilich dazu führen, dass gemeindenahe diakonische Initiativen zu neuen regionalen Dienstleistungsangeboten diakonischer Großunternehmen in Konkurrenz geraten. Außerdem darf man nicht übersehen, dass mit dem Modell einer bürgerschaftlichen Diakonie und der einhergehenden Aufwertung des Ehrenamtes die Deprofessionalisierung diakonischen Handelns gefördert wird, die keineswegs nur positive Effekte hat. Zwar sind die Kritik an der Überprofessionalität des Helfens und die Forderung nach einer Stärkung der Selbstsorge und Eigenverantwortlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Problematisch wird es aber, wenn die Kritik an der sozialstaatlichen Überversorgung oder der Überprofessionalisierung diakonischen Handelns vom Gerechtigkeitsdiskurs abgekoppelt wird. Barmherzigkeit darf eben nicht als Alternative zur Gerechtigkeit gesehen werden, sondern bleibt nach biblischer Sicht auf diese bezogen. 6.4

Qualität in der Diakonie

In diesem Zusammenhang ist auch auf die Diskussion um Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Diakonie ein kritischer Blick zu werfen. Herbert Haslinger bemängelt die Inhaltsleere angewandter Qualitätsmanagementkonzepte, wenn es darum geht, »die spezifisch christliche Qualität diakonischer Praxis anhand ethischer, anthropologischer und theologischer Kriterien kenntlich zu machen«28. Allgemeine Hinweise auf »christliche Werte« oder ein »christliches Menschenbild« genügen in der Tat nicht, wenn es darum geht, nicht bloß die Christlichkeit diakonischen Handelns zu behaupten, sondern Maßstäbe zu formulieren, anhand derer das eigene Handeln kritisch überprüft und auch korrigiert werden kann. Wie die Kirche gemäß dem »ecclesia semper reformanda« der beständigen Kritik durch Evangelium und Gesetz bzw. durch das Wort Gottes ausgesetzt ist, so auch das diakonische Handeln als Wesensäußerung dieser Kirche, die nach reformatorischem Verständnis durch das Wort Gottes geschaffen und erhalten wird.29 Damit ist bereits eine entscheidende Frage formuliert: Welche Rolle spielt das biblisch bezeugte Evangelium als Grund und kritisches Korrektiv in diakonischen Leit28 29

Haslinger, Diakonie, 304. Die Kirche ist »creatura verbi« bzw. »creatura Evangelii«. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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bildprozessen? Wie weit wird es im Alltag operationalisiert und nicht lediglich in Präambeln diakonischer Unternehmensleitbilder zitiert? Damit verbunden stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Theologie neben den verschiedenen Bezugswissenschaften der unterschiedlichen Arbeitsfelder diakonischen Handelns und neben der Ökonomie in den kybernetischen Prozessen diakonischer Einrichtungen spielt.30 Hat sie noch eine eigenständige Funktion neben der Ökonomie, oder sind inzwischen die Ökonomen die eigentlichen Theologen der Gegenwart, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu behauptet?31 Auch wenn sich die Diakonie selbst für die Implementierung von Grundsätzen der Qualitätssicherung in der Sozialgesetzgebung eingesetzt hat, stammen Idee und Instrumente des Qualitätsmanagements doch nicht aus der kirchlichen Arbeit, sondern aus der modernen Ökonomie. Von hier werden sie heute in den sozialen Bereich ebenso wie in den Bildungsbereich, in Schule und Universitäten übertragen. In der Wirtschaft dient Qualitätsmanagement dem Ziel, durch Erhöhung der Kundenzufriedenheit die Marktposition eines Unternehmens zu sichern und seine Ertragslage zu verbessern. Nüchtern betrachtet stand am Anfang der Entwicklung im Bereich der Diakonie nicht der Wunsch, die Lebensqualität von betreuten Menschen, Patienten oder Heimbewohnern zu verbessern, sondern der ökonomische Druck, der vom Umbau des Sozialstaats und der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips ausging. Kritisch wird es spätestens dort, wo ökonomische Gesichtspunkte nicht nur als Instrumente für die Entwicklung diakonischer Praxiskonzepte dienen, sondern als deren normierende Maßstäbe fungieren.32 Das betrifft auch die Entlohnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diakonischer Einrichtungen, die Tarifpolitik und die Entwicklung des kirchlichen Dienstrechts (»dritter Weg«). Die Glaubwürdigkeit diakonischer Arbeit hängt eben auch davon ab, ob Grundsätze der Menschenwürde und der Wertschätzung nicht nur gegenüber den Adressaten diakonischer Hilfeleistungen, sondern auch gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingehalten werden. Bedenkt man, dass Kirche und Diakonie in Deutschland einer der größten Arbeitgeber sind, haben beide gerade auch in dieser Hinsicht eine besondere Vorbildfunktion und wirtschaftspolitische Aufgabe.

30 31 32

Vgl. auch Haas, Theologie und Ökonomie; Sigrist (Hg.), Diakonie und Ökonomie. Vgl. Gohde, Gemeinsam auf dem Weg, 8. Vgl. Wertgen, Qualität, 39. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Die Problematik eines primär ökonomisch geprägten Verständnisses von Qualitätsmanagement lässt sich am Beispiel der Fallpauschalen im Gesundheitswesen verdeutlichen. Ein Forschungsprojekt am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth hat im Zeitraum von 2004 bis 2007 die Auswirkungen von Diagnosis Related Groups (DRG) und fallpauschalisiertem Medizin- und Qualitätsmanagement auf das Handeln in Krankenhäusern untersucht.33 Die Verfasser der Studie betonen, dass die möglichen durch DRG hervorgerufenen Veränderungen der Strukturen und Prozesse in der Organisation sowie der Qualität der medizinischen Versorgung nicht sinnvoll diskutiert werden können, solange man das komplementär dazu gesetzlich vorgeschriebene Qualitätsmanagement außer Acht lässt, das als Gegenstück und Korrektiv zu den DRG gedacht ist.34 Die Untersuchung gelangt zu folgenden, in Thesenform zusammengefassten Ergebnissen, von denen hier die wichtigsten genannt seien35: 1. Die Fallpauschalen sind symptomatisch für das strukturelle Dilemma der Krankenhäuser, gleichzeitig mit markt- und planwirtschaftlichen Elementen wirtschaften zu müssen. Die Studienautoren sprechen von entstehenden Widersprüchen, die sich nur politisch, nicht aber auf der Mesoebene des einzelnen Unternehmens lösen lassen – man denke etwa an das Evangelische Krankenhaus Bielefeld. 2. Das ökonomische Anreizsystem der DRG funktioniert »nur unter der Bedingung, dass Leistungen der Gesundheitsversorgung in eine Warenform überführt werden«. Die Autoren der Studie bezeichnen diese Entwicklung, die im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie vorangetrieben wird, als Ökonomisierung und Industrialisierung des klinischen Alltags. Sie bemängeln die reduktionistische Perspektive dieses Lösungsansatzes und bezweifeln, dass er die medizinische Versorgungsqualität tatsächlich substantiell verbessert. 3. Die Einführung von DRG und eine verkürzte Verweildauer im Krankenhaus verringert nicht die Kosten im Gesundheitswesen insgesamt, sondern führt zu einem erhöhten Bedarf an pflegerischer und medizinischer Versorgung im nachgelagerten Bereich. 33

34 35

Projektleiter war Arne Manzeschke. Die Ergebnisse der Studie waren 2009 online zugänglich unter http://www.ethik.uni-bayreuth.de/diakonie_oekono mie.html (letzter Zugriff 8.9.2009). Zur Diskussion über die Auswirkungen des DRG-Systems siehe auch Flintrop, Auswirkungen. Gesetzliche Grundlage sind in Deutschland § 135a.1 SGB V und § 107 SGB V. Die nachfolgenden Zitate stammen von der Website des Projekts (http://www. ethik.uni-bayreuth.de/diakonie_oekonomie.html). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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4. DRG haben erhebliche Auswirkungen auf Organisation, Rollen- und Berufsverständnis im Krankenhaus. Während der Einfluss von Managern und Betriebswirten steigt, findet eine Abwertung der Pflege statt, »die zwischen Hotelleistung und ärztlichen Ersatzdiensten ihre genuinen Aufgaben aller Professionalisierung und Akademisierung zum Trotz verliert.« Die wachsende Spreizung der Löhne zwischen sogenannten Leistungsträgern und weniger qualifizierten Tätigkeiten müssen im Kontext allgemeiner Ökonomisierungsprozesse gesehen werden. 5. Fallpauschalen verändern den Blick der in den Gesundheitsberufen Tätigen a) auf die eigene Arbeit, b) auf den Patienten und c) auf das eigene professionelle Selbstverständnis. Was die eigene Arbeit betrifft, so kritisieren viele der im Rahmen der Studie interviewten Personen, dass wichtige Ressourcen im aufwendigen Dokumentationsprozess vergeudet werden, während das Maß an Zuwendung zu den Patienten immer weiter abnimmt. Was die Rolle des Patienten betrifft, so beobachtet die Studie einerseits einen gewissen Autonomiegewinn und eine verstärkte Chance der Partizipation am Prozess der Gesundheitsversorgung. Andererseits gilt das nicht für alle Fälle. »Die Scheidelinie scheint dort zu verlaufen, wo sich in der DRG-Systematik lukrative von unlukrativen Fällen trennen« bzw. Patienten zahlen oder nicht zahlen können. »Letztere laufen Gefahr, als betriebswirtschaftlicher Verlustposten vermieden und verschoben zu werden.« Kurz: »Der Patient wird zum Produktionsfaktor, der möglichst gewinnbringend eingesetzt werden muß«, womit sich nach Ansicht der Studienautoren eine »Verkehrung der Nutzen-Mittel-Relation«, eine fremdnützige Instrumentalisierung des Menschen ankündigt. Die Untersuchung bezeichnet diese Entwicklung auch als eine im Wesen einer technisch-ökonomischen Logik liegende Form der Entfremdung. Was schließlich das professionelle Selbstverständnis der im Gesundheitswesen Arbeitenden betrifft, so beobachtet die Studie »Tendenzen zur Deprofessionalisierung und zur Demotivierung«, die sich problematisch auf die Qualität der Gesundheitsversorgung auswirken kann. Die Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit reduziert die mitmenschlichen Kontakte. Für Zuwendung und Fürsorge fehlt es an der nötigen Zeit. 6.5

Konkretion: Ökonomie und Ethik in der Psychiatrie

Die genannten Probleme lassen sich am Beispiel der Psychiatrie veranschaulichen. Zwar gilt für sie nicht das DRG-System, doch hat man

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2009 begonnen, ein analoges System einzuführen – das pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP)36 –, das seit 2013 auf freiwilliger Basis angewandt werden kann und ab 2017 verpflichtend ist. Aufgrund der wesentlichen Unterschiede, die zwischen der Behandlung von somatischen und psychischen Erkrankungen bestehen, beruht der neue Entgeltkatalog allerdings nicht auf Fallpauschalen wie im DRG-System, sondern auf Tagespauschalen. Anders als bei der somatischen Medizin sind also bei den psychiatrischen Behandlungsgruppen bis auf weiteres keine Obergrenzen für Krankenhausbehandlungstage vorgesehen. International ist das neue System ohne Vorbild. Deutschland geht hier neue Wege.37 Seit Januar 2010 gelten für den psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Bereich die sogenannten »Pseudo-OPS«38, auf deren Grundlage das System nun weiterentwickelt wird. Kapitel 9–98 der OPSVersion 2010 umfasst Behandlungen in Einrichtungen, die im Anwendungsbereich der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) liegen. Fachleute attestieren den neuen Pseudo-OPS, dass sich ihre neuen Eingruppierungsempfehlungen von denen der Psych-PV durch trennschärfere Formulierungen abheben.39 Zugunsten des neuen Systems wird unter anderem ins Feld geführt, es diene der Verbesserung von Schnittstellenprozessen und fördere aufgrund seiner Transparenz einen multiprofessionellen Ansatz. Kritiker halten dem entgegen, der für alle Berufsgruppen einheitliche Zeitkorridor für eine Therapieeinheit, der zwischen 25 und 49 Minuten liegt, erfasse nicht den Kern pflegerischer und therapeutischer Leistungen, der unter 25 Minuten liege. Das neue System sei mit einem hohen Dokumentationsaufwand verbunden. Auch schaffe die Datentransparenz Steuerungsmöglichkeiten für die Kostenträger mit möglicherweise problematischen Folgen. Die Kostenträger könnten nämlich versucht sein, die Patienten durch eine Verkürzung der stationären Verweildauern in den ambulanten Sektor zu leiten. Außerdem besteht nach Ansicht der Kritiker die Gefahr, dass der seit 1995 zu verzeichnende Abbau von Vollkräften im psychiatrischen Pflegedienst bei gleichzeitigem Anstieg der Fallzahlen durch das neue Entgeltsystem einzementiert wird. Zwar sollen im neuen System teilstationäre Behandlungen besser als im derzeitigen DRG-System integriert werden, doch werden ambulante 36 37 38 39

Vgl. dazu Fritze, Neue Regelungen. Vgl. Löhr, Entwicklungsschritte. OPS = Operations- und Prozedurenschlüssel, festgelegt vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln. So z.B. Löhr, Entwicklungsschritte, 162f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Versorgungsstrukturen, die für viele psychiatrische Patienten nötig sind, bislang nicht im OPS berücksichtigt. Konkret sind die psychotherapeutischen Institutsambulanzen angesprochen, die ein wesentliches Element der Versorgung psychisch kranker Menschen bilden.40 Der Grund liegt darin, dass es keine bundesweite Regelung gibt, die Vergütung von psychotherapeutischen Institutsambulanzen vielmehr Sache der Länder ist. Bei psychiatrischen Krankheitsbildern wie Psychose oder Depression wird es vermutlich auch in Zukunft nicht möglich sein, Obergrenzen der Therapie einzuführen. Vorstellbar ist dies jedoch vielleicht bei Suchterkrankungen, also bei Entzugstherapien für Alkohol- oder Drogenabhängige. Sollte das neue Entgeltsystem für den stationären Bereich generell die Verweildauern im psychiatrischen Bereich verkürzen, ist allerdings mit einem Anstieg der Fallzahlen im ambulanten Bereich zu rechnen, was für diesen Bereich zu neuen Problemen bei der Vergütung führt. Bei geringeren Verweildauern wird in den psychiatrischen Kliniken die Wiederaufnahmequote steigen. Es kommt möglicherweise vermehrt zu Drehtüreffekten oder – analog zum DRG-System – zur Trennung zwischen ökonomisch lukrativen und unlukrativen Fällen. Am DRG-System wird immer wieder der fehlende Patientenbezug kritisiert. Die Abrechnung erfolgt fallbezogen, der Leistungsbezug diagnosebezogen. Die Psychiatrie aber hat es konstitutiv mit der kranken Person und ihrer »Seele« zu tun. Das Objekt oder Teilobjekt der Psychiatrie, nämlich die Psyche, lässt sich nicht von der von psychischer Krankheit betroffenen Person und ihrer Lebensgeschichte abspalten – was übrigens auch in der somatischen Medizin problematisch ist. Ein Entgeltsystem für die Psychiatrie, das primär auf Verkürzung der Verweildauern und Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, droht die der Psychiatrie innewohnende Gefahr zu verstärken, Menschen durch therapeutische Interventionen, zum Beispiel durch Verordnung von Psychopharmaka, zu disziplinieren. Dadurch wird die gegenteilige Absicht unterlaufen, das Selbstbestimmungsrecht der Patienten auch in der Psychiatrie zu achten und ihnen eine stärkere Mitentscheidung über die Behandlungsziele und den therapeutischen Prozess einzuräumen, was mit der vermehrten Übernahme von Eigenverantwortung verbunden ist.41

40 41

Vgl. Meißner, DRG in der Psychiatrie. Vgl. beispielhaft: Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Konzept 2013, 11. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Bei der Umsetzung der genannten Zielsetzungen steht die Psychiatrie allerdings vor besonderen Schwierigkeiten. Die Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung entspricht dem »informed consent« und der Patientenautonomie als Grundprinzipien moderner Medizin. Psychiatrisches Handeln gerät jedoch notwendigerweise in Spannung zu den genannten Prinzipien, weil die therapeutischen Entscheidungen »oftmals grundsätzlich auf der Unfreiheit des Patienten aufbauen und diese zumindest passager verstärken«42. Wie keine andere medizinische Profession steht die Psychiatrie immer wieder vor dem Problem, über die Freiheit von Patienten entscheiden zu müssen. Die Psychiaterin oder der Psychiater tritt damit »aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens insofern heraus, als das verfassungsgemäße Verbot von auf Zwang beruhenden Interventionen für ihn keine oder nur eine eingeschränkte Gültigkeit besitzt«43. Das gilt nicht nur für Fälle von Zwangseinweisung, sondern häufig schon bei der Verordnung und Verabreichung psychoaktiver Substanzen. Wer wiederum die Eigenverantwortung psychiatrischer Patienten stärken will, muss ihnen die Freiheit einräumen, sich letztlich auch dafür entscheiden zu können, ob sie mit den Symptomen, mit denen sie bislang gelebt haben, weiterleben möchten oder ob sie es vorziehen, »möglicherweise eine Veränderung der Symptomatik zu erleben, aber gleichzeitig andere, vielleicht leichter erträgliche Störungen zu entwickeln«44. Die Fragen reichen bis dahin, ob es gar ein Recht auf Depression und Suizid gibt, oder ob jede Form von Trauer als Depression einzustufen und jeder Suizid als Folge einer psychischen Störung zu betrachten ist.45 Fragen einer psychiatrischen Ethik erstrecken sich jedoch nicht nur auf das Arzt-Patienten-Verhältnis, sondern auch auf die organisationalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dazu gehört die kritische Analyse der gesellschaftlichen Bedingtheit und Funktion des psychiatrischen Systems. Michel Foucault und Robert Castel haben in ihren sozialgeschichtlichen Untersuchungen die Entstehung der »psychiatrischen Ordnung« der modernen Gesellschaft nachgezeichnet.46 Die moderne Psychiatrie ist demnach ein Subsystem der bürgerlichen Ordnung der Moderne.

42 43 44 45 46

Springer/Springer-Kremser, Ethik in der Psychiatrie, 255. A.a.O., 256. A.a.O., 257. Vgl. auch Ellenberger, Ziele setzen. Vgl. Richter, Gibt es ein Recht auf Depression und Suizid? Vgl. Foucault, Mikrophysik der Macht; Castel, Die psychiatrische Ordnung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Thomas Szasz hat die weiterführende These vertreten, die moderne Psychiatrie sei eine säkularisierte Form der moralischen und religiösen Kontrolle.47 So habe ein kultureller Wandel vom »theologischen« zum »therapeutischen« Staat stattgefunden. Innerhalb des therapeutischen Staates – in dem auch außerhalb des Psychiatriesystems zunehmend Therapie an die Stelle von Strafe tritt – übt die Psychiatrie nach Szasz auch die Aufsicht über moralisches Verhalten aus. Die Antipsychiatriebewegung und die Psychiatriereform der 1960er und 1970er Jahre hat die herkömmlichen Strukturen von Hospitalisierung und Anstaltsunterbringung massiv kritisiert. In der Folge hat sich die Aufnahmezahl und Aufenthaltsdauer von Patienten in psychiatrischen Einrichtungen verringert. Castel beschreibt diesen Vorgang allerdings als Metamorphose vom Internierungsparadigma zum allgemeinen Interventionismus bzw. vom harten Paternalismus zur symbolischen Gewalt der Interpretation. Alfred Springer und seine Frau Marianne Springer-Kremser beobachten anstelle des vermeintlichen Abbaus von gesellschaftspolitischer Machtausübung eine Ausweitung der Machtausübung mittels des psychiatrischen Systems, und zwar in der Form eines therapeutischen »Interventionalismus, der sich in privaten und öffentlichen offenen Einrichtungen im Dienste sanfter Kontrolle manifestiert und anbietet«48. Als Beleg weisen sie darauf hin, »daß die Verschränkung justiziärer und psychiatrischer Kontrolle im gleichen Zeitraum eher noch intensiver geworden ist«49. Gerade im diakonischen Kontext halte ich die These des Ehepaars Springer für bedenkenswert, dass dem »therapeutischen« Staat gegenüber dem »theologischen«, von dem Szasz gesprochen hat, eine fragwürdige Tendenz zur Ausweitung seines Machtanspruchs innewohnt. Im Gegensatz zur religiös-moralischen Kontrolle eigne der psychiatrischen Kontrolle »ein kurativer Anspruch«, »der sowohl der Disziplin grundsätzlich implizit ist, als er ihr jedoch auch von Seiten der Öffentlichkeit quasi als Verpflichtung in immer neuen Aufgabenbereichen entgegengebracht wird. Und deshalb müßten sowohl Psychiater als auch Psychotherapeuten äußerst vorsichtig dabei sein, sich als Helfer in allen möglichen Lebens- und Problemlagen anzubieten. In der Gemeinschaft werden diese Angebote naturgemäß ernst genommen; sind sie uneinlösbar, haben die Folgen die Klienten zu tragen. Während ein helfender Anspruch immerhin einlösbar wäre, ist es der heilende oftmals nicht; und dieser Umstand, diese Hilflo-

47 48 49

Vgl. Szasz, Fabrikation. Springer/M. Springer-Kremser, Ethik in der Psychiatrie, 260. Ebd. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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6. Die Logik der Barmherzigkeit und die Logik der Ökonomie

sigkeit der Helfer, kann, unter geeigneten politischen Umständen, Fantasien von einfachen ›Endlösungen‹ stimulieren.« 50

Das Ehepaar Springer plädiert für eine kritische Reflexion von psychiatrischen und psychotherapeutischen Krankheitsmodellen mit dem Ziel, die Handlungsbereiche von Psychiatrie und Psychotherapie einzugrenzen und ihre therapeutischen Möglichkeiten zu bewerten. Gegen die Tendenz des allgemeinen Interventionismus sollten »tragfähige Konzepte der Nicht-Intervention als in bestimmten Fällen adäquate Maßnahme« entwickelt werden.51 Eine deutliche Unterscheidung zwischen Krankheit und Abweichung würde es ermöglichen, den Heilungs- und Interventionsanspruch gegenüber der Abweichung zurückzunehmen und ihn auf »Krankheit« zu begrenzen. Springer und Springer-Kremsers Kritik an internen und gesellschaftlichen Mechanismen der psychiatrischen Ordnung sind gerade im diakonischen Kontext von besonderem Interesse, als auch von theologischer Seite an der fehlenden Unterscheidung zwischen Heil und Heilung im modernen Gesundheitswesen Kritik zu üben ist, wo immer Gesundheit zur Quasireligion erhoben wird. Gegenüber der Utopie einer medizinisch-technischen Perfektionierung des Menschen ist das Recht auf Unvollkommenheit zu verteidigen. Fragwürdige Tendenzen zur Medikalisierung des Lebens gibt es allerdings nicht nur im Bereich der Psychiatrie. Auch auf dem Gebiet der somatischen Medizin wird heute daher über die Notwendigkeit einer Begrenzung des medizinischen Interventionismus und die Kategorie der Nicht-Krankheit diskutiert. Die Auseinandersetzung mit der Funktion des psychiatrischen Systems verdeutlicht schließlich die Notwendigkeit, sich ethisch und theologisch kritisch mit dem Wertbegriff auseinanderzusetzen. Wie Springer und Springer-Kremser ausführen, tendiert die Psychiatrie als System dazu, »in ihren ethischen Vorstellungen wertekonform zu sein und die Funktion eines kontrollierenden Subsystems gerne oder zumindest recht widerspruchslos auf sich zu nehmen«52. Die Einführung eines neuen Entgeltsystems in Psychiatrie wirft somit die Frage auf, wieweit es Tendenzen gesellschaftlicher Kontrolle über die Individuen verstärkt oder aber auch Potentiale enthält, diesen entgegenzusteuern. Gerade psychische Erkrankungen stellen das vorherrschende Menschenbild unserer modernen Ökonomie und Leistungsge50 51 52

A.a.O., 262. Ebd. A.a.O., 259. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sellschaft in Frage. Insbesondere die chronisch Kranken und »Unheilbaren« führen an die Grenzen eines ganz auf Heilung und kurative Therapie ausgerichteten Medizinsystems, das der ökonomischen Logik unserer modernen Gesellschaft folgt. 6.6

Die Güte Gottes als Grund und Maßstab diakonischen Handelns

Im Zusammenhang mit Qualität und Qualitätsmanagement in der Diakonie ist freilich nicht nur von Gütern, sondern auch von Güte zu sprechen. Unser deutsches Fremdwort »Qualität« leitet sich bekanntlich vom lateinischen »qualitas« ab, das die Güte einer Sache meint. Im Zusammenhang diakonischen Handelns geht es freilich nicht nur um die Güte von Sachen, nämlich von Dienstleistungen, sondern auch um die Güte von Personen, um gütiges Verhalten, um Wohlwollen und Empathie. Kritischer Maßstab für den Begriff der Qualität in der Diakonie ist freilich nicht unsere eigene menschliche Güte, an der es nur zu oft mangelt, sondern die Güte Gottes, der sich uns Menschen und insbesondere den Hilfsbedürftigen, den Armen und Notleidenden vorbehaltlos zuwendet.53 Indem wir von der Güte Gottes sprechen, gewinnen wir einen Begriff von Qualität, der nicht notwendigerweise im Widerspruch zur ökonomischen Sachgerechtigkeit steht, sich aber nicht ökonomisch verrechnen lässt, sondern einen Überschuss hat, an dem diakonische Arbeit auch unter heutigen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen festzuhalten hat, will sie nicht ihr Profil und damit ihre Daseinsberechtigung verlieren. Konkret schärft der Blick auf die Güte Gottes, wie sie uns in der Bibel bezeugt wird, das Bewusstsein für die Güter des Lebens, die nicht marktfähig und käuflich sind, ohne die der Mensch aber nicht leben kann und verkümmern muss. Hilfsbereitschaft, Liebe und Vergebung – all das können wir uns weder selbst geben, noch können wir es uns kaufen. Die Rede von der Güte Gottes durchzieht das gesamte biblische Zeugnis. Das Neue Testament spricht außerdem von der Güte Christi54 bzw. von der Güte, die Gott gegen uns in Jesus Christus erzeigt hat. 55 Die Güte Gottes veranschaulicht Jesus im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), das ja jeder ökonomischen Logik und einem

53 54 55

Vgl. auch Gohde, Gemeinsam auf dem Weg, 13ff. 2Kor 10,1. Eph 2,7. Die griechischen Wörter für Güte sind /chrestótes und /epieikeía. Letzteres bedeutet wörtlich Nachsicht oder Milde. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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üblichen Begriff von Leistungs- und Lohngerechtigkeit widerspricht.56 Auch Gottes Wort kann als gütig oder gut bezeichnet werden.57 Gütig ist das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Wie Gott seine Güte in seinem Tun erweist, so werden auch die Christen im Neuen Testament zu einem der Güte Gottes bzw. der Güte Christi entsprechendem Verhalten aufgerufen.58 Güte ist, wie Paulus in Gal 5,22 erklärt, die Frucht des Geistes. Ähnlich spricht der Epheserbrief von der Güte als Frucht des Lichts (Eph 5,9).59 In der pluralistischen Gesellschaft von heute würde freilich ein exklusiv christlich begründetes Ethos der Güte und des Helfens zur Begründung des Sozialstaates und seiner vielfältigen Hilfsangebote für zu eng und somit für unzureichend gehalten. Das gilt auch für das Ethos helfender Berufe. Viele Menschen, die diese Berufe ausüben, sind keine Christen. Etliche stammen aus anderen Ländern und Kontinenten und gehören einer anderen Religion an oder distanzieren sich ausdrücklich vom Christentum und der Kirche. Auch in der Diakonie oder der Caritas, das heißt in Unternehmen mit christlicher Trägerschaft, arbeiten neben engagierten Christen auch solche Menschen, die sich nicht auf eine christliche Motivation berufen. Ein universales Ethos des Helfens, das zum diakonischen Handeln motiviert, ist keineswegs exklusiv christlich begründet, es liegt aber sehr wohl und entschieden im Gefälle des Neuen Testamentes. Heißt dies nun, dass auf eine dezidiert christliche Begründung eines Ethos des Helfens heute verzichtet werden kann? Ist sie in ihrer religiösen Partikularität vielleicht sogar hinderlich, weil sie den universalen Geltungsanspruch einer Ethik des Helfens einschränkt? Wer so argumentiert, sollte bedenken, dass inzwischen auch eine säkular-humanistische Ethik, die in nicht geringem Ausmaß davon zehrt, dass unsere Kultur bislang in starkem Maße vom Christentum geprägt war, keineswegs mehr fraglos akzeptiert wird. Im Pluralismus der Moralen und Ethiken erscheint auch das Erbe der europäischen Aufklärung als eine partikulare Gestalt von Ethos und Kultur. Die zunehmende Ökonomisierung des Lebens einschließlich der sozialstaatlichen Angebote macht dies deutlich. Eine utilitaristische Ethik der Interessen rückt auch der humanistischen Tradition der Aufklärung zu Leibe. Umso bedrängender 56 57 58 59

Mit »gütig« übersetzen Lutherbibel, Zürcher Bibel und Einheitsübersetzung in V. 15 das griechische Wort /agathós. Hebr 6,5. Phil 4,5 Das griechische Wort für Güte lautet in Gal 5,22 und Eph 5,9 / agathosýne. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ist die Frage, aus welchen Quellen sich eine Kultur des Helfens, die unbeschadet ihrer säkularen Begründung christliches Gedankengut im Erbe hat, erneuern und fortentwickeln soll, wenn diese religiösen Wurzeln endgültig gekappt werden sollten. Wie nach einem viel zitierten Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann60, so hängt auch unser ökonomisches System von Rahmenbedingungen ab, die jenseits des ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalküls liegen. Eine Kultur des Helfens, die diesen Namen verdient, ist immer auch eine Kultur der Barmherzigkeit.61 Es ist an der Zeit, dieses in der Geschichte oft genug missbrauchte und verachtete Wort zu neuen Ehren zu bringen.

60 61

Vgl. Böckenförde, Recht, 112. Vgl. dazu auch Welker, Erbarmen; ders., Routinisiertes Erbarmen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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MenschenPflege Pflegeethik und christliches Menschenbild

7.1

Pflegeethik als praktische Anthropologie

Alle Ethik – also auch Pflegeethik – ist praktische Anthropologie, will sagen: Jeder Ethik liegt eine bestimmte Auffassung vom Menschen zugrunde. Wir können auch sagen: ein Menschenbild. Man könnte auch sagen: Ethik ist angewandte Anthropologie, aber das könnte das Missverständnis erzeugen, als würde man zunächst eine bestimmte Sicht des Menschen entwickeln – gewissermaßen eine Theorie vom Menschen – und diese dann in einem zweiten Schritt in die Praxis umsetzen. Anthropologie und Ethik verhalten sich aber nicht zueinander wie Theorie und Praxis, schon deshalb nicht, weil die Ethik selbst eine Form der Theorie und nicht etwa der Praxis ist. Ethik ist von Moral oder Ethos zu unterscheiden. Moral ist die Gesamtheit aller sittlichen Prinzipien und Normen einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Vom Ethos sprechen wir eher, wenn wir die sittliche Einstellung oder Grundhaltung des Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe meinen. Wir sprechen zum Beispiel vom Ethos der Pflege, d.h. vom Berufsethos der Pflegeprofession. Nun kann auch dieses Ethos kodifiziert werden, wie es beispielsweise im Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) geschieht. Beim Wort Ethos denken wir aber nicht so sehr an kodifizierte Regeln und Prinzipien als an die innere Einstellung zum Beruf der Pflege, an die Motivation zur Berufswahl und zur alltäglichen Berufsausübung, an Haltungen und Verhaltensweisen, die man traditionellerweise als Tugenden bezeichnet. Neudeutsch: professional attitudes. Heute wird gern auch von Werten gesprochen, wenngleich der Wertbegriff – worauf ich noch kommen werde – einer genaueren Klärung und Prüfung bedarf. Ethik ist nun nicht mit Moral oder Ethos identisch, sondern die Theorie der Moral bzw. die Theorie des Ethos. Sie fragt nach der Begrün© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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dung für moralische Normen und Werte, und sie unterzieht eine vorgängige Moral der Kritik, d.h. der Prüfung. Die Stunde der Ethik schlägt, wenn eine bestimmte Moral sich nicht mehr von selbst versteht, oder wenn die praktische Bedeutung moralischer Prinzipien, Normen und Werte in einer konkreten Situation unklar oder strittig ist. Ethik ist, wenn man so will, eine Konfliktwissenschaft. Sie sucht nach Verfahren, wie man moralische Konflikte im Diskurs und mit Argumenten bearbeiten und lösen kann. Das ist z.B. die Aufgabe der Ethik im klinischen Alltag und im Alltag der Pflege im Rahmen eines Ethikkonsils oder eines Ethikkomitees. Handelt es sich bei der Ethik allgemein um eine kritische Theorie der Moral, so ist Gegenstand und Aufgabe der Pflegeethik die kritische Reflexion pflegerischen Handelns und Planens unter sittlichen Gesichtspunkten.1 Es geht nicht allein um die Frage, ob sich das pflegerische Handeln und das Verhalten von Pflegepersonen im Allgemeinen wie im konkreten Einzelfall ethisch begründen oder im Nachhinein ethisch rechtfertigen lassen. Ethisch zu prüfen sind auch die institutionellen und organisationalen Rahmenbedingungen, unter denen pflegerisches Handeln stattfindet. Pflegeethik als ethische Theorie des pflegerischen Ethos befasst sich außerdem mit den Einstellungen und Haltungen von Pflegepersonen und ihrer Einbettung in die ethische Kultur von Einrichtungen oder Organisationen, in denen Pflege stattfindet. Die Pflegeethik gehört zu den sogenannten Bereichsethiken. Weitere Beispiele für Bereichsethiken sind Wirtschaftsethik, Rechtsethik, Politische Ethik, Medienethik und natürlich auch die Medizin- und Bioethik. Zwischen Pflegeethik und anderen Bereichsethiken besteht eine Reihe von Verbindungen oder Schnittstellen.2 Ethik in der Pflegepraxis überschneidet sich nicht nur mit Ethik in der Medizin, sondern auch mit Ethik in der sozialen Arbeit. Ethik im Pflegemanagement hat gemeinsame Schnittmengen mit Wirtschaftsethik, Sozialethik und politischer Ethik. Ethik in der Pflegepädagogik steht im Austausch mit einer allgemeinen Pädagogischen Ethik. Ethik in der Pflegewissenschaft ist ein Teilbereich von Wissenschaftsethik und Forschungsethik. Nun gibt es unterschiedliche Grundverständnisse von Ethik. Eine gewichtige Tradition versteht Ethik als Theorie des guten Lebens, wobei mit einem guten Leben nicht unbedingt ein angenehmes und bequemes Leben gemeint ist, sondern ein Leben, von dem man aufs Ganze betrachtet sagen kann, dass es ein sinnvolles, ein sinnerfülltes und glückliches Leben ist. Letztlich kann man das – wenn überhaupt! – freilich 1 2

Vgl. Körtner, Grundkurs Pflegeethik. Vgl. Lay, Ethik in der Pflege, 144ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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erst am Ende eines Lebens sagen, ob es tatsächlich in diesem Sinne gut und sinnerfüllt war. Heute spricht man gern von einem gelingenden Leben. Ob die einzelnen Handlungen und Entscheidungen, die jemand in seinem Leben für sich und andere getroffen hat, gut waren, ergibt sich nach dieser Theorie, die auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurückgeht, eigentlich überhaupt erst, wenn das Leben zu seinem Ende gelangt ist, im Grunde also eigentlich erst, wenn jemand gestorben ist. Auch medizinische und pflegerische Entscheidungen können in solch eine Theorie des guten Lebens eingebettet werden. Dann fragt man nicht nur, ob eine bestimmte therapeutische oder pflegerische Maßnahme nach dem Stand der Forschung und der Technik – neudeutsch: state of the art – machbar ist, sondern ob sie für den betroffenen Patienten oder die zu pflegende Person in ihrer konkreten Lebenssituation sinnvoll und hilfreich ist, etwa wenn man die gesundheitliche Gesamtverfassung, den Krankheitsverlauf und die Lebenserwartung des Patienten berücksichtigt. Solch ein Verständnis von Ethik ist anthropologisch enorm voraussetzungsreich. Es unterstellt, dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, das nach dem wahren Glück und Lebenssinn strebt. Es setzt weiter voraus, dass der Mensch dem Guten, das er zu erkennen glaubt, auch immer nacheifern will. Er mag irren, aber er wird vernünftigerweise nicht gegen das handeln, was er als vernünftig erkannt hat. Überhaupt setzt jede Ethik voraus, dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, das vernünftig handelt oder dazu fähig ist. Jede Ethik setzt voraus, dass der Mensch einen Willen hat, dass er nicht nur spontan reagieren, sondern mit Überlegung handeln kann, dass er also zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen kann, was wiederum das Moment der Freiheit voraussetzt. Jede Ethik unterstellt, dass der Mensch Eigeninteressen verfolgt, aber doch auch in der Lage ist, die Interessen anderer zu erkennen, sich in sie hineinzuversetzen und auf diese Rücksicht zu nehmen. Auch dass der Mensch ein Gewissen hat und im moralischen Sinne zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, ist eine Grundvoraussetzung aller Ethik. Insofern stimmt es, dass jeder Ethik ein bestimmtes Menschenbild oder eine bestimmte Anthropologie zugrunde liegt. Zwischen Menschenbild und Ethik vollzieht sich freilich ein komplexes Wechselspiel. Die praktische Erfahrung nötigt uns immer wieder dazu, unser Bild vom Menschen in Frage zu stellen. Die Erfahrung lehrt uns, dass Menschen keineswegs immer vernünftig handeln. Alle wollen z.B. gesund sein und möglichst lange leben, aber sie haben keineswegs immer eine gesunde Lebensweise. Der Weg zur Hölle ist be© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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kanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Und Patienten oder Bewohner einer Einrichtung der Pflege oder der Altenhilfe verhalten sich keineswegs immer »compliant«. Die Geschichte ist reich an Beispielen für Menschlichkeit, Selbstlosigkeit und Güte, aber auch an Beispielen von abgründiger Bosheit, Gewalt und Menschenverachtung. So entstehen ganz gegensätzliche Bilder vom Menschen, die uns auf letzte Fragen führen: Ist der Mensch im Grunde seines Herzens gut, hilfreich und edel, oder schlummert in ihm das radikal Böse, das nur mit Mühe zivilisatorisch domestiziert wird, jedoch immer wieder offen hervorbricht? Und weiter gefragt: Verstehen wir den Menschen und das Menschsein in erster Linie vom Zustand der Gesundheit und einem Begriff des Normalen aus, oder begreifen wir das Menschsein erst dann richtig, wenn wir die Erfahrung des Leidens, der Behinderung, der Abweichung von der vermeintlichen Normalität zum Ausgangspunkt wählen?3 Was aber bedeutet das dann für das Ziel des guten oder gelingenden Lebens und mithin für die Zielsetzung von Ethik? Praktisch gefragt: Welche Sichtweise leitet den Umgang der Pflege und der Medizin mit Krankheit, Leiden und Behinderung, mit Altern, Sterben und Tod? Dominiert eine defizitorientierte Sicht, die den Blick auf das richtet, was alles nicht oder nicht mehr möglich ist? Oder richtet sich der Blick auf die vorhandenen Ressourcen, die es zu nutzen und zu stärken gilt? Sind kranke und gebrechliche Menschen, auch Menschen mit einer schweren körperlichen oder geistigen Behinderung zu bedauern, oder können auch sie ein sinnerfülltes, vielleicht sogar glückliches Leben führen, oder zumindest Momente des Glücks und der Lebensfreude erleben? Sind sie für andere Menschen oder die Gesellschaft im Ganzen eine Last? Oder stellen sie eine Bereicherung dar? Und gilt vielleicht manchmal beides zugleich: dass nämlich wie auch bei gesunden Menschen das Leben bisweilen Last und Glück zugleich sein kann? Wenn wir nach dem Menschenbild in Pflege und Medizin und nach der Bedeutung des Menschenbildes für die Pflege- und die Medizinethik fragen, dürfen wir uns nicht auf die Sicht des Patienten oder der zu pflegenden Person beschränken. Es gilt auch, das eigene Selbstverständnis von Pflegekräften und Ärzten zu klären, die eigene Sicht des Menschseins, des Handelns und des Lebenssinns. Wie gehen wir mit unseren eigenen Stärken und Schwächen um, wie mit den eigenen Fehlern, mit Versagen und Schuld? 3

Vgl. dazu Liedke, Gegebenheit – Gabe – Begabung? © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Zur ethischen Reflexion des eigenen Menschenbildes bzw. des Menschenbildes, das das pflegerische oder medizinische Handeln leitet, gehört auch die kritische Beobachtung der eigenen Sprache und der Kommunikation mit dem Patienten, den Angehörigen und im Team. Was sagen wir von einem Menschen, wenn wir ihn als verwirrte Person einstufen? Was sagen wir über jemanden, wenn wir ihn in die Rubrik »schwieriger Patient« stecken? Was für Handlungsaufforderungen an Arzt und Patient stecken in der vermeintlich objektiven Bezeichnung eines Kranken als »dialyse-« oder »beatmungspflichtig«? Wer definiert diese Pflicht? Grundsätzlich gilt, dass Sprache Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern geradezu schafft. Wenn ich z.B. jemanden als geistig verwirrt einstufe, wird er sich zu dem entwickeln, was ich von ihm behaupte. Die Beispiele ließen sich vermehren. Wie wir von den Menschen sprechen, mit denen wir es im Alltag zu tun haben, sagt viel über unser Menschenbild aus und führt dazu, dass Menschen nach diesem Bild geformt werden. Wir können am Beispiel der Sprache aber auch nochmals gut sehen, dass Ethik keineswegs nur der Anwendungsfall einer bestimmten Anthropologie oder eines Menschenbildes ist, sondern dass die Kritik bestehender Menschenbilder zu den elementaren Aufgaben der Ethik gehört. Die Kritik von Menschenbildern aber beginnt bei der Sprache und unserer Kommunikation. Das komplexe Wechselspiel von Ethik und Menschenbild zeigt sich auch anhand des medizinischen Fortschritts. Die moderne Reproduktionsmedizin ermöglicht die Zeugung in der Petrischale, und die moderne Intensivmedizin gibt die Möglichkeit, das Sterben immer weiter hinauszuschieben. Dadurch sind ganz neue anthropologische Fragen aufgebrochen: Ist schon eine befruchtete Eizelle in der Petrischale als Mensch zu betrachten, als Person mit unveräußerlichem Lebensrecht und Lebenswürde? Oder trifft das erst auf einen Embryo nach der Einnistung in der Gebärmutter zu? Oder gelten die Menschenwürde und das Personsein überhaupt erst nach der Geburt? Und was ist mit sogenannten Hirntoten? Sind sie wirklich schon tot, oder handelt es sich bei ihnen immer noch um Sterbende – und das heißt um Lebende? Lassen sich die überkommenen Vorstellungen, nach denen wir vermeintlich eine klare Grenze zwischen Leben und Tod ziehen können, noch aufrechterhalten? Oder müssen wir – auch unter praktischen Gesichtspunkten, wenn es z.B. um die Organentnahme geht – unsere anthropologischen Überzeugungen überdenken? Die Antworten fallen unterschiedlich, manchmal sogar gegensätzlich aus, weil wir es mit unterschiedlichen Menschenbildern und unterschiedlichen Ethikkonzeptionen zu tun haben. Ethik ist darum auch in© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sofern eine Konfliktwissenschaft, als sie den Konflikt der Ethiken und der Menschenbilder zu bearbeiten hat. In diesen Konflikt ist auch das christliche Menschenbild – oder sollten wir besser sagen: sind die christlichen Bilder vom Menschen – involviert. 7.2

Christliches Menschenbild

Ebensowenig wie das Menschenbild der Medizin oder der Psychotherapie gibt es das christliche oder das biblische Menschenbild, auf das man sich insbesondere in der Diakonie gern beruft. Die stereotype Rede von dem christlichen Menschenbild ist eine unhistorische Konstruktion, unterliegt dieses Menschenbild doch dem geschichtlichen Wandel. Es ist unter anderem das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Aufklärung, mit den Ergebnissen und Fortschritten der modernen Natur- und Humanwissenschaften sowie gesellschaftlichen Umbrüchen, zum Beispiel dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und weiter zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Außerdem bestehen in anthropologischen Fragen ebenso wie auf dem Gebiet der Dogmatik zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen bezeichnende Unterschiede. Sie betreffen etwa den Naturbegriff, das Verständnis menschlicher Freiheit und den Sündenbegriff. Damit hängt zusammen, dass die Antworten der Kirchen und der einzelnen Christen in ethischen Fragen unterschiedlich ausfallen können. Die christliche Sicht des Menschen weist also eine gewisse Pluralität auf, die teilweise sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es sachgemäßer, statt von dem christlichen Menschenbild von christlichen Menschenbildern zu sprechen. Von den Auswirkungen des medizinischen Fortschritts auf die Anthropologie war bereits die Rede. Auch sonst finden gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche statt, die uns dazu nötigen, herkömmliche anthropologische Grundaussagen zu überprüfen. Erwähnt seien die Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die Auflösung traditioneller Ehe- und Familienformen und das Entstehen neuer Modelle von Lebensgemeinschaften und Familialität, die heutige Sicht der Homosexualität, die zum Teil dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf Berufsbiographien, die steigende Lebenserwartung, der Geburtenrückgang und die mit beiden verbundene demographische Entwicklung in den europäischen Gesellschaften, die Veränderungen des Alters und des Alterns, des Sterbens und der Sterbekultur in der postindustriellen Gesellschaft. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch gibt auf die Frage, was der Mensch ist, in seinem Roman Selbstporträt mit Turban (1997) eine paradoxe Antwort: »Die Antwort lautet: ›Was ist der Mensch?‹« Bei der Frage, worauf die Frage, was der Mensch ist, antwortet, handelt es sich um dieselbe Frage, »denn der Mensch ist keine Antwort, sondern eine Frage«4. Anthropologie fragt nach der Frage, die der Mensch ist. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat allerdings zu bedenken gegeben, zu einer Antwort die man nicht aussprechen könne, könne man auch die Frage nicht aussprechen.5 Wie also lässt sich der Mensch als Frage verstehen, wenn man die Antwort zu dieser Frage nicht kennt? Theologie fragt nach der Antwort, zu der der Mensch die Frage ist. Das religiöse Symbol für diese Antwort ist das Wort »Gott«. Die Antwort, auf welche das Wort »Gott« verweist, bringt die Frage, die der Mensch ist, allerdings nicht zum Verstummen, sondern provoziert sie ständig auf neue Weise. So heißt es im 1. Johannesbrief: »Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber; wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1Joh 3,2f.). Rudolf Bultmann merkt zu dieser Bibelstelle an: »Wir sind nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen. Wir sind die, die wir im Lichte der Gnade Gottes sind. Wir sind, was wir hier und jetzt nie sind, aber das, was wir hier und jetzt nie sind, gerade das ist unser eigentliches Sein.«6 In Psalm 8 nimmt die anthropologische Grundfrage, was der Mensch sei, eine überraschende Wende. Der alttestamentliche Beter fragt: »Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« (Psalm 8,5). In der Form des Gebets wird die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht an diesen selbst, sondern an Gott gerichtet. Nicht allein durch den Kontrast zwischen seiner Größe und seiner Nichtigkeit, die der Psalm anspricht, sondern dadurch, dass er der Mensch Gottes ist, wird der Mensch nach biblischer Auffassung im Letzten bestimmt. Seine Stellung im Kosmos ist nicht Verdienst aufgrund besonderer Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern Gnade. Und aus der Frage des Psalmisten, womit es der Mensch überhaupt verdient hat, von Gott beachtet und umsorgt zu werden, spricht dankbares und demütiges Erstaunen. 4 5 6

Zitiert nach Hörisch, Geschichte der Medien, 423. Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 114 (Nr. 6.5). Bultmann, Weihnachten, 79. Vgl. auch die Ausführungen Gerhard Sauters zur Verborgenheit des Menschen und seines neuen Lebens in Christus (Sauter, Das verborgene Leben, 147ff.). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Nur wo solches Erstaunen mitschwingt, in das sich zum Beispiel der behandelnde Arzt oder die Pflegeperson einschließt, wird nach theologischer Überzeugung die Würde des Menschen in ihrer ganzen Tiefe erfasst. Die Frage des Menschenbildes betrifft nicht nur die Wesensbestimmung des Menschen. Anthropologie sucht letztlich immer auch nach Gründen, die das Dasein des Menschen rechtfertigen. Wenn ein Mensch sich selbst bzw. sein Daseinsrecht nicht rechtfertigen kann, z.B. weil er noch gar nicht geboren ist, weil er geistig schwer behindert oder verwirrt ist, weil er im Koma liegt und dauerhaft das Bewusstsein verloren hat, wer oder was rechtfertigt dann sein Recht auf Leben? Die Antwort, welche hierauf die reformatorische Tradition des Christentums gibt, lautet: Gott rechtfertigt das Leben eines jeden Menschen. Der Mensch ist der von Gott gerechtfertigte Mensch, und eben darum braucht er sich selbst und sein Dasein nicht zu rechtfertigen. Das ist der Hauptgesichtspunkt, den die protestantischen Kirchen in das ökumenische Gespräch über das christliche Menschenbild einbringen. Doch ebenso strittig wie ein christliches Menschenbild im Allgemeinen ist nun gerade das reformatorische Menschenbild im Besonderen. Der Radikalität, mit welcher die evangelische Tradition von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden durch den Glauben spricht, korrespondiert die Radikalität ihrer Sicht der Sünde. Das »radikal Böse« (Immanuel Kant) wird derart radikal gesehen, dass selbst noch vom gerechtfertigten Sünder behauptet wird, er sei Gerechtfertigter und Sünder zugleich – »simul iustus et peccator«. Das jedenfalls ist die paradoxe und ärgerlich klingende Formulierung Martin Luthers, die bis heute von ihrer Anstößigkeit nichts verloren hat. Erst wer sich als gerechtfertigten Sünder erkennt, d.h. als vergebungsbedürftigen und der Vergebung tatsächlich teilhaftig gewordenen Menschen, begreift nach evangelischem Verständnis erst wirklich das Wesen Gottes, das grundlose Liebe ist. Von hier aus erschließt sich auch die Welt als gute Schöpfung Gottes, deren Erkenntnis durch die Macht der Sünde verdunkelt oder durch Unglauben verstellt ist. 7.3

Gelingendes Leben?

Eine bis heute wirkmächtige Tradition, von der bereits die Rede war, versteht die Ethik als Theorie des guten oder des gelingenden Lebens. Auch in Kirche und Diakonie ist diese Redeweise anzutreffen. Nun kann man das Wort »Glück« als säkulares Äquivalent zum Begriff der Seligkeit verstehen, von der in der Bibel gesprochen wird. Man denke nur an die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3–12). Dennoch © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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stellt sich die Frage, ob die Rede vom gelingenden Leben tatsächlich so biblisch und christlich ist, wie gelegentlich behauptet wird. Die evangelische Theologin Gunda Schneider-Flume weist die Vorstellung von einem Leben unter dem Vorbehalt des Gelingens aus guten Gründen als unbiblisch zurück und kritisiert die »Tyrannei des gelingenden Lebens«7. Schneider-Flume bezieht sich unter anderem auf die Kritik des evangelischen Theologen Henning Luthers am Mythos der Ganzheitlichkeit.8 Tatsächlich ist mit Luther zu fragen, ob die modernen Ideale der Vollkommenheit und Ganzheit, die sich im utopischen Gesundheitsbegriff unserer Gegenwart widerspiegeln, nicht in Wahrheit zerstörerisch statt heilend sind. »Zerstören sie nicht das uns lebbare Leben? Unser Leben mit all seinen Brüchen, Fehlern, Unvollkommenheiten, Schwächen? Hindern uns nicht die Illusionen von Vollkommenheit und Ganzheit am Leben? Drohen wir nicht an unseren Illusionen zu scheitern? Ist der Mythos der Ganzheit nicht eine einzige Lebenslüge, die unsere schüchternen und unvollkommenen Tastversuche, unseren Versuch zu leben, im Keim erstickt und abtötet?«9 Kritische Rückfragen sind daher auch an das Postulat und Selbstverständnis einer sogenannten ganzheitlichen oder holistischen Medizin zu richten, auch wenn ihre Kritik an der in Theorie und Praxis der sogenannten Schulmedizin herrschenden Atomisierung und Entpersonalisierung des kranken Menschen grundsätzlich Zustimmung verdient. Nicht Krankheiten oder kranke Organe, sondern kranke Menschen sind das Objekt medizinischen Handelns. Der kranke Mensch aber ist, wie die psychosomatische Medizin völlig zu Recht geltend macht, nicht das bloße Objekt von Krankheit und Heilung, sondern deren Subjekt. Gleichwohl ist das Konzept einer Ganzheitsmedizin kritisch nach seinen anthropologischen Prämissen und der Zielsetzung therapeutischer Maßnahmen zu befragen. Fragwürdig ist der Ansatz einer holistischen Medizin jedenfalls dann, wenn er auf der These beruht, der Mensch sei im Grunde seines Wesens heil und gut, so dass er sich eigentlich aus eigener Kraft heilen könne und die Aufgabe therapeutischen Handelns lediglich in der Beseitigung von Hemmungen auf dem Weg zu voller Selbstverwirklichung bestehe.10 Theologisch wird man daher auch der psychosomatischen These von Krankheit als Selbstheilung nicht vor7 8 9 10

Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Vgl. Luther, Identität und Fragment. Luther, Leben als Fragment, 263. Zur Kritik siehe auch Eibach, Heilung, 50ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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behaltlos zustimmen können.11 Sie impliziert nämlich ein Verständnis von Gesundheit und Heilung, welches Gesundheit mit selbstzentrierter Integrität, diese aber mit Heil im religiösen Sinne gleichsetzt, so dass Heilung bzw. Selbstheilung zur Erlösung bzw. Selbsterlösung wird. Nicht dass es im Leben kein Gelingen geben kann oder darf. »Aber die Befähigung, Pläne erfolgreich zu verwirklichen und Unternehmen zum Gelingen zu verhelfen oder auch misslingen zu lassen, berechtigt nicht dazu, das Leben selbst als Ganzes unter das Urteil des Gelingens zu stellen und damit die Tyrannei des gelingenden Lebens als alles beherrschend zu etablieren.«12 Schon Dieter Schellong hat vor etlichen Jahren darauf aufmerksam gemacht, wie gemein im Grunde der Jargon des gelingenden Lebens sei, weil es dann ja offenbar auch misslingendes Leben gibt, über das nur ein negatives Gesamturteil gesprochen werden kann.13 Gegen die Totalperspektive des gelingenden Lebens steht der Tod Jesu am Kreuz, der gar nichts von einem gelingenden Leben an sich hatte. Zumindest nach der markinischen Darstellung ist es Jesus am Ende nicht gelungen, dem Leiden einen Sinn zu geben und das Sterben harmonisch und selbstbestimmt in das eigene Leben zu integrieren, wie es heute in der Seelsorge-, Lebenshilfe- und Sterbebegleitungsliteratur immer wieder propagiert wird.14 Die Osterbotschaft aber besagt, dass der Wert des Lebens und seine Würde gerade nicht vom Gelingen oder Misslingen menschlicher Lebensführung und Selbstverwirklichung abhängen, sondern von der Teilhabe am Leben Gottes und seiner Fülle. Tatsächlich sind es doch gerade Erfahrungen eines fragmentierten Lebens, des Misslingens und von »Bruchbiographien«15, mit denen Diakonie und Seelsorge immer wieder konfrontiert werden. Nicht nur Konflikte bei der Lebensführung, sondern Erfahrungen von Versagen und Schuld, von Leiden und Ohnmacht lassen Menschen nach seelsorglichem Beistand suchen. So gewiss sie Rat und Lebenshilfe suchen, Hilfe bei der Klärung ethischer Fragen, so gewiss brauchen Menschen auch Trost und Solidarität in Situationen, die sich gar nicht oder jedenfalls nicht sogleich durch menschliches Handeln verändern 11 12 13 14

15

Vgl. Beck, Krankheit als Selbstheilung. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 12. Vgl. Schellong, Die Krise der Ehe, 68f. Vgl. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 105: »Man muß immer wieder darauf hinweisen, dass Jesus von Nazareth diesem Ideal nicht gerecht geworden ist.« A.a.O., 49, im Anschluss an Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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lassen. Auch die sogenannten Kontingenzen des Lebens lassen sich nicht immer »bewältigen«, sondern können bestenfalls nur ausgehalten und von anderen Menschen mitgetragen und erduldet werden. Im Sinne Bonhoeffers die Grenze zwischen Widerstand und Ergebung im konkreten Fall auslotend,16 haben Seelsorge und Diakonie Menschen nicht nur bei der Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten zu helfen, sondern auch zur Trauer und zur Klage zu ermutigen. Diese Überlegungen haben praktische Konsequenzen für Medizin und Pflege, sind doch Heil und Heilung nach christlichem Verständnis voneinander zu unterscheiden, auch wenn zwischen beiden eine Verbindung besteht. Entscheidend für das neutestamentliche Heilsverständnis ist freilich, dass ewiges Heil und irdisches Wohl nicht immer voneinander zu trennen, gleichwohl jedoch zu unterscheiden sind, wie auch zwischen der fragmentarischen Gegenwart und der noch ausstehenden Zukunft vollendeten Heils ein Unterschied besteht. Gesundung und Gesundheit werden im Neuen Testament nicht als Inbegriff, sondern als Angeld künftigen Heils verstanden, dessen Vollendung der noch ausstehenden Zukunft des Reiches Gottes vorbehalten bleibt. So legitim der Wunsch nach Gesundheit ist, so sehr kann doch das Heil paradoxerweise gerade im Leiden und in der körperlichen Schwachheit zur Wirkung gelangen. Das Heil, von dem das Neue Testament spricht, besteht seinem Wesen nach in der Wiederherstellung nicht von individueller Integrität, sondern von Beziehung. Heil ist Teilhabe am Sein Gottes, dessen Wesen nach christlicher Auffassung Liebe ist.17 Die gegenwärtige Realisierung des Heils besteht darum primär nicht in körperlicher Unversehrtheit oder deren Wiederherstellung, sondern in der Teilhabe an der göttlichen Liebe, in der Fähigkeit zur Beziehung. Das Heil ist wesenhaft Liebesfähigkeit, welche nicht nur in der Fähigkeit zu lieben, sondern auch in dem Vermögen, geliebt zu werden und sich lieben zu lassen, besteht. Von hier aus relativiert sich der Gegensatz von Krankheit und Gesundheit, weil die neu geschenkte Beziehungsfähigkeit sowohl in Gesundheit als auch Krankheit gelebt werden und nichts den Glaubenden von der Liebe Gottes scheiden kann.18 Weil das Christentum Heil und irdisches Wohl nicht nur voneinander unterscheidet, sondern einander auch zuordnet, ist das Bemühen um Heilung, um die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit legitim und im Sinne der Nächstenliebe auch geboten. Die gleichzeitig 16 17 18

Vgl. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 333f. Vgl. 1Joh 4,16. Vgl. Röm 8,31–39. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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zu vollziehende Unterscheidung von Heil und Gesundheit wie auch die Einsicht in die unaufhebbare Fragmenthaftigkeit unseres Daseins entlasten aber jede Form des Heilens von allen offenen oder geheimen Heils- und Erlösungsansprüchen. Heil ist keine sinnvolle therapeutische oder pflegerische Zielsetzung, weder im Sinne der Ganzheitlichkeit noch im Sinne eines Optimierungswahns, der die Medizin in den Dienst einer technischen Vervollkommnung der menschlichen Gattung – das sogenannte Enhancement – stellt. Die Heilkunst darf nicht zur Heilslehre überhöht werden. Wie das Leben selbst, so kann auch jedes Bemühen um Heilung nur fragmentarisch sein. Frühere Epochen haben darum deutlicher gewusst als eine Medizin, die im Bann eines utopisch aufgeladenen Gesundheitsbegriffs steht. Wie die Medizin von soteriologischen, so ist umgekehrt der Glaube von medizinisch-therapeutischen Ansprüchen zu entlasten. Sosehr der Glaube und seine Heilsgewissheit den ganzen Menschen einschließlich seiner leiblichen Dimension betreffen, sosehr ist doch vor einem therapeutischen Verständnis des Glaubens zu warnen.19 Zweifellos haben das Gebet und die Seelsorge ihren Ort im Konzept eines mehrdimensionalen heilenden und pflegerischen Handelns. Heilungsgottesdienste und Glaubensheilungen sind aber keine therapeutische Alternative zur Medizin. Auch ist die kritische Frage zu stellen, ob die Propagierung von Geistheilungen nicht im Grunde derselben Gesundheitsideologie wie die übrige Gesellschaft aufsitzt und diese lediglich theologisch überhöht.20 Die Begrenztheit aller Heilkunst zeigt sich spätestens in der Konfrontation mit der Realität der Unheilbarkeit und des Todes. Wie barmherzig oder unbarmherzig therapeutische Konzepte sind, bemisst sich nicht zuletzt am Umgang mit den Unheilbaren. Die Solidarität mit den Unheilbaren und Sterbenden führt auch die Gesunden ins Leiden. »Um gesund zu bleiben«, so hat Heinrich Schipperges erklärt, »muß man der Welt im Ganzen zustimmen«21. Die Treue zu den Unheilbaren aber macht diese Zustimmung unmöglich. Nicht Einverständnis, sondern Protest gegen den Tod und das Leiden ist dem Glauben wie einer aus dem Glauben motivierten Heilkunst angemessen. Wenn das alte Motiv von Christus, dem Arzt (Christus medicus) als Sinnbild und Vorbild eines christlichen Verständnisses von Heilkunst und Pflege dienen kann, so ist es jener Christus, der den toten Lazarus

19 20 21

Zur Kritik am Heilungsverständnis Drewermanns vgl. Eibach, Heilung, 117ff. Zur Kritik siehe vor allem Bach, »Heilende Gemeinde«? Schipperges, Gesundheit – Krankheit – Heilung, 81. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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beweint:22 Im Weinen Christi mischen sich Trauer und Zorn. In der Auferweckung des Lazarus meldet sich der Protest gegen den Tod und seinen Vorboten, die Krankheit. Zugleich verweist sie auf jene höhere Vollendung unserer fragmentarischen Existenz, welche von menschlicher Heilkunst keinesfalls zu leisten ist, für welche diese aber zum Zeichen werden kann. Indem jede Heilung fragmentarisch bleibt, weist sie über sich hinaus.

22

Vgl. Joh 11,35. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Würde, Respekt und Mitgefühl aus der Sicht der Pflegeethik1

8.1

Verständigung über das Thema

Ist Ethik allgemein eine kritische Theorie der Moral, so sind Gegenstand und Aufgabe der Pflegeethik die kritische Reflexion pflegerischen Handelns und Planens unter sittlichen Gesichtspunkten.2 Es geht nicht allein um die Frage, ob sich das pflegerische Handeln und das Verhalten von Pflegepersonen im Allgemeinen wie im konkreten Einzelfall ethisch begründen oder im Nachhinein ethisch rechtfertigen lassen. Ethisch zu prüfen sind auch die institutionellen und organisationalen Rahmenbedingungen, unter denen pflegerisches Handeln stattfindet. Pflegeethik als ethische Theorie des pflegerischen Ethos befasst sich außerdem mit den Einstellungen und Haltungen von Pflegepersonen und ihrer Einbettung in die ethische Kultur von Einrichtungen oder Organisationen, in denen Pflege stattfindet. Um Gegenstand und Aufgabe der Pflegeethik genauer bestimmen zu können, ist zunächst der Begriff der Pflege zu klären. Silvia KühnePonesch definiert Pflege als »eine Praxisdisziplin«, deren Aufgabe es ist, »einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen Geschlechts, Alters und kultureller Prägung in ihrer Gesundheit zu fördern und zu beraten, sie während einer Krankheit im Genesungsprozess zu unterstützen oder, in chronischen nicht heilbaren Stadien, Wohlbefinden zu ermöglichen und Schmerzen zu lindern«3. Es handelt sich um »eine Disziplin, bestehend aus Elementen der Forschung, der 1

2 3

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »LebensWerte. Normen und Werte für Kirche und Gesellschaft« (Diakoniewissenschaftliche Sozietät) an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau am 6.2.2013. Vgl. Körtner, Grundkurs Pflegeethik. Kühne-Ponesch, Modelle und Theorien, 11. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Philosophie, der Praxis und der Theorie«4. Sie entwickelt sich international immer mehr von einer erfahrungsbezogenen zu einer wissenschaftsbasierten Disziplin.5 Nun ist freilich zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff der Pflege zu unterscheiden. Der weitere Begriff bezieht sich auf Pflege als allgemeine menschliche Fähigkeit, Bedingungen für das Überleben oder Wohlbefinden von Menschen zu sichern (care/caring). Der engere Begriff bezeichnet Pflege als Beruf bzw. als professionelles Handeln (nursing). Pflegeethik im Sinne von »nursing ethics« setzt den engeren Begriff der Pflege voraus. Ihre Aufgabe ist die ethische Reflexion nicht nur des pflegerischen Handelns, sondern auch des Verhaltens von Pflegenden und ihrer Haltung gegenüber Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen. Pflegeethik befasst sich nicht nur mit Einzelfragen oder Einzelkonflikten im Alltag des Pflegeberufs, sondern reflektiert auch die ethischen Grundlagen und Prinzipien von Pflege und Pflegeberufen. Entsprechend der verschiedenen Handlungsfelder der Pflege reflektiert Pflegeethik im Einzelnen ethische Probleme in Pflegepraxis, Pflegemanagement, Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft. Die Pflegeethik gehört zu den sogenannten Bereichsethiken. Weitere Beispiele für Bereichsethiken sind Wirtschaftsethik, Rechtsethik, Politische Ethik, Medienethik und natürlich auch die Medizin- und Bioethik. Zwischen Pflegeethik und anderen Bereichsethiken besteht eine Reihe von Verbindungen oder Schnittstellen.6 Ethik in der Pflegepraxis überschneidet sich nicht nur mit Ethik in der Medizin, sondern auch mit Ethik in der sozialen Arbeit. Ethik im Pflegemanagement hat gemeinsame Schnittmengen mit Wirtschaftsethik, Sozialethik und politischer Ethik. Ethik in der Pflegepädagogik steht im Austausch mit einer allgemeinen Pädagogischen Ethik. Ethik in der Pflegewissenschaft ist ein Teilbereich von Wissenschaftsethik und Forschungsethik. Wenn im Folgenden einige Überlegungen zu Würde, Respekt und Mitgefühl aus der Sicht der Pflegeethik angestellt werden, beschränken wir uns nicht auf die Frage, inwiefern die drei genannten Größen zu den Grundlagen einer Pflegeethik gehören, sondern wir fragen auch, inwieweit die pflegerische Praxis und die ihr zugrunde liegenden Haltungen durch Würde, Respekt und Mitgefühl geprägt werden und wie sich die Wertschätzung dieser drei Größen auch auf die Gestaltung or-

4 5 6

A.a.O., 14. Vgl. Mayer, Einführung in die Pflegeforschung. Vgl. Lay, Ethik in der Pflege, 66. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ganisatorischer Strukturen und von Prozessen innerhalb der Organisation, auf Bildungsprozesse und Pflegeforschung auswirkt. 8.2

Würde, Respekt und Mitgefühl: ethische Werte?

Fragen wir zunächst, um was für Begriffe es sich eigentlich bei Würde, Respekt und Mitgefühl handelt. Man spricht heute gern und viel von Werten, von Wertebewusstsein und Werteerziehung. Freilich sollte uns bewusst sein, dass der Wertbegriff in ethischen Zusammenhängen nicht unproblematisch ist.7 Werte sind geschichtlich bedingt und wandelbar. Werte werden gesetzt. Werte – und zwar auch moralische Werte – können im Kurs steigen oder fallen. Wer wertet, wertet auf oder ab. Auch kann – frei nach Nietzsche – eine Umwertung von Werten stattfinden. Was bislang als gut galt, erscheint mit einem Mal als schlecht und umgekehrt. Die Berufung auf Werte birgt auch die Gefahr, Menschen mit abweichenden moralischen Überzeugungen aus der eigenen Wertegemeinschaft auszugrenzen. Wertedebatten führen schnell in Rechthaberei. Der Wertbegriff ist also moralisch ambivalent. Wie problematisch der Wertbegriff in moralischen Zusammenhängen sein kann, zeigt sich gerade am Begriff der Würde, genauer gesagt, am Begriff der Menschenwürde. Ich werde im Folgenden noch genauer darauf eingehen, dass wir zwischen einem allgemeinen Würdebegriff und Menschenwürde deutlich unterscheiden müssen. Das hat, wie noch zu zeigen sein wird, für die pflegerische Praxis Konsequenzen. Zunächst aber möchte ich auf den Unterschied zwischen Wert und Würde aufmerksam machen. Wenn Menschenwürde ein Wert wäre wie andere Werte auch, hinge die Würde eines Menschen davon ab, ob andere ihm diesen Wert zu- oder absprechen. Tatsächlich gibt es Positionen, die davon ausgehen, dass ein Mensch nicht automatisch Menschen- oder Personenwürde besitzt, sondern nur, sofern er bestimmte intellektuelle Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Erinnerungsvermögen und einen eigenen Willen aufweist. Die ethische Position des Utilitarismus etwa orientiert sich nicht grundlegend am Begriff der Menschenwürde, sondern am Begriff des Interesses. Die Frage lautet also nicht, ob der Mensch eine unverlierbare Würde hat und daher in jeder denkbaren Situation ethisch als moralische Person zu achten ist, sondern ob ein Mensch (noch) Interessen besitzt, die in einem ethischen Kalkül aller vorhandenen oder widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen sind. Auch gibt es Positionen, wonach ein Mensch 7

Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 52ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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seine Würde durch eigene Schuld verlieren kann. In dieser Weise hat sich z.B. die Russische Orthodoxe Kirche zu den Menschenrechten geäußert.8 Dass alle Menschen eine unverlierbare Würde und in Verbindung mit diese unveräußerliche Rechte besitzen, einfach deshalb, weil sie Menschen sind, wird in Frage gestellt. Es ist der Philosoph Immanuel Kant gewesen, der das moderne Verständnis von Menschenwürde geprägt und zugleich zwischen Wert und Würde unterschieden hat. Genauer gesagt unterscheidet er zwischen Preis und Würde und attestiert Letzterer einen absoluten Wert. Ein absoluter Wert aber hebt den Wertbegriff im Grunde auf, handelt es sich doch notabene nicht um den relativ höchsten Wert im Vergleich zu anderen, sondern um einen Wert, der – und das meint doch das Wort »absolut« – gar nicht mit anderen verglichen werden kann. Absoluten Wert hat nach Kant alles, was einen Zweck an sich selbst hat, also um seiner selbst willen existiert und zu achten ist. Kant schreibt: »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.«9 Genau das aber gilt nach Kant vom Menschen als einem vernunftbegabten, moralfähigen und zur Selbstbestimmung bestimmten Wesen. Dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde hat, besagt, dass er nicht gegen andere ausgetauscht oder aufgewogen werden kann, dass er nicht zum bloßen Objekt degradiert oder für fremde Zwecke instrumentalisiert werden darf. Daher lautet Kants kategorischer, d.h. immer und unter allen Umständen zu befolgender Imperativ: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«10 Pflegepersonen sind, um es konkret zu machen, einmalige Personen, ausgestattet mit Würde und Individualität, sie sind niemals bloße Arbeitskräfte oder bloßes Humankapital. Patienten sind Menschen und nicht ein Gut, wie es der Ausdruck »Patientengut« insinuiert. Ist der Begriff des Wertes also mit Blick auf die Würde des Menschen problematisch, so ist er auch irreführend, wenn Respekt und Mitgefühl als Werte bezeichnet werden. Die ethische Tradition unterscheidet zwischen moralischen Gütern, Pflichten und Tugenden. Menschenwürde wäre nach dieser traditionellen Einteilung ein Gut – modern ge8 9 10

Vgl. Tobler, Menschenrechte. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 68. A.a.O., 61. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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sprochen ein Wert, wenn man nicht den Wertbegriff in diesem Zusammenhang überhaupt in Frage stellen will, wie wir es aus den genannten Gründen getan haben. Aber man könnte z.B. die Freiheit oder das Recht auf Selbstbestimmung wie überhaupt die Menschenrechte als ein moralisches Gut bezeichnen. Respekt oder Achtung ist kein Wert, sondern, klassisch gesprochen, eine Pflicht, eine ethische Forderung also, während Mitgefühl oder Empathie nach traditioneller Begrifflichkeit eine Tugend ist. Fragen wir nun im Einzelnen nach der genauen Bedeutung der Begriffe Menschenwürde, Respekt und Mitgefühl. Dabei werde ich das Hauptgewicht auf den Begriff der Menschenwürde und seine Bedeutung für die Pflege legen. 8.3

Menschenwürde und Autonomie

Wie ich schon eingangs sagte, ist zwischen einem allgemeinen Begriff von Würde und der Menschenwürde zu unterscheiden. Jemand oder etwas, das Würde hat, wird dadurch gegenüber anderen Personen oder Dingen ausgezeichnet. Wir sprechen z.B. von der Würde eines Amtes. Wenn wir uns etwa in einer Versammlung erheben, wenn der Bundespräsident den Saal betritt, gilt unser Respekt in erster Linie nicht der Person, sondern dem Amt, das die Person verkörpert. Ebenso sprechen wir von der Würde des Gerichts, die dadurch geachtet wird, dass man sich im Gerichtssaal respektvoll benimmt. Zuwiderhandlungen können geahndet werden. Auch von der Würde des Parlaments ist bisweilen die Rede. Gemeint ist damit nicht die Person- oder Menschenwürde der einzelnen Abgeordneten, sondern die Würde der Institution bzw. des staatlichen Organs. Feudale oder Klassengesellschaften sind in verschiedene Stände oder Klassen unterteilt, die unterschiedliche Würde haben. Adelige Personen galten in früheren Zeiten als Personen von hohem Stand, denen eine andere gesellschaftliche Würde zuerkannt wurde als einfachen Bauern oder Handwerkern, von Knechten und Mägden ganz zu schweigen. Amtsinhaber werden gelegentlich noch heute als Würdenträger bezeichnet, und es kann auch heute noch geschehen, dass Geistliche mit Hochwürden angeredet werden. Noch heute gibt es Exzellenzen und Eminenzen, die auf Festversammlungen selbstverständlich als erste begrüßt werden. Die mit dem Stand, dem sozialen Rang oder einem Amt verbundene Würde markiert einerseits einen Unterschied zwischen den Menschen, und sie kann andererseits verloren gehen, sei es, weil man ein Amt verliert, sei es, dass man sich der eigenen Stellung nicht als würdig erwiesen hat. Verglichen mit diesem Begriff von Würde hat der Begriff der Menschenwürde einen zutiefst demokratischen Grundzug. Alle Menschen, © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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so heißt es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sind gleich an Würde und Rechten geboren. Vor Gott und vor dem weltlichen Gesetz sind alle Menschen gleich. In der Sprache der Bibel: Vor Gott gilt kein Ansehen der Person (Act 10,34). Der neutestamentliche Jakobusbrief kritisiert daher scharf, wenn in einer Gemeinde Rangunterschiede gemacht und etwa reichen Gemeindegliedern größere Achtung als armen entgegengebracht wird (Jak 2,1–9). Sie alle sind Gottes Ebenbild. In säkularer Sprache ausgedrückt: Die Menschenwürde kommt einem Menschen zu, einfach weil er ein Mensch ist. Sie kann weder erworben noch verloren werden. Es handelt sich um eine angeborene und unverlierbare Würde. Um es praktisch zu machen: In Medizin und Pflege sind Menschen in gleicher Weise der Hilfe und Pflege bedürftig und haben Anspruch auf unsere Zuwendung, ob sie nun reich oder arm sind, ein Herr Doktor, eine Frau Magister oder ein einfacher Arbeiter, ob sie einen österreichischen Pass haben oder nicht, ob sie an den Gott der Christen, der Muslime oder an gar nichts glauben. Und alle haben sie das gleiche Anrecht auf unsere Achtung, unseren Respekt, die alte Frau aus dem Wiener Gemeindebau nicht weniger wie ein prominentes Mitglied der Seitenblicke-Gesellschaft. Menschenwürde und Menschenrechte gehören unmittelbar zusammen. An oberster Stelle steht unter den Menschenrechten das Recht auf Leben, weiters das Recht auf Gesundheit, aber auch das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung und Privatheit. Aus den Menschenrechten leiten sich wiederum Patientenrechte ab, die ebenfalls für alle Patientinnen und Patienten gelten, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion. Sie besteht auch in allen Phasen des Lebens, von der Geburt bis zum Tod, unabhängig von der körperlichen oder geistigen Verfassung eines Menschen. Nach christlichem Verständnis eignet sie auch schon dem Ungeborenen. Über die Bedeutung der Menschenwürde für die Begründung medizinischen und pflegerischen Handelns wird in der Medizin- und Pflegeethik derzeit intensiv, aber auch höchst kontrovers diskutiert. Inwiefern Menschenrechtsargumente eine ausreichende Basis für ethische Entscheidungen, z.B. am Lebensende, sind, ist umstritten. Strittig sind auch der Inhalt des Begriffs der Menschenwürde und sein Verhältnis zu den Menschen- und Patientenrechten. Ist Menschenwürde der Inbegriff aller Menschenrechte oder ihre Voraussetzung? Ist jede Verletzung von Menschen- oder Patientenrechten auch schon eine Verletzung der Menschenwürde? Und wie ist Menschenwürde konkret auszulegen? Ein grundlegendes Element der Menschenwürde ist die

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Selbstbestimmung des Menschen. Doch wie weit reicht sie? Schließt sie z.B. das Recht der Tötung auf Verlangen ein? Ich möchte in diesem Kapitel weniger auf solche praktischen Fragen als auf die pflegeethischen Grundfragen eingehen, die Begriffe wie Menschenwürde und Selbstbestimmung aufwerfen. Was den inneren Zusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten betrifft, so werden in der philosophischen und juristischen Diskussion unterschiedliche Positionen vertreten.11 Die Menschenwürde kann als Inbegriff der Menschenrechte verstanden werden, der diese in ihrer Gesamtheit benennt, oder sie wird als Bezeichnung für einen Kernbestand elementarer Menschenrechte wie des Rechts auf Leben, des Rechts auf Selbstbestimmung und des Folterverbots verstanden. Menschenwürde kann als Kriterium für die Auslegung der Menschenrechte begriffen werden, als ein mittleres Axiom oder Prinzip neben anderen, oder aber als Letztbegründung der Menschenrechte. In jedem Fall wird man sagen können, dass der Begriff der Menschenwürde für die Menschenrechte eine integrative Funktion hat. Dass der Mensch eine angeborene und unverlierbare Würde hat, zeigt sich darin, dass er grundlegende Menschenrechte besitzt. Diese wiederum lassen sich zusammenfassend auf den Begriff der Menschenwürde bringen. Es sind im Wesentlichen vier Elemente, die den Kern der Menschenwürde ausmachen:12 1. das Recht auf Leben und damit verbunden der Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Gesundheit, 2. das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, 3. die Gleichheit aller Menschen und 4. die Voraussetzungslosigkeit der Geltung von Menschenwürde und damit auch ihre Unverlierbarkeit. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass heute im Zusammenhang mit dem Tier- und Naturschutz auch Tieren und Pflanzen eine Würde zugesprochen wird, so z.B. in der Gesetzgebung der Schweiz.13 Nun ist es an sich zu begrüßen, wenn Tiere nicht mehr als bloße Sachen betrachtet werden und eine kritische Haltung zur Massentierhaltung oder Tierexperimenten eingenommen wird. Die Stärkung von Tierrechten wird aber möglicherweise um den Preis einer Relativierung von Men11

12 13

Aus der umfangreichen Literatur seien genannt: Gerhardt, Die angeborene Würde des Menschen; Quante, Menschenwürde und personale Autonomie; Schaber, Instrumentalisierung und Würde; Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde; Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?; Margalit, Politik der Würde. Vgl. Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 149. Art. 120 der neuen Bundesverfassung der Schweiz. Kritisch äußert sich dazu Fischer, Sittlichkeit und Rationalität, 267–272, ebenso Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 130f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schenrechten erkauft, wenn Menschenwürde und Tierwürde lediglich als zwei verschiedene Ausformungen einer Kreaturwürde aufgefasst werden. Im Begriff der Kreaturwürde steckt die biblische Vorstellung von der Natur und allen Lebewesen als Geschöpfe Gottes. Doch macht die biblische Tradition einen Unterschied zwischen Mensch und übriger Schöpfung, wenn sie die Welt als Schöpfung deutet. Dass alle Geschöpfe ihre eigene Würde haben, entspricht zwar dem biblischen Zeugnis. Doch die Würde des Menschen besteht nach jüdischer und christlicher Tradition darin, dass er zu Gott in einer dialogischen Beziehung steht, die zugleich ein Verantwortungsverhältnis darstellt. Als solcher, zu dem Gott in einer unverbrüchlichen und die Zeit überdauernden Beziehung stehen will, darf der Mensch im Unterschied zu Pflanzen und Tieren niemals zum Gegenstand von Tauschgeschäften und Wertabwägungen gemacht werden, sondern er hat einen unbedingten Selbstzweck, wie Immanuel Kant es in philosophischer Begriffssprache ausgedrückt hat.14 Darum geht es auch nach christlicher Überzeugung nicht an, die tatsächlichen oder mutmaßlichen Lebensinteressen von Schwerkranken oder Menschen mit schweren körperlichen oder intellektuellen Behinderungen gegen die Lebensinteressen gesunder Tiere abzuwägen und die Tötung z.B. eines schwerstbehinderten neugeborenen Kindes für ein geringeres Übel als die Tötung eines Menschenaffen zu achten. Dass es keine ethische Rechtfertigung dafür gibt, Tieren unnötiges Leiden zuzufügen, sei deutlich betont. Die christliche Tradition hat die Lebensrechte von Tieren im Unterschied etwa zu Hinduismus und Buddhismus lange Zeit vernachlässigt oder sogar missachtet. Doch gibt es keinen ethisch vertretbaren Grund, den Begriff der Menschenwürde abzuschwächen, mit unter Umständen weitreichenden Konsequenzen für die Frage, ob die aktive Tötung schwerkranker Menschen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sein könnte. Nun besteht die Gefahr, den Begriff der Menschenwürde allzu inflationär zu verwenden. Wer ständig die Menschenwürde beschwört, entwertet diesen kostbaren Begriff. Aber es sei doch auch darauf hingewiesen, dass das Nachdenken über die Menschenwürde das ethische Bewusstsein im medizinischen und pflegerischen Alltag schärft und Pflegepersonen oder Ärzte für Verletzungen der Menschenwürde sensibilisieren kann. Ausdrücklich sei hervorgehoben, dass Ärzte und Pflegepersonen oder die Angehörigen anderer Gesundheitsberufe in gleicher Weise Anspruch auf die Achtung ihrer Menschenwürde haben 14

Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 60. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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wie Patienten und ihre Angehörigen. Im Blick auf die Patienten oder die zu pflegenden Menschen ist zu sagen, dass die Achtung vor ihrer Würde bedeutet, sie nicht bloß als Fall zu sehen und sich nur mit ihrer Krankheit oder Behinderung zu befassen, sondern sie als einmalige Person mit ihrer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu sehen. Es bedeutet außerdem, ihre Werthaltungen und ihre weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen zu respektieren, auch dann, wenn sie etwa im Blick auf Therapie oder Therapieverzicht Entscheidungen treffen, die von den Überzeugungen des Arztes oder der Pflegeperson abweichen. Zum Kern der Menschenwürde wird das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung gerechnet. Wir sprechen auch von der Autonomie. Die Prinzipien der Patientenautonomie und des informed consent beruhen auf dieser Grundannahme. Sie gelten nicht nur für Therapie und Pflege, sondern auch für die medizinische Forschung und die Pflegeforschung. Strittig ist aber in der philosophischen, theologischen und juristischen Diskussion, ob Autonomie und Menschenwürde im Grunde gleichbedeutend sind. Der Verlust der Autonomie kann in diesem Fall als Verlust der Menschenwürde gedeutet werden, was für die Frage, ob und unter welchen Umständen das Leben eines Menschen – z.B. im irreversiblen Wachkoma – beendet werden darf, oder für das Problem des Hirntodes erhebliche Konsequenzen hat. Nun wird in der medizin- und pflegeethischen Diskussion, z.B. um ein selbstbestimmtes Sterben, häufig mit einem sehr verengten Autonomiebegriff argumentiert, der Autonomie mit Selbstbestimmung gleichsetzt. Diese Auffassung herrscht in der Medizin vor, wenn unter Autonomie die aktuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit sowie die Fähigkeit verstanden werden, seinen Willen zu äußern. Informed Consent – die freiwillige Einwilligung eines Patienten in eine Behandlung oder ihre Ablehnung nach eingehender Aufklärung – und Patientenverfügungen sind dann die praktischen Instrumente, um das Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Folgt man Immanuel Kant, so ist allerdings zwischen Selbstbestimmung und Autonomie zu unterscheiden. Kant setzt die Autonomie mit der eigenen Gesetzgebung des Willens gleich, unterscheidet diese aber von der Willkür, die meint tun und lassen zu können, was man wolle. Unter der eigenen Gesetzgebung des Willens versteht Kant die freiwillige und auf Einsicht beruhende Anerkennung eines allgemeinen Sittengesetzes, durch das sich der Mensch ebenso frei wie sittlich gebunden weiß. Nicht jede Form der Selbstbestimmung genügt daher dem Kriterium der sittlichen Vernunft. Im Übrigen kann ein autonomer Mensch selbstbestimmt handeln, muss es aber nicht. Auch ist die © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Autonomie im Sinne Kants nicht als ein Ausschluss- oder Selektionskriterium zu verstehen, das es zuließe, z.B. Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder bei Verlust des Bewusstseins ihr volles Menschsein, ihr Personsein und ihre Würde abzusprechen. So verstanden besteht auch kein notwendiger Gegensatz zwischen Autonomie und Abhängigkeit, wie sie in gewisser Weise jede ArztPatienten-Beziehung kennzeichnet. Überhaupt ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, auch für einen erfolgreichen Pflegeprozess, das Vorhandensein von Vertrauen. Vertrauen aber, so der Medizinethiker und Theologe Dietrich Rössler, ist akzeptierte Abhängigkeit.15 Die faktische Abhängigkeit des hilfsbedürftigen Menschen darf freilich nicht zur Entmündigung des Patienten führen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass die Selbstbestimmung des Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt wird. Insoweit ist Patientenautonomie ein sinnvolles Prinzip heutiger Medizin- und Pflegeethik, auch wenn man sich am Begriff der Autonomie in diesem Zusammenhang stoßen mag. Gegen die Abstraktion eines solipsistischen Autonomieverständnisses wendet sich das Konzept der relationalen Autonomie, das in der feministischen Ethik entwickelt worden ist.16 Der Mensch ist ein Beziehungswesen, wie besonders die Philosophie des dialogischen Personalismus bewusst gemacht hat. Diese Sicht des Menschen entspricht auch der biblischen Tradition. Ein Ich kann nicht ohne ein Du existieren. Auch die moderne Entwicklungspsychologie und die Psychoanalyse weisen nach, dass das menschliche Selbst in seiner Individualität immer auch ein soziales Selbst ist. Der Begriff der relationalen Autonomie besagt, dass das Selbst auch in seiner Selbstbestimmtheit auf andere verwiesen und angewiesen ist. Das gilt auch für die Bereiche von Medizin und Pflege. »Wenn Autonomie, wie dies in der Bioethik der Fall ist, als elementares Freiheitsrecht zum selbstbestimmten Handeln und somit als normatives Prinzip verstanden wird, so ist diese Einschränkung bzw. Verschränkung der Autonomie mit sozialen Formierungen und Heteronomien genauso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass Autonomie weniger eine Fähigkeit ist als eine reflexive Haltung des Moralsubjekts im Hinblick auf sein Handeln und Sein in der Geschichte.«17 15 16

17

Vgl. Rössler, Der Arzt, 46; siehe auch Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 95. Vgl. Mackenzie/Stoljar (Hg.), Relational Autonomy. Das Konzept der relationalen Autonomie wurde laut Mackenzie und Stoljar erstmals von Jennifer Nedelsky aus feministischer Sicht formuliert. Vgl. a.a.O., 26, Anm. 1. Haker, Narrative Bioethik, 229. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Das Konzept der relationalen Autonomie stimmt in der medizinischen und pflegerischen Praxis mit dem Modell der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) überein.18 Der Patient trifft in der Regel keine einsamen Entscheidungen, sondern er berät sich mit Menschen seines Vertrauens, mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin ebenso wie mit Angehörigen oder ihm sonst nahestehende Personen, vielleicht auch mit einem Psychologen oder einem Seelsorger, einer Seelsorgerin. Das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung ersetzt den herkömmlichen Begriff der Compliance durch die Begriffe adherence und concordance.19 Während Compliance traditionell ein paternalistisches Modell der Arzt-Patienten-Beziehung bzw. der Beziehung zwischen Pflegeperson und Gepflegtem unterstellt – der Patient befolgt die Anordnungen des Arztes oder der Pflegeperson – wird der Begriff Adherence heute davon abgegrenzt. Adherence setzt concordance voraus, also ein partnerschaftliches Aushandeln zwischen Arzt oder Pflegeperson und Patient. Das Modell setzt auf gemeinsame Entscheidungsfindung und Therapiezielvereinbarung. Die WHO (2003) definiert Adherence als »das Ausmaß, in dem das Verhalten einer Person, wie die Medikamenten-Einnahme, ein Diät-Regime und/ oder eine Lebensstiländerung, mit den mit dem Therapeuten vereinbarten Empfehlungen übereinstimmt«. Ein abstrakter, solipsistischer Autonomiebegriff nimmt die besondere Hilfs- und Schutzbedürftigkeit von Schwerkranken und Sterbenden nicht wahr. Es ist philosophisch wie theologisch betrachtet problematisch, die Würde des Menschen an ein Autonomiekonzept zu binden, das Individualität mit Autarkie und völliger Unabhängigkeit verwechselt und folglich jede Form der Abhängigkeit, der Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit auf andere als narzisstische Kränkung erlebt. Ein solches Autonomieverständnis führt dazu, Leiden und Schwäche grundsätzlich als sinnlos und als menschenunwürdig zu betrachten, anstatt Krankheit, Leiden und Sterben als festen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Solch einem abstrakten Begriff von Autonomie und Selbstbestimmung setzten Farideh Akashe-Böhme und ihr Mann Gernot Böhme den Gedanken der Souveränität entgegen: »Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann.«20 Im Unterschied dazu ist »Autonomie bis zuletzt« nicht selten eine Fiktion. Wohl ist es richtig, das Selbstbestimmungsrecht auch am 18 19 20

Vgl. Butzlaff/Floer/Isfort, »Shared decision making«. Vgl. Gray/Wykes/Gournay, From compliance to concordance. Akashe-Böhme/Böhme, Mit Krankheit leben, 62; vgl. a.a.O., 85. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Lebensende zu achten. Doch selbst eine noch so ausgefeilte Patientenverfügung ändert nichts an dem Umstand, dass der Patient »der verantwortlichen Entscheidung Dritter anheimgegeben ist«21. Die deutsche Juristin Margot v. Renesse gibt zu bedenken: »›Patientenautonomie‹ ist die goldene Seite einer Medaille, deren Nachtseite die schiere Angst ist, dass niemand ›seines Bruders Hüter‹ sein will.«22 Autonomie im Sinne Kants lässt sich als wesentlicher Ausdruck der Menschenwürde interpretieren, diese ist aber – zumindest nach einem biblisch begründeten theologischen Verständnis von der Autonomie nochmals zu unterscheiden. Die biblische Tradition spricht an dieser Stelle von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die sich nicht auf seine Moralfähigkeit reduzieren lässt, so gewiss der Mensch seinem Wesen nach zu einem selbstbestimmten und bewussten Leben bestimmt ist. So betrachtet ist allerdings die Weise, in der Kant die Menschenwürde an die Autonomie bindet, problematisch. Unser Personsein, das in der Fähigkeit zu zwischenmenschlicher Kommunikation besteht, ist bereits mit unserer leiblichen Existenz gegeben. Auch Menschen im sogenannten Wachkoma, auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz sind ebenso wie ungeborene Kinder nach diesem Verständnis Personen, die ein Recht darauf haben, auch dann als Personen in unsere menschliche Kommunikationsgemeinschaft einbezogen zu bleiben, wenn sie sich nicht an moralischen Diskursen beteiligen oder überhaupt nicht verbal kommunizieren können. Auch nonverbale Kommunikation ist eine Form der menschlichen und das heißt der personhaften Kommunikation. 8.4

Respekt, Achtung und Anerkennung

Wer Menschenwürde besitzt, hat Anspruch auf Achtung und Respekt, Respekt vor der Person wie auch vor ihren Überzeugungen und Entscheidungen. Letztlich geht es bei Respekt um Anerkennung. Existentielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung.23 Auch in Medizin und Pflege findet täglich ein Kampf um Anerkennung statt. Es geht eben nicht allein um Geld und Macht, sondern auch um Anerkennung und Achtung der eigenen Person, um Wertschätzung der geleisteten Arbeit ebenso wie des Menschen. Nicht nur Patienten 21 22 23

v. Renesse, Patientenverfügung, 146. Ebd. Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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und ihre Angehörigen, sondern auch Pflegepersonen, Ärzte und sonstige Berufsgruppen im Gesundheitswesen kämpfen um Anerkennung, und zwar nicht bloß auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der Ebene von Berufsvertretungen und Interessensverbänden. Wenn ich im Anschluss an Hegel und Axel Honneth von einem Kampf um Anerkennung spreche, möchte ich auf die Konfliktpotentiale im klinischen oder im pflegerischen Alltag hinweisen, die sich mit dem schönen Wort Respekt verbinden können. Der Kampf um Anerkennung ist immer auch ein Kampf um Aufmerksamkeit. Ein respektloses Verhalten kann unter Umständen ein Mittel sein, um die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Es kann aber auch der Ausdruck von Zynismus sein, der sich im Beruf einschleicht, eine Reaktion auf Arbeitsbedingungen, die Menschen ihrer Ideale beraubt und ihnen jede Illusion nimmt. Respektlosigkeit kann eine mehr oder weniger subtile Form der Gewaltausübung darstellen. Und es wäre ein eigenes Thema, über Macht und Ohnmacht, Gewalt und Gegengewalt in Pflege und Medizin zu sprechen. Ich möchte mich nur auf zwei Gesichtspunkte beschränken, was die moralische Verpflichtung zu Respekt und Achtung in der Pflege betrifft. Zum einen möchte ich die Bedeutung des Leibes für die Person ansprechen, zum anderen den Zusammenhang zwischen Respekt und Selbstachtung. Was den Leib oder den menschlichen Körper betrifft, so liegt mir an der Feststellung, dass das menschliche Personsein stets an die leibliche Existenz gebunden ist. Menschenwürde kommt der Person des Menschen zu, die aber raumzeitlich und das heißt leiblich existiert. Eben darum gehören das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit zum Kern der Menschenwürde. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellt mit Recht fest, dass die Gewalt, die meinem Körper angetan wird, stets mir selbst angetan wird.24 Indem Pflegepersonen oder Ärzte mit dem Körper eines Patienten umgehen, pflegen sie einen bestimmten Umgang mit der Person, die Träger dieses Körpers ist. Insbesondere die Pflege von bewusstlosen Patienten oder Patienten im Wachkoma hat sich dessen bewusst zu sein. Körperpflege, pflegerische und medizinische Behandlung bedeuten nicht bloß die Versorgung eines menschlichen Organismus, sondern die Sorge um eine Person. Körperkontakte sind eine Form der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Respekt vor dem Menschen und seiner Würde schließt also den respektvollen körperlichen Umgang ein. Diese Pflicht des Respekts reicht über den Tod von Patienten hinaus. Der 24

Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 112. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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respektvolle Umgang mit dem Leichnam ist Ausdruck unseres Respekts gegenüber der Person, die in diesem Körper leibhaftig präsent war und deren Körper die Spuren ihrer Lebens- und Leidensgeschichte an sich trägt. Der zweite Gesichtspunkt, den ich noch ansprechen möchte, ist der Zusammenhang von Respekt und Selbstachtung. Die Würde des Menschen in der Person des anderen wie der eigenen zu achten, setzt voraus, dass man sich selbst mit Achtung begegnet und achtsam mit sich selbst, seinem eigenen Leben, seinem eigenen Körper und seiner eigenen Gesundheit umgeht. Die Forderung des Respekts ist nur dann ethisch begründet, wenn zugleich die Selbstachtung dessen respektiert wird, von dem Respekt verlangt wird. Kant hat in diesem Zusammenhang von Pflichten gesprochen, die der Mensch gegen sich selbst habe. Die Selbsterhaltung sei eine solche Pflicht, weshalb die Selbsttötung in jedem Falle sittlich verwerflich sei. Nun mag es durchaus Situationen geben, in denen wir an die Selbstachtung eines Menschen appellieren. Aber mit bloßen Appellen allein wird die Selbstachtung eines Menschen, die mit seinem Selbstwertgefühl zusammenhängt, kaum zu mobilisieren und zu fördern sein. Und wer jegliches Selbstwertgefühl verloren hat, wird auch durch den Hinweis auf die vermeintliche Pflicht zur Selbsterhaltung kaum am Suizid zu hindern sein. Wenn wir über die ethische Pflicht des Respekts im Umgang mit Patienten und Angehörigen wie auch im Umgang untereinander nachdenken, sollten wir eben auch die Frage einschließen, wie sich das Selbstwertgefühl von Menschen und ihre Selbstachtung fördern lassen und welche Faktoren Selbstachtung und Selbstwertgefühl schwächen oder gar ernsthaft gefährden. Ich denke konkret an das Thema der Patientensicherheit.25 Nachdem lange Zeit über Behandlungsfehler der Mantel des Schweigens gelegt wurde oder im Fall, dass Fehler publik wurden, nach den Schuldigen gesucht und ihre Bestrafung gefordert wurde, setzt nun allmählich ein Umdenken ein. Wenn heute die Forderung nach einer Fehlerkultur im Gesundheitswesen erhoben und auch praktische Konzepte zur ihrer Verwirklichung erprobt werden, steht als eine wesentliche Erkenntnis am Beginn, dass man das Entstehen wie das Vermeiden von Fehlern als Problem der gesamten Organisation einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung betrachten muss; dass es nicht darum geht, einzelne Schuldige ausfindig zu machen und bloßzustellen, sondern darum, wie alle 25

Vgl. Holzer/Thomeczek/Hauke/Conen/Hochreutener, Patientensicherheit; Paula, Patientensicherheit und Risikomanagement; Schröttner, Patientensicherheit im Gesundheitswesen. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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aus Fehlern lernen können, um sie künftig zu vermeiden. Und nicht zuletzt geht es darum, das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung einer Person, die nachweislich fehlerhaft gehandelt hat, zu stützen oder auch neu aufzubauen, damit sie weiter als respektiertes Mitglied in einem Team arbeiten kann, statt sie hinauszudrängen oder ins Burnout zu treiben. 8.5

Mitgefühl und Empathie

Wer anderen helfen will, kann dies wohl kaum ohne Mitgefühl oder Empathie tun. In der klassischen Sprache der Ethik kann man von einer Tugend sprechen. Nun ist die Rolle von Gefühlen in der Ethik höchst umstritten. Namentlich Kant hat erklärt, dass ein Handeln nur dann moralisch sei, wenn es sich nicht von Gefühlen wie Zu- oder Abneigung, sondern von Vernunftgründen leiten ließe. Im Gegensatz dazu hat Arthur Schopenhauer eine Ethik des Mitleids entworfen, und auch in neueren ethischen Entwürfen spielt die Fähigkeit des Mitleidens und des Mitgefühls – englisch compassion – eine erhebliche Rolle.26 Die Rolle von Empfindungen und Gefühlen wird gegenwärtig von Konzeptionen einer narrativen Ethik betont. Narrative Ethik stellt nicht nur die Bedeutung der Lebensgeschichte moralischer Akteure heraus – wir alle sind in Geschichten verstrickt –, sondern sie argumentieren darüber hinaus, dass sich die Erfahrung und Wahrnehmung moralischer Phänomene vornehmlich durch Erzählungen, durch die Schilderung von Einzelsituationen erschließt, die paradigmatische Bedeutung haben oder gewinnen. Folgt man dem evangelischen Theologen Johannes Fischer, so ist Narrativität ein entscheidender Schlüssel für die moralische Erkenntnis und Urteilsbildung.27 Nach Fischers Urteil sind es nicht moralische Regeln und Prinzipien, die auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit überprüft worden sind, sondern Narrative, »mit denen wir in aller Regel in unserer Alltagsverständigung unser Handeln begründen, nämlich indem wir die Situationen schildern, die uns zu ihm veranlasst haben«28. In solchen Narrativen wie überhaupt für die moralische Erkenntnis spielen nach Fischers Überzeugung Emotionen eine tragende Rolle, deren Bedeutung von Teilen der heutigen Ethik notorisch verkannt werde. Gegen den möglichen Vorwurf des Emotivismus setzt sich Fi26 27 28

Vgl. Metz/Kuld/Weisbrod (Hg.), Compassion. Vgl. Fischer, Sittlichkeit und Rationalität, 146ff. A.a.O., 13. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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scher zur Wehr, indem er auf Studien verweist, nach denen es sich bei Emotionen keineswegs nur um Gefühle oder Affekte handelt, sondern um »etwas, das einen kognitiven Gehalt besitzt«29. Fischers Gegenüberstellung von narrativer und argumentativer Begründung sittlichen Verhaltens vermag freilich nicht zu überzeugen. Fischer liefert zwar Beispiele, wie Erzählungen in Alltagssituationen als Rechtfertigung eines bestimmten Verhaltens oder Handelns funktionieren, doch setzen diese Beispiele voraus, dass im Hintergrund moralische Normen und Prinzipien stehen, die vom Erzähler wie von seinen Adressaten anerkannt werden. Wer z.B. sein Fernbleiben vom Arbeitsplatz mit dem Hinweis entschuldigt, sein Vater sei erkrankt und habe dringend Hilfe benötigt30, kann doch nur dann mit Verständnis rechnen, wenn grundsätzlich Einigkeit über unsere moralische Pflichten und Regeln der Güterabwägung zwischen persönlicher Not und beruflichen Anforderungen herrscht. Wo dies nicht der Fall ist, werden Narrative zum Anlass für explizite argumentative Auseinandersetzungen. Das ließe sich auch an Beispielen aus dem pflegerischen Alltag studieren. Was nun konkret die Empathie betrifft, so kann sie in der Tat durch entsprechende Beispielgeschichten und Erfahrungsberichte gefördert werden. Doch ist grundsätzlich zu beachten, dass Empathie für sich genommen keine hinreichende Basis für ein Ethos und eine Ethik der Pflege ist. Man kann aus reinem Mitgefühl das ethisch wie pflegerisch Falsche tun, bis dahin, dass Menschen bereit sind, aus Mitleid zu töten. Man kann vom Mitleid oder Mitgefühl derart überwältigt werden, dass die Distanz, die für professionelles Handeln nötig ist, verloren geht.31 Es ist also darüber zu diskutieren, wieviel Empathie Pflege als Beruf nicht nur benötigt, sondern auch verträgt. Zur Professionalität der Pflege gehört eine distanzierte Nähe, für die eine emotional gefärbte Zuwendung kein Wert an sich ist. Wer Pflege als Beruf ausübt, muss sich nicht nur in andere Menschen hineinversetzen, sondern sich auch von Patienten, Angehörigen und sonstigen Personen abgrenzen können, soll es nicht zu einem Helfersyndrom kommen. Mitgefühl ist zweifellos eine Grundbedingung der Fürsorge. Nun gibt es Konzeptionen von Pflegeethik, welche die Fürsorglichkeit bzw. eine Care-Ethik zur theoretischen Basis haben. Es ist aber, wie schon eingangs erwähnt wurde, 29

30 31

A.a.O., 13f. Fischer stützt sich dabei auf den englischen Philosophen Harold Arthur Prichard, den er gegen die Kritik, ein Emotivist zu sein, in Schutz nimmt. Vgl. Fischer, Sittlichkeit und Rationalität, 13 u.ö. Vgl. auch Körtner, Ethik im Krankenhaus, 38f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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zwischen einem weiten und einem engen Begriff von Pflege, zwischen Pflege als allgemein menschlichem Verhalten und Pflege als Beruf oder anders gesagt zwischen Caring und Nursing zu unterscheiden.32 Pflegeethik hat zu klären, wie viel caring das nursing einerseits braucht und andererseits verträgt. Bedenkt man den möglichen Konflikt zwischen Patientenautonomie und Fürsorgeprinzip, so gehört es offenbar zu einer ethisch reflektierten Praxis des nursing, im Einzelfall auf das caring auch verzichten zu können. Zur professionellen Pflege gehört die Fähigkeit zur ethisch begründeten Selbstbegrenzung in der Fürsorge. Dementsprechend will auch die Tugend des Mitgefühls und der Empathie kritisch bedacht und begleitet sein. 8.6

Zu guter Letzt

Ich komme zum Schluss. Das moralische Gut der Menschenwürde, die Pflicht des Respekts und die Tugend des Mitgefühls charakterisieren sicher wesentliche Züge eines pflegerischen Ethos. Sie sind aber um Prinzipien wie Fürsorge und Gerechtigkeit zu ergänzen. Allerdings können die genannten Größen auch in Spannung zueinander treten. Der Respekt vor der Würde und der Autonomie des Patienten kann in Konflikt mit dem Gebot der Fürsorge treten, Mitgefühl oder Empathie wiederum kann in Paternalismus umschlagen, d.h. in Bevormundung und einen manipulativen Umgang mit dem Patienten. Umgekehrt kann die einseitige Betonung der Autonomie dazu führen, dass dem Patienten die gebotene Zuwendung und Hilfe vorenthalten wird. Es gibt Situationen, in den es ethisch gerechtfertigt ist, einen Menschen vor sich selbst zu schützen, und das nicht nur, wenn möglicherweise Dritte zu Schaden kommen. Allerdings stößt heute ein medizin- und pflegeethisches Ethos, das grundsätzlich davon ausgeht, besser als der Patient oder die Patientin zu wissen, was für ihn oder sie gut ist, mit Recht auf Ablehnung. Mit dem Prinzip der Gerechtigkeit kann das Fürsorgeprinzip oder die Haltung der Fürsorglichkeit in Konflikt geraten, weil Fürsorge-Beziehungen auf ambivalente Weise mit Parteilichkeit (mit dem Patienten oder der Patientin) und Partikularität einhergehen. Mit solchen Spannungen und möglichen Konflikten rational umzugehen, dazu kann die Pflegeethik einen wichtigen Beitrag leisten.

32

Dallmann, Fürsorge als Prinzip? © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Seelsorge im Gesundheitswesen1

9.1

Veränderte Rahmenbedingungen für Klinik- und Altenheimseelsorge

Thema des vorliegenden Kapitels ist die Rolle der Seelsorge, nicht der einzelnen Seelsorgerin oder des Seelsorgers im Gesundheitswesen. Ich werde also einen systemischen Blick auf die Seelsorge im Krankenhaus, in Alten- und Pflegeheimen richten, und zwar aus Sicht der Medizin- und Pflegeethik. Am Beginn soll eine kurze Skizze des Strukturwandels stehen, der die Klinik- und Altenheimseelsorge herausfordert, ihren Standort, ihre Aufgabe und ihre Identität neu zu bestimmen. Beide, Klinik- wie Altenheimseelsorge finden innerhalb von Einrichtungen des Gesundheitswesens statt, die nicht nur als Organisationen, sondern auch als ökonomische Unternehmungen zu begreifen sind. Das Thema der Seelsorge im Gesundheitswesen reicht aber über intramurale Dienste hinaus. Sie schließt extramurale Formen der Seelsorge an kranken, pflegebedürftigen und alten Menschen ein. Nun ist das Verhältnis von gemeindlicher Seelsorge zur Klinik- und zur Altenheimseelsorge von jeher ein wichtiges Thema. Im Zuge von strukturellen Veränderungen im Gesundheitssystem, z.B. aufgrund verkürzter Liegezeiten in Krankenhäusern, kommt aber den Schnittstellen zwischen intramuraler und extramuraler Seelsorge künftig mehr Bedeutung zu. Wie in der medizinischen und pflegerischen Betreuung ist auch in der Seelsorge ein verstärktes Schnitt- oder Nahtstellenmanagement wünschenswert.

1

Vortrag beim Studientag »Seelsorge im Gesundheitswesen – zwischen Vision und Absorption« der Konvente der Klinikseelsorge und der Altenheimseelsorge in der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau, 29.9.2010, Ev. Akademie Arnoldshain. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Und noch ein weiterer Aspekt unseres Themas sei gleich zu Beginn genannt: Klinik- und Altenheimseelsorge stehen vor der Herausforderung, ihr Verhältnis zu den psychosozialen Diensten in Gesundheitseinrichtungen zu klären. Sabine Allwinn, Christoph Schneider-Harpprecht, und Kristina Skarke plädieren nicht nur für eine verstärkte Kooperation sondern dafür, psychosoziale Dienste und Seelsorge neben Medizin, Pflege und Ökonomie gemeinsam als vierte Säule auszubauen.2 Auch das Schnittstellenmanagement der Seelsorge zwischen extramuraler und intramuraler Versorgung wäre dementsprechend multiprofessionell weiterzuentwickeln. Werfen wir zunächst einen Blick auf die veränderten institutionellen Rahmenbedingungen der Krankenhaus- und der Altenheimseelsorge. Kliniken wie Alten- und Pflegeheime sind Unternehmen, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten und auch Gewinne lukrieren müssen. Das gilt nicht nur für private Anbieter und kommunale Einrichtungen, sondern auch für Häuser in kirchlicher Trägerschaft. Die Abkehr vom Kostendeckungsprinzip zu Fallpauschalen hat in allen Bereichen des Gesundheitswesens wie auch in der sozialen Arbeit zu einem grundlegenden Systemwechsel geführt, der auch Diakonie und Caritas betrifft. Schließlich müssen auch kirchliche Krankenhäuser nach DRG-Richtlinien arbeiten und sich gegen die Konkurrenz von Mitbewerbern auf dem Gesundheitsmarkt behaupten. Die Diakonie bewegt sich vom Ideal der Dienstgemeinschaft hin zum Leitbild einer Dienstleistungsgemeinschaft. Im Zuge einer Modernisierung des diakonischen Dienstverständnisses wird mittlerweile freilich verstärkt auf den betriebswirtschaftlichen Aspekt des Dienstleistungsbegriffs zurückgegriffen. Wie in anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens führt die Dienstleistungsorientierung auch bei Diakonie und Caritas »unweigerlich zu einer Kostenträgerorientierung«3. Und auch die Seelsorge, die neben der Fürsorge zu den Grundaufgaben der Diakonie gehört,4 versteht sich inzwischen im diakonischen Kontext als Dienstleistung, die nicht nur die Aufgabe hat, dem Einzelnen seelische und geistliche Hilfe anzubieten, sondern auch »eine religiös und ethisch geprägte Beziehungskultur«5 in einem diakonischen Unter-

2 3 4 5

Allwinn/Schneider-Harpprecht/Skarke, Psychosoziale Dienste. Weber, Diakonie in Freiheit?, 37. Vgl. Schibilsky, Diakonie VI, 799. Allwinn/Schneider-Harpprecht, Einleitung, in: dies. (Hg.), Psychosziale Dienste und Seelsorge, 7–15, hier 13. Vgl. dazu dort ausführlich Schneider-Harpprecht, Profil. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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nehmen oder einem Krankenhaus zu entwickeln, das möglicherweise keinen diakonischen Träger hat. Die Forderung nach Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in Diakonie und Seelsorge sind eine Folge der verstärkten Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Auch wenn sich die Diakonie selbst für die Implementierung von Grundsätzen der Qualitätssicherung in der Sozialgesetzgebung eingesetzt hat, stammen Idee und Instrumente des Qualitätsmanagements doch nicht aus der kirchlichen Arbeit, sondern aus der modernen Ökonomie. Von hier werden sie heute in den sozialen Bereich ebenso wie in den Bildungsbereich, in Schule und Universitäten übertragen. In der Wirtschaft dient Qualitätsmanagement dem Ziel, durch Erhöhung der Kundenzufriedenheit die Marktposition eines Unternehmens zu sichern und seine Ertragslage zu verbessern. Nüchtern betrachtet stand am Anfang der Entwicklung im Bereich der Diakonie nicht der Wunsch, die Lebensqualität von betreuten Menschen, Patienten oder Heimbewohnern zu verbessern, sondern der ökonomische Druck, der vom Umbau des Sozialstaats und der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips ausging. Wenn inzwischen auch die Krankenhaus- und die Altenheimseelsorge Konzepte der Qualitätsentwicklung und -kontrolle aufgelegt haben, so reagieren sie damit nicht nur auf den verstärkten ökonomischen Druck, dem sich die Seelsorge ausgesetzt sieht, sondern sie versuchen auch, die eigene Sichtbarkeit und öffentliche Anerkennung gegen Tendenzen zu ihrer Marginalisierung zu verstärken. Ökonomischer Druck kommt schließlich nicht nur von Seiten der Krankenhaus- oder Altenheimträger, sondern auch von den Landeskirchen, deren knapper werdende Finanzen ebenso wie der demographische Wandel und eine veränderte religiöse Landschaft zu umfassenden Strukturreformen nötigen. Hierbei geht es nicht nur darum, die Prioritäten und Kernaufgaben kirchlicher Arbeit neu zu definieren, sondern auch darum, angesichts sinkender Kirchensteueraufkommen neue Finanzierungsmodelle zu entwickeln. Neben zusätzlich erhobenen Kirchenbeiträgen, Spendenaufkommen und Fundraising werden auch neue – ich scheue mich nicht, diesen Begriff im Zusammenhang mit kirchlicher und diakonischer Arbeit zu verwenden – Geschäftsmodelle für kirchliche Dienstleistungen zum Thema. Dies kommt auch auf die Klinik- und Altenheimseelsorge zu. Krankenhausseelsorge, wie wir sie bislang in Deutschland oder Österreich kennen, ist ein kirchlicher Arbeitsbereich. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger werden von den Landeskirchen rekrutiert und bezahlt, oder sie sind bei einem diakonischen Träger angestellt. In den verschiedenen Landeskirchen ist die Klinikseelsorge allerdings personell sehr un© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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terschiedlich ausgestattet. Manche Landeskirchen versuchen, einen Schlüssel von 400 Betten pro Seelsorgestelle anzuwenden. Das sind bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 10 Tagen 14.000 Patienten pro Jahr. Vielerorts wird aber nicht einmal dieser Richtwert erreicht.6 Wenn die Antwort auf die Finanzkrise der Kirche lediglich im Stellenabbau und speziell im Abbau von Funktionspfarrstellen besteht, droht die Krankenhaus- und Altenheimseelsorge auf ein Niveau zurückzufallen, dass man mit der Seelsorgebewegung der 1970er Jahre überwunden zu haben glaubte. Knapper werdende Finanzmittel nötigen Kirchen, Krankenhäuser und Altenheime in jedem Fall, ihre Form der Zusammenarbeit im Bereich der Seelsorge sowie die vorhandenen Konzepte und Finanzierungsmodelle zu prüfen. Begreift man Seelsorge als Dienstleistung, wäre es zum Beispiel vorstellbar, dass diese Leistung nicht mehr von den Landeskirchen finanziert, sondern den Abnehmern in Rechnung gestellt wird. Das wären dann wohl nicht die einzelnen Patientinnen und Patienten, sondern das Krankenhaus oder das Altenheim, vorausgesetzt, die Klinikseelsorge beschränkt sich nicht auf die Begleitung von Patienten und Angehörigen, sondern übernimmt eine klar definierte Funktion für die gesamte Organisation der Einrichtung, z.B. durch feste Einbindung in ein Ethikkomitee, durch seelsorgliche Begleitung des Personals und Mitarbeit bei der Erstellung und Implementierung des Unternehmensleitbildes. Bei diesem Modell bleiben die Seelsorgerinnen und Seelsorger weiterhin bei der Landeskirche beschäftigt und arbeiten in ihrem Auftrag. Die Kosten werden jedoch teilweise oder ganz auf den Erhalter des Krankenhauses oder Altenheims verlagert. Solch ein Modell kann freilich nur funktionieren, wenn man auch nichtkirchlichen Krankenhausträgern einsichtig machen kann, welchen systemischen oder organisationalen Nutzen er vom Angebot der Klinikseelsorge hat. Nun gibt es Berechnungen, die zeigen, dass die seelsorgliche Begleitung von Patienten kostensenkend wirkt, weil sie sich positiv auf Compliance und Coping des Patienten auswirkt und damit zu einer kürzeren Verweildauer im Spital beiträgt, die Zufriedenheit der Patienten, die man als Kunden begreift, erhöht und der Imagepflege des Krankenhauses dient, z.B. weil sich Patienten und ihre Angehörige nach ihrer Entlassung gern an das Krankenhaus erinnern und es anderen weiterempfehlen. Solche Überlegungen führen in den USA und Großbritannien zu einem anderen Geschäftsmodell. Hier sind Krankenhäuser im Zuge der Privatisierung oder der Reorganisation von staatlichen Kliniken im briti6

Vgl. Klessmann, Von der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge, 85. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schen New Health System als »trusts« dazu übergangen, die Seelsorge als eigenes Department und Teil des Unternehmens zu organisieren. In diesem Modell verliert die Seelsorge jedoch ihr traditionelles kirchlich-konfessionelles Profil. ank verändert sich in Richtung einer religiös pluralistischen »Spiritual Care«, die auch den spirituellen Bedürfnissen von Menschen gerecht werden soll, die keine enge Bindung an eine Kirche oder Religionsgemeinschaft und deren religiöse Überzeugungen und Rituale haben. Ansätze zur Übernahme des Konzepts einer transkonfessionellen und religiös pluralistischen »Spiritual Care« gibt es inzwischen auch in Deutschland. An der Universitätsklinik München wurde 2010 die erste Professur für Spiritual Care Deutschlands eingerichtet. Sie ist am Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin (IZP) angesiedelt und zu je 50 Prozent mit einem evangelischen und einem katholischen Theologen ökumenisch besetzt. Allerdings ist wohl nicht damit zu rechnen, dass sich die Krankenhaus- und Altenheimseelsorge in nächster Zeit ähnlich wie in Großbritannien, den USA oder den Niederlanden flächendeckend zu einem privatwirtschaftlich und korporativ organisierten, religiös pluralen Angebot von Vertretern verschiedener Konfessionen und Religionen entwickelt. Die veränderte ökonomische Struktur und insbesondere die Einführung von »Diagnosis Related Groups« (DRG) als Grundlage für die Abrechnung der Klinik mit den Kostenträgern führt aber auch in Deutschland dazu, die Seelsorger verstärkt unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu betrachten.7 Sofern Krankenhäuser bereit sind, Seelsorger auf privatwirtschaftlicher Basis einzustellen, tauchen nicht nur dienstrechtliche und ordinationsrechtliche Fragen auf. Die kirchliche Bindung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, ihr kirchlicher Auftrag und ihr Selbstverständnis müssen auch unter pastoraltheologischen wie ekklesiologischen Gesichtspunkten neu diskutiert werden. Ist die Seelsorgerin, der Seelsorger Zeuge des Evangeliums oder religiöser Dienstleister? Ist das eine echte Alternative, oder kann ein Seelsorger, eine Seelsorgerin beides zugleich sein? Soll die Kirche ihren biblischen Auftrag heute so verstehen, dass sie sich aktiv an der Entwicklung von unspezifischen, religiös pluralistischen Angeboten von Spiritual Care beteiligt, oder soll sie gerade ihr christliches und konfessionelles Profil schärfen? Das muss ja nicht im Gegensatz zu einer ökumenischen Gesinnung geschehen, aber damit ist noch nicht entschieden, wie weit neben einer Ökumene der christlichen Konfessionen eine Ökumene der Religionen angestrebt und wie sie ausgestaltet wird. 7

Vgl. Schneider-Harpprecht, Profil, 151. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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9.2

Konzepte heutiger Krankenhaus- und Altenheimseelsorge

Als Antwort auf die veränderten Rahmenbedingungen heutiger Krankenhaus- und Altenheimseelsorge wie auch auf die Gefahr ihrer Marginalisierung werden heute verschiedene Leitbilder und Konzepte diskutiert. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Blick auf die soziale und funktionale Einbindung der Seelsorge in die Klinik oder das Altenheim richten. Der systemtheoretische oder organisationstheoretische Zugang führt aber zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. 1. Der evangelische Theologe Michael Klessmann schlägt das Leitbild von Krankenhausseelsorge im »Zwischen«-Raum vor.8 Es geht von den bisher üblichen rechtlichen Rahmenbedingungen der Klinikseelsorge aus, wonach die Kirche in der Regel nicht nur den Seelsorgeauftrag erteilt, sondern auch der Anstellungsträger ist, der die Dienstund Fachaufsicht ausübt. Das Krankenhaus oder Altenheim ist die Dienststelle des Seelsorgers, der Seelsorgerin und gibt der Klinikseelsorge die institutionellen Rahmenbedingungen vor. Institutionell zwischen Kirche und Krankenhaus angesiedelt bewegt sich die Seelsorge im »Zwischen«-Raum. Wohl arbeitet sie mit den Patienten und ihren Angehörigen, mit Ärzten, Pflegenden, sonstigen Mitarbeitern und Klinikleitung zusammen, ist aber nicht ein Teil der Krankenhausorganisation, sondern bildet ein Gegenüber. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger repräsentieren die Kirche am Ort des Krankenhauses oder Altenheims, ihre Arbeit bewegt sich methodisch zwischen Bezeugung des Evangeliums und Beziehungsarbeit. Ihre Sicht des Menschen und der Welt steht quer zur medizinisch-therapeutischen Sicht von Krankheit und Gesundheit, weil sie den Menschen aus der Perspektive des biblisch bezeugten Evangeliums in seiner Ganzheit, aber auch in seiner Gebrochenheit und seinem Transzendenzbezug wahrnimmt. Klessmanns Modell eröffnet der Klinikseelsorge ein großes Maß an Freiheit und Rollenflexibilität, allerdings um den Preis, dass ihre strukturelle Fremdheit und Marginalität, unter der Seelsorgerinnen und Seelsorger häufig leiden, institutionell festgeschrieben wird. 9 Zu ihrer Marginalisierung trägt aus Sicht der Krankenhausorganisation allerdings auch die übliche rechtliche und finanzielle Regelung der Seelsorge bei. Von der Landeskirche bezahlt und dienstrechtlich stark außerhalb des Krankenhauses oder des Altenheims verankert, spielen sie 8 9

Klessmann, Einleitung: Seelsorge in der Institution »Krankenhaus«, in: ders. (Hg.), Handbuch, 15–29. Zur Kritik vgl. auch Schneider-Harpprecht, Profil, 153. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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in der Mitarbeiterschaft eine Sonderrolle. Sie gehören nicht eigentlich dazu. Das erschwert ihre organisatorische Integration wie auch die Kooperation mit den anderen Professionen im Krankenhaus. 2. Ein zweites Modell deutet die Krankenhausseelsorge als Form der Mystagogik.10 Man findet es auf katholischer wie auf evangelischer Seite. Der evangelische Theologe Manfred Josuttis versteht den Seelsorger oder die Seelsorgerin als Führer ins Heilige, wobei er in Aufnahme von Rupert Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder und der fernöstlichen Chakrenlehre den Geist Gottes als kosmisches Kraftfeld auffasst.11 Der katholische Theologe Erhard Weiher verbindet das Konzept der Mystagogik mit dem Modell der Seelsorge im Zwischenraum, das wir schon bei Michael Klessmann kennengelernt haben, das bei Weiher aber eine andere Konnotation bekommt.12 Sein Konzept setzt bei den drei anthropologischen Grundfunktionen des Denkens, Fühlens und Handelns an. Die Seelsorge soll das menschliche Leben in seiner Gesamtheit und die Übergänge oder Zwischenräume zwischen den drei genannten Grundfunktionen in den Blick nehmen. Das Ziel der Seelsorge ist es, den Menschen in das Geheimnis der menschlichen Person einzuführen, das auf eine transzendente Mitte des Seins und einen letzten Sinn hinweist. Das aber ist nach Weiher »die ›heilige Wirklichkeit‹, die Glaubende Gott nennen«13. Darüber hinaus soll die Seelsorge zwischen der Welt des Patienten, derjenigen der medizinischen und therapeutischen Experten, der Organisation des Krankenhauses und der Welt der religiösen Symbole und theologischen Deutungsmustern vermitteln. Und schließlich soll die Seelsorge für alle Berufsgruppen die ethische Dimension ihrer alltäglichen Arbeit im Krankenhaus erschließen. Zweifellos besteht eine wichtige Aufgabe der Klinikseelsorge darin, Menschen dabei zu helfen, das Leiden, Erfahrungen des Sinnwidrigen und Ängstigenden in das eigene Leben zu integrieren. Dabei kann die religiöse Sinndeutung mit Hilfe von Symbolen und Ritualen hilfreich sein. Das Modell der Klinikseelsorge als Mystagogik definiert einen unverwechselbaren und eigenständigen Beitrag, den die Seelsorge neben Medizin und Pflege zum Heilungsprozess leistet. Es besteht aber die Gefahr, das seelsorgliche Handeln zu überhöhen und die Grenzen zu Medizin und Psychotherapie zu verwischen. Der Seelsorger als 10 11 12 13

Vgl. Schneider-Harpprecht, Profil, 154ff. Vgl. Josuttis, Segenskräfte, 39.52f.232. Weiher, Mehr als Begleiten. A.a.O., 44 mit Verweis auf Karl Rahner. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Mystagoge ist für die Versuchung anfällig, »in der Attitüde scheinbar allmächtiger spiritueller Heiler die Heilungsbemühungen von Ärzten und Therapeuten« abzuwerten.14 Darin kann man zwar eine kompensatorische Reaktion auf persönliche Erfahrungen der eigenen Marginalisierung im Krankenhaus sehen, die jedoch fatalerweise dazu führen kann, dass sich die Seelsorge gegenüber den anderen Professionen noch weiter isoliert. 3. Aus ähnlichen Gründen ist aber auch gegenüber dem Leitbild von Seelsorge als Leibsorge Vorsicht geboten, das Elisabeth Naurath vertritt.15 Zwar ist es zu begrüßen, wenn sich die Seelsorge verstärkt auf die leibliche Dimension menschlicher Existenz besinnt. Doch wird der menschliche Körper in sozialen Diskursen geformt. »Eine Seelsorge, die sich in Entsprechung zur Inkarnation Gottes in dem Körper Jesu von Nazareth als Leibsorge versteht, kommt an der sozialen und sprachlichen Dimension nicht vorbei.«16 Erst in ihr werden der Körper und die Kräfte und Mächte, die ihn formen und zur sozialen Realität werden lassen, thematisch. Als Leib ist der Mensch immer stets mehr als nur dieser, worauf Begriffe wie »Seele« oder »Geist« hinweisen. Daher ist Seelsorge eben nicht mit Leibsorge identisch. Im Übrigen sind die Möglichkeiten der Seelsorge, auf den Leib einzuwirken begrenzt. Unbeschadet einer neuen Wertschätzung von körperlicher Zuwendung auch in der evangelischen Seelsorge – man denke an körperliche Gesten wie das Handauflegen beim Segen, an Bekreuzigung und Krankensalbung oder den Einsatz von ätherischen Ölen, Klang und Musik – hat doch die Seelsorge ihren Schwerpunkt im Gespräch. Und auch wenn die Einsichten der Psychosomatik in der Seelsorge eine Rolle spielen, kann doch nur in eingeschränktem Maße behauptet werden, dass Seelsorge eine unmittelbare Form der Leibsorge wie z.B. die somatische Medizin ist. 4. Neben den genannten Modellen gibt es eine Reihe von organisationstheoretischen Seelsorgekonzepten, welche die Klinikseelsorge nicht im Zwischenraum, sondern als Teil der Krankenhausorganisation betrachten. Gemeinsam gehen sie von der Tatsache aus, dass ein Wandel »von der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge«17 stattgefunden hat. Auch wenn die Klinikseelsorge, wie Andreas Heller feststellt, 14 15 16 17

Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge?, 219. Vgl. Naurath, Seelsorge als Leibsorge. Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge?, 221. Klessmann, Von der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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durch die Organisation Kirche ebenso wie durch die Organisation Krankenhaus geprägt wird,18 sei sie als Dienstbereich sozial und funktional in die Organisation des Unternehmens Krankenhaus oder Altenheim eingebunden. Entsprechend sollen sich auch die einzelnen Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger als Teil des Organisationsgefüges Krankenhaus begreifen. Schon in den 1980er Jahren hat Alfred Jäger ein organisationstheoretisches Modell der Krankenhausseelsorge entworfen, und zwar speziell für die Seelsorge in diakonischen Einrichtungen. Jäger weist der Seelsorge in diakonischen Unternehmungen das »Soft-Management« zu. Für die ökonomischen Werte ist das »Hard-Management« zuständig, die Seelsorge für die »Seele« des Betriebs, für religiöse und moralische Werte, für die Klimapflege also, die man braucht, um Vertrauen unter den Mitarbeitern und auf Seiten der »Kunden« zu fördern.19 Ausgehend von der funktionalen Ausdifferenzierung, die zwischen Kirche und Diakonie, genauer gesagt zwischen Kirche und unternehmerischer Diakonie stattfindet, plädiert Jäger dafür, die Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger nicht bei der Landeskirche, sondern beim Unternehmen anzustellen. Ihre Rolle beschränkt sich nicht auf die Begleitung des einzelnen Patienten oder von Mitarbeitern des Unternehmens. Vielmehr soll die Seelsorge auch in der Unternehmenspolitik eine kybernetische Funktion wahrnehmen. Die christliche Identität diakonischer Einrichtungen wird nämlich nach Jäger nicht mehr wie in früheren Zeiten durch den persönlichen Glauben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestimmt, sondern durch eine kybernetisch-funktionale Theologie, gewissermaßen eine Unternehmenstheologie, die sich in Leitbildprozessen und strategischen Entscheidungen des Unternehmens niederschlägt. Eine Schwäche von Jägers Modell liegt freilich darin, dass es einerseits für diakonische und kirchliche Einrichtungen konzipiert ist, sich andererseits aber von jeder kirchlichen Bindung und explizit christlichtheologischen Begründung freimachen möchte. Wie beim Modell der Seelsorge als Mystagogik ist auch bei Jäger eine problematische Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Seelsorge zu beobachten, in diesem Fall auf die gesamte Unternehmenskultur. Abgesehen von dem unklaren christlichen Profil dieses Modells ist theologisch auch zu fragen, wie es dabei um die prophetische Dimension der Seelsorge bestellt ist. Dient sie nur der Stabilisierung und Optimierung des diakoni18 19

Vgl. Heller, In organisationalen Widersprüchen. Vgl. Jäger, Seelsorge. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schen Betriebs, oder begreift sie es vom Evangelium her auch als ihre Aufgabe, Kritik zu üben und zur Selbstkritik anzuleiten? Katholische Theologen wie Andreas Heller oder Georg Meier-Gerlich haben Jägers Modell organisationsethisch bzw. organisationstheologisch weiterentwickelt. Heller versteht die Krankenhausseelsorge als »intermediäres Handeln« an den Grenzen von Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Medizin und Pflege sowie psychosozialer Versorgung, aber auch an den Schnittstellen von Hauptamtlichkeit und Ehrenamtlichkeit.20 Heller plädiert systemtheoretisch für neue Formen der Selbstorganisation und der Selbstbeobachtung, deren konkrete Formen bei ihm allerdings »noch rudimentär« bleiben.21 Meier-Gerlich entwickelt das Konzept einer caritativen Seelsorge auf der Basis einer Organisationstheologie, die davon ausgeht, dass Theologie und soziale Systeme in diakonischen Unternehmen eine Verbindung eingehen.22 Caritative Seelsorge begreift seelsorgliches Handeln als Gestalt des diakonischen Handelns, welches wiederum eine Lebensäußerung und Wesensfunktion der Kirche ist. Damit deutet sich der Schritt von der Klinikseelsorge zur Seelsorge im Gesundheitswesen an, die auch den extramuralen Bereich einbezieht. Im Unterschied zu Jäger oder Heller spielt die Systembegleitung bei Meier-Gerlich allenfalls eine untergeordnete Rolle. Sie konzentriert sich auf die Begleitung des Patienten und ihre Mitwirkung am therapeutischen Prozess. Analog zu Medizin und Pflege ist auch die Seelsorge ergebnisorientiert und verwendet ein methodisches Instrumentarium, bestehend aus dem seelsorgerischen Aufnahmegespräch, der Seelsorgediagnose unter Verwendung eines Fragebogens, einem Behandlungsplan und einer systematischen Evaluation. Positiv ist an diesem Konzept, dass es den Auftrag der Seelsorge sinnvoll begrenzt und die Seelsorge mit einem klaren Profil und Auftrag in die Arbeit eines therapeutischen Teams, z.B. auf der Onkologie oder einer Internistischen Station integriert. Klärungsbedürftig ist aber die Abgrenzung zur Psychotherapie, wenn Meier-Gerlich erklärt, Aufgabe der Seelsorge sei es, die psychischen Kränkungen zu behandeln, durch welche bei einer Erkrankung das Gleichgewicht des emotionalen Haushalts des Patienten sowie seines Wertesystems und seiner religiösen Überzeugungen gestört werde. Ist es – auch unter theologischen Gesichtspunkten – zulässig und sinnvoll, Seelsorge als erfolgsorientierten Prozess zu verstehen? Wenn das zentrale Geschehen in der 20 21 22

Vgl. Heller, In organisationalen Widersprüchen, 309f. Vgl. Schneider-Harpprecht, Profil, 160. Meier-Gerlich, Caritative Seelsorge. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Seelsorge ein geistlicher Prozess ist, bei dem das Evangelium den Einzelnen erreicht – wann und wie es Gott gefällt –, kann dieser dann überhaupt gesteuert und evaluiert werden? Oder anders gefragt: Was am seelsorglichen Handeln steht in der Verantwortung des Menschen, was genau daran ist lern- und lehrbar und dann auch im Sinne des Qualitätsmanagements evaluierbar – und was nicht? Für fragwürdig halte ich die bei Meier-Gerlich vorausgesetzte These, der Mensch bleibe stets auf transzendente Werte bezogen, und Religiosität sei bei allen Menschen eine anthropologische Konstante.23 Religionssoziologisch wie theologisch sind Religion und Sinnsuche zu unterscheiden. Religion ist eine Möglichkeit neben anderen, aber nicht die einzige, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten und Kontingenz zu bearbeiten.24 Auch ist die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht ohne weiteres mit der Gottesfrage identisch. Seine Grenzen hat Meier-Gerlichs Modell auch darin, dass es – ähnlich wie Alfred Jägers Konzept – ausdrücklich für kirchliche und caritative Einrichtungen gedacht ist und zu ihrer Identitätsbildung beitragen soll. Wie aber steht es mit der Seelsorge in kommunalen oder privatwirtschaftlichen Einrichtungen? Inwieweit kann die Idee von Seelsorge als Teil des diakonischen Wesenszuges der Kirche auf die Klinikseelsorge in nichtkirchlichen Häusern übertragen werden? Dazu findet man Vorschläge bei Christoph Schneider-Harpprecht. Gemeinsam mit Sabine Allwinn und Kristina Skarke entwickelt er ein integratives Modell, wonach sich die Seelsorge mit den psychosozialen Diensten vernetzen und gemeinsam mit ihnen eine vierte Säule im Krankenhaus bilden soll. Das setzt freilich den Abbau von bestehender Konkurrenz und den Willen zur Kooperation voraus. SchneiderHarpprecht definiert Krankenhausseelsorge als »religiöse Hilfe zur individuellen und gemeinschaftlichen Gestaltung des Lebens angesichts von Krankheit und Gesundheit, Geburt, Sterben und Tod im Krankenhaus«25. Ihr Spezifikum ist die »christlich-religiöse Orientierung am Transzendenzbezug […]. Ihre Aufgabe und ihr zentrales inhaltliches Anliegen gründen im Evangelium von der Liebe des dreieinigen Gottes zu seinen Geschöpfen.«26 Klinikseelsorge bietet nicht nur dem einzelnen Menschen Hilfe an, sondern hat auch die Aufgabe, in der Organisation Krankenhaus zu einer christlich geprägten Beziehungskultur

23 24 25 26

Meier-Gerlich, Organisationstheologie, 52. Vgl. Pollack, Säkularisierung, 48; Dalferth, Notwendig religiös? Schneider-Harpprecht, Profil, 162. Schneider-Harpprecht, Profil, 164. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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beizutragen und die Entwicklung einer »heilenden Kultur«27 zu fördern.28 Dazu geschieht Krankenhausseelsorge als Systembegleitung und ist »ein integraler Bestandteil der Organisation des Krankenhauses als Wirtschaftsunternehmen. Dies gilt für Krankenhäuser in kirchlicher und nicht-kirchlicher Trägerschaft.«29 In kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen soll die Klinikseelsorge, organisiert als zentraler Dienstleistungsbereich bei der Entwicklung des Leitbildes, der Unternehmensverfassung und der Ausarbeitung ethischer Leitlinien eine beratende Funktion haben und auch an der Umsetzung der Unternehmensverfassung in Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufe beteiligt sein. Für nicht-kirchliche Unternehmen gilt das so natürlich nicht. Aber auch wenn diese weltanschaulich neutral bleiben, gewinnen sie – so ist Schneider-Harpprecht überzeugt –, »wenn sie die Entwicklung und Pflege einer ethisch und religiös geprägten Beziehungskultur durch die Krankenhausseelsorge als eigenständigen Dienstleistungsbereich des Unternehmens etablieren und fördern.«30 Die schon von mir erwähnte prophetische Dimension der Seelsorge, die in Konfliktfällen gefordert sein kann, soll organisatorisch dadurch gewahrt bleiben, dass die Seelsorge auch als integraler Bestandteil des Unternehmens ein eigenständiges Gegenüber zur Geschäftsleitung und den verschiedenen Unternehmensbereichen des Krankenhauses bleibt und nicht in den Alltag von Medizin und Pflege eingebunden wird.31 9.3

Von der Pastoral Care zur Spiritual Care?

Schneider-Harpprechts Modell, das ich für weiterführend halte, setzt voraus, dass Krankenhausseelsorge ein klares christliches und theologisches Profil hat. In westlichen Gesellschaften verliert das Christentum in seinen konfessionellen Ausformungen allerdings zunehmend an Prägekraft. Das gilt für die Individuen wie für die Gesamtgesellschaft. Dieser Entwicklung tragen die verschiedenen Konzepte von »spiritual care« Rechnung, die in den USA und Großbritannien entwickelt worden sind. Inzwischen hat die Diskussion auch den deutschsprachigen Raum erreicht. Wie Traugott Roser schreibt, besteht die eigentliche 27 28 29 30 31

Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 165. Vgl. a.a.O., 165f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Neuerung in der Begründung von Seelsorge »darin, dass nicht mehr allein vom Recht des Patienten auf seelsorgliche Begleitung als Konkretion der Religionsfreiheit her argumentiert wird, sondern ein institutionelles und nach Kriterien einer Institution (Qualitätsmanagement) zu beschreibendes Interesse angeführt wird, das seinerseits konsequent patientenorientiert ist in dem Sinne, dass die subjektive Zufriedenheit und Lebensqualität von Patienten zentrale Bedeutung für das Verständnis von Qualität haben«32. »Spiritual care« ist also als systemischer Begriff zu verstehen, der dabei helfen soll, die Seelsorge der verschiedenen Religionsgemeinschaften organisational in das System Krankenhaus zu integrieren. Das Konzept der Spiritual Care erfordert allerdings einige begriffliche Klärungen und wirft auch eine Reihe von religionstheoretischen und theologischen Fragen auf. In den USA wird zwischen konservativen und liberalen Theologen über das Für und Wider von »spiritual care« im Unterschied zur »pastoral care«, d.h. einer konfessionell geprägten Seelsorge diskutiert.33 Dabei spielt die Palliativmedizin bzw. »Palliative Care« eine Vorreiterrolle. Auch im deutschsprachigen Raum deutet sich in der Hospizbewegung eine Lösung der konfessionellen Bindung der Seelsorge zugunsten einer »spiritual care« an, die an keine feste religiöse Tradition gebunden ist.34 Die hier aufbrechenden Fragen stehen im Zusammenhang mit der Debatte über die vermeintliche Wiederkehr der Religion und Behauptungen über einen Megatrend Spiritualität.35 Sie führt aber auch in das Zentrum der religionstheologischen Debatte über exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Modelle einer Theologie der Religionen.36 Während auf der einen Seite theologische, aber auch religionssoziologische Kritik an allzu unscharfen Begriffen von Religiosität und Spiritualität geübt wird, welche die Relevanz geprägter religiöser Traditionen und ihrer kognitiven Gehalte für die individuelle Religiosität unterschätze,37 lautet die gegenteilige Kritik, die bisherigen Konzepte von »spiritual care« seien in Wahrheit christlich geprägt und 32 33 34 35 36 37

Roser, Spiritual Care, 264. Vgl. die Beiträge in Christian Bioethics 9, Nr. 1, 2003. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 219ff. Vgl. Körtner, Wiederkehr der Religion? Vgl. Danz/Körtner (Hg.), Theologie der Religionen. Vgl. Engelhardt Jr., Generic Chaplaincy; Schmidt/Egler, A Christian for the Christians, 239–256. Zur grundsätzlichen Bedeutung konkreter religiöser Inhalte für individuelle religiöse Erfahrungen siehe auch Heine, Grundlagen der Religionspsychologie, 139. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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würden lediglich die Dominanz christlicher Formen der Kranken(haus) seelsorge gegenüber anderen religiösen Traditionen festigen.38 Hinter der Diskussion über die Schärfe bzw. Unschärfe der Begriffe »Spiritualität«, »Religiosität« und »Religion« stehen keineswegs nur wissenschaftliche Interessen der Theoriebildung, sondern auch pragmatische Interessen, stellen sich doch praktische Fragen nach den für »spiritual care« zuständigen und kompetenten Berufsgruppen, nach organisatorischer Einbindung und Rekrutierung von Seelsorgern (Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft, Beauftragung durch eine Religionsgemeinschaft), nach Inhalten, Methoden und Bezugswissenschaften der Aus-, Fort- und Weiterbildung (Theologie, Religionswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Psychotherapie). Wie in der allgemeinen religionssoziologischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Debatte ist auch im Bereich von Medizin und Spiritual Care recht vieldeutig und unscharf von Spiritualität die Rede. Nicht nur in der Literatur zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität sucht man vergeblich nach einer einheitlichen Definition. Die vielgestaltige spirituelle Szene, die von christlicher Frömmigkeitspraxis über fernöstliche Religiosität und Schamanismus bis zu den unterschiedlichsten Formen von Esoterik, New Age und Psychotherapien, von ignatianischen Exerzitien bis zur transpersonalen Psychologie reicht und alle möglichen Formen von kleinen und großen Transzendenzerfahrungen umfasst, lässt sich wohl kaum auf einen einheitlichen Nenner bringen. Im Kontext von Krankenhausseelsorge und Spiritual Care hält Traugott Roser gerade die Unschärfe des Begriffs »Spiritualität« für seine Stärke. Sie bestehe in seiner Anschlussfähigkeit für die unterschiedlichsten Formen der Sinnsuche und Sinngebung in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft. Der Begriff stehe ganz allgemein für radikale Individualität in einem Umfeld, das in Diagnostik, Therapie und Pflege auf Verallgemeinerungen und Vergleichbarkeiten geeicht sei. In seiner Unschärfe diene der Begriff der Spiritualität der Bestimmung des Unbestimmbaren, der Markierung von Differenzen, ohne welche Freiheit und Individualität nicht denkbar und vor allem nicht erfahrbar seien. Theologisch deutet Roser die durch die Spiritualitätssemantik thematisierte Unbestimmbarkeit als Unverfügbarkeit, die den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes auszeichne, d.h. als weltoffenes, auf Beziehung (einschließlich transzendenter Beziehungen) angelegtes, aber auch fragmentarisches, nämlich verwundbares und endli38

Vgl. Glicksman/Glicksman, Apples and Oranges. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ches Wesen.39 Unverfügbarkeit ist aber auch ein anderes Wort für Kontingenz, die z.B. im Gelingen und Scheitern therapeutischer Prozesse erfahren wird. Spiritual Care definiert Roser als »Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis«40. Bei allem Verständnis für Anschlussfähigkeit in pluralistischen Lebenswelten und Diskursen halte ich doch das Bemühen um begriffliche Unterscheidungen sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus pragmatischen Gründen für notwendig. So gilt es meines Erachtens bei allen Überschneidungen, die faktisch bestehen, zwischen Spiritualität, Religiosität und Religion zu differenzieren, weil andernfalls sowohl die Gegenstände möglicher Erkenntnis als auch die Bestimmung von unterschiedlichen Aufgabengebieten und Kompetenzen im Bereich des Gesundheitshandelns unmöglich werden. Meines Erachtens sollten die Konsequenzen aus der religiösen Pluralisierung der Gesellschaft nicht in der Form einer transkonfessionellen und transreligiösen »Spiritual Care« gezogen werden, sondern in der Form von ökumenischer Öffnung und Zusammenarbeit, und zwar nicht nur zwischen den großen christlichen Konfessionen, sondern auch zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Christliche Krankenhausseelsorge sollte auch in Zukunft nach meiner Überzeugung – bei aller ökumenischen Gesinnung und Bereitschaft zum interreligiösen Dialog – auf der motivationalen Ebene, aber auch in ihrer inhaltlichen Ausrichtung ein erkennbar christliches Profil bewahren, das sich am neutestamentlichen Evangelium von der in Jesus Christus offenbar gewordenen Liebe Gottes zu allen Menschen orientiert und ihre Aufgabe in der Kommunikation dieses Evangeliums sieht. Ein konkretes Beispiel für interreligiöse Seelsorgearbeit gibt es am Allgemeinen Krankenhaus Wien.41 Hier gibt es hauptamtlich die römisch-katholische und die evangelische Krankenhausseelsorge, ehrenamtlich die jüdische und die muslimische Seelsorge, außerdem für alle genannten Religionsgemeinschaften eigene, auf der Eingangsebene des Krankenhauses zentral angeordnete Andachtsräume. Die ökumenische Zusammenarbeit von katholischer und evangelischer Krankenhausseelsorge wurde zum Vorreiter für die interreligiöse Kooperation, die seit 2001 vertieft worden ist. Bei Bedarf werden auch Vertreter der verschiedenen orthodoxen Kirchen, die in Wien ansässig sind, eingebunden. Es gibt eine organisato39 40 41

Vgl. Roser, Spiritual Care, 252. A.a.O., 9 u. 278. Vgl. Vock, Interreligiöse und interdisziplinäre Seelsorgearbeit. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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rische Vernetzung im Alltag – z.B. wenn es darum geht, Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft bei der Kontaktaufnahme zu einem Seelsorger ihrer eigenen Religion zu helfen, regelmäßige interreligiöse Treffen, gemeinsame Bildungsveranstaltungen, aber auch gemeinsame religiöse Feiern, Kooperation im Bereich der Aus-, Fortund Weiterbildung an den Krankenpflege- und anderen Schulen des Gesundheitswesens, eine gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit und interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den anderen Professionen, die im Krankenhaus tätig sind. 9.4

Seelsorge im Gesundheitswesen – gemeinsame Aufgaben von Klinikseelsorge und Gemeindeseelsorge

Schneider-Harpprechts, Allwinns und Skarkes Plädoyer für Seelsorge und psychosoziale Dienste als vierte Säule im Krankenhaus richtet den Blick folgerichtig auch auf den extramuralen Bereich. Bei verkürzten Liegezeiten entwickelt sich die Krankenhausseelsorge zur Kurzzeitseelsorge. Für den einzelnen Patienten geht die medizinische Nachsorge und Pflege jedoch außerhalb der Klinik weiter. Für Medizin und Pflege ist die Vernetzung zwischen ambulanter und stationärer Arbeit mit entsprechendem interdisziplinärem Austausch längst als Aufgabe erkannt. Pflegemanagement und Pflegeberatung erfordern heute grenzüberschreitende Konzepte und ein entsprechendes Schnittstellenmanagement zwischen intramuralem und extramuralem Bereich. Für Alten- und Pflegeheime gilt das in ähnlicher Weise. Es liegt auf der Hand, dass ebenso für psychosoziale Dienste und für die Seelsorge Bedarf für eine Vernetzung zwischen stationärer und ambulanter Arbeit besteht. Weithin fehlen bislang entsprechende Angebote, die sich an Patienten, aber auch an ihre Angehörigen richten. Seelsorge im Gesundheitswesen ist als eine umfassende Aufgabe zu begreifen, für die neue Modelle erst noch zu entwickeln sind. In der Geschichte der Seelsorge war die Betreuung von Kranken zunächst eine gemeindliche Aufgabe. Krankenseelsorge fand in Form von Hausbesuchen oder auch von Besuchen des Pfarrers bei seinen Gemeindemitgliedern im Krankenhaus statt, soweit dies die lokalen Verhältnisse zuließen. Als die Krankenhausseelsorge als eigener Funktionsbereich entstand, wurde zunächst ihre Abgrenzung gegenüber der Gemeindeseelsorge betont. Noch in einem Positionspapier der Konferenz für Krankenhausseelsorge in der EKD aus dem Jahr 1994 steht zu lesen: »Seelsorge im Krankenhaus geschieht im kirchlichen Auftrag in ökumenischer Verantwortung. Sie stellt einen eigenständigen kirchli© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

9. Seelsorge im Gesundheitswesen

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chen Arbeitszweig mit spezifischen Gegebenheiten und Erfordernissen dar und ist nicht eine Variante von Gemeindeseelsorge.«42 Eine zeitgemäße Ethik im Gesundheitswesen erfordert aber neue Kooperationen zwischen Krankenhaus- und Gemeindeseelsorge. Gemeindeseelsorge ist dabei nicht ausschließlich als Aufgabe des Gemeindepfarrers oder der Gemeindepfarrerin in der Generalistenrolle zu sehen. Vielmehr ist an gemeindediakonische Angebote in Form von multiprofessionellem Case Management und Quartiers- oder Gemeinwesenarbeit zu denken,43 wobei in Gemeinden mit mehreren Pfarrerinnen und Pfarrern jemand aus dem Team für die Seelsorge zuständig sein könnte. Denkbar sind aber auch Seelsorgeteams, die im Rahmen von gemeindebezogener Diakonie interprofessionell mit psychosozialen Diensten zusammenarbeiten, wobei vielleicht mehrere Gemeinden beteiligt sind. Jedenfalls sollte die Standort- und Aufgabenbestimmung der Seelsorge im Gesundheitswesen nicht allein als Herausforderung der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge, sondern auch als Herausforderung der Kirchengemeinden gesehen werden.

42

43

Der Text ist abrufbar unter http://www.krankenhausseelsorge-westfalen.de/ a_z/material/konzeption_standard_krankenhausseelsorge_1994.pdf (letzter Zugriff am 11.3.2016). Vgl. Allwinn/Schneider-Happrecht/Skarke, Psychosoziale Dienste, 225. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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10 Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft und die Irritation Demenz

10.1 Unwürdiges Dasein? In seiner Kurzgeschichte »Die unwürdige Greisin« schildert Bertolt Brecht die beiden letzten Lebensjahre seiner Großmutter. Nach dem Tod ihres Mannes begann sie noch einmal ein neues Leben, mit Kinobesuchen und einem Umgang, der bei ihrer Familie Anstoß erregte. Statt das Leben einer ehrbaren Witwe zu führen, wie es den gesellschaftlichen Konventionen entsprochen hätte, schien sie sich zu amüsieren. Brechts Onkel beklagte sich in hysterischen Briefen über das in seinen Augen unwürdige Verhalten der Mutter. An einem Herbstnachmittag verstarb sie ganz unvermittelt im Alter von 74 Jahren. Sie hatte, wie Brecht meint, genau betrachtet, nicht ein, sondern hintereinander zwei Leben gelebt. »Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.«1 Eine Photographie zeigte sie auf dem Totenbett. »Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.«2 Brechts Großmutter litt nicht an Demenz, aber dennoch kam mir ihre Geschichte in den Sinn, haben doch viele Menschen Angst vor einem Leben mit Demenz, weil sie fürchten, nicht nur ihr Gedächtnis und ihr kognitives Bewusstsein, sondern auch ihre Würde zu verlieren. Gemessen an einem Menschenbild, das den Wert des Lebens an den kog1 2

Brecht, Die unwürdige Greisin, 96. A.a.O., 97. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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nitiven Leistungen unseres Gehirns bemisst, das in der Autonomie den höchsten Wert erkennt, die wiederum an unser kognitives Bewusstsein, unsere Einsichts- und Urteilsfähigkeit gebunden ist – gemessen an einem solchen Verständnis des Menschen erscheinen Menschen mit einer Demenz als unwürdige Greise. Leben mit Demenz wäre demnach per se menschenunwürdig, es zu beenden ist dann ein nur zu verständlicher Wunsch. Es macht allerdings einen Unterschied, wer solch einem Leben ein Ende setzen will, ob es der an seiner Demenz leidende Patient ist, der die dramatischen Veränderungen an sich wahrnimmt, den Verlust der Kontrolle, in gewisser Weise den Verlust seines Selbst, der unter Angstzuständen und Orientierungslosigkeit leidet, vielleicht auch seiner Familie nicht mehr zur Last fallen möchte, oder ob es die Angehörigen sind, die sich heimlich oder offen den Tod des Demenzkranken wünschen und vielleicht sogar an Sterbehilfe denken. In seinem Buch »Der alte König in seinem Exil«, das von seinem an Alzheimer erkrankten Vater erzählt, merkt Arno Geiger an, das Thema Sterbehilfe werde von Angehörigen aufgebracht, »die besser daran täten, über ihre eigene Unfähigkeit nachzudenken, mit der veränderten Situation umzugehen. Die Frage ist: Will man den Kranken von der Krankheit befreien oder sich selbst von der Hilflosigkeit?«3 Gleich der Großmutter Brechts stellen auch Menschen mit einer Demenz das Menschenbild und die Werte unserer Leistungsgesellschaft massiv in Frage, einer Gesellschaft, in der Leistung immer weniger durch körperliche Arbeit, sondern durch kognitive Tätigkeiten erbracht wird und die sich heute als Wissensgesellschaft definiert, wobei Wissen als Produkt und Ware betrachtet und lebenslanges Lernen zur obersten Maxime erklärt wird. Universitäten als Unternehmen der Wissensindustrie erstellen Wissensbilanzen und werden zu Organisationen eines Wissensmarktes. Wissen ist Macht und Wissen ist Geld. Wer die Fähigkeit zur Wissensproduktion, zum Wissenserwerb, zur Wissensspeicherung und zur Wissensvermehrung verliert, wird aus der Wissensgesellschaft ausgeschlossen. Sein Leben erscheint nicht nur wert-, sondern auch würdelos. Laut einer vor einigen Jahren veröffentlichten ländervergleichenden Studie haben übrigens Deutsche eine auffallend höhere Angst vor Demenz als Menschen in anderen Ländern.4 Während dort die Angst vor Verlust der Attraktivität, vor Altersarmut oder Inkontinenz überwog, gaben 70% der Befragten in Deutschland 3 4

Geiger, Der alte König, 183. Zitiert nach Langer, Demenz und Seelsorge, 103. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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an, ihre Hauptangst gelte dem Verlust des Gedächtnisses. Für Österreich sind mir keine Vergleichszahlen bekannt. Welch geringes Ansehen Menschen mit einer Demenz in unserer Gesellschaft haben, zeigt sich auch an der schlechten Reputation der Altenpflege. Soll es zu einem Umdenken gegenüber einem Leben mit Demenz kommen, dann muss auch die Profession der Pflege neu bewertet werden. Zwei grundlegende Aussagen zeigen nach Ansicht des Gerontologen Andreas Kruse, wie prekär nach wie vor der gesellschaftliche Status der Pflege ist und wie gering nach wie vor die Bereitschaft, in eine gute Pflege zu investieren: »(a) Die Alternative ›Geld- vs. Sachleistung‹ ist aus fachlicher Sicht höchst problematisch; mit dieser Alternative wird kommuniziert, dass Pflege auch von Laien in ausreichend kompetenter Weise geleistet werden kann. (b) Die Aussage: ›Ambulant vor stationär‹ ist ebenfalls problematisch, weil sie verdeckt, dass es vielfach Pflegesituationen gibt, die höchste instrumentelle (fachliche), sittliche und psychische Anforderungen an die pflegenden Personen stellen und die aus diesem Grunde nicht mehr im häuslichen Kontext bewältigt werden können.«5 10.2 Produktive Herausforderung Für unsere moderne Leistungs- und Wissensgesellschaft stellt Demenz nicht nur eine Irritation dar, wie es im Titel dieses Kapitels heißt. Sie ist »eine ›Provokation für Gesunde‹«6, wie die Krankenhausseelsorgerin Susanne Langer feststellt. Sie fordert uns freilich heraus, über unser übliches Verständnis von Krankheit und Gesundheit nachzudenken. »Alzheimer«, schreibt Arno Geiger, »ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.«7 Der Mediziner und Psychotherapeut Wolf Büntig fragt: »Bei demenzieller Erkrankung geht unter anderem die Orientierung in Raum und Zeit verloren. Wenn das eine Krankheit und nicht nur ein altersbedingter 5 6 7

Kruse, Demenz, 73. Langer, Demenz und Seelsorge, 103. Geiger, Der alte König, 57f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Rückgang von Funktionen ist: Ist dann die in der Zivilisation mangelnde Übung, einen inneren Raum und eine persönliche, an Schritt und Herzschlag und Atem gemessene Zeit wahrzunehmen, und die Gewohnheit, diese Wahrnehmung zu ersetzen durch äußere Definition und Uhr, auch eine Krankheit? Und sind all die vielen, die vorzugsweise nachdenken, was sie und andere vorgedacht haben, und die ihr Dasein vorzugsweise von allgemein gültig Gedachtem und nicht auch von Erlebtem ableiten, gesund?«8 Und provokant schiebt er die Frage nach, ob Demenz nicht etwa nur massiver Verlust bedeutet – Verlust des Gedächtnisses, des kognitiven Denkvermögens, Orientierungsverlust, Verlust der Identität und der eigenen Persönlichkeit –, sondern ob es bei Demenz vielleicht sogar einen heimlichen Krankheitsgewinn gibt: »Könnte es nicht ein Krankheitsgewinn sein, dass sich in der Demenz die Welt den Bedingungen der Person anpassen muss?«9 Auch die Angehörigen haben möglicherweise einen Krankheitsgewinn, gibt ihnen doch die Demenz »die Chance, die Reife und das Maß unserer Liebesfähigkeit zu erkennen«10. Auch Arno Geiger hat als Angehöriger die Erfahrung eines solchen Krankheitsgewinns gemacht. Ohne die schrecklichen Seiten der Demenz in irgendeiner Weise zu beschönigen, stellt er zum Beispiel fest, dass die Krankheit seines Vaters das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie verstärkt und den sich seit längerem anbahnenden Zerfall der Familie aufgehalten hat.11 Er selbst konnte sich, nachdem die Alzheimererkrankung schon weiter fortgeschritten war, mit seinem Vater nochmals ganz neu anfreunden, »mit einer Unbefangenheit, die wir der Krankheit und dem Vergessen zu verdanken hatten«12. Und an anderer Stelle bekennt er, es gebe etwas zwischen ihm und seinem demenzkranken Vater, das ihn dazu gebracht habe, sich der Welt weiter zu öffnen. »Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was der Alzheimerkrankheit normalerweise nachgesagt wird – dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden Verbindungen geknüpft.«13 Wer an Demenz erkrankt, fällt aus der Leistungs- und Wissensgesellschaft heraus. Das empfinden wir als bedrohlich, könnte es doch auch uns selbst eines Tages treffen. Aber vielleicht kann dieser Verlust ja auch eine befreiende Wirkung haben, ähnlich wie die Lebensgeschich8 9 10 11 12 13

Büntig, Du hast mich angesprochen, 110. A.a.O., 113. Ebd. Geiger, Der alte König, 64. A.a.O., 73. A.a.O., 179. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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te der Großmutter Bertold Brechts. Nachdem sein Vater in ein Pflegeheim umgezogen ist, schreibt Geiger: »Im Altersheim ist nicht mehr viel zu erwarten – kleine Annehmlichkeiten – lachende Gesichter – herumstreichende Katzen – ein gelungener Scherz –. Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind.«14 Die verschiedenen Formen der Demenz, die keine einheitliche Ursache haben, sondern durch ganz unterschiedliche Krankheitsprozesse ausgelöst werden können,15 fordern uns heraus, uns ganz grundsätzlich mit dem vorherrschenden Menschenbild unserer Leistungsgesellschaft, aber auch mit unserer persönlichen Sichtweise des Menschseins auseinanderzusetzen.16 Mehr noch: Die Begegnung mit einem demenzkranken Menschen stellt einen »vor die Aufgabe der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den möglichen Begrenzungen des eigenen Lebens«17. Arno Geiger notiert dazu: »Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust.«18 Andreas Kruse stellt die Frage, »inwieweit die Gesellschaft in der Lage ist, die Grenzen, die Menschen im hohen und sehr hohen Lebensalter erfahren, bewusst anzunehmen und in einen kulturellen Entwurf des Menschseins zu integrieren. […] Ziel einer solchen Auseinandersetzung muss es sein, uns alle vermehrt für die Verletzlichkeit des Menschen und für dessen Angewiesensein auf Hilfe zu sensibilisieren.«19 Und Arno Geiger ergänzt: »Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein.«20 Die reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und mit Verlusten, wie sie uns eine Demenzerkrankung zumutet und drastisch vor Augen führt, gehört zu einem erfüllten – und das heißt auch zu einem sinnerfüllten – Leben. Ich möchte mich dieser Aufgabe in sieben Schritten stellen, die mit folgenden Stichworten umrissen seien: 1. Bewusstsein, Geist und Verstand, 2. Subjekt, Person und Identität, 14 15

16 17 18 19 20

A.a.O., 187. Zur Einführung siehe Kastner/Löbach, Handbuch Demenz; Bruhns/Lakotta/Pieper (Hg.), Demenz; Aldebert (Hg.), Demenz verändert; Wetzstein, Diagnose Alzheimer. Vgl. auch Becker, Sein in Begegnung. Kruse, Demenz, 50. Geiger, Der alte König, 14. Kruse, Demenz, 76. Geiger, Der alte König, 136. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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3. Autonomie und Abhängigkeit, 4. Passivität, 5. Verlust und Abschied, 6. Resignation, 7. Fragment und Vollendung. 10.3 Auseinandersetzung 10.3.1 Bewusstsein, Geist und Verstand Schon die Bezeichnung Demenz deutet auf ein Verständnis menschlichen Bewusstseins und menschlichen Verstandes hin, das einer kritischen Überprüfung bedarf. De-mentia heißt wörtlich übersetzt: Verlust der »mens«. Das lateinische Wort mens hat eine mehrfache Bedeutung. Es steht für das Denken oder Denkvermögen und den Verstand, für Absichten und für das Erinnerungsvermögen wie auch für das menschliche Gewissen. Mens kann aber auch für das stehen, was wir im Deutschen Geist nennen, für Seele, Gemüt, Herz und Charakter. Nimmt man die Bezeichnung Demenz beim Wort, so scheint ein Demenzkranker dies alles im Verlauf seiner Krankheit zu verlieren. Eigentlich verliert er damit sein Menschsein, ist der Mensch doch nach der Definition des Aristoteles das animal rationale oder griechisch das zoon logon echon. Die Ratio, das Denkvermögen, zeichnet nach dieser Definition den Menschen gegenüber dem Tier aus. Unter Logos ist sowohl die Vernunft als auch das Sprachvermögen zu verstehen. Wortfindungsstörungen und der zunehmende Verlust der Wortsprache gehören zu den besonders quälenden Erfahrungen Demenzkranker. Walter Leonhard, ein Betroffener, hat diesen Verlust in einem Gedicht als »Wortnot« beschrieben. Ich zitiere einige Verse: »Mir sind die Wörter ausgegangen, / find keine neuen Wörter mehr […] Es fehlen mir der Worte Wärme, / als wär’ ich selbst von mir entrückt. // Mein Fühlen wird so überschwänglich, / dass es mich fast zu bersten droht. / Doch ist das Fühlen unzulänglich, wenn es dem Wort ist unzugänglich; / ich leide leider an Wortnot.«21 Nun unterscheidet die Hirnforschung verschiedene Formen des Bewusstseins: Bewusstsein als Wachheit, kognitives oder intentionales Bewusstsein, phänomenales Bewusstsein – also die Erfahrung, wie etwas aussieht, schmeckt, sich anfühlt oder anhört – und schließlich das Selbstbewusstsein.22 Es wäre schon insofern falsch, Demenzkranken jede Form von Bewusstsein abzusprechen. Der lateinische Begriff der mens weist aber auf Dimensionen des Bewusstseins hin, die in dem 21 22

Zitiert nach Langer, Demenz und Seelsorge, 101. Vgl. Pauen, Grundprobleme, 30. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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vorgestellten Schema noch gar nicht angemessen erfasst sind: Seele, Geist, Gemüt, Herz und Charakter. Es geht dabei nicht nur um unsere sinnliche Wahrnehmung, das Sehen, Schmecken, Tasten, Hören, sondern um die ganze Welt unserer inneren Empfindungen, um Freude und Schmerz, Liebe und Zorn, Trauer und Wut, von denen nicht nur Demenzkranke, sondern auch Gesunde bisweilen regelrecht überschwemmt werden können. Und auch der Logos darf nicht auf unsere Wortsprache reduziert werden, in die wir ja nicht nur unsere rationalen Gedanken, sondern auch unsere Gefühle, unsere Hoffnungen und Ängste zu fassen suchen. Neben der verbalen Kommunikation gibt es die nonverbale unserer Körpersprache, die in der basalen Stimulation und Validation eine zentrale Rolle spielt, sowie die paraverbale Kommunikation, die unser Sprechen begleitet und grundiert, der Klang der Stimme, der Tonfall, die Mimik. Auch freuen sich an Demenz erkrankte Menschen an Musik, Tanz oder Farben. Mit ihrer Hilfe können sie sich und ihren Gefühlswelten in einer Sprache eigener Art, die doch auch ihre eigene Form der Rationalität oder Geistigkeit hat, Ausdruck verschaffen. Was als mens oder logos bezeichnet wird, darf nicht von unserem Körper getrennt gedacht werden. Geist, Seele und Verstand sind in unserem Körper inkarniert. Unsere Vernunft ist leibliche Vernunft, wie der evangelische Theologe Peter Dabrock sagt.23 Auch unser Gedächtnis ist nicht allein auf unsere Hirntätigkeit beschränkt, gibt es doch auch ein Leib- oder Körpergedächtnis.24 Unsere Biographie und unsere Erinnerungen sind nicht nur unserem Gehirn eingeschrieben, sondern unserem ganzen Körper. Insbesondere das Antlitz eines Menschen »enthält in Kurzschrift seine ganze Biographie«, wie Theodor Bovet schreibt.25 Das Gesicht eines Wachkomapatienten oder auch eines alten und vielleicht dementen Menschen, das von Falten durchfurcht ist, kann sprechend sein, weil es von im Guten bestandenen Lebensschwierigkeiten Zeugnis gibt. Verhärmte Gesichtszüge erzählen uns von Enttäuschungen, Verlusten und Verbitterung. Wie dem Antlitz ist auch dem übrigen Körper die Lebens- und Leidensgeschichte eines Menschen eingeschrieben. So verkörpert auch der menschliche Leib

23 24 25

Vgl. Dabrock, in: ders./Klinnert/Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz, 167. Siehe auch Körtner, Leib und Leben, 28ff. Vgl. Fuchs, Leibgedächtnis; Hahn, Körper und Gedächtnis; Bauer, Das Gedächtnis des Körpers; Gehring, Foucault, 103ff. Bovet, Die Ehe, 139, in einer Betrachtung zu den Falten im Antlitz seiner Frau. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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als ganzer – nicht nur das Antlitz, wie Emanuel Levinas meint26 – den sich an uns richtenden Appell zur Kommunikation. Der Logos ist nicht auf unser individuelles Bewusstsein oder Sprachvermögen einzuschränken, sondern grundlegend eine zwischenmenschliche, die Grenzen unseres individuellen Bewusstseins und unseres Körpers überschreitende Wirklichkeit. Mit Friedrich Hölderlin gesprochen führen wir nicht etwa nur Gespräche, sondern wir sind ein Gespräch.27 Nur in der Kommunikation mit einem Du wird der Mensch zum Ich, und bevor wir zu sprechen lernen, verbal wie nonverbal, werden wir von anderen angesprochen, die sich uns ganzheitlich zuwenden, allen voran unsere Mutter als erste Kontaktperson, wobei die Kommunikation bereits vor der Geburt beginnt. Theologisch gedacht ist es das große Du Gottes, das uns anredet, auch nonverbal. Und darin, dass Gott mit jedem Menschen in lebenslanger und über den Tod hinausreichender Kommunikation und Gemeinschaft steht, gründet die Gottebenbildlichkeit und unveräußerliche Würde des Menschen. Der Logos oder auch der Geist meint – übrigens schon in der Bibel – letztlich eine überindividuelle Atmosphäre, um mit den Philosophen Hermann Schmitz und Gernot Böhme zu sprechen, eine Atmosphäre, in der wir leben und die wir geradezu körperlich spüren können.28 Wir sprechen zum Beispiel vom Geist, der in einer Gemeinschaft oder Gruppe herrscht, von Geist des Hauses, zum Beispiel einer Einrichtung der Alten- und Pflegehilfe. Und damit meinen wir keineswegs nur die Gesinnung oder die Ziele, die in Leitbildern definiert werden, sondern die Art des zwischenmenschlichen Umgangs, Wertschätzung, Zuwendung. Solange Menschen in diese Form der Kommunikation eingeschlossen und als Teil der menschlichen Gemeinschaft geachtet werden, können sie niemals geist-los und das heißt in diesem Sinne de-ment sein. 10.3.2 Subjekt, Person und Identität Demenz stellt freilich das Konzept unseres Subjektseins in Frage, das für die Moderne grundlegend ist. Sie ist das pathologische Gegenstück zum Tod des Subjektes, den die Philosophie der Postmoderne behaup26 27

28

Vgl. Levinas, Die Spur des Anderen. Hölderlin, Friedensfeier (»Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch«), in: ders., Sämtliche Werke II, 430. Schmitz, System der Philosophie 3/2; Böhme, Atmosphäre. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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tet.29 Seit Descartes gilt das erkennende Subjekt als die Basis aller Welterklärung. Dem denkenden Subjekt – der res cogitans – steht die Welt der Objekte – der res extensa – gegenüber. Subjektivität wird zur Letztbegründung der Wirklichkeit. Sie steht für das erkennende Ich bzw. für das menschliche Selbst. Bei Immanuel Kant ist das Ich das Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Erkenntnis wird durch das Bewusstsein entworfen. Das Ich und die Subjektivität sind aber auch moralische Kategorien bzw. Kategorien der praktischen Vernunft. In der Tradition Johann Gottlieb Fichtes wird die Willensfreiheit als Wesenskern von Subjektivität verstanden. Der Mensch ist nach Ansicht des Philosophen Peter Bieri in dem Maße Subjekt, wie es ihm gelingt, dasjenige zu wollen, was seinem Urteil entspricht.30 Werden Selbstbewusstsein, Erkenntnisfähigkeit und Willensfreiheit als notwendige Bedingungen der Subjektivität aufgefasst, stellt sich die Frage, ob Menschen mit fortgeschrittener Demenz oder Wachkomapatienten der Status eines Subjekts abzusprechen ist. Nun wird der Begriff des Subjekts bisweilen auch synonym zum Personbegriff verwendet. Also steht die Frage im Raum, ob Menschen, die dauerhaft das kognitive Bewusstsein verloren haben, noch als Personen zu gelten haben oder nicht. Im Hintergrund heutiger medizin- und pflegeethischer Debatten steht die Alternative zweier Personbegriffe. Nach dem ersten Konzept ist Personsein gleichbedeutend mit Menschsein, welches sich jeder rein biologischen Beschreibung entzieht. Nach Immanuel Kant ist jeder Mensch eine Person mit einer unveräußerlichen Würde. Aufgrund seiner Fähigkeit und seiner Verpflichtung zur Moral hat das menschliche Dasein einen »Zweck an sich selbst«.31 Dass Personalität und Moralität das Menschsein und seine Würde ausmachen, gilt nach kantischer Tradition für jedes menschliche Individuum unabhängig von seinen geistigen Fähigkeiten. Zwischen Personsein und Menschsein lässt sich nicht unterscheiden. Vielmehr sind, wie der englische Philosoph Peter F. Strawson nachweist, »Mensch« und »Person« einander wechselseitig interpretierende Begriffe, die keineswegs durch Kombination ursprünglicherer Begriffe entstehen, sondern »logisch primitiv« sind.32 Das Personsein besteht also nicht in der Summe einzelner Eigenschaften. Es entspricht nicht nur systemtheoretischen oder phänomenologisch-hermeneutischen Einsichten, sondern auch der biblischen Tra29 30 31 32

Zur Diskussion vgl. Nagl-Docekal (Hg.), Tod des Subjekts? Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 60. Strawson, Individuals. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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dition und damit der christlichen Anthropologie, den Menschen als ein geschichtliches Wesen zu betrachten, dessen Dasein und Personsein dadurch charakterisiert ist, dass es eine Geschichte hat, zu der auch die früheste Entwicklungsphase gehört. Außerdem ist zu bedenken, dass Personalität einerseits ein Zuschreibungsbegriff ist und andererseits eine dialogische oder intersubjektive Struktur hat. Personsein ist hier ein Beziehungsbegriff, hinter dem die Einsicht steht, dass die Entwicklung eines Individuums zur Person nur möglich ist, wenn dieses bereits zuvorkommend als solches angesehen und behandelt wird. Davon abweichend gibt es ein zweites Personkonzept, das auf den Philosophen John Locke zurückgeht. Hiernach ist Personsein nicht ohne weiteres mit dem Menschsein identisch, sondern an bestimmte Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Zukunftsbewusstsein und Erinnerungsvermögen gebunden. Mit diesen Eigenschaften verbindet sich einerseits die Identität der Person, andererseits der Begriff des Interesses. Personen gelten nach diesem Konzept nur so weit als berücksichtigungswürdig, wie sie Interessen haben. Die Konsequenz eines solchen Personbegriffs besteht darin, dass Menschen mit apallischem Syndrom, Embryonen im frühen Entwicklungsstadium und möglicherweise sogar Schlafenden der Personstatus aberkannt wird. Beide Personkonzepte verweisen auf eine unterschiedliche Haltung hin, die wir gegenüber anderen Menschen einnehmen. Das zweite Konzept ist aus der distanzierten Beobachterperspektive formuliert, das erste aber aus der Teilnehmerperspektive dessen, der mit dem Anderen zu kommunizieren versucht. Die Beobachterperspektive ist aber unzureichend, weil unser eigenes Personsein immer schon davon abhängt, dass wir an einer Kommunikationsgemeinschaft von Personen teilhaben, in welcher wir uns wechselseitig auf unser Tun und Lassen ansprechen und somit zur moralischen Rechenschaft auffordern. In dieser Teilhabe an zwischenmenschlicher Kommunikation ist, wie schon ausgeführt wurde, nach Immanuel Kant die Würde der Person begründet. Der evangelische Theologe Johannes Fischer beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Eine Person [...] ist dadurch charakterisiert, dass sie, wenn sie als die Person, die sie ist, Bestimmtheit für uns erlangt, diese nur von sich selbst her, d.h. über ihre Selbstpräsentation in Kommunikation mit uns, erlangen kann. Formuliert man das in dieser hypothetischen Form, dann lassen sich darunter auch jene Fälle fassen, die in der heutigen Bioethik kontrovers diskutiert werden, wie Menschen mit apallischem Syndrom, im Koma oder Schlafende, also Menschen, die sich uns nicht in Verständigung präsentieren und bestimmen. Sie als Personen wahrnehmen heisst, auch für sie zu unterstellen, dass sie, wenn, sich uns nur selbst bestimmen könnten als die © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Personen, die sie sind, in der Kommunikation mit ihnen.«33 Dieses Verständnis von Personsein und Menschenwürde entspricht auch der christlichen Auffassung vom Menschen als Person, deren Würde nicht in irgendeiner besonderen Fähigkeit oder Eigenschaft begründet ist, sondern in der personalen Beziehung Gottes zum Menschen als seinem Geschöpf und Ebenbild. Daraus ergibt sich auch eine Sicht der Identität eines Menschen, wonach diese eben nicht allein von seinen Bewusstseins- und Gedächtnisleistungen abhängt. Wir sind auch nicht allein der Autor oder die Autorin unserer Lebensgeschichte, sondern unsere Identität besteht darin, in Geschichten verstrickt zu sein,34 die nicht erst mit uns beginnen und auch nicht mit uns enden, sondern von anderen weitererzählt werden und nach christlichem Verständnis letztlich in die große Geschichte Gottes mit den Menschen und seiner Schöpfung eingebettet ist.35 Der Verlust unseres Intellektes und unseres persönlichen Erinnerungsvermögens bedeutet darum nicht den Verlust unserer Identität. Auch in gesunden Tagen gilt, was Dietrich Bonhoeffer notiert hat: »Der Wunsch, alles durch sich selbst sein zu wollen, ist ein falscher Stolz. Auch was man anderen verdankt, gehört eben zu einem und ist ein Stück des eigenen Lebens, und das Ausrechnenwollen, was man sich selbst ›verdient‹ hat und was man anderen verdankt, ist sicher nicht christlich und im Übrigen ein aussichtsloses Unternehmen. Man ist eben mit dem, was man selbst ist und was man empfängt, ein Ganzes.«36 Der Umgang mit Demenzkranken kann uns diese Wahrheit besonders intensiv zu Bewusstsein bringen.37 Unsere Identität verdanken wir nicht uns selbst, und wir sind es auch nicht, die sie über die Zeiten hinweg garantieren oder sicherstellen. Sie ist auch nichts Statisches, sondern dynamisch und komplex, so komplex wie die Geschichten, in die wir verstrickt sind und aus deren Fäden unsere Lebensgeschichte gewebt ist. Als sich Arno Geiger fragt, was für ein Mensch sein Vater ist, »passt er manchmal ganz leicht in ein Schema. Dann wieder zerbricht er in die vielen Gestalten, die er im Laufe seines Lebens anderen und mir gegenüber eingenommen hat.«38 Bemerkenswert ist auch Gei33 34 35 36 37 38

Fischer, Medizin- und bioethische Perspektiven, 24. Schapp, In Geschichten verstrickt; ders., Philosophie der Geschichten. Vgl. Ritschl, Zur Theorie und Ethik der Medizin. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 216. Zu den pflegerischen und seelsorglichen Konsequenzen vgl. Kitwood, Demenz; Fröchtling, »Und dann habe ich …«; Frommann, Das Verletzte stärken. Geiger, Der alte König, 185. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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gers Aussage, der Vater habe seine Erinnerungen nicht etwa verloren, sondern »in Charakter um gemünzt, und der Charakter war ihm geblieben«39. Erinnern wir uns daran, dass das lateinische Wort mens nicht nur Bewusstsein oder Denkvermögen, sondern auch Charakter bedeuten kann. In diesem Sinne ist Geigers Vater also gerade nicht dement! 10.3.3 Autonomie und Abhängigkeit Was aber bedeutet das bisher Gesagte für das Konzept der Autonomie, das doch für unser modernes Menschenbild seit der Aufklärung und auch für heutige Medizinethik von entscheidender Bedeutung ist? Nach gängiger Meinung führt Demenz zum Verlust der Autonomie, die an kognitive Bewusstseinsleistungen gebunden ist. Zunächst ist festzustellen, dass der Autonomiebegriff im medizin- und pflegeethischen Kontext oft sehr unscharf verwendet wird. Im strikten Sinne bedeutet Autonomie soviel wie Selbstgesetzgebung. Ein autonomer Mensch ist demnach einer, der ausschließlich nach den Gesetzen lebt, die er sich selbst gegeben und für verbindlich erklärt hat. Es leuchtet ein, dass dieser Begriff für viele Alltagssituationen in Medizin und Pflege überzogen ist. Von Autonomie sollte man nur im Blick auf bestimmte Aspekte des Lebens sprechen, zum Beispiel im Blick auf die politische Selbstgesetzgebung eines Staates oder in Blick auf die moralische Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft.40 Begrifflich sollte also klarer, als dies zumeist in der medizinethischen Literatur geschieht, zwischen Autonomie als Selbstgesetzgebung des moralischen Subjekts und der Selbstbestimmung als konkreter Ausübung oder Inanspruchnahme der Autonomie unterschieden werden. Der Medizinethiker Arnd T. May führt dazu aus: »Ein autonomer Mensch kann selbstbestimmt handeln, muss es aber nicht. Autonomie darf nicht als Eigenschaft im Sinne eines Ausschlusskriteriums angesehen werden, die der gesunde Mensch besitzt und der kranke Mensch nicht hat.«41 Würde, Freiheit und Autonomie im Sinne von Unverfügbarkeit und Selbstbestimmung des Menschen sind nicht von Alter, Fähigkeiten oder Leistungen abhängig. 39 40

41

A.a.O., 73. Vgl. Härle, Patienten»autonomie«, 48, dessen Kritik freilich über das Ziel hinausschießt, insofern sie die Sinnhaftigkeit des Autonomiebegriffs prinzipiell in Abrede stellt. May, Patientenverfügungen, 2. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Mag eine Person auch im juristischen Sinne nicht mehr zustimmungsfähig sein und besachwaltet werden müssen, so hat sie darum doch noch nicht die Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingebüßt. Sie kann noch immer äußern, was sie möchte oder nicht, sei es verbal oder auch nonverbal durch ein entsprechendes Verhalten. Diese Form der Selbstbestimmung ist zu respektieren, solange nicht die Gefahr einer akuten Selbstgefährdung besteht. Ein besonderes Problem stellen Patientenverfügungen dar, die nach österreichischem Patientenverfügungsgesetz (PatVG) für den Arzt verbindlich sind, wenn sie den geforderten Form- und Rechtsvorschriften entsprechen. Soll die Verfügung ihre Verbindlichkeit nicht verlieren, ist sie alle fünf Jahre zu erneuern. Im Fall, dass ein Patient während dieses Zeitraumes seine Zustimmungsfähigkeit verliert, bleibt die Verfügung weiter in Geltung (§ 7 [3] PatVG). Andererseits verliert eine Patientenverfügung ihre Wirksamkeit, wenn sie vom Patienten widerrufen wird oder wenn der Patient auf andere Weise zu erkennen gibt, dass sie nicht mehr wirksam sein soll (§ 10 [2] PatVG). Wie aber lassen sich diese Bestimmungen konkret auf Demenzkranke anwenden? Und wie ist im Einzelfall zwischen dem Prinzip der Patientenautonomie und dem Gebot des Lebensschutzes abzuwägen? Man denke an einen Alzheimerpatienten, der zu einem früheren Zeitpunkt erklärt hat, er wolle im Zustand völliger Demenz nicht mehr weiterleben, nun aber, nachdem dieser Zustand eingetreten ist, keine Anzeichen von subjektiv empfundenem Leiden erkennen lässt. Oder lassen sich, um ein anderes Beispiel zu wählen, Vitalfunktionen bei Wach-Koma-Patienten als personale Äußerung des mutmaßlichen Patientenwillens interpretieren?42 Das PatVG lässt diese Frage offen. Der Nationale Ethikrat in Deutschland hat 2005 in seiner Stellungnahme Kriterien vorgeschlagen, wonach trotz Anzeichen von Lebenswillen die Bindungswirkung einer Patientenverfügung bei Demenzerkrankungen bestehen bleiben soll: 1. Die medizinische Entscheidungssituation ist in der Verfügung hinreichend konkret beschrieben, 2. die Patientenverfügung nimmt auf die in Frage stehenden Anzeichen von Lebenswillen ausdrücklich Bezug und schließt deren Entscheidungserheblichkeit aus, 3. die Patientenverfügung ist schriftlich abgefasst oder in vergleichbarer Weise verlässlich dokumentiert, 4. der Errichtung der Verfügung ist eine geeignete Beratung vorausgegangen.43

42 43

Vgl. dazu Körtner, »Lasst mich bloß nicht in Ruhe – oder doch?«; ders., Leib und Leben, 150. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 34. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Das dritte und das vierte Kriterium werden durch das österreichische Patientenverfügungsgesetz ohnehin in einer strikten Form gefordert. Die beiden erstgenannten Kriterien des deutschen Nationalen Ethikrates sind in der medizinethischen Debatte allerdings umstritten. Es geht im Kern um die Frage, ob man bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz noch von einer aktuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung sprechen kann oder nicht. Man unterscheidet in der Diskussion zwischen tatsächlich geäußertem und mutmaßlichem Willen. In der ethischen und rechtlichen Debatte stehen einander zunächst zwei Positionen gegenüber, die beide von der Kontinuität und Identität der dementen Person mit derjenigen ausgehen, welche seinerzeit für genau jene nun eingetretene Krankheitssituation eine Patientenverfügung errichtet hat. Nach der ersten Position sind aktuelle Lebensäußerungen, die sich als Zeichen von Lebenswillen und subjektiver Zufriedenheit interpretieren lassen, als Ausdruck der Rücknahme der zu einem früheren Zeitpunkt verbindlich geäußerten autonomen Willensäußerung zu interpretieren. Dieser Position ist auch der Vorschlag Peter Dabrocks zuzuordnen, der auf der Grundlage seines Konzeptes der leiblichen Vernunft argumentiert, es gebe »weit jenseits des biologisch oder sozial standardisierten Normalitätsspektrums Formen der Selbstbestimmung«44, die er als leibliche Selbstbestimmung bezeichnet. Dabrock vertritt die »These, dass bei dementen Menschen kein Verlust, sondern eine Veränderung von Selbstbestimmung stattgefunden hat«45. Konkret bedeutet dies, dass die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung im Fall von Demenz nicht grundsätzlich in Abrede gestellt wird, sondern dass sie solange als Ausdruck von Selbstbestimmung wirksam bleibt, »wie keine anderen leiblichen Ausdrucksgesten Gegenteiliges vermitteln«46. Nach der zweiten Position hat der in gesunden Tagen geäußerte autonome Wille unbedingte Priorität gegenüber dem aktuellen mutmaßlichen Willen.47 Freilich gibt dieser Wille keine Auskunft darüber, welche konkreten Maßnahmen zum Erhalt des Lebens in der aktuellen Krankheitssituation noch ergriffen werden sollen oder nicht. Sofern der behandelnde Arzt sich grundsätzlich für die Lebenserhaltung entscheidet, aber im Sinne der vorliegenden verbindlichen Patientenverfügung auf bestimmte medizinische Maßnahmen verzichtet, so dass schlussendlich das Sterben des 44 45 46 47

Dabrock, Patientenverfügung und Demenz, 92. Vgl. auch ders., Formen der Selbstbestimmung. Dabrock, Patientenverfügung und Demenz, 95. Ebd. So z.B. Dworkin, Life’s Dominion. Vgl. auch Taupitz, Empfehlen, A 109f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Patienten in Kauf genommen wird, handelt es sich um einen Kompromiss zwischen autonomem und natürlichem Willen. Er ist freilich nur als situationsethische Einzelentscheidung zu beurteilen und nicht als ein regelgeleitetes Handeln, bei dem klar ersichtlich wäre, welchem der beiden Willensformen grundsätzlich der Vorrang einzuräumen ist. Eine dritte Position geht nun davon aus, dass die Deutung des ethischen Konflikts im Schema einer Willenskollision überhaupt verfehlt ist.48 Der natürliche Wille zum Zeitpunkt der fortgeschrittenen Demenz kann nach dieser Auffassung gar nicht als Rücknahme einer früheren autonomen Willensäußerung interpretiert werden, da dies voraussetzen würde, dass der Patient zum gegenwärtigen Zeitpunkt sich in irgendeiner Weise zu seinen früheren Entscheidungen verhalten kann. Bei fortgeschrittener Demenz ist aber davon auszugehen, dass der Patient seine früheren Festlegungen weder versteht noch billigen oder missbilligen kann. Mit anderen Worten: Die frühere Patientenverfügung, die nach den Kriterien des PatVG verbindlich errichtet wurde, kann dem jetzigen Patienten nicht mehr zugerechnet werden, weil er mit den in der Verfügung zum Ausdruck gebrachten Überzeugungen in keinerlei subjektivem Zusammenhang mehr steht. Dann ist allerdings zu folgern, dass ihm die belastenden und möglicherweise tödlichen Konsequenzen seiner Patientenverfügung erst recht nicht als autonome Entscheidung zugerechnet werden dürfen. Diese Position argumentiert damit, dass es aufgrund der Erkrankung zu einem vollständigen Bruch der personalen Identität kommt. »Rechtlich gesprochen: Er ist nicht bloß nicht mehr einwilligungs-, er ist auch widerrufsunfähig. Daher geht es nun bei der ärztlichen Entscheidung nur noch um sein Wohl, seine unmittelbaren Interessen.«49 In diesem Fall hat also das Fürsorgeprinzip eindeutig Vorrang vor dem Prinzip der Selbstbestimmung, weil dieses einfach an seine Grenzen stößt. Das PatVG geht auf diese Problematik nicht im Detail ein. Es muss der weiteren Diskussion vorbehalten bleiben, ob hinsichtlich der Widerrufsfähigkeit Punkt gesetzliche Präzisierungen zielführend sind oder ob der Gesetzgeber solche Entscheidungen im Einzelfall ganz den Betroffenen überlassen will. In jedem Fall ist die medizinethische Diskussion zu diesem Thema in Österreich weiterzuführen. Grundsätzlich folgt aus den bisherigen Überlegungen zu Autonomie und Selbstbestimmung von Demenzkranken, dass kein notwendiger Gegensatz zwischen Autonomie und Abhängigkeit besteht, wie sie in gewisser Weise jede Arzt-Patienten-Beziehung kennzeichnet. Über48 49

Vgl. Merkel, Zur Frage der Verbindlichkeit. A.a.O., 304. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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haupt ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, auch für einen erfolgreichen Pflegeprozess das Vorhandensein von Vertrauen. Vertrauen aber, so der Medizinethiker und Theologe Dietrich Rössler, ist akzeptierte Abhängigkeit.50 Die faktische Abhängigkeit des hilfsbedürftigen Menschen darf freilich nicht zur Entmündigung des Patienten führen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass die Selbstbestimmung des Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt wird. Weiterführend sind die Ausführungen Farideh Akashe-Böhmes und ihres Mannes Gernot Böhme zum Autonomiebegriff. Gegenüber paternalistischen Medizinkonzepten spielt die Autonomie des Patienten in den gegenwärtigen medizinethischen Debatten – gerade auch in der Diskussion über Therapieabbruch, Sterbehilfe und Patientenverfügungen – eine tragende Rolle. Oftmals besteht allerdings die Gefahr, dass von einem abstrakten Autonomiebegriff ausgegangen wird, welcher der tatsächlichen Hilfs- und Schutzbedürftigkeit kranker Menschen nicht gerecht wird. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist, wie das Ehepaar Böhme argumentiert, nicht Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal.51 Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können. Wie die Hilfsbereitschaft gehört auch die Hilfsbedürftigkeit zu den grundlegenden Merkmalen menschlichen Lebens. Von Beginn an zeichnet sich unser Leben durch eine »chronische Bedürftigkeit« und eine »unendliche Angewiesenheit« aus.52 Nicht nur in den ersten Lebensmonaten und -jahren, im Krankheitsfall oder bei Unfällen, in Notlagen und akuten Krisen und zunehmend am Lebensende, sondern auch in guten Zeiten sind Menschen auf wechselseitige Hilfe und Unterstützung angewiesen. Konzeptionen einer »Care«-Ethik, die vor allem in der heutigen Medizinethik eine wichtige Rolle spielen, setzen voraus, dass Sorge, lateinisch cura, im Sinne der Selbstsorge und der Fürsorge, ein entscheidendes Grundmotiv menschlicher Lebensführung ist. Das Ethos des Helfens und seine Menschlichkeit gründen ganz wesentlich in der Erfahrung unserer Verletzlichkeit, der eigenen wie der Verletzlichkeit des Anderen. Wechselseitige Hilfsbedürftigkeit ist gerade kein Mangel, sondern im Gegenteil eine Grund50 51 52

Vgl. Rössler, Der Arzt, 46. Vgl. Akashe-Böhme/Böhme, Mit Krankheit leben, 62.85. S.o. 159. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 11. Im Anschluss daran Ziemer, In Freiheit helfen, 7. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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bedingung menschlicher Lebensfülle und menschlicher Daseinserfüllung. Zeiten eigener Krankheit, aber auch die Erfahrung der Krankheit des Anderen machen uns dies auf besonders eindringliche Weise bewusst.53 10.3.4 Passivität Mit dem beschriebenen Phänomen unserer grundsätzlichen Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit ist nun die Einsicht angesprochen, dass Passivitätserfahrungen grundlegend zum menschlichen Leben gehören. Passivität ist ein grundlegendes Merkmal unserer Leiblichkeit, genauer gesagt, das Phänomen des Pathischen. Wir sprechen zum Beispiel von Sinneseindrücken. Sinnliche Wahrnehmung ist an ein Erleiden von Eindrücken gebunden. Konstruktivistische Erkenntnistheorien54 blenden die erkenntnistheoretische und lebensweltliche Bedeutung des Pathischen notorisch aus. Solche Passivitätserfahrungen sind als Hinweis auf eine das Menschsein kennzeichnenden Grundpassivität zu verstehen, die sich nicht nur in unserer Sterblichkeit, sondern auch in unserer Geburtlichkeit zeigt. Was für unser Leben entscheidend ist, nämlich Liebe, Zuwendung, Anerkennung, aber auch Vergebung, können wir uns nicht selbst geben oder schaffen, sondern das alles können wir nur als Gabe empfangen. Nach christlicher Überzeugung verweisen uns die Erfahrungen menschlicher Grundpassivität auf die schlechthinnige Abhängigkeit des Menschen von Gott, die nicht etwa das Gegenteil, sondern gerade der Ermöglichungsgrund menschlicher, das heißt aber endlicher Freiheit ist. 10.3.5 Verlust und Abschied Demenzerkrankungen sind unweigerlich mit Verlusterfahrungen und der Angst vor Verlusten verbunden. Es geht um den Verlust des Gedächtnisses, des Denkvermögens, der Erinnerung, des Sprachvermögens, der Orientierung in Raum und Zeit, um den Verlust von Beziehungen und letztlich um den Verlust des eigenen Selbst. »Ach Gott, ach Gott«, jammerte Auguste D., die berühmte Patientin von Alois Alzheimer, »ich habe mich selbst verloren!«55 Der Umgang mit De53 54 55

Vgl. auch Kruse, Demenz, 50. Vgl. dazu Klein, »Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?«; ders./Körtner (Hg.), Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt. Zitiert nach Aldebert, Sag mir, wer ich bin?, 101. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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menz ist eine Einübung in Verluste, die immer zum Leben dazugehören, im Alter aber an Dramatik gewinnen, weil die Endlichkeit unseres Lebens nun in besonderer Schärfe erlebt wird. Wer von Verlusten im Alter spricht, steht in der Gefahr, ein defizitorientiertes und negatives Bild vom Altern zu bestärken, das doch die Alternsforschung der letzten Jahrzehnte zugunsten eines ressourcenorientierten und positiven Altersbild zurechtgerückt hat.56 Tatsächlich darf man sich das Alter nicht bloß und primär als Lebensphase fortgesetzter Verluste vorstellen. Auch gibt es das Alter gar nicht, wie uns die moderne Gerontologie belehrt, sondern unterschiedliche Phasen und Verläufe des Alterns.57 Hinzukommt, dass Verlusterfahrungen, die schwere Lebenskrisen auslösen können, keine Besonderheit des Alters sind, sondern in jeder Lebensphase auftreten können. Umgekehrt erleben Menschen im Alter neue Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Es gibt im Alter eben nicht nur einen Verlust, sondern auch einen Gewinn von Lebensqualität. Untersuchungen zeigen, dass die gemessene Lebenszufriedenheit im Alter nicht grundsätzlich geringer ist als bei jüngeren Menschen. Freilich ergibt sich für die »jungen« Alten und für hochbetagte Menschen im sogenannten »vierten Lebensalter« ab dem 80. Lebensjahr ein durchaus unterschiedliches Bild: »Während das dritte Lebensalter durchaus im Sinne der späten Freiheit charakterisiert werden kann, die aus dem Fortfallen externer Verpflichtungen in Beruf und Familie erwächst,« – erinnern wir uns noch einmal an Brechts Erzählung »Die unwürdige Greisin«! – »ist das vierte Lebensalter eher im Sinne einer Kumulation von Herausforderungen und Verlusten zu charakterisieren.«58 Auch besteht ein wesentliches Merkmal der für das höhere Alter typischen Verluste darin, dass sie nicht nur unwiderruflich sind, sondern sich auch der Handlungskontrolle der von ihnen Betroffenen entziehen.59 Überhaupt ist zunehmender Kontrollverlust – sei es der Kontrolle über den eigenen Körper und seine Funktionen, sei es das eigene Erinnerungsvermögen, sei es schließlich die Einsichts- und Urteilsfähigkeit oder das Bewusstsein überhaupt – die Hauptangst alter Menschen. 56

57 58 59

Vgl. Baltes/Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns; Mayer/Baltes (Hg.), Die Berliner Altersstudie; Rentsch/Birkenstock, Ethische Herausforderungen, bes. 614ff: Das negative und das positive Paradigma des Alterns in antiken und modernen Reflexionen). Siehe auch Körtner, Leib und Leben, 158ff. Einführend siehe Kruse, Psychologische Alternstheorien; Backes/Clemens, Soziologische Alternstheorien. Kruse, Chancen und Grenzen, 433. Vgl. Filipp, Verlustbewältigung, 111. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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So korrekturbedürftig ein Bild vom Alter als Phase fortgesetzter Verlusterfahrungen ist, so problematisch wäre es, die Realität von Verlusten im Alter herunterzuspielen oder zu tabuisieren. Statt jedoch ungeprüft irgendwelchen Stereotypen von Verlusten im Alter und dem Umgang mit ihnen aufzusitzen, ist es notwendig, sich ein differenziertes Bild der tatsächlichen Lebensverhältnisse alter Menschen in ihrer ganzen Vielseitigkeit zu machen. Umgang mit Verlusten im Alter bedeutet freilich nicht immer und unbedingt, dass sie positiv verarbeitet und bewältigt werden können. Wie auch sonst im Leben ist das Alter vom Risiko und Erfahrungen des Scheiterns nicht ausgenommen. Es geht also nicht nur um die Frage, anhand welcher Kriterien das »Gelingen« von Verlustbewältigung überhaupt gemessen werden soll60, sondern auch darum, dass Versuche des Copings an ihre Grenzen stoßen können. Wie das hohe Alter, so ist auch eine fortschreitende Demenzerkrankung mit permanenten Abschieden verbunden. Sie kann für uns zur Herausforderung werden, sich in ein abschiedliches Leben einzuüben, das auch in gesunden Tagen lernt, loszulassen, auch Lebensentwürfe und Lebensziele, die man sich einst gesteckt hat, auch solche für das Alter. Am Ende bedeutet es gar, sich selbst fallen zu lassen, was aus der Sicht des Glaubens in der Gewissheit geschehen darf, dass wir nicht tiefer fallen können als nur in Gottes Hand.61 Andreas Kruse spricht in diesem Zusammenhang, eine Gedichtzeile von Michelangelo Buonarotti aufgreifend, vom »Ansterben«.62 10.3.6 Resignation Was abschiedliches Leben auszeichnet, ist die Fähigkeit zur Resignation. Meist hat Resignation in Medizin und Pflege eine schlechte Presse. Sie scheint auch nicht zum Menschenbild unser Leistungsgesellschaft zu passen, in welcher die Parole lautet, niemals aufzugeben und sich durch Misserfolge oder Rückschläge nicht entmutigen zu lassen. Resignation, wie ich sie hier zu Ehren bringen möchte, ist gerade keine 60 61

62

Vgl. Filipp, Verlustbewältigung, 100. Vgl. das Kirchenlied von Arno Pötzsch (1941): »Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand, / die er zum Heil uns allen / barmherzig ausgespannt. // Es münden alle Pfade / durch Schicksal, Schuld und Tod / doch ein in Gottes Gnade / trotz aller unsrer Not. // Wir sind von Gott umgeben / auch hier in Raum und Zeit / und werden in ihm leben / und sein in Ewigkeit« (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 533). Kruse, Demenz, 48f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Schwäche, sondern eine Stärke, genauso wie auch Aufhören nach einem bekannten Wort der Dichterin Ingeborg Bachmann keine Schwäche, sondern eine Stärke ist.63 Arno Geiger erlebt im Umgang mit seinem kranken Vater, »daß auch derjenige gewinnen kann, der aufgibt«64. Resignation ist die Kunst des Aufhörens.65 Wir leben dagegen in einer Gesellschaft, die nicht aufhören kann. Gegen das Immerweiter-so, das nach Walter Benjamin die eigentliche Katastrophe der Moderne darstellt,66 steht die Kunst der Resignation. Resignation ist die Kehrseite der bereits angesprochenen Souveränität, Abhängigkeit akzeptieren zu können, ohne darum seine Selbstbestimmung einzubüßen oder die Hoffnung zu verlieren.67 Resignation in dem hier in Rede stehenden Sinne und Hoffnung bilden keinen Gegensatz. Vielmehr gibt es eine Form der Resignation, die – ganz im Sinne von Dietrich Bonhoeffers Dialektik von Widerstand und Ergebung 68 – gerade als Ausdruck der Zuversicht, der Dankbarkeit und der Hoffnung zu verstehen ist; einer Hoffnung freilich, die sich gerade nicht auf das eigene Selbst und die eigenen – begrenzten und irgendwann schwindenden – Ressourcen stützt, sondern die auf eine von uns Menschen selbst nicht zu leistende höhere Vollendung hofft, wie sie uns im Neuen Testament verheißen ist. Resignation »ist der wissende Selbstvollzug unserer Endlichkeit«, lautet eine treffende Definition des evangelischen Theologen Walter Mostert.69 »Die Resignation, die ja heiter sein und lachen kann, vermag unsere Endlichkeit als Eingelassensein in vorgegebene, geschenkte Welt zu verstehen. Sie erfährt Endlichkeit nicht als Begrenztheit, sondern als Zuneigung der Fülle des Seienden.«70 Ihr Wesen besteht nicht im Machen und Produzieren, sondern darin, die Güte des Gegebenen zu erspüren und dankbar anzunehmen. Sie stellt keine Dinge 63 64

65 66 67 68 69

70

Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden, 105. Geiger, Der alte König, 59. Das Motiv der Resignation begegnet bei Geiger auch 8 und 134: »Auch das Eingestehen einer Niederlage kann eine Erfolg sein.« Vgl. Gronemeyer, Genug ist genug. Vgl. Benjamin, Zentralpark, 683. Zum Folgenden vgl. Körtner, Leib und Leben, 174ff. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 333f. Mostert, Meditation, 46. Mostert charakterisiert die Resignation auch, eine Wendung Adornos aufgreifend, als »angestrengte Passivität« (46f.). Aber der Begriff der Anstrengung klingt missverständlich, so als sei die Resignation doch von der Sorge umgetrieben, von der sie Mostert ganz richtig unterscheidet. A.a.O., 46. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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her, sondern macht sich etwas aus den Dingen, auch und gerade den kleinen Dingen des Alltags. Das Ethos der Resignation ist ein Ethos der Gelassenheit, des Sein-Lassens und des Loslassens. Insofern schafft Resignation Distanz und Freiheit bis zu jener letzten Freiheit, die darin besteht, das Leben selbst loslassen zu können, im Vertrauen darauf, bei Gott geborgen zu sein. Häufig wird Resignation negativ bewertet und mit Depression, Hoffnungslosigkeit oder Mutlosigkeit und Verzagtheit gleichgesetzt. Tatsächlich ist die Resignation jedoch eine lebensbejahende Einstellung, nicht Symptom psychischer Krankheit, sondern im Gegenteil das Anzeichen intellektueller Wachheit. »Resignare« bedeutet im Lateinischen soviel wie »entriegeln«, »eröffnen«, »entsagen«. Resignation ist Verzicht, Entsagung oder Ergebung. Wie man sie psychologisch oder gar moralisch zu beurteilen hat, hängt von den konkreten Umständen ab. Verzicht und Entsagung können unsinnigerweise, vorschnell oder überflüssigerweise geleistet werden. Es gibt aber auch, woran Bonhoeffers Vergleich mit Don Quijote und Michael Kohlhaas erinnert,71 ein geradezu verzweifeltes Festhalten an Illusionen und trügerischen Hoffnungen; einen sinnlosen Widerstand gegen das Unvermeidliche, ein zerstörerisches Festhalten an falschen Idealen oder unerreichbaren Zielen. Resignation ist nicht mit Depression oder völliger Mutlosigkeit gleichzusetzen. Es handelt sich bei ihr gerade um die Überwindung von Depression, die gerade in der Angst vor dem Verzicht, nämlich in Verlustangst bestehen kann. Wer wahrhaft resigniert, legt die Angst vor dem Verlust ab. Er verliert nicht alle Hoffnung, sondern weiß zwischen berechtigter und trügerischer Hoffnung zu unterscheiden. Er ist enttäuscht, gewiss, aber in einem heilsamen Sinne. Resignation besteht nicht in der Enttäuschung als solcher, sondern in ihrer Überwindung, besser gesagt: in ihrer Verwindung. Resignation ist die Schwester des Realismus. Sie ist ein Zeichen der Reife, weil sie die Folgerungen aus einer realistischen Selbsteinschätzung oder einer realistischen Einschätzung der Lage zu ziehen vermag, ohne daran zu zerbrechen. Fragwürdig ist ein Realismus ohne Hoffnung. Nicht minder fragwürdig aber ist eine Hoffnung ohne Realismus. Wer wahrhaft resigniert, hat es gelernt, mit narzisstischen Kränkungen zu leben und sein Ich-Ideal mit seiner Selbsteinschätzung in Einklang zu bringen. Resignation entreißt uns dem qualvollen Zirkel von Grandiositätsgefühlen und Depression. 71

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 333. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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In diesem Sinne darf man von der Demut des Glaubens sprechen, die keineswegs eine Haltung der aktiven Lebensgestaltung oder das Bemühen, die konkrete Situation selbständig zu meistern, ausschließt. Im Gegenteil. Aber die Demut schließt die Bereitschaft zur Ergebung ein, so dass aus Lebensführung ein Geführt-Werden wird.72 Resignation äußert sich in Dankbarkeit für das Leben mit seinen Höhen und Tiefen. Sie zeigt sich darin, dass auch die eigenen Fähigkeiten und Erfolge als Geschenk und Gnade empfunden werden. 10.3.7 Fragment und Vollendung Die Haltung der Resignation ist der Einsicht in die Fragmenthaftigkeit unseres Daseins angemessen, die gerade in der Demenz schmerzvoll erfahren wird. Tritt eine Demenz auf, so wird dadurch grundlegend die Idee eines gelingenden Lebens und auch eines gelingenden Alters in Frage gestellt, die für unsere heutige Leistungsgesellschaft typisch ist. Mit Recht wendet sich die evangelische Theologin Gunda SchneiderFlume gegen die Tyrannei des gelingenden Lebens, welche auch noch das Alter und das Sterben zu Projekten des modernen Subjekts erklärt.73 »Im Falle der Demenz bleibt der Wunsch, das eigene Leben vollenden zu können, unerfüllt. Dabei ist dieser Wunsch für die meisten älteren Menschen in hohem Maße bedeutsam.«74 Die Fragmenthaftigkeit unseres Daseins zeigt sich nicht nur darin, dass seine Vollendung aus eigener Kraft nicht mehr gelingen kann, sondern auch in der Erfahrung, dass die Person in Folge der Demenz von Auflösungserscheinungen befallen wird. In der biblischen Tradition, besonders in den Psalmen, finden sich sprachliche Bilder, um diesen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. So heißt es im 31. Psalm in der Übersetzung der neuen Zürcher Bibel: »Vergessen bin ich, wie ein Toter aus dem Sinn, bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß« (V. 13). Der Dichter Arnold Stadler übersetzt: »Schon sehe ich mich zerfallen: Augen, Seele und Leib. […] Ich bin ein Scherbenhaufen« (V. 9 u. 13).75 72

73 74 75

Fischer, Theologische Ethik, 136. Vgl. dazu auch das Wort des Auferstandenen an Petrus in Joh 21,18 und den Bericht des evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer über seine Kriegsgefangenschaft: Gollwitzer, »... und führen, wohin du nicht willst«. Vgl. Schneider-Flume, Leben ist kostbar; dies. Alter. Kruse, Demenz, 77. Zitiert nach Barth, Bibelarbeit über Psalm 31, 26f. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Auch Dietrich Bonhoeffer hat die Fragmenthaftigkeit unseres Lebens eindringlich zum Thema gemacht. In Anbetracht seines eigenen Schicksals und des frühen gewaltsamen Todes vieler seiner Schüler schrieb er 1944 an seine Eltern: »Unsere geistige Existenz […] bleibt […] ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören […], und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z.B. an die Kunst der Fuge [sc. von Johann Sebastian Bach]. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbruch – höchstens – noch der Choral: ›Vor Deinen Thron tret’ ich allhier‹ [sic!] intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.«76

Die Ganzheit unseres Lebens ist weder in jungen Jahren noch im Alter ein biblisch begründetes Ziel. Auch ist der Sinn unseres Lebens nicht das alleinige Ergebnis unserer Deutungsleistung. Nach biblischem Verständnis ist der Sinn unseres Lebens vielmehr eine Frage des Glaubens, d.h. aber unter Umständen einer kontrafaktischen Hoffnung, die im Hier und Jetzt keine Erfüllung findet. Es ist eben nicht so, dass die Harmonie und Ganzheitlichkeit unseres Lebens immer schon vorgegeben oder von uns deutend herzustellen wäre, sondern die Melodie unseres Lebens bricht ab. Und es kann bestenfalls unsere Hoffnung sein, dass sie von Gott vollendet oder in die von ihm komponierte Gesamtmusik als sinnvolles Fragment eingefügt wird. Das mag auch unsere Hoffnung sein, wenn andere Menschen sterben oder ihr Geist und ihre Person, wie wir sie kannten, schon vor ihrem physischen Tod durch Demenzkrankheit verlöschen, in Bewusstlosigkeit versinken; wenn – um im Bild zu bleiben – nur noch Melodiefetzen zu hören sind, zunehmend überlagert durch ein Rauschen, oder wenn die vordem so laut zu vernehmenden Töne leiser und leiser werden, bis wir sie nicht mehr hören.

76

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 336. Bachs »Kunst der Fuge« wurde mit dem Choral »Vor deinen Thron tret’ ich hiermit [sic!]« tradiert. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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10.4 Auf der Suche nach Heimat Arno Geiger hat für seinen demenzkranken Vater das Bild vom alten König im Exil gefunden. Die Welt wurde ihm immer fremder, auch und gerade, weil es ihm immer häufiger misslang, Gesprächen zu folgen und Gesichter zu entziffern. Das Gefühl der Heimatlosigkeit begegnet einem oft bei Menschen, die unter Demenz leiden. Es ist aber auch ein Sinnbild menschlicher Existenz, wie wir es immer wieder in der Kulturgeschichte antreffen und auch in der biblischen Tradition. Das Johannesevangelium charakterisiert die Christen als Menschen, die zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt leben, weil auch das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist. Wie Geiger schreibt, begriff er erst nach Jahren, in denen sein Vater erkrankt war, »dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte. Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.«77 Heimat ist, um mit Ernst Bloch zu sprechen, »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«78. In einer globalisierten Welt, in der Menschen überall – und letztlich doch nirgends mehr zu Hause sind, ist die Sehnsucht von Dementen, nach Hause zu kommen, ein Sinnbild menschlicher Existenz. 10.5 Inklusion: Die Herausforderung Demenz aus sozialethischer Perspektive 10.5.1 Die inklusive Gesellschaft: Utopie oder realistisches Ziel? Ausgehend von der UN-Menschenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vollzieht sich in allen Arbeits- und Lebensbereichen, in denen Menschen mit Behinderungen im Fokus stehen, ein Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion. Namentlich die Diakonie hat sich dem Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderungen verschrieben und setzt damit den Weg fort, der bereits von der Exklusion dieser Menschen in der Vergangenheit zur In77 78

Geiger, Der alte König, 56. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1623. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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tegration beschritten wurde. Parallel- und Sonderwelten, für welche die im 19. Jahrhundert entstandene und im 20. Jahrhundert weiterentwickelte Anstaltsdiakonie steht, sollen endgültig der Vergangenheit angehören. An die Stelle geschlossener Einrichtungen und gesonderter Ortschaften sind zunehmend dezentrale Wohngemeinschaften und ambulante Angebote der Eingliederungshilfe und der medizinischen, pflegerischen und psychotherapeutischen Versorgung getreten. Das Gleiche gilt für Schulangebote und Arbeitsplätze. In Deutschland ist der Anteil ambulant unterstützter Personen, der noch Ende der 1980er Jahre fast bei null lag, auf beinahe 40 Prozent gestiegen.79 Der Gedanke der Inklusion geht über den der Integration freilich noch hinaus. Inklusion bedeutet, dass nicht die Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen in der Weise in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen, ohne dass diese ihre Normen- und Wertvorstellungen ändern müsste. Vielmehr soll die Gesellschaft so verändert werden, dass sie sich auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen einstellt. Es geht um umfassende Teilhabe, bei der sich nicht die Minderheit den Normen der Mehrheit unterwerfen muss, sondern jede Form von Diskriminierung und Barrieren überwunden werden soll.80 Die UN-Behindertenrechtskonvention bringt den Gedanken der sozialen Inklusion in der Weise zum Ausdruck, dass sie von dem »wertvollen Beitrag« spricht, »den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können«81. Die »Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe« könne »ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen«82. Wichtig sei ferner die »Erkenntnis, wie wichtig die individuelle Autonomie und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen ist, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen«83. Außerdem sollten »Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben«, »aktiv an Entscheidungsprozessen über 79 80 81

82 83

Vgl. Wienberg, Von der Integration zur gesellschaftlichen Inklusion. Vgl. Starnitzke, Diakonische Identität, 115. UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. m. Die deutsche Übersetzung des Textes ist abrufbar unter http://www.sozialministerium.at/cms/site/attach ments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/un-konvention_inkl._fakultativpro tokoll,_de.pdf (letzter Zugriff am 12.3.2016). Ebd. UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. n. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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politische Konzepte und über Programme mitzuwirken, insbesondere wenn diese sie unmittelbar betreffen«84. Günther Wienberg, Mitglied im Vorstand der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, weist freilich darauf hin, dass noch nicht einmal das Ziel der Integration als vollständig verwirklicht gelten kann. Vielmehr gibt es gegenläufige Entwicklungen, die als problematisch anzusehen sind.85 Zumindest in den Anfangsjahren der Enthospitalisierung wurden nicht selten chronisch kranke und behinderte Menschen aus öffentlichen psychiatrischen Anstalten in private Einrichtungen des gleichen Typs verlegt. Die Zahl der Betten in der Akutversorgung ist drastisch gesunken, während sich die Zahl der Plätze im Maßregelvollzug seit Beginn der 1990er Jahre verdreifacht hat. Menschen mit seelischen und geistigen Behinderungen sind vom allgemeinen Arbeitsmarkt noch immer weitgehend ausgeschlossen. Weitgehend gelungen ist zwar die Integration von Menschen mit leichteren Störungen oder Behinderungen, nicht aber diejenige von Menschen mit schwerwiegenden und komplexen Beeinträchtigungen. Sie sind weiterhin »auf separierende Sonderwelten außerhalb oder am Rande der Gesellschaft verwiesen«86. Was nun die Vision einer inklusiven Gesellschaft betrifft, gibt es zumindest drei Gesichtspunkte von grundlegender Bedeutung. Der erste betrifft die Frage der Ressourcen. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention wird der rechtsbasierte Ansatz der Behindertenpolitik gestärkt. Menschen mit Behinderungen gelten nicht mehr als Objekte der Sozialpolitik, sondern als Bürgerrechtssubjekte. Konkret ist damit die Forderung verbunden, die Hilfen für Menschen mit Behinderungen aus der Sozialhilfe herauszulösen und durch ein eigenes Leistungsgesetz zu regeln. Zynisch ist es freilich, wenn Menschen Rechte ohne Ressourcen besitzen. Das ist in vielen Vertragsstaaten noch immer der Fall. Wienberg bezeichnet die Behindertenrechtskonvention »als konkrete[] Utopie, deren Verwirklichung man sich wohl am besten als langen, steinigen Weg vorstellt«87. Auch hierzulande wird die Verwirklichung dieser Utopie kein Selbstläufer sein, also keineswegs, wie vielleicht manche Politiker glauben, kostenneutral zu bewerkstelligen sein, sondern Geld kosten und mit gesellschaftlichen Konflikten verbunden sein. Die Forderung nach wirksamen Einsparungen in den öf84 85 86 87

UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. o. Zum Folgenden vgl. Wienberg, Von der Integration zur gesellschaftlichen Inklusion, 104. Ebd. A.a.O., 107. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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fentlichen Haushalten führt dazu, dass auch die Idee der Inklusion in den Sog von Kostendämpfungsdebatten gerät. Der zweite Punkt: »Jede ›Reform‹ ist mit Chancen, ist aber auch mit Risiken und Gefahren verbunden. Eine der größten Gefahren der Inklusions-Utopie ist, dass sie unterwegs einen Teil der Betroffenen als nicht inkludierbar zurücklässt. Denn es geht eben nicht nur um die sympathische junge Frau mit einem Down-Syndrom oder den netten Studenten, der nach einem Sportunfall querschnittsgelähmt ist. Sondern es geht auch um Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, um chronisch suchtkranke Menschen und psychisch kranke Menschen, die auffällig sind und stören.«88 Schließlich ist noch ein dritter Gesichtspunkt zu bedenken: So wünschenswert eine offene und partizipative Gesellschaft auch grundsätzlich erscheinen mag, so wenig dürfen doch Menschen zu einer bestimmten Form der Teilhabe gezwungen werden. Das Recht auf Inklusion darf nicht zum Inklusionszwang mutieren. Dierk Starnitzke erinnert daran, dass der Begriff der Inklusion historisch eine ganz andere Bedeutung als heute hatte.89 Er bezeichnete z.B. den freiwilligen Rückzug eines Mönches aus der Welt, also die monastische Klausur. Inklusion steht in diesem Fall für freiwillige Exklusion. So könne auch heute der Begriff der Exklusion durchaus einen positiven Sinn haben, sofern er für die Möglichkeit steht, dass Menschen sich an bestimmten Stellen freiwillig aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen zurückziehen, um für sich zu sein. Auch in Zukunft wird es »Menschen geben, die sich für das Wohnen, Lernen und Arbeiten, das Gefördert- und Gepflegtwerden in einer Nische, in einem besonderen Lebensraum außerhalb oder am Rande der Gesellschaft entscheiden werden oder darauf angewiesen sind. Menschen, die eher Schutz und Fürsorge als vielfältige Teilhabemöglichkeiten wünschen oder benötigen.«90 Generell besteht die Gefahr, den Begriff der Inklusion ideologisch aufzuladen und zu ignorieren, dass niemand im vollen Umfang in sämtliche Teilsysteme der Gesellschaft – Wirtschaft, Bildung, Kultur etc. – inkludiert ist. Wiederum besteht eine Paradoxie der Inklusionsdebatte darin, dass beispielsweise Menschen mit Behinderungen sehr stark in das Gesundheits- und Pflegesystem inkludiert sind.91 Wenn man die 88 89 90 91

A.a.O., 108. Vgl. Starnitzke, Diakonische Identität, 115. Wienberg, Von der Integration zur gesellschaftlichen Inklusion, 108. Vgl. auch Dederich, Grenzen der Inklusion? Vgl. Brandenburg, Inklusion, 1, http://www.pthv.de/fileadmin/user_upload/ PDF_Pflege/Vorlesungsunterlagen/Brandenburg/eigene_veroeffentlichungen/ © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Kritik an einer einseitigen Medikalisierung von Demenz für berechtigt hält, muss man davon sprechen, dass die betroffenen Menschen in einem Teilbereich der Gesellschaft in einem viel zu hohen Grad eingebunden sind. Inklusion ist nicht in jedem Fall ein positiver Wert an sich. Die genannten Gesichtspunkte sind nun auch zu bedenken, wenn es um die Inklusion von Menschen mit Demenz geht.92 10.5.2 Inklusion von Menschen mit Demenz – praktische Überlegungen Wir sagten, Exklusion und Inklusion von Menschen mit Demenz beginne in unseren Köpfen und in unserer Sprache. So wichtig sachgerechte medizinische, pflegerische, psychosoziale und rechtliche Informationen auch sind, noch bedeutsamer sind Erlebnisberichte, Biographien und Romane. Wirkmächtiger als die Sprache sind oft die Bilder, die wir uns machen. Ich denke hierbei an das Kino und das Fernsehen, an preisgekrönte Filme wie »Die Auslöschung« (2013) mit Klaus Maria Brandauer und Martina Gedeck in den Hauptrollen, an »Iris« (2001), die Verfilmung der Biographie der englischen Literaturwissenschaftlerin Iris Murdock, gespielt von Judy Dench, an Till Schweigers Tragikomödie »Honig im Kopf«, die 2014 in die Kinos kam und die fiktive Geschichte des an Alzheimer erkrankten ehemaligen Tierarztes Amandus Rosenbach erzählt. Um das Thema Alzheimer geht es auch in der Romanverfilmung »Still Alice« (2014), deren Hauptdarstellerin Julianne Moore mit dem Oskar ausgezeichnet wurde. Auch Michael Hanekes Film »Amour« (2012) ist hier zu erwähnen, dessen Protagonistin an den Folgen eines Schlaganfalls leidet. Die entscheidende Frage lautet, welche Bilder vom Leben mit Demenz, vom Leben der an ihr Erkrankten wie ihrer Angehörigen und ihrem sozialen Umfeld solche Filme vermitteln. Es geht nicht nur darum, wie realistisch oder rührselig verschiedene Krankheitsverläufe geschildert werden, sondern auch darum, ob hier Geschichten des Grauens oder der Zuversicht erzählt werden. Entsteht im Betrachter ein düsterer Tunnelblick, wie im Fall von »Amour« und »Die Auslöschung«, so dass die Tötung aus Liebe als einziger Ausweg bleibt, oder gibt es Gegenbilder, die zeigen, wie

92

Inklusion_von_Menschen_mit_DemenzZQPBerlin19052104.pdf (letzter Zugriff am 12.3.2016). Zur ethischen Diskussion siehe u.a. Post, Moral Challenge; Wetzstein (Hg.), Ertrunken im Meer des Vergessens?. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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es für alle Beteiligten möglich ist, ein Leben mit der Demenz zu führen, auch wenn dies mit großen Belastungen verbunden ist, weil es doch auch noch Momente des Glücks, der Erfüllung und der Erfahrung von Liebe und Lebenssinn gibt. Suizid und Tötung auf Verlangen sind ultimative Akte der Exklusion. Wird uns gezeigt, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, oder zeigt man uns Menschen, die zunehmend in Isolation geraten? Die öffentliche Meinung zum Thema Demenz wird auf diese Weise stark beeinflusst. Wichtig sind auch praktische Beispiele, wie Menschen mit Demenz in der Gesellschaft ihren Platz behalten oder neu finden können, Beispiele etwa von Wohngemeinschaften oder Tageszentren mitten in einem Stadtviertel, also außerhalb der Sonderwelt von Pflegeeinrichtungen. Auch assistive Technologien werden in der Betreuung von Demenzkranken zukünftig eine größere Rolle spielen. Damit Demenzkranke in der Mitte der Gesellschaft leben können, braucht es allerdings mehr als guten Willen, nämlich Strategien und finanzielle Mittel. Neben individuellen Unterstützungsangeboten für Betroffene – von der Demenzberatung über stundenweise Entlastung pflegender Angehöriger über Kurzzeitpflege und Urlaubsbetten – sind auch Strategien für demenzfreundliche Kommunen zu erwähnen.93 Eine umfassende Demenzstrategie hat auch die Rolle der Medizin kritisch zu bestimmen. So wichtig eine gute medizinische Versorgung von Menschen mit Demenz ist, so problematisch ist doch die Engführung der Sichtweise auf die Demenz als medizinisches Problem. Die Medikalisierung der Demenz ist gerade nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems. Im Sinne der grundsätzlichen Überlegungen zu Inklusion und Exklusion in Abschnitt 10.5.1 sollte Inklusion aber nicht ausschließlich mit der Betreuung von Demenzkranken in der häuslichen Umgebung gleichgesetzt werden. Auch in einer Gesellschaft, die sich der Leitidee der Inklusion verpflichtet weiß, kann es für manche Betroffene besser sein, wenn es für sie einen Ort des Rückzugs gibt. Wie auch in anderen Fällen von Pflegebedürftigkeit können stationäre Angebote nach wie vor bessere Lebenschancen bieten. Doch sind längst nicht alle Einrichtungen der Pflege oder der Altenhilfe auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ausgelegt. Problematisch ist es außerdem, wenn es für jüngere Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung keine altersgerechte Unterbringungsmöglichkeit gibt. Was aber ist von Demenzdorf-Projekten wie im niederländischen De Hogeweyk nahe Amsterdam zu halten? Inzwischen gibt es in der Nähe 93

Vgl. Brandenburg, Inklusion, 4ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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von Hameln auch in Deutschland ein erstes Demenzdorf, »Tönebön am See«.94 In der deutschen Kleinstadt Alzey bei Worms ist ein ähnliches Projekt geplant, das derzeit aber auf Eis liegt. Kritiker sprechen von einem Ghetto, Befürworter halten dagegen, dass Demenzkranke in solch einem Dorf maximale Freiheit genießen, wie sie andere Einrichtungen nicht bieten können.95 Kritische Stimmen wenden wiederum ein, dass die Bewohner eines Demenzdorfes – man sollte besser von einer Pflegeeinrichtung mit dörflichem Charakter sprechen – nicht nur in einer Sonderwelt, sondern in einer Scheinwelt leben, weil ihnen eine Wirklichkeit vorgegaukelt werde, die gar nicht existiert. Künstliche Bushaltestellen, Zugfahrsimulatoren oder Geschäfte, in denen die Ware, die die Bewohner tagsüber gekauft haben, am Abend wieder in die Regale zurückgelegt wird, seien ein Lügengespinst. Kritiker sagen, das gelte auch von der Paro, der computergesteuerten Therapie-Robbe. Entscheidend für die Bewertung ist m.E., welche Angebote für die Betroffenen im Einzelfall am besten sind. Demenzkranke generell in gesonderte Lebensräume am Rande oder außerhalb der Gesellschaft zu verbannen, wäre eine völlig unethische und kontraproduktive Strategie. Problematisch wäre es freilich auch vielmehr, wenn eine Gesellschaft, die sich der Vision der Inklusion verschreibt, aus ideologischen Gründen jede Form von besonderen Lebenswelten – sei es in einer stationären Einrichtung der Pflege oder Altenhilfe oder auch einer besonderen Ortschaft – ablehnen würde. Nachbarschaftshilfe ist sicher wünschenswerter als das Leben in einer Sonderwelt. Sie mag in kleineren Gemeinden funktionieren, kaum aber in großstädtischen Ballungsgebieten. Wir brauchen daher eine Vielfalt von Angeboten.96 Auch in einer inklusiven Gesellschaft wird es Menschen geben, die sich für eine solche Lebensweise entscheiden oder darauf angewiesen sind. Worauf es aber ankommt ist, dass die Grenzen zu solchen besonderen Lebensorten und Lebensräumen durchlässig bleiben, solange sich nicht Menschen selbst ab- und ausschließen wollen. Kritiker wie Reimer Gronemeyer stoßen sich daran, dass das Demenzdorf bei Hameln eingezäunt ist, um die Bewohner am Weglaufen zu hindern. Ein Zaun kann freiheitsbeschränkend sein, er kann aber auch Sicherheit bieten. Wie offen oder durchlässig die Grenze zwischen verschiedenen Lebensorten und Lebenswelten ist, hängt m.E. nicht von Zäunen ab, sondern von sozialen Faktoren. Soziale Isolation gibt es auch, wo kei94 95 96

Vgl Kock, Eingezäunte Freiheit. Vgl. Habekuß, Im Dorf des Vergessens. Vgl. auch Kruse (Hg.), Lebensqualität bei Demenz?; Robert Bosch Stiftung (Hg.), Gemeinsam. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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ne Zäune und Mauern existieren. Dort kann auch die Selbstbestimmung von Bewohnern und Bewohnerinnen unter Umständen weit mehr beschnitten werden als in einem geschützten Raum. Die Diskussion über Demenzdörfer sollte darum nach meinem Dafürhalten offen geführt werden. Demenzdörfer sind freilich bestenfalls ein Element einer umfassenden Demenzstrategie, deren Schwerpunkt auf der Verbesserung der Unterstützungsangebote in der Alltagswelt liegen muss. Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion? Um eine sinnvolle Vision handelt es sich nur, sofern der Begriff der Inklusion differenziert und kritisch gebraucht wird. Andernfalls droht er zur Ideologie zu werden, die den Betroffenen nicht dient, sondern schadet. Die totale Inklusion würde nämlich zu einer totalitären Gesellschaft führen. Jedes totalitäre Denken aber wird durch die Irritation Demenz zum Einsturz gebracht.

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11 Ethik in Altenhilfe und Pflege1

11.1 Umgang mit dem Alter(n): Ethik und Anthropologie Alle Ethik ist angewandte Anthropologie. So geht es auch im Kern aller medizin- und pflegeethischen Diskussionen um grundlegende Fragen unserer Sicht vom Menschen. Hinter der häufig gestellten, allerdings viel zu vordergründigen Frage, ob die Medizin darf, was sie kann, steht die anthropologische Grundfrage: Was ist der Mensch? Genauer gesagt, geht es um die Einstellung des Menschen zu seinem Leben, zu Krankheit und Gesundheit, zu seiner Sterblichkeit und zu seinem Tod. Das aber sind Fragen, welche die Medizin nicht für die Gesellschaft beantworten kann, sondern welche von dieser selbst bzw. von jedem Einzelnen persönlich zu beantworten sind. Die bioethischen Debatten sind also Orte, an welchen unsere Gesellschaft ihr Verhältnis zum Sinn des Lebens und des Leidens, zu Geburt und Tod als gleichermaßen personalen wie sozialen Realitäten zu klären versucht. Die anthropologische Grundfrage nach dem Begriff des Menschen ist nicht nur auf seine inhaltliche Bestimmung, sondern auch auf seine Reichweite zu beziehen. Die Frage lautet also nicht nur: Was ist der Mensch, d.h. was ist sein Wesen und seine Bestimmung, sondern auch: Wer oder Was ist ein Mensch? Ab wann und wie lange ist menschliches Leben als Leben eines Menschen anzusehen? Gerade am Lebensanfang, d.h. im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Forschung an Embryonen, aber auch am Lebensende in Verbindung mit den Problemen des medizinisch assistierten Sterbens gewinnt diese Frage an Brisanz. Insbesondere sind es heute die verschiedenen Formen der Demenz, die uns heute keine einheitliche Ursache haben, sondern durch ganz unter1

Vortrag auf dem Fachtag »Ethik in Altenhilfe und Pflege« der v. Bodelschwinghschen Stiftungen am 22.1.2014 in Hannover. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schiedliche Krankheitsprozesse ausgelöst werden können, fordern uns heraus, uns ganz grundsätzlich mit dem vorherrschenden Menschenbild unserer Leistungsgesellschaft, aber auch mit unserer persönlichen Sichtweise des Menschseins auseinanderzusetzen.2 Die reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und mit Verlusten, wie sie uns beispielsweise eine Demenzerkrankung zumutet und drastisch vor Augen führt, gehört zu einem erfüllten – und das heißt auch zu einem sinnerfüllten – Leben. Sie ist auch eine notwendige Voraussetzung für jede Ethik in Altenhilfe und Pflege und den persönlichen Umgang mit ethischen Fragen und Konflikten im beruflichen Alltag. Nötig ist auch die Auseinandersetzung mit dem Altwerden, mit negativen und positiven Altersbildern und mit den Folgen des demographischen Wandels.3 Nach wie vor überwiegen in unserer Gesellschaft negativ besetzte Bilder des Alterns und Altseins. Auch die demographische Zunahme der absoluten Zahl von älteren Menschen über 65 Jahren und alten Menschen über 75 Jahren löst in der öffentlichen Diskussion negative Gefühle aus. Man spricht von »Überalterung«, was einem negativen Werturteil gleichkommt. Zwar wird erleichtert zur Kenntnis genommen, dass sich der Gesundheitszustand der heute Siebzigjährigen gegenüber den älteren Geburtsjahrgängen deutlich verbessert hat, so dass es heute einen neuen Typus der »jungen Alten« gibt, die noch ein aktives und ausgefülltes Leben führen. Aber mit Besorgnis registriert die Öffentlichkeit, dass auch der Bevölkerungsanteil der Hochbetagten über 85 Jahren steigt, deren Leben von physiologisch bedingter Altersgebrechlichkeit, Multimorbidität und chronischen Erkrankungen geprägt ist. Neben der Angst vor körperlichem und geistigem Verfall gibt es die Furcht vor der Perspektivlosigkeit der letzten Lebensphase, vor Vereinsamung und sozialem Tod. Angesichts des prognostizierten Zuwachses an Menschen, die intensive Pflege brauchen, wird der »Pflegenotstand« ausgerufen und eine weitere »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen befürchtet. Alte Menschen und ihre Angehörigen fürchten sich vor Pflegebedürftigkeit als Armutsrisiko, junge Menschen sorgen sich um die intergenerationelle Gerechtigkeit. Es stimmt freilich, dass immer weniger Erwerbstätige für die Pensionen und die Gesundheitsversorgung einer steigenden Zahl von Pensionisten aufkommen müssen, während die eigenen Rentenansprüche durch »Pensionsreformen« geschmälert werden. Die Berichterstattung in den Medien und die öffentlichen Diskussion weisen bisweilen tendenziös da2 3

Dazu siehe oben ausführlich oben Kapitel 10. Vgl. Körtner, Leib und Leben, 158ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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rauf hin, dass die Menschen über 65 Jahren den größten Anteil der Kosten verursachen, die durch stationäre Behandlung im Krankenhaus und Medikamentenverbrauch aufgrund der alterskorrelierenden Multimorbidität entstehen. Zu den negativen Bildern des Alterns gehört auch die verbreiteten negativen Vorstellungen vom Leben und Sterben in Pflegeeinrichtungen. 75 Prozent der pflegebedürftigen in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden zunächst zu Hause gepflegt. Erfreulicherweise ist die Solidarität zwischen den Generationen immer noch hoch. Außerdem gibt es heute verbesserte ambulante Unterstützungsangebote. In der letzten Lebensphase müssen dennoch viele pflegebedürftige Menschen ihre häusliche Umgebung aufgeben. Etwa 70 Prozent der Menschen sterben heute in einer Institution, sei es im Krankenhaus oder im Pflegeheim.4 Das Eintrittsalter in die Einrichtungen der Altenhilfe ist kontinuierlich angestiegen. Es liegt inzwischen bei über 85 Jahren, während die Verweildauer sinkt. Sie beträgt heute durchschnittlich zwei Jahre. Pflegeeinrichtungen gelten als gesellschaftliche Orte institutionalisierter Gebrechlichkeit.5 Leider sind eher unfreiwillige Einweisungen ins Heim im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt die Regel. Eine ambulante Rehabilitation hat vorher meist nicht stattgefunden. Oft bleibt den alten Menschen kaum Zeit, sich auf den Einzug ins Heim vorzubereiten oder gezielt eine Pflegeeinrichtung auszuwählen. Aus ethischer Sicht ist allerdings zwischen den realen Problemen altersspezifischer Gebrechlichkeit, ihrer möglichen Vermeidung oder Bewältigung, und gesellschaftlichen Bildern von Altersgebrechlichkeit samt ihren gesellschaftlichen und sozialpolitischen Folgen zu unter4

5

In Österreich gab es z.B. im Jahr 2001 insgesamt 74.767 Todesfälle. Im Landesdurchschnitt starben 55,3 % der Menschen im Spital, 11,6 % in Alten- und Pflegeheimen, 27 % an der Wohnadresse, 0,3 % beim Transport zu einer Klinik. Die Zahl der sonstigen Todesfälle (z.B. Unfälle, Tötungsdelikte) betrug 5,8 %. In Wien lag die Zahl der in Einrichtungen verstorbenen Personen mit 79,2 % über dem Landesdurchschnitt. Von 16.943 Menschen verstarben 70,5 % im Spital, 8,7 % in Heimen, 14,9 % an der Wohnadresse, 0,4 % beim Transport und 5,8 % unter sonstigen Umständen. Generell lässt sich sagen, dass in Wien nur halb so viele Menschen wie in den überwiegend ländlich geprägten Bundesländern in der eigenen Wohnung sterben. Aber auch die Zahl derer, die im Heim versterben ist signifikant niedriger als in den Bundesländern ([4], 17). – Weitere Informationen sind im Internet abrufbar unter: http:// www.hospiz.at, sowie über die Website der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG): http://www.palliativ.at. Die folgenden Passagen sind entnommen aus: Körtner, Ethik im Krankenhaus, 159ff. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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scheiden. Wenn ein hohes Alter, die sich in ihm einstellenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihre sozialen Folgen einseitig mit negativen Stereotypen belegt werden, muss man von einer neuen Form der Diskriminierung sprechen, die sich analog zu Rassismus oder Sexismus als »Ageism« bezeichnen lässt. Ageism als Vorurteil gegen alte Menschen äußert sich, wie Franz Josef Illhardt beschreibt,6 auf dreifache Weise: 1. als Schwierigkeit, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, 2. als gesellschaftlich tabuisierte, gleichwohl vorhandene Aversion oder sogar Aggression gegen alte Menschen, 3. als unrealistische Wahrnehmung der Lebenssituation alter Menschen. Unterschiedliche Sichtweisen von Gebrechlichkeit spielen für das Entstehen solcher Vorurteile und die damit verbundene Diskriminierung alter Menschen eine erhebliche Rolle. Wie lässt sich stereotypen Bildern vom Alter als einem defizitären Lebensstadium mit stetig abnehmender Lebensqualität und Vorurteilen gegenüber alten Menschen wirksam entgegentreten?7 Neben der Aufklärung, also der sachgerechten Information über die tatsächliche Lebenswelt hochbetagter und gebrechlicher Menschen steht die Entwicklung positiv besetzter Bilder vom Altwerden und vom Alter. Zur Aufklärung tragen die Ergebnisse der Gerontologie bei, die nicht nur eine interindividuelle, sondern auch eine intraindividuelle Varianz des Alterns erkennen lassen. Der heute gebräuchliche Begriff des differentiellen Alterns meint nicht nur, dass Menschen desselben Geburtsjahrgangs, funktionell betrachtet, unterschiedlich alt erscheinen können, oder dass man so alt ist, wie man sich fühlt, sondern auch, dass der individuelle Prozess des Alterns keinen kontinuierlichen Verlauf hat. Auf Zeiten von Leistungseinbußen, bedingt durch körperliche Erkrankungen, psychische Traumata oder soziale Belastungen, können Phasen von Leistungsverbesserungen folgen. Außerdem unterliegen Organe, Organsysteme und körperliche Leistungsfunktionen unterschiedlich schnell verlaufenden Alternsveränderungen. Untersuchungen zeigen auch, dass die gemessene Lebenszufriedenheit im Alter nicht grundsätzlich geringer ist als bei jüngeren Menschen. Zu den positiven Gegenbildern des Alterns gehört es, dass ältere und alte Menschen keineswegs nur zur Passivität, und zunehmenden Abhängigkeit, gepaart mit dem Gefühl der Nutzlosigkeit, verurteilt sind. Von der neuen Gruppe der »jungen Alten«, die auch von der Werbung und vom Tourismus längst als neue Zielgruppe entdeckt sind, war schon die Rede. Sie widerlegen das überkommene Bild eines von fort6 7

Vgl. Illhardt, Ageism. Vgl. auch Coors/Kumlehn (Hg.), Lebensqualität. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schreitendem Abbau körperlicher und geistiger Kräfte geprägten Alterns. Auch als ehrenamtlich Tätige, z.B. im sozialen Bereich, werden sie zunehmend entdeckt. Hinzu kommen medizinische Strategien der Prophylaxe und der Rehabilitation, die ein vorzeitiges Altern vermeiden und die Phase massiver Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit in der letzten Lebensphase möglichst weit hinausschieben und verkürzen sollen. Neben rehabilitativer Medizin und mobilisierender Pflege, die eine Hospitalisierung alter Menschen mit ihren negativen Begleiterscheinungen vermeiden helfen soll, ist an Strategien des »AntiAgeing« zu denken. Hier tut sich inzwischen ein neuer Markt auf, auf dem auch Mediziner ihre Produkte anbieten. Ethisch betrachtet ist diese Entwicklung allerdings zwiespältig. Einerseits trägt sie zu einer gesellschaftlichen Umwertung und neuen Wertschätzung des Alterns bei. Andererseits bleiben die Vorurteile des Ageism durchaus bestehen. Sie verlagern sich nur von den »jungen« Alten auf die wirklich »alten« Alten. Alt sind eigentlich immer nur die anderen. Anti-Ageing und das neue Leitbild der jungen Alten bleiben dem gesellschaftlichen Ideal ewiger Jugend verhaftet. Positiv wird lediglich bewertet, dass man auch in einem Alter jenseits von 65 Jahren »jung bleiben« kann. Wirklich »alt« sein, wird jedoch in der Regel nach wie vor nicht positiv erlebt. Die Vorurteile des Ageism richten sich nun gegen die Hochbetagten, deren Bild mit Gebrechlichkeit gleichgesetzt wird. Das sind »die Pflegebedürftigen«, die »abgebaut« haben. Für alle Ethik in Pflege und Altenhilfe ist es wesentlich, sich mit der grundsätzlichen Endlichkeit des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen. Sie zeigt sich nicht nur am Beginn und am Ende unseres Lebens, sondern auch in unserer Verletzlichkeit und darin, dass wir stets im Leben auf die Hilfe anderer angewiesen sind – mal mehr, mal weniger. Die Einsicht, dass Hilfsbedürftigkeit und die Annahme von Hilfe nicht im Widerspruch zu Freiheit und Selbstbestimmung stehen muss, gehört zur Reife des moralischen Subjekts. 11.2 Altenhilfe und Pflege im Spannungsfeld von Autonomie und Fürsorge Die vorangegangenen Überlegungen leiten zum Thema der Autonomie über. Die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gehören heute zu den grundlegenden ethischen Prinzipien in Medizin und Pflege. Um das Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu wahren und zu stärken, wenn Patienten nicht mehr selbst entscheiden können, gibt es Instrumente wie Patientenverfügungen, Vorsorgevoll© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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machten und Betreuungsverfügungen, deren Verbindlichkeit inzwischen auch gesetzlich geregelt ist. Ihre konkrete Auslegung und Anwendung kann im Einzelfall allerdings strittig sein. Das gilt insbesondere für Menschen, die an einer Demenzerkrankung leiden oder aus anderen Gründen ihre rechtliche Zustimmungsfähigkeit eingebüßt haben, gleichwohl aber bei Bewusstsein sind. Konzeptionen einer »Care«-Ethik, die vor allem in der heutigen Medizinethik eine wichtige Rolle spielen, setzen voraus, dass Sorge, lateinisch »cura«, im Sinne der Selbstsorge und der Fürsorge, ein entscheidendes Grundmotiv menschlicher Lebensführung ist. Das Ethos des Helfens und seine Menschlichkeit gründen ganz wesentlich in der Erfahrung unserer Verletzlichkeit, der eigenen wie der Verletzlichkeit des Anderen. Wechselseitige Hilfsbedürftigkeit ist gerade kein Mangel, sondern im Gegenteil eine Grundbedingung menschlicher Lebensfülle und menschlicher Daseinserfüllung. Zeiten eigener Krankheit, aber auch die Erfahrung der Krankheit des Anderen machen uns dies auf besonders eindringliche Weise bewusst. Erinnert sein noch einmal an die Überlegungen von Farideh AkasheBöhme und Gernot Böhme zur Autonomie kranker und leidender Menschen und zum Begriff der Souveränität, der sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde trifft, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können.8 Zu bedenken ist auch, dass Abhängigkeit und Freiheit keineswegs eine Alternative sein müssen. Paradoxerweise kann nämlich die Leugnung von Hilfsbedürftigkeit zur Einschränkung der persönlichen Freiheit führen, ihre Anerkennung dagegen zu einem neuen Freiheitsgewinn. Beispiel Bewegungsfreiheit: Den Rollator oder Rollstuhl abzulehnen, bedeutet für Betroffene möglicherweise eine Einschränkung ihrer Mobilität. Anzuerkennen, dass man künftig auf einen Rollstuhl angewiesen ist, erhöht die Mobilität. Dieser Freiheitsgewinn ist freilich auch mit einer Verlusterfahrung und einem Abschiedsschmerz verbunden. Er setzt voraus zu akzeptieren, dass bestimmte Maßnahmen der Rehabilitation, die darauf zielen, dass die Person wieder selbständige gehen kann, erfolglos bleiben. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für andere Aktivitäten des täglichen Lebens finden, z.B. bei Inkontinenz. Selbstverständlich geht es zunächst darum, eine bestehende Inkontinenz durch geeignete Maßnahme zu beseitigen. Sofern dies aber nicht gelingt, kann die Verwendung von Inkontinenzmaterial oder eines Dauerkatheters dazu beitragen, dass die betroffene Person wieder mobiler wird – z.B. sind längere Ausflüge 8

S.o. 159 u. 199. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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möglich – und in der Nacht besser schlafen kann als zuvor. Dass die Anerkennung von Abhängigkeit oder Hilfsbedürftigkeit einen Freiheitsgewinn ermöglicht, bedeutet selbstverständlich nicht, vorschnell alle Versuche abzubrechen, die zur Diskussion stehende Abhängigkeit zu beseitigen oder zu verringern. Die ethische Aufgabe besteht vielmehr darin, in jedem konkreten Einzelfall auszuloten, wie lange der Einsatz gegen eine verstärkte Abhängigkeit im Interesse der pflegebedürftigen Person sinnvoll ist oder nicht. Die Situation von Hilfsbedürftigkeit und Hilfeleistung hat stets mit Machtfragen zu tun. Sie treten auch in der medizinischen Versorgung, Pflege, Psychotherapie und Betreuung von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen auf. Die Hilfsbedürftigkeit ist durch Schwäche und Abhängigkeit bis hin zur Ohnmacht charakterisiert. Zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen besteht eine asymmetrische Beziehung, über die z.B. auch die Leitvorstellung der Patientenautonomie nicht hinwegtäuschen kann. Es wäre verfehlt, das Phänomen der Macht in Medizin, Psychotherapie und Pflege, aber auch in der Ergo- oder Psychotherapie, überhaupt leugnen oder ablehnen zu wollen. Wer heilen oder helfen will, will schließlich zugunsten der Patientin oder des Pflegebedürftigen die Situation verändern und verbessern. Dazu bedarf es der Macht, Veränderungen bewirken zu können, und der heilenden Kräfte, die von Medizin und Pflege ausgehen. Es lassen sich aber zwei Formen der Macht unterscheiden, nämlich einerseits eine der Medizin oder der Pflege innewohnende Macht, die dem Patienten oder der Patientin zur Wiedererlangung von Selbstständigkeit verhelfen will, und eine Form der Macht, die Zwang und Abhängigkeit zum Ziel hat. Die Ambivalenz der helfenden Macht besteht darin, dass sie selbst zum Zwang und zur Herrschsucht pervertieren kann. Gerade der Versuch, einem Menschen zur Selbsthilfe zu helfen, kann an die Grenze des Zwangs stoßen, z.B. wenn der oder die Pflegende Übungen mit Patienten oder Patientinnen macht und sie antreibt, Dinge zu tun, die für die Pflegebedürftigen mit Schmerzen verbunden sind, so dass sie sie von sich aus nicht zu tun bereit wären. Auf der einen Seite steht das Prinzip der Nichtdirektivität, auf der anderen Seite die paternalistische Manipulation, die sich gerade aufgrund der Hilfsbedürftigkeit oftmals gar nicht ganz vermeiden lässt. Ethische Probleme brechen in der Altenhilfe und in der Pflege auf, wenn Autonomie und Fürsorge zueinander in Spannung treten. Konkret stellt sich die Frage, welche Freiheiten man Patienten oder Bewohnern lassen kann, ohne dass sie sich selbst oder Dritte gefährden oder gar schädigen. Man denke etwa an den Bewegungsdrang von Demenzkranken, die vielleicht hochgradig sturzgefährdet sind. Auch können © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Patienten mit einer Hirnschädigung außerhalb des geschützten Raumes ihrer Pflegeeinrichtung leicht die Orientierung verlieren und möglicherweise nicht wieder nach Hause finden. Hier gilt es immer wieder abzuwägen zwischen Zulassung und Einschränkung der persönlichen Freiheit. Hier gilt es auch abzuwägen zwischen dem Recht auf Privatund Intimsphäre und Mitteln der Kontrolle, z.B. durch elektronische Sender. 11.3 Ethische Fragen in Verbindung mit Aktivitäten des täglichen Lebens Sich zu bewegen gehört zu den Aktivitäten des täglichen Lebens. Neben dem Beispiel des Bewegungsdrangs von Demenzkranken und das Anliegen der Sturzprophylaxe könnten wir nun auch andere Aktivitäten des täglichen Lebens durchgehen, um an ihnen die Spannung zwischen Autonomie und Fürsorge verantwortungsethisch durchzuspielen.9 Ich nennen nur die folgenden Bereiche: Selbstpflege, Essen und Trinken, Ausscheiden, schlafen und ruhen. Aber auch der ganze Themenbereich der Sexualität ist anzusprechen. Beispiele aus den genannten Bereichen wären etwa, ein an Demenz erkrankter Bewohner, der jede Körperpflege ablehnt, Konflikte wegen unterschiedlicher Essgewohnheiten am gemeinsamen Mittagstisch, Ablehnung von Nahrung und Flüssigkeit und Entscheidungen für oder gegen eine PEG-Sonde, Probleme bei Stuhl- oder Harninkontinenz, Demenzkranke, die unruhig schlafen und nachts herumlaufen, der Wunsch nach sexueller Befriedigung, z.B. durch Sexualassistentinnen oder gar durch Prostituierte. Derartige Probleme und konkrete Beispiele ethisch zu diskutieren, setzt die Einbeziehung aller Dimensionen des Ethischen voraus, also der Individualethik, der Personalethik, aber auch der Sozialethik, auf deren Ebene die Fragen der Organisationsethik angesiedelt sind. Um nur das Beispiel von Essen und Trinken aufzugreifen: Ohne ausreichendes Personal ist es nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, bei den Mahlzeiten auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen und das Essen und Trinken individuell zu gestalten. »Eine ausreichende Zahl an qualifizierten Pflegekräften ist der Dreh- und Angelpunkt dafür, auf welche Weise die Bewohner ihr Essen zu sich nehmen können.«10 9 10

Vgl. dazu Fölsch, Ethik in der Altenpflege. Fölsch, a.a.O., 57. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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11.4 Assistive Technologien Zunehmend werden assistive Technologien im Alter eine Rolle spielen.11 Ihr Einsatz kann einerseits dazu beitragen, dass Menschen länger in ihrer gewohnten Umgebung leben können. Sie kommen aber auch verstärkt in stationären Einrichtungen zum Einsatz. Assistive Technologien werden auch als »Ambient Assisted Living« (AAL) bezeichnet.12 Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung versteht unter AAL » steht für Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, die neue Technologien in den Alltag einführen um die Lebensqualität für Menschen in allen Lebensphasen, vor allem im Alter, zu erhöhen«13. Entwicklung und Einsatz assistiver Technologien verfolgen mehrere Ziele: Ein möglichst langes selbstbestimmtes Leben und Wohnen in den angestammten vier Wänden, Kostendämpfung im Gesundheitswesen einer zunehmend alternden Gesellschaft sowie die Kompensation des Mangels an Pflegepersonal. Allerdings gilt es zu beachten, dass AAL keineswegs auf Assistenzsysteme im Alter beschränkt ist, sondern jede Art von technischen Unterstützungssystemen (z.B. Freizeit-Assistenz, Fitness-Coach, Unterstützung bei schulischen oder universitären Hausaufgaben) umfasst. Als allgemeiner ethischer Grundsatz lässt sich formulieren, dass der Einsatz assistiver Technologien in Medizin und Pflege stets patientenzentriert erfolgen soll. Das bedeutet konkret, sich nicht von stereotypen Alters- oder Krankheitsbildern leiten zu lassen, sondern das tatsächliche Ausmaß an Gebrechlichkeit, die konkreten individuellen Alternsprozesse, aber auch die persönlichen Lebensumstände und Lebensvorstellungen zu beachten. Nicht nur nehmen Alternsprozesse einen höchst individuellen Verlauf, sondern es ist in unserer modernen pluralistischen Gesellschaft mit höchst unterschiedlichen Lebensentwürfen, Werthaltungen und Vorstellungen von Lebensqualität zu rechnen. Aus ethischer Perspektive stellt sich sodann die Frage, wie sich beim Einsatz assistiver Technologien die Prinzipen der Selbstbestimmung und der Fürsorglichkeit bzw. Selbstverantwortung und Fremdverantwortung ins rechte Verhältnis setzen lassen. Wie weit haben zum Bei11 12

13

Vgl. dazu Körtner, Lebensräume und Lebensträume; Manzeschke/Weber/Rother/Fangerau, Ergebnisse. Weitere Bezeichnungen sind: Health ›Smart‹ Home (HSH) (z.B. in Frankreich), Citizen Health System (CHS) (Griechenland), Welfare Techno House (Japan), Smarthouse (USA) oder Telemedizin. Zitiert nach http://www.aal-deutschland.de/ (letzter Zugriff am 17.7.2016). © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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spiel Dritte oder die Gesellschaft bzw. die Solidargemeinschaft das Recht, vom Individuum ein bestimmtes Gesundheitsverhalten und einen bestimmten Lebensstil zu verlangen oder gar zu erzwingen? Wie weit reicht die Forderung nach Achtung der Menschenwürde, nach Toleranz und Respekt gegenüber individuellen Wertvorstellungen, Sitten und Gewohnheiten? Zu den Grundlagen heutiger Medizin und Pflege gehört der Informed Consent. Wie lässt sich dieses Prinzip beim Einsatz assistiver Technologien umsetzen, insbesondere, wenn solche Technologien bei nicht zustimmungsfähigen Personen eingesetzt werden sollen? Wie auch sonst in Medizin und Pflege setzt der Einsatz assistiver Technologien ihre Akzeptanz durch den Patienten oder Bewohner voraus. Es können immer wieder Probleme durch fehlende Compliance entstehen. Wie weit reicht dann das Recht oder die Pflicht, Menschen vor sich selbst zu schützen? Welche Konflikte können zwischen der Achtung des Selbstbestimmungsrechtes von Patienten und der Aufgabe, Fremd- und Selbstschädigungen zu verhindern, entstehen, und wie lassen sie sich im Einzelfall lösen? Einsatz und Entwicklung assistiver Technologien berühren einige grundlegende Menschenrechte, die es zu achten und zu schützen gilt, nämlich das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) sowie das Recht auf Privatsphäre, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK). Mit assistiven Technologien verbinden sich außerdem Fragen der Gerechtigkeit, die hier wenigstens kurz erwähnt seien: Wer bezahlt den Einsatz von assistiven Technologien? Sollen sie im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit durch die öffentliche Hand und nach dem Solidarprinzip finanziert werden, oder sollen sie privat eingekauft, das heißt nach den Regeln der Tauschgerechtigkeit und des Marktes bewirtschaftet werden? Gibt es in unserem Gesundheitswesen den für alle Menschen den gleichen Zugang zu solchen Technologien? Sind Sanktionen bei fehlender Compliance ethisch vertretbar, wenn assistive Technologien durch die Solidarversicherung oder die öffentliche Hand finanziert werden? Kurz: Einmal mehr stellt sich die Frage nach der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen. Diese ist eine Frage nicht nur der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch der Teilhabeoder Befähigungsgerechtigkeit. 11.5 Ethik am Lebensende Einrichtungen der Altenhilfe und der Langzeitpflege sind Orte zum Leben, aber eben auch Orte zum Sterben. Zu den ethischen Fragen am © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Lebensende gehört darum auch die umfassende Frage nach der Kultur des Sterbens und des Abschiednehmens, der Trauer und Trauerbegleitung in diesen Einrichtungen. Die ethische Diskussion sollte also nicht nur auf die Fragen rund um Therapieverzicht oder Therapieabbruch, PEG-Sonden, Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten beschränkt werden. Zu den ethischen Problemen im Alltag gehört es freilich auch, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen der Altenhilfe mit Sterbewünschen konfrontiert werden können. Wenn es darum geht, Äußerungen von Bewohnern und Bewohnerinnen richtig zu verstehen, herrscht unter Mitarbeitern, Führungskräften und Angehörigen oftmals große Unsicherheit, auch was den etwaigen Handlungsbedarf angeht. Wo Unklarheit über den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen von Patienten herrscht, kann medizinische Überversorgung, aber auch Unterversorgung die Folge sein. Es steht zu vermuten, dass auch unverstandene oder missverstandene Äußerungen von Patienten oder Bewohnern über Sterben und Tod zu falschen Reaktionen oder überhaupt zu Untätigkeit auf Seiten von Angehörigen, Mitarbeitern und Einrichtungen führen. Ethische Fragen am Lebensende sind also keineswegs nur eine Frage individueller Entscheidungen von Arzt und Patient, sondern auch eine Frage der Organisationsethik, der ethischen Gesamtkultur einer Einrichtung und somit auch der Ethik des Einrichtungsträgers. Auf allen Ebenen, der individuellen Interaktion zwischen Patienten oder Bewohnern und ihren Angehörigen, Ärzten, Pflegekräften sowie der Angehörigen anderer Berufe im Gesundheitswesen ebenso wie auf der sozialethischen Ebene der Einrichtungen und Organisationen, des Gesundheits- und Sozialwesens und der Gesellschaft insgesamt sehen wir uns freilich heutzutage mit einem Pluralismus von Werthaltungen und Vorstellungen von dem, was ein gutes und menschenwürdiges Leben und Sterben ausmacht. Das durch medizinische Interventionen begleitete Sterben ist heute in der westlichen Welt der Regelfall. Daher wäre es völlig verfehlt, in den Debatten über Sterbehilfe und Euthanasie nur Indizien eines Verfalls kultureller Standards und moralischer Werte erblicken zu wollen. Es ist vielmehr notwendig zu prüfen, wie weit die Anwendung des heutigen Potentials medizinischer Möglichkeiten in bestimmten Situationen überhaupt sinnvoll ist und wo die humanen Grenzen der modernen Medizin liegen. Widersprechen möchte ich aber der häufig geäußerten Ansicht, die Fortschritte der modernen Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, machten das Problem der Euthanasie besonders drängend. Etliche © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Hauptargumente ihrer Befürworter sind seit der Antike hinlänglich bekannt und resultieren nicht aus neuen medizinisch-technischen Entwicklungen, sondern aus einem der christlichen Anthropologie widersprechenden Menschenbild. Allerdings führen die steigende Lebenserwartung und der medizinische Fortschritt zu neuen Erscheinungsformen des Sterbens, die auch ethisch vor neue Probleme stellen. Die Zahl der Hochbetagten nimmt beständig zu. Dem Tod geht oftmals eine längere Phase der Multimorbidität und schwerer Pflegebedürftigkeit voraus. Mit der höheren Lebensdauer steigt die Zahl der Menschen, die an einer fortschreitenden Demenzerkrankung mit starker Persönlichkeitsveränderung leiden. Nicht nur, dass die Phase des Sterbens sich gegenüber früheren Epochen immer mehr in die Länge ziehen kann, sondern es schiebt sich zwischen die Lebensabschnitte von weitgehender körperlicher und geistiger Gesundheit und die Sterbephase eine eigene Lebensphase, welche grundlegende Fragen nach unserer Identität im Leben und im Sterben, nach Integrität, Kontinuität und Diskontinuität menschlicher Biographien aufwirft. Solche existentiellen Fragen sind freilich ebenso wenig wie diejenige, welches Leiden als sinnlos oder sinnvoll empfunden wird, keine rein medizinischen Probleme, sondern Fragen der religiösen oder weltanschaulichen Einstellung und der persönlichen Lebensumstände. Der Wunsch nach Beendigung des eigenen Lebens kann freilich auch eine Reaktion auf eine in der Gesellschaft verbreitete Einstellung sein, die in einem durch Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit beeinträchtigten Leben keine lebenswerte Existenz mehr sieht. Nicht wenige Menschen äußern die Ansicht, bestimmte Zustände von Gebrechlichkeit seien kein menschenwürdiges Leben mehr. Der Gedanke der Menschenwürde, der doch bedeutet, dass das Lebensrecht und die Würde jedes Menschen unabhängig von seiner Herkunft, seinem sozialen Rang, seinem Geschlecht, seinem Alter und seiner geistigen und körperlichen Verfassung zukommt, verkehrt sich in diesem Fall zu einem Kriterium, um zwischen vermeintlich lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden. Nicht von ungefähr wird über die ethische Zulässigkeit von Euthanasie und ärztlicher Suizidbeihilfe gerade im Zusammenhang mit gebrechlichen und altersdementen Menschen diskutiert. Schon jetzt ist die Suizidrate der Menschen über 65 Jahre doppelt so hoch wie bei den unter 65-Jährigen. Verwitwete und geschiedene Männer im Alter zwischen 70 und 90 Jahren mit wenigen oder keinen Kindern nehmen sich viermal so häufig wie gleichaltrige Frauen das Leben. Als Gründe für die hohe Suizidrate bei alten Menschen werden © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Angst vor Krankheit, Schmerzen, Autonomieverlust, Einsamkeit und Armut genannt. Da Depressionen in dieser Altersgruppe nicht häufiger als in jüngeren Bevölkerungsgruppen auftreten, wird gelegentlich vom »Bilanz-Suizid« gesprochen, mit dem ein alter Mensch unter die Summe seines Lebens einen Schlussstrich zieht. Karin Wilkening und Roland Kunz kritisieren allerdings zu Recht, dass diese Sichtweise, die im Einzelfall zutreffen mag, »in der Praxis auch viele, geradezu verzweifelte Signale zu einem ›anderen‹ Weiterleben übersieht« und »zu einer Verweigerung von Hilfe und vorschnellen Akzeptanz der genannten Zahlen« führt, »die sich in einer Akzeptanz der ›Beihilfe zum Suizid‹ bei Bewohnern in den Alteneinrichtungen fortsetzt«14. Fragen des Sterbewunsches, des Suizids und der Suizidbeihilfe sollten freilich auch nicht tabuisiert werden. Dies würde ja nur bedeuten, die Betroffenen, Bewohner wie Personen, die sie ins Vertrauen ziehen, mit ihren Konflikten allein zu lassen. Auch wenn es nach meiner Überzeugung einer christlichen Einstellung zum Leben entspricht, alles zu tun, um Menschen bis zuletzt zum Weiterleben zu ermutigen und von der Selbsttötung abzuhalten, müssen wir uns in Diakonie und Kirche der Diskussion offen stellen, die in Deutschland durch die Debatte über ein gesetzliches Verbot der organisierten und gewerblichen Suizidbeihilfe neu entfacht worden ist. Das eigene Sterben und der Tod von Angehörigen ist mit erheblichen Ängsten belastet, mit denen sich viele Menschen alleingelassen fühlen: mit der Angst, unerträgliche Schmerzen erleiden zu müssen; mit der Angst, den Angehörigen und der Gesellschaft zur Last zu fallen; mit der Angst im Sterben alleingelassen zu werden; mit der Angst, ausgeliefert zu sein und der Würde beraubt zu werden; mit der Angst, auch gegen den eigenen Willen unnötig lange am Leben erhalten zu werden, was keiner Lebens-, sondern einer Sterbeverlängerung gleichkommt; mit der Angst, dass das Leben aufgrund von mangelnder medizinischer und pflegerischer Hilfe oder gar durch vorsätzliche Tötung verkürzt wird. Die gesellschaftliche und diakonische Aufgabe besteht darin, der Einsamkeit der Sterbenden entgegenzuwirken und eine neue Kultur der Solidarität mit den Sterbenden zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sollte gesehen werden, wie sehr gerade Ärzte und Pflegende, wie überhaupt alle, die Sterbende begleiten, auf Unterstützung und öffentliche Solidarität, aber auch auf qualifizierte medizinethische Aus- und Fortbildung angewiesen sind. Dazu gehören auch praktische Maßnahmen zur Beseitigung von personellen, räumlichen und strukturellen Engpässen in der Pflege sowie eine gesell14

Wilkening/Kunz, Sterben im Pflegeheim, 16. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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schaftliche, aber auch finanzielle Aufwertung des Pflegeberufs. Gefordert ist eine Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch der Medizin und der Pflege in Krankenanstalten und Pflegeheimen, welche die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben achtet.

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Nachweise

Kapitel 1: Erstveröffentlichung in: Markus Horneber/Peter Helbich/ Klaus Raschzok (Hg.), Dynamisch Leben gestalten. Perspektiven zukunftsorientierter Unternehmen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft (Dynamisch Leben gestalten, Bd. 1), Stuttgart 2010, 193–227. Der Text wurde überarbeitet. Kapitel 2: Erstveröffentlichung in: Miriam Rose/Michael Wermke (Hg.), Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften (StRB 7), Leipzig 2016, 183–201. Für den vorliegenden Band wurde der Text um Abschnitt 2.5 erweitert. Kapitel 3: Erstveröffentlichung unter dem Titel »Protestantische Perspektiven einer Sozialethik in Europa am Beispiel der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)«, in: Hermann Schoenauer (Hg.), Sozialethische Dimensionen in Europa. Von einer Wirtschaftsunion zu einer Wertegemeinschaft (Dynamisch Leben gestalten 6), Stuttgart 2013, 13–32. Der Text wurde überarbeitet. Kapitel 4: Erstveröffentlichung in: Amt und Gemeinde 55, 2004, H. 11/12 (FS Gottfried Adam), 224–228. Der Text wurde überarbeitet. Kapitel 5: Erstveröffentlichung in: Markus Dederich/Martin W. Schnell (Hg.), Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik, Bielefeld 2011, 47–76. Kapitel 6: Unveröffentlicht. Vorarbeiten sind: Inklusion, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Humane Werte und Haltungen aus Sicht diakonischer Ethik, in: Gerhard Gäbler/Roland Steidl (Hg.), Soziale Strategien für morgen. Ein Plädoyer für die Menschenwürde, Salzburg 2016, 228–260; Ist Barmherzigkeit eine Kategorie für ein modernes Gesundheitswesen?, in: Diakonie & Spiritualität 2010, H. 2, 9–16; © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788731458 — ISBN E-Book: 9783788731465

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Nachweise

Diakonie im Spannungsfeld zwischen Qualität, christlichem Selbstverständnis und Wirtschaftlichkeit. Theologisch-ethische Reflexionen, WzM 62, 2010, 155–167; Psychiatrie im Kontext von Diakonie und Ökonomie, Zeitschrift für Evangelische Ethik 55, 2011, 119–129. Kapitel 7: Bislang nicht im Druck erschienener Vortrag auf der 42. Kaiserswerther Generalkonferenz am 25.9.2015 in Gallneukirchen. Im Internet abrufbar unter http://kaiserswerther-generalkonferenz.org/_ upl/kgk/de/_d-downloads/04_vortrag_ulrich_koertner_menschenpfle ge.pdf Kapitel 8: Erstveröffentlichung in: Diakonie & Spiritualität 2014, H. 1, S. 4–12. Eine kürzere Fassung ist erschienen in: Österreichische Pflegezeitschrift 66, 2013, H. 11, 24–27. Kapitel 9: Erstveröffentlichung in: Standpunkt. Zeitschrift des Evangelischen Bundes in Österreich, H. 202, Wien 2011, S. 4–21. Kapitel 10: Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für medizinische Ethik 58, 2012, 3–22. Der Text wurde überarbeitet und um einige Abschnitte erweitert. Kapitel 11: Erstfassung in: Wiener Jahrbuch für Theologie 10, 2014, 51–69. Der Beitrag wurde für das vorliegende Buch überarbeitet und gekürzt.

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