Deutschsprachige Pop-Literatur von Fichte bis Bessing 9783847009818, 3847009818, 9783847109815, 3847109812

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Deutschsprachige Pop-Literatur von Fichte bis Bessing
 9783847009818, 3847009818, 9783847109815, 3847109812

Table of contents :
Inhalt
Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen • Einleitung
I. Die 60er und 70er Jahre
Thomas Hecken • ›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹
Jan Behrs • Halbehalbe, verdoppelt. Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968)
Lea Müller Dannhausen • Arbeitstitel: ›Illustriertenroman‹. Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970)
Hans-Edwin Friedrich • Wie Wolf Wondratschek zum Rockpoeten wurde. Zu Chuck’s Zimmer(1975)
Ole Petras • Aber was ist es nur, das die Gedichte heutzutage so anders, so anziehend macht? Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2 (1975)
II. Die 80er und 90er Jahre
Nikolas Buck • »Keine Problemliteratur mehr in den 80ern!« Joachim Lottmanns Mai, Juni, Juli (1987) im Spiegel zeitgenössischer Autorschaftsdebatten
Christoph Rauen • Ein Muster der deutschsprachigen Neo-Pop-Literatur. Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)
Heinz Drügh • But you can never leave. Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)
Ingo Irsigler • Pop Rocks. Inszenierung im Zeichen von Popmusik in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)
Claus-Michael Ort • Vom Abfall zum Licht. Zur flachen Metaphysik der Schrift in Rainald Goetz’ Rave (1998) und Abfall für alle (1999)
Simon Hansen • »Alt werden ist zu crazy für mich«. Benjamin Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman
III. Die 00er und 10er Jahre
Greg Bond • »Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit«. Moritz von Uslar : Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)
Dirk Niefanger • Ein melancholischer Ruhrpop-Roman. Frank Goosens So viel Zeit (2007)
Bernd Auerochs • Seiltanz zwischen Pop und Hochkultur. Zu Maxim Billers Der gebrauchte Jude (2009)
Laura Schütz • Punctum, Punctum, Loop, Pop? Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)
Moritz Baßler • Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben. Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer)
Maike Schmidt • »Im Zweifel für den Zweifel.« Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman?
Die BeiträgerInnen

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Westwärts. Studien zur Popkultur

Band 4

Herausgegeben von Moritz Baßler, Heinz Drügh, Albert Meier und Dirk Niefanger

Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen (Hg.)

Deutschsprachige Pop-Literatur von Fichte bis Bessing

Mit 17 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Christian Petras (»Hamburg, Dez. 65«) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5219 ISBN 978-3-8470-0981-8

Inhalt

Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die 60er und 70er Jahre Thomas Hecken ›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan Behrs Halbehalbe, verdoppelt. Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lea Müller Dannhausen Arbeitstitel: ›Illustriertenroman‹. Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Edwin Friedrich Wie Wolf Wondratschek zum Rockpoeten wurde. Zu Chuck’s Zimmer (1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ole Petras Aber was ist es nur, das die Gedichte heutzutage so anders, so anziehend macht? Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1& 2 (1975) . . . . . . . . . . .

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II. Die 80er und 90er Jahre Nikolas Buck »Keine Problemliteratur mehr in den 80ern!« Joachim Lottmanns Mai, Juni, Juli (1987) im Spiegel zeitgenössischer Autorschaftsdebatten . . . . 109

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Inhalt

Christoph Rauen Ein Muster der deutschsprachigen Neo-Pop-Literatur. Bret Easton Ellis: American Psycho (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Heinz Drügh But you can never leave. Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ingo Irsigler Pop Rocks. Inszenierung im Zeichen von Popmusik in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Claus-Michael Ort Vom Abfall zum Licht. Zur flachen Metaphysik der Schrift in Rainald Goetz’ Rave (1998) und Abfall für alle (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Simon Hansen »Alt werden ist zu crazy für mich«. Benjamin Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman . . . . . . . 217

III. Die 00er und 10er Jahre Greg Bond »Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit«. Moritz von Uslar : Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Dirk Niefanger Ein melancholischer Ruhrpop-Roman. Frank Goosens So viel Zeit (2007)

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Bernd Auerochs Seiltanz zwischen Pop und Hochkultur. Zu Maxim Billers Der gebrauchte Jude (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Laura Schütz Punctum, Punctum, Loop, Pop? Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Moritz Baßler Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben. Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) . . . . 305

Inhalt

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Maike Schmidt »Im Zweifel für den Zweifel.« Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die BeiträgerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen

Einleitung

Die ›Pop-Literatur‹ blickt mittlerweile auf eine lange und bewegte Geschichte zurück: als ein sich über vier Jahrzehnte erstreckender literarischer Traditionszusammenhang, als literaturkritisches Label sowie nicht zuletzt als Forschungsobjekt der Literaturwissenschaft. Was ihre Kritik und Vermarktung betrifft, so hat sie, »den Arbeitsabläufen und Zeitfenstern des Journalismus entsprechend«1, eine Reihe kurz- und mittelfristiger Konjunkturen erlebt und ist mitunter, etwa in den späten 1970er Jahren, für einige Zeit fast gänzlich aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Wechselhaft gerieten auch ihre Besetzungen mit politischen Hoffnungen und Befürchtungen: Verband sich mit dem Präfix ›Pop‹ in den 1960er Jahren noch ein vages Versprechen gegenkultureller Relevanz,2 so sorgte sein inflationärer Gebrauch von den mittleren 1990er Jahren an vielerorts für den ebenso vagen Eindruck einer zunehmenden Verflachung und Entpolitisierung.3 Angesichts der medialen Eigendynamik, welche die Verwendung des Etikettes bestimmte und bestimmt, kann man sich fragen, ob die damit bezeichneten Texte jenseits der Tatsache, dass sie innerhalb der gleichen medialen Rahmen und Sinnzusammenhänge wahrgenommen und besprochen wurden, überhaupt nennenswerte sachliche Gemeinsamkeiten

1 Mit Blick auf diese Bedeutung bzw. Referenz von ›Pop-Literatur‹ merkt Eckhard Schumacher an: »Popliteratur ist […] kein Genre, das sich formal oder inhaltlich bestimmen ließe, keine vorfindbare Unterabteilung der Literatur, in die sich Texte und Autoren wie von selbst einordnen. Popliteratur ist vielmehr ein ›Thema‹, das von der Kritik […] generiert und anschließend, den Arbeitsabläufen und Zeitfenstern des Journalismus entsprechend häufig nur kurze Zeit später, erledigt wird.« »Das Ende der Popliteratur. Eine Fortsetzungsgeschichte (Teil 2)«. In: Olaf Grabienski, Till Huber und Jan-No[l Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin/Boston 2011, S. 53–70, hier S. 56. 2 Vgl. exempl. die Anthologie Fuck you(!). Underground-Gedichte. Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen, mit einem Nachwort von Ralf-Rainer Rygulla. Darmstadt 1968. – Für die historische Herleitung siehe Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009. 3 Vgl. Grabienski, Huber, Thon: Poetik der Oberfläche (wie Anm. 1).

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aufweisen.4 So ließe sich trefflich diskutieren, welche Rolle die Adoleszenz- und Liebesthematik für die Popliteratur spielt, die sich von Hubert Fichte bis zu Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht und zuletzt in Tex Rubinowitz’ 2014 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis prämierter Erzählung »Wir waren niemals hier« (2015 als Irma bei Rowohlt) finden lässt. Auch könnte die oft konstatierte Nähe zu journalistischen und diaristischen Schreibweisen bei Autoren wie Wolf Wondratschek, Rainald Goetz, Stuckrad-Barre und in dem ›Dokumentarroman‹ Deutschboden (2010) von Moritz von Uslar dazu motivieren, Verbindungslinien zu ziehen und literarische Typen zu bilden, die doch immer nur einen Teilbereich der insgesamt als Pop-Literatur gehandelten Texte umfassen. In eine ähnlich prekäre Argumentationslage führte es, das bei Autoren wie Joachim Lottmann, Rainald Goetz und Maxim Biller (zuletzt Biografie, 2016) zentrale Verhältnis von Autofiktion und Authentizität zu verallgemeinern,5 wie überhaupt die Tragfähigkeit historisch weit ausgreifender Versuche kritisch zu erörtern wäre, die im Feuilleton zuverlässig besprochene und teils kommerziell überaus erfolgreiche Pop-Literatur der 1990er an die Beat-Literatur der 1950er6 oder sogar die literarischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts rückzubinden.7 Und so führt es ebenfalls in der Sache kaum weiter, die Texte jüngerer Autoren einfach als »Neue Deutsche Popliteratur«8 von ihren vermeintlichen Vorgängern abzugrenzen. Um verlässliche Aussagen treffen zu können, müsste zunächst diskutiert werden, ob wir es mit einer lebendigen Tradition zu tun haben9 oder eher mit einem abgeschlossenen Kapitel der Literaturgeschichte. Es existiert eine umfangreiche und ausdifferenzierte Forschung zu unserem Gegenstand. Beginnend mit den um konzeptuelle Grundlagen bemühten Studien von Johannes Ullmaier, Moritz Baßler, Eckhard Schumacher und Sascha Seiler10 4 Das ließe sich etwa anhand der Texte Feridun Zaimoglus diskutieren, der sich noch dazu seinerzeit mit großer Schärfe von der »Knabenwindelprosa« des ›popliterarischen Quintetts‹ um Joachim Bessing distanzierte, später aber in eine einschlägige Anthologie aufgenommen wurde. – Dirk Frank (Hg.): Popliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart 2003. Feridun Zaimoglu: »Knabenwindelprosa. Überall wird von deutscher Pop-Literatur geschwärmt. Aber sie ist nur reaktionäres Kunsthandwerk. Eine Abrechnung.« In: Die Zeit vom 18. November 1999. 5 Vgl. exempl. Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston 2014. 6 Dieter Hoffmann: Arbeitsbuch deutschsprachige Prosa seit 1945. Bd. 2: Von der neuen Subjektivität zur Pop-Literatur. Tübingen u. a. 2006. 7 Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg 2001, S. 10–14 und 26–29. 8 Frank Degler, Ute Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008. 9 Immerhin räumen Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner und Andr8 Menke in Popliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 2015 auch der ›Popliteratur‹ ab der Jahrtausendwende ein wenig Platz ein. 10 Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2000. – Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten.

Einleitung

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und weitergeführt in Überblickswerken und thematisch spezifischeren Studien11 hat sich, bis hin zu dem von Margaret McCarthys herausgegebenen Kompendium German Pop Literature,12 eine Vielzahl an Befunden und Beschreibungsversuchen ergeben, ohne dass aber die grundlegende Frage, welche Kennzeichen die am häufigsten in diesem Zusammenhang angeführten Texte teilen, welche Themen, Gattungsbezüge, literarische Verfahren das Inventar bilden, aus dem sich einzelne Werke bedienen, schon befriedigend beantwortet wäre. Aus diesem Grund versammelt der vorliegende Band eine Reihe detaillierter Einzelanalysen exemplarischer und/oder besonders wirkungsmächtiger Werke. In systematischer Hinsicht geht es um übergreifende Textmuster, in diachroner Perspektive um Kontinuitäten, Wandlungsprozesse und Brüche, die bislang übersehen oder nicht ausreichend gewürdigt wurden. Auf diese Weise kristallisieren sich Formen, Schreibweisen, Inhalte, Referenzen und Inszenierungsmodelle heraus, die nicht alle in jedem, von denen aber einige in bemerkenswert vielen Texten eine tragende Rolle spielen. Der seit den 1960er Jahren ungebrochene Einfluss der Pop-Art ist hier ebenso zu nennen wie die Orientierungsgröße Popmusik, sei es in Gestalt von Beat, Rock, Punk, New Wave, Hip Hop, Techno oder deutschem Schlager. Doch auch andere Medien und Kunstformen dienen von Anfang an als Leitmodelle wie auch Materialspender, etwa Fernsehen, Illustrierte, Tageszeitungen, Comics, Heftromane, Werbetexte und das Internet. Dabei tendieren die hier behandelten Texte häufig zur Mischung von Zeichenklassen und Medien, formal13 wie inhaltlich, und beschäftigen sich, von Rolf Dieter Brinkmann bis Helene Hegemann, mit medial geprägten, je als ›neu‹ und ›aufregend‹ wahrgenommenen, aktuellen Lebenswelten, -weisen und IdentiMünchen 2002. – Eckhard Schumacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003. Sascha Seiler : »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. PopDiskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. – Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin u. a. 2010. – Andr8 Menke: Pop, Literatur und Autorschaft. Literarische Strategien und Inszenierungen bei Wolfgang Welt, Rocko Schamoni und Rafael Horzon. Göteborg 2014. – Anett Krause: Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste ihrer Debatte. Elemente einer Epochenkonstruktion im Normalisierungsdiskurs nach 1989. St. Ingbert 2015. 11 Thomas Jung (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990. Frankfurt am Main 2002. Vgl. wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. Edition Text+Kritik. München 2003. – Johannes G. Pankau (Hg.): Pop, Pop, Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen 2004. – Alexandra Tacke, Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der PopModerne. Köln u. a. 2009. – Grabienski, Huber, Thon: Poetik der Oberfläche (wie Anm. 1). 12 Margaret McCarthy (Hg.): German Pop Literature. A Companion. Berlin u. a. 2015. 13 »Die (intermediale/-textuelle) erweiternde Verweisung und Öffnung des Literaturbegriffs«, so Marcus S. Kleiner, »führt zu einem literarischen Sub- bzw. Gegenkanon«, der für die »spezifische Form von Literatur wesentlich [ist], die als Pop-Literatur bezeichnet wird«. Marcus S. Kleiner : »Zur Poetik der Popliteratur (Teil 3: Schreibweisen der Gegenwart)«. In: pop-zeitschrift.de (April 2013), S. 1f.

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Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen

tätskonzepten. Auch die einschlägigen schriftstellerischen Inszenierungsmodelle sind im Grenzbereich zwischen Literatur und Medienkunst, Lesung und Performance, Text und Bild angesiedelt und profilieren sich so als Gegenentwürfe zum herkömmlichen, dominant bürgerlichen Habitus der Nachkriegsliteratur. Entscheidend für den Ausgang der Begriffsgeschichte von Pop-Literatur in den 1960er Jahren ist, wie Thomas Hecken im Eröffungsbeitrag des Bandes ausführt, die Trias von studentischem Protest, Pop-Art und Mode. Man distanziert sich von der Massenkultur und setzt bis weit in die 1970er Jahre und teils darüber hinaus ästhetisch auf Entautomatisierung, Anti-Illusionismus und eine »ironische Ausstellung von Klischees« der Mode-, Musik- und Filmwelt. Brinkmann, Fichte und Jelinek meiden eingängige und anstrengungslos konsumierbare Erzähl- und Schreibweisen. Mit Ausnahme von Wondratschek, der sich spätestens mit Chucks Zimmer (1974) von seinen experimentellen Anfängen ab- und einem songartigen Sound zuwendet, strebt keiner von ihnen selbst Popularität nach dem Vorbild von Popmusikern oder Filmschauspielern an. Pop-Literatur dient ihnen als Waffe im Kampf gegen eine als antiquiert bildungsbürgerlich wahrgenommene Nachkriegsintelligenz. Danach kommt die Verwendung des Labels ›Pop-Literatur‹, wie bereits erwähnt, etwas aus der Mode, bevor es um 1980 vor allem im Musik- und LifestyleJournalismus wieder auftaucht und nun im Verein mit positivierten Schlagwörtern wie »Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit, Materialismus, Eingängigkeit, Begrenztheit« gegen die Alternativ- und Friedensbewegung gerichtet wird. Das Feuilleton ist dafür erst Mitte der 1990er Jahre reif. Die Autoren der 1960er Jahre schreiben noch auf der Grundlage einer im Kern wenig hinterfragten gegenkulturellen Selbstbehauptung. Hubert Fichte erkundet im Roman Die Palette (1968), dem sich Jan Behrs widmet, ein subkulturelles und kleinkriminelles Milieu aus einer sympathisierenden Perspektive. Immer wieder legt er dabei den konstruktiven Charakter des Dargestellten offen, transportiert Elemente nichtbürgerlichen Denkens und Handelns in den »hochkulturellen« Bereich der Literatur und betreibt so eine »Aufweichung der Grenze zwischen high und low«. Ähnlich wie bei Fichte ist auch in Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970) allenfalls das im Roman verarbeitete Material, die »Anliegen der Studentenbewegung« und die neuen jugendkulturellen Lebensstile, »populär«, keineswegs aber sind es die eher als experimentell zu bezeichnenden poetischen Verfahren und Formen. Mit Montage, Collage und Cut-up strebt Jelinek, wie Lea Müller Dannhausen demonstriert, eine ideologiekritische Entlarvung und Neucodierung der massenmedialen Kultur im Sinne der Pop-Art an. Auch die frühen Texte Wolf Wondratscheks, denen sich Hans-Edwin Friedrich

Einleitung

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zuwendet, gehen vom Antitraditionalismus der Avantgarde aus (dem »Endpunkt des Erzählens«) und halten es politisch mit der Studentenbewegung. Spätestens mit Chuck’s Zimmer (1974) wendet sich der Autor jedoch einem Subversionsmodell zu, das Revolte und Affirmation zu vereinen sucht und etwa zehn Jahre später in Sounds und Spex unter dem Schlagwort ›Pop‹ als innovatives Programm gefeiert wird. Er orientiert sich nun am Song-Format und erweitert in autobiographisch verankerten Gedichten avantgardistische Impulse »in Richtung auf Sinnlichkeit«. 1983 endet diese »Pop«- oder »Rock«-Phase des Autors. Ole Petras untersucht Rolf Dieter Brinkmanns letzten Gedichtband Westwärts 1& 2 (1975) hinsichtlich popmusik-typischer Schreibweisen, die eine rhizomorph wuchernde Bedeutungsgenese auf das Feld der Literatur zu übertragen versuchen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist hierbei das Counterculture-Narrativ der 1950er Jahre. Der Beitrag zeigt, dass auch in der Literatur nicht nur der Text signifiziert, sondern eine ganze Reihe Faktoren wie etwa die Vermarktung oder illustrative Elemente. Brinkmann schreibt sich so in eine spezifische Formensprache ein, die die Position des Rezipienten als eigentliches Initial der (Literatur-)Produktion versteht. In den 1990er Jahren rückt der (für die Pop-Art seit langem wichtige) paradoxe Gegensatz von Unmittelbarkeit und Reflexivität, Echtheit und Artifizialität in den Mittelpunkt. Eine linksliberale, bildungsbürgerliche Literatur des Engagements (oft auch deren polemisches Zerrbild) fungiert als Gegner, wobei die Provokation nun auch über einen ausgestellten Ästhetizismus erfolgt. Neu scheint außerdem, dass immer öfter Opposition und Rebellion als Haltungen in Frage gestellt und ausdrücklich abgelehnt werden, während sich literarästhetisch eine Rückkehr zu konventionellen Erzähl- und Schreibweisen abzeichnet. Nikolas Buck zufolge ist Joachim Lottmanns eigenwilliger Dokumentarismus in Mai, Juni, Juli (1987) wegbereitend für die ›Neuere deutsche Pop-Literatur‹, nicht nur in puncto Verabschiedung der Nachkriegsliteratur und ihrer gesellschaftlichen Reform- und Verbesserungsbestrebungen, sondern auch was die ostentative Zeitgenossenschaft dieses Debütromans angeht. Noch größerer Einfluss dürfte von Bret Easton Ellis ausgegangen sein. In American Psycho (1991) konstruiert er, so Christoph Rauen, eine moralisch wie geistig extrem korrekturbedürftige Erzählinstanz, die es ihm ermöglicht, einen kontroversen Zynismus und Konsumismus auf ambivalente, literarisch reizvolle Weise aufzugreifen. Die Textur des Romans ähnelt einem riesigen Ornament aus wiederkehrenden Motiven und Formulierungen, deren Allgegenwärtigkeit die Ausweglosigkeit der dargestellten Business- und Konsumwelt illustriert, aber auch ästhetisiert. Auf dieses Verfahren baut auch Christian Kracht in seinem Erstling. Heinz Drügh führt vor, wie Faserland (1995) zwischen unmittelbarer Artikulation und distanzierter Analyse anstößiger Haltungen, vor allem einer schnöseligen Ar-

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Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen

roganz, changiert. Der Roman überführt zudem, was eine Kontinuität im Verhältnis zu den 1960er und 70er Jahren darstellt, Bestandteile der Konsumkultur in die ›hohe Literatur‹ und entwickelt daraus eine – in der Forschung bisher wenig beachtete – ›Ekelästhetik‹. Dass Abgrenzung von einem jeweils als etabliert und überholt angesehenen Literaturbetrieb eine Konstante der Pop-Literatur darstellt, bewahrheitet sich auch in Ingo Irsiglers Lektüre von Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998). Neu ist hier der unverblümte Wille zum Buchmarkterfolg nach dem Vorbild des Pop-Hits in der Musikwelt. Diesem Bereich entnimmt StuckradBarre auch ästhetische Verfahren wie das Sampling sowie die interessante Spannung zwischen Authentizität und Künstlichkeit, unmittelbarem Leseerlebnis und Zitatcharakter, die auch bei Ellis, Lottmann und Kracht wichtig ist. Auch Abfall für alle (1998) arbeitet sich, wie Claus-Michael Ort ausführt, am Gegensatz von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit ab. Wenn Rainald Goetz die Suche nach außertextlichen Wirklichkeitsreferenzen mit Hilfe der per se mittelbaren Schrift realisiert, so ist darin Ort zufolge eine gewollt paradoxe Inszenierung zu sehen. Anders als bei Stuckrad-Barre zielt das dabei entstehende literarische Produkt nicht unbedingt selbst auf Popularität im Sinne möglichst großer Verbreitung, sondern dient als Vehikel einer von Warhol wie Luhmann beeinflussten Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen Alltagskultur und »Nischen-Hochkultur«. Simon Hansen bespricht Benjamin Leberts Internatroman Crazy (1999) als eine wilde und authentische Version der erfolgreichen und langlebigen Kinderund Jugendbuchserie TKKG. Auch das wurde als »Pop-Literatur« verhandelt: Ein bekenntnishafter, zur Identifikation mit dem Protagonisten, einem verunsicherten Heranwachsenden, einladender Text, verfasst in einem tagebuchartigen, Mündlichkeit suggerierenden Erzählstil, der hier anders als bei Kracht ohne den doppelten Boden unzuverlässigen Erzählens auskommt. Die Beiträge zu den Texten ab dem Jahr 2000 zeigen, dass viele pop-literarische Inszenierungsformen und Schreibverfahren der 1990er Jahre nach wie vor stilprägend sind. Greg Bond arbeitet in seinem Beitrag zu Moritz von Uslars Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010) einen spielerischen Umgang mit der Kategorie des Authentischen heraus: Einerseits findet eine Annäherung an Wirklichkeit statt, andererseits verdeutlicht der Text, dass die »Suche nach dem Authentischen« aufgrund des »Dandyhafte[n] des Pop-Reporters, seine[r] gespielten Eitelkeiten und Unsicherheiten und d[er] Konzentration auf seine Befindlichkeiten im Spiel mit seiner Identität« nicht gelingen kann. Was beobachtet wird, lässt sich von der Figur des Beobachters nicht trennen. Folgt von Uslars Reportage noch weitgehend dem Schema der Pop-Literatur der 1990er Jahre, so beschreiben die Beiträge von Bernd Auerochs, Dirk Nief-

Einleitung

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anger, Laura Schütz und Maike Schmidt, wie pop-literarische Schreibtechniken und Inszenierungsformen in neueren deutschsprachigen Prosatexten selbstreferentiell auf eine nun bereits historisch gewordene Pop-Tradition der 1990er Jahre verweisen. Nicht selten schreiben sich die Texte einerseits in diesen Traditionszusammenhang ein, grenzen sich andererseits aber von den Implikationen und Funktionen pop-literarischen Schreibens der 1990er Jahre ab. In diesem Sinne profiliert Bernd Auerochs die Selbstpräsentation Maxim Billers in dem autobiografischen Text Der gebrauchte Jude (2009) als Grenzfall der Pop-Literatur. Biller teile »das Ressentiment der Popkultur gegen die Hochkultur, das sich im Namen der ›Unterhaltung‹ artikuliert. Umgekehrt teilt er auch jenes Ressentiment der Hochkultur gegen die Popkultur, das deren ›Relevanz‹ bestreitet.« Dirk Niefanger zeigt in seiner Analyse von Frank Goosens So viel Zeit (2007) insofern Bezugspunkte zur angelsächsischen Pop-Literatur (Nick Hornby) auf, als die in deutschsprachigen Texten der 1990er Jahre gängige Unterscheidung zwischen Rock und Pop hier aufgehoben ist. Goosens Roman sei »für Ältere gedacht«, »die sich so sentimentalisch als Jüngere figurieren können – und zwar als solche, die am exquisit Älteren Gefallen finden, weil sie sich so den anderen Jungen ihrer Generation überlegen fühlen können.« Maike Schmidts Analyse von Bessings untitled demonstriert, wie der Roman Pop-Elemente »als selbstreferentielles Zitat« einsetzt. Der »historische Rückbezug« werde »explizit deutlich gemacht«, allerdings inszenieren die Pop-Elemente den Protagonisten – anders als bei von Uslar – nicht mehr als »popliterarischen Dandy«, sondern der Roman schildert, so Schmidt, vielmehr die Entwicklung vom Dandy »hin zu einem auf die eigenen Empfindungen konzentrierten von der Außenwelt abgeschotteten Ich«. Laura Schütz demonstriert an Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010), dass dieser zwar auf der Technik des Samplings beruht, die Technik des Zitierens, Verweisens und Montierens allerdings, im Gegensatz zur traditionellen Pop-Literatur, zu keinerlei Sinnerzeugung mehr führt. Ein Sonderstatus kommt Moritz Baßlers Aufsatz über »Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song« bei den Bands Ja, Panik, Messer und Trümmer zu, da er keine buchförmig veröffentlichten Texte, sondern Pop-Alben und ihre lyrics behandelt. Und doch ergeben sich inhaltliche, formale und programmatische Bezüge zu den im Band behandelten Werken. Baßler beobachtet eine neue »Ästhetik des Gebrochenen, der Drastik und der Überforderung«, die sich von Pop als »bunter, glitzender Attraktionskultur« abgrenzt, wieder affirmativ Ernst und Echtheit ins Spiel bringt und über ein ebenso anschlussfähiges wie diffuses kapitalismuskritisches Pathos Pop als Anti-Pop fortschreibt. Der Überblick zeigt, dass von einem einheitlichen Genre ›Pop-Literatur‹ in einem strengen Sinn nicht die Rede sein kann. Stattdessen weisen die hier versammelten Texte eine Reihe formaler, thematisch-inhaltlicher und inszenatorischer Merkmale auf, die je nach Text in mal mehr, mal weniger vollständiger

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Ingo Irsigler / Ole Petras / Christoph Rauen

Gruppierung vorliegen, vor allem aber jeweils neu konfiguriert und kontextualisiert werden. Einige der sich dabei ergebenden, übergreifenden Tendenzen und Kontinuitäten sollten in diesem Vorwort schlaglichtartig beleuchtet werden. Der chronologisch locker einer Ordnung in Zwanzigjahresintervalle folgende Aufbau des Bandes, von Hubert Fichtes Die Palette (1968) zu Joachim Bessings Untitled (2013) reichend, entspricht der Vermutung, dass die in zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Texte sich hinsichtlich inhaltlicher und formaler Eigenschaften und Formen der Autorschaftsinszenierung gleichen oder aber in aufschlussreicher Weise unterscheiden, eine dergestalt relationale Lektüre also Besonderheiten und Entsprechungen an erwarteter wie unerwarteter Stelle entdecken lässt. – Hervorgegangen ist der Band, das sei zum Abschluss erwähnt, aus einer Ringvorlesung, die Albert Meier im Wintersemester 2013/14 am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Universität Kiel initiierte und deren Beiträge den Grundbestand der nun vorliegenden Sammlung bildeten. Ihm sind die Herausgeber zu Dank verpflichtet, ebenso wie Bernd Auerochs und Hans-Edwin Friedrich für die großzügige Unterstützung und Dorothea Müller wie Sina Röpke für die redaktionelle Mitarbeit. Kiel, April 2019 Die Herausgeber

I. Die 60er und 70er Jahre

Thomas Hecken

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

Einleitung Der Leitsatz der Philosophie der Kunst Arthur C. Dantos lautet, Kunst hänge von Theorien ab. Um etwas als Kunst zu erkennen, benötige man Kunsttheorien und Kenntnis der Kunstgeschichte, sonst könne man z. B. in Warhols Brillo Boxes nur einen Karton für Putzschwämme ausmachen, nicht aber einen Kunstgegenstand.1 Wie immer es um den Wahrheitsgehalt dieser Theorie bestellt sein mag, beim Blick auf die deutsche Pop-Literatur ist augenscheinlich, dass sie ohne vorhergehende und sie begleitende Reflexionen zum Status von Pop nicht möglich wäre. Der Begriff ›Pop-Diskurs‹, den man vor allem in den 1990er Jahren oftmals lesen konnte, zeigt an, dass es sich bei solchen Reden über Pop um gehobene, theoriefähige, kunstsinnige Rede- und Schreibweisen handelt (oder sie zumindest diesen Anspruch erheben). Von diesem Nimbus hat auch die Pop-Literatur profitiert. Sie verdankt ihm ihre Existenz und einen gewissen Rang. ›Pop-Diskurs‹ soll also nicht besagen, es gebe rund um Pop bedeutsame epistemologische Grenzen, ein historisches Apriori etc. Es soll bloß heißen, dass Pop innerhalb eines einigermaßen inhaltlich begrenzten Rahmens mit einigen kulturellen Weihen versehen worden ist. Dazu trägt schon bei, Pop für diskussionswürdig und theoriefähig zu halten. ›Pop-Diskurs‹ soll hier auch nicht bedeuten, dass alle Pop-Bestimmungen zutiefst von den Ausschlussmechanismen und Rede-Anforderungen der Wissens-Macht durchzogen sind, durchaus soll aber angezeigt werden, dass es sich bei Pop nicht um einen natürlich vorfindbaren Gegenstand handelt, sondern um etwas, das von einer »art world« (im Sinne Howard S. Beckers) der Verleger, Lektoren, Autoren, Rezensenten, Wissenschaftler, öffentlich-rechtlichen Redakteure, Buchhändler, Leser hervorgebracht wird. 1 Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art. Cambridge 1981.

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Die einfache Begriffsgeschichte steuert hier bereits interessante Aufschlüsse bei. Selbst in den 1950er Jahren ist ›pop‹ im anglo-amerikanischen Sprachraum noch nicht allzu häufig gebraucht worden – und wenn doch einmal, dann als Kürzel für ›popular music‹. Das ändert sich in den 60er Jahren keineswegs nur mit der Beat-Musik, sondern zuerst mit der Pop-Art, dann rasch im Zusammenspiel von Pop-Art und Beat, gern verknüpft mit Nouvelle Vague und James Bond, Batman und Psychedelia, Minirock und studentischem Protest. Die älteren Debatten rund um Volks- und/oder Massenkultur werden dadurch nicht vollständig abgelöst, aber – wenn sie überhaupt noch eine Rolle spielen – in neue Zusammenhänge überführt. Die sog. Pop-Literatur ist deutlich Teil dieser Transformation. Mit romantischen Vorstellungen von Volksliteratur hat sie nur selten etwas gemein, ebenso wenig mit Genre-Bestsellern, die im Banne der Massenkultur stehen. Wichtiger sind für die Pop-Literatur, wie sie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begrifflich gefasst wird, drei andere Konzeptualisierungen, die unter dem Titel ›pop‹ laufen: Debatten zur Pop-Art (1.1), zur PopLiberalität und -Modernität (1.2) und zum Pop-Underground (1.3). Die These des vorliegenden Aufsatzes ist, dass diese drei Dimensionen auch für die Fassungen der deutschen Pop-Literatur am Ende der 1990er Jahre von entscheidender Bedeutung sind. Darum wird die Diskussion der 1960er Jahre im Folgenden ausführlich vorgestellt, um am Ende deren Bedeutung für den erneuten Pop-Literatur-Trend drei Jahrzehnte später summarisch knapp nachzuweisen.

1.

Pop-Bestimmungen der 1960er Jahre

1.1

Pop-Art

Henry Geldzahler definiert 1962 bei einem Symposium des Museum of Modern Art »pop art« wirkungsmächtig als eine Kunstrichtung, die auf die gegenwärtige visuelle Umgebung reagiere; deren Sinnesreize seien hauptsächlich künstlich (»secondhand«). »We live in an urban society, ceaselessly exposed to mass media«, merkt Geldzahler an, ohne dies gleich kulturkritisch zu kommentieren. Die Pop-Artisten – Geldzahler nennt Wesselmann, Warhol, Rosenquist, Lichtenstein – arbeiteten mit dem Bildangebot der modernen Medien: »popular press, especially and most typically Life magazine, the movie close-up, black and white, technicolor and wide screen, the billboard extravaganzas, and finally the introduction, through television, of this blatant appeal to our eye into the home.«2 2 Henry Geldzahler: »Vortrag auf dem Pop Art-Symposium des Museum of Modern Art,

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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Die Nähe der Pop-Art zur Massenkultur macht die neue Kunstrichtung zwangsläufig umstritten. Das gilt nicht nur für Objekte, die sich lediglich vom Material her von ihrem Vorbild unterscheiden (etwa Warhols bereits erwähnte aus Holz gefertigte Nachbildung eines Putzmittelkartons), sondern auch für die gemalten oder mit anderen bildtechnischen Verfahren erzeugten Aneignungen von Vorlagen aus Comics, Illustrierten, Werbetafeln, Hollywoodfilmen, Fernsehserien etc. Die Frage, ob die Pop-Art ihre Vorlagen in ausreichendem Maße künstlerisch umwandelt, um sich qualitativ von ihnen abzusetzen, verneinen viele der ersten amerikanischen Rezensenten der neuen Kunstrichtung;3 eine Transformation finde nicht statt, nur eine »Transposition«,4 etwa vom Supermarkt in die Galerie. Die Werke von Warhol u. a. seien »cool«, seien »slick« und »chic«, deshalb gehörten sie weder einer von unten kommenden, natürlich gewachsenen Volkskunst noch der Avantgarde, sondern als »synthetic art« dem kulturindustriell hergestellten »Kitsch« an.5 Das bleibt aber nicht das letzte Wort in der Sache. Andere Kritiker weisen in der Tradition der Anhänger von ›ready-made‹ und ›objet trouv8‹ auf die Differenz hin, welche bereits durch leichte Bearbeitung oder bloße Transponierung entstehe;6 die kommerziellen Zeichen würden so verfremdet, verlören ihre gewöhnliche Bedeutung, der Betrachter erlerne dadurch ganz allgemein einen neuen Blick. Hinter solchen Bezügen und Verfahrensweisen tritt das Sujet der Massenkultur schnell wieder zurück. Einige der Pop-Künstler lassen auch gar keinen Zweifel daran, dass sie eine Rezeption, die sich an die bekannten Gegenstände heftet, missbilligen. Tom Wesselmann distanziert sich ausdrücklich von den Bewunderern der neuen Malerei, welche die Pop-Art schätzen, weil sie einige der benutzten Gegenstände oder Bildvorlagen bewundern. »They really worship Marilyn Monroe or Coca-Cola«, gibt sich Wesselmann erstaunt, um solche Rezeption brüsk zurückzuweisen: »The importance people attach to things the artist uses is irrelevant.«7

3 4 5 6 7

13. Dezember 1962«. In: Steven Henry Madoff (Hg.): Pop Art. A Critical History. Berkeley u. a. 1997, S. 65ff. Eric Loran: »C8zanne and Lichtenstein: Problems of ›Transformation‹«. In: Artforum 9 (1963). Zitiert nach: Carol A. Mahsun (Hg.): Pop Art. The Critical Dialogue. Ann Arbor 1989, S. 82–87. Stanley Kunitz: »Vortrag auf dem Pop Art-Symposium des Museum of Modern Art, 13. Dezember 1962«. In: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 73–76, hier S. 75. Peter Selz: »The Flaccid Art«. In: Partisan Review (Sommer/1963). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 85–87, hier S. 86f. Jules Langsner : »Los Angeles Letter«. In: Art International 9 (1962). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2) S. 33f. Tom Wesselmann: »Interview. Teil einer Gesprächsserie, geführt von G.R. Swenson«. In: Art News 2 (1964). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 112–117, hier S. 113.

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Es ist bezeichnenderweise gerade die Nähe zu vorherigen abstrakten Malweisen, die zum Lob der Pop-Art in der Kunstwelt einen wichtigen Beitrag leistet. Die Konkretion der populärkulturellen Gegenstände tritt im Auge nicht weniger Betrachter hinter eine abstrakte Formgebung zurück. Die amerikanischen Kritiker heben häufig den Beitrag der Pop-Art zum durchgehend modernen Versuch hervor, eine um die (realistische) Illusion räumlicher Tiefe bemühte Malerei hinter sich zu lassen. Die ›Flachheit‹ der Pop-Art wird ungeachtet der Rückkehr zur Figuration früh herausgestellt, auch die Nähe zu einzelnen Vertretern der abstrakten Malerei, der Farbfeldmalerei; Jill Johnston etwa zieht den Vergleich von Wesselmanns Aktbildern zur »clean hard edge of Mondrian in stripes and divisions of areas«.8 Auch Robert Rosenblum betont bei den Adaptionen von Comic-Bildern und Starfotografien deren zweckfreie, abstrakte Qualität.9 Aus der »non art« der scheußlichsten kommerziellen Bilder würde so Kunst: The most inventive Pop artists share with their abstract contemporaries a sensibility to bold magnifications of simple, regularized forms – rows of dots, stripes, chevrons, concentric circles; to taut, brushless surfaces that often reject traditional oil techniques in favor of new industrial media of metallic, plastic, enamel quality ; to expansive areas of flat, unmodulated color.10

Da macht es nicht einmal etwas aus, dass einige dieser Techniken und Farbvaleurs dem Bereich der Werbung und der »slick-magazine«-Fotografie entnommen sind, dient doch hier das Unnuancierte, künstlich Oberflächliche der antirealistischen, abstrakt-flachen Illusionslosigkeit, der in der Kunstkritik seit längerer Zeit zuverlässig das höchste Lob zukommt.11 Das Lob der verfremdenden Operation, mit der die Pop-Art Vorlagen der Massenkultur aufgreift, geht mit dem Lob der Oberflächlichkeit einher.

1.2

Pop-Liberalismus

John Canaday sieht im Pop-Art-Publikum nur eine weitere Auflage des »artconscious public«, das in der Moderne stets auf Überraschungen und Neuerungen warte; darum sei es auch bereit, den von ihm gegenüber den Gegenständen der kommerziellen Kunst empfundenen Horror angesichts der Bear8 Jill Johnston: »The Artist in a Coca-Cola World«. In: Village Voice 1 (1963). Zitiert nach: Mahsun: Pop Art (wie Anm. 3), S. 41–47, hier S. 44. 9 Robert Rosenblum: »Pop Art and Non-Pop Art«. In: Art and Literature (Sommer/1965). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 131–134, hier S. 134. 10 Robert Rosenblum: »Roy Lichtenstein and the Realist Revolt«. In: Metro 4 (1963). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 189–193. 11 Rosenblum: Pop Art and Non-Pop Art (wie Anm. 9), S. 131–134.

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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beitungen durch die Pop-Art in einen »artificially induced frisson of pleasure« umzuwandeln; von »Pop« sei das folglich weit entfernt: »›Pop‹ is short for ›popular‹, in the sense of ›of the people‹ or ›of the common herd‹, and by definition Pop is thus opposed to fine art created for the cultivated few.«12 Sidney Tillim hingegen erkennt in den Anhängern der Pop-Art einen ganz neuen Typus des »American art public«; dieses neue Publikum sei überdrüssig, belehrt zu werden, es wehre sich gegen ihm fremde kulturelle Ansprüche und versuche nicht länger, sich an sie anzupassen.13 Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass ›pop‹ als Begriff nicht allein zur Abkürzung für Popularität fungiert, sondern substanzieller gebraucht wird. Die Pop-Art leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass Pop (um ab jetzt die deutsche ›Übersetzung‹ zu benutzen) Mitte der 60er Jahre etwas ganz Bestimmtes bezeichnet. Dass diese Form von Pop und mit ihr ein bedeutender Teil der Pop-Art populär (also bei vielen beliebt) ist, steht Mitte der 60er Jahre ebenfalls schnell fest. Die Berichte über Bilder der Pop-Art in Magazinen mit hoher Auflagenzahl sind dabei nur ein Indiz. Das herausgestellte Zusammenspiel von Pop-Art und Gebrauchskunst ergibt einen wichtigen Ankerpunkt für Pop. Newsweek definiert Pop im April 1966 anhand einer Reihe schlagender Beispiele. Pop ist demnach »a $5,000 Roy Lichtenstein painting of an underwater kiss hanging in a businessman’s living room«, Pop ist aber gleichfalls »30 million viewers dialing Batman on ABC every week«, es ist ein »Pow! Bam! commercial for Life Savers on TVand a huge comic-strip billboard for No-Cal glaring down on Times Sqare. It’s lionmaned Baby Jane Holzer in a short-skirted wedding dress. It’s the no-bra-bra and the no-back dress.«14 Näher ausgeführt, zeigt sich Pop dem Nachrichtenmagazin als ein neuer Stil in der Werbung – »quick, staccato, jump-cut«, als ironische Ausstellung von Klischees (wie in der immens erfolgreichen Fernsehserie Batman), als eine junge Mode, die dem Diktat der Haute Couture absagt, als gegenwartsbezogene, erinnerungsabgewandte, oberflächliche, antipsychologische Figuration wie im Falle James Bonds – »He is completely in the pop mainstream of anti-tradition, anti-authority. He lives for now and laughs at himself.« – und als künstlerische Reizüberflutung, bei der »music, dancing, movies, everything happens at once and assaults all the senses«.15 Pop ist, zusammengefasst, »what’s happening«, »anything that is imaginative, nonserious, rebellious, new, or

12 John Canaday : »Pop Art Sells on and on – Why?«. In: The New York Times Magazine vom 31. Mai 1964. Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 118–123, hier S. 119. 13 Sidney Tillim: »Further Observations on the Pop Phenomenon«. In: Artforum 11 (1965). Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 135–139. 14 Peter Benchley : »The Story of Pop«. In: Newsweek vom 25. April 1966. Zitiert nach: Madoff: Pop Art (wie Anm. 2), S. 148–153. 15 Benchley : Story (wie Anm. 14).

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nostalgic; anything, basically, fun«.16 Pop steht nun – wie C8cile Whiting als Erste herausgearbeitet hat – für eine Ästhetik ein, »that cut across high art and consumer culture through its emphasis on fashionability, youthfulness, and fun«.17 Und für Oberflächlichkeit und Künstlichkeit, sollte man noch hinzufügen. Pop steht dabei zwar für Jugendlichkeit, diese vermutet man aber in den Nachrichtenmagazinen nicht allein bei Sechzehnjährigen. Die Aktualität von Pop, der ›in‹-Charakter von Pop scheint den Kommentatoren weder ein flüchtiges noch ein auf Teenager beschränktes Phänomen zu sein, auch wenn die alten Generationen ihm ablehnend gegenüberstehen. Die Erklärung der Popkultur aus liberal-kapitalistischen Fortschritten lässt den Schluss zu, dass die junge Generation nur die erste von kommenden Generationen ist, die der Popkultur über den Tag hinaus verbunden sein werden. Außergewöhnlich an dieser Konzeption einer Popkultur, wie man sie Mitte der 60er Jahre in den großen Illustrierten und Wochenendbeilagen findet, ist, dass sie ohne den vertrauten kritischen Ton auskommt: Gloria Steinem schließt in Life im Sommer 1965 unter dem Titel »The Ins and Outs of Pop Culture« Pop eng an den »spirit of Now« an, um sofort jedoch herauszustellen, dass dieser Zeitgeist sich tiefliegenden, beständigen Entwicklungen verdankt, gebunden ist an die Übersteigung nationaler Grenzen, an eine Generation, die ohne Kriegserinnerungen aufwächst, an die Ablösung von puritanischer Moral, an die vergrößerten Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben, zu reisen, sich frei zu bewegen und auszudrücken.18

1.3

Pop-Underground

In Gloria Steinems Life-Artikel wird der großen Leserschaft ein reichhaltiger moderner Katalog von Dingen offeriert, deren Besitz oder Kenntnis einem dazu verhilft, sich auf der Höhe der Zeit und des avancierten Geschmacks zu bewegen. Als Trendsetzer fungieren dabei nach Ansicht von Life die »teen subculture«, Mitglieder der »upper class-Pop Society« und auch Vertreter des »underground« wie Andy Warhol. Deshalb ist das Urteil deutlich: »In« könne man nur sein, wenn man sich vom Geschmack und von der Moral der »middle class« abwende. Hoch paradox ist diese Aussage, weil sie sich natürlich an ein Mittelschichtspublikum, an die Leser von Life, wendet. Unterschwellig aufgelöst wird der Widerspruch aber bereits im Artikel selber : Die »Pop Culture« wird als Ausdruck einer neuen antipuritanischen Haltung gesehen; sie ist demnach Teil 16 Benchley : Story (wie Anm. 14). 17 C8cile Whiting: Pop L.A. Art and the City in the 1960s. Berkeley/Los Angeles 2006, S. 179. 18 Gloria Steinem: »The Ins and Outs of Pop Culture«. In: Life vom 20. August 1965, S. 72–89.

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jener Generation, die sich im Zuge vergrößerter liberaler Freiheiten und gestiegenen Wohlstands von älteren Pflicht- und Tugendidealen entfernt. Unausgesprochen läuft das auf die Einschätzung hinaus, dass die Popkultur erfolgreich zum Untergang einer überlebten Haltung beiträgt und dadurch über die Nachkriegsgeneration hinaus bald fester Bestandteil der erneuerten Mittelschicht sein wird. Der Life-Artikel Steinems ist bereits selbst ein ausgezeichneter Beweis für diese Beobachtung und Prognose. Mit einer fortschreitenden, allgemeinen Abwendung von puritanischen Einstellungen und der Hinwendung zu einer ›fun‹-Moral steht die Gleichsetzung von Popkultur mit jugendlicher Subkultur stark in Frage. Noch viel stärker gilt dies selbstverständlich für eine versuchte Gleichsetzung von Pop mit Bestrebungen des Undergrounds. Wenn Pop zur Ausstattung einer erfolgreichen, urbanen Mittelschicht gehört, dann muss man folgerichtig Pop zum Mainstream schlagen und zum Gegner erklären. Mit den Mitteln der Konsumkritik und der Kritik an oberflächlich bunten, repressiv entsublimierten, falschen liberalen Freiheiten wird eine solche Feindeserklärung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre auch oft genug vorgenommen. Dennoch ist das auf der Seite der ›cultural radicals‹ nicht das einzige Wort. Es gibt aus ihren Reihen bis 1968 immer wieder Anläufe, das umwälzende Potenzial von Pop herauszustellen, erstens indem man mit Pop einen Angriff auf die Gutenberg-Kultur verbindet; zweitens indem man in Pop einen Widerpart zur unsinnlichen, bildungsbürgerlichen Kunst erkennt und als eine oberflächliche, hedonistische Kraft feiert, die gegen die rationalisierte, verwaltete, auf entfremdeter Arbeit beruhende Gesellschaft gerichtet ist. All diese Versuche finden ihren Rückhalt in dem Widerstand, der ihnen teilweise noch entgegenschlägt. Die Befürchtungen und Abwehrmaßnahmen konservativer Lehrer, Kunstkritiker, Politiker, Richter, Intellektueller bestärken die Anhänger des Pop-Undergrounds in ihrem prinzipiellen Glauben, ihre Vorliebe für Pornografie, MultiMedia-Shows, bestimmte modische Äußerlichkeiten, zeitgenössische Popmusik etc. besitze einen bedeutenden gegenkulturellen Grund. Als ein Beispiel seien die Reaktionen auf Andy Warhol genannt. Die Kritik an dem outrierten, künstlich-kunstgewerblichen Stil der Camp- und Pop-Art Warhols – »One has the feeling that it all started one day when a bunch of sweet young things got together after a mad, mad day at the decorator’s«, heißt es unter der anspielungsreichen Überschrift »It’s a Queer Hand Stoking the Campfire« homophob in der New Yorker Village Voice19 –, steigert sich noch, nachdem die Filme Warhols sich nicht als dekorativ und die »jungen Dinger« sich auch keineswegs als »süß« erweisen. Die New York Times warnt darum mit Hinweis auf 19 Vivian Gornick: »It’s a Queer Hand Stoking the Campfire«. In: Village Voice vom 7. April 1966, S. 20f.

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Warhols Film Chelsea Girls vor dem Anblick dieses »very small segment of New York life – the lower level of degenerate dope-pushers, lesbians and homosexuals«.20 Die Warnung fällt umso dringlicher aus, als Warhols Filme nun außerhalb kleiner, avantgardistischer Kunstfilm-Kreise gezeigt werden. Das eigentliche Problem besteht demnach darin, dass Warhols verwerfliches Treiben nun weitere Kreise erreichen könnte: »The Underground Overflows« lautet die Überschrift des Artikels aus der New York Times, der keinen Zweifel daran lässt, dass jede weitere Ausdehnung des Underground unterbunden werden müsse. Von einer eindimensionalen Kultur, die alles integriert, kann im Lichte solcher Artikel tatsächlich keine Rede sein; die avantgardistische Feier der Warhol-Filme durch kleine New Yorker Experimentalkünstler als Underground-Filme besäße darum sogar mehr als nur eine künstlerische Dimension – der Titel Underground hätte auch eine politische Qualität, die den erfolgreichen Widerstand gegen den »Overground«, gegen den Mainstream anzeigte. Auch das ist aber nur eine Stimme unter verschiedenen anderen, ihre Beweiskraft bleibt folglich eingeschränkt. Für Newsweek etwa steht Warhol sogar bereits für eine neue Generation ein, und dies wird keineswegs mit negativem, warnendem Unterton vermerkt; das Nachrichtenmagazin spricht ohne Anführungszeichen, bemüht witzige Einkleidungen oder Anzeichen der Verwirrung von einer »new hip world of blurred genders«, einer modernen Szenerie, die wenn auch an ihrem Rand, so doch insgesamt unbefangen im Rahmen der allgemeinen antipuritanischen Popkultur gesehen wird.21 Angesichts solcher Liberalität hat es der Underground natürlich leicht und – gemessen an seinen radikalen kulturellen Umwälzungsfantasien – schwer zugleich.

2.

Bezug Pop-Literatur

In Deutschland sind diese US-amerikanischen Debatten in Ausschnitten rezipiert, nachgedruckt und ›wiederaufgeführt‹ worden. Von ihnen hat man auch das Konzept ›Pop-Literatur‹ abgeleitet. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war und kein historischer Determinismus waltete, kann man unschwer an der fehlenden Durchsetzung eines angloamerikanischen Genres ›pop literature‹ erkennen, obwohl es einige Ansätze gegeben hat, eine solche Richtung auf

20 Bosley Crowther : »The Underground Overflows«. In: New York Times vom 11. Dezember 1966. Zitiert nach: Alan R. Pratt (Hg.): The Critical Response to Andy Warhol. Westport/ London 1997, S. 24f. 21 O. V.: »Saint Andrew«. In: Newsweek vom 7. Dezember 1964, S. 72–74, hier S. 74.

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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ebendiesen Begriff zu bringen. Besonders interessant ist Albert Goldmans Bestimmung einer »Pop literature«: To my mind, the literary equivalent of the Pop artist’s refusal to respect cultural values and to give his work ›meaning‹, his isolation of his subject and his intensification of its energic essence – all this equates with a writer’s decision to treat violent, perverse and criminal actions in a style of such illusory detachment that the reader is unable to react morally or sympathetically, but is invited instead to respond amorally and empathetically, almost but not quite the way he responds to the lower-case pop of detective thrillers, gangster movies, horror comics and the most explosive animated cartoons.22

Zur »Pop esthetic« allgemein gehört für Goldman neben dem banalen Sujet die plane, undurchdringlich glatte Oberfläche (»flat, slick surface«), der distanzierte Habitus (»cool detached tone«) und eine dichte Zusammenstellung verschiedener Markennamen und Werbeslogans (»tight mosaic of brand names and product slogans«). Von der traditionellen Literatur muss sich eine entsprechende Pop-Literatur nach Auffassung Goldmans vor allem dadurch unterscheiden, dass sie sich – wie der ›nouveau roman‹ – jeder moralischen Bewertung und sachlichen Motivierung des Dargebotenen enthält.23 Viel bekannter in Deutschland (und auch zuerst auf Deutsch publiziert): Der Aufruf des US-amerikanischen Literaturprofessors Leslie Fiedler, die kulturellen Grenzen zu überschreiten. Dem modernen Erzählen erteilt Fiedler 1968 eine heftige Absage; die Stunde des Kunstromans eines Thomas Mann oder Proust habe geschlagen. An seine Stelle möchte Fiedler einen »antiseriösen« Roman setzen, der die Lücke zwischen »der Bildungselite und der Kultur der Masse«, zwischen den »›Belles lettres‹ und der Pop-Kunst« überwindet.24 Um die Lücke zwischen hoher und angeblich niedriger Kunst zu schließen und damit »subversiv« gegen die überkommenen »Klassenvorurteile« anzugehen, die in einer »pluralistischen Gesellschaft« fehl am Platze seien, verweist Fiedler auf drei Methoden: Das erste Mittel besteht in der »Parodie, Übersteigerung, grotesken Überformung der Klassiker«, das zweite in der Aufnahme von »Pop-Formen« des Westerns, der Pornografie und der Science Fiction durch zeitgenössische Schriftsteller, das dritte in der damit teilweise verbundenen Hinwendung zu den neuen, maschinell produzierten »mythischen Bilderwelten« der Schlagzeilen, Comics und Fernsehsendungen.25

22 Albert Goldman: »Pop is Mom«. In: Ders.: Freakshow. The Rocksoulbluesjazzsickjewblackhumorsexpoppsych Gig and Other Scenes from the Counter-Culture. New York 1971 [ca. 1966], S. 329–338, hier S. 333. 23 Goldman: Pop is Mom (wie Anm. 22), S. 333. 24 Leslie A. Fiedler : »Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik«. In: Christ und Welt vom 13. September 1968, S. 9f. 25 Leslie A. Fiedler : »Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science Fiction und Porno-

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Interessanterweise gewinnt aber eine solche Pop-Modellierung der Literatur nur in Deutschland Anhalt, in Amerika und England bleibt sie ohne Resonanz. Woran das liegt, ist schwer zu sagen, höchstwahrscheinlich hat es etwas damit zu tun, dass es in Deutschland noch keine nennenswerte eigene Rockmusik-Szene gibt und es deshalb Pop-Strömungen in anderen Kunstgattungen besonders leicht haben, Aufmerksamkeit zu erlangen. Ebenso wahrscheinlich trägt die starke kulturkritische Tradition innerhalb der deutschen literarischen Intelligenz dazu bei; sie fordert eine Abweichung unter jüngeren Schriftstellern, die sich in Richtung Pop bewegt, geradezu heraus. Was auch immer die Gründe dafür gewesen sein mögen, fest steht, dass sich in Westdeutschland Verlage, Feuilletons, Autoren um 1968 in großer Zahl an die Etablierung des Genretitels ›Pop-Literatur‹ machten. ›Pop‹ ist für sie keine Abkürzung für ›populäre Kultur‹, sondern für eine Kultur, die sich bewusst von dem eingeschränkten Geschmack, der spießigen Moral des ›Volks‹ entfernt. ›PopLiteratur‹ zeigt im deutschen Sprachraum keineswegs allein Romane und Erzählungen an, in denen es um Geschehnisse aus der Rockszene geht. Zwar wird ›Pop-Literatur‹ auch in diesem Sinne verwandt, es überwiegt jedoch ein anderer Sprachgebrauch, der sich ebenfalls nicht nur darauf erstreckt, populäre Songtexte in den Blick zu nehmen. Vor allem dient der Ausdruck überhaupt nicht dazu, populäre Bestseller zu bezeichnen. Durch all diese Abgrenzungen gewinnt der Begriff seinen Zuschnitt. Der US-amerikanische Pop-Liberalismus geht insofern in diese Überlegungen ein, als Pop modern von der Volkskultur getrennt und dennoch nicht gleich kulturkritisch abgewertet wird. Zu einer Bejahung von Pop im Zusammenhang einer Apologie der westlichen, liberalkapitalistischen Gesellschaft führt das aber in den Pop-Literatur-Debatten der BRD keineswegs. Viel wichtiger für die PopLiteratur-Einfassung sind die Bezüge zur Pop-Art und zum Underground, wie man sie aus den amerikanischen Beiträgen zur bildenden Kunst, zur Popmusik und zu jugendlichen Subkulturen kennt. Sie werden in Deutschland nun genutzt, um die Pop-Literatur zu konstituieren.

2.1

Pop-Art als Blaupause der Pop-Literatur

Um mit der Analogie zur Pop-Art anzufangen: Für eine ganze Reihe der jüngeren Künstler und Autoren birgt bereits die Hinwendung zu Comics,26 zu Slogans,27 graphie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen«. In: Christ und Welt vom 20. September 1968, S. 14ff. 26 Hans Carl Artmann: Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. Olten/Freiburg 1964. 27 Paul-Gerhard Hübsch: »1 klein wenig Realität«. In: Akzente 13 (1966), S. 386–391.

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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zur »second hand- und ready-made Natur unserer technischen Zivilisation«28 bzw., wie Rolf Dieter Brinkmann definiert, zu »Pop« als dem »jetzt erreichten Stand technisierter Umwelt«29 genügend Potenzial, um die gängigen Standards in Literatur und Kunst nachhaltig herauszufordern. Die feuilletonistische Kritik reagiert auf entsprechende Werke allerdings keineswegs überwiegend mit Verstörung. Im Gegenteil, nicht selten wird in moderner Tradition genau jene Irritation, die von den Pop-Adaptionen ausgeht, anerkennend vermerkt:30 Uwe Brandners Innerungen sei als »Pop-Roman« ein »fast perfektes Verwirrbuch«;31 Peter O. Chotjewitz’ Buch Die Insel schüttle nach »Pop-art-Technik« sein Material durcheinander und beweise dadurch eine »Kunstfertigkeit von hohen Graden«;32 Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband Piloten schlage aus dem »zweifelhaften Glamour« der »Medien Film, Schlager und Reklame« »erstaunlich viele Funken« und biete deshalb ein gutes Beispiel »für Pop Art in der Literatur«: »Auch hier wird Alltägliches aus dem gewohnten, liebgewonnenen Zusammenhang gerissen und in einen fremden (›verfremdet‹ – da ist das beliebte Wort!) gestellt. Neues Sehen beginnt.«33 Diese Pop-Literatur entnimmt der Welt des populären Marketings und der Welt der populären Unterhaltungsmedien vorgefertigte narrative Formeln und Textstücke, gibt sie in Veröffentlichungen einschlägiger Verlage (der institutionellen Entsprechung zu den Kunst-Galerien) als literarisches Werk aus oder stellt sie satirisch gezeichnet oder neu gerahmt auffällig heraus. Es gibt z. B. gaghafte literarische Pop-Art-Analogien wie Bieneks Wetterbericht34 und Wondratscheks Rolling Stones (Telefonbuchausrisse von u. a. Jager bis Jaggers),35 es gibt in großer Zahl Montagen, die Textzeilen auf oder neben den Bildern (halb)nackter Frauen oder von Comic-Helden platzieren.36 Peter Handke nimmt die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg mit ihrer 2–3–5-Formation in seinen Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt auf.37 Und Elfriede 28 »Quibb-Manifest«. Zitiert nach: Heinz Ohff: Pop und die Folgen!!! oder die Kunst Kunst auf der Straße zu finden. Düsseldorf 1968, S. 108. 29 Rolf Dieter Brinkmann: »Angriff auf das Monopol. Ich hasse alte Dichter«. In: Christ und Welt (1968). Zitiert nach: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 65–77, hier S. 71. 30 Allgemein etwa Heinrich Böll: »Vorwort zur ›Krebsstation‹«. In: Ders.: Neue politische und literarische Schriften. Köln 1971 [1968], S. 28–30, hier S. 29. 31 Ingrid Werner : »Pop-Uwes Meinungsknopf«. In: Twen (Mai/1968), S. 51. 32 Eberhard Horst: »Peter O. Chotjewitz / Die Insel«. In: Neue Rundschau 79 (1968), S. 511–514, hier S. 511. 33 Heinz Neidel: »Paralleldenker und Piloten«. In: du 29 (1969), S. 391–392. 34 Horst Bienek: Vorgefundene Gedichte. PoHmes trouv8s. München 1969, S. 25. 35 Wolf Wondratschek: »Die Rolling Stones«. In: Akzente 18 (1971), S. 234–237. 36 Siehe etwa: Rolf Dieter Brinkmann: Godzilla. Köln 1968. 37 Peter Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main 1969, S. 87/ 11/59.

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Jelinek, die am kritischen Pol der Pop-Art-Übernahmen anzusiedeln ist, zitiert Illustrierte-Phrasen und Kulturindustrie-Stereotype, um sie äußerst künstlich weiterzudrehen: ringo hatte bei seinem taumel von einem flüchtigen abenteuer ins nächste einen schalen geschmack im munde. einen nachgeschmack. er sagte oft zu paul der sich im flitterbikini von einem glänzenden star herabschwang you moving from a star verdammt noch einmal lass uns doch endlich ehrlich zueinander sein.38

2.2

Pop-Literatur als Gegenkulturausdruck

Die in Analogie zur Pop-Art gebildete Pop-Literatur behält um 1968 zumeist solange ihre Berechtigung, wie sie nicht rein als »affirmatives Markenzeichen« der täglichen Konsum-Wirklichkeit39 identifiziert wird. Sie steht in einem positiven Licht, solange ihren Adaptionen der Pop- und Massenkultur ein verfremdender, verstörender Charakter zugesprochen wird.40 In den Augen vieler Kulturrevolutionäre behält sie ihre Legitimation vor allem, wenn sie als AbfallKunst firmiert oder (wie bereits zu Beginn der amerikanischen Debatte) als Neuauflage Dadas aufgefasst wird. »Die Wohnung verwandelten wir in Pop. Käse an die Wand genagelt, angebissene Schallplatten rumgeschmissen«, heißt es genau in diesem Sinne in Hubert Fichtes 1968 veröffentlichtem Roman Die Palette.41 Bei Rolf Dieter Brinkmann trifft man auf die Ausweitung bzw. Entkernung der literarischen Pop-Art in Richtung dadaistischer Abfall-Materialkunst in jedem seiner wichtigen poetologischen Essays. Zur Aufforderung, Illustriertenberichte, Schlagzeilen der Boulevardpresse etc. ins Gedicht aufzunehmen, tritt immer der Verweis auf anderes alltägliches Material, auf »Sätze aus irgendeiner Lektüre oder zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel«.42 Dadaistische Unsinns-Ziele verbindet Brinkmann damit aber nur zu einem kleineren Teil. Bei ihm kommt noch vielerlei hinzu, was auf einen starken neuen Sinn hinausläuft, u. a. die vulgäre Rede nach dem Vorbild der amerikanischen ›dirty speech‹-Poesie,43 die Aufzeichnung subjektiver, momentaner, authenti38 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby! Reinbek bei Hamburg 1988 [1970], S. 142. 39 Martin Jürgens: »Pop Art-Sackgasse«. In: Rolf-Ulrich Kaiser (Hg.): Protestfibel. Formen einer neuen Kultur. Bern u. a. 1968, S. 171–174, hier S. 173. 40 Rolf-Eckart John: »Notiz«. In: John Giorno (Hg.): Cunt. Darmstadt 1969, S. 65–68, hier S. 67. 41 Hubert Fichte: Die Palette. Frankfurt am Main 1978 [1968], S. 256. 42 Rolf Dieter Brinkmann: »Die Piloten«. In: Ders.: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980 [1968], S. 186. 43 Rolf Dieter Brinkmann: »Über Lyrik und Sexualität«. In: Streit-Zeit-Schrift 7 (1969), S. 65–70.

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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scher Erfahrungen und die Zerstörung der herrschenden Sprachordnung durch Cut-up-Methoden, Gattungsmischungen und »flickernde« bildliche Vorstellungen. Brinkmann versucht, einen Zusammenhang von »Total Assault on Culture« und »Vogue-Beauties« im Modus »flickernder«, plötzlicher Bilder zu begründen; zugleich mit den Gattungstrennungen möchte er die Geschlechterordnung aufheben.44 Der deutschen ›Pop-Literatur‹ der späten 60er Jahre fehlen darum durchweg (fast immer beabsichtigt) populäre erzählerische Muster. Man findet sie manchmal in den Erzählungen über die Underground- oder Musikszene jener Tage,45 nicht aber in ihren eigenen Büchern, deren Beschreibungen und Handlungsabläufe der aktuellen Bohemeszene gleich leerlaufend depressiv geraten wie in Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr und in Wolfgang Bauers Theaterstück Magic Afternoon oder in Einzelteile zerfallen wie Tiny Strickers Trip Generation.46 Trotzdem werden sie alle zur Pop-Literatur geschlagen, besonders von der feuilletonistischen Kritik und kurz danach von den ersten literaturwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen.47 Aufsehen im Feuilleton und gute Absatzzahlen innerhalb der gegenkulturell orientierten Käuferschicht erzeugt man vor allem durch die Sammlung amerikanischer Underground-Literatur, die sich der ›dirty speech‹ und der Zurschaustellung perverser Sexualität widmet. Die links-aufklärerische Kritik an dem von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Sammelband Acid, in ihm werde das kritische Denken verabschiedet und an seine Stelle trete eine Ansammlung von »Sensationen und Effekten«,48 dürfte Brinkmann wohl als Bestätigung seiner Absicht auffassen, so weit wie möglich von der Hochkultur abzurücken. Die Kritik ist aber insofern irreführend, als sie mit den Sensationen und Effekten eine viel zu große Pop-Nähe der Literatur Brinkmanns suggeriert. Dagegen spricht bereits Brinkmanns terminologische Zurückhaltung: Den Pop44 Rolf Dieter Brinkmann: »Der Film in Worten«. In: Ders., Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek bei Hamburg 1983 [1969], S. 381–399, hier S. 388, 381, 395ff. 45 Siehe Klingt Knörndel: »Good Times«. In: Vagelis Tsakiridis (Hg.): Supergarde. Prosa der Beat- und Pop-Generation. Düsseldorf 1969, S. 125–141. Fred Viebahn: Die schwarzen Tauben oder Gitarren schiessen nicht. Hamburg 1969. 46 Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr. Köln/Berlin 1968. Wolfgang Bauer : Magic Afternoon. Köln 1969. Tiny Stricker : Trip Generation. Gersthofen 1970. 47 Siehe Paul Konrad Kurz: Über moderne Literatur. Bd. III. Frankfurt am Main 1971, S. 247ff. Jost Hermand: Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt am Main 1971. Katharina Werner : »Pop Art und die deutschen Folgen«. In: Die Horen 2 (1974), S. 45–51. R. Hinton Thomas, Keith Bullivant: Westdeutsche Literatur der sechziger Jahre. München 1975 [1974], S. 188ff. Klaus Briegleb: »Literatur in der Revolte – Revolte in der Literatur«. In: Ders., Sigrid Wiegel (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München/Wien 1992, S. 21–72, hier S. 55. 48 Siegfried Schober : »Der Untergrund wird verramscht«. In: Die Zeit vom 5. Dezember 1969.

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Begriff verwendet er in seinen poetologischen Essays nicht. Eine Literatur im Sinne der Pop-Art ist Brinkmanns Sache auch nicht. Allgemeinere Popularität strebt er aber ebenfalls nicht an bzw. nur zu seinen Bedingungen, die auf einen radikalen Bruch mit den herrschenden kulturellen Mustern hinauslaufen. Gegen die deutsche Tradition der Hochkultur und Kulturkritik setzt er folgerichtig gerne auf die Bilder der Popkultur – um im nächsten Moment jedoch die Kulturkritik im Sinne des Untergrunds auf eine einsame Spitze zu treiben und in der Bilderwelt der Illustrierten und Zeitungen einen zwanghaften Albtraum zu erblicken. Deshalb eignet sich Brinkmann sehr gut als Beispiel für die allgemeine intellektuelle deutsche Adaption des anglo-amerikanischen Pop-Begriffs in den 60er Jahren: Die Pop-Konzepte werden gerne übernommen, allerdings nur, um mit ihnen die traditionellen kulturellen Ordnungsvorstellungen zu verabschieden. Sobald aber deutlich wird, dass mit der Auflösung konservativer oder modern-bildungsbürgerlicher Prinzipien keineswegs ein Ende der arbeitsteilig organisierten Kultur und Gesellschaft einhergeht, steht selbst der Pop-Underground schnell in Frage. Darum kann man die Frage, ob auch die dritte Dimension des US-amerikanischen Pop-Diskurses der 1960er Jahre – die in positiver Absicht vorgenommene Identifizierung von Pop mit dem liberalen Kapitalismus – in Westdeutschland berücksichtigt wird, leicht beantworten und muss ihr kein eigenes Unterkapitel einräumen. Die Antwort lautet ›nein‹. Ein Bekenntnis zu Pop als Ausdruck eines permissiven Materialismus und gemäßigten Hedonismus, wie man es unter einigen amerikanischen und englischen Publizisten vor allem Mitte der 60er Jahre findet, bleibt unter deutschen Journalisten und Intellektuellen eine höchst seltene Ausnahme. Diese Dimension nutzt man nur in negativer, abgrenzender Hinsicht. Immer, wenn man meint, innerhalb der Pop-Literatur eine zu stark ›affirmative‹ Tendenz zu erkennen, wird Kritik im Namen des Antikapitalismus und der Absage an eine unterstellte ›repressive Toleranz‹ und ›falsche Entsublimierung‹ laut. Der dritte US-amerikanische Punkt dient in Deutschland strikt als Negativ-Indikator, deshalb passt er gut ans Ende von Betrachtungen zu Gegenkultur- und Underground-Konzeptionen.

3.

Wiederaufnahme der Pop-Literatur

In den 1970er Jahren verschwindet die Pop-Literatur wieder von der publizistischen Bühne. Nicht weil es überhaupt keine Veröffentlichungen mehr gegeben hätte, die man mit dem Ende der 1960er Jahre eingeführten Begriff hätte belegen können. Es ist vielmehr das Label, das keine Attraktivität mehr aufweist. Für die

›Pop‹-Diskurs: ›Popliteratur‹

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Alternativszene besitzt Pop im Allgemeinen, besonders aber Pop-Literatur keinen guten Klang, denn diese Szene ist dem Rock, der Erfahrung, der Verständigung, dem Expressiven, der Folklore zugeneigt, nicht der Oberflächlichkeit und dem Künstlichkeitszitat. Das ändert sich nachhaltig mit jener Pop-Fraktion, die aus den Punk- und New-Wave-Szenen heraus entsteht und in erster Linie im Musikjournalismus, dann rasch in Lifestyle-Zeitschriften Publikationsmöglichkeiten findet. Ihre Haltung zeichnet sich Anfang der 1980er Jahre durch eine harte Gegnerschaft zur Kultur der Alternativbewegung aus. Mit den Dimensionen Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit, Materialismus, Eingängigkeit, Begrenztheit geht es unter dem Titel ›Pop‹ Anfang der 1980er Jahre offensiv gegen den Tiefsinn, die Innerlichkeit, die Konsumfeindlichkeit und die Formlosigkeit der links-alternativen Kunst und Kultur. An viele Topoi der 1960er Jahre aus den Pop-Art- und Underground-Debatten wird bewusst oder unbewusst wieder angeknüpft; teils werden die Formeln in neue Fassung gebracht durch Anleihen bei Barthes, Foucault, Baudrillard, teils stärker vom Kunst- und Politikbereich gelöst und affirmativ auf Mode- und Unterhaltungssektoren bezogen. Schriftsteller wie Rainald Goetz und Peter Glaser, die dieser Szene verbunden sind, melden sich mit etwas Verspätung auch mit Manifest-artigen Texten zu Wort; Erzählungen und Romane von ihnen erscheinen ebenfalls, dennoch kommt es in den 1980er Jahren nicht zu einer Renaissance der Bezeichnung ›Pop-Literatur‹. Dies lag u. a., so darf vermutet werden, an der Kluft zwischen dem literarischen Feuilleton und besagten Popmusik/Lifestyle-Journalisten und -Szenen. Erst ein Jahrzehnt später, Mitte der 1990er Jahre, war der Literatur- und Zeitungsbetrieb in hinreichendem Maße der linksalternativen, linksliberalen und bildungsbürgerlichen Überzeugungen müde geworden oder hatte sie im Zuge des neoliberalen Umschwungs so weit in Frage gestellt, dass in seinen Organen genügend Leute saßen, um sich von dem Label und den darunter subsumierten Büchern Elan, Zeitgemäßheit und Aufmerksamkeit zu versprechen. Wenn man sich nun anschaut, wie die Rede über die Pop-Literatur seit Mitte der 1990er Jahre beschaffen ist, findet man die seit den 1960er Jahren vertrauten Charakteristika wieder vor, teilweise jedoch unter veränderten Titeln und mit anderen Wertsetzungen. Es gibt zwar auch erneut einige Pop-Literatur-Bestimmungen, die sich einfach auf Jugendbücher, die Rockmusik-Themen beinhalten, erstrecken, diese spielen aber auf etwas längere Sicht bei den verlegerischen, feuilletonistischen und wissenschaftlichen Rubrizierungen keine große Rolle. Die Ablösung von der Volks- und Massenkultur prägt nach wie vor den Popdiskurs, ebenso die Betonung des popkulturell Gegenwärtigen, des Oberflächlichen und Künstlichen. Der Underground-Aspekt wird diesmal vorzugsweise unter dem Titel der ›Subversion‹ abgehandelt, die Dimension der »hip

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world of blurred genders« wird der Pop-Literatur unter Bezug auf queere Praktiken und Theorien, wie etwa bei Thomas Meinecke anzutreffen, zugesprochen. Die Pop-Art-Dimension kommt nun verstärkt mit Verweis auf die Nennung von Markennamen und unter Bezeichnungen wie ›Remix‹ und ›Zitat‹ zur Geltung. Der affirmative, liberalkapitalistischer Kommerzialisierung nicht abgeneigte Gestus der Pop-Literatur wird vor allem Mitte und Ende der 1990er Jahre deutlich (oft immer noch kritisch) herausgestellt – diesmal auch vermehrt mit Blick auf gängige narrative Muster, die nicht der Addition und Fragmentarisierung unterliegen. Aufgrund der Selbstdarstellung einiger Autoren (wie etwa Christian Kracht und Stuckrad-Barre), die gerade nicht auf ein authentisches Selbst verweist, sondern ironisch, spielerisch geprägt ist, gerät diese Einordnung jedoch immer wieder ins Zwielicht jener Künstlichkeit und Oberflächlichkeit, die der Pop-Diskurs regelmäßig an seinen Gegenständen hervorhebt. Wird er fortgeführt, so steht zu vermuten, wird es auch in Deutschland weiter eine Pop-Literatur geben. In einer Hinsicht hat sich allerdings die Pop-Literatur der Gefahr, in der Gegenwart und in Zukunft zu verschwinden, enthoben. Zumindest als Begriff wird sie überdauern. Mit ihrer Durchsetzung als wissenschaftliche Bezeichnung – in Büchern wie diesem – ist gewährleistet, dass sie noch mindestens einige Jahrzehnte durch Dozenten und ihre Studenten in Seminargesprächen, Thesenpapieren, Staatsarbeiten, Aufsätzen, Handbuchartikeln und Qualifikationsschriften fortlebt.

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Halbehalbe, verdoppelt. Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968) »Weitermischen bis die Entmischer nicht mehr nachkommen …«1

Wann immer es darum geht, das Label ›Pop-Literatur‹ mit historischer Tiefe zu versehen, werden mit geradezu beängstigender Konstanz zwei Vorläufer benannt: Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte.2 Dass das so ist, sagt zunächst weniger über Brinkmann und Fichte aus als über diejenigen, die sich auf sie berufen: Auch einer sich emphatisch auf das Gegenwärtige berufenden literarischen Strömung wie der Pop-Literatur der späten 1990er und frühen 2000er Jahre steht es habituell gut an, sich »auf Ahnensuche«3 zu begeben und auf diese Weise zu belegen, dass das eigene Schreiben sich zwar vom Mainstream des literarischen Feldes absetzt, dies aber von einer literaturhistorisch informierten Position aus unternimmt.4 Wer Autoritäten herausfordern will, tut gut daran, andere (im Idealfall: vergessene, verkannte, obskure oder in anderer Weise 1 Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt am Main/Basel 2002, S. 60. 2 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003, S. 13. Gerd Schäfer : »Berliner Bildgebungsverfahren oder Charles Olson als poetisches Colloquium. Hubert Fichte im Planquadrat des Schweigens«. In: Peter Braun, Manfred Weinberg (Hg.): Ethno/Graphie. Reiseformen des Wissens. Tübingen 2002, S. 101–110. Bereits 2003 konstatieren Andreas Erb und Bernd Künzig, dass »der Rückbezug auf Hubert Fichte und seine ›Palette‹ als frühes Beispiel deutschsprachiger Pop-Literatur in den letzten Jahren üblich geworden ist«. Andreas Erb, Bernd Künzig: »›Ein Hymnus des Materials‹. Pop und Pop-Art der Armen in Hubert Fichtes Roman ›Die Palette‹«. In: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur (Text+Kritik Sonderband X/03). München 2003, S. 116– 132, hier S. 116. 3 Wilhelm Worringer : Künstlerische Zeitfragen. München 1921, S. 10. Was Worringer in seinem Vortrag für den Expressionismus beschreibt, nämlich den allmählichen Übergang von einer radikal gegenwärtigen Avantgarde zum kunsthistorisch verankerten Label, ist in vergleichbarer Weise derzeit bei der Pop-Literatur der 1990er und 2000er Jahre zu beobachten. 4 Wie bei Rainald Goetz deutlich wird, ist diese Herstellung von Traditionsbezügen nicht nur im Hinblick auf symbolisches, sondern auch auf reales Kapital vielversprechend: »Jetzt muß ich mich eben mit Dekonspiratione bewerben, denke ich den ganzen Tag, beim Literaturfonds, zum nächstmöglichen Termin. […] Dann kam die Nachfrage, worum gehts hier eingentlich [sic]? […] Erkläre Referenzen, Fichte, Brinkmann.« Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt am Main 1999, S. 654.

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symbolisches Kapital verkörpernde) Autoritäten zu benennen.5 Für die Literaturwissenschaft gilt dieser Historisierungszwang aus anderen Gründen erst recht: Gerade in der Auseinandersetzung mit einer literarischen Strömung, die sich einer radikalen Beschwörung von Gegenwärtigkeit verschrieben hat und dabei nicht nur germanistische, sondern auch literaturkritische Aufmerksamkeit in großem Umfang auf sich zieht, muss die Fachwissenschaft die Berechtigung ihres Zugangs dadurch beweisen, dass sie mehr und genauer liest als andere und auf diese Weise auch Vorläuferautoren und -werke entdeckt, die einer oberflächlichen, feuilletonistischen Lektüre entgehen. Hubert Fichte wäre also einer der insgesamt nicht zahlreichen Autoren (Autorinnen scheinen hier keine große Rolle zu spielen), die in einer Literaturgeschichte der Pop-Literatur nicht fehlen dürfen. Diese Art der historischen Reihenbildung wird dadurch erleichtert, dass Fichte schon mit der ersten Inkarnation des Begriffes ›Pop‹ in der Nachfolge der Beat Generation in einem gewissen Zusammenhang steht – anders als bei Brinkmann, der ganz direkt als Vermittler US-amerikanischer Kultur auftritt, ist diese Verbindung allerdings vergleichsweise vage. So ordnet Jost Hermand den Autor zwar bereits 1971 in das Phänomen »Pop International« (und das Subphänomen »Porno-Pop«6) ein. Er kann sich zu diesem Zweck aber nicht auf programmatische Statements Fichtes7 oder Eigenschaften seiner Texte berufen, sondern zieht in erster Linie die Warenform, die diesen Texten durch den Verlag gegeben wird, heran: »Obendrein ist das Ganze in einen goldlamierten Umschlag verpackt, der es in ein wahrhaft schnuckeliges Konsumprodukt verwandelt, das man im Drugstore getrost neben die Kosmetika legen könnte.«8 Dass Hermand Fichte nicht unbedingt lesen muss, um ihn der Pop-Literatur zuzuordnen, lässt sich – mit gewissen Einschränkungen – auch auf die heutige Auseinandersetzung mit »Fichte und Pop« übertragen: Eckhard Schumacher hat seinen Fichte zwar gelesen, interessiert sich aber mehr für die Frage, »was Autorinnen und Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Kathrin Röggla heute an Fichte interessiert«9 – die Zu5 Zwischen den landläufig unter dem Label ›Pop-Literatur‹ geführten Autorinnen und Autoren wären in Bezug auf die gewählten Methoden der Selbsthistorisierung natürlich erhebliche Unterschiede auszumachen. Festzuhalten bleibt aber, dass eine Vielzahl dieser Pop-Literaten sich auf Brinkmann und Fichte beruft. Was den letzteren, den Gegenstand dieses Aufsatzes, angeht vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt (wie Anm. 2), S. 160f. 6 Jost Hermand: Pop International. Eine kritische Analyse. Frankfurt am Main 1971, S. 37. Vgl. auch die Rezeptionszeugnisse in Thomas Beckermanns Materialsammlung, die zeigen, dass insbesondere der Roman Die Palette sofort nach seinem Erscheinen als ›Pop‹ klassifiziert worden ist. Thomas Beckermann (Hg.): Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt am Main 1985. 7 Zu diesen in Bezug auf die amerikanische Pop-Tradition eher zurückhaltenden Statements vgl. Erb, Künzig: Ein Hymnus des Materials (wie Anm. 2), S. 124f. 8 Hermand: Pop International (wie Anm. 6), S. 37. 9 Schumacher : Gerade Eben Jetzt (wie Anm. 2), S. 161.

Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968)

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schreibung erfolgt also durch die Übernahme der traditionsbildenden Setzungen anderer. Umgekehrt ist der spezialisierten Fichte-Philologie der Pop-Kontext, in dem ihr Autor steht, natürlich bewusst; ihr geht es aber um sehr spezifische Schreibverfahren, zu deren Erkenntnis der Pop-Begriff nur ein Hilfsmittel sein kann, wobei die notorische Un- bzw. Unterbestimmtheit des Begriffs grundsätzliche Zweifel an seiner Brauchbarkeit für die Analyse Fichtescher Texte weckt.10 Die folgenden Überlegungen versuchen, beide Verfahren zu kombinieren (auch wenn diesem Anliegen schon durch den Umfang des Artikels gewisse Grenzen gesetzt sind): Die Anschlussfähigkeit von Fichtes Werk für Gruppenund Reihenbildungen ex post soll anhand ebendieses Werks plausibilisiert werden. Daraus ergeben sich zwei Schwerpunkte, ein methodischer und ein stofflicher : Der Fokus zwischen interner und externer Analyse, zwischen dem literarischen Text als solchem und den literarischen, literaturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten, in denen dieser Text kursiert, legt die behutsame Anknüpfung an feldtheoretische Arbeiten der letzten Jahre nahe;11 insbesondere das bourdieusche Konzept des Habitus sollte sich auch für Fichte als gewinnbringend erweisen. Was die Textauswahl angeht, so empfiehlt sich aus den gleichen Gründen eine Konzentration auf dasjenige von Fichtes Büchern, das im größten Maße habitusrelevant und traditionsstiftend ist: den Roman Die Palette von 1968.12 Die Frage ist also, wo sich dieser Roman im literarischen Feld seiner Zeit positioniert und wie er das tut; zusätzlich soll mithilfe von zeitgenössischen Rezensionen nachvollzogen werden, inwieweit die Setzungen des Romans von der Umgebung im Feld akzeptiert werden.

10 Vgl. dazu Dirck Linck: »Kontext Pop. Zur Produktivität der Beliebigkeit. Anmerkungen zu Hubert Fichte«. In: Jan-Frederik Bandel, Robert Gillett: Hubert Fichte. Texte und Kontexte. Hamburg 2007, S. 89–112. Sowie Erb, Künzig: Ein Hymnus des Materials (wie Anm. 2). 11 Vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005. Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literaturund Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009. 12 Auch diese Eingrenzung geht naheliegenderweise auf Umfangsbeschränkungen zurück, hat aber auch einen produktiven Charakter : Ganz bewusst soll der Versuch unternommen werden, einen Roman Fichtes für sich stehen zu lassen, ohne den überdeutlichen Verweisen auf andere Texte und auf das Gesamtwerk zu folgen. So ungemein naheliegend es ist, die von Fichte immer wieder herausgestellte Werkarchitektur ernst zu nehmen und vielleicht nicht nur die Geschichte der Empfindlichkeit, sondern sogar das Gesamtwerk als einen gigantischen ›Roman Fleuve‹ zu behandeln, so notwendig ist auch die Gegenposition: Das Herausarbeiten von Binnenstrukturen im Einzelwerk, die dann in einem zweiten, hier nicht zu leistenden Schritt mit den Binnenstrukturen anderer Fichtescher Texte verglichen werden könnten.

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1.

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Ausweitung der Literaturzone

Eine der wenigen Aussagen, die sich über Pop-Literatur im Allgemeinen treffen lässt, ist schon in der Bezeichnung selbst enthalten: Sie handelt von populären Dingen, die vorher nicht Teile der Hochkultur waren; sie erweitert das Gebiet dessen, was in Literatur thematisiert werden kann, und fordert durch ihr kulturelles »Allesfressertum«13 diejenigen heraus, die eine solche Aufweichung der Grenze zwischen ›high‹ und ›low‹ nicht mittragen wollen.14 Was im konkreten Fall neu in das Gebiet der Literatur inkorporiert wird, kann recht unterschiedlich sein: Wenn »Herrenhemden, Staubsauger, Waschbecken, Damenblusen, Zahnpastatuben«15 Gegenstand von Kunst werden, kann man das als räumlichen Vorgang begreifen (die Kunstgalerie erobert den Supermarkt oder umgekehrt); in anderen Fällen scheint es eher um Darstellungsweisen zu gehen, die sich auf der Ebene der Zeit abspielen, etwa wenn »Verfahren der Serialisierung des Jetzt, unabgeschlossene und unabschließbare syntagmatische Reihen, in der jedes Jetzt seine Ablösung durch ein weiteres Jetzt immer schon impliziert« als Spezifikum der Pop-Literatur ausgemacht werden.16 Bei Fichte spielen beide Ebenen eine Rolle, dominant ist aber das räumliche Verfahren: Von Anfang an behandelt der Roman Die Palette die in ihm beschriebene, gleichnamige Kneipe17 als topografisches Phänomen, das an andere topografische Punkte angeschlossen ist. Die Palette ist neunundachtzig bis hundert Schritte vom Gänsemarkt entfernt. […] Fünf Minuten zu Fuß von der Palette entfernt – das hängt von der Schrittlänge ab und

13 Vgl. Richard A. Peterson, Roger M. Kern: »Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore«. In: American Sociological Review 61 (1996), S. 900–907. Die Anschaulichkeit des Begriffs ›Omnivore‹ für die Kunstsoziologie liegt auf der Hand. Dennoch ist dieser m. E. nicht unproblematisch, weil er zwar die Aufhebung früher gültiger Geschmacksgrenzen sehr deutlich macht, die neuen, tendenziell unübersichtlicheren Grenzen, die stattdessen entstehen, aber im Dunkeln lässt: Natürlich frisst auch ein Kulturomnivore nicht alles, und die »feinen Unterschiede« (Bourdieu), die seinen Entscheidungen zugrundeliegen und die die kulturellen Felder der Gegenwart strukturieren, müssten anhand feinerer Analysekriterien herausgearbeitet werden. 14 Vgl. die literaturhistorisch informierte Übersicht von Thomas Hecken: »Bestimmungsgrößen von high und low«. In: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin/ Boston 2012, S. 11–25. 15 Hermand: Pop International (wie Anm. 6), S. 12. 16 Schumacher : Gerade Eben Jetzt (wie Anm. 2), S. 37. 17 Zur leichteren Unterscheidung wird im Folgenden die Palette kursiv gesetzt, wenn es sich um Fichtes Roman handelt, während der Schauplatz ›Palette‹ (in diesem Roman oder in der Realität) in Anführungszeichen erscheint. Zur (kultur-)historischen Rekonstruktion dieses Schauplatzes vgl. Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman. Hamburg 2005.

Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968)

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von dem Verkehr an den Übergängen: Axel Springer, der Botanische Garten, Brokstedts Galerie.18

Das Netz von »Beziehungen zur Palette« (S. 5) beschränkt sich aber nicht auf diese konventionellen Bezugspunkte: »In einer Stunde ist man mit der DeuxChevaux an der Ostsee, am Falkensteiner Ufer mit der S-Bahn, im Sachsenwald mit der Vorortbahn, mit der Straßenbahn und dann ein langes Stück zu Fuß – im Niendorfer Gehölz.« (S. 5). Da diese Verbindungen natürlich in beide Richtungen funktionieren, ist auch die »Palette« von überallher erreichbar – wie kann es sein, dass der Roman trotzdem »in bisher unbekannte oder unerforschte Bereiche« vorstößt,19 wie es ein zeitgenössischer Rezensent beeindruckt formuliert? Als offenbar meist gutgefüllte Kneipe kann die »Palette« nicht allgemein unbekannt und unerforscht sein – sie ist dies nur für ein Highbrow-Publikum, das solche Orte nicht besucht und ihnen normalerweise auch in der Literatur nicht begegnet. Da einem solchen Publikum die »Palette« in den Worten eines anderen Rezensenten »als eine Ausgeburt der Hölle vorkommen« muss,20 braucht es einen (ortsfremden) Dante und/oder einen (ortskundigen) Vergil, um aus ihr Literatur zu machen. Aspekte von beiden finden sich in Fichtes Protagonisten Jäcki, und der Roman versäumt es nicht, die raumsemantische Schwelle, die von diesem überschritten wird, herauszustellen: Zwischen dem Außenraum des Gänsemarkts und dem Innenraum der »Palette« liegen nicht nur 89–100 Schritte, sondern auch eine Treppe nach unten (der Satz »Jäcki geht vier Stufen herunter« wird im Roman sozusagen leitmotivisch verwendet) und eine Tür – beiden wird im Roman jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Wenngleich die derart überdeutlich markierte Grenze noch vergleichsweise einfach zu überschreiten ist – ein anderer Raum des Romans ist ein Bunker, dessen Eingang von seinem Bewohner mithilfe eines abgesägten Luftgewehrs gesichert wird21 –, ist auch das Authentische der »Palette« ohne Schwellenangst nicht zu haben: Bei 18 Hubert Fichte: Die Palette. Roman. Reinbek 1970 [1968], S. 5. Im Folgenden mit Seitenzahlen in Klammern im Fließtext zitiert. Die Schreibung »Brokstedt« weicht von der realweltlichen Schreibweise der Galerie (Brockstedt) ab. 19 Marcel Reich-Ranicki: »Gammler, Gauner, Ganoven«. In: Die Zeit vom 29. März 1968. Zitiert nach: Beckermann (wie Anm. 6), S. 41–55, hier S. 55. Synonym dazu Walter Jens: »Ein bisher dunkler, allein wissenschaftlichen Erhebungen zugänglicher Bezirk wurde erhellt.« Walter Jens: »Das ist nicht nur ein Roman«. In: Die Zeit vom 5. April 1968. Zitiert nach: Beckermann: Hubert Fichte (wie Anm. 6), S. 56–60, hier S. 59. 20 Hellmuth Karasek: »Gammler – zu Prosa kleingehackt«. In: Stuttgarter Zeitung vom 9. März 1968. Zitiert nach Beckermann: Hubert Fichte (wie Anm. 6), S. 34–38, hier S. 34. 21 An Stellen wie der Beschreibung des »Bunkerer Wolfgang« und seines Wohnorts wird die Gewaltsamkeit deutlich, die Schwellenüberschreitungen ebenfalls innewohnen kann: »Neben der braungerosteten Tür mit den zwei Hebeln, einer in Fußhöhe, einer in Kopfhöhe, ist ein Loch in den Beton gesprengt worden, doch mit Ziegeln bis auf eine kleine Scharte wieder zugemauert. Von drinnen ein Schuhkarton reingeklemmt.« (S. 38).

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seinem ersten Besuch dort, wo »die echtesten sind« (S. 9), wird Jäcki nicht beachtet und verlässt den Ort nach fünf Minuten wieder, beim zweiten Mal geht ein Regen von Erbrochenem auf ihn nieder : »[Z]wei Liter Bier platschen gegen die Wand, zischen über die Finger, bis zur Tür, an die Music-Box« (S. 13) – eine symbolische Taufe, die von Jäcki gelassen ertragen wird und die der Leserin und dem Leser Zutritt in eine mehrfach als »low« codierte Unterwelt ermöglicht. »Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen«, wie es im Treppen-Kapitel (S. 7) heißt.

2.

Wir da oben – Ihr da unten?

Die grundsätzliche raumsemantische Einteilung der Palette scheint also relativ eindeutig: Ein furchtloser Protagonist öffnet die Tür zu einer bis dato unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Literatursystems liegenden Welt. Die Bewohner dieser Welt unternehmen zwar gelegentlich Ausflüge in bürgerlichere Sphären (»[v]om Bahnhof Neugraben durch Heidesand zur Villa« [S. 46] oder an die Ostsee nach Dahme), bleiben aber auch dort ostentativ unter sich. Die Raumsemantik von ›high‹ und ›low‹ wird dabei gelegentlich umgekehrt (die Palettler »[p]issen von oben herunter auf die ersten kartenspielenden Rentner«; S. 57), aber nie aufgehoben.22 Erst in dem Moment, wo Jäcki die »Palette« betritt, erhält der Leser, der, wie es mit großer Selbstverständlichkeit in einer weiteren zeitgenössischen Rezension heißt, »schließlich nicht in der ›Palette‹ eingesessen hat«23, Einblick in diese ansonsten fremde, nach eigenen Regeln strukturierte Welt; eine Welt, in der Jäcki »durch sie [die Palettengäste; J.B.] hindurch […] Koordinaten zieht« (S. 9) und, immer im Dienste der sachunkundigen Leserschaft, ein »Lexikon« (S. 32) der Palettensprache erstellt. »Die kulturellen Milieus werden hier klar von einander abgesetzt«24, und das eine erforscht das andere im Dienste der Literatur. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das Raummodell des Romans sich nicht in dieser klaren Grenzziehung erschöpft.

22 Die für den Roman wichtige Drogenmetaphorik (»Er aber ausgespannt zwischen High und Down, ohne Schmerz und Schnee ruht lidoffen«, S. 125) überkreuzt sich mit dem Vokabular der Raumsemantik, bleibt aber hier ausgeklammert. 23 Reinhard Baumgart: »Eine wüste Idylle«. In: Der Spiegel vom 26. Februar 1968. Zitiert nach: Beckermann: Hubert Fichte (wie Anm. 6), S. 31–34, hier S. 32. 24 Erb, Künzig: Ein Hymnus des Materials (wie Anm. 2), S. 129.

Raumordnung und Habitusbildung in Hubert Fichtes Die Palette (1968)

3.

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Die feinen Unterschiede

Die Raumordnung in der Palette mit ihrem scheinbar klaren Oben-UntenSchema strukturiert die Aufmerksamkeit für das Buch in sehr wirksamer Weise vor: Die literarische Öffentlichkeit bestätigt in ihren Reaktionen auf den Roman die scharfe Grenzziehung zwischen sich selbst und der bisher nicht vom Licht literarischer Reflexion beschienenen »Enklave«25 nichtbürgerlichen Denkens und Handelns; in einem zweiten Schritt wird dann dem Autor bescheinigt, dieselbe Grenze durch den Roman und insbesondere auch durch die Lesung aus dem unfertigen Roman im Rahmen einer »Beat und Prosa«-Veranstaltung im »Star-Club« überwunden zu haben.26 Das ist habituell von Vorteil für Fichte, und entsprechend werden die Lesung und die mit ihrer Hilfe erreichte Auflösung von Schwellen in der Palette selbst thematisiert: »Einen Gammler wollen sie der langen Haare wegen nicht reinlassen. Weil ich der Dichter bin und an der Kasse bescheid sage, lassen sie ihn doch rein.« (S. 237). Diese Win-Win-Situation (symbolisches Kapital als Grenzgänger für den Autor, Erweiterung der Literaturzone für seine Rezipienten) verstellt jedoch möglicherweise den Blick auf die im Roman ebenfalls angelegten Differenzierungen. Zwischen ›Palette‹ und ›Nicht-Palette‹ gibt es räumliche und semantische Grauzonen: »An der Ecke wohnt der siebzigjährige Rentner, bei dem die minderjährigen Mädchen schlafen, wenn sie von zuhause weggelaufen sind« (S. 95), in einer Travestiebar treffen die Protagonisten auf »Herren, die auch mal wissen wollen, was ein homosexuelles Lokal ist« (S. 94), und auch sonst wird die Grenze zwischen Oben und Unten immer wieder auf recht unglamouröse Weise überschritten: Zwei Damen und zwei Herren gehen durch den ersten Raum der Palette. Sie sehen sich im ersten Raum um. Einer der Herren geht auf die Toilette. Der Rest geht durch den zweiten Raum und späht in den dritten. Igor: – Wieder eine Familie, die ihren Heinzi sucht. (S. 136)

Und selbst wenn man ganz unter sich ist, folgt die Konversation nicht immer dem oben erwähnten subkulturellen Lexikon der Palettensprache (»Wörter für Polizist: Senatscowboy, Blauer, Bulle, Polyp«; »Die Klöten, die Klunkers bedeuten die Eier, die Eier bedeuten die Hoden, das Geld bedeuten die Eier«; S. 34), sondern lässt auch andere, mit der Welt außerhalb der Enklave kompatible Gesprächsthemen zu: »Jürgen trinkt ein Bier und dann noch ein Bier und ein Bier. Dies nach jedem Schluck wieder absetzen und über Gustaf Gründgens und Don Carlos reden.« (S. 40). In solchen Passagen präsentiert sich die »Palette« weniger als Unterwelt, weniger als Gegenbild einer ver25 Dieter E. Zimmer : »Fichte und Beat. Dichterlesung ohne Verlegenheit«. In: Beckermann (wie Anm. 6), S. 29–31, hier S. 29. 26 Zimmer : Fichte und Beat (wie Anm. 25), S. 29.

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trauten Ordnung, denn als Mischform verschiedenster Diskurse, und gerade in diesem Aufgreifen und Anverwandeln von Bekanntem verwirklicht sich ihre Subversivität. Bei Jäckis Freund Hans, der – ebenfalls in durchaus subversiver Absicht – auf der Suche nach einem authentischen Außerhalb ist und dieses in der Vergangenheit sucht, fällt die »Palette« deshalb gerade wegen ihrer hybriden Form durch: »Die Leute haben keinen Respekt mehr. Sie reißen ein, kleben über. Sie bilden sich irgendeine NeubohHme ein. Dabei kommt dann so was wie deine Palette raus.« (S. 21). Jäcki hingegen fühlt sich in dieser Welt der Vermischungen, wo ein HermannKasack-Lesekreis (S. 29) und Schlager »über Liibäh, Liibäh« (S. 60) koexistieren, gut aufgehoben. Seine eigene Bildungs- und Geschmacksbiografie vermittelte ihm hochkulturell codierte Kenntnisse über den »Thomaskantor Günther Ramin« (S. 61) und bereitete ihn auf Aufführungen der Johannespassion »in der weißen Honoratiorenkirche« (S. 76) vor, die er auch nach seinem Eintauchen in die Subkultur besucht, aber auch gegen das populär aufbereitete »Bachwischiwaschi aus dem Palettenlautsprecher« (S. 61) hat er nichts einzuwenden. Die Hybridität der Paletten-Kultur findet in Fichte einen Schilderer mit entsprechend hybridem Vokabular : »Er läßt die Sache in ihren eigenen Wörtern zu Wort kommen«,27 aber dazu gehören eben auch genuin bildungsbürgerliche Vergleiche wie der folgende: »Da wirbelt einer rum in der Palette, sieht aus wie Camille Desmoulins, als Erich Schellow ihn spielte, Besenbinderhof.« (S. 76).

4.

Konkurrierende Raummodelle

In der Palette stößt man also auf zwei scheinbar widersprüchliche Deutungsangebote: Die Gammlerkneipe als Unter- oder Gegenwelt, die nur über eine klar definierte Schwelle zu betreten ist, und die Gammlerkneipe als offen zugänglicher Mittelpunkt einer Hybridwelt, die sich ständig auf subversive Weise mit ihrer Umgebung vermischt. Beides ist für diesen Ort nicht ungewöhnlich: Schon vor Fichtes Roman erschien 1964 eine Reportage, die dem bürgerlichen Publikum der Zeit den berüchtigten Treffpunkt der Subkultur erklären wollte – der journalistische Text wird dann im Roman thematisiert und soll sogar den Anstoß für dessen Entstehen gegeben haben.28 Anlass für die Reportage ist der als be27 Baumgart: Eine wüste Idylle (wie Anm. 23), S. 32. 28 »Es erschien ein, journalistisch nicht ganz ausschöpfender, Aufsatz in der ›Zeit‹ über die ›Palette‹. Ich las ihn und dachte: ›Ach, du solltest eigentlich einmal versuchen, das etwas konziser, etwas breiter auch, für eine Zeitung zu schreiben, was die ›Palette‹ wirklich soziologisch darstellt.‹« Rüdiger Wischenbart: »›Ich schreibe, was mir die Wahrheit zu sein scheint.‹ Ein Gespräch mit Hubert Fichte«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Hubert Fichte (Text+Kritik X/81). München 1981, S. 67–85, hier S. 71.

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drohlich wahrgenommene kleine Grenzverkehr zwischen Kultur und Subkultur, der am Anfang in etwas reißerischer Weise beschrieben wird: Die Meldungen, sehr ähnlich in ihrer Art, häuften sich in letzter Zeit: Tochter einer Essener Rechtsanwältin entpuppt sich in Amsterdam als Gangsterbraut. In Paris aufgegriffen: die Tochter eines Hamburger Arztes. […] Partyphotograph findet willige Modelle – ein Notizbuch voller Adressen.29

Entsprechend stößt der Journalist Günter Chall auch im Inneren der »Palette«, einem »typische[n] Kellerlokal […], in dem sich junge Leute treffen«,30 auf Anzeichen für eine Aufhebung der Grenze zwischen Oben und Unten, Richtig und Falsch: Ich sehe ein Mädchen in verwaschenen Jeans mit schwarzem, legerem Pulli und offenem, langen Haar, neben dem sich ein Zwanzigjähriger im feinen Anzug lümmelt. Bei einer mit fast französischem Chic angezogenen, dezent geschminkten Tochter aus offensichtlich gutem Hause steht jener Typ von Bösewichten, wie sie jeder landläufige Krimi enthält: wirres Haar, unrasiert, offenes buntes Hemd, zerknitterte Hosen, Latschen, keine Strümpfe, schmutzige Füße.31

In der »Palette« steht aber nicht nur nebeneinander, was nicht nebeneinander gehört: Die Vermischung greift auch auf das Individuum über, wenn es von einer Besucherin heißt: »Ihre kindlichen Gesichtszüge, ihr schlaksiger Körper passen nicht zu den harten Augen.«32 In einer solchen Situation ist Chall, man merkt es bereits diesen Passagen an, darum bemüht, wenigstens erzählerisch Ordnung in das Gewirr zu bringen. Aus diesem Grund werden auch bei ihm die Treppenstufen vorm Eingang zu einer Schwelle der Unterwelt stilisiert: »Der Dunst, der mir entgegenschlägt, als ich die fünf [!] Stufen herabsteige, ist infernalisch; stickiger Tabakqualm, Schweißgeruch; abgestandenes Bier, Mottenkugeln, Parfüm.«33 Der in diese alarmierende Szenerie versetzte Berichterstatter ist in der Lage, auch innerhalb des Chaos zu differenzieren und zwei Lager auszumachen: Die letztlich unschuldigen Opfer, die »zum Tablettenschlucken verführt« werden, und diejenigen, die verführen, hier die »etwa 23 Jahre« alte Hedi: »Ihre Ware sind die minderjährigen Mädchen, oft Besucherinnen der ›Palette‹; ihre Mittel: Tabletten und Alkohol; und ihre Erfolge: wilde Orgien und ein paar 29 Günter Chall: »Gammeln und jobben. Der billige Rausch der ›Kellerkinder‹: Langeweile, Trägheit und der Traum vom tollen Leben – Was geht in der ›Palette‹ vor?« In: Die Zeit vom 9. Oktober 1964, Nr. 41, S. 57–59, hier S. 57. 30 Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29). 31 Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29). 32 Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29). In einem anderen Raum der »Palette« sitzt in analoger Beschreibungsweise »[e]iner mit einem frechen, fröhlichen, fast ehrlichen Gesicht, aber skeptischem, überwachem Blick«. Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29), S. 58. 33 Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29), S. 57.

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Geldscheine mehr in der Tasche.«34 Um all dies wahrzunehmen und nicht die Übersicht zu verlieren, muss der Erzähler Distanz zur Umgebung wahren. Seine Fähigkeit als Beobachter ist eng verbunden mit der Kompetenz, die Dinge von außen zu sehen: einfühlsam, aber auch nach sieben Bier nüchtern und unbeteiligt. Das bleibt Chall bis zum Ende seines »Paletten«-Besuchs: Nach der siebenten »Grünen« werde ich von der Seite angerempelt. Ein etwas dunkelhäutiger »Typ« nippt aus meinem Glas, tritt auf meinen Fuß, zerschlägt mein Bierglas an der Thekenkante und schreit Zeter und Mordio, ich wolle »Krawall« anfangen. Ich war vorgewarnt. Also zahle ich, gebe noch schnell der Barkeeperin einen Whisky-Soda aus […] und schiebe mich […] hinaus.35

Will man einen nicht sonderlich komplexen journalistischen Artikel also auf seine Raumsemantik hin zusammenfassen, ergibt sich folgendes Bild: Eine infernalische Unterwelt bedroht die geschwächte, kränkliche36 Oberwelt dadurch, dass sie sich mit dieser vermischt und für Unklarheit sorgt. Es braucht einen Abgesandten der Oberwelt, der die Schwelle überschreiten kann, über ein festes Wertesystem verfügt (»ich war vorgewarnt«) und mit dessen Hilfe auch unkorrumpiert wieder zurück nach oben findet. Die Integrität des Sprechers ist damit ausschlaggebend für den Erkenntnisgewinn, der mithilfe des Texts erzielt werden kann. Fichtes Palette funktioniert, die bisherigen Ausführungen sollten es bereits deutlich gemacht haben, nach einem völlig anderen Konzept. Das betrifft nicht einmal so sehr die Vorstellung, anhand des Texts Erkenntnisse zu vermitteln: Diese ist auch im Roman und in Fichtes Werk im Allgemeinen präsent, wie die Fichte-Forschung mit Blick auf die Palette und vor allem mit Blick auf die späteren, »ethnografischen« Romane herausgestellt hat.37 Interessanter für den hier diskutierten Zusammenhang ist die Tendenz des Romans, der Vermischung von 34 Alle Zitate: Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29), S. 58f. 35 Chall: Gammeln und jobben (wie Anm. 29), S. 59. 36 Der Aspekt der Schwäche der Mehrheitsgesellschaft, die die Bürgerkinder in die »Palette« treibt, wird insbesondere in einem Kommentar von Thomas Regau zum selben Thema in derselben Ausgabe der Zeit hervorgehoben: »Gewiß braucht das Kind Nestwärme. Aber wir haben über solchen elementaren – und ein wenig primitiven – Formeln vergessen, daß es auch die Autorität und Ordnungen nötig hat. Und daß es nur dann geborgen ist, wenn es nicht nur beraten, sondern sicher geführt wird, wenn es sich auf die Ordnungen verlassen kann.« Thomas Regau: »Skandal als Sprungbrett. Vom Leitbild verführt: Böse Buben, flotte Mädchen«. In: Die Zeit vom 9. Oktober 1964, Nr. 41, S. 59. 37 Vgl. z. B. Hans Jürgen Heinrichs: »Dichtung und Ethnologie. Zu Hubert Fichte«. In: Arnold: Hubert Fichte (wie Anm. 28), S. 48–61; Wischenbart: Ich schreibe, was … (wie Anm. 28); Ernest Schonfield: »Das schwarze Pantheon. Hubert Fichte als Vaudouforscher«. In: Bandel, Gillett: Hubert Fichte (wie Anm. 10), S. 113–130; Hartmut Böhme: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart 1992, S. 29ff.; Jan-Frederik Bandel: »Doppelte Fremdheit. Hubert Fichtes ethnografische Impulse«. In: Ders.: Fantasie und Aufklärung. Historische Miniaturen. Hamburg 2011, S. 107–120.

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›high‹ und ›low‹ affirmativ zu begegnen, und zwar auf allen Ebenen: Die Anwesenheit von bürgerlichen »Heinzis« in der Palette wird ebenso akzeptiert wie das Nebeneinander von Günther-Ramin-Bach und Jacques-Loussier-Bach. Das hat Auswirkungen auf die Positionierung der Erzählerfigur : Wo im Zeit-Artikel jemand gefragt ist, der mittendrin ist, aber stets außen vor bleibt, setzt der Roman auf teilweise Assimilation. Bei der Diskussion des Zeitungsartikels im Roman wird dem Zeit-Berichterstatter ein journalistisches Gegenbild gegenübergestellt, das Oben und Unten in angemessenerer Weise verbindet: Da ist auch Werner Hildebrand vom Seidnettzueinander. Der zur einen Hälfte im Überich des Abendblatts Kunst beschreibt und zur anderen Hälfte im Unbewußten des Abendblatts Zeitungen packt […]. Die ZEITwird ausgebreitet mit dem Artikel über die Palette. – Das ist alles falsch. – Der Macker war hier zweimal drin und hat sich von Igor ordentlich was erzählen lassen. – Ich hätte das man schreiben sollen, sagt Werner Hildebrand. Aber sie haben mich ja immer noch nicht als festen Redakteur eingestellt. Ich muss immer noch unten meine eigenen Artikel mitverpacken. (S. 150)

Der Gegenstand »Palette« erfordert demnach keinen »Macker« als Berichterstatter, sondern jemanden, der sowohl »Überich« als auch »unten« ist. Für den gesamten Roman ist das nicht Werner Hildebrand, sondern Jäcki, der sich der Hybridität des Gegenstands nicht mit Distanz nähert: »Jäcki ist abhängig von der Palette« (S. 88) und irgendwann hört die Schwelle zur Unterwelt auf, eine Schwelle zu sein: »Jäcki zählt die Stufen nicht mehr beim Heruntersteigen. Jäcki bemerkt nicht, daß er die Stufen nicht mehr zählt.« (S. 62). Der Beobachter macht sich also mit seinem Gegenstand gemein (und hebt sich dadurch sowohl vom Regelsystem des Journalismus als auch von dem der Wissenschaft ab); er betreibt aber auch keine vollständige Angleichung an diesen: Fichtes Jäcki erschrickt, wenn er von den anderen Palettenkunden als »dazugehörig« betrachtet wird (S. 114ff.), und er ist trotz täglicher Besuche in der Unterwelt auch Teil der Mehrheitsgesellschaft. Wenn er von einem eingesperrten Palettler einen Brief aus dem Gefängnis erhält (»Im lindgrünen Umschlag ein gelblicher Bogen. Liniert. Die Linien aus kleinen Punkten«; S. 118) und ihm später das »andre Hamburg« (S. 171), das der Hochkultur, ebenfalls per Post eine Einladung schickt (»einen weißen, büttenen, Edelhadern, gehämmert, gefüttert mit eingepaßtem Wappen der Freien und Hansestadt Hamburg«; ebd.), wird schon durch die Materialität der Kommunikation der Spagat deutlich, den »der Doppellebige« (S. 177) vollführen muss. Das macht ihn zu einem problematischen Helden, der befürchtet, in seinen Unternehmungen nur »Halbehalbe« (S. 192) zu sein, aber der Roman macht deutlich, dass genau diese zerrissene Position –

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anders als die des journalistischen Berichterstatters – dem Gegenstand angemessen ist: »[N]icht Halbehalbe, sondern doppelt doppeln.« (S. 193).

5.

Verdopplungen

Wenn es darum geht, der Literatur neue Territorien zu erschließen, und wenn diese Territorien konkret die der Hamburger Subkultur sind, empfiehlt sich in der Logik der Palette also eine Vermittlungsfigur, die zwischen allen Stühlen sitzt und daher bei der Vermessung einer komplizierten Landschaft die notwendige Differenzierung erzielen kann. Aber ist Jäcki dazu wirklich in der Lage? Als er zu Beginn des Romans einmal – im Irrealis – versucht, die »Palette« zu verschriftlichen, kommt nicht viel mehr dabei heraus als eine Feuilletonparodie: Jäcki würde schreiben: – daß vielleicht jeder Chronist an der Palette scheitern muß. Eine Analyse der verschiedenen Schichten Wirklichkeit würde sich ins Uferlose verlieren. Jede bekannte Form schriftstellerischer Synthese klammerte aber eben gerade all das Inkohärente, Doppelzüngige, Alberne, Vielbewußte und die gleichzeitigen eingeschränkten Bewußtheiten aus. Die Schreibmaschine oder der Kugelschreiber […] wären gezwungen, eine kleingehackte, den Ereignissen und Personen nachhetzende Prosa zu erzeugen, die in dem Geschriebenen nicht den Eindruck der Vielfalt hervorrufen könnte, sondern auf die Dauer nur den Eindruck der Langenweile. (S. 31)

Wenn »jede bekannte Form« literarischen Schreibens an der »Palette« scheitern muss, geht es darum, eine bisher unbekannte Form zu finden, aber nicht Jäcki ist es, der diese Form am Ende liefern kann: »Gerade eine Seite alt ist Die Palette, als sich neben Jäcki eine weitere Figur in den Text drängelt. Ihr Auftauchen wird so unelegant inszeniert, daß es uns Leser alarmieren muß«, wie es in der schönen Beschreibung von Torsten Teichert heißt.38 Gemeint ist ein Ich-Erzähler, der sich bei seinem Auftauchen gezielt außerhalb des Verbindungsnetzes positioniert, das die »Palette« mit der Welt verbindet: Außerdem stehen noch Casablanca, Athen, Formentora in einer Beziehung zur Palette. Sesimbra nicht. Sesimbra liegt in Portugal. Ich sitze in Sesimbra auf den spitzen Felsen. […] Ich fange an zu schreiben, verändre die Namen der Palettianer, tausche Namen aus, denke mir Personen aus zu den Namen. (S. 5)

Zunächst scheint hier über den Umweg des ominösen »Ich«, das sich auch im weiteren Verlauf des Texts immer wieder einmischt und auch als »der Autor« figuriert, ein Zugeständnis an die im Zeit-Artikel zu erkennende Position vor38 Torsten Teichert: »Herzschlag aussen«. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt am Main 1987, S. 136.

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zuliegen, dass die Vermessung der Unterwelt einer souveränen, distanzierten Vermittlungsinstanz bedarf. Ist aber die Einsetzung eines über Namen und Romanfiguren verfügenden Ich-Erzählers wirklich dazu geeignet, die »kleingehackte Prosa« aus Jäckis Beschreibungsversuch zu vermeiden und die verschiedenen »Schichten Wirklichkeit« zu einem konventionellen Kunstwerk aus einem Guß zu verschmelzen? Dies ist ganz offensichtlich nicht die Absicht Fichtes, denn die in der Tat wenig elegante Installation einer zusätzlichen Erzählinstanz macht den gegenteiligen Eindruck. Offenbar schaltet sich hier der Autor in einer metanarrativen Volte in die Erzählung ein, um – insbesondere im letzten und meistzitierten Kapitel Nachwörter – das Verhältnis von Erzählgegenstand und Erzählung weiter zu verkomplizieren: »Meine Fiction ist nicht ganz ohne Non-Fiction.« (S. 238). Das bedeutet auch, dass dieser selbstreflexive Autor die Bedingungen seines Schreibens schreibend beobachten kann, wobei sich zeigt, dass auch er »halbehalbe« zwischen Hoch- und Subkultur positioniert ist: Drei Jahre sitz ich jetzt dran. Ledig leiht mir im Monat so viel, wie Loddl [einer der Palettengäste, J.B.] im Hafen fest verdient. Dafür spare ich den Weg, denn ich kann es in Heimarbeit machen, und ich bin ein freier Schriftsteller in der Freien und Hansestadt Hamburg und habe einen Bart und einen bunten Schlips und ein violettes Hemd und werde beneidet um die 3 mal 12 mal achthundert Miesen – von Köppen sicher nicht und vom lieben Konrad […] sicher auch nicht (Bayer). (S. 234f.)

Überhaupt bestehen zwischen diesem »Ich« und Jäcki derart viele Übereinstimmungen, dass sich die Frage stellt, welchen Mehrwert diese Erzählkonstruktion bietet. Schon die Hauptfigur Jäcki hat mit dem Autor Fichte »zu viel gemeinsam, als daß man ihre Identität bestreiten könnte«, wie auch beim Erscheinen des Romans hinreichend bekannt ist.39 Auch mit ihm allein als Vermittlungsinstanz wäre die Palette daher unproblematisch als autobiografischer Roman zu klassifizieren: Keine Leserin und kein Leser kann sich der Vorstellung entziehen, dass der Autor Hubert Fichte wie die Figur Jäcki in der »Palette« gesessen hat, um das dort Vorgefundene aufzuschreiben. Dadurch, dass der Figur Jäcki ein, wie man etwas unbeholfen sagen könnte, noch autobiografischerer Erzähler an die Seite gestellt wird, geschehen zwei Dinge. Zum einen wird der Konstruktionscharakter des Authentischen überdeutlich: Wenn Jäcki, der scheinbar so vertrauenerweckende Mediator zwischen Oben und Unten, von Anfang an als Bestandteil eines metanarrativen Spiels erkennbar wird, erzeugt der Roman ein Misstrauen gegen jegliche Inszenierung von Realitätsbezug. Zum anderen lenkt gerade dies die Aufmerksamkeit erst recht auf den Autor : Dieser 39 Wolfgang Nagel: »Stoff aus Wörtern«. In: Frankfurter Hefte (März/1969). Zitiert nach: Beckermann: Hubert Fichte (wie Anm. 6), S. 38–43, hier S. 39.

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bürgt nicht mehr in herkömmlicher Weise, als souveräner Beobachter oder als poetischer Gestalter, für den Text, sondern auch als die einzige Instanz, die das in diesem Text angelegte Rätsel der Authentizität lösen könnte: Er lässt »soviel Persönliches in den Roman einfließen, daß es wohl nur einen gibt, der wirklich alles restlos versteht: er selber.«40 Diese in der Tat nicht zu bestreitende Hermetik des Textes, die durch die Verdopplung der Vermittlungsfigur entsteht, schwört den Teil der Leserschaft, der dadurch nicht abgeschreckt wird, in sehr viel stärkerer Weise, als das ein bloß dokumentarischer, in herkömmlicher Weise autobiografischer Text könnte, auf die Figur des Autors ein: Nicht Dokumentation war sein Ziel, nicht strenge Genauigkeit und säuberliche Detailtreue. Das liefe am Ende auf Reproduktion hinaus; aber er möchte nicht nur nachbilden, nachsprechen. Er fühlt sich ganz als ›Autor‹, Urheber, Dichter, der eine eigene Sprache hat. […] Und wirklich, dieser Sound ist exklusiv.41

6.

Fazit

Fasst man die hier untersuchten Textphänomene schematisch zusammen, zeigt sich, dass beide zusammenhängen und in hohem Maße habitusrelevant sind: Anders als herkömmliche, journalistische Zugänge zur Subkultur erscheint die Palette als Roman der Differenzierung, der die Hybridität des Szenetreffpunkts »Palette« in stilistische Hybridität übersetzt und zu diesem Zweck den Erzähler aufwertet. Anders als im Zeit-Artikel kann für die Verwandlung des Kellerlokals in Literatur nur jemand in Frage kommen, der gerade nicht über einen klaren, souveränen Standpunkt verfügt, sondern selbst unverortet bleibt, der »abhängig und unabhängig zugleich ist«.42 Schon diese Operation lenkt enorme Aufmerksamkeit auf den Autor Fichte, der sich mit Aktionen außerhalb des Texts, die dann aber in den Text inkorporiert werden (die erwähnte Lesung aus dem unfertigen Roman im »Star-Club«, die noch vor dem Erscheinen des Buchs auf Schallplatte vorliegt) als Scharnierstelle zwischen Oben und Unten inszeniert. Die zunächst befremdlich erscheinende Aufteilung der Erzählinstanz in eine dem Autor nachempfundene Figur Jäcki und einen ebenfalls dem Autor nachempfundenen »Autor« verstärkt diesen Effekt. Der Roman lässt nicht nur offen, inwieweit er sich dem Milieu, von dem er handelt, assimiliert hat; als zusätzliches Unschärfemoment wirft er außerdem die Frage auf, in welchem Maße die so wichtigen Vermittlungsinstanzen »Jäcki« und »Ich« an die Figur des Autors 40 Nagel: Stoff aus Wörtern (wie Anm. 39), S. 43. 41 Dietrich Segebrecht: »Wörter aus St. Pauli. Der neue Roman von Hubert Fichte: ›Die Palette‹«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 1968, Nr. 67, S. 1 L. 42 Jens: Das ist nicht nur ein Roman (wie Anm. 19), S. 58.

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gebunden sind. Diese Frage kann nicht textintern entschieden werden, sodass schon die zeitgenössischen Rezensenten, die über vergleichsweise wenig Wissen über den Autor Fichte verfügten, ihre Besprechungen trotzdem in starkem Maße an dessen Person knüpften. Die (1968 noch nicht vollständig entwickelte und hier nicht weiter zu diskutierende) Werkpolitik Fichtes, die dazu neigt, das Einzelwerk zugunsten von direkt oder indirekt gebildeten Werkgruppen abzuwerten,43 tut ihr Übriges, um den Fokus auf den Autor zu lenken, der diese Gruppen bildet und zusammenhält. Der Roman Die Palette vermischt also programmatisch Oben und Unten, und um sicherzugehen, dass »die Entmischer nicht mehr nachkommen«,44 vermischt er zusätzlich Fakt und Fiktion sowie Autor und Erzähler. So wird paradoxerweise gerade durch die Negation von erzählerischer Souveränität im konventionellen Sinne (die sich entweder durch vertrauenerweckende Zugehörigkeit oder durch ebenso vertrauenerweckende Distanz herstellen ließe) eine extrem starke Autorposition geschaffen und der Status als doppelter Außenseiter mit symbolischem Kapital belohnt. Diese Autorposition ist es, die viel mehr als die Subkultur-Thematik (mit der sie freilich eng verknüpft ist) und viel mehr als die stilistischen Idiosynkrasien Fichtes traditionsbildend wirken kann. Vergliche man etwa – wofür natürlich ein eigener Aufsatz notwendig wäre – Fichtes in der Palette etablierten Habitus mit der »metaleptische[n] Selbstpoetik«45 in Rainald Goetz’ Debütroman Irre, so ließen sich sehr leicht Verbindungen aufzeigen. Dass die Traditionstauglichkeit von Fichtes Werk dennoch klare Grenzen hat, ist ebenfalls ein Nebeneffekt seiner eigenen »Selbstpoetik«: Indem die Grenzverwischung zwischen ›high‹ und ›low‹ in normativer und zuweilen etwas narzisstischer Weise an einen höchst individuellen Grenzgänger wie Jäcki/Fichte gebunden wird, ist sie von diesem auch nicht ablösbar und somit für Schulenbildung ungeeignet. Nur wer Erich Schellow im Besenbinderhof hat spielen sehen, kann mithilfe dieser Ähnlichkeitsbeziehung die »Palette« für die Literaturwelt erschließen. Andere müssen andere Bilder finden – oder noch besser andere Kneipen besuchen. 43 Während Fichtes vielbändige Geschichte der Empfindlichkeit eine explizite Werkgruppe darstellt, wird die Palette in subtilerer, aber immer noch recht direkter Weise mit ihren Nachbarwerken, dem Waisenhaus von 1965 und Detlevs Imitationen ›Grünspan‹ von 1971, verbunden: Wenn in ersterem Roman eine autobiografische Figur namens Detlev und in der Palette eine autobiografische Figur namens Jäcki auftreten, die dann im dritten Roman aufeinandertreffen, wird nicht nur eine kaum hintergehbare Verbindung zwischen diesen Texten geschaffen, sondern auch das Spiel mit Autor-Referenzen auf eine neue, noch kompliziertere Ebene gehoben – zu kompliziert für weite Teile der Tageskritik, die Detlevs Imitationen ›Grünspan‹ anders als die Palette eher skeptisch aufnahm. 44 Vgl. das Motto am Anfang dieses Aufsatzes. 45 Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin, Boston 2014, S. 171.

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Arbeitstitel: ›Illustriertenroman‹. Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970)

Die Pop-Literatur-Forschung hat sich mit den frühen Texten Elfriede Jelineks nur am Rande beschäftigt. Es bleibt bei Feststellungen wie jenen, dass sie ihre Stoffe zwar ausschließlich aus dem populärkulturellen Bereich beziehe, aber »[i]hre frühen Pop-Texte […] von Anfang an quer zum Affirmationspathos der jungen Männer« stünden.1 Ihr Roman wir sind lockvögel baby!2 wird als »Gegengift« bezeichnet, denn Jelinek »zitiert Illustrierten-Phrasen und Kulturindustrie-Stereotype, um sie äußerst künstlich weiterzudrehen«3 – und: »In seiner Negativität ist [er] mit dem Begriff des Pop kaum noch zu vermitteln.«4 Jelineks zuerst veröffentlichter Roman wir sind lockvögel baby! (1970) trägt in mehrfacher Hinsicht die Züge seiner Entstehungszeit: Das Buch ist dem österreichischen Bundesheer gewidmet, gegen das 1969/70 ein Volksbegehren lief.5 Das schwarze Plastik-Cover mit dem kleinen Klarsichtfenster, in das man sechs beigegebene Wechseltitel schieben kann, erinnert an die Debatten um den Gebrauchswert von Literatur Ende der 1960er Jahre.6 In ihrer »gebrauchsanweisung« fordert Jelinek: »sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. sie sollen die untertitel auswechseln.« (LV [0]) Auf inhaltlicher Ebene werden Anliegen der Studentenbewegung sowie die neue Jugendkultur und ihre Lebensstile aufgegriffen. Formal orientiert sich Jelinek an den nationalen und internationalen avantgardistischen Strömungen innerhalb der Literatur jener Zeit: auf der 1 Dirck Linck: »Batman & Robin. Das ›dynamic duo‹ und sein Weg in die deutschsprachige Popliteratur der 60er Jahre«. In: Forum Homosexualität und Literatur 45 (2004), S. 5–72, hier S. 68. 2 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby! Reinbek bei Hamburg 1970 [= im Folgenden: LV]. 3 Thomas Hecken: »Pop-Literatur um 1968«. In: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. (Text+Kritik. Sonderband 2003/X), S. 41–54, hier S. 48f. 4 Linck: Batman & Robin (wie Anm. 1), S. 70. 5 Diese tagespolitisch motivierte Widmung hat Jelinek kurzfristig vorgenommen; vgl. Verena Mayer, Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 48. 6 Vgl. die Debatte um den ›Tod der Literatur‹, initiiert von Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch 15 (1968) sowie in ihrer österreichischen Variante in der Zeitschrift manuskripte 25–27 (1969).

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nationalen Ebene ist dies die Wiener Gruppe und auf der internationalen Ebene sind es Beat, Pop und Underground. Jene Strömungen führt Jelinek zusammen, indem sie die experimentellen Verfahrensweisen im Anschluss an die Wiener Gruppe auch auf die populärkulturellen Fertigteile anwendet, die in diesen nach den Prinzipien von Montage, Collage und Cut-up konstituierten Text montiert sind. Mit dem medienkritischen, auf Bewusstseinserweiterung und Bewusstmachung abzielenden Cut-up-Verfahren hat sich Jelinek nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch in dem wie wir sind lockvögel baby! 1970 erschienenen essayistischen Text wir stecken einander unter der haut7 auseinandergesetzt, indem sie u. a. Passagen aus Carl Weissners Anthologie Cut UP. Der sezierte Bildschirm der Worte (1969) mit populärkulturellen Versatzstücken aus Heftromanen und illustrierten Zeitschriften verschneidet. Dasselbe Verfahren wendet sie in dem ebenfalls 1970 erschienenen Essay Die endlose Unschuldigkeit8 an, hier u. a. bezogen auf Roland Barthes’ Mythen des Alltags (1957/1964), die sie auf die Trivialmythen der Massenmedien überträgt. Die beiden Essays bilden den theoretischen Bezugsrahmen für den Roman und können als poetologische Reflexion und Selbstvergewisserung gelten. Der Roman wir sind lockvögel baby! ist insgesamt grundiert von experimentellen Verfahrensweisen im Anschluss an die Wiener Gruppe, auf deren Tradition sich Jelinek auch in zahlreichen Interviews berufen hat.9 Im gesamten Text verzichtet sie auf Zeichensetzung innerhalb von Sätzen und sie weicht ab von der konventionellen Orthographie, indem sie durchgängig die Kleinschreibung verwendet und Fremdworte phonetisch schreibt. Punktuell setzt sie immer wieder visuelle Mittel ein, indem sie einzelne Worte vollständig in Großbuchstaben schreibt, andere in Klammern gesetzt wiederholt und für literarische Texte unübliche Zeichen verwendet. Diese Mittel, sowie jene der Wiederholung und Variation, erschweren den blinden Konsum des Textes, der dadurch zu einem Gegenmodell der Heft- und Illustriertenromane wird, aus denen Jelinek vielfach zitiert. Während in jenen Romanen die schnelle Konsumierbarkeit gezielt gefördert wird, wird der Leseprozess in lockvögel durch die experimentellen Verfahrensweisen entautomatisiert. Auf diese Weise werden ein-

7 Elfriede Jelinek: »wir stecken einander unter der haut. konzept einer television des innen raums«. In: protokolle. zeitschrift für literatur und kunst 1 (1970), S. 129–134. 8 Elfriede Jelinek: »Die endlose Unschuldigkeit«. In: Renate Matthaei (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt am Main 1970, S. 40–66. 9 Josef-Hermann Sauter : »Interviews mit Barbara Frischmuth, Elfriede Jelinek, Michael Scharang«. In: Weimarer Beiträge 6 (1981), S. 99–128, hier S. 111. Hilde Schmölzer : »Elfriede Jelinek. Ich funktioniere nur im Beschreiben von Wut«. In: Dies.: Frau sein & schreiben. Österreichische Schriftstellerinnen definieren sich selbst. Wien 1982, S. 83–90, hier S. 87.

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gefahrene Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen unterlaufen sowie Klischees auf der Sprach- oder Handlungsebene deutlich gemacht. Beat, Pop und Underground, die ursprünglich von den USA ausgehenden Kunst- und Literaturströmungen, wurden Ende der 1960er Jahre im deutschsprachigen Raum in einer »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten […] als zusammengehörende Phänomene wahrgenommen«.10 Mit der größten zeitlichen Verzögerung gewann die amerikanische Beat-Literatur der 1950er Jahre an Aufmerksamkeit. Manche der Autorinnen und Autoren, die zunächst in diesem Zusammenhang wahrgenommen wurden, galten später vor allem als Pop- und/ oder Underground-Autoren. Pop-Art, Pop-Literatur und der literarische Underground wurden im deutschsprachigen Raum noch mindestens mit einem halben Jahrzehnt Verspätung rezipiert, während die englische und amerikanische Beat- und Rockmusik quasi in Echtzeit wahrgenommen wurden. Im literarischen Bereich lässt sich ›Beat‹ noch relativ leicht auf die Literatur der amerikanischen Beat-Generation einschränken. Dagegen werden ›Pop‹ und ›Underground‹ nicht immer klar voneinander getrennt. Im Nachhinein werden sie vor allem hinsichtlich ihres politischen Anspruchs unterschieden. Während Underground einen solchen Anspruch ideologiekritisch und subversiv mit dem gegenkulturellen Ansatz einer lustvollen Unterwanderung verbindet, steht bei der Pop-Literatur das Spiel mit den Signifikanten der populären Kultur im Vordergrund.11 Eine solche ›Pop-Literatur im engeren Sinn‹12 steht der Verfahrensweise der Pop-Art sehr nahe, indem sie sich auf einer Meta-Ebene mit Signifikanten der populären Kultur – aus ›trivialen‹ Literaturgenres, der Werbung, dem Kino, dem Fernsehen, den Comics, der Popmusik etc. – auseinandersetzt und diese neu codiert. Dadurch will sie irritieren, aber sie »erhebt keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur […], sondern nutzt sie als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens«.13

10 Jörgen Schäfer : »›Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen‹. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur«. In: Arnold, Schäfer : Pop-Literatur (wie Anm. 3), S. 69–80, hier S. 71. 11 Zur Differenzierung von Beat, Pop und Underground im Bereich der Literatur und zu deren Rezeption im deutschsprachigen Raum vgl. Andreas Kramer: »Von Beat bis ›Acid‹. Zur Rezeption amerikanischer und britischer Literatur in den 60er Jahren«. In: Arnold, Schäfer : Pop-Literatur (wie Anm. 3), S. 26–40. Sowie Jörgen Schäfer : Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S. 87ff. Zum ›Pop‹-Begriff und zu dessen Ausweitung vgl. besonders Hecken: Pop-Literatur um 1968 (wie Anm. 3) und Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009. 12 Vgl. Schäfer : Mit dem Vorhandenen (wie Anm. 10), S. 78. Hecken: Pop-Literatur um 1968 (wie Anm. 3), S. 48. 13 Jörgen Schäfer: »›Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit‹. Zum Verhältnis von Pop und

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Auf Beat, Pop und Underground bezieht sich Jelinek auf der Verfahrensebene und durch konkrete intertextuelle und intermediale Bezüge. Am stärksten geprägt ist lockvögel durch die Montage von populärkulturellen Fertigteilen. Sie stammen aus Illustrierten, Heftromanen und Mädchenbüchern. Aber auch Beat, Pop und Underground selbst werden zum Referenzbereich von Jelineks intertextueller Poetik. Konkret geht es um die Bereiche Lyrik, Musik und Comic. Diese Bezüge sind oft vermittelt über Personennamen, wobei sich die Grenze zwischen Lyrik und Musik nicht immer eindeutig ziehen lässt – so handelt es sich neben Allen Ginsberg beispielsweise um Tuli Kupferberg (The Fugs) oder Frank Zappa (Mothers of Invention). Die Zitate aus dem Bereich der Lyrik stammen überwiegend aus der von RalfRainer Rygulla herausgegebenen zweisprachigen Underground-Anthologie Fuck you (!).14 Dieser Anthologie ist auch einer der Wechseltitel (»ist das nicht schon krieg?«, LV [-1] = FY 35) entnommen sowie das dem Roman vorangestellte Motto von Tuli Kupferberg (»RUN THAT UP YOUR PENIS & SEE HOW IT COMES!«, LV 6 = FY 26).15 Auch auf der Handlungsebene hat Tuli Kupferberg mehrere ›Auftritte‹, zum Beispiel in einer grotesken und gewalttätigen Sexszene: »tuli kupferberg durchschiesst die schwell knöchelchen an wondermaids vorderfront mit seinem maskulinen strahl durchbohrt die sämtlichen eingeweide.« (LV 214) Jelinek zitiert aus Fuck you (!) auch Gedichte von u. a. Charles Bukowski, Lenore Kandel, Philip Whalen, John Wieners und Aram Boyajian.16 Diese Zitate sind meist nicht als solche markiert und mal mehr, mal weniger abgewandelt. Jelineks Auseinandersetzung mit diesem Material besteht darin, dass sie auf der einen Seite Inhalte und Verfahrensweisen übernimmt, indem sie z. B. Figuren aus Literatur in Deutschland seit 1968«. In: Arnold, Schäfer : Pop-Literatur (wie Anm. 3), S. 7–25, hier S. 15. 14 Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Fuck you (!) Underground Poems / Untergrund Gedichte. Darmstadt 1968 [= im Folgenden: FY]. Rygulla geht teilweise über den Anspruch, eine ›Underground‹-Anthologie vorzulegen, hinaus und hat manche Gedichte aufgrund eingestandener persönlicher Vorlieben ausgewählt. 15 Die beiden Zitate an diesen exponierten Stellen des Romans – der Wechseltitel aus Kupferbergs Gedicht »Bayonet Drill – Bajonett Drill« (FY 34f.) sowie das namentlich ausgewiesene Motto, die letzte Zeile aus Kupferbergs Gedicht »The Wheel of Fortune – Das Glücksrad« (FY 26f.) – haben eine explizit markierende Funktion für den Beat/Pop/Underground-Kontext im Allgemeinen und für Rygullas Anthologie im Besonderen. 16 Charles Bukowskis »Nature Poem – Natur-Gedicht« (LV 184 = FY 53ff.), Lenore Kandels »Love in the Middle of the Air – Liebe mitten in der Luft« (LV 19/231 = FY 77), Philip Whalens »4:2:59 Take I – 4:2:59 Aufnahme I« (LV 184 = FY 23), John Wieners’ »Poem – Gedicht« (LV 171f. = FY 115), Aram Boyajians »The Day I Turned Into A Chinese General – Der Tag an dem ich mich in einen chinesischen General verwandelte« (LV 171 = FY 117ff.). Ausführliche Analysen dieser und weiterer intertextueller Referenzen aus Fuck you (!) finden sich in Lea Müller-Dannhausen: Zwischen Pop und Politik. Elfriede Jelineks intertextuelle Poetik in »wir sind lockvögel baby!«. Berlin 2011, S. 153ff.

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dem populärkulturellen Bereich der Massenmedien regelrecht ›massenhaft‹ auftreten lässt. Auf der anderen Seite werden die übernommenen Textpassagen zum Material, das Jelinek für ihre Zwecke abwandelt oder mit dem sie sich kritisch auseinandersetzt. Dabei gilt ihre Kritik der Sprache, dem pathetischen Ton oder der Haltung (zum Beispiel gegenüber Frauen), die in den Referenztexten zum Ausdruck kommt. Vielfach betrifft dies auch die sexuelle Dimension. Während explizite Darstellungen in der Lyrik des Underground – als Protest gegen sexuelle Repression – auf Schock und Provokation aus sind, steigert Jelinek ähnliche Darstellungen ins Groteske und Absurde. So werden Elemente aus Aram Boyajians Luci, Nugent, Hoover, The Pope / And Jesus Christ / All Together / In One Poem – Luci, Nugent, Hoover, der Papst / und Jesus Christus / alle zusammen / in einem Gedicht (FY 120–123) und Ed Sanders Coca-Cola Douche – Coca-Cola Spülung (FY 90–93) in Zusammenhang mit ›luci nugget‹ mehrfach wieder aufgenommen und assoziativ weitergeführt: »luci nugget ist also eine riesige tüte fruchteis jeder darf sie lutschen selbst der papst in rom« (LV 231). »luci nugget lacht perlend auf und schleudert ihr cola glas gegen die wand. […] luci sprudelt vanilleeis aus ihrer fotze die mehr tief ist als breit« (LV 246). Dadurch demonstriert Jelinek, wie sich intendierte Provokation bald selbst entkräftet, wenn sie sich immer weiter steigern muss, um ihr provokatorisches bzw. schockierendes Potential zu behalten. Anhand von Allen Ginsbergs Gedicht Kral Majales17 wird schließlich die Vorstellung von Sexualität als politischem ›Heilmittel‹ verworfen (LV 245ff.). Ginsberg, der zu jener Zeit in Europa als Underground-Dichter rezipiert wurde, hatte sich mittlerweile »zum poetischen Sprachrohr der Hippiebewegung entwickelt«18 und glaubte an eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen durch Liebe. Frei nach Ginsberg heißt es bei Jelinek mehrfach so oder ähnlich: »i am king of may der mit der jugend schläft bevor ein fetter polizistenjunge zwischen unsre körper tritt« (LV 245/246/247).19 Dem setzt sie einen schamhaften »paul« entgegen sowie eine sich steigernde körperliche Gewalt, bis hin zum Mord an »john kennedy« (LV 247). Ähnlich verfährt Jelinek mit Zitaten und Bezugnahmen aus dem Bereich der Musik. Sie stammen nicht nur aus der englischsprachigen Beat- bzw. Pop-Musik (Beatles, Rolling Stones), sondern auch aus deren deutschsprachigem ›Gegenpol‹ (Alexandra, Udo Jürgens u. a.). Zum Ende der 1960er Jahre ist beides (bereits) musikalischer Mainstream. Mehrfach werden Lieder der Beatles zitiert – meist die Titel oder prägnante 17 Allen Ginsberg: »Kral Majales«. In: Ders.: Planet News. Gedichte. München 1969, S. 59–61. 18 Hans-Peter Rodenberg: Subversive Phantasie. Untersuchungen zur Lyrik der amerikanischen Gegenkultur 1960–1975. Gießen 1983, S. 83. 19 Bei Ginsberg heißt es: »Und ich bin der König des Mai, der lachend mit Halbwüchsigen schläft. / […] / bevor ein junger fetter Geheimpolizist zwischen uns trat.« Ginsberg: Kral Majales (wie Anm. 17), S. 60.

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Textstellen, die assoziativ eingesetzt werden: I Am the Walrus (LV 10/36), Lady Madonna (LV 36), Eleanor Rigby (LV 71), Hey Jude (LV 84/90), All Together Now (LV 141) und Lucy In The Sky With Diamonds (LV 142/152). Die Beatles waren wegen ihrer multimedialen Präsenz selbst schon zu Zeichen geworden und werden in lockvögel – ebenso wie ihre Liedtitel – als solche verwendet. Zur Zeichenhaftigkeit der Beatles hat auch deren Präsenz in Filmen beigetragen. Zum Beispiel im Animations- und Musikfilm Yellow Submarine (UK/USA 1968, R: George Dunning), zu dessen Soundtrack einige der von Jelinek zitierten Beatles-Lieder gehören. In dem Film werden die vier Beatles immer wieder in neuen Kontexten und in unterschiedlicher Gestalt gezeigt. Auch in lockvögel treten dieselben Figuren in unterschiedlichsten, einander teilweise widersprechenden Kontexten auf. Dies betrifft auch die Beatles selbst, die immer wieder als »die beatles« oder »john paul george ringo« in wechselnden Konstellationen auftauchen. Manchmal auch ganz stilecht, als kämen sie direkt vom Cover des Sgt. Pepper’s-Album (1967): »mit falscher perücke und falschem bart die gitarren im wams so stehlen sich die vier wie diebe mitten in der nacht aus ihrem eigenen blumenbeet. […] all together now!« (LV 140f.) In Verbindung mit einer wörtlich genommenen Redensart wirft Jelinek dabei einen spöttischen Blick auf ›ringo‹, der sich »von einem flüchtigen abenteuer zum nächsten schwang und dabei einige verzierungen abbrach von seiner janitscharenjacke.« (LV 142) Oft wird das im Vergleich zu ihren Dauerkonkurrenten, den Rolling Stones, vergleichsweise harmlose Image der Beatles karikierend übertrieben, z. B. wenn »diese chorknaben« (LV 9) »mit ihrem süssen gemeindegesang« (LV 10) auftreten: »hey jude nach kurzer zeit schallten die reinen knabenstimmen schwermütig bald heiter über die mauer ins dorf hinein die ehre gottes zu verkünden« (LV 84). Aber auch das Gegenteil ist der Fall: »da ertönte ringos gellender kampfschrei« (LV 240). Auch im Film Yellow Submarine tragen die Beatles manchmal ihre Phantasieuniformen. Der Film ist zwar bekannt für seinen »legendären visuellen Stil als surrealistisch-psychedelisches Flower-Power-Abenteuer«,20 hat jedoch auch einen »naiven Plot, der das Lebensgefühl der Love-and-Peace-Bewegung widerspiegelt«.21 Den ›Waffen‹ im Film – überdimensionalen blauen Handschuhen und grünen Äpfeln – setzt Jelinek mit einem Blick auf die Realität entgegen: »immerhin sass ich fast ein jahr lang im schützengraben in vietnam antwortete der bärtige ringo milde als sergeant pepper.« (LV 116) Während sich die Beatles auf der Ebene der ›Figuren‹ und durch gelegentliche Titel-Zitate durch den gesamten Roman ziehen, werden Lieder anderer Inter20 Ursula Vossen: »Yellow Submarine«. In: Andreas Friedrich (Hg.): Filmgenres. Animationsfilm. Stuttgart 2007, S. 112–117, hier S. 113f. 21 Vossen: Yellow Submarine (wie Anm. 20), S. 114.

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preten ausführlicher zitiert. Zum Beispiel die beiden Rolling Stones-Titel Have You Seen Your Mother, Baby, Standing in the Shadow? und Backstreet Girl, vereint auf dem Album Flowers (Decca 1967, A2/B1). Markante Textstellen aus beiden Liedern, teilweise ins Deutsche übersetzt, werden im Lauf eines Kapitels (LV 124ff.) – ähnlich einem Refrain – mehrfach wiederholt bzw. ähneln einem variierenden musikalischen Motiv, wenn die Wiederholungen weniger wortwörtlich sind. Auch mit dem Lied Tausend Fenster, dem österreichischen Beitrag zum Grand Prix Eurovision de la Chanson 1968, gesungen von Karel Gott und geschrieben von Udo Jürgens,22 setzt sich Jelinek ausführlich auseinander und verbindet dies mit Kritik an anderen Medien. Zwei Jahre später hat sie den Liedtext auch in ihrem Beitrag zur Musiksoziologie23 analysiert. Dort schreibt sie über diese »musikalische welt des nachdenklichen schlagers«:24 »udo [sic] zuhörer kommen jedenfalls nicht auf die idee selber was in die hand zu nehmen außer einen aktendeckel im büro«, denn die durch dessen Lieder vermittelte »ideologie zielt auf beharrung und verewigung des bürgers nicht auf veränderung«.25 In den genannten Fällen der ausführlicheren Lied-Zitate verfährt Jelinek wie mit der Lyrik des Underground: Die Zitate bilden für sie die Basis für eine weitergehende kritische Auseinandersetzung – mit dem in den Liedern Dargestellten, aber oft auch darüber hinaus. Manchmal wandelt Jelinek die Zitate auch gezielt ab, um sie für ihre eigenen Zwecke und Intentionen fruchtbar machen zu können. Bei Jelineks Bezugnahmen auf den Comic handelt es sich vor allem um bekannte Comicfiguren, die zahlreiche Auftritte haben – wie Superman, Batman und Robin, Micky Maus, Minnie Maus und Goofy. Aber auch markante ›Soundwords‹ finden sich immer wieder im Text – wie »zoooooooom!« (LV 48) oder »whammmmmmmm!« (LV 179). Diese Soundwords sind allerdings nicht in den entsprechenden Comics auf dem deutschsprachigen Markt zum Ende der 1960er Jahre enthalten, wohl aber in den amerikanischen Originalen sowie in einem Gedicht von Lenore Kandel in Fuck you (!) – mit dem Titel IN THE COMICS – COMICS (FY 70ff.). Diesem Gedicht entnimmt Jelinek auch die sexuellen Interaktionen der Superhelden, jedoch in leicht variierter Konstellation: Während es bei Kandel heißt »BATMAN machts mit ROBIN / ROBIN machts mit Piloten / SUPERMAN machts nie« (FY 73), heißt es in lockvögel: »batman fickt 22 Auch Udo Jürgens hat dieses Lied im selben Jahr gesungen. Es ist enthalten auf seinem Album Mein Lied für Dich (1968). 23 Elfriede Jelinek: »udo zeigt wie schön diese welt ist wenn wir sie mit kinderaugen sehen. untersuchungen zu udo jürgens liedtexten«. In: Elfriede Jelinek, Ferdinand Zellwecker, Wilhelm Zobl: Materialien zur Musiksoziologie. Wien/München 1972, S. 7–14. 24 Jelinek: udo zeigt wie schön (wie Anm. 23), S. 13. 25 Jelinek: udo zeigt wie schön (wie Anm. 23), S. 9.

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robin« (LV 254) und »superman weiss im moment nichts andres mit seiner superkraft anzufangen als piloten zu fischeln.« (LV 254) Jedoch zitiert Jelinek weder aus Comics noch erzählt sie Handlungen nach, sondern sie verwendet Verfahrensweisen wie in der US-amerikanischen Pop- und Underground-Literatur und in deren Gefolge auch in der deutschsprachigen Literatur (wie z. B. bei Rolf Dieter Brinkmann). Bei ihrem Spiel mit den Signifikanten, mit den Images von massenmedial und massenhaft verbreiteten Figuren bricht Jelinek Klischees nicht nur auf, indem sie üblicherweise Ausgeblendetes und Unterdrücktes nun ›einblendet‹, sondern sie stellt das nun Eingeblendete oft auch übertrieben dar. Dadurch entlarvt sie den Schein durch Übertreibung des Gegenteils. So wird nicht nur Asexualität zu übertriebener Sexualität, sondern die großen, starken, unanfechtbaren Superhelden (Superman und Batman mit Robin) regredieren auch bis hin zur Infantilität. Manchmal trifft bei Jelinek auch beides zusammen: batman robin superman starten sausen los und purzeln unter wildem geschrei schliesslich durcheinander […]. batman steckt robin seinen läuter in das weitgeöffnete maul und drückt zu […]. und was ist mit superman selbst? auch er ist nicht faul gewesen. hakt er sich doch mit seiner pow wow superkraft in batmans überraschend kleinen eggs fest und zieht so dessen ganzen hin & herbaumler in die länge. (LV 234)

Andere Comic-Figuren – wie Micky, Minnie und Goofy – sind in ihrem ursprünglichen Umfeld nur harmlosen Anfechtungen ausgesetzt. Bei Jelinek erleiden sie jedoch extreme körperliche Gewalt: Sie sind »im kugelhagel der sturmhauben zusammengebrochen: der kriegsinwalide [sic!] goofy der brutal zu boden gestossene micky die fein zerschnittene minny« (LV 189). Auch die beiden Mäuse tun im Finale von lockvögel, was sie im Comic nie tun: »micky und minny wälzen sich in einem ungeheuren zeugungsakt über den verwundeten horizont eines schweren tages« (LV 253) – ehe noch ein weiteres Mal das Gegenteil der heilen Welt hervorgekehrt wird: »goofy läuft laut schreiend zwischen den toten herum. links und rechts unter den armen trägt er wie puppen zwei mäuse micky und minny. kopflose puppen.« (LV 256) Jelinek bricht die stereotype und auf Klischees reduzierte Darstellung bekannter Figuren auf und vermeidet es zugleich, durch Übertreibung des Gegenteils neue Klischees zu schaffen. Denn die Figuren werden keineswegs auf dieses Gegenteil als ein neues Image festgelegt, da dieses durch widersprechende Darstellungen konterkariert wird – auch wenn es manche Schwerpunkte gibt. Dies gilt ebenso für Figuren aus der Volkskultur (wie den Osterhasen und den Kasperl), für die ›beatles‹ sowie für jene Figuren in lockvögel, die nicht aus der Populärkultur bekannt sind und die nur beim Vornamen genannt werden (wie ›otto‹, ›maria‹ und ›emmanuel‹). Es gibt keine Images und keine festen Identitäten. So erfüllt der ›osterhase‹ nicht nur die Aufgabe, für die er bekannt ist:

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»osterhase auch heuer wieder werden kinder in aller welt in allen erdteilen & nationen schöne (schöne) bunte ostereier bekommen du sollst weiter deine grosse aufgabe erfüllen nämlich freude bringen gross & klein.« (LV 100) Er bohrt auch ein Loch in den Kopf eines Mädchens (LV 11), gehört zu den »im krieg bei stalingrad vermissten« (LV 96), ist »industriekapitän aus düsseldorf« (LV 116) und »osterhase der junge grossstädter« (LV 8) sowie »osterhase der alte scheisskerl der kilometerweit nach alten unterhosen stinkt« (LV 223). Das beschriebene Spiel mit den Signifikanten ist jedoch nur deshalb möglich, weil die populärkulturellen Figuren in ihrem ursprünglichen Umfeld auf ein bestimmtes Image festgelegt sind. Bei Jelineks Verfahrensweisen handelt es sich jedoch nicht um ein selbstgenügsames Spiel mit den Signifikanten. Denn die Images und mit ihnen die jeweilige fiktionale Umwelt der genannten Comicfiguren sind nicht frei von ideologischen Absichten. Durch die Darstellungen des Gegenteils entlarvt Jelinek die ›manipulatorische Traumwelt‹ der Comics und kritisiert eine darin transportierte autoritäre Haltung. Die in lockvögel im Zusammenhang mit den Comicfiguren dargestellte Gewalt lässt sich somit auch als Sichtbarmachung und Manifestierung der in der autoritären Haltung enthaltenen Gewalt verstehen. Bei Jelineks Bezugnahmen auf den Bereich des Comic ist interessant, dass sie Aspekte, die in der ursprünglich aus dem US-amerikanischen Bereich kommenden Pop- und Underground-Literatur vorgeprägt sind, mit solchen vereint, die sie bei der Wiener Gruppe vorfand: und zwar die Sexualisierung der Superhelden auf der einen Seite und deren Infantilisierung26 auf der anderen Seite. Das Besondere bei Jelinek ist jedoch, dass sie zu einem großen Teil gar keine abweichenden Situationen und Handlungen für die bekannten Figuren erfindet. Sondern sie montiert lediglich deren Namen – als jeweils mit einem bestimmten Image verbundenes Etikett – in Zitate aus anderen Medien und unterschiedlichen Genres. Zwei Images werden dadurch miteinander gekreuzt. Vorausgesetzt man betrachtet z. B. eine Welt wie die betuliche von Nesthäkchen auch als ein Image. Das Resultat ist ein grotesker oder – von beiden Images zugleich – abweichender Eindruck. Dieses Kreuzen von Images lässt sich auch als Montage von Fertigteilen beschreiben: Der Figurenname als einzelnes Segment – als ein Etikett, als ein Zeichen, das ein ganzes Image transportiert – wird in ein TextZitat montiert. Dieses Einbringen kleinerer Einzelsegmente in ein größeres Textsegment funktioniert nach dem Prinzip des Cut-up und bewirkt wie dieses Verfahren das Durchbrechen eingefahrener Wahrnehmungsmuster. Jene größeren Textsegmente entnimmt Jelinek dem Bereich der ›populären Lektüren‹. Sie zitiert aus Illustrierten (BUNTE), aus Heftromanen (Perry Rhodan und Jerry Cotton) und Mädchenbüchern (Else Urys Nesthäkchen-Serie). Dies 26 Hans Carl Artmann: allerleirausch. neue schöne kinderreime. Berlin 1967, o.S.

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waren zum Ende der 1960er Jahre die jeweiligen Marktführer und für die Beliebtheit der Nesthäkchen-Serie sprechen die zahlreichen Neuauflagen. Gemeinsam ist diesen Bereichen der Massenlektüre die negative Beurteilung aus ideologiekritischer Sicht. Vorgeworfen wurde ihnen seitens der auf jene Zeit bezogenen Forschung vor allem, dass sie den Status quo stabilisieren und bestimmte Normen und Verhaltensregeln fördern.27 Mindestens ein Drittel des lockvögel-Textes besteht aus diesen Zitaten. Etwa die Hälfte davon aus der BUNTEN Illustrierten aus der Zeit von 1966 bis 1969. Neben Zitaten aus Artikeln, verschiedenen Ressorts und der Werbung dominieren jene aus Illustriertenromanen. Diese Tatsache und der Umstand, dass wir sind lockvögel baby! zunächst unter dem Arbeitstitel Illustriertenroman firmierte,28 betonen die Bedeutung gerade dieser Zitate für den Text und dessen Konstitution. Die Illustriertenromane verschiedener Genres (Arztromane, historische Romane u. a.) sind zugleich immer auch Liebesromane. Zusammen mit den Zitaten aus den Kriminal- und Science-Fiction-Heftromanen lassen sie den Eindruck entstehen, Jelinek habe sich sämtlicher Spielarten des trivialen Heftromans bedient. Sie hat diese Texte jedoch nicht zerschnitten im Sinn eines veritablen Cut-up-Verfahrens, sondern es handelt sich um ein beschränkt zufallsbasiertes, freies Montageverfahren, das lediglich an den Prinzipien des Cutup orientiert ist, wobei der materielle Zusammenhang der Segmente im Herkunftstext relevanter ist als der inhaltliche Zusammenhang.29 Grundsätzlich ist die konkrete Herkunft der Zitate in lockvögel eher verschleiert und kaum markiert. Erkennbar sind sie nur durch textsorten- oder genrespezifische Charakteristika wie die von Werbetexten und verschiedenen Ressorttexten aus Illustrierten (Starbericht, Expertenrat, Rezept, Leserbrief u. a.) oder durch die genrespezifischen Inhalte oder Besonderheiten der Heftromane, z. B. die typischen tätlichen Auseinandersetzungen in den Kriminalromanen oder das charakteristische Vokabular von Science-Fiction-Romanen. Die Zitate 27 Zu den Illustrierten vgl. Jörn Glasenapp: »Titelschwund und Politisierung. Zur Illustriertenlandschaft der sechziger Jahren«. In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 60er Jahre. München 2003, S. 129–143. Sowie Marianne Jabs-Kriegsmann: Zerrspiegel. Der deutsche Illustriertenroman 1950–1977. Stuttgart 1981. Zu den Heftromanen vgl. Gunter E. Grimm: »Zwischen Anpassung und Protest. Buchmarkt, Bestseller und Belletristik in den sechziger Jahren«. In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 60er Jahre. München 2003, S. 95–113. Zu den Mädchenbüchern vgl. Karl Ernst Maier : Jugendliteratur. Formen, Inhalte, pädagogische Bedeutung. 10. überarb. u. erw. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb. 1993, S. 150ff. 28 Vgl. Christine Riccabona: »Veränderungen – Literatur der 1960er Jahre«. In: Christine Riccabona, Erika Wimmer, Milena Meller (Hg.): Die Österreichischen Jugendkulturwochen 1950–1969 in Innsbruck. TON ZEICHEN : ZEILEN SPRÜNGE. Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 181–224, hier S. 219. 29 Zu den intertextuellen Dimensionen, den konkreten Verfahrensweisen und für den Nachweis der Zitate vgl. ausführlich Müller-Dannhausen: Zwischen Pop und Politik (wie Anm. 16), S. 205ff.

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sind den beschriebenen experimentellen Verfahrensweisen in der Tradition der Wiener Gruppe unterworfen und auf diese Weise übergangslos in den Text integriert. Darüber hinaus gibt es viele Modifizierungen unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Ausmaßes. Was fast immer geändert wird, sind die Namen. Das betrifft nicht die Namen der Prominenten und Stars aus den Illustriertenartikeln (Heintje, Peter Alexander, Udo Jürgens u. a.), aber die Namen von (bis dahin) öffentlich unbekannten Personen in anderen Illustriertenartikeln (v. a. in Verbrechensberichten) sowie die der fiktiven Figuren in den Illustriertenromanen, Heftromanen und Mädchenbüchern. Sie werden ersetzt durch Namen aus dem Bereich des Beat, Pop und Underground, durch Namen von Comicfiguren, von volkstümlichen Figuren oder von anderen, meist nur mit Vornamen benannten Figuren, ohne dass es dabei jedoch eine Regelmäßigkeit oder Konsequenz gäbe, die nicht auch mehrfach wieder gebrochen würde. Dadurch wird auch ein vermeintlicher Geschlechtswechsel einer Figur lediglich zu einem Namenswechsel ohne Anpassung des Genus. Daraus, dass Jelinek die Zitate modifiziert und in einen neuen Kontext stellt, entstehen parodistische Effekte – mit einem entweder kritischen oder ironischen Impetus. Durch diese Verfahrensweise soll ideologische Gewalt bewusst und sichtbar gemacht werden. Auch sprachliche und inhaltliche Klischees werden aufgebrochen – oft mit deren eigenen Mitteln. Dadurch sagt Jelinek in einer Art impliziten kritischen Analyse etwas aus über die ›populären Lesestoffe‹ und ihre Wirkungsweise. Somit lässt Jelinek, die einmal gesagt hat: »Ich lasse die Sprache selbst sprechen«30, diese Texte selbst sprechen. An einem Beispiel aus Nesthäkchens Backfischzeit sei dies veranschaulicht: otto überlegt. nein das geht nicht. die eltern verlassen sich drauf dass er die uniformstiefel trägt es war unehrlich wenn er sie damit hinterging. trotz mancher kleiner fehler ist otto ein durch und durch ehrliches werkzeug in den händen der machthaber. dem knüppel und der pistole würde es auch nicht gerade zur grösseren sauberkeit gereichen wenn er die blutnassen stiefel dazupackte. (LV 206)

Annemarie überlegte. Nein, es ging nicht. Die Eltern verließen sich darauf, daß sie die Gummischuhe trug, es war unehrlich, wenn sie die Ihrigen damit hinterging. Trotz mancher kleiner Fehler war Annemarie Braun ein durch und durch wahrheitsliebendes Mädchen. Den Schulbüchern und Heften würde es auch nicht gerade zur größeren Sauberkeit gereichen, wenn sie die nassen Gummischuhe dazupackte.31

30 Vgl. Margarete Lamb-Faffelberger : »Interview mit Elfriede Jelinek«. In: Dies.: Valie Export und Elfriede Jelinek im Spiegel der Presse. Zur Rezeption der feministischen Avantgarde Österreichs. New York u. a. 1992, S. 183–200, hier S. 191. 31 Else Ury : Nesthäkchens Backfischzeit. Wien/Heidelberg [1952], S. 23f.

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Auf drastische Weise werden hier die durch das Mädchenbuch vermittelten Normen von Gehorsam und Sauberkeit deutlich gemacht – und zugleich deren Missbrauchspotential. Auf der Handlungs- oder der Figurenebene gibt es in lockvögel zwar keine Kontinuität im Sinn einer Entwicklung oder einer identitätsbezogenen Einheit. Aber es gibt – neben einem grundsätzlich einheitlichen, aber im Einzelnen auch variierenden Verfahren der Textherstellung – neue Kohärenzen, die zum Teil auf die unterschiedlichen ›populären Lektüren‹ bezogen sind. Dadurch wird der Text zwar nicht auf einer inhaltlichen Ebene zusammengehalten, jedoch durch kontinuierliche oder wiederholt auftretende Charakteristika an der Oberfläche. Auf diese Weise werden auch andere ›populäre Lektüren‹ in eine illustriertenähnliche Struktur einbezogen, in der längere Texte oft mehrfach unterbrochen werden und sich dadurch in unmittelbarer Nachbarschaft zu unterschiedlichen anderen Textsorten befinden. Zudem gibt es in manchen Überschriften und Kapitelanfängen Anlehnungen an den Illustriertenroman (»was bisher geschah«, LV 7; »(2. folge)«, LV 37). Anders als bei den Illustrierten gibt es jedoch in lockvögel keine längeren, inhaltlich zusammenhängenden Texte, sondern nur Textsegmente, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst wurden. Die Merkmale ihrer Herkunft haften ihnen mehr oder weniger deutlich an. Jelinek überträgt charakteristische Merkmale mancher Genres auch auf Texte anderer Genres, wodurch wieder neue Kohärenzen an der Textoberfläche entstehen (z. B. die Amerikanismen der Jerry Cotton-Hefte und die Soundwords der Comics). Eine andere Art der Kohärenz entsteht durch bereits bekannte Textsegmente, wenn ein Zitat an anderer Stelle wiederholt oder variiert wird. Die im Rahmen von lockvögel ›bekanntesten‹ und am häufigsten wiederholten Textsegmente sind die recht kleinen Einheiten der Figurennamen, die innerhalb der Zitate zum größten Teil ausgetauscht wurden. Diese Praxis der ›Namensgebung‹ schafft neue Zusammenhänge und trägt so zur Kohärenzstiftung bei, wenn auch nur an der Textoberfläche. Eine kohärenzstiftende Wirkung hat diese Praxis auch deshalb, weil sie die Anzahl der in lockvögel auftretenden ›Figuren‹ – gemessen an den Originalnamen aus den Zitaten – stark reduziert. Bei der Textproduktion hat Jelinek nicht nur populärkulturelles Material im Anschluss vor allem an die Pop-Literatur verwendet, sondern sie macht den Bereich des Beat, Pop und Underground selbst zum Material. Dies kann man sich als einen lustvollen Prozess vorstellen – vor allem durch das Spiel mit den Signifikanten im Sinne des Pop und durch das modifizierende Verarbeiten der verwendeten Fertigteile. Dies muss eine geradezu diebische Freude gemacht haben, da es sich doch zum größten Teil um ›heimliche‹ Modifizierungen handelt, denn den Rezipienten werden sie wohl nur in den wenigsten Fällen bewusst, da ihnen der Ursprungskontext nicht präsent ist. Aus Sicht der internationalen avantgardistischen Strömungen der Entstehungszeit ist festzustellen, dass Jeli-

Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970)

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nek in wir sind lockvögel baby! zwar mit den Verfahren des Pop arbeitet, aber mit dem Impetus des Underground: Sie geht spielerisch und lustvoll vor, hat dabei jedoch einen ideologiekritischen und in diesem Sinn politischen Anspruch.

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Wie Wolf Wondratschek zum Rockpoeten wurde. Zu Chuck’s Zimmer (1975)

1.

Generationswechsel

1983 gab es nach einem elf Jahre währenden Ausstieg aus dem Literaturbetrieb erstmals wieder eine Neuerscheinung von Wolf Wondratschek in einem traditionellen Verlagshaus. Diogenes publizierte Die Einsamkeit der Männer. Mexikanische Sonette (Lowry Lieder). In der verstrichenen Dekade hatte Wondratschek vier selbstverlegte Lyrikbände mit »handfeste[n] Rock-Lyrics«1 über Zweitausendeins vertreiben lassen, die 1981 eine Gesamtauflage von 100.000 Exemplaren erreicht hatten.2 Der Spiegel bestallte als Rezensenten des repräsentativen Rock-Lyrikers den repräsentativen Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen. Der erledigte seine Aufgabe gründlich: Wondratscheks »unselige[s] Ziel« sei die »Eindeutschung der amerikanischen Rockkultur«, er sei »ein ganz normaler, altgewordener Bubi mit einem ekligen Leitbild«.3 Wo Diederichsen schon mal dabei war, bekamen auch andere ihr Fett weg: Udo Lindenberg, Wim Wenders, Vadim Glowna und natürlich auch die Stadt München. Eine Larmoyanz, hinter der immer der zornige Schüler aufflackert, der neckische Provo alter Schule, der Protestler Münchner Provenienz. Wondratschek haftet das Flair einer »Kommissar«- oder »Derrick«-Figur an. Er ist ganz das juvenile Problemkind aus gutem Hause, auf leicht schiefe Bahn geraten, das sich Herbert Reinecker und Erik Ode am Telephon ausgedacht haben könnten. Provo und eigentlich doch stockbürgerlich. Wolf Wondratschek ist Uschi Glas.4

1 Im Merkheft Nr. 31 von 1978. Zitiert nach Hans Otto Hügel: »Wolf Wondratschek: ›In den Autos‹«. In: Peter Bekes u. a.: Deutsche Gegenwartslyrik. Von Biermann bis Zahl. Interpretationen. München 1982, S. 248–277, hier S. 273. 2 Vgl. Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900–2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945–2000). Würzburg 2006, S. 511. 3 Diedrich Diederichsen: »Ach, ist das alles verdammt männlich. Über den Erfolgs-Lyriker Wolf Wondratschek«. In: Der Spiegel 37 (1983), Nr. 47, S. 237–239, hier S. 237f. 4 Diederichsen: Ach, ist das … (wie Anm. 3), S. 238f.

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Es entbehrt nicht der Komik, wenn der jüngere Professorensohn den älteren als stockbürgerlich verunglimpft – seinerzeit ein schlimmer entlarvender Vorwurf –, aber die Polemik lässt sich schlüssig aus dessen Poptheorie ableiten. 1983 war das Jahr, in dem Diederichsen, der damals auch gerne mal – in einer Rezension von Robert Wyatts Single Stalin Wasn’t Stalling – unter dem Pseudonym Stalin Stalinsen zeichnete,5 mit der Arbeit an Sexbeat beschäftigt war, wo er die Differenzierung zwischen einer frühen der Rebellion verhafteten und einer späteren subversiven Phase des Pop systematisch entwickelte.6 Wondratschek galt als Repräsentant des verhassten Rockismus, der vom Rock gepflegten »Natürlichkeits- und Authentizitätsmythen«,7 denen »halbseidene Typen und ›Theoretiker‹ von McLaren über Morley bis zu mir«8 den Kampf angesagt hatten.9 In Sexbeat ordnete Diederichsen seine Beschimpfung Wondratscheks der subversiven Strategie zu, Klatsch in die Welt der Kultur hineinzutragen, denn dann »entstehen schöne Erfolge beim Vernichten von chronischen Überbauerscheinungen«.10

2.

Ein junger Avantgardist entdeckt Rock Power

Wolf Wondratschek machte Ende der 1960er Jahre mit neoavantgardistischen Texten von sich reden, die in den beiden Sammelbänden Früher begann der Tag mit einer Schußwunde und Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will gesammelt erschienen und ihn zum »nach Handke erfolgreichste[n] Jungautor«11 machten. Zugleich war er politisch in der Studentenbewegung aktiv. Die Literaturkritik bescheinigte ihm, bedeu5 Diedrich Diederichsen: 2000 Schallplatten 1979–1999. Höfen 2000, S. 40. 6 Vgl. Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/New York 2010, S. 22ff. 7 Diedrich Diederichsen: Popocatepetl. 10 Jahre Schallplatten. Graz 1989, S. 68. 8 Diederichsen: Popocarepetl (wie Anm. 7), S. 80. 9 »Erst zwei, drei Jahre später ließ sich dieser Widerspruch als der Kampf gegen den Rockismus beschreiben. Denn erst 1982 mit dem Aufkommen des sogenannten Zitatpop, mit der sich seit 81 abzeichnenden Abkehr von jeder Punk-Rock-, Avantgarde-Rock-, ja jeder RockÄsthetik überhaupt, war ein ästhetischer Standpunkt eingenommen, der sich gegen jeden Aspekt der ausgesprochenen und unausgesprochenen Ideologie des Rock stellte.« Diederichsen: Popocatepetl (wie Anm. 7), S. 60. 10 Diedrich Diederichsen: Sexbeat. 1972 bis heute. Köln 1985, S. 152. »Eine Bestätigung für die Richtigkeit dieser Strategie erfuhr ich, als Fritz J. Raddatz, sonst durch seine zwanghafte Massenproduktion eher der unfreiwillig anarchistische Überwinder des bürgerlichen Feuilletons als sein Repräsentant, wegen eines Spiegel-Artikels, in dem ich Wolf Wondratschek beschimpfte, in einer Fernsehsendung über die Verrohung der journalistischen Sitten predigte.« Diederichsen: Sexbeat (wie Anm. 10), S. 153. 11 Heinrich Vormweg: »Das Gefühl, kein Schriftsteller zu sein. Wolf Wondratscheks sehr unterschiedlich beladener ›Omnibus‹«. In: Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Oktober 1972.

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tend und »umstritten« zu sein.12 Damit erfüllte Wondratschek als literarisch und politisch progressiver Autor die beiden nach 1968 dominanten Normen des literarischen Feldes. Mit Pop oder Rock hatten seine ersten beiden Bücher kaum etwas zu tun. In Früher begann der Tag mit einer Schußwunde von 1969 verarbeitete der Collagetext Zustände und Zusammenhänge heterogene Versatzstücke in asyndetischen Reihungen, unter denen sich solche aus der Welt der Trivialkultur finden. Nur zwei Beispiele aus der Popwelt finden sich darunter : »Yoko Onos Po in Knokke und danach eine Ecke mit John Lennon /«13 sowie »5) Frank Zappa sieht aus wie ein aufgeblasenes Schamhaar.«14 Zwei Momente jedoch beschäftigten Wondratschek 1970: zum einen die Auseinandersetzung mit Populärkultur. Die Titelerzählung des zweiten Sammelbandes wurde in dem Sammelband Trivialmythen veröffentlicht und widmete sich dem Trivialmythos Pornographie.15 Zum anderen befasste er sich intensiv mit der Pop-Art – nicht umsonst wird die Fluxus-Künstlerin Yoko Ono erwähnt – und der von William S. Burroughs propagierten Methode des Cut Up. Deutlich zeigt sich das in dem Text Monopoly. (Sätze in Würfelform), der in Omnibus veröffentlich wurde.16 Rock war zuerst bloßer Materiallieferant. Für das Hörspiel Akustische Beschreibungen, Hörbeispiele (»Thema eins«) wählte Wondratschek als Hörbeispiel das Stück I’ve got enough heartache von Spooky Tooth,17 für Einsame Leichen einen Ausschnitt aus In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly. Die beginnende Hinwendung zur Rockkultur dokumentiert Kann das Quietschen der Straßenbahn nur eine Frau gewesen sein?, das »Roger Waters, Nick Mason, David Gilmour, Rick Wright«18 gewidmet ist zu einem Zeitpunkt, als Pink Floyd mit den Alben Umma Gumma und Atom Heart Mother noch als experimentelle Underground-Band galt. Konzeptionell relevant wird Pop für die Überlegungen zur Hörspieltheorie. Wondratschek knüpft bei den Positionen der Frankfurter Schule zur Bewusst12 Vgl. die Anmerkung der Redaktion zu Elisabeth Engelhardt: »Der Tod als Kumpel«. In: Nürnberger Nachrichten vom 21. März 1972. 13 Wolf Wondratschek: »Zustände und Zusammenhänge«. In: Ders.: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde. München 1969, S. 23–33, hier S. 25. 14 Wondratschek: Zustände und Zusammenhänge (wie Anm. 13), S. 28. 15 Vgl. Wolf Wondratschek: »Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will«. In: Renate Matthaei (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt am Main 1970, S. 128–131. 16 Wolf Wondratschek: »Monopoly. (Sätze in Würfelform)«. In: Ders.: Omnibus. München 1972, S. 145–149. 17 Vgl. Wolf Wondratschek: »Akustische Beschreibungen, Hörbeispiele (›Thema eins‹)«. In: Ders.: Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels. Hörspiele. München 1971, S. 105–120, hier S. 113/120. 18 Wolf Wondratschek: »Kann das Quietschen der Straßenbahn nur eine Frau gewesen sein?« In: Wondratschek: Omnibus (wie Anm. 16), S. 81–102, hier S. 82.

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seinsindustrie an, der die Rock- und Popkultur als höchst problematisch galt.19 So beginnt denn auch Wondratschek mit einer Setzung: Die Empfänger von Unterhaltung und die Empfänger von Befehlen sind identisch[]; gerade diese Fatalität erfreut sich bei den Jugendlichen größter Beliebtheit, wie die Popveranstaltungen / la Stones beweisen: unbewußt werden die Aufforderungen sich zu versammeln und sich anschließend wieder zu zerstreuen, als Unterhaltung genommen für etwas, was noch gar keine Unterhaltung ist. Es werden die Identifikationsmodelle auch hier nur gesteuert; jedes Überschwappen von Begeisterung muß vereitelt werden; die unbezweifelbar vorhandenen Wechselwirkungen steigern sich im Kollektivkonsum von Drogen und fallen herab, wenn alle enorm vor sich hin privatisieren; darauf käme es an: den schönen Zustand als Wahrnehmungsprozeß zu verewigen, Kunst als Reiseführer zu demokratisieren, jedes Funkhaus ein joint.20

Den Mechanismus zur Durchbrechung des Verblendungszusammenhangs sieht Wondratschek im entautomatisierenden Konsum von Drogen. Zwar ist auch die Popszene von »brutal kalkuliert[er]« »Profitbefriedigung«21 gekennzeichnet, dennoch habe sich in ihr etwas Neues, Anderes herausgebildet, »eine andere Form der Wahrnehmung, eine andere Beteiligungsform an Unterhaltung. Bewußtseinstheoretiker bezeichnen das als: Explosion der Perspektive. Das hängt mit Drogen zusammen.«22 So zeigt sich beim Rolling-Stones-Konzert eine auf ein utopisches Ziel gerichtete »rückbezügliche Kreativität«23 zwischen Musikern und Besuchern: »›Ich warte auf eine Zeit, wo 50.000 Menschen Musik machen, und die fünf auf dem Podium hören zu‹ (David Peel).«24 Wondratschek steht in der Nähe von Überlegungen, die zeitgleich in Helmut Salzingers Essay Rock Power oder Wie musi19 »Theodor W. Adorno: Was gegen die Beatles zu sagen ist, ist gar nicht so sehr etwas Idiosynkratisches, sondern ganz einfach das, was diese Leute bieten, womit überhaupt die Kulturindustrie, die dirigistische Massenkultur uns überschwemmt, seiner eigenen objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes. Man kann zeigen, daß die Ausdrucksmittel, die hier verwandt und konserviert werden, in Wirklichkeit allesamt nur heruntergekommene Ausdrucksmittel der Tradition sind, die den Umkreis des Festgelegten in gar keiner Weise überschreiten und die das an Ausdruck, was sie sich zutrauen und wovon die faszinierten Hörer behaupten, daß es das Fascinosum sei, objektiv eben durch die Abgebrauchtheit all dieser Elemente gar nicht mehr haben.« Helmut Salzinger : Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur. Frankfurt am Main 1972, S. 20. Salzinger zitiert hier aus: Dieter Baacke: Beat – die sprachlose Opposition. München 1968, S. 46f. 20 Wolf Wondratschek: »Es wird zwar im folgenden nur von Hörspielen geredet, man sollte aber mitunter trotzdem vergessen, daß hier nur von Hörspielen geredet wird«. In: Wondratschek: Paul oder die Zerstörung … (wie Anm. 17), S. 65–72, hier S. 70f. 21 Wondratschek: Es wird zwar … (wie Anm. 20), S. 70. 22 Wondratschek: Es wird zwar … (wie Anm. 20), S. 70. 23 Wondratschek: Es wird zwar … (wie Anm. 20), S. 71. 24 Wondratschek: Es wird zwar … (wie Anm. 20), S. 71.

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kalisch ist die Revolution? reflektiert werden.25 Seine Aufmerksamkeit gilt mit Mick Jagger und Frank Zappa zwei herausragenden Exponenten der zeitgenössischen Popszene. Helmut Salzinger sah die Rolling Stones in einem ZeitArtikel 1969 als »meines Erachtens noch immer schärfste Pop-Gruppe der Welt«,26 deren freies Konzert im Londoner Hyde Park eine Manifestation schien: Kühne Hochrechner schätzen die Zahl der Anwesenden auf eine halbe Million, so der »Sunday Telegraph«; ich nehme an, es waren zwischen zweihundert- und zweihundertfünfzigtausend Leute da. Auf jeden Fall aber war es das größte Publikum, das sich je zu einem Pop-Konzert zusammengefunden hat. Nicht einmal in den USA gab es das bislang. Wahrscheinlich ist diese Tatsache weitaus bedeutsamer als die Musik, die später geboten wurde. Es dürfte momentan außer der Pop-Musik kaum etwas geben, für das eine ähnliche Zahl von Menschen mobilisiert werden könnte. Unter diesen Leuten befanden sich die freiesten Menschen, die man heute auf dem Erdball finden kann, Leute, die jene Revolution bereits antizipiert haben, so gut das in der westlichen Gesellschaft überhaupt möglich ist.27

Frank Zappa hatte sich einen »Ruf als anarchistischer Zerstörer amerikanischer Middleclass-Mythen« erworben und galt als einer der »profiliertesten amerikanischen Pop-Musiker«, der sich freilich auch den »schlimmen Verdacht, Kunst machen zu wollen«,28 zugezogen hatte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint am 14. Januar 1971 Mick Jagger, ein optischer Mythos, in Twen kurze Zeit später Musik, die ich mag: Frank Zappa – und das Spiegelbild auf dem Klo. Beide Texte werden überarbeitet in Omnibus übernommen. Die Essays folgen Roland Barthes’ Verfahren in den Mythen des Alltags; ihr Gegenstand ist jeweils ein Bild. Es geht nicht um die Musik – dass Wondratschek Zappas Musik mag, wird den Twen-Lesern mitgeteilt, denen des Omnibus nicht mehr. Bei Jagger heißt es ausdrücklich, seine Bedeutung beruhe nicht auf seiner Musik: »die Musik der Rolling Stones als 25 Vgl. Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 34: »Der Begriff Rock Power enthält die Behauptung, daß die Musik, die wechselweise als Beat-, Pop-, Rock- oder Underground-Musik bezeichnet wird, etwas mit Politik zu tun habe, und zwar mit jener Art von Politik, die nach der geläufigen Terminologie nicht bloß linksorientiert, sondern soweit linksorientiert ist, daß die gestandenen Politiker sämtlicher etablierten gesellschaftlichen Systeme dazu neigen, ihr das Prädikat des Politischen ab- und das des Träumerisch-Utopischen oder gar des Kriminellen zuzusprechen, weil sie nämlich nichts Geringeres als die Abschaffung eben dieser gesellschaftlichen Systeme bezweckt, kurz: mit revolutionärer Politik. Der Begriff Rock Power behauptet, die Musik trage dazu bei, die Revolution in Gang zu setzen. / Die Frage ist, ob diese Behauptung stimmt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist sie nicht zu beantworten.« 26 Helmut Salzinger : »Vorläufig Sympathie für den Teufel«. In: Ders.: Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966–1982. Hg. von Frank Schäfer. Hamburg 2010, S. 93–99, hier S. 93. 27 Salzinger : Vorläufige Symphatie (wie Anm. 26), S. 95. 28 Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 225.

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Gruppe erscheint geradezu konservativ : sie ist von ihnen nie weiterentwickelt worden.«29 Die beiden Bilder zeigen zum einen »das berühmt-berüchtigte« Poster, das Frank Zappa auf der Toilette sitzend zeigt. Es gab in den siebziger Jahren, so erinnert sich der Zappa-Biograph Carl Ludwig Reichert, keine WG, die es nicht »auf dem Lokus hatte. Vermutlich war es mindestens so weit verbreitet, wie davor das Porträt von Che Guevara.«30 Auf dem anderen Bild ist der androgyne Jagger der Glam-Phase zu sehen, »die Königin der Pop-Stars«.31

Abb. 1 (Jagger/Zappa)

Der Twen-Artikel benennt drei Voraussetzungen der nachfolgenden Reflexionen: 1.) Wolf Wondratschek mag die Musik von Frank Zappa. 2. ) Wondratschek saß vor kurzem auf einem Klo einem Spiegel gegenüber. 3.) Was Wondratschek an der Musik von Zappa irritiert, ist, daß in bestimmten Wohnungen nicht Spiegel, sondern ZappaIkonen auf dem Klo hängen.32 29 Wolf Wondratschek: »Jagger«. In: Wondratschek: Omnibus (wie Anm. 16), S. 136–141, hier S. 140. 30 Carl Ludwig Reichert: Frank Zappa. 2. Auflage. München 2001, S. 77. 31 Wolf Wondratschek im Interview mit Christian Linder. Christian Linder : »Mick Jagger und andere«. In: Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 1972. 32 Wolf Wondratschek: »Musik, die ich mag: Frank Zappa – und das Spiegelbild auf dem Klo«. In: Twen 4 (1971), S. 122–123, hier S. 122.

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Diese redaktionelle Vorbemerkung zielt neben den autobiographischen Anlässen auf eine Begleiterscheinung der Popkultur, die ihre politische Bedeutung unterläuft. Das Bild stellt eine Provokation dar, durch die Überführung des Bildes in den Warenkreislauf jedoch verändert sich seine Semantik, wird die Provokation durch Absorption unschädlich gemacht. – die Scham der Leute wird in der braven Form des Scherzartikels offensiv und bleibt trotzdem hygienisch, Zappa hat sich scheißend zur Ikone stanzen lassen, der Spiegel, der abbildet, wird ersetzt durch eine Abbildung, die jene Spiegelung nur vortäuscht, Zappas Provokation erstarrte im Jugendstil eines Marktes, der die nackt heruntergezogenen Hosen des Musikers und seinen nackten hergezeigten Arsch als sog. Tafelbild der Toilette verkauft, als Spiegelersatz und Schockpose, die durch Millionenauflagen sanktioniert ist.33

Die Wohngemeinschaften, in denen das Zappa-Poster neben anderen politischen Postern hängt, machen aus der Provokation ein Ornament: »an Marx, an die Wand geheftet, ist nur noch sein Bart politisch«.34 Dieser Effekt kontaminiert auch die Musik. Der auf der Toilette hockende Autor vermerkt: »Draußen spielen die Beatles«:35 »Vier Millionäre musizieren auf Zimmerlautstärke.«36 In Jagger sieht Wondratschek den Sänger der Rolling Stones als ›optischen Mythos‹ und darin seine Bedeutung in der »Geschichte des gesungenen Protests«.37 Die Argumentation geht auch hier von der politischen Funktion der Rockmusik aus. Sie rekurriert auf zwei verschiedene Formen politischer Kunst, die der Typologie der Sartre-Kritik Adornos folgen.38 Die eine wird durch Protestsänger wie Bob Dylan vertreten, der die der Popwelt gemäße Form des engagierten Künstlers ist. Aktuelle Vertreter dieses Modells seien die MC5, die »ihre Musik als Töne des politischen Selbstverständnisses der (militanten) Hells Angels« definierten und die Fugs: »So stehen, wie dort behauptet wird, die Gruppen des Politrock in der politischen Front ganz vorne, z. B. the fugs: ihr Markenzeichen ist der offen deklarierte Anarchismus.«39 Allerdings ist dieses Selbstverständnis obsolet geworden: 33 Wolf Wondratschek: »ZAPPA«. In: Wondratschek: Omnibus (wie Anm. 16), S. 131–134, hier S. 133. 34 Wondratschek: ZAPPA (wie Anm. 33), S. 132. 35 Wondratschek: Musik, die ich mag (wie Anm. 32), S. 122. 36 Wondratschek: Musik, die ich mag (wie Anm. 32), S. 122. 37 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 140. – Das ist auch der Grund dafür, dass Wondratschek unter dem Titel Die Rolling Stones in den Akzenten 1971 als objet trouv8 Auszüge aus dem Londoner Telefonbuch zusammenstellte. Vgl. Wolf Wondratschek: »Die Rolling Stones«. In: Akzente 18 (1971), S. 234–237. 38 Vgl. Theodor W. Adorno: »Engagement«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 11: Noten zur Literatur. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 409–430. 39 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 138.

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es ist geradezu unglaublich (und unheimlich), daß sich Manson auf einen Song der Beatles berief, als er seine Messerstechereien vor Gericht ideologisch zu rechtfertigen versuchte, zu einem Zeitpunkt, wo der Beatle nur die bürgerliche Karikatur jenes Schreckgespenstes noch darstellt, als das er vor Jahren einmal verteufelt und beschimpft wurde.40

Das Popgeschäft ist der Igel, der vor dem Hasen Rockrevolte immer schon da ist. Insofern ist der Politrock eine Verwechslung von Geschäft und Revolution. Der »Mythos von Woodstock« war das »naive Zeltlager«,41 das diesen Zusammenhang überdeckte. Entlarvt wurde dieser Mythos durch den Mord an Meredith Hunter von den als Ordner engagierten Hells Angels in Altamont.42 Das Bewusstsein dieses Sachverhalts ist die Grundlage des optischen Mythos Jagger, den Wondratschek wie folgt beschreibt: Mick Jagger wird als Mythos optisch wahrnehmbar in der Figur des arroganten Hermaphroditen: er ist zugleich der freak und das Mannequin. Innerhalb dieser Gegensätze zerschlägt er jenen bürgerlichen Begriff der Obszönität.43

Jagger gehörte selbst zu denen, die sich, beginnend mit dem unspezifischen Aufbegehren von (I Can’t Get No) Satisfaction, von der Rockmusik die Revolution versprachen. Das Stück, in dem das am deutlichsten formuliert war, war die Single Street Fighting Man, »das Revolutionslied der Rolling Stones«:44 Ev’rywhere I hear the sound of marching charging feet, oh boy ’Cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, oh boy […] Hey! Think the time is right for a palace revolution45

Zugleich zeigte es bereits den Umschlag: »But where I live the game to play is compromise solution!« – um schließlich zum resignativen Refrain zu kommen: »But what can a poor boy do / Except to sing for a rock’n’roll band« – was nach der Argumentationslogik des Essays bedeutet, dass der Ausweg des armen Jungen nicht die Revolution ist, sondern der kommerzielle Erfolg als Rocksänger. 40 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 138f. 41 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 138. 42 »Es ist deshalb kein Zufall, daß in Altamont, sozusagen beim Zusammenprall des Publikums mit einer Rockerbande, ein Mord geschah; man müßte ihn als den bisher einzigen politischen Pop-Mord verstehen, als ein Geschehen, dessen wirkliches Motiv in der Erfolgsgeschichte von Mick Jagger zu suchen ist.« Wolf Wondratschek: »Mick Jagger, ein optischer Mythos«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 1971. Vgl. Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 41ff. Wondratschek verweist in einer Fußnote auf: Siegfried Schober (Hg.): Let it bleed. Die Rolling Stones in Altamont. Berichte und Photos. München 1970. (Erschienen in der Reihe Hanser als Nr. 45). 43 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 136. 44 Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 53. 45 The Rolling Stones: Songbook. Frankfurt am Main 1977, S. 194.

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»Wir wollen niemals ihre politischen Führer sein (Mick Jagger).«46 Damit ist aber nicht Jagger der Affirmation verfallen – im Gegensatz zur Rezeption der Rolling Stones deutet Wondratschek deren Texte nicht autobiographisch –, vielmehr drückt es Zynismus aus: Nunmehr spricht Mick Jagger das Wort Revolution nur noch aus, weil er weiß, daß es nur ein Wort ist. Sein Zynismus überdauerte seine Illusion. Er verwandelte die Aggression in ein Verhalten von Subversion. Dies macht ihn den radikalen politischen Gruppierungen (außerhalb der Popkultur) vollends suspekt: sie lehnen nicht nur den Millionär ab, sondern auch das, was ihn dazu machte: seine Ikonographie.47

Das Stichwort für Jagger lautet also Subversion. Sie ergibt sich aus der Uneindeutigkeit des Bildes wie aus einer Verlagerung: »Mick Jagger ist das Bild eines Konflikts, dessen Ursachen in der bestehenden (gegenwärtigen) Gesellschaft endlich erotisch begriffen werden.«48 Die Gemeinsamkeit zwischen Zappa und Jagger sieht Wondratschek in ihrer beider skeptischen Haltung gegenüber dem »love & peace«-Mythos. Im Fall Zappas war das schon 1967, vor dem Höhepunkt der Hippie-Bewegung, dem Festival von Woodstock, auf dem Album We’re only in it for the money der Mothers of Invention dokumentiert, das als Parodie auf Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles angelegt war : Who Needs the Peace Corps What’s there to live for? Who needs the Peace Corps? Think I’ll just drop out I’ll go to Frisco Buy a wig And sleep on Owsley’s floor Go to San Francisco Walked past the wig store Danced at the Fillmore I’m completely stoned I’m hippy and I’m trippy I’m a gypsy on my own 46 Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 55. »Die Frage, ob Mick Jagger sich politisch richtig, d. h. revolutionär verhielt, als er, statt die Straßenschlacht auszurufen, die von ihm selbst angeheizte Bereitschaft dazu wieder dämpfte, ist in diesem Zusammenhang, in welchem es um die Frage nach dem politischen Charakter der Musik selbst geht, von minderem Interesse.« Salzinger: Rock Power (wie Anm. 19), S. 56; vgl. ausführlich S. 76ff. 47 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 136f. 48 Wondratschek: Jagger (wie Anm. 29), S. 137f.

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I’ll stay a week And get the crabs And take a bus back home I’m really just a phony But forgive me ’cause I’m stoned Every town must have a place Where phony hippies meet Psychedelic dungeons Popping up on every street Go to San Francisco49

Und Jaggers Zynismus war schon vor Altamont deutlich geworden. In den beiden Essays bewegt sich Wondratschek im Kontext eines Deutungsmodells, das ausführlich in Rock Power reflektiert wird und eine Konstante der Zeitschrift Sounds darstellte. Ein Zitat Jerry Rubins lieferte Salzinger die Leitmelodie, die von allen möglichen Seiten materialreich reflektiert wird: »Der Rock’n’Roll bezeichnete den Beginn der Revolution.«50 Die Lösung der aporetischen Alternative von Revolte und Affirmation sieht Wondratschek in einer Umstellung auf Subversion, die in Jaggers androgyner Inszenierung realisiert ist. Das sind zugleich Kernpunkte des Paradigmenwechsels, den zehn Jahre später Diedrich Diederichsen in Sounds und Spex betreiben und in Sexbeat systematisch ausarbeiten wird.

3.

Abschied von der Avantgarde

Das avantgardistische Projekt der ersten Bücher hatte zu einem Problem geführt, das einige Rezensenten beobachtet hatten. Als »meisterhafte Konklusion seiner Prosa« hatte Heinz Ludwig Arnold einen »ent-sätzlichen End-Satz« bewertet und die Frage aufgeworfen, »ob es Wondratschek gelingt, über diesen End-Satz hinauszukommen, ja ob es überhaupt möglich ist, diese eindeutig autobiographisch gesättigte Einsatz-Prosa noch zu überbieten«?51 Diese Frage musste sich stellen, da es Wondratschek bis dahin darum gegangen war, einen Endpunkt des Erzählens zu erreichen.52 Die Reaktionen auf Omnibus waren zwiespältig, und die negativen artikulierten den Eindruck, Wondratschek schreibe »wie ge49 Frank Zappa: Plastic People. Songbuch. Deutsch von Carl Weissner. Frankfurt am Main 1977, S. 98. 50 Salzinger : Rock Power (wie Anm. 19), S. 10,14,17 usw. 51 Heinz Ludwig Arnold: »Der frühe Wondratschek«. In: Ders., Klaus Stiller (Hg.): Wolf Wondratschek (Text+ Kritik. Spezinummer 1). München 1971, S. 3–5, hier S. 4f. 52 Vgl. Hans-Horst Henschen: »Stilblüten und Kalauer«. In: Arnold, Stiller: Wolf Wondratschek (wie Anm. 51), S. 8.

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habt«.53 Ihm selbst schien es ähnlich ergangen zu sein. In einem späteren Interview äußerte er sich entsprechend: »Die Literatur kotzte mich an, insbesondere die deutsche, insbesondere die junge deutsche, für die auch ich selbst einzustehen hatte.«54 Der Eindruck, in eine Sackgasse geraten zu sein, führte notwendig zu einer poetologischen Neuorientierung. Im Interview mit Christian Linder umriss Wondratschek, welche Art von Literatur ihm nunmehr vorschwebte: Ich habe die Idee einer Literatur, die wie ein Palimpsest geschrieben ist, wo sich verschiedene Lesarten, verschiedene Apperzeptionsformen herausbilden, daß ein Text nicht meint, er müsse schwierig sein, um relevant sein zu können. Eine Literatur, die ebenso kulinarisch wie aufgeklärt ist wie unterhaltsam und provozierend. Sie kann durchaus auch mal schön sein.55

Dem Sammelband Omnibus war als Einblattdruck ein auf den 8. Februar 1972 datiertes Gedicht zum Erscheinen dieses Buches56 beigegeben. Gedicht zum Erscheinen dieses Buches Dieses Buch ist so einfach wie das Gedicht über die Größe der Kinoleinwand, der Traum eines Kindes, das schon vor dem Einschlafen sein Bett verlassen hat, das Ausdrücken einer Filterzigarette auf einem Spiegelei (Hitchcock), die Beobachtung, daß es das Spiegelbild ist, das dir zuschaut, das Herumgehen zwischen all diesen Menschen auf der Straße, nichts, von morgens bis abends, das ruhige Lächeln eines Verrücktgewordenen, der Aufschrei eines Liebhabers auf einer Eisenbahnschiene oder so einfach wie die geheime Anordnung absoluter Willkür, wie sie deinen Gefühlen entspricht, deiner Erinnerung und den Gedanken. Immer häufiger erschien mir jede Form von Aufmerksamkeit wie ein unaufhörlicher Film. Das ist die Entstehungsgeschichte dieses Buches, dessen Reaktionsweisen als Rede-

53 Hans-Eberhard Lex: »Der Satz ist eine Linie …« In: Spandauer Volksblatt vom 1. Oktober 1972. 54 Wolf Wondratschek: »Ich bin ein Zehn-Prozent-Autor. Wie es zu ›Chuck’s Zimmer‹ kam«. In: Die Zeit vom 27. Juni 1975. Und weiter heißt es: Ich »ertrug immer weniger auch die Gesichter der Leute an den kulturellen Befehls- und Angelpunkten, nicht einmal ihre ehrliche Freundlichkeit ertrug ich. Hanser, dessen Arbeit ich angesichts der immer grotesker und unüberwindlicher werdenden Schwierigkeiten schätzen gelernt habe, strich ich jede Optionsklausel auf etwaige weitere Werke durch. Tut mir leid. Sagte Lesereisen und Lesungen ab. Sagte der Kulturberichterstattung adieu. Das lief nicht mehr. Eine Tortur.« 55 Linder : Mick Jagger und andere (wie Anm. 31). 56 Es ist in die Sammlung der Gedichte nicht aufgenommen worden. Vgl. Wolf Wondratschek: Die Gedichte. München 1998.

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weisen erscheinen und dessen Bilder als die Sprache der Bilder mit dem Ohr wahrgenommen werden. Ich meine eine Art Film, »als wollte ich einen soziologischen Essay schreiben in Form eines Romans und hätte dabei nur Musiknoten zu meiner Verfügung« (Godard), etwa so. Imagine, there’s no TV. So einfach wie ein komisches Spiel, eine klassische Stimme in Turnschuhen, ein Irrtum in seiner alltäglichsten Form. Es geht eben nichts über das Gefühl, kein Schriftsteller zu sein. Wolf Wondratschek, 8. Februar 7257

Das Gedicht ist aufgrund seiner Publikationsform als Einblattdruck ein vom Buch physikalisch unabhängiger Paratext, gleichwohl aber eng auf das Buch bezogen. Der Titel benennt die Gelegenheit, zu der es verfasst wurde, der Autor bietet mittels Namensnennung und Datumsangabe einen autobiographischen Pakt an, wonach das lyrische Ich als Wolf Wondratschek im Moment der Entstehung des Gedichts identifiziert werden soll. Aufgrund der Datierung liegt es nahe, es als nachträgliche Rahmung der heterogenen Texte des im Mai 1972 erschienenen Omnibus zu verstehen.58 Damit greift das Gedicht das Modell eines Vorworts auf, transformiert jedoch dessen pragmatischen Aussagemodus ins poetische Medium. Das ametrische Prosagedicht bündelt in der ersten Scheinstrophe eine Reihe unterschiedlicher auslegungsbedürftiger Vergleiche für die Einfachheit des Omnibus. Der erste greift auf avantgardistische Verfahren zurück, indem das genannte Gedicht die Vorführbedingungen im Kino behandelt und, so lässt sich schließen, einzig die Angabe von Höhe und Breite der Leinwand enthalten muss, nichts jedoch über die Inhalte oder Faszination des als Film dargebotenen Rezeptionseindrucks aussagt. Der zweite Vergleich ist in sich widersinnig, indem er den Traum aus seiner Einbettung in den Schlaf herauslöst; er entbindet damit ein transgressives Moment. Der dritte Vers greift wieder das Thema Film auf, enthält aber diesmal eine im filmischen Erzählzusammenhang marginale kurze Einstellung, die jedoch auf den Regisseur bezogen wird. Die beiden anschließenden Vergleiche greifen Alltagssituationen auf, wobei im mittleren Vers der ersten Scheinstrophe in der distanzierenden Form einer Du-Ansprache ein Augenblick der Selbstreflexion festgehalten wird. Der folgende Vers ist ein Bild der Entfremdung im Alltag, der Isolation des Flaneurs. Dem folgen wiederum ein Moment der Transgression und eine Einzelszene ohne kontextuelle Einbettung. Der ab57 Wondratschek: Omnibus (wie Anm. 16), Einzelblatt-Beilage. 58 Vgl. Wondratschek: Omnibus (wie Anm. 16), S. 4.

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schließende mit »oder« eingeleitete Vers ist syntaktisch doppelt anzuschließen, entweder als Abschluss der Vergleichsreihe oder aber als Summe der verschiedenen Einzelvergleiche, das als Rahmung auf den Eingangsvers bezogen werden kann. Inhaltlich pointiert er das Moment der Individualität, in dem er Inkommensurables miteinander verknüpft – »geheime Anordnung« und »absolute Willkür«. Die folgenden Scheinstrophen setzen die poetologische Reflexion fort. Wieder wird das Modell des Films als Metapher für Wahrnehmung aufgerufen. Dabei wird sorgfältig differenziert: Aufmerksamkeit erscheint als – und nicht: ist – Film, und damit sowohl als Vermitteltes wie als Kunstform. Diese Poetik des Gedichts verbindet den unmittelbaren Ausdruck – Reaktions- als Redeweisen – mit Medialität und verdeutlicht es als Synästhesie. Mit dem erneut als Vergleich eingeführten Godard-Zitat wird dieser Zusammenhang auf Kunstformen und Gattungen übertragen. Einerseits begegnet das Moment der Entgrenzung in der Verbindung von Film, Essay, Musik, Roman, andererseits ist damit jedes einzelne Mittel partiell und für sich allein nicht in der Lage, den Ausdruck angemessen umzusetzen. Die letzten drei Scheinstrophen bestehen jeweils nur mehr aus einem Satz. Die vierte zitiert den Song Imagine von John Lennon, in dem jedoch gerade diese Zeile nicht vorkommt. Lennon entwirft das utopische Bild einer Welt ohne »heaven«, »countries« und »possessions«,59 und es lässt sich nicht entscheiden, ob die Verszeile Wondratscheks dem eine Absage an das Massenmedium Fernsehen hinzufügt oder die utopische Proklamation ersetzen bzw. auf einen blinden Fleck deuten will (Lennon als Medienprodukt). Die fünfte Strophe bringt weitere Qualifizierungen des Einfachen, diesmal jedoch durch nachvollziehbare alltägliche Situationen. Die Schlussstrophe knüpft an die Identitätsreflexionen an und feiert ein Gefühl, das dem unterzeichnenden Wondratschek verschlossen bleiben muss. Im Zentrum des Gedichts steht die Selbstreflexion, die auf eine reflexive Identität verweist. Insbesondere die Rollenidentität als Autor ist davon betroffen. Das betrifft das Verhältnis zu den künstlerischen Mitteln, die als Ausdrucksmittel nur partiell taugen, in ihrer Verbindung jedoch darüber hinauszuweisen 59 Der Text lautet: »Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try / No hell below us / Above us only sky / Imagine all the people / Living for today. / Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion, too. / Imagine all the people / Living life in peace. / You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I hope someday you’ll join us / And the world will be as one. / Imagine no possessions / I wonder if you can / No need for greed or hunger / A brotherhood of man / Imagine all the people / Sharing all the world. / You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I hope someday you’ll join us / And the world will be as one.« Unpaginiertes Textheft zu John Lennon: Lennon. 4 CDs. EMI 1990 (CDS 79 5220 2).

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vermögen. Die autobiographische Verankerung zeigt, dass es um eine ästhetische Neuorientierung geht, für die der Omnibus einsteht, und zu der im Gedicht einzelne vage Andeutungen gegeben werden. Die Bedeutung des Modells Film, das auf drei verschiedene Weisen eingeführt wird, weist auf eine Erweiterung des avantgardistischen Impulses in Richtung auf Sinnlichkeit. Pop wird hierfür bedeutsam. Das entscheidende rekurrente Schlüsselwort der Verse lautet jedoch »einfach«. Damit gibt es in der Umbruchssituation ein Ziel. Die avantgardistische Phase des Werks war damit abgeschlossen; für die neue Phase, in der Wondratschek zum »Rock-Poeten« werden sollte, lassen sich drei zentrale Konzepte benennen: Autobiographisierung im Sinne der Konstruktion einer Persona, die als authentische Realisierung der Autorschaft gelten soll, Einfachheit im Sinne einer Komplexitätsreduktion des Werks und die Absage an einen politischen Holismus. Beides fließt zusammen in der Erzählung, »wie es zu ›Chuck’s Zimmer‹ kam«: Aber für das Schweigen war ich der falsche Mann. Und irgendwann fing’s dann wieder an. Ich schrieb wie ein Neugeborener, der gerade dabei war, sich selbst zu vernichten, wenigstens das, was noch an ihm dran war an sozialer Identität und literarischer Reputation. Durfte ich reimen, während sich die ganze linke Elite in den tagespolitischen Kommunismus einfädelte?60

Nach Erscheinen von Omnibus tauchte Wondratschek erst nach mehr als zwei Jahren wieder auf.

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Chuck’s Zimmer erschien 1974 nicht in einem der üblichen Verlage des Literaturbetriebs, sondern im Selbstverlag, den Vertrieb übernahm der »Szene-Versand« Zweitausendeins. Es handelt sich um ein schmales Heft von etwa zwei Bögen, in geklammerter Pappbindung mit einem schwarzen Klebstreifen am Heftrücken. Auf der Vorderseite steht nur »Wondratschek Gedichte/Lieder« in zwei Zeilen am unteren Rand eines Bilds, das eine Aufnahme des Schlosses Neuschwanstein zeigt.61 Wiederum ist dem Band ein auf der Rückseite abge60 Wondratschek: Ich bin ein Zehn-Prozent-Autor (wie Anm. 54). 61 »Wieviel Klarheit stand mir zur Verfügung, als ich nach einem Sprung in das schöne Schwimmbecken des Dr. Müllerschen Volksbads beschloß, nicht mehr so rasch aufzutauchen und wenig später durch den Nebel von Murnau den Alpen entgegenfuhr, um mir–versunken noch in den Rausch der vergangenen Nacht – in Neuschwanstein das Königsschloß anzuschaun, dieses mächtige Monument eines Trunkenen, der das Entsprechende unternommen hatte, zur Zeit der preußischen Könige. Unsere Begegnung fand statt, wir sprachen miteinander in der schönsten Art, die unsere schwermütig klare und, was die geschmähten

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drucktes Gedicht beigegeben, das eine Parataxe einzelner Bilder bietet, von denen einige erkennbar aus populärkulturellen Zusammenhängen stammen und als objets trouv8s montiert sind. Der Zusammenhang der einzelnen Verszeilen ist nur mehr atmosphärisch nachzuvollziehen; es fehlt ein integrierender Rahmen. Die letzte Verszeile stiftet eine Kontinuität zum Omnibus. Es singt Gott Es bringt Geld Es finanziert die Liebe Bald wird es Nacht werden Gloria Lautlos wie ein Mord im Smoking Das Gefühl verstärkt sich Das restliche Fleisch wird entworfen Plasticman meets the Thing Ein toter Mann bedient den Reaktor Handgriffe die langes Zaudern unmöglich machen Imagine There’s NO tv62

Das Bändchen enthält 37 Texte, die sich auf die beiden Typen »Gedichte« und »Lieder« verteilen. Die Gedichte sind freirhythmische, prosanahe Formen, während die Lieder den Schematismus von Strophe und Refrain aufweisen. Darüber hinaus gibt es eine Binnengliederung durch zwei Motti. Das erste Motto steht am Anfang des Buches; es stammt aus der deutschen Übersetzung des Vorworts zu Aldous Huxleys Roman Brave New World: »Zur Zeit als das Buch verfaßt wurde, war dieser Gedanke, daß den Menschen Willenskraft gegeben sei, damit sie zwischen Wahnsinn einerseits und Irrsinn andererseits wählen, etwas, das ich belustigend fand und für möglicherweise durchaus wahr hielt.« Aldous Huxley »Brave New World« [CZ 7]63

Das Motto leitet einen Themenstrang ein, der sich in vielen Gedichten findet. Er signalisiert eine Absage an individuelle Souveränität und die daran geknüpften Überzeugungen. Als Metaisierung verbindet es zwei Aussageebenen miteinander : Zum einen bezieht es sich nach innen auf das vorliegende Buch; zum anderen nach außen auf die Ebene der Autorkonstruktion und verstärkt damit die hegelianische Konvention des Lyrischen als Aussprache eines Autorsubjekts. Es formuliert eine Absage an die früheren politischen Überzeugungen, das politische Engagement, die politische Pop-Deutung. Der Bezug auf Huxleys Roman, Gefühle angeht, so äußerst unvollkommene Sprache zuließ.« Wondratschek: Ich bin ein Zehn-Prozent-Autor (wie Anm. 54). 62 Wolf Wondratschek: Chuck’s Zimmer. Gedichte/Lieder. 21. Aufl. Frankfurt am Main 1979, Rückseite. [=Im Folgenden: CZ] 63 Das Zitat findet sich in: Aldous Huxley : Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Frankfurt am Main 1977, S. 7. (Fischer-Taschenbuch).

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die Anti-Utopie Brave New World, ist eine verschlüsselte Absage an die den politischen Aufbruch der sechziger Jahre prägende Ausrichtung auf das Utopische. Die Situationen und Aussagen der Gedichte werden aus dem Rahmen einer politisch-utopischen Schematisierung herausgenommen und enttotalisiert. Das zweite Motto erscheint nach etwa einem Drittel des Bandes: »Nach einer langen Zeit beweg ich mich endlich Es ist drei Uhr nachmittags Zehn Jahre sind vergangen« (Chuck) [CZ 23]

Es respondiert dem ersten Motto, indem es erneut eine Veränderung thematisiert, einen Stillstand von zehn Jahren, und eine zeitlich fixierte Bewegung. Der Zeitraum ist nur metaphorisch als Bewegungslosigkeit zu verstehen. Es ist kein Kontext erkennbar. Das Chuck zugeschriebene Bild zeigt kaum merkliche Brüche, die ins unbestimmt Offene verweisen. Ebenfalls auffällig ist eine erneute Metaisierung, die sich darin zeigt, dass das Motto nicht einer textexternen Instanz zugeschrieben ist, sondern der fiktiven Figur, die dem Buch seinen Titel gegeben hat. Darüber hinaus ist als poetologische Implikation ein Wechsel ins lyrische Idiom zu vermerken. Drei Bewegungen sind demnach festzuhalten: einmal in einen umgebungslosen Raum hinein, zum zweiten auf eine fingierte Gestalt, schließlich von Prosa zu Vers. Symbolisch betritt der Leser im zweiten Abschnitt des Bandes Chuck’s Zimmer. Die erste Gedichtgruppe umfasst 13 Gedichte, die zweite deren 24. Beide Abteilungen sind gerahmt: Die erste wird eröffnet mit dem Prolog und endet mit Letzte Ausfahrt; die zweite beginnt mit Chuck’s Zimmer und endet mit Das ist die Stunde. Der titelgebende Chuck taucht erstmals, ein einziges Mal in der ersten Abteilung, in High Noon Anna auf. High Noon Anna Chuck ist scharf auf High Noon Anna Aber High Noon Anna ist verrückt Chuck kommt damals 66 in den Laden rein Trifft High Noon Anna Trinkt an ihrer Fanta Und landet auf dem trip Chuck ist scharf auf High Noon Anna Aber High Noon Anna ist verrückt Rutscht nach unten in die Wolken Zum erstenmal im Leben bunt gebogen Beim Rauskriechen aus der Spirale denkt er

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Mann das kann doch nicht sein Daß mir jemand stundenlang hinten am Gürtel zieht Draußen fahren jede Menge Lastwagen durch die Gegend Ein Radfahrer sieht aus als würde er heimlich Grabsteine transportieren Chuck ist scharf auf High Noon Anna Aber High Noon Anna ist verrückt Auf dem Weg in die Klinik findet Chuck endlich eine Parklücke Zuhause kriecht er ins Bett Schlafen denkt er Schlafen antwortet er Ratlos überquert er eine Erde Mondlicht fällt wie Ungeborenes vom Himmel Chuck will etwas sagen im Hinblick auf die Fanta Unmöglich [CZ 17]

Chuck erfährt eine auf das Jahr 1966 datierte Initiation durch einen »trip«, vermutlich ausgelöst von in der Fanta enthaltenem LSD. Die Folge ist die Erfahrung einer Wahrnehmungserweiterung während des Rausches. Zwischen den Erfahrungen und ihrer Versprachlichung ist keine Vermittlung möglich. Der sachlich-prosaische Tonfall der gleichwohl metrisch organisierten, in der Regel alternierenden Verse sorgt für eine neutral bleibende Schilderung. Der Text ist eines der Lieder, er enthält drei Scheinstrophen unterschiedlichen Umfangs. Der Refrain wiederholt die Grundsituation, wobei Chucks Begehren durch das Anna charakterisierende Adjektiv »verrückt« gefährlich ist. Chuck befindet sich in der Situation, die das Huxley-Motto beschrieb. Wie das zweite Motto erwarten lässt, ist Chuck die dominante Figur der zweiten Abteilung. Eröffnet wird diese Gruppe durch das Gedicht Chuck’s Zimmer, das mit dieser Stellung wie durch den Titel herausgestellt wird. Chuck’s Zimmer Chuck wacht auf Die Erde ist leer Hunde streunen um die Kommode Neben dem Plattenspieler liegt eine Art Schlagzeuger In der andern Ecke liegt der Rest Die Mädchen die Haferflocken essen sind auch da Alles komplizierte Menschen denkt Chuck Steigert seine Aufmerksamkeit Und stößt buff buff die ersten Sätze aus Steht auf um zu duschen Hinter der fünften Wand begegnet er einer Frau Sie wünscht sich angefallen zu werden Breitbeinig wie im Märchen

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Und unglaublich obszön Um ihr Herz das sich nach der Liebe sehnt auf der tätowierten Seele eines alten kostbaren Teppichs verbluten zu lassen Too late To be legal Too late To be legal Chuck streicht sein Zimmer schwarz an Montiert den alten Ventilator an die Decke Legt seine Hand in ein leeres Wasserglas Zündet mit der andern sein Frühstück an Das Feuer greift auf seine Schreibmaschine über »Silver« sagt er leise »ist das der pazifische Ozean der dort hinten schwimmt?« Dann verdoppelt Chuck seine Anstrengung den Brand zu ersticken Schaltet den Ventilator ab Nimmt die Hand aus dem Glas Schaut einige Zeit ganz ruhig um sich Meine tägliche Portion Licht denkt er Die Flammen waren den Versuch wert Too late To be legal Too late To be legal Sonntag und schon lange tot Die Leber macht wieder Schwierigkeiten Auch die festen Gegenstände weisen einen weichen Knick auf Zuerst findet er den Lichtschalter nicht Um sich zu orientieren streckt Chuck die Hand aus Schon sitzt die erste Fliege drauf Nur keine Panik denkt Chuck Und geht um sich abzulenken Schuhe kaufen Too late To be legal Too late To be legal [CZ 24f.]

Das Gedicht geht von der Situation des Mottos aus. Die erste Scheinstrophe evoziert das Aufwachen nach einer Party, deren Überreste im Raum verstreut sind. Das Bild irritiert jedoch, da die räumlichen Dimensionen unklar scheinen. Die Enge eines Zimmers ist mit extremer Weite verbunden. In der zweiten Scheinstrophe werden Alltagsverrichtungen Chucks geschildert. Das Inbrandsetzen des Frühstücks durchbricht diese Alltäglichkeit. Die Reihe der Wahrnehmungsirritationen setzt sich fort. Aus Verbindung von Wasser – Wasserglas,

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pazifischer Ozean – und Feuer sowie von Schwärze und Licht ergeben sich Symbolisierungen. Das Feuer ergreift den Alltag (Frühstück), das Werkzeug des Schriftstellers beginnt in Flammen aufzugehen. Die Symbolisierungen ergeben jedoch keine dechiffrierbare Bedeutungsschicht, sondern erweitern den Konnotationsraum aus der Enge des Zimmers in die Unendlichkeit. In der dritten Scheinstrophe verengt sich der Fokus auf Chucks Befinden, seine körperlichen Beschwerden und Wahrnehmungsstörungen, denen er sich durch banale alltägliche Verrichtungen zu entwinden sucht. Die Probleme mit der Leber sind auf den Genuss toxischer Substanzen zurückzuführen. Der dreimalig wiederholte englischsprachige Refrain zeigt, dass sich Chuck außerhalb des Rechts bewegt. Für den gesamten Lyrikband lassen sich drei verschiedene Bezugsfelder benennen, in denen Popkultur relevant ist. Zum einen greift die Form der Lieder auf das Song-Format zurück. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der avantgardistischen Vorgeschichte von Wondratscheks Werk bemerkenswert, denn die Liedform ist eine einfache, archaische, als ursprünglich geltende Form. Ich schrieb Verse, gereimte Verse sogar, und dabei war ich dem Handwerk der Dichtkunst so entwöhnt, wie ein Schuhverkäufer dem Leisten eines Schusters. Ich genoß die Künstlichkeit, die Vierzeiler, alte Versformen, die sich dem Charakter der Volkslieder anglichen, genoß die verrückte Einfachheit, den Reimzwang, das Aufspüren geheimer und wohlklingender Melodien.64

Wondratschek begreift das Lied nicht als natürliche Form, sondern betont dessen Künstlichkeit. Vor dem Hintergrund der avantgardistischen Ablehnung konventioneller Gattungen geht es demnach keineswegs um neue Ursprünglichkeit. Das wird auch dadurch deutlich, dass das Formvorbild der Pop-Song ist, der multimedial angelegt ist – mindestens als Verbindung von Text, Musik, Aufführungssituation und technischer Konservierung.65 Wondratscheks Lieder realisieren davon nur den Textteil, so dass sie als Fragmente gelten müssen. Deutlich wird dies an einem Beispiel, das aus der Sammlung aussticht und zugleich ein Beispiel für das zweite Bezugsfeld darstellt, das über Zitate realisiert wird. Sie reichen von der einfachen Nennung und Anspielung bis hin zu einem vollständigen Text. Chuck’s Zimmer enthält Das Geschenk, eine Kurzgeschichte, die bereits mehrfache mediale Transformationen hinter sich hat. Es handelt sich um The Gift, eine short story mit makabrer Pointe, die Lou Reed im letzten Jahr seines Studiums an der Syracuse Universität geschrieben hat, und die auf Vorschlag John Cales für das zweite Album von Velvet Underground vertont wurde.66 64 Wondratschek: Ich bin ein Zehn-Prozent-Autor (wie Anm. 54). 65 Vgl. Ole Petras: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld 2011. 66 Vgl. Lou Reed: »The Gift«. In: Lou Reed: Texte. Aus dem Amerikanischen von Diedrich Diederichsen. Köln 1992, S. 34–43.

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Bei dieser Aufnahme wird die konventionelle Narration von der musikalischen Umsetzung, die die Handschrift des John Cage-Schülers Cale trägt, durch ein avantgardistisches Arrangement konterkariert. Das Geschenk durchläuft mehrfache Kontextwechsel: Wondratschek übersetzt es aus dem Englischen ins Deutsche, überführt es aus dem avantgardistischen Kontext in einen konventionellen, entkleidet es seiner musikalischen Realisierung, übernimmt es von einer Popschallplatte in einen Lyrikband und vollzieht damit einen Medienwechsel, macht aus der Erzählung ein Prosagedicht, usurpiert schließlich die Autorschaft – allerdings nicht ohne Quellenverweis. Aus dieser Perspektive ist die formal konventionelle Geschichte, in sich abgeschlossen und abgerundet, ein fragmentiertes Artefakt. Das dritte Bezugsfeld schließlich betrifft den Chiffrenwert der Popkultur, als deren zentrale Charakteristika Wahrnehmungsveränderung und Reduktion auf Einfachheit erscheinen. Die sich daraus ergebende Existenzweise ist die eines unentfremdeten Lebens, das jedoch nicht als utopischer Zustand gestaltet wird, sondern als ungerichtet offene Lebensform. Die Figur Chuck ist das Darstellungsmedium dieses Entwurfs. Mit Chuck’s Zimmer begann eine Phase in Wondratscheks Karriere als Autor, in der er dieses neue Paradigma weiter entfalten und erweitern sollte. Ihm folgten Das leise Lachen am Ohr eines anderen (1976), Männer und Frauen (1978) und Letzte Gedichte (1980). Als Diederichsen die Mexikanischen Sonette besprach, hatte Wondratschek jedoch die Rolle des Rock-Lyrikers schon wieder hinter sich gelassen.

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Aber was ist es nur, das die Gedichte heutzutage so anders, so anziehend macht? Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1& 2 (1975)

Wenn der Begriff Pop-Literatur – und sei es nur heuristisch – Sinn ergeben soll, muss er sich auf den ›Pop‹ der letzten sechzig Jahre beziehen und folglich auf Texte, die in diesem Zeitraum entstanden sind. Die Forschungsdiskussion zeigt, dass eine trennscharfe Definition nicht nur schwierig ist, sondern hochgradig abhängig von der zeitlichen, räumlichen und methodischen Position, von der aus sie gegeben wird. Thomas Hecken deutet in seinem Beitrag zum Pop-Diskurs abschließend an, dass und wie die Wissenschaft ihren Gegenstand den Moden und zeitspezifischen Schreibweisen zu entziehen sucht und ihn dadurch mitunter selbst hervorbringt.1 Folgt man hingegen Eckhard Schumacher, stellt gerade die unmittelbare Gegenwart das zentrale Paradigma der popkulturellen Ästhetik dar.2 Im Unterschied zur – die Attribute sind divers – hohen, schönen, ernsthaften, komplexen, artistischen, artifiziellen Literatur schreibt sich Pop nicht nur, wie Paul Celan es ausdrückt,3 von einem bestimmten Datum her. Pop erschafft diesen Moment und konserviert ihn und seine Derivate im Medium der Kunst, gerade so, als könne das Erlebnis zwischen Buchdeckeln, auf Vinyl, Zelluloid und Leinwand festgehalten werden. Pop ist, um diese Konstellation auf den Begriff zu bringen, von der Gleichzeitigkeit einander ausschließender Zugänge geprägt. Einerseits gibt es kaum eine Ästhetik, die so besessen ist vom Gedanken der Fortschreibung und Kontinuität. Andererseits stattet Pop das einzelne Werk mit einer derart geringen Halbwertszeit aus, dass jeder Versuch einer Kanonisierung schon im Moment 1 Vgl. den Beitrag von Thomas Hecken in vorliegendem Band. 2 »Die Aktualität verdankt sich vielmehr erst dem Akt des Schreibens, der in den genannten wie in vielen anderen Fällen auf Lektüreprozesse aufbaut, die das, was aktuell anfällt, aufnehmen und weiterprozessieren – sei es neues und in diesem Sinn aktuelles Material, sei es historisch abgelagertes, längst archiviertes, aber neu entdecktes, in der Lektüre aktualisiertes Material.« Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003, S. 17. 3 Paul Celan: »Der Meridian« (1960). In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Band 3: Gedichte III, Prosa, Reden. Hg. von Beda Allemann, Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt am Main 1983, S. 187–202, hier S. 196.

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der Drucklegung historisch ist. Nick Hornby macht aus diesem Widerspruch bekanntlich ein erzählerisches Prinzip. In seinem Roman High Fidelity4 werden fortwährend Listen erstellt, die keine über den Akt der Äußerung hinausgehende Bedeutung besitzen und das Liebesglück von Hauptfigur Rob sogar fast verhindern: Man heiratet für gewöhnlich nicht Platz Eins (oder Zwei) einer längeren Liste. Praktisch wie systematisch stellt Pop ein kompliziertes Miteinander verschiedener bedeutungsgenerativer Prozesse dar, die wuchern, solange ihr Milieu es ihnen erlaubt. Das Sprechen über Pop setzt das Wissen um die relative Reichweite der Antworten voraus, eben weil die Zeitlichkeit ihr herausragendes Merkmal ist. Übersetzt in die Sprache des Films, selbst ein Zeitlichkeitsmedium par excellence, ist Pop der Analyse nur als Snapshot oder Standbild zugänglich. Ich möchte zur Veranschaulichung des von mir unterstellten Referenzsystems ein solches ›Still‹ schießen, und wähle das Jahr 1956, da zu diesem Zeitpunkt Pop in seinen Grundzügen bereits ›fertig‹ ist und jener Film beginnt, in dem auch Rolf Dieter Brinkmann und alle Autoren nach ihm auftreten. 1956 kuratiert Bryan Robertson in der Londonder Whitechapel Art Gallery eine Ausstellung, die den Titel This is tomorrow trägt.5 Zu sehen ist unter anderem eine kleine Collage des Künstlers Richard Hamilton: Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?6 Eine mögliche Antwort auf Hamiltons eher rhetorische Frage gibt Elvis Presley, der im gleichen Jahr seine erste Langspielplatte veröffentlicht. Denn der von Hamilton ebenso konstatierte wie karikierte Materialismus grundiert auch den ersten Titel von Presleys Album: »You can do anything but / lay off of my blue suede shoes«.7 Ganz anders lesen sich die Verse des schwulen Juden Allen Ginsberg, der ebenfalls 1956 sein Gedicht Howl veröffentlicht: »I saw the best minds of my generation, destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the negro streets at dawn […]«.8 Die Konzepte emphatischen Lebens variieren, allen drei Arbeiten gemein ist die Reflexion auf die Alltagskultur und ihre materielle Basis sowie eine hohe Sensibilität für die mitunter problematische Stellung des Subjekts. Systematisch ergeben sich sechs Kriterien für Pop,9 die ich im Folgenden 4 Nick Hornby : High Fidelity. London 1995. 5 David Robbins (Hg.): The Independent Group. Postwar Britain and the aesthetics of plenty. Cambridge u. a. 1990. 6 Richard Hamilton: Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing? (1956) Collage. 26 cm V 24,8 cm. Kunsthalle Tübingen. 7 Elvis Presley : Blue suede shoes. Auf: LP Elvis Presley. RCA 1956, #A1. 8 Allen Ginsberg: »Howl«. In: Ders.: Howl and other poems. Introduction by William Carlos Williams. San Francisco 1956, S. 9–26. (Pocket Poets Series #4) 9 Diese Kriterien erweitern das von mir an anderer Stelle entworfene Modell. Ole Petras: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld 2011.

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kurz erläutern möchte und die als Folie meiner Beschäftigung mit Brinkmann dienen sollen: Erstens vollzieht Pop eine Ablösung von konzeptioneller Schöpfung und Ausführung. Elvis Presley hat den zitierten Titel »Blue suede shoes« nicht selbst geschrieben; die ebenfalls populäre Version des Komponisten Carl Perkins ist sogar nur ein Jahr zuvor erschienen.10 Hamilton verwendet das Prinzip Collage, das heißt er rekontextualisiert die von ihm aufgefundenen Bilder. Dies hat Auswirkungen auf den ontologischen Status des Werkes, insofern die einzelnen Bestandteile als Zeugnisse einer damals aktuellen Bildsprache lesbar sind. Und auch Ginsberg beansprucht Realitätskonformität: »I saw« lauten die ersten Worte seines Textes. Anders als in der auf Verschleierung ihrer Voraussetzungen bedachten Genieästhetik markieren die Kunstwerke die Schnittstellen zu ihren kulturellen Prätexten.11 Dadurch handelt es sich zweitens nicht nur um individuelle Performances, sondern auch um performative Akte. Die Öffentlichkeit ist aufgefordert, den Akt der Schöpfung zu beglaubigen.12 Gerade am Beispiel von Elvis lässt sich zeigen, dass der ästhetische Impuls nicht abhängig ist von der konzeptuellen Eigenleistung, sondern von der möglichst effektvollen Verdichtung vorhandenen Materials. Stellt man Hamiltons Collage ein Gemälde von beispielsweise Willem de Kooning gegenüber, wird augenfällig, dass die Entautomatisierung der Wahrnehmung auch eine Folge vollständiger De-Kodierung sein kann.13 Hier wie dort entscheidet der Moment über die Wirkung der künstlerischen Geste, was auf grammatischer Ebene der Partizipialkonstruktion in Ginsbergs Text entspricht. Weil der Zeitpunkt über das Gelingen entscheidet, gewinnen drittens solche Faktoren an Bedeutung, die die Aufnahme des Werkes kanalisieren. Zur paratextuellen Einbindung gehören vor allem Titel, aber auch Illustrationen jeder Art, Widmungen, Motti usw. Hamiltons Collage war ursprünglich als Illustration 10 Carl Perkins: Single Blue suede shoes/Honey don’t. Sun Records 1956. 11 Paul Celan verzichtet bekanntlich auf die Nennung der Prätexte seiner Todesfuge (Rose Ausländer, Immanuel Weissglas) und zeigt sich von dem durch Claire Goll (unberechtigt oder nicht) erhobenen Plagiatsvorwurf derart getroffen, dass er in einem Brief an Siegfried Lenz (vom 27. Januar 1962) sogar den Begriff »Endlösung« verwendet. Zitiert nach: Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan – Die Goll-Affäre. Frankfurt am Main 2000, S. 554. In der Popkultur wäre eine solches Szenario existentieller Bedrohung durch den Vorwurf mangelnder Originalität schwer vorstellbar. 12 Die im Nachkriegsdeutschland notorische Meinung, beim Rock’n’roll handle es sich um ›Neger-‹ oder ›Affenmusik‹, verweigert eben diese Zustimmung. 13 Hamiltons amerikanischer Kollege Robert Rauschenberg erzielte 1953 einen ersten Achtungserfolg mit einer sorgfältig ausradierten de Kooning-Zeichnung, was mit der Abstraktion des Bildes auch die damals unangefochtene Autorität des Meisters tilgte. Robert Rauschenberg: Erased De Kooning Drawing. (1953) Ausradierte Bleistiftzeichnung. 64,1 cm V 55,2 cm V 1,3 cm (inkl. Rahmen). San Francisco Museum of Modern Art.

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des Ausstellungsplakats gedacht und gewiss wäre ihre Rezeption anders verlaufen, hätte der Künstler es bei dem paradoxen Titel der Ausstellung belassen: This is tomorrow. Denn wie oben gezeigt, ist es gerade die Referenz auf den faktischen Alltag (»todays homes«), die die Zerrissenheit der Zeit zum Ausdruck bringt. Gleiches gilt für Ginsberg, dessen Debüt den Titel Howl and other poems trägt. Werbewirksam wird hier auf die Hitsingle verwiesen; gleichzeitig ergibt sich eine Spannung zwischen dem unartikulierten, affektiven Geheul und den artikulierten, ästhetisch geformten Gedichten. Dass William Carlos Williams das Vorwort schreibt, Howl Carl Solomon gewidmet ist und bei City Lights Books erscheint, der Verlagsbuchhandlung Lawrence Ferlinghettis in San Francisco, ordnet den Text einem bestimmten literarischen (Um-)Feld zu, das sich zwischen eben diesen Polen – Literatur, Geheul – bewegt. Die Titel der Werke orientieren sich viertens an ökonomischen Gesichtspunkten. Ginsberg ironisiert Genrebezeichnungen, Hamilton imitiert die Sprache der Werbung. Daneben zielen beide Werke auf junge und erstmals auch kaufkräftige Rezipienten, die ihre persönliche Attitüde zunehmend durch die Partizipation am Warenkreislauf bestimmen. Dass Elvis Presley überhaupt eine Langspielplatte veröffentlicht und nicht, wie bislang üblich, Singles, folgt ebenfalls dieser Logik. Denn seit 1956 managt Colonel Tom Parker den Sänger und veranlasst den für damalige Verhältnisse kostspieligen Wechsel von Sun Records zu RCA. Parker wird auch dafür verantwortlich sein, dass Presley in den folgenden Jahren nicht nur allerlei dümmliche Filme dreht, sondern darüber hinaus seinen Wehrdienst ableistet, was John Lennon bekanntlich zu der Bemerkung verleiten wird: »Elvis really died the day he joined the army.«14 Unabhängig von qualitativen Urteilen kartieren alle drei Künstler das ökonomische Spektrum von Pop: Elvis markiert die rein konsumistische Haltung, Hamilton wird der britischen Independent Group zugeordnet, die gewissermaßen den klassischen Kulturbetrieb repräsentiert,15 Ginsberg schließlich steht für Underground und eine bewusste Abkehr vom Establishment. Fünftens zeichnen sich die Werke somit durch den Aufbau einer Künstlerpersona respektive eines nominellen Autors aus, der als akquisitorischer Bezugspunkt fungiert und die mitunter kollektiven Produktionsprozesse bündelt. Besonders augenfällig wird dies im Falle Presleys, der ab seiner zweiten Platte nur noch als Elvis auftritt – wohl wissend, dass es keine Verwechslung geben wird. In diesem Zusammenhang ist außerdem von Interesse, dass die wohl einzig namentlich bekannten Mitmusiker Presleys, Scotty Moore und Bill Black, durch anonyme Studiomusiker ergänzt und schließlich ersetzt werden, die nicht Gefahr laufen, kreative Anteile zu beanspruchen. Hamilton wiederum verzichtet auf eine 14 Vgl. Philip Norman: John Lennon. The Life. New York 2009. 15 Robbins: Independent Group (wie Anm. 5).

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Nennung seiner Quellen; im Unterschied zu Marcel Duchamp, der sein Readymade Fountain bekanntlich nicht mit seinem eigenen Namen, sondern mit dem des Urinal-Hersteller R. Mutt signiert,16 bleibt die Herkunft der Bestandteile von Hamiltons Collage anonym. Inwiefern es Allen Ginsberg gelingt, seine Person mit einer Corona subkultureller Eminenz zu versehen, beweist das Musikvideo zu Bob Dylans »Subterranean Homesick Blues«, in dem Ginsbergs reine Präsenz im Bildhintergrund signifiziert.17 Damit ist sechstens die Einspeisung des Werkes in ein popkulturelles Referenzsystem erreicht. Denn Popkultur antizipiert die Mitarbeit des Rezipienten an der Bedeutung des Werkes. Viel stärker als in der sogenannten Hochkultur, deren evolutionäre Prinzipien auf Verdrängung beruhen, schreibt sich der Pop in bestehende Muster ein, variiert und überbietet sie, attribuiert sich mit ihnen und bedeutet umso mehr, je weitreichender die Verknüpfungen sind. Dies liegt im Fall von Elvis auf der Hand; allein das Cover seines Debütalbums ist Gegenstand zahlreicher Ableitungen geworden.18 »Before Elvis«, soll John Lennon gesagt haben, »there was nothing.«19 Die notwendige Bedingung dieses Verfahrens ist bekanntlich die Tilgung axiologischer Differenz, das heißt die schlichte Leugnung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Hamilton integriert in seine Collage nicht nur Bodybuilder und eine Staubsaugerreklame, sondern auch ein Ölgemälde, das neben einem Comic an der Wand hängt. Ginsbergs Schreibduktus lässt neben dem Geheul der Jugend den Ton T. S. Eliots oder Ezra Pounds hören, die man nur unter größten Anstrengungen der Popkultur zuordnen könnte. Die Pointe aller drei Werke besteht darin, dass die sichtbar gemachte Interpretationsarbeit des Künstlers zum Muster für die Interpretationsarbeit des Rezipienten wird. Wir sollen etwas anstellen mit diesen Dingen, sollen ihnen durch den Akt der Rezeption eine Bedeutung verleihen, die über ihre Bedeutung im Sinne reiner Dekodierung hinausgeht. Erst in diesem letzten Schritt entfaltet sich die volle Komplexität von Popkultur.20 Man hat es, um die vorangegangenen Überlegungen zusammenzufassen, immer dann mit einem Erzeugnis der Popkultur zu tun, wenn die folgenden sechs Ebenen der Zeichenbildung bedient werden, nämlich: 1. Die Ebene der Konzeption, das heißt die Markierung von Schnittstellen und kulturellen Prä16 Marcel Duchamp: Fountain. (1917) Porzellan Urinal. Original verloren. 17 D. A. Pennebaker : Dont look back. USA 1967. 18 Am prominentesten ist vielleicht Ray Lowrys Ableitung für The Clash: LP London calling. CBS 1979. 19 Die Herkunft dieses Zitates ist nebulös, es wurde aber mittlerweile so oft wiederholt, dass seine Authentizität letztlich irrelevant ist. Vgl. zur Bedeutung Presleys für die Beatles: Norman: John Lennon (wie Anm. 14). 20 Leider ist dies auch der Punkt, an dem es in einem Großteil aller Diskussionen um persönliche Meinungen und Neigungen geht, die in vorliegendem Entwurf nur als Parameter, nicht aber von inhaltlicher Relevanz sind.

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texten, 2. Die Ebene der Produktion, das heißt die Kennzeichnung der Schöpfung als performativem Akt, 3. Die Ebene der Illustration, welche auf eine Senkung der Zugangsvoraussetzungen hinarbeitet, 4. Die Ebene der Distribution, das heißt die Orientierung an ökonomischen Prozessen, 5. Die Ebene der Akquisition in Form der Etablierung nomineller Autorschaft, 6. Die Ebene der Rezeption, welche den Aneignungsprozess umfasst und eine grundsätzlich diverse Anzahl von Schnittstellen eröffnet. Strukturell gesehen übersetzt dieses Muster Roman Jakobsons linguistisches Kommunikationsmodell21 in ein solches der popkulturellen Ästhetik und genau darum geht es: Die Kommunikation mit und durch Kunst respektive die im Medium der Kunst ausgetragene Kommunikation über Kommunikation.22 Es versteht sich, dass nicht alle der von mir genannten Ebenen in jedem Fall von gesteigertem Interesse sein müssen; allein die Möglichkeit der Zeichenbildung sollte bestehen und mit ihr die Dehierarchisierung der einzelnen Zeichen (bzw. signifizierenden Einheiten). Pop ist, diesem Definitionsversuch zufolge, ›Art in progress‹. Pop negiert die Einheit und Abgeschlossenheit des Werkes und setzt an seine Stelle eine wuchernde, interaktive, immer neu zu aktualisierende und damit individuelle Sinngebung. Die Komplexität von Pop resultiert somit aus der Integration rezeptiver Prozesse in die künstlerische Konzeption; Pop entsteht zuallererst aus Partizipation und verweigert den Aufbau eines letzten Signifikats: »Die Geschichtenerzähler machen weiter«, so beginnt Rolf Dieter Brinkmann seine Vorbemerkung zu Westwärts 1& 223, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, Tag und Nacht machen weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden […]. (W 7)

Der fragliche Band erscheint 1975 und liefert die Summe eines fast fünfjährigen Hiatus, in dem Rolf Dieter Brinkmann Stipendiat der Villa Massimo in Rom24 sowie Gastdozent des German Department der Universität Austin/Texas war. Nimmt man den verhängnisvollen, weil mit dem Unfalltod des Dichters en21 Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik« (1960). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt am Main, S. 83–121, hier S. 88. 22 Vgl. in diesem Zusammenhang Luhmanns Verständnis von Kommunikation als »koordinierte[r] Selektivität«. Niklas Luhman: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 212. 23 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1& 2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 2005 [1975] S. 5. [=im Folgenden: W Seite] 24 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamurg 1979.

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denden London-Aufenthalt hinzu, muss die titelgebende Himmelsrichtung als Ausdruck einer topographisch eben nicht festgelegten, nicht festlegbaren Suche gelten, deren Bewegungen ich im Folgenden nachzeichnen möchte. Dabei geht es nicht in erster Linie um die vordergründige Zuordnung zum Genre Pop-Literatur, sondern darum, und das wäre auch die These, Pop als Möglichkeitsbedingung des Brinkmann’schen Œuvres zu bestimmen. Gerade weil die Popkultur die Werkeinheit infrage stellt, werden bei Gelegenheit andere Texte und Medien hinzugezogen. Methodische Folie ist, wie erläutert, die Annahme, dass Pop auf verschiedenen Ebenen Zeichen bildet, die dem ›close reading‹ (mit der Betonung auf ›reading‹) nur bedingt zugänglich sind.

1.

Ebene der Konzeption: Schnittstellen und kulturelle Prätexte

Es ist eine Eigentümlichkeit von Literaturkritik und Literaturwissenschaft, dass sie die hochkulturell gebotene Innovativität bisweilen selbst generieren. Der Kritiker Harald Weinrich reflektiert in der ZEITvom 9. Mai 1975 auf das formale Spektrum der Westwärts-Gedichte. Allen voran die titelgebenden Texte belegt er mit dem Begriff des »Flächengedichts«, was ihn an Arno Schmidt erinnere, sonst aber »durch die Westwärts-Orientierung von Bargfeld ebenso weit entfernt [sei] wie von Vechta«.25 Im Vorwort der Gedichte in Einzelinterpretationen übernimmt Herausgeber Jan Röhnert das Urteil Weinrichs und erkennt im Flächengedicht das »in besonderer Weise Neue und Innovative des Bandes« respektive »Brinkmanns ureigenste Form des langen oder längeren Gedichts«.26 Dies wäre ungleich plausibler, hätte Brinkmann nicht 1970 im März-Verlag eine Sammlung der Texte Ted Berrigans herausgegeben, der sich eben dieser Form des Flächengedichts bedient.27 Brinkmann hat außerdem, was in diesem Zusammenhang vielleicht noch wichtiger ist, Berrigans Langgedicht »Tambourin life« in die Anthologie Silverscreen übernommen, die bereits 1969 bei Kiepenheuer & Witsch erschien und als ausgewiesene Folie auch der eigenen Produktion fungiert.28 In den begleitenden »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie« heißt es: 25 Harald Weinrich: »Gedichte, wie eine Tür aufzumachen«. In: Die Zeit vom 9. Mai 1975. 26 Jan Röhnert: »Einleitung«. In: Ders., Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, S. 383–388, hier S. 386. 27 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot. Hg. und übersetzt von Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt am Main 1970. 28 Ted Berrigan: »Tambourine Life« (1966)/»Tambourin-Leben« (übersetzt von Carl Weissner). In: Rolf Dieter Brinkmann (Hg.): Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Köln 1969, S. 230–247, 67–91.

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Diese Anthologie hat ein einfaches Prinzip: das Interesse des Herausgebers. Es gab eine Menge neuer amerikanischer Gedichte, die ihm gefielen. Später zeigte sich, daß die ausgesuchten Gedichte nicht nur die privaten Interessen des Herausgebers zeigten, sondern ein Gesamtbild ergaben von dem, was ›neu‹ an den Gedichten ist. […] Ich meine, daß in ihnen Gegenwart enthalten ist. Eine Sensibilität, die sich nicht in Erinnerungen ergeht. Alles ereignet sich nur jetzt, in einem Augenblick, und in diesem Augenblick ist die Person, die schreibt, anwesend.29

Mir scheint hiermit auch der konzeptionelle Schlüssel zu den Westwärts 1& 2 dominierenden Schreibweisen gegeben zu sein. Brinkmann identifiziert einen bestimmten Zugang zur Lyrikproduktion, der seinen eigenen Vorstellungen entspricht, und propagiert diesen als ›state of the art‹. Integratives Kennzeichen ist die Fokussierung des Schreibaktes beziehungsweise die aus den Texten deduzierbare Anwesenheit des Künstlers. Damit erhält auch die eingangs erwähnte Adresse des (notwendig subjektiven) Moments Einzug in die Kunst und mit ihr die ästhetische Nutzbarmachung der Rezeption. Weiter heißt es: Was ist da und fordert sie heraus? Fügen Sie das den Gedichten, die sie mögen, hinzu. In dem Augenblick werden es Ihre Gedichte, und Sie gehören zu den Gedichten. Eine einheitliche Sensibilität jenseits vorhandener Sprachbarrieren entsteht. Keiner ist ausgeschlossen.30

Man kann nicht oft genug betonen, dass es eben dieser Akt der Aneignung ist, der produktive Effekte zeitigt; nicht umsonst setzt sich John Lennon, wie die Zitate zeigen, auch dann noch mit Elvis auseinander, als sein eigener Status als Popstar schon unangreifbar ist. Wie dieser Prozess der affirmierenden Lektüre im Detail aussieht, zeigt Brinkmanns Nachwort zu der 1970 zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Prosa-Anthologie Acid.31 Die oft als Slogan herangezogene Überschrift »Film in Worten« zitiert Jack Kerouacs poetologische Skizze »Belief & technique for modern prose« aus dem Jahr 1959. Dort heißt es unter Paragraph 26: »Bookmovie is the movie in words, the visual American form.«32 Interessant ist, was Brinkmann daraus macht. Denn auf das schon relativ frei übersetzte Zitat, »›Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‹ (Kerouac)«, folgt der konsekutive Transfer der Idee: »… ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster […]«.33 Nicht Wort für Wort sollen die laufenden Bilder in 29 Rolf Dieter Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«. In: Brinkmann: Silverscreen (wie Anm. 28), S. 7–32, hier S. 9. 30 Brinkmann: Silverscreen (wie Anm. 28), S. 10. 31 Rolf Dieter Brinkmann: »Der Film in Worten«. In: Ders., Ralf-Rainer Rygulla: Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek bei Hamburg 1983 [1969], S. 381–399. 32 Jack Kerouac: »Beliefs & technique for modern prose«. In: Evergreen Review 2 (Spring/ 1959), S. 57. 33 Brinkmann: Film in Worten (wie Anm. 31), S. 381.

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Literatur übersetzt werden, sondern, frei nach Luther, Sinn für Sinn. Die in diesem auf das Präsens der Ausführung geeichten Verfahren auftretenden Reibungsverluste bilden meines Erachtens die Grundlage pop-literarischer Schreibweisen; denn die popkulturelle Evolution basiert auf Aneignung, nicht auf Ersetzung. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Nicht die bei Ted Berrigan entdeckte Form des ›Flächengedichts‹ ist von Bedeutung, sondern vielmehr die Tatsache ihrer Aktualisierung, daraus resultierende Reibungsgewinne, nicht zuletzt auch die Attribuierung mit dem Namen des Beat-Autoren.34

2.

Ebene der Produktion: Performanz-Poetik

Der Schluss ist zugegeben paradox: Indem Brinkmann die schöpferische Geste wiederholt und die Schreibweisen der von ihm bewunderten Beat-Autoren aufgreift, gelingt ihm die Schaffung von etwas Neuem, Zeitgemäßen, Eigenem. Eine Bedingung dieser Umformung ist, dass sie als solche markiert wird und das heißt in Form eines performativen Aktes erfolgt.35 Viele der Gedichttitel in Westwärts 1& 2 kommen solchen performativen Akten nahe, weil sie die subsumierten Texte zu Gedichten erklären und somit ihre gattungssensible Rezeption antizipieren: »Gedicht«, »Ein Gedicht«, »Sonntagsgedicht«, »Alltägliches Gedicht«, »Gedicht 30. 10. 74«, »Politisches Gedicht 13. Nov. 74, BRD« oder »Dieses Gedicht hat keinen Titel«. Allein über den Unterschied der ersten beiden Titel ließe sich lange diskutieren. Die reine Gattungsbezeichnung – »Gedicht« – wirkt wie ein Widerspruch zur unterstellten Ansicht, eine »Zerstörte Landschaft mit / Konservendosen« sei kein Sujet für Lyrik, obwohl der Text Strophen aufweist, metrisch organisiert ist und mit einer handfesten Metapher endet: »Ich gehe in ein / anderes Blau.« (W 61) Der unbestimmte Artikel ›ein‹ hingegen scheint die Gattungskonventionen in den Mittelpunkt zu rücken, indem nachfolgend alles aufgelistet wird, was dem Gedicht fehlt: 34 Agnes C. Mueller : »Blicke, westwärts: Rolf Dieter Brinkmann und die Vermittlung ›amerikanischer‹ Lyrik«. In: Gudrun Schulz, Martin Kugel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns, Vechta 2000. Vechta 2001, S. 190–204. 35 Dieser Sprechakt besteht, nach der Definition von John Austin, darin, dass »jemand, der eine solche [performative] Äußerung tut, damit eine Handlung vollzieht« – how to do things with words. Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). (1962/ 75) Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. Stuttgart 2002, S. 30. Klassische performative Akte wären Trauung, Krönung und Fluch. Wie Sybille Krämer anmerkt, ist dabei nicht die Autorität des Sprechers, sondern die Zeugenschaft und Anerkennung durch die Hörer entscheidend. Sybille Krämer : »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 323–346, hier S. 334f.

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Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden. In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind in diesem Gedicht. […] (W 17)

Tatsächlich, so der Eindruck, geht es um das Problem der Repräsentation, wie es Magrittes Gemälde La trahison des image von 1929 thematisiert: »Ceci n’es pas une pipe.«36 Die souveräne Geste des Autors verweist also auf sich selbst; vermittels der Sprache wird eine Handlung vollzogen, die die Sprachhandlung an sich zum Inhalt hat, deren Ergebnis wir Leser bezeugen. Besonders deutlich wird dies, wenn der Titel eines Gedichtes »Dieses Gedicht hat keinen Titel« (W 250–55) lautet, und demnach der performative Akt in einen performativen Selbstwiderspruch verwandelt wird. Mit Blick auf diese Form der Performanz-Poetik bietet sich als Gegenstand und Schreib-Modus der Gedichte – wie nebenbei derjenigen von Wondratschek und Handke auch – die aufgrund ihrer zeitlichen Sukzession immer ganz gegenwärtige Popmusik an. »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs«, bekennt Brinkmann im Westwärts-Vorwort, »leider kann ich nicht Gitarre spielen«. (W 8) Der Band kompensiert dies unter anderem in den Gedichttiteln: »Lied«, »Ein anderes Lied«, »Ein gewöhnliches Lied«, »Lied am Samstagabend in Köln«, »Nach einem alten Tanzlied geschrieben«, »Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land, Nordwestdeutschland, Krieg und Nachkriegszeiten«. Zusätzlich bringt Brinkmann »Einige sehr populäre Songs«, seine »Beobachtungen zu einem Arbeitersong« oder auch den »Donnerstagabend-Blues« in das Medium Lyrik. Die in diesem Zusammenhang adressierte Popmusik anglo-amerikanischer Prägung fungiert dabei nicht nur als formal überlegende Kunst, sondern ermöglicht auch inhaltlich eine Ausweitung der Sinne. »Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen«, so schreibt Brinkmann weiter im Vorwort, »die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.« (W 9) Beide Aspekte, also der performative Schöpfungsakt – Brinkmann erklärt eine Ansammlung von Wörtern zu Gedichten – und ein der Musik entliehener Performance-Begriff – Brinkmann spielt mit, eigentlich nur: spielt Sprache –, beide Aspekte sind auch dort wirksam, wo von Popmusik gar nicht die Rede ist und keine Gattungsdiskussion stattfindet. Deutlich wird dies beispielsweise in dem Gedicht »Variationen ohne ein Thema« (W 193ff.), das mit zwei auch 36 Ren8 Magritte: La trahison des images. (1928/29) Öl auf Leinwand. 63,5 cm V 93,98 cm. Los Angeles County Museum of Art.

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musikwissenschaftlich zu verstehenden Termini überschrieben ist, aber von etwas ganz anderem spricht, namentlich dem begriffsbildenden Potential von Lyrik: »Ein Gedicht die Grenze, danach das Niemandsland.« (W 193) Brinkmann wendet hier die Technik der sprachlichen Verdichtung ephemerer Sinneseindrücke an, wie man sie aus dem Imagismus Ezra Pounds kennt, geht aber, nicht nur was die Länge des Textes betrifft, weit darüber hinaus.37 Denn erst im Gedicht gelingt die Überwindung des Gegensatzes zwischen der Konstruktion von Gegenwart durch erlernte und daher verdächtige Begriffe und dem begriffslosen, weil rein sinnlichen Erleben: »nicht die Negationen der Sprache verstehen, während ich dich zärtlich / berühre, sanft, ohne Scheu & was gesagt ist, vergessen …« (W 195). Ein ähnliches Prinzip grundiert auch die »Improvisation 1, 2 & 3 (u. a. nach Han Shan)« (W 31f.), wobei die Nennung des auch von Ginsberg und Kerouac geschätzten chinesischen Dichters Han Shan ein textuelles Szenewissen dokumentiert, das den eben skizzierten Gegensatz erneut in einen Widerspruch verwandelt. Wie an Richard Hamiltons Collage ablesbar, hat die Popkultur kein Problem damit, an etwas zu partizipieren und es gleichzeitig zu problematisieren, sei es der Warendiskurs oder, wie in diesem Fall, die gesellschaftlichen Realitäten: Klack, klack: die Gesellschaft ist das Abstrakte, du hörst die vielen Geräusche der Schuhe, es ist dasselbe unendliche Geräusch, das die Welt erfüllt, überall, wo du bist. (W 31f.)

Im Modus romantischer Ironie, das heißt, nach der bekannten Losung, in der Gleichzeitigkeit von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung,38 wird die Gesellschaft als etwas Abstraktes wahrgenommen, das sich aber dennoch in konkreten

37 Einige poetologische ›Mahnungen‹ Ezra Pounds könnten problemlos von Brinkmann stammen, zum Beispiel: »Es ist besser, im Leben ein einziges image dargestellt zu haben, als dicke Bände zu verfassen.« Und auch die oben angesprochene Betonung der ästhetischen Schnittstellen ist von Pound vorgedacht: »Laß dich von so vielen großen Künstlern, wie du magst, beeinflussen, aber sei so anständig, den Einfluß zuzugeben, oder versuche ihn nicht offen hervortreten zu lassen.« Ezra Pound: »Ein Rückblick« (1918). In: Ders.: Wort und Weise. ›motz el son‹. Ausgewählt und Deutsch von Eva Hesse. Zürich 1957, S. 61–82, hier S. 63 und 65. 38 Friedrich Schlegel: »Kritische Fragmente« (1797). In: Ders.: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. 3. Aufl. München 1971, S. 5–24, hier S. 8.

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Geräuschen äußert, und bindet sich das wiederum abstrahierte »unendliche Geräusch« an eine konkrete Situation des Erlebens: »überall, wo du bist«.

3.

Ebene der Illustration: Schwellen des Textes

Brinkmann etabliert durch die Anwendung der skizzierten Verfahren einen Zugang zur Lyrik, der, wie er selbst weiß, im literarischen Feld der Zeit einzigartig ist. Wohl deshalb sind seinen Büchern eine Vielzahl paratextueller Elemente beigeordnet, die die Rezeption der Gedichte steuern und sie vor allem zuordenbar machen. Ich habe über die spezifische Funktion der Titel gesprochen und bereits drei Begleittexte zitiert, deren Wirkung auf die Wahrnehmung des Werks nicht zu unterschätzen ist. Hinzu kommen im vorliegenden Fall zwei Motti, die, so definiert G8rard Genette ihre Funktion, nicht nur einen Kommentar des Textes darstellen, sondern darüber hinaus durch die Behauptung einer stilistischen oder sonstigen Nähe zum Autor des Mottos signifizieren.39 Das erste Westwärts-Motto stammt von Lewis Carroll und zitiert eine Stelle aus dem fünften Kapitel des Romans Alice hinter den Spiegeln: Der Laden schien voll der merkwürdigsten Dinge zu sein: aber das allerseltsamste war, daß jedes Fach, sobald sie es genauer ansah und herausfinden wollte, was nun eigentlich daraufstand, vollständig leer war, und doch waren die Fächer daneben jeweils bis oben hin total vollgepackt. (W 5)

Mir scheint die Pointe im begrifflichen Transfer der geschilderten Situation zu liegen; meint der ›Laden‹ (shop) im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch ein schlichtes Geschäft,40 erhält die Szene eine andere Bedeutung, liest man für Laden Supermarkt oder Kaufhaus. Brinkmann spielt auf die Illusion der Verfügbarkeit an, welche das moderne Warensystem auszeichnet, und problematisiert damit eine auf Konsistenz abzielende Interpretation seiner Gedichte. Diese sind, so der etwas kokette Vorschlag, ›vollständig leer‹, wenn man versucht, sie zu entziffern, und gleichzeitig, in der naiven Aufsicht, ›bis oben hin total vollgepackt‹ mit westlichen Kulturgütern. Ein solches Kulturgut stellt das zweite Motto (W 10) dar, es handelt sich um 39 G8rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 2001 [1987], S. 153ff. 40 Genaugenommen handelt es sich um ein Geschäft, das von einem strickenden Schaf betrieben wird: »[S]he was in a little dark shop, leaning with her elbows on the counter, and opposite to her was an old Sheep, sitting in an arm-chair, knitting, and every now and then leaving off to look at her through a great pair of spectacles.« Lewis Carroll: »Through the looking-glass« (1896). In: Ders.: The Complete Works. With an introduction by Alexander Woollcott and the illustrations by John Tenniel. London 1939, S. 126–249, hier S. 185.

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einen Songtext des amerikanischen Folkmusikers Loudon Wainwright III., der in identisch gereimten Versen das Interieur eines Flugzeugs beschreibt.41 Die relative Bedeutungslosigkeit solch einer nüchternen Bestandsaufnahme korrespondiert mit der statuierten Inhaltsleere des ersten Mottos. Zusätzlich identifiziert Brinkmann sich – wie das lyrische Ich am Schluss des Textes – im Spiegel des Songs. Die Verse »There was a mirror on the plane / me too« lassen sich eben auch wörtlich auf die Reise des Autors beziehen, der ideell wie faktisch in die Sphäre des amerikanischen Hipstertums vorgedrungen ist. Beide Motti erfüllen also spezifische Funktionen in Bezug auf das Textganze und reflektieren dabei auf die sowohl deutungsaffine als auch deutungsresistente Weltwahrnehmung.42

Abb. 1 Fotografie Dichter auf Parkbank (W 338)

Auch die beiden unpaginierten Fotostrecken am Beginn und Schluss von Westwärts 1& 2 sind nicht nur als Illustrationen des Bandes, sondern ebenfalls als Illustration seiner Konzeption zu lesen.43 Man kann, um es kurz zu machen, 41 Loudon Wainwright III.: »Plane, too«. Auf: Ders.: Album II. Atlantic 1971, #B2. Der vollständige Text lautet: »There was a hipster on the plane / There was a sailor, too / Big business man on the plane / Stewardess, too / I saw a movie on the plane / Grand Canyon, too / Earphone music on the plane / Time magazine, too / Airplane food was on the plane / Airplane coffee, too / Airplane booze was on the plane / Tea and milk was, too / Reclining seats were on the plane / Seatbelts, too / ›No Smoking‹ sign was on the plane / In French and English, too / Hostess button on the plane / Ventilator, too / Vomit bag was on the plane / Oxygen, too / There was a bathroom on the plane / A flushing toilet, too / There was a mirror on the plane / Me, too.« 42 Die Deutungsresistenz schleicht sich sogar in die Abschrift: Brinkmann zitiert »Airplane booth was on the plane / TN Milk was too« (W 10) anstelle von »Airplane booze was on the plane / Tea and milk was too«. Wainwright: Plane, too (wie Anm. 41). 43 Die 140 Schwarzweiß-Fotos zeigen circa 58 mal Baumkronen, 11 mal Straßenschilder und Reklametafeln, 30 mal Straßen, 7 mal Schienen, 55 mal Gebäude, 21 mal Landschaften, 15 mal Personen, davon 3 mal Polizisten und 5 mal eine junge Frau, 2 mal mit Kind, 21 mal Autos,

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motivische Gruppen bilden und diese beispielsweise den Oppositionen Stadt/ Land, Natur/Kultur, Statik/Bewegung oder Privat/Öffentlich zuordnen. Formale Klammer aller Aufnahmen ist ihre technische Defizienz und damit verbunden ein dokumentarischer und eben nicht ästhetisierender Blick. Der Medienwechsel etabliert einen Wahrnehmungsmodus, der sich auch auf die Gedichte anwenden lässt und ihre Zugangsvoraussetzungen senkt, indem er signalisiert, dass ganz offensichtlich keine oder wenig interpretatorische Arbeit nötig oder gewünscht ist, frei nach dem Motto: ›There are pictures in this book / poems, too‹.

4.

Ebene der Distribution: Der Text als Ware

Wenn man eine Ausgabe von Westwärts 1& 2 in die Hand nimmt, um das Motto von Lewis Caroll nachzuschlagen, kann es passieren, dass man es nicht findet. Dies liegt daran, dass es zwei verschiedene Editionen des Bandes gibt, einmal die 1975 bei Rowohlt erschienene, stark gekürzte Fassung des anfänglich geplanten Manuskripts, dann die 2005 erschienene Rekonstruktion der Ursprungsfassung, die zusätzliche Gedichte und einen längeren Essay mit dem Titel »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975)« enthält.44 Interessant ist vor allem die ebenfalls in der erweiterten Fassung vorhandene »Editorische Notiz« von Maleen Brinkmann.45 Denn hier erfahren wir unter anderem, dass Brinkmann, um die Abzüge für die Fotos zu bezahlen, seine Ausgabe von Arno Schmidts Monumentalroman Zettels Traum versetzt hat. Brinkmanns Ehefrau liefert weitere Belege der prekären Situation des Dichters, die an dieser Stelle nur insofern von Belang sind, als sie die ökonomische Dimension des Werkes betreffen. Denn Brinkmann ist, trotz seiner finanziell angespannten Lage, ganz offensichtlich daran gelegen, ein attraktives Artefakt zu schaffen: »Gelbes Vorsatzpapier, ohne Werbung, also Klappentext usw. im Buch, sehr schön muß das werden.«46 Auch Jörg Schröder, der Gründer des März-Verlags, berichtet in dem Schnitte im Atemschutz überschriebenen Brinkmann-Memorial von seiner problematischen Zusammenarbeit mit dem Dichter bei Acid: Die Andrucke dieser fertigen Umschläge schickte ich Rolf Dieter Brinkmann. Er fand sie fürchterlich und kündigte in seiner erpresserischen Art sofort jede weitere Zu3 mal Flugzeuge, 3 mal Züge, 9 mal Denkmäler und Statuen, 1 mal den Dichter auf einer Parkbank, daneben 1 Penner (vgl. Abb. 1). 44 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1& 2. Gedichte. Mit Fotos des Autors. Neuausgabe 17.–23. Tausend Januar 1999. Reinbek bei Hamburg 1999 [1975]. Alle Zitate folgen der erweiterten Neuausgabe (wie Anm. 23). 45 Maleen Brinkmann: »Editorische Notiz«. In: Brinkmann: Westwärts (wie Anm. 23), S. 333ff. 46 M. Brinkmann: Editorische Notiz (wie Anm. 45), S. 334.

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sammenarbeit auf, beschimpfte mich am Telefon und brüllte, er sei doch nicht verrückt, seine Bücher in so einem gelben Einheitsumschlag erscheinen zu lassen, und wenn ich diese Wahnsinnsidee nicht sofort aufgäbe, dann werde er auch alle anderen Autoren dazu bringen, nicht im März-Verlag zu veröffentlichen. Ich sagte ihm: ›Wenn das so anfängt mit deiner neuen Sensibilität und du mich derartig unter Druck setzt, geh, wohin du willst!‹47

Nach seinem Wechsel zu Kiepenheuer & Witsch scheint sich wohl die Perspektive, nicht aber der Gestus gewandelt zu haben. Schröder berichtet weiter : Neven DuMont erzählte mir 1982, ich sei der Mensch, unter dem er am meisten gelitten habe als Verleger, […] weil Brinkmann ihm ständig vorbetete: ›Ja, der Schröder macht es richtig! Ist alles Scheiße, was ihr hier macht!‹48

Unabhängig von seinem eher geringen Verhandlungsgeschick scheint Brinkmann konzise Vorstellungen zu besitzen, wie seine Bücher auszusehen haben und welche verlegerische Politik zu verfolgen ist. Es gibt sicherlich viele Beispiele aus der sogenannten Hochliteratur, die ähnliche Geschichten erzählen; mir kommt es auf die Kopplung der symbolischen und ökonomischen Kapitalsorten an, die hier mehr oder weniger explizit vorgenommen wird. Der Erfolg eines Schriftstellers, und darunter leidet Brinkmann zunehmend, bemisst sich auch an Verkaufszahlen. Insofern ist es eine bittere Ironie der Geschichte, dass Brinkmanns letzter Gedichtband Westwärts 1& 2 zu seinem erfolgreichsten wurde, und dies vermutlich nicht nur, weil der Autor gestorben ist.49 Vielmehr gehen hier erstmals die künstlerische Konzeption und die Ästhetik des Produkts eine emergente Verbindung ein und steht mit Rowohlt, was noch wichtiger ist, ein Verlag hinter dem Buch, der nicht nur über große distributive Kapazitäten, sondern auch über ein entsprechendes Renommee verfügt. Um das adressierte Spektrum aufzuzeigen, ließe sich einerseits Peter Handke als klassischer Suhrkamp-Autor anführen und andererseits auf Wolf Wondratschek verweisen, der seine Bücher zum Teil im Eigenverlag bei Zweitausendeins vertrieben hat.50 Allen drei Fällen gemein ist, dass das popkulturelle Werk seine spezifische Form erst als Ware erhält. Die Neu-Edition von Westwärts 1& 2 setzt, wie beschrieben, die Konzeption des Autors um, und auch die 1980 erschienene Sammlung der frühen Gedichte, Standphotos,51 folgt in ihrer Aufmachung dem Rowohlt-Standard. Eine Sichtung der Handschriften wäre dem47 Jörg Schröder: »Schröder erzählt: Zum harten Kern«. In: Karl-Eckhard Carius (Hg.): Schnitte im Atemschutz. München 2008, S. 124–129, hier S. 127. 48 Schröder : Schröder erzählt (wie Anm. 47), S. 128. 49 Die Neuausgabe des Bandes von 1999 verzeichnet, wie gesagt, das 23. Tausend (vgl. Anm. 44). 50 Vgl. den Aufsatz von Hans-Edwin Friedrich in vorliegendem Band. 51 Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980.

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gegenüber sehr langweilig, es sei denn, es handelt sich um die faksimilierte Bricolage des Dichters, wie sie unter anderem der 1988 erschienene Band Schnitte enthält.52

5.

Ebene der Akquisition: Der Dichter als Popstar

Die Auseinandersetzung mit Schröder macht bereits deutlich, dass Rolf Dieter Brinkmann ein kontroverses Image pflegt. Seine Verteidigung des berühmten Aufsatzes »Cross the border, close the gap« von Leslie Fiedler,53 in dem es bekanntlich darum geht, hohe und populäre Kultur zu versöhnen, überschreibt Brinkmann, Gregory Corso zitierend: »Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter«.54 Der Text macht schnell deutlich, dass Brinkmann nicht nur alte Dichter hasst, sondern vor allem seine deutschen Kollegen wie Helmut Heißenbüttel, Jürgen Becker, Reinhart Baumgart oder Martin Walser, die er als »Schlampen« bezeichnet, als »faul«, »[m]ickrig« und »[k]rämerhaft«.55 Eine andere bekannte Episode – ich beschränke mich auf die Highlights (oder eher : ›Lowlights‹) – berichtet Marcel Reich Ranicki: Ich kann mich an Rolf Dieter Brinkmann sehr gut erinnern. Das war ein ungewöhnlich ordinärer und abstoßender Mensch, er hat in aller Öffentlichkeit und sehr ernsthaft erklärt, dass er das dringende Bedürfnis habe, mich zu erschießen. Das war nicht das erste Mal, dass man mich in Berlin erschießen wollte. Das Publikum in der Berliner Akademie der Künste war empört, ist aufgestanden, die Veranstaltung wurde abgebrochen und beendet.56

Und Bert Brune erinnert sich: Brinkmann war ein Leidender, ein Leidender am Leben. Überall sah er die Welt vertiert, verzerrt, überall fühlte er sich verfolgt, vom Autolärm vor der Haustür, vom Straßenschmutz, ja auch von den Verlegern, die seiner Ansicht nach ihn nur ausnutzen wollten, seine Arbeitskraft mißbrauchen.57 52 Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. 53 Leslie A. Fiedler : »Überquert die Grenze, schließt den Graben« (1968). In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 14–39. Sowie: Leslie A. Fiedler : »Cross the Border – Close the Gap«. In: Ders.: The Collected Essays of Leslie Fiedler. Volume II. New York 1971, S. 461–485. 54 Rolf Dieter Brinkmann: »Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter« (1968). In: Wittstock: Roman oder Leben (wie Anm. 53), S. 65–77. 55 Brinkmann: Angriff (wie Anm. 54), S. 66. 56 Marcel Reich-Ranicki: »Und es wird Sie vielleicht interessieren …«. In: Carius: Schnitte (wie Anm. 47), S. 34. 57 Bert Brune: »Ein Radikaler in Köln. Betrachtungen zu R. D. Brinkmann«. In: Gunter Geduldig, Marco Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, S. 147–152, hier S. 150.

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Diese drei Schilderungen zeigen Brinkmann in drei verschiedenen Rollen, als Kritiker, Autor und Freund; sie entwerfen dennoch ein übereinstimmendes, wenn auch, durch die Auswahl bedingt, einseitiges Bild. Mir geht es um den Aufbau eines akquisitorischen Bezugspunktes, der das Werk bündelt und ihm ein Gesicht gibt. Die Strategie der Skandalisierung, die unter anderem auch Peter Handke mit seinem Auftritt in Princeton verfolgte,58 dient dabei der Aufmerksamkeitsakquise und wird, übrigens von Brinkmann wie Handke, inhaltlich revidiert oder zumindest abgeschwächt. Infrage steht also nicht das übliche Lamento des verkannten Genies – die anderen Autoren sind Schlampen, die Kritiker muss man erschießen, die Verleger nutzen mich aus –, sondern vielmehr die Konturierung der eigenen Autorschaft durch den Aufbau einer Peergroup. Wer sich, wie Brinkmann, von der Welt und/oder dem Literaturbetrieb vernachlässigt fühlt, wer größeres Vergnügen an der Musik der Doors59 hat als an den Romanen Martin Walsers, wer schließlich die gesellschaftlichen Normen als repressiv oder schlicht unpassend empfindet, ist eingeladen, sich mit der Autorfigur zu identifizieren. Die Pointe dieses Verfahrens scheint mir darin zu liegen, dass die Popkultur an diesem Punkt einmal nicht ironisch ist, sondern höchstens ›ironisch‹. Zwar kann man sich, wenn einem die linksliberalen Alternativen zum Hals raushängen, Anzüge kaufen und eine Suite im Adlon mieten, um neoliberal zu konversieren. Aber die ursächliche Abgrenzung von den kulturellen Formationen bleibt davon unberührt. Ein ähnlicher Fall mag bei Brinkmann vorliegen: Seine Pose des Schmerzensmannes lässt sich allzu leicht in Begriffen des Self-fashionings erklären. Die Wahl dieser Pose aber setzt eine Entscheidung voraus, die in Bezug auf das Werk nicht hinterfragbar, weil willkürlich ist. Anders formuliert: Wenn Sinn aus der auf Kohärenz basierenden Verknüpfung verschiedener Zeichen entsteht, unterläuft die Annahme eines eigentlichen Sinns hinter den Zeichen die Sinnhaftigkeit der ganzen Operation. Vielleicht war Rolf Dieter Brinkmann ein liebevoller Ehemann und Vater, vielleicht mochte er Köln, vielleicht nicht, vielleicht ist in seiner Jugend etwas schief gelaufen, vielleicht hat er öfter über Drogen geschrieben als sie genommen. Eine autorzentrierte Lektüre würde versuchen, diesen Dingen auf den Grund zu gehen, um den ›wahren‹ Brinkmann zu fassen und seine Distanz zur Inszenierung zu markieren. In Kontexten von Pop wäre nichts falscher als dies. Denn es gehört zur ersten Spielregel von Pop, dass kein nomineller Autor als solcher bloßzustellen ist, dass alle Kulissen bestehen bleiben und man sich an ihrer Farbenpracht und Originalität erfreut, dass 58 Diese ›Strategie‹ wird vor allem in Handkes nachträglichem Bemühen um Deeskalation deutlich. Vgl. Peter Handke: »Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA«. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main 1972, S. 29–34. 59 Brinkmann: Angriff (wie Anm. 54), S. 66.

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die performativen Akte nicht zu Unglücksfällen werden, weil ihr Handlungscharakter in den Hintergrund tritt. Ein Blick in die Sekundärliteratur zeigt, wie gut das Label ›Rolf Dieter Brinkmann‹ funktioniert, wie also zum Beispiel bestimmte Fotos ikonischen Status erreichen und die Wahrnehmung des Werkes beeinflussen. In diesem auf eine Verschleifung von Person und ›persona‹ zielenden Zusammenhang ist auch der an sich banale Unfalltod in London zu lesen. Eckhart Schumacher hat in dem bereits zitierten Band Schnitte im Atemschutz auf zwei Seiten die zahlreichen Umschreibungen und Deutungen des Dichtertodes dokumentiert. »Der fast exemplarische Tod«, heißt es dort unter anderem, »stellt ihn in die Reihe jener Frühgestorbenen gerade aus der Popmusik, die er so bewunderte.«60 Wir stehen damit schon mit einem Bein auf der sechsten Ebene, welche die rezeptiven Anlagerungen und Fortschreibungen zum Gegenstand hat. Denn im Grunde genommen liefern Sammelbände wie der von Gunter Geduldig und Marco Sagurna, too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann, in ihrer Kompilation biografischer Skizzen nichts anderes als Legenden (wörtlich: Lesarten) des Autorlebens, und zwar in denkbar anekdotischer Form: »Ich war fünfzehn als …«,61 »Zwei Klassenkameraden erinnern sich«,62 »er war zwei Jahre älter als ich, eine Klasse über mir« etc.63

6.

Die Ebene der Rezeption: Schnittstellen und kultureller Progress

Um die anfangs aufgestellte Behauptung aufzugreifen, nach der die Popkultur sich vor allem durch die Eröffnung von Schnittstellen auszeichnet und die ihrerseits produktiv gemachten Akte der Rezeption zum Teil des Werkes werden, wären die Applikationen aufzulisten, die Brinkmanns Texte erfahren haben. Es empfiehlt sich, drei Formen des Umgangs zu unterscheiden: die Ein-Schreibung, welche einem Werk oder Œuvre einen bestimmten Kontext verleiht; die UmSchreibung, welche Bestandteile des Werkes zur Ausbildung eines neuen Textes nutzt; schließlich die Fort-Schreibung, welche als Diskurs vorstellbar ist.64 Brinkmann hat 1973 zahlreiche Tonbänder aufgenommen, die er auf seinen 60 Eckhard Schumacher: »London, Schritte«. In: Carius: Schnitte (wie Anm. 47), S. 154f. 61 Ingeborg Middendorf: »Mehr als ein Rebell«. In: Geduldig, Sagurna: too much (wie Anm. 57), S. 61–65, hier S. 63. 62 O. V.: »›Das wär ihm viel zu blöd gewesen‹. Zwei Klassenkameraden Brinkmanns erinnern sich«. In: Geduldig, Sagurna: too much (wie Anm. 57), S. 31–36. 63 Hermann Rasche: »Brinkmann, Benn und Dr. B. Erinnerungen eines Zeitgenossen«. In: Geduldig, Sagurna: too much (wie Anm. 57), S. 37–45, hier S. 39. 64 Vgl. zur Begrifflichkeit: Petras: Wie Popmusik bedeutet (wie Anm. 9), S. 274–280.

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Streifzügen durch Köln besprach. 2005 wurden diese unter dem Titel Wörter, Sex, Schnitt veröffentlicht;65 im darauffolgenden Jahr kam Harald Bergmanns Film Brinkmanns Zorn in die Kinos, in dem der Schauspieler Eckhard Rohde synchron zu den originalen Tonaufnahmen spielt.66 Diese Verbindung des auktorialen Textes mit pseudo-dokumentarischen Bildern stellt ein Musterbeispiel jener Ein-Schreibungen dar, die unsere Wahrnehmung an eine zwar um Authentizität bemühte, durch die Auffüllung der verlorenen Kontexte aber zwangsläufig arbiträre Darstellung binden.67 Einen ähnlichen Fall stellt die Aufführung der Brinkmannschen Texte durch Akteure des medialen Feldes unserer Zeit dar. 2010 fand eine Lesung des Romans Keiner weiß mehr im Hamburger Szeneclub Übel & Gefährlich statt, an der unter anderen der Schauspieler Robert Stadlober mitwirkte.68 Im Anschluss gab es ein Konzert mit wiederum unter anderen Jens Rachut, Oliver Koch und Peter Thiessen. Thiessens Band Kante veröffentlichte 2006 ein Album mit dem Brinkmann entliehenen Titel Die Tiere sind unruhig.69 Thiessens ehemalige Band Blumfeld hat zahlreiche Lieder aufgenommen, die Phrasen von Brinkmann verwenden, am prominentesten im Lied »Alles macht weiter« vom Album Jenseits von jedem.70 Schorsch Kamerun, der Sänger der Goldenen Zitronen, brachte Westwärts 2008 im Rahmen der Ruhrtriennale auf die Bühne, es existieren andere Theaterfassungen, unter anderem mit Musik von Blixa Bargeld.71 Benjamin von Stuckrad-Barre wählt ein Brinkmann-Zitat als Motto seines 2004 erschienenen Buches Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft72 und so weiter und so fort. Die Identifikation mit dem Werk Brinkmanns und seine Um-Schreibung in Texte der neueren Popkultur zeigen ein analoges Verhältnis zu demjenigen

65 Rolf Dieter Brinkmann: 5CD Wörter, Sex, Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Hg. von Herbert Kapfer und Katarina Agathos. Unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann. Intermedium Records 2005. 66 Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn. D 2005/06. 67 Man muss, kurz gesagt, Lust haben, sich zwei Stunden lang anschreien zu lassen. 68 Lesung Keiner weiß mehr. Mit Robert Stadlober, Julia Hummer, Michael Weber. Musik von Kante. 10. August 2012 Golem, Hamburg. 69 Kante: CD Die Tiere sind unruhig. Labels/EMI 2006. 70 Blumfeld: »Alles macht weiter«. Auf: CD Jenseits von jedem. WEA/ZickZack 2003. Auf einem der vorangegangenen Alben heißt es: »Mit dir / in ein anderes Blau«. Blumfeld: »Tausend Tränen tief«. Auf: CD Old nobody. Big Cat/ZickZack 1999, #2. 71 Theaterstück Westwärts. Ein begehbarer Ausnahmezustand. Texte von Rolf Dieter Brinkmann. Musik von Schorsch Kamerun und Carl Oesterhelt. Inszenierung von Schorsch Kamerun. Ruhrtriennale 2008, Zeche Zweckel (Gladbeck). – Theaterstück Fleisch wucherte rum. Performance basierend auf Texten von Rolf Dieter Brinkmann. Musik von Blixa Bargeld und Oliver Augst. Theaterinszenierung von Elettra de Salvo. Rom 2000. 72 Benjamin von Stuckrad-Barre: Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2. Köln 2004, S. 7.

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Brinkmanns zu den der zitierten Beat-Autoren wie Ted Berrigan, Jack Kerouac oder Gregory Corso. Bleiben die Fort-Schreibungen. Die Forschungsliteratur zu Rolf Dieter Brinkmann ist so divers wie bei kaum einem anderen Autor des späten 20. Jahrhunderts.73 Wie schon beschrieben, überlagern sich Erinnerungsbilder und nüchterne Analysen. Um ein Spektrum zu markieren: Der bereits zitierte Band too much beginnt mit einem Gedicht Wolf Wondratscheks, »Er war too much für Euch, Leute« lautet der kolloquiale Titel.74 Am anderen Ende der Skala steht das zweibändige Werk Gedichte in Einzelinterpretationen, das sich um handbuchartige Prägnanz bemüht. Hier wie dort wird ein Diskurs nicht nur am Leben erhalten, sondern stetig ausgebaut. Weil es sich um einen schon historischen Textbestand handelt, kann dies auch den Erstkontakt zum Dichter affizieren. Pop-Literatur ist, so tautologisch das klingt, zu einem gewissen Grad davon abhängig, populär zu sein. Der von Thomas Hecken geäußerten Vermutung, die Wissenschaft bringe ihren Gegenstand selbst hervor und konstruiere einen Begriff von Pop-Literatur, der in der literarischen Praxis schon keine Rolle mehr spiele, ist daher mit einem Vorschlag zu begegnen. Ganz ohne Koketterie lässt sich über die vorliegende Analyse sagen, dass sie nicht viel Neues über den Band Westwärts 1& 2 liefert; zahlreiche Einzelinterpretationen zum gleichen Thema konturieren die literatur- und kulturhistorischen Zusammenhänge viel klarer als es hier geleistet wurde. Die Zielsetzung bestand vielmehr darin, die Popkultur als strukturelle Folie des besprochenen Bandes zu plausibilisieren und zwar mit Blick auf die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegende terminologische Fragestellung. Wenn nämlich gilt, dass ein enger Begriff von Pop-Literatur essentiell nicht zu bestimmen ist und ferner die Gefahr besteht, den Gegenstand mit seinem Beschreibunsginventar zu schöpfen, empfiehlt sich eine Vergrößerung der analytischen Distanz. Der Vorschlag besteht wie gesagt darin, alle Werke der Popkultur zuzuordnen, die die aufgeworfenen Ebenen der Zeichenbildung bedienen, unabhängig von ge73 Monografien der letzten Jahre: Roberto Di Bella: »… das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. – Angela Bandeili: Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre. Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke. Bielefeld 2014. – Oliver Kobold: Lange nachdenkliche Gänge. Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik und Prosa 1959–1962. Heidelberg 2014. – Klaus Rümmele: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. – Stephanie Schmitt: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. – Jens Uthoff: Flickermaschine und Leuchtschrift. Wahrnehmung und Bewusstsein in mediatisierten Lebensräumen bei Rolf Dieter Brinkmann und im Frühwerk Peter Handkes. Bremen 2012. – Tobias Zier : Literarische Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte. Evidenzverfahren in den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmanns. Bonn 2012. 74 Wolf Wondratschek: »Er war too much für Euch, Leute. Zum Tod des Dichters Rolf Dieter Brinkmann«. In: Geduldig, Sagurna: too much (wie Anm. 57), S. 11–15.

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1& 2 (1975)

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schmacklichen oder axiologischen Differenzen, unabhängig auch von disziplinär umkämpften Gattungszuordnungen. Denn für den Forscher gilt genauso wie für den Dichter : »Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.« (W 9)

II. Die 80er und 90er Jahre

Nikolas Buck

»Keine Problemliteratur mehr in den 80ern!« Joachim Lottmanns Mai, Juni, Juli (1987) im Spiegel zeitgenössischer Autorschaftsdebatten

1.

Einleitung

Als Ende der 1990er Jahre die dritte Welle deutscher Pop-Literatur anrollte, wurde diese in erstaunlich geringem zeitlichem Abstand Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.1 In den dabei allerorten anzutreffenden Historisierungsversuchen, vor allem bezüglich der Frage nach dem Verhältnis dieser neuen Generation von Pop-Literaten zu den Strömungen der 1960er und 1980er Jahre, fand ein Autor, der Mitte der 1980er Jahre zum einflussreichen Kreis um die Kölner Zeitschrift Spex gehörte, zunächst nur peripher Erwähnung: Joachim Lottmann. Erst mit der Aufnahme seines Erstlings Mai, Juni, Juli (1987) in den Kanon der »wirkungsvollsten Bücher der letzten zwanzig Jahre«2 durch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Jahr 2002 sowie der Neuauflage dieses Romans im Verlag Kiepenheuer & Witsch im Folgejahr kam es zu einer eindrucksvollen Umdeutung seiner Rolle für die Entwicklung der deutschen Pop-Literatur – wie der folgende Ausschnitt aus der ›Kanon-Rezension‹ von Volker Weidermann überdeutlich zeigt: Dieser Roman war der Anfang, der Anfang von vielem, großem, schönem, lebensgenauem, was in den neunziger Jahren zu erleben und zu lesen war, war der Anfang von einer Zeit, in der »Schriftsteller gerade bei der des Barbarentums verdächtigten Ge-

1 Die ersten Monographien erschienen bereits Anfang der 2000er Jahre: Vgl. Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg 2001. Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002. Neben einigen weiteren Überblickswerken sind mittlerweile sogar entsprechende Einführungen für Bachelorstudenten erhältlich, von der ungeheuren Zahl von Einzelstudien zu Autoren dieser neuen Generation der Pop-Literatur einmal ganz abgesehen. Die Frage nach dem engen Wechselverhältnis zwischen der Pop-Literatur, ihrer großen medialen Präsenz sowie der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr verdiente mittlerweile sicherlich eine eigene Studie. 2 Volker Weidermann: »1987 – Ein Buch rennt nach draußen«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. März 2002.

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neration um die dreißig wieder als erstrebenswerter Beruf galt«, wie Willi Winkler einmal schrieb. War der Anfang vom neuen, schönen, großen Lebensschreiben.3

Nunmehr gilt Joachim Lottmann als einer der »Begründer der Popliteratur«4 und sein Roman Mai, Juni, Juli als »Gründungsurkunde des deutschen Popromans«5. Die veränderte öffentliche Wahrnehmung Lottmanns resümiert Olaf Karnik im Deutschlandradio: Stichwort Popliteratur – erst durch Lottmanns Vorarbeit: sein umherschweifendes Schreiben, seine unverfrorene Aufzeichnung banaler Alltagsbeobachtungen, motiviert von kecker Selbstermächtigung – erst dadurch seien zeitgenössische Pop-Autoren wie Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre zu ihren Schriften ermutigt worden. So sieht es die Literatur-Kritik heute.6

Das ›Epigonentum‹ von Autoren wie Kracht und vor allem Stuckrad-Barre wird dabei hauptsächlich an Stilanalogien festgemacht. Ihnen wie auch Lottmann wird ein »umherschweifendes Schreiben«, ein Hang zu »ausufernden Wirklichkeitsprotokollen«7 und »selbstironischen Tabubrüche[n]«8 oder auch die Verwendung einer »überaus saloppen Sprache«9 attestiert. Diese Beobachtungen mögen zwar allesamt ihre Berechtigung haben. Doch dürfte die Ursache dafür, dass Lottmann eine Vorreiterrolle für die Pop-Literaten der 1990er Jahre zugesprochen wird, vornehmlich woanders zu suchen sein – erinnert sich doch beispielsweise die ehemalige Weggefährtin Clara Drechsler auf die Frage, ob sie Mai, Juni, Juli schon Ende der 1980er Jahre als eine Art »Blaupause« für eine neue Form der Pop-Literatur empfunden habe, dass sie sich dessen damals nicht bewusst gewesen sei: [I]ch habe eigentlich gedacht, dass ›Mai, Juni, Juli‹ aus so was rauskommt – also eben aus einer bereits vorhandenen oder sich anbahnenden Popliteratur. Also, als revolu-

3 Weidemann: 1987 (wie Anm. 2). 4 Gerrit Bartels: »Der große Lügeneimer (02)«. In: Der Tagesspiegel vom 14. Februar 2010. Auffällig ist, dass die genannten Zuschreibungen meist im Modus eines Gerüchts präsentiert werden und stets auf die besondere Rolle, die Lottmann angeblich selbst bei der Streuung dieser Gerüchte spielte, hingewiesen wird. 5 Wolfgang Schneider : »Gut gelogen«. In: Deutschlandradio am 9. Oktober 2007, verfügbar unter : http://www.deutschlandradiokultur.de/gut-gelogen.950.de.html?dram:article_id=135 502, letzter Zugriff: 31. Juli 2015. 6 Olaf Karnik: »Sexbeat«. In: Deutschlandradio am 23. Mai 2003, verfügbar unter: http:// www.deutschlandfunk.de/sexbeat.700.de.html?dram:article_id=80896, letzter Zugriff: 31. Juli 2015. 7 Markus Schneider: »Vom Zeitgeist genervt«. In: Berliner Zeitung vom 14. Juli 2003. 8 Joachim Förster : »Dem Leben den Hintern zeigen«. In: Die Welt vom 26. Juli 2003. 9 Sascha Seiler: Das einfache wahre Abschreiben der Wirklichkeit. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006, S. 234.

Lottmanns Mai, Juni, Juli (1987) im Spiegel zeitgenössischer Autorschaftsdebatten

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tionär habe ich das damals eigentlich nicht empfunden. Neu war an diesem Roman eigentlich nur – Lottmann war das Neue.10

Das »Neue« an Lottmann – so die Ausgangsthese dieses Beitrags – ist dabei nicht nur im zum Teil zweifelhaften Umgang mit den Schriftstellerkollegen, sondern auch im sensiblen Bewusstsein für eine neue Positionslage des im Wandel begriffenen literarischen Felds zu suchen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der ausgreifenden Thematisierung derselben wider. Denn bei Mai, Juni, Juli handelt es sich nur insofern um ein »Lebensschreiben«, als damit eine permanente Reflexion des Schriftsteller-Ichs über die sich spätestens in den 1980er Jahren drastisch verändernden Bedingungen von Autorschaft in der Bundesrepublik verbunden ist, die wiederum den Stil und die Sujets der neuen Schriftstellergeneration sowie ihr Auftreten in und die Interaktion mit der massenmedialen Öffentlichkeit in gehörigem Maße beeinflussen. Diese Reflexionen nehmen in spezifischer Weise die Position der Pop-Literaten im literarischen Feld der 1990er Jahre und ihren im Vergleich zur Generation der Nachkriegsautoren stark veränderten Habitus vorweg. Zum ersten Mal umfassend öffentlich diskutiert werden diese Veränderungen im literarischen Feld der Gegenwart erst einige Jahre nach dem Erscheinen von Mai, Juni, Juli: Im sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit wird die »Gesinnungsästhetik«11 des ehemals dominierenden ›engagierten‹ Autorentypus als nicht mehr zeitgemäß kritisiert und das – nach Ansicht der beteiligten Kritiker längst überfällige – »Ende der Nachkriegsliteratur«12 proklamiert. In den nachstehenden Ausführungen wird es daher um die Frage gehen, welche Konzepte von Autorschaft in Joachim Lottmanns Roman Mai, Juni, Juli verhandelt werden, inwieweit die Autorfigur eine Alternative zu diesen etablierten darstellt und – daran anschließend – ob diese Alternative als Ausdruck allgemeiner Entwicklungen im literarischen Feld der Gegenwart gelten kann. Bevor diesen Fragen nachgegangen wird, erscheint es jedoch zunächst geboten, die erwähnten Veränderungen auf einer theoretischen Ebene nachzuverfolgen – auch um die Ergebnisse der anschließenden Textanalyse besser einordnen und bewerten zu können.

10 Karnik: Sexbeat (wie Anm. 6). 11 Ulrich Greiner: »Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz«. In: Die Zeit vom 2. November 1990. 12 Frank Schirrmacher: »Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensläufe. Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewußtseins«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 1990.

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2.

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Transformationen des deutschen literarischen Feldes seit den 1970er Jahren

Im Jahr 1990 entzündet sich anlässlich der Veröffentlichung von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt eine hitzig geführte Diskussion über die Rolle der Intellektuellen in der DDR.13 Rasch weitet sich der Vorwurf einer mangelnden Distanz zum totalitären SED-Regime zu einer generellen Kritik an der Generation ›engagierter‹, im Zeichen der Verbrechen des Nationalsozialismus schreibender Nachkriegsautoren in Ost und West aus. Wie Frank Schirrmacher als einer der Wortführer des Literaturstreits darlegt, habe nämlich nicht nur die Literatur der DDR eine Gesellschaft legitimieren und ihr neue Traditionen zuweisen sollen. Auch die Literaten der Bundesrepublik hätten diesen Auftrag empfunden und ihn gewissenhaft ausgeführt.14 In der nun bald als ›deutsch-deutscher Literaturstreit‹ bezeichneten Debatte greift Ulrich Greiner diesen Gedanken Schirrmachers auf, indem er der Literatur der Bundesrepublik unterstellt, dass sie von Anfang an unter einer moralischen Überlast gelitten habe.15 Die Kritik Schirrmachers und Greiners verband sich dabei insgeheim mit der Hoffnung, dass die politische Wende den Weg ebnen könnte für eine neue Generation von Schriftstellern – eine Generation, die einen unbeschwerteren Umgang mit der deutschen Vergangenheit pflegen und damit auch in ästhetischer Hinsicht autonomer agieren könnte als die Autoren der Nachkriegszeit: Die Gesinnungsästhetik […] ist das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literaturen von BRD und DDR. Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in beiden deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus et cetera. Diejenigen, die ihnen diesen Auftrag gaben, hatten verschiedene Namen: das Gewissen, die Partei, die Politik, die Moral, die Vergangenheit.16

Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen überrascht es wenig, dass der Literaturstreit vielfach als unmittelbares Symptom der politischen Vereinigung der beiden deutschen Staaten gedeutet wurde. So stellt beispielsweise Bernd Wittek in seiner Studie zum deutsch-deutschen Literaturstreit fest: »Die Einzelaussagen und theoretischen Entwürfe innerhalb des Literaturstreits sind nur in dieser beschriebenen historischen Situation denkbar gewesen.«17 Dies entspricht im 13 Zur Chronik und den Begleitumständen des deutsch-deutschen Literaturstreits vgl. einleitend Thomas Anz: »Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland«. In: Ders. (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991, S. 7–28. 14 Vgl. Schirrmacher: Abschied (wie Anm. 12). 15 Vgl. Greiner : Gesinnungsästhetik (wie Anm. 11). 16 Greiner : Gesinnungsästhetik (wie Anm. 11). 17 Bernd Wittek: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Eine Analyse des

Lottmanns Mai, Juni, Juli (1987) im Spiegel zeitgenössischer Autorschaftsdebatten

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Übrigen auch einer im Bereich der Literaturkritik und -wissenschaft allgemein zu beobachtenden Tendenz, das Jahr 1989 als literaturgeschichtliche Epochenzäsur zu setzen.18 Gegen diese schlichte Übertragung einer politischen Zäsur auf den kulturellen Bereich wurden jedoch auch schon früh Einwände erhoben. In seinem viel beachteten Artikel Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur stellt Klaus-Michael Bogdal die These auf, dass sich mit der Wende des Jahres 1989 kein konsensfähiges Projekt eines kulturellen Neuanfangs verband und daher »ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte geschrieben worden wären«19. Wie Bogdal plausibel darlegt, führten vielmehr langfristige Entwicklungen im sozialen und kulturellen Bereich seit den 1970er Jahren zu einem allmählichen Ende der Epoche der Nachkriegsliteratur.20 Nach dem Ende des ›Dritten Reichs‹ bestand in der Bundesrepublik zunächst jahrzehntelang ein »relativ homogenes soziales Feld […], in dessen Grenzen Literatur geschrieben, distribuiert und rezipiert wurde«21. Die entsprechende Gruppe von Akteuren verfügte über eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung, was sich nicht zuletzt darin manifestierte, dass die von ihnen offerierten Orientierungsleistungen auch von bildungsfernen Schichten nicht angezweifelt wurden. Letztlich, so Bogdal weiter, sorgten jedoch soziale Prozesse der Individualisierung und Diversifizierung sowie das Aufkommen neuer konkurrierender Medien dafür, dass diese Form der literarischen Öffentlichkeit, die aufgrund der Deutungsmacht ihrer Repräsentanten zugleich auch gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit war, erodierte.22 Eine neue Generation von Schriftstellern bediente sich nunmehr zunehmend – und parallel zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung – »milieuspezifische[r] Öffentlichkeiten«23 : Für die ersten Nachkriegsjahrzehnte könnte man von einem literarischen Klima sprechen, das gewissermaßen ›draußen‹ in einer literarischen Öffentlichkeit entstand. […] Den literarischen Raum der Gegenwart würde ich hingegen mit einer Klimaanlage

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Streits um Christa Wolf und die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur in Zeitungen und Zeitschriften. Marburg 1997, S. 20. Ein Blick in jüngst erschienene Literaturgeschichten verdeutlicht diese Setzung: So beginnt die Darstellung der Gegenwartsliteratur bei Ralf Schnell und Wolfgang Beutin jeweils im Jahr 1989. Vgl. Ralf Schnell: Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 2011, ab S. 599. Wolfgang Beutin u. a. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Auflage. Stuttgart u. a. 2013, ab S. 669. Klaus-Michael Bogdal: »Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur«. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 9–31, hier S. 10. Vgl. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 15. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 11. Vgl. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 11–14. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 14.

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vergleichen, die durch ein funktional ausgerichtetes und unterschiedlich temperiertes System von ›Gängen‹ die verschiedenen Milieus mit den erwünschten ästhetischen Sinnangeboten beliefert.24

Bogdal identifiziert für die Gegenwartsliteratur insgesamt fünf verschiedene ›Gänge‹, wobei zwei Gänge besondere Aufmerksamkeit verdienen, da diese im Mittelpunkt der Autorschaftsdebatten der 1980er und 1990er Jahre stehen: Im ersten Gang bewegten sich Bogdals Ausführungen zufolge weiterhin die mit universalistischem bzw. gesellschaftskritischem Anspruch auftretenden Autoren wie etwa Günter Grass, Heinrich Böll oder auch Christa Wolf, wobei das Dilemma dieser Gruppe darin bestehe, dass sie sich immer noch in einem Zentralgang wähnen würde, während dieser in Wirklichkeit nur einer unter vielen und nicht einmal der bedeutendste sei.25 Gang 3 stelle demgegenüber ein regelbares Zuleitungssystem zu ganz unterschiedlichen Milieus dar. Seine Vertreter würden im sensiblen Bewusstsein für die fortschreitende Individualisierung in der Gesellschaft genau über die eigene Position im Literaturbetrieb reflektieren und mögliche Reaktionen ihrer Zielgruppe in die literarische Produktion einfließen lassen.26 Da ebendiesem Gang auch die Gruppe der PopLiteraten zuzuordnen ist, wird an späterer Stelle hierauf zurückzukommen sein. Die These Bogdals, der zufolge die Epoche der Nachkriegsliteratur nicht erst in der Wendezeit ihren Abschluss gefunden hat, findet ihre Bestätigung in den Ergebnissen zweier Studien, die jeweils auf einer umfangreichen Materialbasis fußen. So identifiziert Reinhold Viehoff in einer vergleichend-empirischen Untersuchung der Literaturkritik im Radio-Feuilleton der Jahre 1973 und 1988 einen außergewöhnlichen Wandel der von den Journalisten angesetzten Wertmaßstäbe: In den Werteinstellungen zur Literatur hat sich eine Abkehr von (im weiten Sinne) politischer und engagierter Ästhetik durchgesetzt. Stärker nach vorne getreten ist die Betonung von »Autonomie« und »Emotionalität« im Hinblick auf Literatur. Damit einhergehend sind die wertbesetzten Bezugsgrößen für die Gruppe der untersuchten KritikerInnen sozial uneinheitlicher und thematisch unschärfer, d. h. subjektiver geworden. Leitfiguren wie Brecht oder Adorno sind verabschiedet.27

In einer Meta-Analyse von theoretischen Äußerungen zur Rolle des Intellektuellen in der Bundesrepublik stellt Roman Luckscheiter wiederum fest: »Spätestens in den achtziger Jahren aber kommt, begleitet von allgemeiner ›Kata24 25 26 27

Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 19. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 19f. Vgl. Bogdal: Klimawechsel (wie Anm. 19), S. 21ff. Reinhold Viehoff: »Literaturkritik 1973 und 1988. Aspekte des literaturkritischen Wertewandels«. In: Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik. Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1990, S. 440–459, hier S. 451.

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strophenrhetorik‹, das Gefühl auf, ein Engagement mit dem Ziel der Veränderung der Gesellschaft habe gar keinen Sinn mehr, weil man sich bereits am Ende der Geschichte, im ›Posthistoire‹ befände.«28 Eine nötige feldtheoretische Erweiterung erfahren die Ausführungen Bogdals durch eine Studie von Heribert Tommek. Grundlage seiner Analyse des deutschen literarischen Feldes der Gegenwart bildet dabei erwartungsgemäß Pierre Bourdieus Unterteilung des literarischen Feldes in ein autonomes Subfeld der eingeschränkten Produktion und ein Subfeld der Massenproduktion.29 Für die Literatur der frühen Bundesrepublik offenbart sich dabei sogleich ein Spezifikum: Während nämlich Greiner in der oben zitierten Textstelle das Engagement der bundesrepublikanischen Nachkriegsautoren als eine Form der Abhängigkeit beschreibt und auch Viehoff darauf verweist, dass sich die an die Literatur angesetzten Wertmaßstäbe seit den 1970er Jahren in Richtung ›Autonomie‹ verschoben hätten, ergibt sich aus feldtheoretischer Perspektive die (nur) vordergründig paradoxe Situation, dass das Auftreten als kritischer Autor geradezu die Voraussetzung dafür war, im autonomen Subfeld der eingeschränkten Produktion erfolgreich wirken zu können. Das Idealbild eines Schriftstellerintellektuellen, der sein im literarischen Feld erworbenes symbolisches Kapital zu erfolgreichen Interventionen im Feld der Macht nutzt, findet damit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zumindest zeitweise seine Verwirklichung. Wie Bogdal muss jedoch auch Tommek konstatieren, dass sich die Bedingungen von Autorschaft durch die Auflösung der einen literarischen Öffentlichkeit mittlerweile grundlegend gewandelt haben, weshalb nicht nur diese Form ›engagierter‹ Literatur an Einfluss verloren hat, sondern die neuen, sich horizontal ausdifferenzierenden Autorengenerationen primär für ihr jeweiliges Milieu schreiben und einen veränderten Umgang mit den Massenmedien pflegen.30 Unmittelbar damit zusammenhängend registriert Tommek auch Verschiebungen in der Legitimation der literarischen Produktion. Während die hegemoniale Legitimationssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung, d. h. das Subfeld der autonomen literarischen Produktion mit ihren Legitimationsinstanzen, an Bedeutung verloren hätte, würden vor allem die Sphäre potentieller Legitimation im Übergangsbereich zwischen dem Subfeld der eingeschränkten und der 28 Roman Luckscheiter : »Intellektuelle in der Bundesrepublik 1968–1989«. In: Jutta Schlich (Hg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Tübingen 2000, S. 325–341, hier S. 325. 29 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 2001, S. 344f. 30 Vgl. Heribert Tommek: »Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) »TristesseRoyale«-Popliteraten mündend«. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 397–430, hier S. 401ff.

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Massenproduktion sowie die Sphäre der nicht legitimierten bzw. segmentarischen Legitimationsinstanzen willkürlicher geschmacklicher Bevorzugung ihren Einfluss ausweiten.31 Da diese Entwicklungen Bogdal und Tommek zufolge bereits Ende der 1960er bzw. spätestens zu Beginn der 1970er Jahre einsetzten, gelangt letzterer mit Blick auf die Rolle Schirrmachers im deutsch-deutschen Literaturstreit zu folgender plausiblen Einschätzung: Er sah mit 1989 den »Einbruch der Geschichte« gekommen. Ihm entging jedoch dabei, daß die Position »Literatur als stellvertretendes Gewissen der Gesellschaft«, die er als zu überwindendes Feindbild darstellte, bereits mit der Nachkriegsliteratur in den siebziger und achtziger Jahren im wesentlichen im Untergang begriffen war und 1989 als solche gar nicht mehr gegeben war.32

Tommek geht nun davon aus, dass das Vakuum, das der Bedeutungsverlust der Autoren im Umkreis der Gruppe 47 hinterlassen hat, nicht zur Folge hat, dass das autonome Subfeld selbst im Verschwinden begriffen ist. Es existierte vielmehr als »eine historisch ›festgefahrene‹, gleichsam ›geronnene‹ gesellschaftliche Form einer Institution wie auch eines unbestimmten ideellen oder ästhetischen ›Versprechens‹«33 fort. Das autonome Subfeld stelle demnach eine Leerstelle dar, die für einen begrenzten Zeitraum verschiedentlich und einer Aufmerksamkeitsökonomie folgend besetzt werden könne.34 Diesen eher allgemein gehaltenen Ausführungen lässt Tommek eine detaillierte Positionsbestimmung der 1990er-Jahre-Pop-Literaten folgen, da diese – entsprechend seiner Analyse – die besagte Leerstelle in den Jahren zwischen 1995 und 2000 ausgefüllt hätten. Er ordnet sie Bogdals drittem ›Klimagang‹ zu, welcher sich durch »ephemer produzierte[] Positionen und Öffentlichkeiten«35, das heißt durch eine nicht mehr auf Überzeitlichkeit, sondern auf kurzzeitige Legitimation abzielende Literatur, auszeichne. Grundsätzlich sieht er sie in der direkten Nachfolge der pop-kulturellen ›Gegengegenkultur‹ der 1970er und 1980er Jahre, deren Intentionen er folgendermaßen zusammenfasst: Der Protest in der Popbewegung (wie auch im Punk etc.) zielte dabei auf eine Steigerung und zugleich Überwindung der orthodoxen Protestkultur. Er richtete sich inhaltlich und habituell gegen eine »Betroffenheitskultur«, gegen eine »Gesinnungsliteratur«, gegen eine »Literatur des Tiefsinns«, schließlich gegen eine moralische Orientierung überhaupt. In formaler Hinsicht opponierte der popkulturelle Protest gegen die »Last« des Kanons, gegen die Zwänge der etablierten, »hohen« Formensprache oder gegen die 31 32 33 34 35

Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 404f. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 410. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 405. Vgl. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 428f. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 404.

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herkömmlichen Grenzen der Gattungen und Künste. Institutionell schließlich wandte er sich gegen das Elitäre der »hohen Literatur« und deren Abgrenzung von der »unterhaltenden Literatur«.36

In seiner Positionsbestimmung der jüngsten Generation von Pop-Literaten nimmt sich Tommek nun insbesondere der Autoren Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und Alexander von Schönburg – drei Mitglieder des sogenannten ›Popkulturellen Quintetts‹ – an. Das ›Popkulturelle Quintett‹ hatte sich mit dem 1999 erschienenen Band Tristesse Royale, einer Art Manifest der neuen Pop-Literatur, öffentlichkeitswirksam als Gruppe konstituiert. Die Ergebnisse seiner Feldanalyse lesen sich im Wesentlichen wie folgt: Auch wenn die Autoren von Tristesse Royale vollkommen verschiedenen Milieus entstammen und sie sich daher auch in ihrem Habitus beträchtlich unterscheiden,37 lässt sich in ihren in Tristesse Royale dokumentierten Äußerungen doch ein verbindendes Glied ausmachen: das »Grundgefühl des melancholischen Ennui, der empfundenen Leere einer Kultur«:38 Das literarische Ennui-Zitat, das in wertkonservativer, aristokratisch-romantischer Weise von Schönburg eingeführt und von Kracht in einer ästhetizistisch-eskapistischen Variante geteilt wird, verlagert sich bei Stuckrad-Barre zum Symbol der absoluten Immanenz und Zirkularität, der »Spirale«, schließlich zum ›postmodern‹-kapitalistischen Produktionsprinzip schlechthin des (selbst)-ironischen ›Re-Modelings‹, der permanenten Metamorphose, die weder als Verrat noch als Anpassung, noch als Avantgardeleistung der Künstler, sondern als permanente Arbeit an der »Gegenwärtigkeit« (contemporary) verstanden wird.39

Bei allen von Tommek identifizierten Kontinuitäten sind es dieses Grundgefühl des Ennui und die noch einmal erhöhte Durchlässigkeit zwischen dem literarischen und journalistischen Feld, die die jüngste Generation von Pop-Literaten von derjenigen der 1980er Jahre partiell unterscheiden. Dass die soeben skizzierten Thesen Bogdals und Tommeks zu den strukturellen Veränderungen, die das literarische Feld der Bundesrepublik seit Ende der 1960er Jahre erschütterten, ihre Berechtigung haben, offenbart sich nicht zuletzt darin, dass Joachim Lottmanns im Jahr 1987 erstveröffentlichter Roman Mai, Juni, Juli genau diese Wandlungsprozesse in Form von Reflexionen der im Mittelpunkt stehenden Autorfigur dokumentiert. 36 Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 407f. 37 Während Kracht aus dem »kosmopolitischen, globalisierten Besitzbürgertum« stamme und Stuckrad-Barre in der »Nachfolge des Bildungsbürgers« stehe, verkörpere Alexander von Schönburg einen »(kultur-)aristokratischen Typ«. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 414f. 38 Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 426. 39 Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 426f.

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3.

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Orientierungslosigkeit im Feld: Die Autorfigur in Joachim Lottmanns Mai, Juni, Juli zwischen zwei Modellen von Autorschaft

Schon mit dem ersten Satz wird der selbstreflexive thematische Rahmen des Romans abgesteckt: »Es war in der Zeit, als ich unbedingt Schriftsteller sein wollte.«40 Während sich die Handlungsebene des Romans – abgesehen von zwei Umzügen, einigen kürzeren berufsbedingten Reisen, dem Besuch eines PopKonzerts und vielen Kneipenabenden – bemerkenswert ereignisarm zeigt, entfaltet der Ich-Erzähler, der – wie zuletzt Innokentij Kreknin dargelegt hat – über eine Namensidentität und biographische Konvergenzen eng mit der Autorinstanz verbunden ist, eine äußerst rege Reflexionstätigkeit über die von ihm empfundene ›Berufung‹.41 Zwar scheint ihm das Schriftstellerdasein »jeder Existenz überlegen« (S. 7) zu sein, von den exakten Modalitäten dieser Existenz hat er offensichtlich jedoch nur eine sehr vage Vorstellung. Zunächst stehen dabei rein praktische Erwägungen im Mittelpunkt: So meint der Protagonist beispielsweise, dass ein Schriftsteller sein ganzes Leben auf die ›Arbeit‹ abstimmen muss, es jedoch auch so etwas wie Freizeit geben sollte, um sich geistig zu regenerieren. Er selbst kann jedoch in seinem Tagesablauf keinen Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen feststellen, was sich in einer lediglich zitathaften Aneignung dieses Lebensmodells widerspiegelt: »Übermannten mich die ewigen Kopfschmerzen, zog ich mich ins Bett zurück, um ›ein bißchen auszuruhen‹. Ich schlief dann ein Stündchen, um ›geistig wieder frisch zu werden‹ und anschließend um so energischer ›weiterarbeiten‹ zu können.« (S 7f.) Diese Nivellierung des Tagesablaufs empfindet der Protagonist nun mitnichten als Gewinn. Vielmehr ist es ihm sichtlich peinlich, kein ›normales‹, bürgerliches, d. h. in diesem Fall vor allem auch produktives Leben zu führen. Dies geht sogar so weit, dass er sich den Blicken der Nachbarn zu entziehen versucht: »Die Vögel piepsten und tirilierten, aber ich traute mich nicht, wenigstens das Fenster von dem abdichtenden Versteckvorhang zu befreien – denn dann hätte man mich beobachten können, wie ich ›arbeitete‹, also Kaffee trank und ›nachdachte‹.« (S. 8) Zwar hat der Protagonist also augenscheinlich gewisse Ansichten darüber, was ein Schriftsteller im Vergleich zu anderen Existenzformen ›muss‹ und ›darf‹, 40 Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli. Ein Roman. Köln 2003, S. 7. – Im Folgenden im Fließtext zitiert. 41 Vgl. Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/New York 2014, S. 281–290. Vgl. besonders S. 288: Kreknin zufolge ist nicht »übersehbar, dass gleich zu Beginn von Lottmanns literarischer Präsenz ein autofiktionales Spiel offeriert wird, das mit einer vollkommenen Identität von literarischer Autor-Figur und dem Träger der Autorfunktion operiert«.

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gleichzeitig verbindet er damit allerdings keine grundsätzlich andere bzw. vom gesellschaftlichen Mainstream abweichende Werteordnung, sondern überträgt bürgerliche Wertmaßstäbe wie Erfolgsstreben und Leistungsorientierung auf den Schriftstellerberuf: »Wer nichts schafft, darf auch nicht herumlaufen.« (S. 8) Dieser Befund leitet über zu einem zentralen, in Mai, Juni, Juli ausgiebig diskutierten Problem des künstlerischen Schaffensprozesses, und zwar dem prekären Verhältnis von Autonomie und Heteronomie, dessen variierende Ausgestaltung wiederum die Basis poetischer Reflexionen der Autorfigur bildet. Ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein schöpft der Ich-Erzähler zunächst aus dem eitlen Gedanken, dass er mit seiner Lebensweise, insbesondere dem Umstand, dass ein ›Mäzen‹ ihn umsonst in seinem Haus wohnen lässt, der ursprünglichen, in gewisser Weise ›natürlichen‹ und vor allem unabhängigen Schriftstellerexistenz näher sein könnte als andere seiner Zunft: Alle anderen Schriftsteller mußten nämlich, in diesem Jahrhundert, schrecklich viel Miete bezahlen, was sie dazu zwang, ehrlose Arbeiten für Zeitungen auszuführen, wodurch sie ihr Urteil, ihren Blick für das Universum, ihre Liebe zu den Menschen verloren. Dachte ich. Kein Wunder also, daß es richtige Schriftsteller gar nicht mehr gab, daß ich der letzte war oder, wenn man so will, der erste. Denn nach mir, da war ich mir ganz sicher, nach meinem riesigen Erfolg, würden es mir Hunderte und Tausende nachmachen; sie würden sich der Existenz mit Haut und Haaren aussetzen und auf das Feuilleton pfeifen. Sie würden in alten Häusern sitzen und auf ihre Schreibmaschine starren. (S. 9)

Dabei übergeht er paradoxerweise die Tatsache, dass er im Grunde nur eine Abhängigkeit (die von der ›Kulturindustrie‹) gegen eine andere (die vom Mäzen) eintauscht – eine Existenzform im Übrigen, die aus einer Zeit stammt, als ein autonomes literarisches Feld noch gar nicht existierte. Im Folgenden begibt er sich auf die Suche nach geeigneten Themen für sein Romanprojekt. Dies erweist sich freilich als äußerst schwierig. Permanent macht er sich darüber Gedanken, welche Themen beim Feuilleton und dem Publikum im Trend liegen könnten – was dem klassischen Autonomiekonzept erneut in auffälliger Weise zuwiderläuft. Der Wunsch nach Erfolg ist eng verknüpft mit der Frage nach Art, Umfang und Frequenz der literarischen Produktion. Möchte der Protagonist zu Beginn noch den Roman, der alles verändern würde, schreiben (vgl. S. 7), rückt er an späterer Stelle zumindest zeitweise von diesem genieästhetischen Ideal ab: Wieso […] einen Roman schreiben und nicht sechs? Wurde ich damit dem Zeitalter gerecht, o nein. Schriftsteller, pah! Serieller Schreiber, das war ich, sollte ich sein. Erst wenn ich gleichzeitig an sechs Romanen, zwölf Kurzgeschichten, einem Fernsehdrehbuch, einer Beichte und drei Kinderbüchern schrieb, lösten sich die Romantizismen auf, die ins letzte Jahrhundert gehörten! (S. 78)

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Diesem Konzept des Brot- und Vielschreibers steht der autonome Dichtertypus unversöhnlich gegenüber. Wie ein Gespräch mit seinem Verleger zeigt, entstehen daraus für den neu ins literarische Feld eintretenden Autor besondere Hemmnisse: »Er hatte ausdrücklich konzidiert, meine Stärken lägen in der ernsthaften Avantgarde, aber er hatte auch gesagt, den Kollegen gefiele etwas Einfaches von mir. Ein unlösbarer Konflikt.« (S. 105) Einen Ausweg aus diesem Dilemma, das auch einer Unklarheit über die Relevanz der verschiedenen Legitimationssphären entspringt, böte dabei sicherlich die konsequente Anwendung der berühmten, von Leslie Fiedler geprägten Formel »Cross the Border – Close the Gap«; und tatsächlich erscheint in den ersten konkreten Romanideen der Autorfigur in Mai, Juni, Juli die Grenze zwischen Hoch- und Trivialliteratur in auffälliger Weise ›postmodern‹-brüchig: Im Grunde interessierte mich das Mädchen aber mehr. ›Die Frau des Fratzenmannes‹. Das war die Madame-Bovary-Schiene, das lief unter Weltliteratur. Die thrillermäßige Hochliteratur oder eine Trilogie: ›Die Heimkehr des Fratzenmannes‹, ›Fratzenmanns Sohn‹ und eben ›Die Frau des Fratzenmannes‹. Da gab es viele Möglichkeiten. (S. 19)

Doch findet dieser Gedanke im weiteren Verlauf des Romans keine Fortführung. Vielmehr bewegen sich die poetischen Reflexionen des Ich-Erzählers in Mai, Juni, Juli alternierend und höchst widersprüchlich zwischen den besagten Polen ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹. Dass das Idealbild einer autonomen Dichterexistenz in der Bundesrepublik auch noch in den 1980er Jahren ein gehöriges Maß an Anziehungskraft besitzt, äußert sich in Lottmanns Roman zum ersten Mal nachdrücklich, als der Protagonist davon berichtet, wie auch er sich in früheren Jahren als Auftragsschreiber für als wenig seriös geltende Zeitungen verdingte. Im Nachhinein bewertet er es als Glücksfall, dass diese Texte letztlich nicht veröffentlicht wurden. Dies hätte nämlich schon im Vorwege seine Exkommunikation aus der Gemeinschaft angesehener, das heißt: autonomer und mit großem symbolischem Kapital ausgestatteter Schriftsteller bedeutet (vgl. S. 13f.). Dass ein Autor in Deutschland nur dann als ›anständig‹ gilt, wenn er sich in gewisser Weise widerständig zeigt, offenbart sich an späterer Stelle. In einem Gespräch mit Freunden in einem Kölner Lokal wirft der Protagonist unvermittelt – und für den weiteren Verlauf seiner Reflexionen durchaus folgenreich – die Frage auf, »ob man die Pflicht habe, seine Stimme als Schriftsteller ins Konzert der Meinungen hineinzutragen, sie zu erheben und Zeugnis abzulegen« (S. 57). Als seine Freundin Evelyn meint, dass sie dies als peinlich empfände, entgegnet er : »Mutig muß man sein!« (Ebd.) Mit seiner floskelhaften Aussage rekurriert er zwar auf das im autonomen Subfeld der eingeschränkten Literaturproduktion Jahrzehnte lang dominierende Leitbild bundesrepublikanischer Autorschaft, wie es paradigmatisch etwa von Heinrich Böll verkörpert wurde. Er erweist sich jedoch als

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unfähig, dieses noch mit konkretem Inhalt zu füllen. Anstatt nämlich das Allgemeine im Blick zu haben, wie es für einen engagierten Schriftsteller als Vertreter universaler Werte zu erwarten wäre, zeugt die Romanidee, die er im Folgenden ausbreitet, eher von einem Subjektivismus, wie ihn die junge Schriftstellergeneration seit Beginn der 1970er Jahre – insbesondere auch in Abgrenzung zur Literatur der 1950er und 1960er Jahre – zunehmend gepflegt hatte: »Ja! Ich musste über mich schreiben, über mein Leben, meine Eltern, meine Großeltern, schonungslos!« (S. 57f.) Als Kronzeugen einer solchen Vorgehensweise ruft er ausgerechnet Jean-Paul Sartre auf, den Inbegriff des Intellektuellen nach 1945: »War nicht Sartre erst dadurch zu Sartre geworden? Weil er einfach über sein Leben schrieb? Genau.« (S. 58) Dieser hatte im Jahr 1964 mit Les mots tatsächlich einen autobiographischen Text über seine Kindheit veröffentlicht. Vergleicht man jedoch Inhalt und Stoßrichtung des Sartre-Textes mit dem Beginn von Mein Leben, wie der Protagonist sein Werk zunächst nennt, so sind die Unterschiede frappierend. Sartre erinnert sich in Les mots an seine traumatische Kindheit zurück, die von übertriebenen Erwartungen des Großvaters und schmerzhafter Isolation geprägt war, ihn letztlich aber auch zu dem reifen ließ, was er später wurde: einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Die Autorfigur in Mai, Juni, Juli kehrt dagegen gedanklich mit einem Gefühl nostalgischer Glückseligkeit an frühere Stationen seines Lebens zurück: »Die Jugenderinnerungen! Sie waren wirklich das Schönste im Leben.« (S. 61) Seine Haltung ist denn auch nicht die eines aus der Distanz kritisch Urteilenden; im Gegensatz zu Texten von Autoren der unmittelbaren Nachkriegsgeneration wie Grass oder Böll wird die Politik der Adenauer-Ära in der ›Autobiographie‹ des Protagonisten keineswegs zum Gegenstand der Kritik. Aus bürgerlichem Hause stammend war seine Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren vielmehr geprägt von Verehrung für den ersten Bundeskanzler und einer affirmativen Haltung zu umstrittenen Projekten seiner politischen Agenda: »Einig waren wir uns nur in unserem klaren Bekenntnis zur Bundeswehr, zur atomaren Mitverantwortung im Rahmen der Wertegemeinschaft und natürlich, wie könnte es anders sein, zur Gemeinsamkeit der Demokraten.« (S. 59) Im Zuge dessen greift er sogar unmarkiert zeitgenössische antiintellektuelle Stammtischparolen auf: Natürlich war auch Strauß unser Held, weil er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Natterngewächs der deutschen Intellektuellen ausrottete, es zumindest versuchte. Er ließ schlagartig alle ›Spiegel‹-Redakteure aus ihren Betten holen und warf sie furchtlos in die deutschen Zuchthäuser, die man dafür ja gebaut hatte. (S. 60)

Seine Lebensbeschreibung wirkt folglich wie ein einziger Affront gegen das politische Weltbild des bundesdeutschen Linksintellektualismus. Als vorläufiger Höhepunkt erscheint dabei sicherlich folgende Aussage: »Ich geriet ins

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Schwärmen und ins Grübeln. Was wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten. Dann wäre die gerade beschriebene Jugend anders verlaufen. Ach, es war ein dankbares Thema, über das eigene Leben zu schreiben.« (S. 67) Ohnehin wird bald offensichtlich, dass die Autorfigur mit der Wahl ihrer Lebensgeschichte als Thema weder das Ziel einer Einflussnahme in politischen Debatten verfolgt – »Hauptsache, das Buch verkaufte sich bestsellermäßig« (S. 58) – noch besonders authentisch zu verfahren gedenkt: »Ich konnte ja ein bißchen das Geburtsdatum manipulieren und auch sonst die Dinge etwas beschönigen – dem Dichter alle Freiheit!« (S. 58) Die Verunsicherung bezüglich der Frage, welche Ziele mit literarischem Schreiben verfolgt werden sollten, ist freilich nicht nur den Aussagen der Autorfigur zu entnehmen, auch sein Verleger macht diesbezüglich widersprüchliche Angaben. Als der Autor ihn darüber informiert, dass er einen Roman über seinen Jugendfreund Knoske zu schreiben gedenke – »einen großen Roman über einen einzigen Menschen […], über einen miesen, abgehalfterten Schauspieler, einen Spießer und Alkoholiker« –, winkt dieser sofort ab: »Keine Problemliteratur mehr in den 80ern!« (S. 31) An späterer Stelle dreht sich das Argumentationsmuster scheinbar um: Der Verleger weist nunmehr darauf hin, dass »[s]ein Verlag ein politisch engagierter« sei und versucht den Autor dazu zu ermutigen, ein »kritisches Buch« zu schreiben (S. 125). Letzterer zeigt sich geschockt und spielt im Kopf das ganze Tableau gesellschaftlicher Missstände durch, derer er sich nun vermeintlich annehmen muss: Schluck. Schnauf. Röchel. Ein wütendes Irgendwas gegen Bullenstaat und Bespitzelung, Schweinesystem und ganz gewöhnlichen Terrorismus, den sogenannten. Willkür gegen Asylanten, Gewalt im ehelichen Doppelbett, hilf Himmel, das konnte er einfach nicht von mir verlangen! (S. 125)

Indem der Verleger im weiteren Verlauf des Gesprächs darauf hinweist, dass der Zynismus des Autors eine gute Voraussetzung für das Schreiben eines ›kritischen Buchs‹ sei, offenbart sich jedoch sogleich, dass die vom Verleger geforderte kritische Haltung mitnichten mit derjenigen der engagierten deutschen Nachkriegsautoren gleichzusetzen ist. Denn die der Autorfigur zugesprochene zynische Weltsicht widerstrebt dem Fortschrittsglauben der Vorgängergeneration auf signifikante Weise, wollte diese mit ihrer Literatur doch aktiv in politische Debatten eingreifen. An späterer Stelle deutet der Protagonist diesen Umstand als Mangel an Mitgefühl um: »Nicht der kritische Blick fehlte mir, sondern das Herz.« (S. 165) Nichtsdestotrotz begibt er sich nach der besagten Unterredung mit seinem Lektor widerwillig auf die Suche nach einem geeigneten ›kritischen‹ Stoff: Ein kritischer Roman… Mal nachdenken… Alles war schlecht… die Arbeiter gab es nicht mehr, nein, Unsinn, sie waren natürlich ausgebeutet, und es gab sie noch, ohne

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Arbeiter keine Ausbeutung, klar. Also… die Politiker entpuppten sich als Charaktermasken. Alle nahmen Geld. Auch die Grünen bekamen Spenden. Keiner ging mehr in die Kirche. Die Pfarrer waren bigott. Der Chef der Siemens AG wurde ermordet. Das Bundeskartellamt war ein Papiertiger. Norbert Blüm war schizophren. Der Kanzler war eine Birne. Helmut Schmidt kam nicht wieder. Schlecht, o schlecht! war die Welt. Tjaaa…ob das reichte? (S. 146f.)

Es reicht offensichtlich nicht: Seine Suche bleibt schlussendlich erfolglos. Als er in Anlehnung an Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum kurzzeitig überlegt, die Vorgehensweise der Bild-Zeitung, »das Räderwerk der gigantischen Lügen- und Repressionsmaschinerie« (S. 148) zum Thema eines ›kritischen‹ Romans zu machen, wird ihm der Grund für seine Abneigung gegen diese Form der Literatur offenbar. Als er nämlich die Arbeitsweise der Gruppe der Bild-Redakteure mit derjenigen der »Gesinnungsschriftsteller« (S. 149) vergleicht, gelangt er zu dem provokanten Schluss, dass erstere als die größeren Künstler gelten müssen: »Nur wer die Wirklichkeit mittels Zeichen so völlig neu zusammensetzte wie die ›Bild‹-Leute, konnte sicher sein, Sprache handzuhaben. […] Lügner schimpfte man sie, aber sie konnten nicht anders, als Künstler. Alle Künstler logen.« (S. 149) Dagegen erscheint ihm »Gesinnung […] das letzte, das übelste, das schwerste Handwerk [zu sein], mit dem das Schicksal einen strafen konnte« (S. 149). Diese harsche Kritik an den ›Gesinnungsschriftstellern‹ – man achte auf die terminologische Nähe zu der von Ulrich Greiner im deutschdeutschen Literaturstreit suspendierten ›Gesinnungsästhetik‹ – begründet er mit der Beobachtung, dass es bei diesen um »die immer gleiche Message« (S. 147) gehe. Gerade diese von ihm als prägend für die Literatur der Vorgängergeneration identifizierte Form der Wiederholung wirkt auf ihn abschreckend und hindert ihn letztlich am Schreiben eines ›kritischen‹ Romans: Irgendein künstlerischer Impuls ließ mich die Wiederholung als das mir feindliche Prinzip empfinden. Erst stirbt der Wald, dann der Mensch – milliardenmal gesagt, nichts für mich. […] Wenn alle dachten und es auch alle sagten und es auch alle sich immer wieder gegenseitig vorlasen, daß unsere Gastarbeiter im Elend lebten, wenn es ausnahmslos alle sagten, konnte ich es nicht tun. Gab es auch nur einen, der diesen Konsens verließ, konnte ich gegen den anschreiben und selbst die Elendstrommel rühren – vorher nicht. (S. 151)

Die innere Haltung, die die Autorfigur an dieser Stelle beschreibt, korrespondiert nun in auffälliger Weise mit dem Impuls der pop-kulturellen ›Gegengegenkultur‹ der 1980er Jahre. Ihr ›Haupttheoretiker‹ Diedrich Diederichsen beschreibt diesen im Jahr 1982 wie folgt: [D]as ist der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins, daß Kunst nach der Epoche des ›Gegen‹ (gegen den Kapitalismus, böse Menschen, Lieblosigkeit, Schweine, Hörgewohnheiten, Sehgewohnheiten) eine neue Haltung hervorbrachte, die, immer gewahr

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der Widersprüche, um die herum und durch die sie entsteht, diese in respektlosen, naseweißen, plumpen und grellen Mini-Analysen vereint. Diese Mini-Diskurse schließen alle möglichen Überlebenskampf-Taktiken ein. Sie stehen jedem kämpfenden Genossen frei zur Verfügung, der sich von der Peinlichkeit des echten Anliegens freigemacht hat und nur noch mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage sich die Wahrheit erkämpfen will, wissend, daß alles, was er in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen steht.42

Auf die enge Verbindung von Lottmanns Hauptfigur zur Gegengegenkultur weist auch sein Verleger bei Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, hin: Es ist ein Ich, das einen höchst unterhaltsamen, mittlerweile historischen Aufstand probte: den Aufstand gegen eine leergelaufene Protestkultur der 68er, gegen wohlfeile Gesinnungsliteratur und gegen »Relevanz«, gegen müdes Engagement, billig gewordene Moral und selbstgerechte Revolutionsnostalgie.43

Angesichts der Präsenz des Intellektuellendiskurses in den poetischen (Selbst-) Reflexionen des Ich-Erzählers verwundert es nicht, dass sich das letzte, von ihm mit Nachdruck verfolgte Romanprojekt gerade der Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft annimmt. Protagonist dieses Romans soll Hans-Herrmann Klarczyk werden – ein jugendlicher Bekannter aus seiner Stammkneipe, »der zehn Jahre nur gelesen hatte – und jetzt, ausgerechnet und glückhafterweise jetzt, auf die böse Menschheit losgelassen wurde« (S. 165). Das erklärte Ziel des Autors: anhand dieses ›Schicksals‹ »die bodenlose Diskriminierung der Intellektuellen in Deutschland« (S. 165) aufzuzeigen. Doch welcher Art ist eigentlich der Intellektualismus, den Klarczyk repräsentiert? Wie die Gespräche zwischen Klarczyk und dem Ich-Erzähler zeigen, ist ersterer keineswegs ein Vertreter des im Geistesleben der Bundesrepublik lange Zeit dominierenden linksintellektuellen Spektrums. So parliert er etwa über die Vorzüge des italienischen Faschismus (vgl. S. 172) und erkundigt sich anschließend beim Ich-Erzähler nach dessen Lieblingsfaschisten (vgl. S. 174f.). Als er von diesem wiederum gefragt wird, ob es denn keinen Deutschen gebe, den er verehre, nennt dieser (mit Ausnahme Heinrich Manns) nur Intellektuelle, die vorwiegend im konservativen Spektrum zu verorten sind und aufgrund ihrer Instrumentalisierung von rechter 42 Diedrich Diederichsen: »Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze«. In: Ders. (Hg.): Staccato. Musik und Leben. Heidelberg 1982, S. 85–101, hier S. 93f. Zur Gegengegenkultur der 1980er Jahre vgl. auch Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/New York 2010, S. 34–40. Dirk Frank: »Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geiste der achtziger Jahre«. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Pop-Literatur (Text+Kritik Sonderband). München 2003, S. 218–233, hier S. 219–222. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 407f. 43 Helge Malchow: »Nachwort«. In: Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli. Ein Roman. Köln 2003, S. 250–256, hier S. 251f.

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Seite zumindest zeitweise äußerst umstritten waren: Gottfried Benn, Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Thomas Mann (vgl. S. 179). Auch wenn die Gedankengänge von Klarczyk im Einzelnen als äußerst wirr zu beschreiben sind, ist seine Faszination für rechtes Gedankengut nicht zu verkennen. Dass der Ich-Erzähler gerade diesen Menschen als »letzte[n] Intellektuelle[n] unserer nachgeborenen Jugend« (S. 189) identifiziert, ist freilich kein Zufall. Denn als ein wesentliches Ergebnis von Roman Luckscheiters Studie über die Intellektuellendebatte der Jahre 1968–1989 ist festzuhalten, dass der Diskurs über die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Intellektuellen in diesem Zeitraum wieder zunehmend von konservativen Denkern bestimmt wurde.44 Im Zuge dessen kommt es insbesondere auch zu einer nachdrücklichen Distanzierung von den Idealen der Studentenbewegung: In der Zusammenschau der ausgewählten Artikel zur Intellektuellendebatte der Jahre 1968 bis 1989 fällt zunächst auf, wie stark die Jahre der Studentenbewegung als Gegenstand der Diskussionen nachwirken. ›1968‹ wird als Symbol gehandelt für eine geistige Haltung, die vornehmlich in ihren negativen Auswirkungen auf die Bundesrepublik der siebziger Jahre beschrieben wird.45

Nun könnte man annehmen, dass auch Klarczyk ein Vertreter der Gegengegenkultur ist, wodurch seine Auslassungen als ironische Äußerungen in Anführungszeichen respektive als reine Provokation zu deuten wären. Doch finden sich hierfür in der Beschreibung durch den Ich-Erzähler keinerlei Anzeichen. Vielmehr betont dieser stets die Lebensferne Klarczyks, der sich nicht so recht in die Gemeinschaft der Kulturschaffenden integrieren kann. Indem Klarczyk jedoch zumindest geduldet wird, offenbart sich eine der Pop-Kultur der 1980er und 1990er Jahre inhärente Problematik, und zwar die zum Teil mangelhafte Abgrenzung der Gegengegenkultur zur konservativen Gegenreaktion auf die 68er. Dies beklagt auch Diederichsen in seinem 2002 verfassten Nachwort zur Neuauflage von Sexbeat: »Sexbeat« handelt von einer Generation, die sich von Fortschritt, Konsumkritik, altlinkem Habitus verabschiedet, aber dies – wenigstens nominell – im Namen linker Kategorien. Rechts kam nie in Frage, man wollte ein besseres Links. […] Rechts, damals noch nicht (kulturell) neudeutsch-rechts, hätte ja geheißen, einfach nur der (ökonomischen) Schwerkraft der Verhältnisse nachzugeben. Was ja dennoch viele taten und auch noch glaubten, neu und toll zu sein und Tabus zu brechen […]. Die bösartige Idiotie, die vollkommene Anpassung an herrschende Verhältnisse als Bruch und Innovation zu inszenieren, ist seitdem nicht abgerissen.46 44 Vgl. Luckscheiter : Intellektuelle (wie Anm. 28), zusammenfassend S. 339. 45 Luckscheiter : Intellektuelle (wie Anm. 28), S. 339. 46 Diedrich Diederichsen: »And then they move, and then they move – 20 Jahre später«. In: Ders.: Sexbeat. Köln 2002, S. I–XXXIV, hier S. VIII.

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Auch die Haltung des Protagonisten zu Klarczyk selbst ist widersprüchlich. Einerseits betont er die innere Verbundenheit mit ihm: »Für mich war solches Geschwätz die schönste Musik. Ich liebte Menschen, die solchermaßen herumrhabarberten, anstatt gängige Meinungsscheiße abzusondern und das auch noch unter dem Decknamen ›Kommunikation‹ laufen zu lassen.« (S. 171) Andererseits beabsichtigt er mit seinem Projekt, das Verhalten Klarczyks von einer erhöhten Beobachterposition aus zu studieren: Ich konnte auch Evelyn überreden, ihn in sich verliebt zu machen, ihn anschließend fallen zu lassen und ihn als ›unmännlich‹ auszulachen; seine Reaktion konnte ich dann genauestens beobachten und gewissenhaft zu Papier bringen. […] Alles war möglich, eine Handlungsexplosion, ein 200seitiger Aufschrei, ein ›J’accuse‹ des Zwanzigsten Jahrhunderts. (S. 166)

Nicht zufällig wird an dieser Stelle auf Pmile Zolas am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore veröffentlichten Brief an F8lix Faure, den damaligen französischen Präsidenten, Bezug genommen – gilt J’accuse doch als eine Art ›Gründungsdokument‹ des engagierten Schriftstellers, der sein symbolisches Kapital einsetzt, um ins Feld der Macht korrigierend einzugreifen.47 Wie bereits die Bezugnahme auf Sartre ist auch die Gleichsetzung seines Projekts mit demjenigen Zolas als Ausdruck einer verzerrten Logik des Protagonisten zu erkennen: Während es Zola nämlich um eine Parteinahme für den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten französischen Hauptmann Alfred Dreyfus ging, handelt es sich bei dem von der Autorfigur geplanten Buchprojekt um eine offensichtlich voyeuristisch motivierte Studie über das Verhalten einer bedrohten Spezies: des Intellektuellen. Durch das Aufzeigen einer vermeintlichen Lebensabgewandtheit und -unfähigkeit desselben entpuppt sich das Projekt denn auch mitnichten als Anklage gegen die grassierende Intellektuellenfeindlichkeit, sondern muss vielmehr als ihr unmittelbarer Ausdruck gelten.

4.

Ein dritter Weg?

Die Argumentation des Protagonisten in Mai, Juni, Juli changiert also primär zwischen zwei Modellen von Autorschaft: einerseits dem (heteronomen) Brotund Vielschreiber, andererseits dem (autonomen) Schriftstellerintellektuellen. Das Leitbild des engagierten Schriftstellers ist demnach auch in den 1980er Jahren noch wirksam: man muss sich als angehender Schriftsteller mit seinen Implikationen beschäftigen. Gleichzeitig können Vertreter der neuen Autoren47 Vgl. dazu überblicksartig Georg Jäger : »Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß«. In: Sven Hanuschek (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 1–28, hier v. a. S. 14ff.

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generation die Rolle des Intellektuellen nicht mehr unbefangen einnehmen, ohne zugleich über die Aporien dieses Konzepts zu reflektieren. In den Worten von Lottmanns Hauptfigur hört sich dies folgendermaßen an: »Dennoch nahm ich mir vor, unverzüglich mit dem Schreiben zu beginnen und etwas Peinliches herzustellen.« (S. 57) Lottmanns Roman Mai, Juni, Juli ist demnach als frühe Reaktion auf die von Heribert Tommek beschriebene ›Leerstelle‹ zu deuten, die infolge des Geltungsverlusts der im literarischen Feld der Bundesrepublik lange Zeit dominierenden Generation von Nachkriegsautoren entstand.48 Seine widersprüchlichen Aussagen machen immer wieder deutlich, dass er sich selbst keinem der oben genannten Modelle von Autorschaft so recht angehörig fühlt. Ein Ausweg aus dieser misslichen Lage bestände naturgemäß im Beschreiten einer Art ›dritten Weges‹. Und tatsächlich lässt sich in der Mitte des Romans eine längere Textpassage identifizieren, in der der Protagonist eine Vorstellung davon zu entwickeln scheint, wie eine dem Zeitgeist entsprechende Poetik aussehen könnte. Aus dem Ratschlag des Verlegers, seine Literatur müsse mehr ›Biss‹ zeigen, leitet er eine Präferenz für die Pole Subjektivität, Authentizität und Unmittelbarkeit des Ausdrucks, Lebensnähe und Meinungslastigkeit ab: Ich stapfte den langen Nachhauseweg zu Fuß ab, um die vielen neuen Gedanken ordnen zu können. Die Folge war, daß ich am nächsten Morgen mit der festen Gewißheit aufwachte, ich müsse so schnell wie möglich den ›Roman mit Biß‹ schreiben. Und das konnte nur sein: der Konfessionsroman, also die Beichte, die schonungslose Abrechnung mit mir selbst, der Authentizitätsbolzen. Ich mußte schreiben, wie mir der Schnabel gewachsen war, atemlos unmittelbar hechelnd ehrlich distanzlos! Nur so bekam die Sache ›Biß‹. Und worüber wollte ich Zeugnis ablegen – über die Wirklichkeit natürlich! Und wo kam die Wirklichkeit her? Die war da. Ich mußte nur auf die Uhr gucken und eine Stunde abwarten, und schon hatte ich sechzig Minuten astreine Wirklichkeit, die ich nur noch in ehrliche Worte zu kleiden brauchte. Ich wartete den folgenden Tag zur Gänze ab und setzte mich erneut an den Schreibtisch. Zwischen Wirklichkeit und Dokumentation lag nichts weiter als acht Stunden Schlaf. (S. 87f.)

Dadurch ergibt sich nach Maßgabe des Protagonisten als formales Gestaltungsprinzip eine Art ›Neuer Realismus‹: »Endlich fiel mir das passende Textprinzip ein. Man mußte, ganz klar, einfach jeden Zipfel der Wirklichkeit beschreiben, ohne Ansehen der Wichtigkeit. Jede Sekunde mußte beschrieben werden. Jede Sekunde.« (S. 88) Das Ziel einer Annäherung von ›Wirklichkeit‹ und ihrer ›Dokumentation‹ zeitigt sogleich Auswirkungen auf discours-Ebene. Denn es folgt eine Art Binnenerzählung, die im Grunde keine ist (S. 88–104, 48 Vgl. dazu auch Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Köln 1988, S. 129. Die Ursachen für die Schwierigkeiten des »Dennoch-Erzählers«, Begründungen für seine Literatur zu finden, bleiben bei Winkels jedoch weitgehend im Dunkeln.

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S. 112f., S. 113–124). Der Ebenenwechsel wird zwar formal durch doppelte Anführungszeichen angezeigt und die Dialoge sind im weiteren Verlauf konsequenterweise in einfachen Anführungszeichen gehalten. Die Ereignisse, von denen in der Binnenerzählung berichtet wird, schließen jedoch unmittelbar an den vorherigen Besuch beim Verleger an und im Erzählton wie auch der Erzählperspektive lässt sich keinerlei Unterschied ausmachen.49 Schon bald muss der Erzähler freilich feststellen, dass ein solches Vorgehen zu Problemen führt. Er resümiert: »Das Dumme an dem ›Roman mit Biß‹ war, daß ich nicht so schnell schreiben konnte, wie ich erlebte.« (S. 112) Doch zeigt die Annäherung der Schreibweisen auf den eigentlich getrennten Erzählebenen, dass diese poetische Selbstbeschreibung der Autorfigur dem Vorgehen in Mai, Juni, Juli insgesamt am nächsten kommt. Selbstredend darf ungeachtet dieses Befunds auf formal-ästhetischer Ebene nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei Mai, Juni, Juli um den ernsthaften Versuch handelt, ein neues Autorenleitbild zu propagieren. Vielmehr ist Lottmanns Roman in hohem Maße (selbst-)ironisch zu lesen.50 Gerade in dieser Uneigentlichkeit der Darstellung, die sich insbesondere in der auffälligen Widersprüchlichkeit der poetischen Reflexionen der Autorfigur und der damit einhergehenden Offenlegung von Aporien innerhalb der gängigen Autorschaftskonzepte manifestiert, erweist sich Lottmanns Roman tatsächlich in weiten Teilen als genuines Dokument der ›Gegengegenkultur‹ der 1980er Jahre. Mit Blick auf ihren wohl bekanntesten Vertreter Diedrich Diederichsen stellt Christoph Rauen fest: Das Problem der Gegengegenkultur besteht darin, dass einfache Negation und Abweichung nicht mehr ausreichen, um die gewünschte Distanz zwischen Gegen- und Mehrheitskultur herzustellen. Die Lösung verspricht sich Diederichsen von einer umfassenden Rhetorisierung und Ästhetisierung jugendkultureller Kommunikation nach dem Muster der Punkbewegung. Im Kontext von Punk lassen sich karnevalistische Inversionen kulturell verfestigter weltanschaulicher Gegensätze wie Natur/Zivilisation, links/rechts, kritisch/affirmativ, Pazifismus/Militarismus oder Äußerlichkeit/ Innerlichkeit beobachten, die im Modus (transparenter) Verstellung vollzogen werden.51

Es sollte deutlich geworden sein, dass genau diese Form der Auflösung konventioneller Dichotomien in Lottmanns Roman allgegenwärtig ist, und zwar bevorzugt, aber nicht ausschließlich in den Überlegungen der Autorfigur zur gesellschaftlichen Rolle von Intellektuellen. Doch unterscheiden sich die Reflexionen in Mai, Juni, Juli in zwei wichtigen Punkten auch von den Impulsen der 49 Vgl. dazu auch die Hinweise bei Kreknin: Poetiken des Selbst (wie Anm. 41), S. 285f. 50 Vgl. Kreknin: Poetiken des Selbst (wie Anm. 41), S. 284. 51 Rauen: Pop und Ironie (wie Anm. 42), S. 40.

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Gegengegenkultur im Sinne Diederichsens. Zum einen fehlt dem Protagonisten nämlich der entsprechende kritische Impetus – Diederichsen spricht im Rückblick von »richtigen – durchaus linken Ideen«52, mit denen die Gegenkultur angefüllt werden sollte –; vielmehr zeugen sie von einer instabilen Weltanschauung, der kein erkennbarer Veränderungswille mehr zugrunde liegt. Dass diese Haltung keine solitäre Erscheinung ist, sondern als Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung gelten muss, die im Auftreten der dritten Generation von Pop-Literaten Ende der 1990er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, legt eine bilanzierende Aussage Diederichsens nahe, die dieser anlässlich der Neuveröffentlichung von Sexbeat im Jahr 2002 trifft: Man konnte ja auch nicht ahnen, daß noch so manche Generation ins Land schreiten würde, die dasselbe nochmal aufs Neue entdecken würden: Daß nämlich die 68er Linken in einen Gegensatz zu sich selbst geraten und so konservativ wie korrupt geworden waren […]. Daß die eigenen Bildungserlebnisse mit Konsumartikeln und behüteter Kindheit auch ganz toll gewesen waren. Daß die Verfeinerungen und Abgrenzungen, die aus einer Welt sekundärer Codes entstanden waren, längst unübersichtlich und nicht mehr karriereneutral, und daher erklärungsbedürftig wie literaturfähig geworden waren. Man konnte nicht ahnen, daß die Erfahrungen, die ich vor 83 gemacht hatte, noch zwanzig Jahre lang, bis heute, immer wieder neu gemacht und als neu empfunden und ausgegeben werden konnten, inzwischen aber derart gesättigt und vorstrukturiert sind mit den vorverdauten und vorverarbeiteten Erfahrungen anderer, daß irgendwann ein massenkompatibler Diskurs daraus entstehen konnte, ein Genre. Coming of Cynicism.53

Diese an die Adresse der neuen Generation von Pop-Literaten gerichtete Kritik ist nicht ohne Widerspruch geblieben und tatsächlich ist das Verhältnis von Affirmation und Subversion im Schaffen der Pop-Generation um Kracht und Stuckrad-Barre bis heute klärungsbedürftig geblieben. Feststellbar ist, dass der Vorwurf Diederichsens auf Textebene, und zwar im Verhalten der Protagonisten in den entsprechenden Romanen, eine Art Korrelat findet. So konstatiert beispielsweise Heribert Tommek in seiner Besprechung von Stuckrad-Barres Soloalbum, dass die Beziehung der Hauptfigur zur Arbeit wie auch dessen allgemeines Verhältnis zur Gesellschaft von Entfremdung und Zynismus gekennzeichnet sei sowie keinem erkennbaren Entwicklungsmuster folge.54 Damit zusammenhängend scheint zum anderen bereits in Lottmanns Mai, Juni, Juli immer wieder das hervorzutreten, was Tommek mit Blick auf die PopRomane der späten 1990er Jahre als ein ihnen allen gemeinsames ›Grundgefühl des melancholischen Ennui‹ beschreibt – und das gleich auf zweifache Weise: Zum einen sind die widersprüchlichen Reflexionen des Ich-Erzählers als eine Art 52 Diederichsen: 20 Jahre später (wie Anm. 46), S. II. 53 Diederichsen: 20 Jahre später (wie Anm. 46), S. X. 54 Vgl. Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 420.

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zirkuläres ›selbstironisches Re-Modeling‹, das die zeitgenössischen Diskurse aufgreift und sich gleichzeitig von ihnen abgrenzt, zu deuten. Zum anderen korrespondiert der Ennui, der sich beim namenlosen Protagonisten in Krachts Faserland in »Unentschlossenheit und Lethargie auf der einen Seite, andererseits einer Sehnsucht nach einem ›Aufgehobensein‹ in sinnhaften Momenten«55 äußert, in auffälliger Weise mit dem Ausgang in Mai, Juni, Juli. Bezeichnenderweise zieht es nämlich auch den Ich-Erzähler in Lottmanns Roman, als er gegen Ende des Romans überlegt, sich einen anderen Beruf bzw. eine andere Berufung zu suchen, zum Hamburger Hafen. Denn die Erfahrungen, die sein Leben ihm bisher bereitgestellt hat, reichen offensichtlich nicht aus, um ihm einen geeigneten Stoff für seine Literatur zu liefern: »Wozu war ein Buch da, wenn man nicht nach der ersten halben Seite Lust bekam, nach draußen zu rennen und es dem Buch gleichzutun? Wenn man nicht beim ersten guten Satz auf eine Idee kam, die man auf der Stelle ausführen wollte?« (S. 244) Diese rhetorischen Fragen des IchErzählers weisen in hohem Maße selbstironisch auf den Text zurück, wie der erste Satz von Mai, Juni, Juli selbst bzw. vor allem seine nachfolgende Ergänzung offenbart: »Es war in der Zeit, als ich unbedingt ein Schriftsteller sein wollte. Eine schreckliche Zeit.« (S. 7) Unter dem Vorzeichen einer solchen Zustandsbeschreibung scheint das Dargestellte nämlich mitnichten geeignet zu sein, eine Inspiration für das Leben zu bieten. Der Hafen erscheint dem Protagonisten im Vergleich dazu wie eine Verheißung: »Vor mir lag das Tor zur Welt. Die Sonne spiegelte sich in den Wellen, glitzerte, funkelte, blendete. Die Luft war gut, endlich.« (S. 248) Und tatsächlich heuert er wenig später auf einem Schiff mit dem Ziel Madagaskar an. Sichtlich froh darüber, die Arbitrarität seines Daseins hinter sich zu lassen und nun »Order« zu bekommen, lässt er sich »einweisen« (S. 249). Am prägnantesten beschreibt eine Kritik der Erstpublikation von Lottmanns Roman aus dem Jahr 1988 die Probleme der Hauptfigur : Was ihm [dem Ich-Erzähler, N.B.] fehlt, sind Kriterien, die sein Buch zwingend wichtig werden ließen, was ihm fehlt, ist Lebensstoff, eine eigene Biographie, die seinen Erlebnissen die Beliebigkeit, die Gleichgewichtigkeit nähme. […] Ein Autor scheitert an der Beliebigkeit dessen, was er erlebt, wobei nirgends festgestellt wird, ob dies am Erlebten oder an seiner Art der Wahrnehmung liegt. Wo alles mit gleichem Recht beschrieben werden kann, gibt es nichts mehr zu beschreiben. […] Das Buch ist eine Zeitgeist-Kritik im Stil des Zeitgeists, locker, heiter und immer dicht am Überkochen.56

Helge Malchow widerspricht in seinem Nachwort zur Neuauflage des Romans zwar der in der Literaturkritik mittlerweile vorherrschenden Meinung, Mai, Juni, Juli sei eine Art Vorhut der 1990er-Jahre-Pop-Literatur gewesen. Vielmehr 55 Tommek: Das deutsche literarische Feld (wie Anm. 30), S. 418. 56 Martin Ahrends: »In Kürze: Joachim Lottmann: ›Mai, Juni, Juli‹«. In: Die Zeit vom 6. Mai 1988.

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stellt er den Roman in eine Reihe mit Diedrich Diederichsens Sexbeat, Rainald Goetz’ Irre und anderen Texten der 1980er Jahre. Allerdings weist seine Charakterisierung der Hauptfigur in Lottmanns Roman auffällige Gemeinsamkeiten mit Tommeks Ennui-These auf: What makes him tick? Soweit erkennbar : nichts weiter als die Flucht vor der Langeweile. Die Sehnsucht nach dem »anderen«, dem Unvorgesehenen, dem Überraschenden, der Pointe, die das Leben auffrischt. Und damit kommt nun sogar so etwas wie Tragik ins Spiel. Denn dieses Überraschende, Neue ist mit dem Ende der Moderne sicher überall dabei, sich zu verflüchtigen, aber auf keinen Fall ist es in der Welt zu finden, in der der arme Poet dieses Buchs es sucht: unter den anderen durchgeknallten Figuren der bundesdeutschen Subkultur dieser Zeit[.]57

So nimmt Joachim Lottmann mit seinem Roman Mai, Juni, Juli in gewisser Weise eine Zwischenstellung zwischen der Pop-Literatur der 1980er Jahren und derjenigen der neuen Generation in den 1990er Jahren ein. Zwar sind die Reflexionen der Autorfigur einerseits in vielen Passagen, insbesondere in denjenigen, die von Abgrenzungsgesten gegenüber dem ›leergelaufenen‹ Protest der 68erBewegung und von der provokativen Imitation rechtsgerichteter Argumentationsmuster geprägt sind, anschlussfähig an die gegengegenkulturellen Überlegungen Diedrich Diederichsens. Andererseits zeigt Lottmanns Roman in Person Hans-Herrmann Klarczyks bereits die Gefahren eines im Modus der Affirmation ablaufenden Protests auf – eines Protests, der unter Umständen gar keiner mehr ist, da die vermeintliche Doppelcodierung schlicht aufgehoben worden ist, der folglich in reaktionäre Verhaltensweisen umzuschlagen droht. Die selbstironische Anlage des Textes, die zuallererst dem ständigen Selbstwiderspruch und der »scheinbar naiv[en]«58 Autorfigur entspringt, lässt Lottmanns Mai, Juni, Juli auf den zweiten Blick schließlich als durchaus ernst zu nehmenden Kommentar auf die krisenhafte Orientierungslosigkeit der Akteure im literarischen Feld erscheinen. Der in den Reflexionen immer wieder aufscheinende Zynismus und der damit gleichzeitig zur Schau getragene Ennui verbinden den Ich-Erzähler in Mai, Juni, Juli zudem eng mit den Hauptfiguren von Krachts Faserland und Stuckrad-Barres Soloalbum. Gerade diese letztgenannten Aspekte dürften auch der Grund dafür sein, dass Joachim Lottmann mit seinem 1987 erschienenen Roman inzwischen als unmittelbarer Vorläufer der 1990er-Jahre-Pop-Literatur gilt.

57 Malchow: Nachwort (wie Anm. 43), S. 253. 58 Kreknin: Poetiken des Selbst (wie Anm. 41), S. 284.

Christoph Rauen

Ein Muster der deutschsprachigen Neo-Pop-Literatur. Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

1.

Kracht als Ellis-Epigone?

»Abandon all hope ye who enter here«1 – der erste Satz in American Psycho ist ein Zitat, mit dem sich Bret Easton Ellis in die ehrwürdige Tradition der europäischen Großepik einreiht. Er steht im dritten Gesang von Dantes Inferno über die Höllenpforte geschrieben. In Ellis’ 1991 erschienenem Roman handelt es sich hingegen um blutrotes Graffiti über dem Eingang zu einem Bankinstitut in Manhattan. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, wie so vieles in diesem Roman, ein kapitalistisches Update der Danteschen Hölle ist zu erwarten, und wirklich reichen die detaillierten Schilderungen von Abscheulichkeiten in American Psycho ans große Vorbild heran. Mit dem, was im deutschen Sprachraum seit den ausgehenden 1990er Jahren häufig mit ›Pop-Literatur‹ assoziiert wird,2 deckt sich der Roman jedoch nur zu einem gewissen Teil. Er ist berüchtigt für drastische Darstellungen von Verstümmelungen, Vergewaltigungen, Leichenschändung und Kannibalismus, die als Allegorie einer anomischen Wohlstands- und Egogesellschaft lesbar sind, weniger für einen Kult der glänzenden Oberfläche, des Hedonismus und der Verweigerung einer hermeneutischen Tiefendimension. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass ›Pop-Literatur‹ eine zunächst im Feuilleton verwendete Sammelbezeichnung für eine Reihe ungefähr zeitgleich publizierter, lose miteinander verbundener Texte ist. Die damit verknüpften Vorstellungen wechseln von Beobachter zu Beobachter und lassen sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zwar aufklären, aber nur bis zu einem gewissen Grad präzisieren. ›Trennschärfer‹ sind nur mehr oder weniger willkürliche definitorische Festlegungen, die dann aber dazu verleiten, Zusammenhänge zwischen der so konstituierten ›Pop-Literatur‹ und verwandten 1 Breat Easton Ellis: American Psycho. London 2002 [1991], S. 3. Im Folgenden mit Seitenzahl im Fließtext. 2 Vgl. Thomas Heckens Beitrag in diesem Band.

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Texten aus dem Blick zu verlieren.3 Probleme bei der Textauswahl für eine Studie zur ›Pop-Literatur‹ ergeben sich daraus schon deswegen nicht, da mittlerweile ein Kanon an einschlägigen Texten existiert, auf den sich Literaturkritik und -wissenschaft de facto weitgehend geeinigt haben. Typischerweise werden in diesem Zusammenhang Christian Krachts Faserland (1995), Benjamin von Stuckrad-Barres Sololalbum (1998) und, seit einiger Zeit vermehrt, Joachim Lottmanns Mai, Juni, Juli4 genannt, nicht selten auch Texte von Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister,5 wobei jedem einzelnen der genannten Beispiele die Zugehörigkeit zum Kanon auch immer wieder einmal mit mehr oder weniger guten Gründen abgesprochen werden kann.6 Vor allem Krachts Romandebüt und der vier Jahre später veröffentlichte Gesprächsband Tristesse Royale sind unverzichtbare Referenzpunkte der Rede über Pop-Literatur geworden. Was diese beiden Texte und besonders Faserland betrifft, wurde wiederholt auf die große Rolle verwiesen, die Romane von Bret Easton Ellis, vor allem Less than Zero (1985) und eben American Psycho, als Vorbilder spielten. Mit dem zuletzt genannten Roman werde ich mich im Folgenden eingehend beschäftigen. Schon früh hat es Untersuchungen zum Einfluss von American Psycho auf Faserland gegeben. Eine davon konzentriert sich darauf, dem deutschen Autor eine oberflächliche Stilkopie des amerikanischen Romanciers nachzuweisen, die verbergen solle, »wie altertümelnd hier erzählt wird«7. Eckhard Schumacher hat auf einen Artikel der von Kracht herausgegebenen und mittlerweile eingestellten Zeitschrift Der Freund hingewiesen, hinter dem wohl Kracht selbst steht und der

3 Vgl. mit anderer Begründung, aber in die gleiche Richtung weisend Eckhard Schumachers Vorschlag, auf ein fest umrissenes Verständnis von Pop-Literatur zu verzichten, da die gemeinten literarischen Verfahren es darauf anlegen würden, solche Festlegungen zu unterlaufen, »gegebenenfalls auch in vermeintlich gegenläufige Richtungen. Diese Bewegungen kann man genauer erkennen, wenn man auf eine Zuschreibung wie Popliteratur verzichtet – oder zumindest heuristisch davon ausgeht, dass man […] nicht weiß, was Popliteratur ist.« Eckhard Schumacher : »Das Ende der Popliteratur. Eine Fortsetzungsgeschichte (Teil 2)«. In: Olaf Grabienski, Till Huber, Jan-No[l Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin/Boston 2011, S. 53–67, hier S. 66. 4 Vgl. Nikolas Buck über Lottmann in diesem Band. 5 Von den 1960er und 70er Jahren sei hier einmal ganz abgesehen. 6 Moritz Baßer hielt Faserland für weniger exemplarisch als Sololbum, behandelte den Roman aber gleichwohl recht ausführlich in Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 110ff. 7 Mathias Mertens: »Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin von StuckradBarre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Pop-Literatur (Text+Kritik Sonderband). München 2003, S. 201–217, hier S. 208. Siehe auch, einen Aspekt herausgreifend, Immanuel Nover : Referenzbegehren. Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht. Wien/Köln/Weimar 2012.

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

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in die gleiche Kerbe schlägt: »Kracht, das ist Bret-Easton-Ellis-Epigonie, nur in schlecht, in ganz schlecht. Bißchen Salinger, bißchen Doofmetaphorik.«8 Es lohnt sich, den beiden von Kracht selbstironisch hervorgehobenen Aspekten ›Salinger‹ und ›Doofmetaphorik‹ nachzugehen. Gemeint sind zwei literarische Verfahrensweisen, zum einen unzuverlässiges Erzählen im Sinne der Verwendung einer absichtlich als naiv oder anderweitig beschränkt gezeichneten Erzählinstanz, in deren Weltsicht und Rede sich das Dargestellte bricht. Salingers The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen, 1951) ist selbstverständlich nicht der erste, aber einer der bekanntesten modernen Texte, die darauf beruhen. Das zweite Verfahren, die ›Doofmetaphorik‹, besteht in der plakativen und aufdringlichen Verwendung von abgegriffenen und mehr oder weniger automatisierten Symbolen. Diese beiden Techniken sollen im Rest dieses Aufsatzes im Mittelpunkt stehen.

2.

»Bißchen Salinger …«. Erzählerkonstruktion und Modalisierung des Erzählten

Die narrative Technik unzuverlässigen Erzählens verbindet Ellis’ American Psycho mit Faserland und weiteren Romanen Krachts. Im Wesentlichen besteht diese Technik darin, den Erzähler so zu konstruieren, dass eine Korrekturbedürftigkeit seiner Perspektive markiert wird.9 Alle den Kanal der Erzählinstanz durchlaufende Information, und das heißt: die gesamte erzählte Welt, steht unter Vorbehalt. Der Autor legt dem Leser nahe, auf Abstand zur Erzählinstanz zu gehen, wobei der Grad der Distanz flexibel reguliert werden kann. Der so entstehende variable Interpretationsspielraum und der Interpretationsbedarf auf Seiten des Lesers lassen sich künstlerisch auf vielfältige Weise fruchtbar machen. Ich will mit einem vergleichsweise einfachen, weil besonders klaren und eindeutigen Beispiel beginnen. Ellis lässt die Hauptfigur von American Psycho, den 26-jährigen Wall Street-Yuppie Patrick Bateman, die Beatles mit den Rolling Stones verwechseln (357) und den Titel eines Elvis Costello-Albums als My Aim Was You (statt My Aim Is True, was der Titel eines wirklichen existierenden Albums von Costello ist, 340) wiedergeben. Faserland-Lesern wird das bekannt vorkommen, behauptet die Hauptfigur des Romans doch, Walther von der Vo-

8 O. V.: »Männer bei der Arbeit. Letzte Folge: Schriftsteller. Writer’s Talk«. In: Der Freund 8 (2006), S. 50–53, hier S. 52. Vgl. Schumacher : Das Ende der Popliteratur (wie Anm. 3), S. 61. 9 Siehe Fabienne Liptay, Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005. Eine knappe Zusammenfassung gängiger narratologischer Positionen bei Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin, New York 2010, S. 7f. Dort zu Faserland S. 137–140, zu 1979 S. 169–173.

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gelweide sei ein Maler.10 Dieser Typ von Unzuverlässigkeit ist so leicht zu erkennen und zu korrigieren, weil es sich bei dem relevanten Sachverhalt um allgemein zugängliches Faktenwissen handelt. Er dient vor allem dazu, uns den Sprechenden als jemanden mit fehlerhaftem Weltwissen vorzuführen. Anders sieht es aus, wenn es nicht um Fakten, sondern um Bewertungen geht und eher mit Dissens zu rechnen ist, etwa wenn politisch-ethische Gesinnungen artikuliert werden und die Zugehörigkeiten des Erzählers zu bestimmten sozialen Milieus und Lebensstilen zur Debatte stehen. Keine nennenswerten Schwierigkeiten ergeben sich, solange der Erzähler eines Textes eindeutig als Scheusal präsentiert wird, das die allermeisten Menschen als moralisch völlig inakzeptabel beurteilen. Über weite Strecken von American Psycho wird uns vor Augen gehalten, dass es sich beim Protagonisten um einen Rassisten, Frauenverächter und Menschen und Tiere genüsslich abschlachtenden Serienmörder handelt, der an Grausamkeit kaum zu überbieten sein dürfte und bei der Folterung eines seiner weiblichen Opfer beispielsweise auf ein Metallrohr, eine Ratte und ein Stück Brie zurückgreift: I can already tell that it’s going to be a characteristically useless, senseless death, but then I’m used to the horror. It seems distilled, even now it fails to upset or bother me. I’m not mourning, and to prove it to myself, after a minute or two of watching the rat move under her lower belly, making sure the girl is still conscious, shaking her head in pain, her eyes wide with terror and confusion, I use a chain saw and in a matter of seconds cut the girl in two with it. The whirring teeth go through skin and muscle and sinew and bone so fast that she stays alive long enough to watch me pull her legs away from her body – her actual thighs, what’s left of her mutilated vagina – and hold them up in front of me, spouting blood, like trophies almost. Her eyes stay open for a minute, desperate and unfocused, then close, and finally, before she dies, I force a knife uselessly up her nose until it slides out of the flesh on her forehead, and then I hack the bone off her chin. She has only half a mouth left and I fuck it once, then twice, three times in all. Not caring wether she’s still breathing or not I gouge her eyes out, finally using my fingers. The rat emerges headfirst – somehow it turned itself around inside the cavity – and it’s stained with purple blood (I also notice where the chain saw took off about half of its tail) and I feed it extra Brie until I feel I have to stomp it to death, which I do. Later the girl’s femur and left jawbone lie in the oven, baking, and tufts of pubic hair fill a Steuben crystal ashtray, and when I light them they burn very quickly. (316f.)

Subtile Interpretationen über die Geisteslage der Figur oder die Einstellung zu ihr, welche uns der Autor nahelegen will, scheinen hier nicht benötigt zu werden. Das ändert sich aber, wenn man zum Beispiel die Stelle in den Blick nimmt, an der Bateman seine Ansicht darlegt, der in den 1980er Jahren kommerziell ungemein erfolgreiche Huey Lewis, Inbegriff des kantenlosen MainstreamDienstleisters (man denke an Hip To Be Square oder Stuck With You), übertreffe 10 Christian Kracht: Faserland. Berlin 1997 [1995], S. 63.

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in puncto Humor und Sarkasmus Elvis Costello. Dieses Urteil kann zwar bei einem Pop-Musikliebhaber, der sich einigermaßen auskennt, nur Kopfschütteln hervorrufen, und damit rechnet der Costello-Verehrer Ellis;11 gleichwohl fehlt dieser Stelle die absolute Eindeutigkeit und Fraglosigkeit einer unzutreffenden Tatsachenbehauptung oder die so gut wie absolute moralische Gewissheit der Inakzeptabilität eines Verbrechens wie das oben geschilderte. Sehr schwer vorstellbar, aber nicht gänzlich auszuschließen, dass jemand so denken könnte, selbst ein Romancier. Die Ungewissheit darüber, ob der Autor Ellis so denkt, ist hier, zugegeben äußerst gering. Sie nimmt jedoch in dem Maße zu, als im Roman Gegenstände verhandelt werden, bei denen nicht damit zu rechnen ist, dass sie gesellschaftlich auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen würden, sondern die Einschätzungen und Bewertungen hervorrufen würden, die von der Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen abhängen. In American Psycho deutet sich das bereits im ersten Kapitel an, das von einem Dinner bei Evelyn, Batemans nervenaufreibender Freundin, berichtet. Ellis nutzt hier das zu Beginn des Romans bestehende Informationsdefizit bezüglich der Hauptfigur, um beim Leser Ungewissheit über deren Absichten und Einstellungen zu erzeugen. Wiedergegeben werden Konversationen innerhalb einer Abendgesellschaft, die von Affektiertheit, Missverständnissen, Lügen und Sarkasmus geprägt sind, wobei der literarische Reiz darin besteht, nicht immer mit hinreichender Gewissheit entscheiden zu können, wo das eine beginnt und das andere endet. Rasch erkennbar ist jedoch, dass der besonders aggressive und blasierte Timothy Price wohl ein Verhältnis mit Evelyn hat, wovon vermutlich auch Bateman weiß, der Evelyn wiederum mit Courtney betrügt. Bateman begrüßt Courtney mit den Worten »You look very pretty tonight. Your face has a … youthful glow« (8), was angesichts der später berichteten Medikamentenabhängigkeit Courtneys blanker Hohn sein muss, von Courtney selbst aber naiv als Kompliment aufgefasst wird: »You really know how to charm the ladies, Bateman.« (8) Bateman überprüft diese Äußerung sofort auf Uneigentlichkeitssignale, kommt aber zum Ergebnis: »There is no sarcasm in Courtney’s voice« (8). Die Übervorsichtigkeit gegenüber dem Verhalten anderer und das leicht paranoide Scannen auf despektierliches Verhalten und Zweideutigkeiten, denen Ellis so viel Platz in seinem Roman einräumt, sind auch durchgängig in Faserland Thema, etwa wenn der Erzähler in einer Heidelberger Kneipe argwöhnt, die scheinbar freundlich um ihn bemühten Studenten könnten das ironisch meinen und sich einen bösen Spaß mit ihm machen.12 Die Deutungsunsicherheiten der jeweiligen Hauptfiguren und mittelbar auch 11 Christian Kracht: »Psycho Bret Easton Ellis«. In: Tempo 11 (1991), S. 164–168, hier S. 166. 12 Kracht: Psycho Bret Easton Ellis (wie Anm. 11), S. 92.

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der Leser, sind vor allem eine Folge des Umstands, dass stilisiertes und affektiertes Verhalten, ja dass selbst extreme Übertreibungen nicht zwingend darauf schließen lassen, dass die entsprechende Äußerung nicht so gemeint bzw. dem Gegensinne nach zu verstehen sei. So wie hier : »No, no, the sushi looks marvelous,« I tell her and in an attempt to be as consoling as possible I pick up a piece of the fluke and pop it in my mouth, groaning with inward pleasure, and hug Evelyn from behind; my mouth still full, I manage to say »Delicious.« She slaps at me in a playful way, obviously pleased with my reaction, and finally, carefully, airkisses my cheek and then turns back to Courtney. (9)

Manche Mitteilung wird in einer Weise vorgetragen, die sie wie eine uneigentliche Äußerung erscheinen lässt, obgleich der ausgesprochenen Überzeugung wahrscheinlich eine tatsächlich gehegte entspricht, so wenn Courtney erwähnt, dass Evelyn sich Timothys wegen große Mühe mit dem Sushi macht, worauf Bateman mit scheinbarer Ironie erwidert: »Im terribly jealous and I think I better talk to Evelyn.« (8) Inwiefern solche Verstehens- und Deutungsprozesse von der Zugehörigkeit zu verschiedenen gesellschaftlichen Milieus und den entsprechenden Gruppennormen und -perspektiven abhängig sind, wird deutlich, als sich Bateman kurz darauf das ebenfalls anwesende, aufgrund seines vage alternativen Looks inmitten der Gäste wie ein Fremdkörper wirkende Künstlerpaar Stash und Vanden vornimmt. Über Stash heißt es: »[H]is hair isn’t slicked back, no suspenders, no horn-rimmed glasses, the clothes black and ill-fitting, no urge to light and suck on a cigar, probably unable to secure a table at Camols, his net worth a pittance.« (12) Vanden, ebenfalls in Schwarz, trägt das Haar grün gefärbt, beide starren gebannt, wahrscheinlich unter Drogeneinfluss, auf ein Heavy Metal-Video und rauchen Zigaretten. Als ein Gast den Niedergang eines SzeneViertels in Manhattan anspricht, kommt Leben in die beiden. Stash und Vanden machen deutlich, dass sie sich einem gegenkulturellen Ethos verpflichtet fühlen und es für eine Frage von größter Wichtigkeit halten, ob besagtes Viertel weiterbestehen kann als Soziotop ungewöhnlicher und kreativer Lebensmodelle, oder ob man es wirtschaftlichen Erwägungen opfert. Um die Überzeugungen von Stash und Vanden ihrer Nichtigkeit zu überführen, kontert Price mit einer humanitären Katastrophe in Sri Lanka. Bateman steigt darauf ein und setzt zu einer Art Ansprache an, die darin gipfelt, dass der Weltfrieden hergestellt werden müsse, und die im Lichte seines abgründigen Menschenhasses, von dem wir erst später erfahren, als einzige Groteske erscheint. An dieser Stelle des Romans überfordert es sowohl die anderen Figuren als auch die Leser, sich einen Reim darauf zu machen, zumal Bateman auf jedwede Signale mimischer oder gestischer Art verzichtet, welche eine Deutung als ironisch nahelegen würden. Zwar weist die Rede selbst gewisse Anzeichen für die Angemessenheit einer solchen

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Lesart auf, die aber der Klarheit und Eindeutigkeit entbehren, die nötig wären, um Zweifel an den Absichten des Sprechers auszuräumen. So nimmt er abwechselnd politisch eher linke, liberale oder konservative Positionen ein, die, abgesehen davon, dass sie allesamt mit dem später deutlich werdenden Zynismus der Figur inkompatibel sind, sich nicht zu einem in sich stimmigen Ganzen addieren lassen: »There are more important problems than Sri Lanka to worry about. Sure our foreign policy is important, but there are more pressing problems at hand. […] We have to end apartheid for one. And slow down the nuclear arms race, stop terrorism and world hunger. Ensure a strong national defense, prevent the spread of communism in Central America, work for a Middle East peace settlement, prevent U. S. military involvement overseas. We have to ensure that America is a respected world power. Now that’s not to belittle our domestic problems, which are equally important, if not more. Better and more affordable long-term care for the elderly, control and find a cure for the AIDS epidemic, clean up environmental damage from toxic waste and pollution, improve the quality of primary and secondary education, strenghten laws to crack down on crime and illegal drugs. We also have to ensure that college education is affordable for the middle class and protect Social Security for senior citizens plus conserve natural resources and wilderness areas and reduce the influence of political action committees.« The table stares at me uncomfortably, even Stash, but I’m on a roll […]. Price nearly spits up his Absolute after this comment but I try to make eye contact with each one of them, especially Vanden […]. »But we can’t ignore our social needs either. We have to stop people from abusing the welfare system. We have to provide food and shelter for the homeless and oppose racial discrimination and promote civil rights while also promoting equal rights for women but change the abortion laws to protect the right to life yet still somehow maintain women’s freedom of choice. […] Most importantly we have to promote general social concern and less materialism in young people.« I finish my drink. The table sits facing me in total silence. Courtney’s smiling and seems pleased. Timothy just shakes his head in bemused disbelief. Evelyn is completely mystified by the turn the conversation has taken and she stands, unsteadily, and asks if anyone would like dessert. (14f.)

Die Reaktionen, welche Batemans Äußerungen bei der Tischrunde hervorrufen, unterscheiden sich je nachdem, welches Vorwissen die jeweilige Person über Bateman und dessen Einstellungen hat und welchen Ansichten diese Person selbst zuneigt. Wichtig ist dabei, dass Bateman nur solche politischen, sozialen und ökologischen Probleme aufgreift, bei denen man unterstellen kann, dass einem verantwortungsvollen Bürger und guten Menschen an ihrer Bewältigung gelegen sein müsse. Daher die beflissen beipflichtende Miene Courtneys. Dass den in großer Zahl angesprochenen Missständen keinerlei konkrete Vorschläge für Problemlösungen zur Seite gestellt werden und die ganze Rede den Charakter einer wohlfeilen Absichtserklärung hat, lässt sie wie eine Parodie auf den Vo-

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luntarismus und naiven Optimismus des alternativen und linken Milieus wirken. Zumindest scheint Price sie so zu verstehen, der sich kaum kontrollieren kann angesichts der Ausgebufftheit Batemans. Bei Evelyn schließlich scheint dieser unverdauliche Mischmasch republikanisch-nationalistischer, marktliberaler und demokratischer Phrasen – »We have to stop people from abusing the welfare system. We have to provide food and shelter for the homeless and oppose racial discrimination«, »change the abortion laws to protect the right to life yet still somehow maintain women’s freedom of choice« – vor allem ein Gefühl der Konfusion hervorzurufen. Mit dem klassischen Konzept der Satire und dem dafür einschlägigen Verfahren rhetorischer, auf Inversion des Gesagten beruhender Ironie kommt man hier nicht weit, denn diese würde nicht zuletzt einen hinlänglichen Konsens in Bezug auf die zur Debatte stehenden Fragen voraussetzen sowie eine leidlich konsistente Aussage, die aufgrund einer möglichst klaren Markierung in ihr ebenso konsistentes Gegenteil zu verkehren wäre, das ›eigentlich Gemeinte‹. An Konsistenz und eindeutiger Markierung aber mangelt es der Tirade Batemans gerade. Und sie wird auch nicht innerhalb eines kommunikativen Kontextes vorgetragen, in dem die Ansicht vorherrschte, dass junge, hippe Erwachsene in politischer Hinsicht ›gute‹, das heißt linke Überzeugungen hegen müssten.

3.

Deutschland-Exkurs

An dieser Stelle seien einige Bemerkungen zur politischen Stimmung eingefügt, die im Kulturbetrieb der Bundesrepublik zur Zeit des Erscheinens von American Psycho (noch) vorherrschte. Für Angehörige einer ›salonbolschewistisch‹ sozialisierten, verbalradikalistischen und zugleich hedonistischen Poplinken, aus der sich beispielsweise Teile der Spex-Redaktion rekrutierten, muss Batemans oben zitierte, überschwängliche politische Absichtserklärung ähnlich wie für Timothy Price als sarkastisch überzeichnende Gutmenschen-Verhöhnung lesbar gewesen sein. Erst recht gilt das für eine etwas jüngere, deutlich apolitischere Kohorte, darunter Christian Kracht, Moritz von Uslar und Joachim Bessing, die vom studentenbewegten ›Geist von 68‹ weniger als ihre Vorgänger und Vorbilder beeinflusst war und sich mehr und mehr in der Positionslosigkeit einrichtete. Als Vertreter der älteren Generation hatte Diedrich Diederichsen um 1980 besonders prägnant und wirksam formuliert, dass ›Pop‹, verstanden als Kommunikationstechnologie zwischen Verfremdung, Zitat, Ironie, Lüge und Plagiat, in den unübersichtlichen, von Enttäuschungen geprägten Zeiten nach dem Höhepunkt der Politisierung Aussichten auf ein würdevolles Dasein bot, wenn nicht sogar eine Kontinuität von integrer Verweigerung gegenüber einer sozialdemokratisch befriedeten und ruhig gestellten Gesellschaft:

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Das ist es seit Bertolt Brechts »ich gestehe, dass ich in Dingen des geistigen Eigentums …«; das ist 20. Jahrhundert; das ist der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins, dass Kunst nach der Epoche des »Gegen« (gegen den Kapitalismus, böse Menschen, Lieblosigkeit, Schweine, Hörgewohnheiten, Sehgewohnheiten) eine neue Haltung hervorbrachte, die, immer gewahr der Widersprüche, um die herum und durch die sie entsteht, diese in respektlosen, naseweisen, plumpen und grellen Mini-Analysen vereint. Diese Mini-Diskurse schließen alle möglichen Überlebenskampf-Taktiken ein. Sie stehen jedem kämpfenden Genossen frei zur Verfügung, der sich von der Peinlichkeit des echten Anliegens freigemacht hat und nur noch mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage sich die Wahrheit erkämpfen will, wissend, dass alles, was er in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen erscheinen wird.13

Das war zwar noch von einer dem Selbstverständnis nach linken Position aus gedacht, daran aber keineswegs zwingend geknüpft und überdies zunehmend schwer unterscheidbar von einer nur mehr dem Eigeninteresse verpflichteten, nicht mehr an mitkämpfenden Genossen interessierten Lebenseinstellung, wie sie Diederichsen und seine Altersgenossen im Laufe der 1980er und 1990er Jahre bei der jüngeren Generation beobachteten. Diese schien vor allem den Hass auf alles Muckerhaft-Emanzipierte und Selbstgefällig-Alternative von ihren Vorgängern zu übernehmen. Eine Figur wie Bateman könnte in so einer Situation wie ein Alliierter erscheinen, weil und insofern sich seine Aversion gegen Abziehbilder der Alternativ-Kultur wie Vanden und Stash richtet. Dass diese Figur ihrerseits als Geschäftsmann problematische Züge trägt, um das Mindeste zu sagen, muss einer solchen Wahlverwandtschaft nicht unbedingt im Wege stehen, zumal sich das politisch-kulturelle Koordinatensystem Anfang der 1990er Jahre in Deutschland deutlich verschoben hatte.14 Die vergleichsweise übersichtlichen Großlager der Nachkriegszeit hatten sich aufgelöst und den Weg für neue, ungeahnte Kombinationen freigemacht, etwa von christlichem Konservativismus und grüner Alternativkultur oder linkssozialisiertem Radikalismus und marktliberalem Yuppietum. Der Sozialdemokraten, Autonome und Hausbesetzer, aber auch rechte Taxifahrer und Ernst Jünger-Leserinnen provozierende FaserlandErzähler ist, ähnlich wie Bateman, eine hybride Mischung weltanschaulicher und lebensstilistischer Elemente, die vormals wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte. Diese Mischung steht in einer gewissen Kontinuität zu den Bestrebungen von Diederichsen, Rainald Goetz und anderen, welche zehn bis fünfzehn Jahre zuvor die allmähliche Auflösung der überkommenen LinksRechts-Strukturierung der Bundesrepublik gefeiert und mit von linker und li-

13 Diedrich Diederichsen: »Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze«. In: Ders. (Hg.): Staccato. Musik und Leben. Heidelberg 1982, S. 85–101, hier S. 93f. 14 Vgl. Thomas Hecken: »Die verspätete Wende in der Kultur der 1990er Jahre«. In: Grabienski, Huber, Thon: Poetik der Oberfläche (wie Anm. 3), S. 13–26, hier S. 16–18.

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beraler Seite tabuisierten Gesten und Meinungen öffentlichkeitswirksam geflirtet hatten.

4.

Auktoriale Simplifikationen

Ich hatte mit Blick auf American Psycho argumentiert, die Machart lasse sich nicht angemessen mit einem Modell traditioneller Satire beschreiben, verstanden als unausgesprochene Kritik, die mit einer effektiv signalisierten Inversion klar strukturierter Gegensätze arbeitet. Wenn das zutrifft, greift eine Deutung der Bateman-Figur als Vehikel von Kapitalismus- und Elitenkritik zu kurz. 1991 schreibt Kracht in Tempo: »Nirgendwo sonst ist die Habgier, die banale Existenz, das Vegetieren zwischen CDs und Einkaufstüten nobler Feinkosthändler treffender beschrieben worden als in ›American Psycho‹.«15 Thomas Hecken hat die Krachtsche Interpretation als unzutreffende Vereinfachung kritisiert, die durch Krachts Abneigung gegenüber der westlichen Welt als Hort der Trivialität und Sündhaftigkeit motiviert sei: Das kulturkritische apokalyptische Szenario eines Börsenhändlers, den seine »banale Existenz« zum Massenmörder prädestiniert, wird von Kracht zudem als eine treffende Zustandsbeschreibung (und implizite Kritik) der amerikanischen höheren bzw. Reichen-Bildung ausgegeben […]. Zum Amüsement von Kracht trägt vielleicht auch bei, dass, wie er selbst ausführt, Ellis sich »in das Hirn eines Monstrums« begeben hat und der Leser folglich das Leben und die Morde Batemans ohne auktoriale Erklärung, Kommentierung, Verurteilung dargeboten bekommt. Interessanterweise holt Kracht dies in seinem Artikel aber umfangreich nach […]. Er motiviert und bewertet den Helden und das Geschehen präzise und ausführlich – was bis zu der Aussage geht, Bateman stünde repräsentativ für den üblen Zustand der westlichen Welt und ihrer Führungsschicht. Konsequenterweise stellt Kracht Ellis, mit dem er für seinen Artikel gesprochen hat, die Frage, ob auch »Ellis Bateman« sei. Ellis antwortet, er denke, es sei »unmöglich, ein Buch über eine Person zu schreiben, die nicht wenigstens ein paar Eigenschaften ihres Schöpfers in sich birgt«, lässt aber keinen Zweifel daran, dass er das mörderische Treiben Bateman für grausam und abstoßend hält und seine Vorlieben für unerträglich […]. All das trägt sowohl von Seiten des Autors als auch seines Porträtisten und Interpreten in erheblichem Maße dazu bei, die verstörende Qualität des Romans aufzuheben. Durch die klare Sinngebung, die in Form jener thesenhaften Zeitgeist-Feststellung erfolgt, die man im Roman selbst nicht antrifft, ist American Psycho jetzt vollständig verständlich.16

15 Kracht: Psycho Bret Easton Ellis (wie Anm. 11), S. 168. 16 Thomas Hecken: »Zeitgeistjournalismus und Literatur«. In: Daniela Gretz (Hg.): Medialer Realismus. Freiburg i. Brsg. 2011, S. 247–269, hier S. 261f.

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Auch wenn Heckens Kritik an der unangemessenen Vereindeutigung des Romans zutreffen sollte, so lenkt doch Kracht die Aufmerksamkeit auf einen interessanten Punkt, der bereits oben im Zusammenhang mit den Ausführungen zur regulierbaren Distanz der Leser zum Erzählerhelden angedeutet wurde: Häufig tritt uns Bateman als Zeitgenosse gegenüber, der eher armselig, aufgeblasen und peinlich erscheint denn monströs, furchterregend oder abstoßend. So etwa wenn er sich mit dem Versuch, sich die gerade favorisierte Form von Jugendsprache anzueignen, direkt ins gesellschaftliche Aus manövriert: Two black guys are sitting with them at the table. Both sport faded jeans, T-Shirts, and leather jackets. […] I stick out my hand at a crooked angle, trying to mimic a rapper. »Hey,« I say. »I’m fresh. The freshest, y’know … like, uh, def … the deffest.« I take a sip of champagne. »You know … def.« To prove this I spot a black guy with dreadlocks and I walk up to him and exclaim »Rasta Man!« and hold out my hand, anticipating a high-five. But the nigger just stands there. »I mean« – I cough – – »Mon«, and then, with less enthusiasm, »We be, uh, jamming …« (191)

Diese und vergleichbare Stellen fügen dem Roman aufgrund ihrer Komik eine wichtige Facette hinzu und wirken im Gesamtkontext frivol, provozierend und makaber. Eher ins Groteske weisen hingegen Passagen, in denen Batemans Persönlichkeit sich aufzulösen scheint und er beispielsweise, während er eine Art Nervenzusammenbruch erleidet, sich in der Öffentlichkeit schweißtriefend gestohlenen (!) Schinken aus der Dose in den Mund schaufelt (145). Ein anderes Mal ertappt er sich während eines Kurzurlaubs dabei, nachts den Strand aufzuwühlen, große Mengen von Sand zu verschlingen und im Anschluss eine Qualle in der Mikrowelle zu erhitzen, um damit Evelyns Chow-Chow zu füttern (270). Fast bemitleidenswert wirkt er während eines Besuchs bei seiner Mutter in einer Nervenheilanstalt (351f.), erheiternd und witzig dagegen, wenn er sich in der Manier einer Hollywood-Komödie zu unüberlegten Äußerungen hinreißen lässt und die unangenehmen Folgen ausbaden muss (z. B. S. 72). Nicht selten geht der Spaß auf Kosten anderer Figuren und dem Leser wird eine Solidarisierung mit dem durchaus zu geistvollen Bemerkungen fähigen Bateman angeboten, wie das in der Episode mit Vanden und Stash der Fall ist. Diejenigen Figuren, gegen welche sich Batemans Häme richtet, sind oft sehr negativ gezeichnet, allen voran die schwatzhafte, dümmliche und ignorante Evelyn, der er einen mit Schokolade überzogenen Urinalbeckenstein als Praline andreht, auf dem sie dann freudlos herumkaut (323). Im Kapitel »At another new Restaurant« (317–330) etwa spielt das Serienmörder-Motiv so gut wie keine Rolle, stattdessen dreht sich alles um weithin anschlussfähige menschliche Erfahrungen, etwa die deprimierende Erkenntnis, dass eine jahrelange Beziehung im Grunde von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Darauf folgt dann aber ein Kapitel mit der Überschrift

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»Tries to Cook and Eat Girl« (330f.), das schlagartig das kurzzeitig ausgeblendete, mörderische Tun der Hauptfigur auf die Bühne der Erzählung zurückbringt und im Rückblick jede Form der Empathie oder gar Identifikation des Lesers mit Bateman als besonders abgründig erscheinen lässt.

5.

»…bißchen Doofmetaphorik«. Redundanz, Varietät und Symbolisierungen

Bleibt der zweite bei Ellis vorgebildete und vom ›Epigonen‹ Kracht angeblich adaptierte Komplex, die Arbeit mit Leitmotiven, Symbolen und Wiederholungen.17 Damit sind in der Tat wichtige Konstruktionsprinzipien bei Ellis benannt, insbesondere Serienbildung auf der Basis unterschiedlich umfangreicher, verschiedenen Textebenen angehörender Elemente, zum Beispiel bestimmte Handlungen, Situationen oder Formulierungen. Dabei kann die Ähnlichkeit bis hin zur Identität reichen, wie im Fall des fast wortgleich aus Ellis’ Romanerstling Less than Zero18 übernommenen und in American Psycho hineinkopierten Kapitels »Sandstone« (351) und bei der obstinat wiederholten Phrase »nameless dread«. Ganze Kapitel des Romans sind der Darstellung bestimmter Alltagsroutinen gewidmet, der aufwändigen Morgentoilette etwa, während auf der anderen Seite weite Textstrecken aus der additiven Erwähnung solcher Routinen bestehen, so zum Beispiel das immer exakt zweistündige morgendliche Fitnesstraining, inklusive Warteschlange vor dem Stairmaster, oder die durchschnittlich etwa ein bis vier Zeilen langen, auf den ersten Blick austauschbar wirkenden Outfit-Beschreibungen (Labels, Schnitte, Accessoires …). Indem ein Ablauf, der sich häufig vollzieht, aber immer nach dem gleichem Muster, nicht einmal zusammenfassend, sondern jedes Mal von Neuem und in extenso und mit mehr oder minder minimalen Variationen beschrieben wird, entstehen Redundanzen. Mit diesen kann dann weitergearbeitet werden, etwa indem man sie unterschiedlich semantisiert und beispielsweise Stillstand, geistige Ödnis und Bedeutungsleere damit zum Ausdruck bringt.19 Häufig wird Motiven, die, wie die allgegenwärtigen Verwechslungen der gleich gekleideten Figuren untereinander, an sich schon eine verallgemeinernde Deutung nahelegen – Austauschbarkeit von Personen im gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang, Mangel an Individualität, – durch beständiges Wiederholen eine 17 Vgl. dazu C. Namwali Serpell: »Repetition and the Ethics of Suspended Reading in American Psycho«. In: Critique 51 (2010), S. 47–73, hier S. 57–60. 18 Bret Easton Ellis: Less than zero. London 2011 [1985], S. 10f. 19 Besonders eindrücklich, wenn innerhalb von zwei Seiten zweimal eine fast identische Bemerkung zu einer Schuhmarke zu lesen ist: »The shoes are crocodile loafers by A. Testoni« (28). »The shoes I’m wearing are crocodile loafers by A. Testoni« (29).

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performative Dimension verliehen. Daraus resultiert eine klaustrophobischalbtraumhafte Stimmung der Desorientierung und Ausweglosigkeit. Das zielt darauf, den Leser mittels der Struktur der Textoberfläche auf die Folter zu spannen, ihn zu zermürben und ihn damit den Horror der im Text geschilderten Welt möglichst unmittelbar nachempfinden zu lassen.20 Sowohl die dafür verwendeten Bilder als auch die naheliegende kulturkritische Botschaft sind von einer irritierenden Simplizität21 und scheinen durch die permanente Wiederholung ihren Sinn zu verlieren. Dass auch Bateman selbst entsprechende Plattitüden von sich gibt und die allgemein triumphierende Lieblosigkeit und Ignoranz beklagt, trägt auch nicht gerade dazu bei, dass man als Leser derartige kritische Botschaften ohne Abstriche beim Wort nehmen würde.22 Ich will nun auf einen letzten wichtigen Aspekt von Redundanz in American Psycho eingehen. Ähnlich wie bei Ornamenten bilden Wiederholung und Redundanz darin die Basis für ein teils recht raffiniertes Spiel mit Abweichungen und Varietät. Ein Ornament herstellen oder betrachten heißt ja, fortgesetzt zwischen Identität und Differenz zu unterscheiden, wobei die künstlerische Herausforderung auf Seiten der Produktion ähnlich wie bei anderen ästhetischen Schikanen darin besteht, trotz hoher Erwartbarkeit nicht zu langweilen. Ähnlichkeit kann Überraschung ermöglichen, indem sie selbst für minimale Abweichungen sensibilisiert. Dieser Grundmechanismus lässt sich für eine ganze Reihe von Effekten nutzen, etwa zur Konstruktion von Running Gags. Die Nullstufe des Verfahrens besteht in unveränderter Wiederholung eines Elementes in wech20 Der Roman »prefers to work with blunt instruments«, so James Annesley : »Bret Easton Ellis«. In: David Seed (Hg.): Twentieth Century United States Fiction. Chichester, West Sussex/ Malden, MA/Oxford 2010, S. 515–521, hier S. 516. Vgl. dazu auch Heckens (wie Anm. 16, S. 14) Referat eines weiteren Kracht-Beitrags in Tempo, der Rezension eines pornografischen Comics: »Er stellt als Vorzug die ›gnadenlose Redundanz‹ eines pornografischen Comics heraus, seine ›überdrehte Emotionalität‹, ›klinische Flachheit‹. ›Verklärte Pornografie‹ / la Anazs Nin sei dagegen ›im Grunde ziemlich peinlich‹. Kracht schätzt den Comic aber nicht wegen seiner Erregungsqualität, sondern wegen seiner Bedeutungslosigkeit und Materialität: ›Wenn man 50mal Fick sagt, bedeutet Fick am Ende nur noch das Wort selbst. So werden die verschiedensten Stellungen auf 80 Seiten so lange wiederholt, bis der Sex an sich jeden Sinn verliert.‹« Vgl. Christian Kracht [Rezension zu Talk Dirty von Matthias Schultheiss]. In: Tempo 9 (1991), S. 123. 21 Zum Motiv der Verwechslung siehe Mertens (wie Anm. 7), S. 205: »Und wie man heute Armani und morgen Versace trägt, so ist man eben heute Patrick Bateman, morgen Robert Farell, Paul Owen oder Marcus Halberstamm, ganz egal, weil sowieso jeder mit jedem verwechselt wird. Die Menschen der Achtziger-Jahre-Börsenmakler-Welt waren nur Labels, sie hatten kein Innenleben, das man hätte darstellen können, genau das demonstriert Ellis in anstrengender Konsequenz und Präzision. Die Morde von Bateman, bei denen er die Körper ausweidet, sind dabei nur eine folgerichtige Metapher : Auch bei der Suche unter der Oberfläche ist kein Innenleben zu finden.« 22 »I mean, does anyone really see anyone? Does anyone really see anonye else? Did you ever see me? See? What does that mean? Ha! See? Ha! I just don’t get it. Ha!« (229).

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selnden Kontexten. So lautet Batemans Standardausrede, sobald ihm Unangenehmes von Seiten der Mitmenschen droht, er müsse jetzt Videokassetten zurück zum Laden bringen. Andere Elemente durchlaufen Permutationen und markieren dabei manchmal rudimentäre personelle Entwicklungen und Handlungsbögen, die Erwähnungen der Sekretärin Jean etwa, von der Bateman fest annimmt, sie sei hoffnungslos in ihn verliebt: »My secretary, Jean, who is in love with me […]« (61), heißt es zunächst, dann 40 Seiten weiter : »Jean, my secretary who is in love with me […]« (101), und nach weiteren 13 Seiten: »Jean, my secretary who’s in love with me […]« (114). Über eine weite Strecke folgt nichts dergleichen, bis es heißt: »Jean, my secretary« (154), dann nur mehr »Jean« (169, 207, 215), und nun tritt eine inhaltliche Wendung ein, das Verhältnis der beiden verändert sich, bis »Jean, my secretary« (357) während eines Brunches Bateman schließlich mitteilt: »I think I’m in love with you« (361). Etwas anders funktioniert die regelmäßige Erwähnung der fiktiven »Patty Winters Show«, einer TV-Talkshow mit haarsträubenden Themen, etwa einer Sendung über käuflich erwerbbare Heimwerker-Ausrüstungen für Abtreibungen (»Home Abortion Kits«, 317). In diesem Grenzgebiet zwischen bitterer Satire, schwarzem Humor und Bizarrerie bewegen sich auch Darstellungen von Obdachlosen, die Bateman und seinesgleichen erniedrigen, indem sie ihnen mit Geldscheinen vor der Nase herumwedeln. Weil man als Leser nach ein, zwei Beispielen begriffen hat, wie diese Routine funktioniert, fallen Abweichungen davon auf und können auch eine komische Wirkung entfalten, etwa als Bateman einer ungewohnt hübschen Bettlerin ausnahmsweise tatsächlich Geld in den hingehaltenen Pappbecher wirft. Der aber ist mit Kaffee gefüllt, die vermeintliche Obdachlose erweist sich als Studentin, die alles andere als amüsiert darüber ist (82f.). Will man einen Eindruck davon bekommen, wie einfallsreich und durchgearbeitet American Psycho im Detail ist, sollte man sich die routinemäßigen Beschreibungen von Outfits genauer ansehen, bei denen Ellis selten versäumt, im Kleinen Variationen vorzunehmen. So ergibt sich insgesamt eine ornamentale Textstruktur, die aus verschiedenartigen, einander überlappenden Elementserien besteht und vordergründig an die Stelle einer narrativen, zum Beispiel entwicklungspsychologischen Dramaturgie tritt. Dieser Eindruck täuscht aber ein wenig. In Wirklichkeit wird das Prinzip ›Serie‹ immer wieder mit einem gegenläufigen narrativen Muster konfrontiert. Immer wieder wird zu konventionellem Erzählen und Handlungsbögen mit Anfang, Mitte und Ende bzw. Problem, Krise und Lösung angesetzt, doch jedes Mal bricht die Bewegung ab. Ein Beispiel: Nach der Ermordung des von Bateman beneideten Geschäftsmanns Paul Owen – das einzige reiche unter den Opfern und damit auch das einzige, das vermisst und nach dem gesucht wird – nimmt ein Detektiv namens Kimball Ermittlungen auf (255ff.) und befragt die Hauptfigur, die sich rasch in Widersprüche verwickelt. Die nun sich entspin-

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nende Kriminalgeschichte23 kommt jedoch abrupt zum Erliegen, als Bateman zu seinem Erstaunen von einem Alibi zu seinen Gunsten erfährt (man hat ihn wieder einmal verwechselt). Das erwartbare Drama um Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne bleibt aus. So auch, als die psychischen Zersetzungserscheinungen der Figur an Schärfe gewinnen, sie sich anderen gegenüber zu ihren Taten bekennt oder zu einer Generalbeichte gegenüber dem Leser ansetzt (etwa 360), die jedoch gleich darauf für gegenstandslos erklärt wird. Die tiefpessimistische Botschaft lautet jeweils, dass weder Bateman noch die von ihm repräsentierte Welt fähig oder willens zu einer tiefgreifenden moralischen und religiösen Transformation sind. Überall Hölle auf Erden, wie bei Dante, nur ohne reinigendes Fegefeuer.

6.

Stichworte zur deutschen Rezeption des Romans

Faserland und Tristesse Royale haben dieses Neben-, Mit- und Gegeneinander von mechanisch-seriellem Prinzip auf der einen und qualitativer Veränderung, Entwicklung, geschwungener Linie auf der anderen Seite übernommen und dem deutschen Kulturraum angepasst. Dies gilt auch für die wohlig gruselnde Melancholie, die schicke Verzweiflung angesichts eines als ausweglos begriffenen Zustandes24 und die Suggestion einer intellektuellen Überlegenheit, die ohne erbauliche Hoffnungen auskommt.25 Nicht aufgegriffen wurde hingegen Ellis’ exzessive und kühne Textgestaltung, die sich in den beschriebenen Wiederholungsstrukturen, aber auch monströser Bildlichkeit niederschlägt, zum Beispiel im Rahmen der apokalyptischen Visionen des Protagonisten und der ›Markennamengewitter‹26. Tristesse Royale schließt vor allem an die zeitkritische Tendenz des Romans an, was auch damit zu tun haben könnte, dass den beteiligten Autoren als Kulturjournalisten diffuse Zeitgeistdiagnosen entgegenkamen. Sie lassen sich mit wenigen Handgriffen ins Ironische wenden, da die Klagen über Anomien der Überflussgesellschaft, wie sittliche Gleichgültigkeit, Empathiemangel, Fixierung auf Statussymbole, Verschwendung, Persönlichkeitsauflösung usw., die von

23 Dazu Sonia Baelo Allu8: »High and Popular Culture: The Use of Detective Fiction in Bret Easton Ellis’s American Pycho«. In: Ramjn Plo-Alastru8, Mar&a Jesffls Mart&nez-Alfaro (Hg.): Beyond Borders: Re-defining Generic and Ontological Boundaries. Heidelberg 2002, S. 31–42, hier S. 34. 24 Für Beispiele zu diesem und den folgenden Punkten siehe Drüghs Ausführungen zu Faserland in diesem Band. 25 Vgl. Rauen: Pop und Ironie (wie Anm. 9), S. 155–159. 26 Mertens: Robbery, assault, and battery (wie Anm. 7), S. 204.

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Christoph Rauen

Beginn an mit der Neo-Pop-Literatur in Verbindung gebracht wurden,27 ohnehin schon etwas Versatzstückartiges haben, das man nur mehr demonstrativ herauskehren muss. Wie bei Ellis sind alle Beschreibungen und Bewertungen der zeitgenössischen Gesellschaft durch eine Innenperspektive vermittelt und als prekär markiert, was wie die serielle Gestaltung die künstlerische Faktur des Textes in den Vordergrund treten lässt und zu einer Ambiguisierung der Textbotschaften beiträgt. In gewisser Weise regiert in Tristesse Royale ein »höhere[s] Gesetz der Schönheit«28. Es wäre in der Tat irreführend, das Buch auf die darin enthaltene Zeitdiagnostik zu reduzieren. Man sollte aber auch nicht auf das gegenteilige Extrem verfallen und die darin aufgegriffenen Themen als völlig beliebig oder irrelevant ansehen. Immerhin kommen dieser und andere popliterarische Texte mit großer Regelmäßigkeit auf dieselben Probleme zu sprechen, und immer haben Kulturjournalismus und Zeitgeistpresse Vorarbeit bei der Formulierung dieser Probleme geleistet. Vielleicht muss eine auch künstlerisch ambitionierte, manchmal sogar zu einem gewissen Formalismus neigende und auf weltanschauliche Ambivalenz setzende Strömung wie die hier beschriebene Spielart von Pop-Literatur, die auf fesselnde Geschichten und andere geläufige Mittel der Aufmerksamkeitsbindung verzichtet, zu funktional äquivalenten Mitteln greifen und auf ›relevante‹ Themen setzen. Die hier beschriebene Ästhetisierung und Tendenz zur Entwertung der Botschaften und Inhalte folgt einer gewissen Logik. Wenn, wie Ellis und seine deutschen Adepten zu meinen scheinen, die Verhältnisse keine eindeutige ethische oder politische Parteinahme zulassen und jedes Urteil mit dem Vorwurf der Besserwisserei rechnen muss, wenn es, wie die Kracht-Figur in Tristesse Royale meint, »nicht mehr möglich« ist, »eine Meinung zu haben«29, dann stellt Dichtung mit ihrer traditionsgestützten Lizenz für Mehrdeutigkeit, Positionslosigkeit und Unbelangbarkeit eine Möglichkeit dar, die angesprochenen Themen dennoch zu diskursivieren und präsent zu halten. Gewohnt scharfsinnig hat Diedrich Diederichsen dieses Motiv für die Hinwendung von Journalisten zur Belletristik erkannt und kritisiert: »Das alte Medium dient als Licence zur Nullposition. Aus der Chance zur Offenheit und Ambivalenz wird ein Schutzraum, wo ich keine Position zu haben brauche. Ob man das nun erbärmlich findet oder an Regentagen gut verstehen kann.«30

27 Siehe etwa Gustav Seibt: »Aussortieren, was falsch ist. Wo wenig Klasse ist, da ist viel Generation: Eine Jugend erfindet sich«. In: Die Zeit vom 2. März 2000. 28 Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin von Stuckrad Barre. Berlin 1999, S. 11. 29 Bessing: Tristesse Royale (wie Anm. 28), S. 27. 30 Diedrich Diederichsen: »Die Licence zur Nullposition. Goldene Zeiten für Literatur (XIII):

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

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Man könnte nun dem in diesem Aufsatz rekonstruierten Zusammenhang zwischen Gestaltungsprinzipien wie unzuverlässiges Erzählen auf der einen Seite und thematischen Schwerpunkten wie Massenindividualismus auf der anderen weiter nachgehen. Bei Kracht würde man in 1979 fündig werden, und bei Joachim Bessing dürfte noch der 2013 publizierte Roman Untitled einiges an Anschauungsmaterial bieten. Weitgehend vergebens sucht man hingegen in Soloalbum danach, dafür sorgt schon der Verzicht auf eine unzuverlässige Erzählinstanz nach dem Salinger-Ellis-Kracht-Modell, und auch bei Rainald Goetz liegen die Dinge, unter diesem Aspekt betrachtet, anders. Die auf Grundlage dieses Zusammenhangs von Stil und Inhalt konstituierte Textgruppe mag man dann, der raschen Verständigung wegen und gegen den Rat Schumachers, ›PopLiteratur‹ nennen.

Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einer Normalität aufruht, für die sich keiner mehr schämt«. In: die tageszeitung vom 7. August 2000.

Heinz Drügh

But you can never leave. Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

Einst die Spitze literarischer Hipness erscheint Christian Krachts Roman Faserland aus dem Jahr 1995 beim Wiederlesen wie ein historischer, was nicht heißt in die Jahre gekommener, Gegenstand. Gezahlt wird in D-Mark. In Zügen und Flugzeugen gibt es, kaum zu glauben, noch Raucherplätze. Freilich zieht es der Protagonist vor – 8pater le bourgeois! – seinem in Kette gefröhnten Laster auf Nichtraucherplätzen nachzugehen. Die eigentümliche Fixierung auf den Nationalsozialismus, der sich so eindrückliche Charakterbilder verdanken wie das des oft zitierten »SPD-Nazi[s]«1 oder eine Formulierung wie: »Ab einem gewissen Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis« (89), bedient streng genommen noch ein Paradigma der Nachkriegsliteratur, das sich an den Verwerfungen des Dritten Reichs ›abarbeitet‹. Nicht zuletzt ist Faserland ein eigentümlich bundesrepublikanisches, ja dezidiert westdeutsches Buch. Faserland, wurde gesagt, sei Fatherland in deutscher Aussprache,2 womit durch den Bezug auf Robert Harris’ gleichnamige Romandystopie aus dem Jahr 1992 auch die Nazithematik unterstrichen wäre. Sylt, Hamburg, Frankfurt am Main, Heidelberg, München, Meersburg am Bodensee und dann rüber in die Schweiz nach Zürich, so lautet die Reiseroute des Helden. Der Osten der Republik? Fehlanzeige. Bzw. nicht ganz. Während er bei einer Drogenparty in Ohnmacht fällt, formuliert der Erzähler die folgenden fast surrealen Sätze, die durchaus kennzeichnend sind für seinen Gestus: Ich denke immer daran, daß ich nicht weiß, wie das in den kommenden Jahren sein wird. Sonst war immer alles überschaubar. Aber jetzt weiß ich einfach nicht, was da kommt. Ob es so weitergeht mit den bunten Trainingsanzügen, mit lila, hellgrün und schwarz? Das tragen sie alle im Osten, und die Menschen dort sind geduldiger, stiller 1 Christian Kracht: Faserland. München 1997 [1995], S. 49, im Folgenden nur mit Seitenangabe im Fließtext. 2 Vgl. Olaf Grabienski: »Christian Kracht: Faserland«. In: Moritz Baßler, Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin, Boston 2018.

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und auch sehr viel schöner. Vielleicht wird der Osten den Westen überrollen mit seiner Ruhe und seinen Trainingsanzügen. Das wäre beruhigend, denn ein lilafarbener OstMensch ist mir immer noch eine Million mal lieber als so ein Understatement-WestMensch, der irgendwo in einer Einkaufspassage Austern schlürft. Und die großen ungewaschenen Massen aus dem Osten, aus Moldawien, aus der Ukraine, aus Weißrußland, sie werden kommen. Soviel ist sicher. (102)

›Faselland‹: auch solch eine Assoziation lag nahe, sekundäre Oralität3 ist der analytisch sauberere Begriff dafür.

1.

Pop-Ästhetik

Grundsätzlich hat man recht bald die Frage gestellt, weshalb ausgerechnet Faserland zum »Gründungsphänomen«4 der literarischen Pop-Renaissance der 1990er Jahren erklärt wurde. Die Handlung hat wenig Pop-Spezifik, sieht man einmal davon ab, dass das Genre der ›road novel‹ an Kerouacs Beatnik-Bibel On the Road (1957) erinnern könnte. Auf seiner Reise trifft der geschasste Internatsschüler auf Fremde wie auf (vormalige) Freunde, erlebt tiefe soziale Enttäuschungen sowie eine Fülle von Drogen- und Alkoholeskapaden, die wenig von dem befreienden Gestus der Beat-Generation haben. Näher lag da schon die Überlegung, dass Krachts Erstling mit seinem markenfetischistischen Helden wie die Faust aufs Auge von Moritz Baßlers Pop-Minimaldefinition passte, dass man »die gegenwärtige deutsche Literatur in zwei Gruppen einteilen [könne]: in Texte ohne Markennamen, ohne Popmusik-, Film- und Fernsehtitel auf der einen Seite und in Texte mit all diesen Dingen auf der anderen«5 und dass letztere die Pop-Fraktion bilden. War Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum als deutsche Version von Nick Hornbys High Fidelity erkannt, so war der dunklere Kracht in vielem mit Bret Easton Ellis vergleichbar – eine, sieht man bei allem angestrengten Bemühen um die richtigen Brooks Brothers-Hemden, KitonAnzüge und die sprichwörtlich gewordene Barbourjacke auch auf den übrigen Referenzrahmen aus Ballisto-Schokoriegeln (49) und Ehrmann-Pfirsichjoghurt (55), Grünofant- und Berry-Eis (73), freilich sehr bundesdeutsche und fast schon rührend kindliche Variante. Noch grundsätzlicher wurde gefragt, ob literarischer Pop vielleicht sogar jede

3 Jörg Döring: »›Redesprache. Trotzdem Schrift‹. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht«. In: Ders. u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 226–233. 4 Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 110. 5 Baßler: Der deutsche Pop-Roman (wie Anm. 4), S. 155.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

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ästhetische Ambition durchkreuze. »Kann die Literatur nicht einfach Pop sein«, so der Schriftsteller Georg Klein in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, so wie es die Unterhaltungsmusik seit etwa 50 Jahren ist? Nichts gegen den Pop, er ist kulturell so gerechtfertigt wie alle anderen Ausgeburten der Kulturindustrie. Pop schöpft das Geld, den Zeit-, Kraft- und Gefühlsüberschuss der jungen Menschen ab, und Pop kann sich dabei auch beiläufig der Kunst bedienen. Aber Pop braucht die Kunst nicht. Popmusik kommt in der Regel mit homöopathischen Dosen von dem aus, was man musikalischen Einfall, musikalische Form oder musikalische Erinnerung nennen könnte. Es genügt völlig, mit immer gleich großen Gesten auf jenes Handvoll Gefühle zu verweisen, die kulturell mit Jugend verklammert sind.6

»Verwöhnt und hochnäsig«, »Schnösel«, »Popper«, tönte es, ästhetische mit politischen und moralischen Argumenten verknüpfend, aus FAZ und taz an die Adresse des Helden oder besser gleich des Autors.7 »Reaktionäres Kunsthandwerk«, bemerkte Feridun Zaimoglu, sowie den »Geist von Herrenclubs«.8 Aus der anderen Fraktion ist noch Florian Illies’ schnoddrige Bemerkung in Erinnerung: »Es wirkte befreiend, daß man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern empfand, auch öffentlich albern nennen konnte«9, oder, noch zugespitzter, dass die Entscheidung zwischen einer blauen und einer grünen Barbourjacke schwieriger, sprich relevanter sei, als die zwischen CDU und SPD. Auch wenn Kracht seinen Roman in der Retrospektive eher als soziologische Studie denn als ernst gemeintes Statement zur Frage lebensweltlicher Verfeinerung einstuft – »›Faserland‹ ist auch die Auslotung, die Denunziation [der] middle class. Sich gegen unten abgrenzen wollen, wie es meine Figuren durch eher tragikomische Distinktionsversuche unternehmen, ist immer das wesentliche Attribut der middle class gewesen«10 –, bietet der Ästhetizismus doch zumindest einen Ausgangspunkt, wie Ästhetik überhaupt auf dem Terrain von Pop Geltung beanspruchen kann. Was spricht dagegen, Krachts Barbourjacken-Eloge vor dem Hintergrund von Martin Seels Bestimmung zu lesen, derzufolge »ästhetisch« solche »Objekte« seien, die »uns in einer ausgezeichneten Weise sinnlich gegeben«11 sind? Außer 6 Georg Klein: »Weniger Licht! Auf der Suche nach dem verlorenen Originalgefühl – oder : Warum ich kein junger Schriftsteller sein möchte«. In: Süddeutsche Zeitung vom 24./ 25. Februar 2001. 7 Thomas Groß: »Aus dem Leben eines Mögenichts. Gesellenstück aus der ›Tempo‹-Literaturwerkstatt«. In: die tageszeitung vom 23. März 1995. Gustav Seibt: »Trendforscher im Interregio«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1995. 8 Feridun Zaimoglu: »Knabenwindelprosa«. In: Die Zeit vom 18. November 1999. 9 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. München 2000, S. 155. 10 Christian Kracht: »›Wer sonst soll die Welt verbessern?‹ Gespräch mit Ulf Poschardt«. In: Welt Online vom 17. Juli 2009. http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4139780/ Kracht-Wer-sonst-soll-die-Welt-verbessern.html, letzter Zugriff: 3. September 2014. 11 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main 2003, S. 47.

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natürlich die Tatsache, dass es sich dabei um ein prinzipiell allen zugängliches und auf wie auch immer unspektakuläre Weise anzueignendes und zu benutzendes Konsumgut handelt. Dies ist freilich ein Einwand ums Ganze. Denn seit ihrer Etablierung als autonomes Feld bildet Subtilität im Verbund mit Komplexität und Schwerzugänglichkeit das zentrale Kriterium nicht nur für den ästhetischen Wert, sondern auch für die politische Widerständigkeit von Kunst. Für beides stellt das Konsumobjekt den genuinen Counterpart dar : »Das Schöne«, schreibt Jacques RanciHre, »ist dasjenige, das zugleich der begrifflichen Bestimmung wie der Verlockung der konsumierbaren Güter widersteht«12. Exakt das, was Krachts Roman zu Pop macht, scheint ihn also in Sachen Ästhetik zu disqualifizieren. Differenzierter formuliert es Diedrich Diederichsen, der mit Blick auf die 1990er-Pop-Literatur von Texten spricht, die »in hohem Maße konventionell[] und gleichzeitig technisch sehr gut gemacht[]« sind, die aber »die Welt der Vorstellungen und Kenntnisse ihrer Leser« nie übersteigen und anders als die experimentellere Pop-Literatur der späten 1960er und frühen 1970er Jahre »keine Fremdheiten und fremdartigen Perspektiven einblenden«.13 Die Unterscheidung High (komplex, ernst, kritisch) / Low (kulturindustriell, Entertainment, unkritisch) wird damit als Re-Entry in das Gebiet des Pop eingetragen, ja gewissermaßen zum Definiens von emphatischem Pop im Unterschied zur popular culture.14 Man hat die Sache freilich auch anders aufgezäumt. So etwa, wenn man den »Detailrealismus«, der »literarisch zuvor Marginalisiertes« zur Darstellung bringe, zum Motor ästhetischer Innovation erklärte.15 Das Argument, wie es Moritz Baßlers angesprochene Studie Boris Groys’ Abhandlung Über das Neue entnommen hat, findet sich auch schon im Naturalismus – etwa bei Georg Simmel – oder im frühen Formalismus bei Viktor Sˇklovskij.16 Im Folgenden sollen nun zwei weitere Aspekte von Faserland mit Blick auf ihre Aussagekraft für eine Pop-Ästhetik diskutiert werden: die eigentümliche affirmative Haltung des Protagonisten (die den Ausgangspunkt für die heftige Ablehnung des Romans von Seiten des Literaturbetriebs bildet) sowie die Fülle verstörend ekelhafter Szenen (die mancherorts heute noch Zweifel an der Tauglichkeit des Textes für die gymnasiale Oberstufe nährt). 12 Jacques RanciHre: Ist Kunst widerständig? Berlin 2008, S. 15. 13 Diedrich Diedrichsen: »Die License zur Nullposition. Goldene Zeiten für Literatur (XIII). Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einer Normalität ruht, für die sich keiner mehr schämt«. In: die tageszeitung vom 7. August 2000. 14 Vgl. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XIII. 15 Anke Biendarra: »Der Erzähler als popmoderner Flaneur in Christian Krachts Roman Faserland«. In: German Life and Letters 55 (2002), H. 2, S. 164–179, hier S. 164. 16 Vgl. Heinz Drügh: »Konsumästhetik«. In: Moritz Baßler, Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin, Boston 2018.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

2.

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Aspekte der Affirmation

Christian Kracht hat stets mit den Medien gespielt, etwa in den Rollen des Dandy oder als Oberschichtsspross. »Herr Kracht, sie geben normalerweise keine Interviews. Warum nicht?«, wird er in einem Gespräch (gemeinsam mit dem Autorenkollegen Stuckrad-Barre) in der Zeit gefragt: »Weil es ihn langweilt«, schaltet sich Stuckrad-Barre ein. Darauf Kracht: »Und ich bin ja sehr reich.«17 Ähnlich wie auf dem dieses Gespräch begleitenden Autorenfoto, Kracht stahlblond vor blauem Hintergrund mit akkuratem Scheitel, hellem Anzug und Krawatte, legt auch der Protagonist von Faserland jederzeit Wert auf seine Kleidung: »Auf jeden Fall habe ich mich ordentlich angezogen, Krawatte und Blazer mit Goldknöpfen drauf und so.« (28) Unzweifelhaft ist auch, dass dieser Dresscode als Provokation gemeint ist: »Weil wir ordentliche Kleidung tragen […] werden wir pausenlos gemustert und prüfend von der Seite angesehen. Das ist aber eigentlich ganz lustig, daß man so durch Erscheinen provozieren kann« (104), heißt es nur zehn Jahre nach Joschka Fischers Vereidigung als Hessischer Landesminister in (neuen!) Turnschuhen. Mit derselben Attitüde wird auch die Werbung vorgetragen, die Kracht und Stuckrad-Barre für Peek & Cloppenburg machen und auf der sie in Anzügen (wenn auch ohne Krawatte, dafür mit adrettem Rollkragenpullover) von wild gebremsten Fahrrädern rabaukenhaft mit weit geöffnetem Mund bzw. gebleckten Zähnen aus dem Bild blicken. Der Dichter und das Konsumgut, das ist keine ganz einfache Beziehung, denn »commoditization«, die zunehmende Verwandlung von Objekten (und Menschen) in eine Ware, »homogenizes value, while the essence of culture is discrimination, excessive commoditization is anti-cultural«18. Die Affirmation der Ware hätte sich freilich in den 1990er Jahren ohne weiteres auch als ästhetisches Zitat begreifen lassen, etwa der ›Philosophie‹ Andy Warhols, der die globalisierenden Tendenzen des Massenprodukts feiert: »The most beautiful thing in Tokyo is McDonald’s. The most beautiful thing in Stockholm is McDonald’s. The most beautiful thing in Florence is McDonald’s.«19 Homogenisierung wird dabei nicht nur als Nivellierung kultureller Unterschiede, sondern auch als Akt der Demokratisierung begriffen: What’s great about this country is that America started the tradition where the richest consumers buy essentially the same things as the poorest. You can be watching TVand 17 Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre: »›Wir tragen Größe 46‹. Ein Gespräch mit Anne Philippi und Rainer Schmidt«. In: Die Zeit vom 9. September 1999. 18 Igor Kopytoff: »The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process«. In: Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge/New York 1986, S. 64–91, hier S. 73. 19 Andy Warhol: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again. London/New York 1975, S. 71.

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see Coca-Cola, and you know that the President drinks Coke, Liz Taylor drinks Coke, and just think, you can drink Coke, too. A Coke is a Coke and no amount of money can get you a better Coke than the one the bum on the corner is drinking. All the Cokes are the same and all the Cokes are good.20

Gut zehn Jahre vor Warhol hatten diesseits des Ozeans Vertreter der Independent Group, darunter Richard Hamilton, »Affirmation« zu einer wesentlichen Strategie der aufblühenden Pop-Ästhetik erklärt. Grundsätzlich geht es dabei darum, »respect for the culture of the masses« zu erwerben. Nicht zuletzt spielt dabei die (für Personen, die an Hochschulen für angewandte Künste lehren und ihr Geld verdienen, nicht eben kontraintuitive) »conviction« eine Rolle, »that the artist in 20th century urban life is inevitably a consumer of mass culture and potentially a contributor to it«21. Ist es bei Hamilton die Überzeugung, damit einen »Fine-Art standpoint«, ja sogar eine »avant-garde aesthetic« zu vertreten – Stichwort: künstlerische Innovation durch Inkorporation des vermeintlich Nichtästhetischen – so ist es auch in Faserland keineswegs ausgemacht, dass die dort dargestellten PopPhänomene überall dasselbe bedeuten. So, wie der Ethnologe und Anthropologe Daniel Miller darauf verwiesen hat, dass Coca-Cola zwar »everywhere« sei, »but means slightly different things in each locality«22, so reist auch ein Freund des Faserland-Erzählers »auf der Suche nach Spuren des Liedes You’re my heart, you’re my soul von Modern Talking […], das ja nun wirklich ein sehr, sehr schlechtes Lied ist«, durch die Welt. Und damit sind nicht »Orte wie Fuerteventura und so« gemeint, »das weiß man ja eh, daß da sowas gerne gehört wird, sondern […] Pakistan und […] Bangladesch und […] Kambodscha« (64). Im Rahmen einer solchen Anekdote erfahren wir, wie ein weiterer Song von Modern Talking, Brother Louie, in Indien zu Bedeutung kommt (Modern Talking sollte im Übrigen der Gesprächsband Tristesse Royale eigentlich heißen, wie eine neue Studie zur Entstehungsgeschichte informiert)23 : Also, er sitzt da in der Bar, und irgendein Inder plänkelt in der Ecke auf einer Wandergitarre herum, die ihm, dem Inder, irgendsoein durchreisender Hippie verkauft hat für einen Batzen Heroin, und plötzlich streckt der Inder dem Alexander die Gitarre hin und fragt ihn, ob er nicht was vorspielen kann. Das Interessante daran ist, daß Alexander eigentlich nur genau zwei Lieder auf der Gitarre spielen kann. Das eine ist Es geht voran von den Fehlfarben, und das andere ist Brother Louie von Modern Talking. Jedenfalls schnappt Alexander sich die Gitarre und fängt an, die ersten blöden Akkorde 20 Warhol: The Philosophy of Andy Warhol (wie Anm. 19), S. 100. 21 Richard Hamilton: »For the finest art try – POP« [1961]. In: Ders.: Collected Words. 1953–1982. London 1982, S. 42–43, hier S. 43. 22 Daniel Miller : Stuff. Cambridge, Malden 2010, S. 9. 23 Jörg Döring, Jörgen Schäfer, Jan Süselbeck (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Siegener kommentierte Ausgabe. In Vorbereitung.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

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von Brother Louie zu spielen. Der Inder grinst und schnippt mit den Fingern und stampft mit den Füßen auf dem Lehmboden der Bar herum, und plötzlich füllt sich die ganze Bar mit Indern, die sich, angelockt von der Musik, alle um Alexander scharen, und, jetzt kommt’s: Alle kennen das Lied ganz genau, und durch die dreckige Bar mitten in der Wüste erschallt ein Männerchor: Brother Louie, Louie, Louie … How you douie, douie, douie. Das hat er mir jedenfalls so geschrieben und daß er das Stück den ganzen Abend spielen mußte […] und am Schluß waren alle mächtig betrunken, und alle haben vor Freude und vor Glück geweint. (65)

Einmal abgesehen davon, dass die Entscheidung für Modern Talking bei der Alternative Fehlfarben, Monarchie und Alltag (dem laut Peter Glaser besten Buch (!) des Jahres 1981)24, nicht uninteressant ist (und so), liegt hier ein klassischer Fall von misheared lyrics vor. Denn nirgends ist im Songtext – und da regen sich alle über den vermeintlichen Fauxpas mit Bernhard von Clairvaux und Walther von der Vogelweide als Malern auf (63) – nirgends ist nach der Geminatio »Brother Louie, Louie, Louie« von »How you douie, douie, douie« die Rede, sondern von »Oh, she’s only looking to me« bzw. »Oh, doing what he’s doing«. Dass das keinen hermeneutischen Unterschied macht, können nur Philologen denken, geht es doch bei Kracht offenbar nicht wie im Lied um eine vertrackte Dreiecksgeschichte, sondern um ein bewegendes Gemeinschaftserlebnis, um eine positive Befindlichkeit, die entlang eines eigentlich verpönten, kulturell verschobenen Songs erlebt wird. Ähnlich liegt der Fall bei einem weiteren Song, den der Erzähler auf Sylt hört. Dort ist er ohnehin emotional ein bisschen aufgewühlt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlen durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Duft ausgeströmt haben. Das war ein freundlicher Geruch, irgendwie verheißungsvoll und, na ja, warm. Jetzt riecht es wieder so, und ich merke wie ich fast ein bißchen heulen muß, also zünde ich mir schnell eine Zigarette an […]. (12)

»Danach bestellt« seine weibliche Begleitung zwei Flaschen Roederer, und als sie kommen, trinken wir jeder ein Glas auf ex, und jemand hinter der Bar legt Hotel California von den Eagles auf, und wie die Musik so spielt und […] draußen die Sonne untergeht, fühle ich mich auf einmal so verdammt glücklich. Ich bekomme ein dämliches Grinsen, weil ich so glücklich bin. (17)

Nun ist der 1976 veröffentlichte Song Hotel California der amerikanischen Westcoast-Countryrockband Eagles nicht gerade das, was man einen ästhetisch überambitionierten Pop-Song nennen würde. Genau das richtige für den Faser24 Peter Glaser : »Zur Lage der Detonation – Ein Explos8«. In: Ders. (Hg.): Rawumms. Texte zum Thema. Köln 2003 [1984], S. 9–21, S. 14f.

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land-Protagonisten, verweigert der sich doch mit Nachdruck Hipsterreferenzen wie den »Texte[n] zur Kunst«, »irgendwelche[n] Independent Bands, die im Spex erwähnt werden« oder dem »letzten Text von Diedrich Diederichsen« (69). Vielleicht ist die Negation in einer solchen Haltung schon zu reflektiert, trotzdem kommt der Faserland-Held in der Hotel California-Situation einer weiteren Strategie der Pop-Affirmation nahe, dem insbesondere von Susan Sontag populär gemachten Camp. »Camp taste is, above all, a mode of enjoyment, of appreciation – not judgement. Camp is generous. It wants to enjoy.«25 Nur auf den ersten Blick erscheint Camp als ironische Strategie – Brother Louie mit Indern spielen, zwinker, zwinker –, im Kern ist es laut Sontag ein naives, zartfühlendes Verhalten: »It only seems like malice, cynicism. (Or, if it is cynicism, it’s not a ruthless but a sweet cynicism.) […] Camp is a tender feeling.«26 Und so ließe sich Camp als ein Konzept beschreiben, das, wie es die Cultural Studies später genauer ausformulieren werden,27 eine fein differenzierte Praktik der Aneignung und des Besitzes auch und gerade von alltäglich scheinenden, warenförmigen Objekten formuliert: The connoisseur of Camp has found more ingenious pleasures. Not in Latin poetry and rare wines and velvet jackets, but in the coarsest, commonest pleasures, in the arts of the masses. Mere use does not defile the objects of his pleasure, since he learns to possess them in a rare way. Camp – Dandyism in the age of mass culture – makes no distinction between the unique object and the mass-produced object.28

Für den rare way stehen in Faserland allerdings eher andere Figuren als der Erzähler, beispielsweise sein Freund Nigel. Durch die Art, wie der Roman aus der Perspektive des Erzählers Nigels Angewohnheit, T-Shirts mit Markenlogos zu tragen, vorführt, wird das Kunststück geleistet, eine ästhetische Subversionsstrategie als solche vorzuführen und sie ihrerseits auch wieder als Form der Überangestrengtheit zu relativieren – ganz die Art, wie der Roman auch die Markenfixiertheit des Erzählers vorführt: Meistens trägt er [Nigel] irgendwelche T-Shirts, auf denen das Logo einer Firma steht, ich meine, so richtige Firmen wie Esso oder Ariel Ultra oder Milka. Ich weiß auch nicht, warum er das macht, er hat es mir mal erklärt, da waren wir ziemlich betrunken, und da hatte er mich in eine ekelhafte Kneipe auf dem Kiez geschleppt, die hieß Cool, glaube ich, und da hat er mir erklärt, daß das die größte aller Provokationen sei, T-Shirts mit 25 Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹«. In: Dies.: Against Interpretation and other Essays. New York 1966, S. 275–292, Abschnitt 55. 26 Sontag: Notes on ›Camp‹ (wie Anm. 25). 27 Grant McCracken: Culture & Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities. Bloomington, Indianapolis 1988. Paul Willis: Common Culture: Symbolic Work at Play in the Everyday Cultures of the Young. Boulder 1990. 28 Sontag: Notes on ›Camp‹ (wie Anm. 25), Abschnitt 46.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

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den Namen bekannter Firmen drauf zu tragen […]. Ich hab das damals nicht ganz verstanden, aber ich habe es mir gemerkt. (27)

Die ekelhafte Kneipe Cool: Entlarvt wird das verkrampfte Bemühen um ironische Sophistication.29 Auf ähnliche Weise erscheint auch die Sentimentalität des Erzählers angesichts von Hotel California gebrochen. Schaut man sich den Songtext einmal genauer an, so wird dort eine Form der Ambivalenz markiert, die Sontag ebenfalls in ihrem Camp-Konzept geltend macht: eine »psychopathology of affluence«. Gemeint ist damit, dass die zarten, euphorischen, bejahenden Gefühle in einer Pop- oder Überflussgesellschaft meist auch ihre Gegensätze mitführen: Gefangensein, Ausweg- und Alternativlosigkeit, Übersättigung, Bulimie. So registriert die Erzählstimme des Eagles-Songs, unterwegs in der Dämmerung auf einem »desert highway, cool wind in my hair«, zwar zunächst den »warm smell of colitas« [i. e. Marihuana] und sieht das einladende »shimmering light« eines Hotels. Die Party, die dort mit der südkalifornischen Variante des Roederer, »pink champagne on ice«, gefeiert wird, bringt das Späthippieblut zunächst in Wallung: »›We haven’t had that spirit here since 1969‹«. Insgesamt aber melden sich zwiespältige Gefühle: »›This could be heaven or this could be hell‹«. Mehr und mehr bekommt die Situation etwas Klaustrophobisches: »And she said, ›We are all just prisoners here of our own device‹«. Was heute oft Alternativlosigkeit heißt, begegnet hier als Ausweglosigkeit: »Last thing I remember, I was / Running for the door / I had to find the passage back / To the place I was before / ›Relax‹, said the night man / ›We are programmed to receive / You can checkout any time you like / But you can never leave.‹«

3.

Psychopathology of Affluence

Von der Affirmation der Konsumkultur als ästhetischer Strategie sind wir bei ihrem Gegenteil gelandet, den finsteren Seiten der Wohlstandsgesellschaft. Sieht man sich die psychische Verfassung der Hauptfigur genauer an, dann fällt auf, dass Glückserlebnisse meist von widerstreitenden Empfindungen, von Trauer oder Ekel durchkreuzt werden. Das kann, wie in den folgenden zwei Beispielen, mit durchaus perverser Note geschehen: […] und ich muß daran denken, wie ich mich früher immer aus dem Zugfenster gelehnt habe, den Kopf im Fahrtwind, bis die Augen tränten, und wie ich immer gedacht habe, wenn jetzt jemand auf der Toilette sitzt und pinkelt, dann fliegt die Pisse unter dem Zug nach oben und zerstäubt in Fahrtrichtung ganz fein auf mein Gesicht, so daß ich es nicht merke, nur daß ich dann eben so einen Urinfilm auf dem Gesicht habe, und wenn 29 Vgl. dazu Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/New York 2010, 129–140.

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ich mit der Zunge über die Lippen fahren würde, dann könnte ich das schmecken, die Pisse von Fremden. (20) Das Mädchen lächelt zurück, nein, eigentlich strahlt sie zurück […]. Mir läuft ein kleiner angenehmer Schauer den Rücken herunter, der gleiche Schauer übrigens, den ich auf öffentlichen Pissoirs bekomme, wenn ich auf die Duftwürfel pisse und dann den süßlichen Geruch der Duftwürfel gemischt mit dem etwas schärferen Geruch des Urins einatme. (76)

Es geht also in Faserland durchaus nicht um ein bloßes »Liking things«30, wie es Andy Warhol mit vorgeblicher Naivität für die Pop-Art reklamierte. Es geht auch und hingebungsvoll um Disliking, allerdings nicht in jener von Markus Joch akzentuierten Form des ironiefreien und tendenziell größenwahnsinnigen »Geschmacksterrorismus«, der unentwegt »apodiktische Bewertungen popkultureller Erzeugnisse«31 abgebe, wie sie in einer Konsum- und Evaluationsgesellschaft an der Tagesordnung sind. Christian Kracht gelingt es vielmehr, mit seinem nicht selten verkaterten und infolgedessen gereizten und überempfindlichen Protagonisten eine Perspektive auf die Popkultur, aber auch auf die Alltagswelt in einer Konsumgesellschaft zu werfen, die in dieser Detailgenauigkeit keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei ist klar, dass man die Urteile keineswegs teilen muss, die politischen schon gar nicht. Deutlich markiert ist, dass wir es in Faserland mit keinem politisch besonders gewitzten Kopf noch mit einem Redner von hoher Sprachgewalt zu tun bekommen. Was nicht heißt, dass dieser sich scheute, eine Art Karl Kraus zu geben: […] und dann stolpert ein Demonstrant, irgend so ein armes Schwein, der sich die Schnürsenkel an seinen blöden Doc Martens nicht gescheit zugebunden hat, und dann fallen alle ungefähr achtzig Polizisten über ihn her und prügeln auf ihn ein. Davon gibt es dann Fotos in der Zeitung und dann wird wieder diskutiert, ob die Polizei zu gewalttätig ist oder die Demonstranten oder beide und ob die Gewaltspirale eskaliert. Das ist wieder so ein unglaublicher Satz. Daran läßt sich doch alles ablesen über diese Welt, wie unfaßbar verkommen alles ist. (26)

Diese gedanklich und sprachlich auf kalkulierte Weise eingedumpfte Variante der alert-feinsinnigen Kulturkritik eines Max Goldt ist freilich nicht ohne Komik und hat ihre Momente: Christinen-Brunnen ist natürlich so ein gräßliches Proleten-Wasser, aber es ist immer noch besser als diese neuen schwedischen oder belgischen Wasser, Spa, zum Beispiel, oder Ramlösa oder wie die alle heißen. Außer mir sitzt niemand im Bord-Treff. Das 30 Andy Warhol: »What is Pop Art?« In: Art News, November 1963 (unpag). 31 Markus Joch: »Geschmacksterrorismen. Eine Möglichkeit, deutsche Pop-Literatur zu beschreiben«. In: Carsten Gansel, Elisabeth Herrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2013, S. 91–140, S. 94.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

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nennt sich wirklich so. Bord-Treff. So eine Frechheit. So eine niederträchtige, riesengroße Frechheit. (78)

Hinzu kommt eine Outrierung des Körperlichen, die Faserland auch als ein Buch der Körpersäfte beschreiben lässt. Schon die berühmte Anfangssequenz am Sylter Fisch Gosch- Stand akzentuiert mit ihrem falschen Plural auch grammatisch das Zuviel der Bulimie: »Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war« (9). Gekotzt wird im Folgenden ausgiebig: »Unterwegs sehe ich, wie ein völlig betrunkener Mann auf die Tür seines türkisfarbenen Porsche-Cabrios kotzt« (17); »die Kotze klatscht in die Badewanne. […] Ich wußte gar nicht, daß Menschen auf einen Haufen so viel kotzen können, ich meine, rein mengenmäßig« (42); »Große gelbe Kotzschwälle platschen auf den Teppich […] und dann schießt dummerweise die beißende Kotze wieder hoch und bedeckt mein Jackett und das Hemd mit einer übelriechenden, gelben Soße.« (71) Die bereits angesprochene Zugfahrt animiert den Erzähler zu Reflexionen über weitere Körperausscheidungen: »Ich denke daran, daß die Exkremente der Menschen nicht mehr wie früher auf den Gleisen landen […]. Ich weiß aber nicht, warum ich denke, daß das schade ist […]« (23). Die Überlegung schweift weiter in eine Phantasie über Bahn-Selbstmörder : »Die Körper sind dann immer ganz zerquetscht, die müssen sie dann mit einer Schaufel zusammenkratzen. Das habe ich jedenfalls mal gelesen, und ich denke daran, was wohl besser ist, Scheiße oder Körpermatsch […]« (24), um schließlich in die demütigende Erinnerung an eine Übernachtung im vornehmen Elternhaus einer Jugendliebe zu münden, in der die Exkremente gewissermaßen kumuliert auftreten, ein Surf & Turf des Grauens: »ich gucke an mir herunter und sehe, daß ich ins Bett gekotzt habe, aber das ist nicht alles, nein, ich habe auch ins Bett geschissen« (29). Nicht zuletzt der großspurige, whiskykennerhafte Auftritt im Flugzeug mit Rauchen im Nichtraucherbereich endet in der schlimmstmöglichen infantilen Demütigung: […] da merke ich, wie mein Hintern ganz feucht wird, so als ob ich mir in die Hose gemacht hätte. Ich taste sie langsam ab, langsam, […] und tatsächlich, mein ganzer Hosenboden ist naß und klebrig. Ich werde rot, merke aber im selben Moment, daß die Nässe von den Ehrmann-Joghurts kommt, die mir in der Tasche ausgelaufen sind. […] Also bleibe ich lieber sitzen, während der Joghurt auf den Sitz läuft und alles anfängt, ziemlich stark nach Pfirsich zu riechen. Ich hab mir ja vorhin extra zwei PfirsichJoghurts eingesteckt, weil ich die am liebsten mag. (55)

Faserland schließt damit an eine mitunter übersehene Komponente der Pop-Art an, in welcher die Gegenseite zu den chromblitzenden, farbsatten, knitter- und faltenfreien, fast hyperrealen Oberflächen der berühmten Siebdrucke zur Darstellung gelangt. Nicht nur Claes Oldenburg hat – in Skulpturen wie den Two Cheeseburgers with everything (1962) (Abb. 1) oder der 7up-Dose (1961) – die

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abjekte, schleimig ekelhafte, bzw. zu Müll werdende Form des Konsumobjekts thematisiert. Von Warhol gibt es neben den berühmten Campbell-Ikonen auch in Öl gemalte Bilder wie die zerlaufenden Del Monte Peach Halves (1962) (Abb. 2).32

Abb. 1 Claes Oldenburg: Two Cheeseburgers

Aus der zeitgenössischen Bildkunst könnte man für eine solche Überschreibung von Affluence und Exkrement auch den Namen Thomas Rentmeister ins Spiel bringen. Dessen von Zucker überhäufter Einkaufswagen (Abb. 3) oder der Teppich aus Aufschnittpackungen (Abb. 4) symbolisieren plakativ den Überfluss, ebenso die Riesenpfützen aus Nutella, die freilich bereits jene gegenstrebige Assoziation in Gang bringen, die in Installationen wie Ohne Titel (2006) und insbesondere Mr. Clever (Abb. 5) dingfest gemacht wird. Während es in der kulturwissenschaftlichen Erforschung von Konsumgewohnheiten darum geht, was normale Menschen in ganz normalen Alltagen mit dem Konsumobjekt verbinden, so scheint es im Pop vor allem um das Imaginäre der Konsumkultur zu gehen. Dort findet sich weniger etwas zum realen Stellenwert von Ballisto oder Grünofant, dafür finden sich umso mehr Phantasien der »extremes of freedom and constraint«33. Supermärkte sind dann wahlweise Monumente aufgetürmter Waren wie auf Gurskys Photo 99 Cent (wobei das ›Pile it high‹ keine Übertreibung darstellt, sondern der Log(ist)ik des Supermarkts entspricht,34 Abb. 6).

32 Vgl. Heinz Drügh: »Konsumknechte oder Pop-Artisten? Zur Warenästhetik der jüngeren deutschen Literatur«. In: Andres Geier, Jans Süselbeck (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 158–176. 33 Daniel Miller : A Theory of Shopping. Ithaca 1999, S. 88. 34 Vgl. Rachel Bowlby : Carried Away. The Invention of Modern Shopping. London 2000, S. 143.

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

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Abb. 2 Andy Warhol: Peach Halves

Oder es wird der Totalausstieg imaginiert wie auf Thomas Demands Installation Schlecker (2012). Wie sehr Krachts Romanschaffen an solchen sehr zeitgenössischen Phantasien mitwebt, zeigt schließlich auch ein Blick auf den zweiten Roman 1979, in dem das diskutierte Phänomen des Camp irritierenderweise wörtlich genommen und die Muselmann-Statur, zu welcher der Protagonist im chinesischen Arbeitslager wird, zum Ausdruck eines schwulen heroin chic gerät: »ab und zu befühlte ich […] meine Rippen und die Hüftknochen, die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es immer schon gewollt hatte. Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer zu dick gefühlt habe, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen«.35

35 Christian Kracht: 1979. Köln 2001, S. 166.

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Abb. 3 Thomas Rentmeister : Zuckerwagen

Abb. 4 Thomas Rentmeister : Teppich

Heinz Drügh

Pop Schreiben in den 1990er Jahren. Christian Kracht: Faserland (1995)

Abb. 5 Thomas Rentmeister : Mr. Clever

Abb. 6 Andreas Gursky : 99 Cent

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4.

Heinz Drügh

Fazit

Faserland scheint in mancher Hinsicht kein poppiges Buch zu sein. Mit einigen Argumenten könnte man den Roman auch als »geschlossene[n], traditionell durchgeführte[n] Problemroman«36 lesen, nicht zuletzt auch, so Moritz Baßler, als »Problemstudie über ein verpaßtes Coming Out«37. Einiges spricht zudem dafür, Faserland als Kritik an der Überflussgesellschaft zu verstehen, als Studie über eine Jugend ohne Väter, die nun freilich nicht mehr im Krieg sterben, sondern fern des Heims für die Akkumulation von Mehrwert sorgen, der dann vom Nachwuchs per Kreditkarte verjubelt wird. Die erstaunliche Karriere des Textes, der ihn bis auf die Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe geführt und ihm eine ganze Reihe einschlägiger Erläuterungen von Schroedel, Stark und anderen verschafft hat, könnte dafür sprechen, dass sich eine solche Lesart durchgesetzt hat. Ich würde indes argumentieren, dass die Lektüre von Faserland als PopLiteratur nicht als »sehr selektiv« aufgefasst werden muss oder als Indiz einer Mitte der 1990er Jahre anstehenden Befreiung von Hippie- bzw. 68er-Idealen. Faserland partizipiert vielmehr an Momenten, von denen die Pop-Ästhetik gewissermaßen seit ihren Anfängen gekennzeichnet wird. Da wäre zunächst der Aspekt der Affirmation einer modernen, von Marken, Märkten und Medien geprägten Welt, die bei Kracht indes als Rollenprosa eines jungen Reaktionärs immer auch die Züge politischer Affirmation aufweist, was umso provozierender wirkt (gemeint ist wohlgemerkt stets der Erzähler, nicht der Autor). Ferner ist aber das Umkippen von Pop in den Ekel, in Tod und Exkremente eben nicht als Abschied von oder als Abrechnung mit Pop zu lesen. Pop als eine Ästhetik der affluent society führt vielmehr bei aller Affirmation, allem fast lebensphilosophischen Ja-Sagen zur Welt des Fernsehens, der Popmusik, der Markenwaren immer auch zu deren Pathologien. Im Sommer 2013 wurde Faserland im Lande Niedersachsen in den Pflichtkanon für die Abiturprüfung aufgenommen. Der FAZ war dies ob der Flachheit und Unbildung des Protagonisten, wegen seines schlampigen Deutschs und der Menge nicht nur sprachlicher Fäkalien einen geharnischten Kommentar wert: »Es ist ein Schande, dass Niedersachsen ausgerechnet solch einem Text eine zentrale Stellung beim Abitur zubilligt. Selbst literaturinteressierte Schüler dürfte er abschrecken.«38 Es gibt also Hoffnung, dass die Pädagogen die widerständige Pop-Ästhetik noch nicht vollends in ›Werte und Normen‹ zu verwandeln gewusst haben. 36 Baßler : Der deutsche Pop-Roman (wie Anm. 4), S. 114. 37 Baßler : Der deutsche Pop-Roman (wie Anm. 4), S. 113. 38 Heike Schmoll: »Abschreckend«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. August 2013.

Ingo Irsigler

Pop Rocks. Inszenierung im Zeichen von Popmusik in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

1.

Let me entertain you!

Benjamin von Stuckrad-Barres Debütroman Soloalbum (1998) rief in Teilen des Feuilletons heftige Reaktionen hervor, wie die Rezension Amoklauf eines Geschmacksterroristen im Spiegel beispielhaft zeigt: »So ist ihm sein Roman zu einem kaum verschlüsselten autobiographischen Pamphlet gegen die Dummheit und die Langeweile seiner Umwelt geraten, das leider selbst langweilig und nicht besonders klug wirkt. Kaum ein Feindbild, das Stuckrad-Barre ausläßt, kein Klischee, auf das er nicht einprügelt.«1 Diese Reaktionen waren Teil des Spiels, sie waren offensichtlich in den Business-Plan des Autors einkalkuliert, dem es anscheinend nicht darum ging, zum Liebling der Kritiker zu werden, sondern, wie er öffentlich immer wieder behauptete, einen ›Hit‹ zu landen. Aufmerksamkeit versuchte er dabei, so zeigt ein Blick auf die schriftstellerische Selbstinszenierung jener Jahre, über ›Äußerlichkeiten‹ zu generieren. Illustrieren lässt sich seine Inszenierungspraxis anhand einer Modekampagne für Peek und Cloppenburg, zu der er sich in einem Interview aus dem Jahre 1999 wie folgt geäußert hat: Da sich unsere Verlage weigern, Bauzäune mit uns zu plakatieren, und sie auch keine Werbespots im Kino oder Fernsehen buchen, in denen Topmodels mit unseren Büchern posieren, müssen wir zu anderen Mitteln greifen, um dem Leser zu übermitteln: Es darf wieder gekauft werden. Es wäre ja töricht, sich auf die Literaturkritik zu verlassen.2

Das Provozierende dieser Inszenierung besteht weniger in der Tatsache der offensiven Markenorientierung, sondern vielmehr in der spezifischen Kombina1 Anonym: »Amoklauf eines Geschmacksterroristen«. In: Der Spiegel vom 7. September 1998, S. 209. 2 Anne Philippi, Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹. Benjamin v. Stuckrad-Barre und Christian Kracht wollen mit einer neuen Kombination berühmt werden: Für Mode werben und Bücher schreiben«. In: Die Zeit vom 9. September 1999.

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tion »Für Mode werben und Bücher schreiben«,3 die nicht ins Bild des herkömmlichen Literaturbetriebs zu passen scheint. Gerade die Zur-Schau-Stellung von Oberfläche bei gleichzeitiger Erzeugung von Brüchen markiert die spezifische ›Methode Pop‹, die Benjamin von Stuckrad-Barres Debütroman eignet, denn zu kurz gegriffen wäre es, Stuckrad-Barres Pop-Konzept, wie er es in Soloalbum zuerst umsetzte, als bloße Vermarktungsstrategie zu begreifen. Vielmehr scheint das Spezielle an dieser Spielart von Pop-Literatur in der Verbindung von ›Performance‹, also der Verpackung und Vermarktung einerseits, und der inhaltlich-ästhetischen Substanz des Textes andererseits zu liegen. Für beide Dimensionen bildet bei Stuckrad-Barre Popmusik die zentrale Referenzgröße – womit der Roman Gemeinsamkeiten mit zahlreichen anderen Büchern aufweist, denen in den 1990er Jahren das Label ›Pop-Literatur‹ angeheftet worden ist: Nick Hornbys High Fidelity, Andreas Neumeisters Gut laut oder Rainald Goetz’ Rave. Der Einfluss von Popmusik ist dabei vielgestaltig und kann sich auf mehreren Ebenen zeigen. Erstens auf der Ebene der Paratexte: Romane wie Soloalbum wählen eine Verpackungs- und Vermarktungspraxis, die Begriffe und Strukturen der Pop-Industrie auf das Medium Buch bezieht. Hierüber soll nicht nur eine ganz bestimmte Käuferschicht angesprochen werden, sondern die Hülle ist auch ein literaturpolitisches Statement: Bücher wie Soloalbum wollen sich auf den ersten Blick erkennbar von gängigen Inszenierungen der Hochliteratur abheben, sie folgen der Devise »Let me entertain you!«. Zweitens auf der Ebene der Diegese: In den erzählten Welten vieler Popromane ist Popmusik Mittel der Identitätskonstruktion. Die Erzähler oder Figuren sind in solchen Romanen Musikjunkies, d. h. Popmusik ist zentraler Bestandteil ihrer alltagsästhetischen Erfahrungswelt. Die Figuren definieren sich über den Konsum von Popmusik und grenzen sich über ihren Musikgeschmack von anderen ab; traditionelle Formen der Identitätszuschreibung wie etwa Beruf oder Einkommen spielen hingegen in diesen Texten keine Rolle. Damit verbunden ist ein bestimmter Rezeptionsmodus von Pop-Musik, der weniger auf das innere Erleben abzielt, sondern Popmusikkonsum als Möglichkeit der Selbstinszenierung begreift. In Soloalbum nennt der Ich-Erzähler über 100 relativ prominente Bands oder Musiker, über die er ein (meist negatives) Geschmacksurteil fällt.4 Und schließlich kann sich der Einfluss von Pop-Musik drittens auf der formal-ästhetischen Ebene zeigen. Hier geht es insbesondere um die Frage, inwiefern die Literatur in formaler Hinsicht Verfahren oder Konzepte der Popmusik auf die Literatur überträgt. Das können bestimmte Erzählverfahren sein, wie bei3 Philippi, Schmidt: ›Wir tragen Größe 46‹ (wie Anm. 2). 4 Zum Thema Pop-Literatur und Identität vgl. Nicole Gast: Erwachsenwerden im deutschen Pop-Roman. Der Reifeprozess der Protagonisten in Faserland, Soloalbum & Co. Hamburg 2014.

Inszenierung im Zeichen von Popmusik in von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

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spielsweise in Andreas Neumeisters Gut Laut, wo die popmusikalische Methode des Samplings als texterzeugendes Verfahren verwendet wird.5 Zum Bereich formal-ästhetischer Referenzen gehört auch die Übernahme von ästhetischen, genuin aus dem Bereich der Pop-Musik stammenden Konzepten. In Soloalbum – dies möchte ich im Folgenden zeigen – sind nicht nur alle drei genannten Ebenen angelegt, vielmehr wirken sie funktional zusammen. Popmusikalische Referenzen fungieren sowohl innerfiktional wie auch auf der Paratext-Ebene als Mittel subjektiver Selbstinszenierung, die auf dem Prinzip der Abgrenzung beruht. Wie sich der Ich-Erzähler auf spezifische Art und Weise über Popmusik von seiner Umwelt abgrenzt, so die These meiner Ausführungen, positioniert sich der Roman über die Paratexte als Pop-Roman, der herkömmliche Kategorien literarischer Selbstpräsentation unterläuft. Diese Selbstpräsentation ist wiederum mit einem Ästhetik-Konzept verbunden, das offensichtlich diejenige Ästhetik, die der Britpop-Band Oasis im Roman zugesprochen wird, zu adaptieren versucht. Die popmusikalische Optik der Oberfläche ist im Falle von Soloalbum mit einer Tiefendimension verknüpft, die ihren ästhetischen Impuls aus dem Bereich der Popmusik bezieht.

2.

Verpackung und Ich-Inszenierung

Schon das Buchcover und der Titel von Soloalbum stellen einen klaren Bezug zur Popmusik her : Das Cover zeigt eine Schallplatte, die den Titel ›Soloalbum‹ sowie den Künstlernamen ›Benjamin v. Stuckrad-Barre‹ trägt. Liest man den Klappentext, so finden sich weitere Begriffe aus der Popmusikbranche: Der Ich-Erzähler, gerade mal Anfang zwanzig, ist soeben von seiner Freundin verlassen worden; […] Trotz verschiedener ›Soloprojekte‹ in der gemeinsamen Zeit, trotz der gelegentlichen Gastrolle auf einer Single, sozusagen, fühlt sich der Erzähler schlecht wie lange nicht […]. Das alte Lied vom Lieben und Sterben, von sterbender Liebe (und unsterblichen Popstars) kehrt in der Version von Benjamin v. Stuckrad-Barre in die Charts der Gegenwartsliteratur zurück.6

Deutlich erkennbar stellt der Klappentext eine Relation her zwischen der popmusikalischen Vermarktung des Buches einerseits und dem Inhalt des Romans andererseits. Der Titel des Buches referiert nicht ausschließlich auf Popmusik, 5 Vgl. Ingo Irsigler : »›Music makes the world go sound‹. Die Adaption popmusikalischer Verfahren in der neueren deutschen Popliteratur«. In: Jan-Oliver Decker, Hans Krah (Hg.): Erzählstile in Literatur und Film (=Kodikas, Vol. 29, No. 3–4). Tübingen 2007, S. 93–107 sowie Günther A. Höfler: »Sampling – das Pop-Paradigma in der Literatur als Epochenphänomen«. In: Dietmar Jacobsen (Hg.): Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Propheterie. Literatur an Jahrhundertschwellen. Berlin u. a. 2001, S. 249–267. 6 Benjamin von Stuckrad-Barre: Soloalbum. Roman. Köln 1998.

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sondern entpuppt sich vielmehr als thematisches Zentrum: Es geht um einen Erzähler, der von seiner Freundin verlassen worden ist, den Status des Erzählers als ›Single‹. Das Buch greift demnach auf das für viele Popsongs zentrale Sujet der unerfüllten Liebe zurück. Besonders interessant ist der letzte Satz des Klappentextes, der das Thema des Buches, wiederum unter Verwendung von Pop-Analogien, an den Autor rückbindet: Das gute alte Liebeslied kehre mit von Stuckrad-Barre in die »Charts der Gegenwartsliteratur zurück«. Das Inhaltsverzeichnis setzt die Ästhetik des Buchcovers fort und führt auf einer A- und einer B-Seite die jeweils vierzehn Kapitel der beiden Seiten an – allesamt nach Songs der in den 1990er Jahren erfolgreichen Britpop-Band Oasis benannt.7 Die Funktion, die mit dieser popmusikalischen Verpackung verknüpft ist, liegt in einer popaffinen Form der schriftstellerischen Inszenierung. Durch die Adaption erprobter Strategien der Popmusik wird dem Autor der Status eines Popstars verliehen.8 Ein Blick auf die Buchverkäufe zeigt den Erfolg dieser Strategie: »Stuckrad-Barres ›Debütalbum‹ schoss tatsächlich direkt in die ›Charts der Gegenwartsliteratur‹, er avancierte ›über Nacht‹ zum gleichermaßen vom seriösen Feuilleton angefeindeten wie von jugendlichen Lesern gefeierten Popstar der Literatur und münzte dieses Image in der Folgezeit so konsequent wie erfolgreich aus.«9 Auf Soloalbum folgte Livealbum und nahezu zeitgleich die dazugehörige CD Liverecordings, die die Lesereise des Autors dokumentiert. Die Cover-Gestaltungen beider Veröffentlichungen nehmen wiederum deutliche Anleihen bei der Popmusik.10 Die strategische Absicht dieser popmusikalischen Gestaltungspraxis ist die 7 Komplettiert wird die Inszenierung durch icons, die »im CD-Player die Optionen ›fast forward‹ und ›fast backward‹ markieren und derart im Zusammenspiel mit den Kapiteltiteln die Analogisierung des Buches mit einer ›Platte‹ (…) ins Buchinnere führen.« Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser : »White Album/Blackbox. Popkulturelle Inszenierungsstrategien bei den Beatles und Stuckrad-Barre«. In: Literatur im Unterricht 1 (2011), S. 17–38, hier S. 29. 8 Zu entsprechenden Selbstinszenierungsstrategien Stuckrad-Barres vgl. Markus Tilmann, Jan Forth: »Der Pop-Literat als ›Pappstar‹. Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen bei Benjamin von Stuckrad-Barre«. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800–2000. Frankfurt am Main 2001, S. 271–283. Außerdem: Gerrit Vorjans: »›Tu Schlechtes und rede darüber‹. Das Drogengeständnis als Selbstinszenierungspraktik bei Benjamin von Stuckrad-Barre«. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014, S. 343–352. Vorjans legt u. a. dar, wie etwa in Livealbum Klischees vom Rockmusikstar auf den Schriftsteller übertragen werden. 9 Jürgensen, Kaiser : White Album/Blackbox (wie Anm. 7), S. 29f. 10 Abgebildet sind (weibliche) Fans, die zur Bühne, also zum Star, aufschauen. Und im Innenbereich der CD bringt ein Falco-Zitat die Star-Inszenierung auf den Punkt: »In der Moral eines Unterhaltungskünstlers muss nur eines Priorität haben, das Wissen nämlich, daß die Leute, die gekommen sind, ernsthaft bedient werden wollen.« Zur popmusikalischen Prägung der Paratexte bei Stuckrad-Barre vgl. insgesamt Jürgensen, Kaiser: White Album/ Blackbox (wie Anm. 7), S. 28ff.

Inszenierung im Zeichen von Popmusik in von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

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Ausbildung einer am Rockstar orientierten Autoren-Identität, was die popkulturell geprägten, erlebnisorientierten Gesellschaftsmilieus ansprechen soll. Die popmusikalische Verpackung ist aber nicht nur Oberflächen-Marketing, sondern sie verweist überdies auf die Bedeutung von Popmusik für die IchKonstruktion des Erzählers in der Diegese. Das verbindende Element zwischen Hülle und Inhalt besteht in der Funktion von Popmusik als Mittel der Selbstdarstellung. Der Protagonist von Soloalbum ist ein Musikfan, der die alltäglichen Geschehnisse durch den Rekurs auf Popsongs kommentiert, versteht und zu verarbeiten versucht. Insbesondere gilt dies für seinen Liebeskummer. Nach der Trennung von seiner Freundin Katharina zieht er sich zurück, vegetiert in seiner Wohnung vor sich hin und hört ›gute Platten‹. Der Roman verweist hier auf eine klassische Funktion, die der Popmusik im Allgemeinen zugeschrieben wird: Gefühle zu transportieren, Identifikation zu schaffen, emotionale Erlebnisse des Lebens auszudrücken. Diese Art der Rezeption funktioniert beim Ich-Erzähler allerdings nur begrenzt: Der Roman demonstriert immer wieder, dass sich der Erzähler der Musik nicht voll und ganz hingeben kann: »Die Musik wird – wie ich – immer trauriger. […] Nun lasse ich nur noch alte Männer für mich singen. Elvis Costello, Neil Young. Letzterer allerdings quäkt zu sehr, da muß ich dann doch immer lachen […].«11 Statt der unmittelbaren Hingabe an die Musik prägt eine distanzierte, reflexive Haltung die Musikrezeption; und genauso wenig gelingt es dem Erzähler, Gefühle gegenüber seiner Ex-Freundin ungebrochen, d. h. authentisch und unmittelbar zu beschreiben: »So ist es in der Musik, so ist es in der Liebe. Und ich komme nicht los von Katharina, einfach nur, weil sie bisher meine erfolgreichste Platte war, am längsten in den Charts, im Herzen und auf Tour. Sozusagen. Shut up.«12 Liebessprache wird in die Sprache der Musikwelt übersetzt, womit deutlich eine Distanzierung von der ursprünglichen Emotion angezeigt wird. Diese Distanzierungsgeste zeigt, dass sich sogar im Liebesleid das Bestreben ausdrückt, eine Rolle zu spielen. Die emotionale Seite der Persönlichkeit ist zwar vorhanden, wird aber überlagert vom Drang des Erzählers, sich selbst in Szene zu setzen. Dieser Hang zur Selbststilisierung erklärt auch, weshalb die Liebesgeschichte nur ansatzweise erzählt wird, es also keine wirkliche Handlung gibt. Der Text ist stattdessen geprägt von apodiktischen Geschmacksurteilen über alle möglichen Aspekte des Konsumlebens – besonders über Popmusik.13 Dieses wertende Sprechen über musikalische Güter hat für die Figur zwei Funktionen. 11 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 107. 12 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 202. 13 Vgl. Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman: Die neuen Archivisten. München 2002, S. 101ff.

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Erstens eine ordnende Funktion. Durch die Sprechweise versucht der Erzähler in strukturierender Absicht die Umwelt zu kategorisieren und damit die Komplexität der ihn umgebenden Welt zu reduzieren.14 Die zweite Funktion besteht darin, Inszenierungsformen der jeweiligen Lieblingsband aufzugreifen und im Alltag auszuspielen. Der Erzähler will so sein wie der Star, den er verehrt. So übernimmt der Ich-Erzähler zwei wesentliche Inszenierungsformen seiner Lieblingsband Oasis, die ihr öffentliches Auftreten geprägt haben: Das leidenschaftliche Hassen anderer Musiker und damit das Denken in Kategorien von Konkurrenz: »Denn alles konkurriert ja miteinander«,15 heißt es im Roman. Durch diese Aneignung »habitueller Abgrenzungsgesten«,16 die mit der Favorisierung bestimmter Musiker und Bands verbunden sind, positioniert sich der Erzähler innerhalb der sozialen Welt. Er grenzt sich von Menschen mit vermeintlich schlechtem Geschmack ab. Diese Rezeptionsform von Musik setzt sich also nicht in erster Linie mit der Musik auseinander, sondern vielmehr mit der eigenen Selbstdarstellung. Bryan Adams, Pearl Jam oder die Rolling Stones zu hassen, bedeutet sich von denjenigen zu distanzieren, die im Verdacht stehen, diese Musik zu hören.17 Zentral für das Verständnis von Soloalbum scheint mir zu sein, dass diese Form der Identitätszuschreibung Widersprüche erzeugt, die der Text immer wieder offenlegt. Er markiert weniger das Gelingen von Identitätsbildung durch kulturelle Abgrenzung als vielmehr die Brüche dieser Selbstinszenierungspraxis, was etwa in folgender Passage des Romans deutlich wird: Wenn man zuviel von der Musik erwartet, ist man eher falsch beraten, auf eine Studentenparty zu gehen. […] Gerade als mir die Musik selbst ein bißchen langweilig wird […] und ich die neue Supergrass-Platte einlegen will […], kommt ein langhaariger Volldepp, streicht sich die Haare hinters Ohr, steckt die Hände vorne in die Tasche seines ›Gegen Nazis‹-Kapuzenpullovers und raunzt: – Spiel mal nicht nur so alten Scheiß. In seiner Hand: Eine alte Faith No More-CD. […] Bevor ich dann vielleicht doch die erste Schlägerei in meinem Leben verantworten und durchführen kann, kommt gerade noch rechtzeitig eine Frau mit einem samtenen Wickelrock und sagt ›Spiel doch mal die Kruder & Dorfmeister‹. Das ist ein Satz wie ›Na, wie geht’s‹ oder ›Das Wetter könnte auch besser sein‹ oder ›Aldi ist scheiße, bis auf den Champagner, also der ist schon super!‹ – das kann man immer sagen. Platten wie eben die oder auch Portishead 14 Zum Verfahren des Sammelns, Ordnens und Kategorisierens vgl. Baßler: Die neuen Archivisten (wie Anm. 13), S. 101ff. 15 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 47. 16 Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner, Andr8 Menke: Popliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 2015, S. 124. 17 Vgl. von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 20. Pop-Musik ist im Roman an eine spezifische Form der sozialen Kategorisierung gebunden. »Mit jedem Genre und jeder Band ist eine ziemlich klare Vorstellung vom Charakter der typischen Hörer verbunden.« Ralf von Appen: Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären. Bielefeld 2007, S. 244.

Inszenierung im Zeichen von Popmusik in von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

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[…], Massive Attack oder so sind ein echtes Problem – gute Musik, aber eben doch von allen so gnadenlos gerngemocht, daß man wirklich dieses gymnasiale Abgrenzungsproblem aufkeimen spürt: Die sind blöd, die können also auch keine gute Musik hören. Trotzdem ist Kruder & Dorfmeister : ›DJ Kicks‹ jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit die ›Köln Concerts‹ dieser Generation.18

Die Textpassage verdeutlicht, dass die Abgrenzung von anderen Milieus wichtiger ist als die Frage, ob die Musik tatsächlich gemocht wird. Der Ich-Erzähler steckt in folgendem Dilemma: Er muss dasjenige schlecht finden, was er eigentlich als gut anerkennt, weil er diejenigen, die es gut finden, nicht mag. Denn gäbe er öffentlich zu, dass er die Musik von Kruder & Dorfmeister gut findet, so würde er sich in einen bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang stellen; er säße dann gegebenenfalls in einem Boot mit Menschen, die schlecht angezogen sind oder die falschen politischen Positionen haben. Ganz ähnliche Widersprüche lassen sich in Bezug auf seine Oasis-Rezeption feststellen. Der IchErzähler liebt diese Band, obwohl sie in den 90er Jahren ›gnadenlos gemocht‹ wurde. Sie war ein Mainstream-Phänomen, was allein die Tatsache illustrieren mag, dass sich das Album (What’s the Story) Morning Glory aus dem Jahre 1995 in Großbritannien besser verkaufte als etwa Bad von Michael Jackson.19 Zur Abgrenzung taugt eine solche Band eigentlich nicht, was der Text in folgender Passage auch deutlich markiert. Vom Besuch eines Oasis-Konzerts berichtet der Erzähler : Männerbündelei, die gerade noch in Ordnung geht, das erleben wir hier. Nicht wie bei den Toten Hosen, wo gewölbte Witzshirts über Jeans quellen und der Wurmfortsatz der Bundeswehr uns das Fürchten lehrt. Das Klischee der ›Jungs‹ wird von Oasis durch groteske Übersteigerung der Anfechtbarkeit enthoben. ›I was looking for some action, but all I found was cigarettes & alcohol‹ ist ja nicht nur ein Satz, sondern DER Satz, einer von den Sätzen, da stimmt alles. Denken die Jungs. Und auch, daß die Mädchen aus anderen Gründen da sind und dennoch für das Ereignis von tragender Bedeutung. Denn würden sie nicht Liam begehren und kreischen, daß es weh tut, wäre die Coolness ja nur behauptet, nicht bewiesen.20

Die Textstelle beinhaltet drei Formen von Inszenierungsbrüchen, die symptomatisch für den Subjektentwurf des Ich-Erzählers sind. Sie zeigt erstens, dass die Abgrenzungspolitik des Ich-Erzählers im Falle des ›Gutfindens‹ nicht funktioniert. Er vergöttert zwar Oasis, nicht aber unbedingt die anderen Zuhörer. Deshalb muss er rechtfertigen, weshalb die anderen Männer und Frauen überhaupt notwendig sind, welche Rolle ihnen zugedacht ist. Solche Brüche im 18 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 210f. 19 http://diepresse.com/home/kultur/popco/735828/Meistverkaufte-Alben_Adele-haengt-Mi chael-Jackson-ab-, letzter Zugriff: 21. 03. 2016. 20 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 243.

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Selbstbild finden sich auch an anderer Stelle: So will der Ich-Erzähler ein rauschhaftes Partyleben führen, gleichzeitig aber ›gesund leben‹. Er kritisiert einerseits die Medien, folgt aber andererseits dem medial vorgegebenen Schönheitsideal. Der zweite Widerspruch lässt sich als »prekäre Spannung zwischen unmittelbarem Genuss und distanzierter Beobachtung« bestimmen:21 Die Textstelle ist im Präsens verfasst, womit eine zeitliche Nähe zwischen Erleben und Aufschreiben suggeriert wird. Der Erzähler ist demnach bestrebt, sein Erleben unmittelbar auszudrücken. Dieses Bestreben scheitert allerdings deshalb, weil es ihm nicht gelingt, sich dem Moment des Konzerts vollständig hinzugeben. Stattdessen reflektiert er die Widersprüchlichkeit der Situation: Er hasse ›Männerbündelei‹, beim Konzert gehe diese aber ›gerade noch in Ordnung‹. Er verachte schlecht angezogene Menschen oder seinen eigenen Bauchansatz, den Bandmitgliedern von Oasis wird hingegen schlechtes Aussehen verziehen: »Das Hemd von Noel ist sogar richtig scheiße, aber der Body ist die Botschaft, ach, der Bierbauch, und er könnte wohl auch Tennissocken tragen – hat er bestimmt auch. Der darf das, darf alles.«22 Die Unmittelbarkeit des situativen Erlebens wird reflexiv gebrochen.23 Drittens zeigt die Textstelle, dass auch die Performance der Band Oasis selbst offensichtlich auf das Erzeugen von Widersprüchen abzielt: Dem Erzähler präsentiert sich nichts Authentisches, sondern die Bandinszenierung arbeitet mit Brüchen, die der Ich-Erzähler als solche erkennt: Dies zeigt sich, wenn er das Ereignis als etwas Authentisch-Unmittelbares beschreibt, gleichzeitig aber die übertriebene Rock-Pose von Oasis benennt. Er versteht die Band einerseits als Ausdruck von authentischer Rockmusik, andererseits attestiert er ihr eine ›groteske Übersteigerungspraxis‹.24 Deutlich wird in dieser Widersprüchlichkeit, dass es sich bei Oasis um ein Kunstprodukt handelt: Das Konzert bezeichnet er folgerichtig im Nachhinein als eine »Illusion«.25

21 Hecken, Kleiner, Menke: Popliteratur (wie Anm. 16), S. 125. 22 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 245. 23 Vgl. hier die Deutung der Textstelle bei Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/New York 2010, S. 147f. Rauen weist auf die Widersprüchlichkeit der Oasis-Rezeption hin. 24 Vgl. Rolf von Appen: »Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin v. Stuckrad-Barres.« In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen, Oldenburg 2004, S. 153–166, hier S. 162. Appen weist auf diese ambivalente Ästhetik bei Oasis hin. 25 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 246.

Inszenierung im Zeichen von Popmusik in von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

3.

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Die Übertragung ästhetischer Konzepte der Popmusik auf Literatur und ihre (literaturpolitische) Funktion

Sowohl die Ich-Präsentation des Erzählers wie auch die öffentliche Performance der Band sind durch Widersprüche gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass der Roman gerade die Band Oasis zum Bezugspunkt seiner Selbstdarstellung erklärt, kein Zufall. Denn das Pop-Konzept der Band verbindet genauso wie der Roman gegenläufige Potentiale wie Emotionalität und Reflexivität, Authentizität und Künstlichkeit. So stand die Band Mitte der 1990er Jahre einerseits für die Wiederbelebung des traditionellen Rock-Stils; sie stand für Provokation, Leidenschaft und Entgrenzung, für den am Genuss des Augenblicks orientierten ›life style‹ des Rock’n’Roll, was sich in Titeln wie (I Got) the Fever, Roll with it, Rock’n’Roll Star oder Live Forever ausdrückt. Die Ästhetik der Band markierte andererseits aber auch das Gegenteil: Ihr Werk ist nämlich mit Referenzen und Zitaten der Rock- und Popgeschichte angereichert, was neben der emotionalen auch eine reflexive Dimension beinhaltet. Um nur einige dieser Referenzen zu nennen: Das Cover von Be Here Now (1997) – schon der Titel verweist auf John Lennon26 – zeigt einen Rolls Royce im Pool, der wiederum an Lennon erinnert, der ein ähnliches Auto besaß. Überdies lässt sich das Cover auf den mythenumrankten Tod von Brian Jones (Rolling Stones) beziehen, der 1969 in seinem Pool ertrunken ist. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Anspielungen auf Beatles-Songs in den Texten: So verweist der Oasis-Titel It’s getting better (Man!!) auf den McCartney-Song Getting Better auf Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band.27 Der Song Wonderwall vom Album (What’s the Story) Morning Glory? referiert auf den Kunstfilm Wonderwall aus dem Jahre 1967, für den der Beatle George Harrison den Soundtrack aufgenommen hat. Auffällig ist, dass die Songs und Alben von Oasis häufig Bezüge zu Platten herstellen, die gerade nicht für authentischen Rock stehen, sondern Pop-Kunstalben sind. Sowohl Sgt. Pepper als auch Wonderwall Music stellen ihr Spiel mit Rollenidentitäten schon im Paratext aus: Im Falle von Wonderwall Music treten Musiker wie Ringo Starr (Richie Snare) oder Eric Clapton (Eddie Clayton) unter Pseudonym auf, während die Beatles auf ihrem 1967er-Album zur Phantasie-Band Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band mutieren; die ›alten Beatles‹ im Bildvordergrund des Covers blicken auf ihr eigenes Grab, womit signalisiert wird, dass das frühe Image der 26 Dieses Zitat wird gemeinhin John Lennon zugeschrieben. Vgl. Derek B. Scott: »The Britpop Sound«. In: Andy Bennett, John Stratton (Hg.): Britpop and the English Music Tradition. Ashgate Pub Co 2010, S. 18. 27 Auch auf anderen Alben finden sich sehr viele Anspielungen auf Beatles-Texte: »The lyrics of several songs include Beatles references. ›Supersonic‹ contains the offer ›You can ride with me in my yellow submarine‹. ›Take me away‹ quotes ›I’d like to be under the sea‹ from ›Octopus’s Garden‹«. Scott: »The Britpop Sound« (wie Anm. 26), S. 118.

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Band zu Grabe getragen wird.28 Oasis verbindet also die emotionale Wucht und das Lebensgefühl des Rock’n’Roll mit Kunst-Elementen des Pop wie Zitathaftigkeit oder Selbstironie.29 Das vermeintlich Authentische wird dabei von der Inszenierung überblendet. Die in den Songs vorgeblich ausgestellte Unmittelbarkeit und Echtheit wird flankiert durch Rollenspiel und Pose, wie sie auch die Selbstdarstellung der Bandmitglieder in den 1990er Jahren geprägt hat.30 Was für die Ästhetik der Band Oasis gilt, lässt sich prinzipiell auf Soloalbum übertragen: Das Konzept ›Oasis‹, wie es der Roman beschreibt, liefert – so ließe sich pointiert formulieren – die ästhetische Blaupause für das Buch selbst; denn wie Oasis verspricht auch der Roman in seiner Pop-Verpackung einen doppelten ästhetischen Wert. Er verspricht einerseits ein kraftvolles, unmittelbares Leseerlebnis, wie es der Hörer von Rockmusik kennt: einen vermeintlich ›authentischen‹ Erlebnisbericht, der im Rahmen einer vorgeblich autobiographischen Erzählsituation von emotionalen Begebenheiten wie Liebesschmerz, Partygeschichten oder Konzertbesuchen berichtet. Andererseits macht der Paratext von Beginn an den Kunstcharakter des Romans sichtbar. Bereits die bloße Übernahme, also das Zitieren oder Übertragen der Rock-LP-Ästhetik auf das Medium Literatur, entlarvt das vermeintlich Authentische als Kunsteffekt. Noch zusätzlich verstärkt wird diese Künstlichkeit durch die Referenz auf Oasis. Ist bereits Oasis überwiegend Zitat der klassischen Popmusik, so bildet Soloalbum das Zitat des Zitats von Pop-Kunst. Diese ästhetische Praxis, die Erlebnis verspricht, dieses Erleben aber dann reflexiv bricht, findet bei Stuckrad-Barre in den Dokumentationen seiner Liveshows ihre Entsprechung. Auf der CD Voicerecorder. Ausgewählte Aufnahmen der Blackbox-Tournee liest Stuckrad-Barre beispielsweise einen Text über seine Lesungen bei den großen Rock-Festivals Rock am Ring und Rock im Park. Der Text schildert somit das Erlebnis, auf einer Festival-Bühne zu lesen. Dieses Erlebnis wird im Folgenden ästhetisiert. Der auf der Blackbox-Tour vorgetragene Text ist erkennbar aus der Distanz heraus entstanden, also durch Reflexion gewonnen, was dadurch indiziert wird, dass der Autor über sich in der dritten Person spricht: Er nennt sich »Der Popliterat«. Das Erlebnis der Rock-FestivalLesung ist also reflexiv gebrochen. Wenn der Text den Hörer der CD Voicere28 Neben diesem Spiel mit dem eigenen Image ist das Cover von Sgt. Pepper gespickt mit Referenzen auf die Popkultur. Es gibt sowohl textlich als auch musikalisch viele Verweise, denen man als Hörer folgen kann. 29 Ralf von Appen weist darauf hin, dass sowohl der Erzähler in Soloalbum wie auch StuckradBarre selbst Musikern und Bands vertrauen, die »vordergründig keinen Anspruch auf Authentizität erheben und sich stattdessen ironisch und postmodern geben wie die in Soloalbum favorisierten Pet Shop Boys und eben Oasis.« von Appen: Der Wert der Musik (wie Anm. 17), S. 244. 30 Vgl. hier bspw. die optische Inszenierung von Liam Gallagher als ›Wiedergänger‹ John Lennons.

Inszenierung im Zeichen von Popmusik in von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998)

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corder erreicht, hat sich gleichsam die Distanz zum Ursprungserlebnis noch weiter vergrößert. Der Hörer erlebt weder die echte Performance beim Festival noch die Erzählung der Performance auf der Lesetour, sondern eine digitale Reproduktion der Performance der Performance. Der vorgetragene Text hat zwar nach wie vor einen Bezug zum Erlebten, das Erlebte wird aber durch Distanzierungsgesten und Medienwechsel gleichzeitig als bloß inszenierte Beschreibung des Erlebten sichtbar gemacht. Die Adaption der ästhetischen Praxis aus der Pop-Musik, die eine Synthese aus unmittelbarem Erlebnis und distanzierter Reflexion zu bilden versucht, hat im Falle von Soloalbum zwei im weiteren Sinne literaturpolitische Funktionen: Die Pop-Ästhetik des Romans lässt sich erstens als Gegeninszenierung zu gängigen Inszenierungskonzepten des bürgerlichen Literaturbetriebs verstehen. Die Inszenierungsform setzt auf kraftvolle Posen und Gesten der Pop-Musik und stellt damit ihre Inszeniertheit plakativ aus. Damit grenzt sich dieses Konzept von einer Kunstauffassung ab, die der Literatur eine »emanzipatorische[] Wahrheitsfunktion«31 zuschreibt: Diese Ablehnung geht mit einer Absage an diejenige »Wertordnung einher, die sich am stärksten im ›gegenkulturellen‹ Affekt der neuen Popliteraten gegen die politisch-moralische Literatur der Gruppe 47 sowie die politisierte Literatur in der Folge von ›1968‹« zeigt.32 Die Pop-Literatur der 1990er Jahre, so lässt sich am Beispiel Stuckrad-Barre zeigen, wendet sich gegen Werte wie schriftstellerische Authentizität, literarische Sinnvermittlung oder moralische Orientierung, die den deutschen Literaturbetrieb seit 1945 wesentlich geprägt haben und bis heute prägen. Diese Prägung lässt sich beispielhaft an den Spiegel-Jahresbestsellerlisten der Jahre 1998 und 1999 darstellen, auf denen man keine Pop-Literatur, wohl aber Titel wie Martin Walsers Ein springender Brunnen oder Mein Jahrhundert von Günter Grass findet. Gerade diese beiden Autoren stehen für das Bild vom sozial-politisch engagierten Schriftsteller, der sich als authentischer Künstler und moralische Instanz versteht. Entgegen eines solchen Literatur- und Künstlerkonzepts erhebt die Ästhetik von Soloalbum offensichtlich den Anspruch, die literarische Praxis auf die Höhe der Zeit zu bringen. In der pop-modernen Welt sind Kunst und Künstler immer Produkte von Inszenierung, auch, oder gerade dort, wo sie vorgeben, authentisch zu sein.33 Die zweite, damit zusammenhängende Funktion 31 Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin u. a. 2015, S. 265. 32 Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur (wie Anm. 31), S. 265. 33 In diesem Sinne wenden sich viele von Stuckrad-Barres späteren Texten dezidiert gegen den bildungsbürgerlichen Habitus des Literaturbetriebs. In Auch Deutsche unter den Opfern findet sich eine Reportage über eine Lesung von Günter Grass an der Universität Göttingen, die folgendermaßen beginnt: »Es ist ein 2001er Bordeaux ›St. Moritz‹, der da über Lesepult und Manuskriptseiten tropft, auch der braune Pullunder des Nobelpreisträgers hat etwas

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betrifft die Praxis einer modernen Form von Literaturvermittlung, die StuckradBarre der bürgerlichen Praxis entgegenstellt: Das Pop-Literatur-Konzept von Soloalbum will offensichtlich auf die Bedürfnisse junger Leser_innen reagieren und sie für Literatur interessieren. Näheren Aufschluss über diesen Zusammenhang gibt der Essay Literaturkanon aus dem Band Remix (1999), der sich geradezu als Kommentar desjenigen Literaturkonzepts verstehen lässt, das Soloalbum zugrunde liegt. »›Bis zu 90 % derer, die ein Germanistik-Studium beginnen, kennen den ›Faust‹ nicht‹, hat Die Zeit herausgefunden, und nun wird’s eng: ›Die kulturelle Überlieferung bricht ab, das Gespräch über Literatur versiegt.‹« Im Anschluss schildert Barre, wie Die Zeit diesem alarmierenden Befund begegnete. »Experten und Prominente und prominente Experten« wurden nach jenen »3 bis 5 literarischen Werken der deutschsprachigen Literatur« befragt, die »ein Abiturient im Deutschunterricht gelesen haben muß. [Z]uverlässig feuerspeiend hielt Marcel Reich-Ranicki den anfragenden Redakteur gleich für ›einen Barbaren, bestenfalls für einen Spaßvogel‹, und Peter Gauweiler forderte ›eher 20–30 einschlägige Werke‹, und das klingt doch gleich schon mal schön wie Kasernenhof.«34 Der Essay macht im Folgenden deutlich, dass diese belehrende Verordnung von literarischen Texten jedem Schüler bzw. jeder Schülerin den Spaß an der Literatur nehme. »Denn im besten und anzustrebenden Fall ist ja Literatur keine strenge Frühsport-Disziplin, sondern eine Welt, die nach einmaliger Verführung selbst zu locken versteht.« Wie eine selbstständige, lustvolle Aneignung von Literaturklassikern erfolgen kann, erklärt er im Folgenden am Phänomen Brit-Pop: Vielen der von der Zeit Befragten wird man erklären müssen, was das nun schon wieder ist. Nun lieber Marcel, das greift zurück auf die Beatles, Paul Weller und die Kinks […], und gewiß sind 5 Platten viel zu wenig, um nur auch annähernd einen Ein-, ja Überblick zu erhalten, aber Oasis, Blur, Pulp, The Stone Roses […] solltet ihr wirklich kennen. […] Der Rest geht wie von selbst: Mit welcher Akribie Britpop-Neuentdecker sich, einmal angefixt, auf die Suche machen nach Referenzgruppen, Epigonen, seltenen Singles, Live-Outtakes […], welche Textsicherheit und Historienkenntnis […] sie entwickeln! Übergeben die Eltern einem mit glänzenden Augen ihre Sgt.-Pepper-LP, bedankt man sich und geht Thunderdome X hören. Oder so. Wenn aber Noel Gallagher die Beatles allüberall kniefallend erwähnt und Paul Weller ehrfurchtsvoll die Hand abbekommen, und bevor Günter Grass nun den 900 versammelten Göttingern aus seinem Tagebuch des Jahres 1990 vorlesen kann, muss erstmal gewischt werden. […] Es riecht also leicht säuerlich, als die Lesung beginnt.« Man kann bereits durch die Art und Weise der Beschreibung erahnen, worauf die Reportage hinausläuft: Die traditionelle, bildungsbürgerliche Form der Literaturlesung (hier repräsentiert durch Rotwein, Lesepult und Pullunder) und der Habitus des politischen Schriftstellers Grass, der sich als moralisches Gewissen einmischt, werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern. Köln 2010, S. 31. 34 Benjamin von Stuckrad-Barre: Remix. Texte 1996–1999. Köln 2004, S. 245f.

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schüttelt, man selbst wiederum Oasis verehrt, dann wird man automatisch auch nach den Beatles Ausschau halten. Dann geht es nicht mehr um Abgrenzung […], sondern um Leidenschaft.35

Bezieht man diese Rezeptionsempfehlung auf Literatur, so vermittelt der Essay, dass der Einstieg der Jugend in die Literatur freiwillig erfolgen sollte, was mit Texten zu bewerkstelligen sei, die Bezüge zur Alltagswelt der jugendlichen Leser bzw. Leserinnen aufweisen, also pop-affin sind. Durch ein emotionales, leidenschaftliches ›Fantum‹ entwickelt sich dann – so die Argumentation StuckradBarres – das Interesse für historische Vorläufer und Klassiker der Hochkultur. Insofern ließe sich das Literaturkonzept von Soloalbum als dasjenige einer unterhaltsamen ›Einstiegsdroge für jugendliche Erstkonsumenten‹ verstehen. Bezogen auf Soloalbum hieße das: Der Text etabliert zunächst eine vergleichsweise niedrige Zugangsschwelle, was daran zu erkennen ist, dass er um gegenwärtige Probleme des urbanen Lebens kreist, allgemein bekannte Namen und Marken nennt, die sich entweder zur Identifikation oder Ablehnung eignen. Von Soloalbum aus kann der emotional angefixte Leser dann seine Fühler nicht nur in Richtung Geschichte der Popmusik, sondern auch Literatur ausstrecken: So wird er etwa im Motto des Romans mit dem Schriftsteller Jörg Fauser bekannt gemacht. Wer sich noch eingehender mit ›Vorläufern‹ des Buches befasst, könnte auf Walter Kempowski stoßen. Denn Benjamin von Stuckrad-Barre adaptiert in Teilen das Verfahren von Bloomsday ’97, das, wie es im Klappentext heißt, einen »Tag unserer unmittelbaren Gegenwart« dokumentiert: »Walter Kempowski surft durch die 37 Kanäle seines TV-Geräts und verzeichnet das, was er mit seiner Fernbedienung einfängt, in einem genauen Protokoll.«36 Ähnliche Passagen finden sich in Soloalbum, etwa wenn der Erzähler ein Gespräch zwischen Ulrich Wickert und Alfred Biolek abschreibt: W: – Wenn ich meine freie Woche habe, schreibe ich ja meine Bücher, meistens. B: – Das muß ja eine Obsession sein, dieses Bücherschreiben. Elf oder zwölf, glaub ich … W: – Nein, nein, sieben oder acht oder so was. B: – Jetzt ist ja das neueste auf dem Markt: ›Deutschland auf Bewährung‹ W: -›Deutschland auf Bewährung‹, jaja. Das ist ein sehr … naja … wichtiges Thema, meines Erachtens.37

Schließlich könnte der Leser bzw. die Leserin sogar bei Goethes Erfolgshit Die Leiden des jungen Werthers landen. Mit Soloalbum teilt der immerhin das Thema der unerfüllten Liebe, die Kunst als Identifikations- und Abgrenzungsmöglichkeit, und: Der Ich-Erzähler hat zwar keine Bücherfreunde wie Werther, aber 35 von Stuckrad-Barre: Remix (wie Anm. 34). 36 Walter Kempowski: Bloomsday ’97. München 1997. 37 von Stuckrad-Barre: Soloalbum (wie Anm. 6), S. 242.

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stattdessen ›Plattenfreunde‹: An die Stelle des von den jungen Autoren des Sturm und Drang zum literarischen Vorbild erklärten Friedrich Gottlieb Klopstock tritt in der Welt von Soloalbum Oasis. Durch die Lektüre von Romanen wie Soloalbum kann der Jung-Leser bzw. die Leserin also gleichsam zum ›Detektiv der Literaturgeschichte‹ werden.

4.

Zusammenfassung

Das Pop-Konzept, wie es Stuckrad-Barres Debutroman Soloalbum eingeschrieben ist, basiert, sowohl was die paratextuellen wie auch die inhaltlichen Bezüge auf Popmusik angeht, auf dem Prinzip einer abgrenzenden Inszenierung. So wie sich der Erzähler innerdiegetisch durch die von ihm konsumierte Musik im sozialen Feld positioniert, grenzt sich der Roman durch sein popästhetisches Konzept von konkurrierenden Literaturkonzepten ab. Beide Ebenen stehen also grundsätzlich in einem Verhältnis der Homologie, wobei eine markante Differenz ins Auge fällt. In der Diegese führt der Roman vor, dass Abgrenzung in einer popkulturell geprägten Welt nur über das Beziehen übertriebener und apodiktischer Geschmackspositionen und Selbstinszenierungsgesten zu bewerkstelligen ist. Diese Form der Selbstpräsentation – dies zeigen die unzähligen reflexiven Passagen des Textes – offenbart ein brüchiges Identitätsmodell, das das Subjekt mit paradoxen Widersprüchen konfrontiert, die es auszuhalten gilt. Apodiktische, eindeutige Kategorisierungen und Zuordnungen, dies implizieren vor allem die popmusikalischen Referenzen, stoßen immer wieder an Grenzen. Der Ich-Erzähler versucht damit vergeblich eine Ordnung herzustellen, die es in der (post)modernen Lebenswelt nicht mehr zu geben scheint. Zeigt sich auf Inhaltsebene also insgesamt, dass die radikalen Abgrenzungsgesten des Erzählers zu keiner konsistenten Identitätsstruktur führen, so ist die äußere Inszenierung des Romans als Pop-Literatur hingegen als eindeutige Positionsnahme im literarischen Feld der späten 1990er Jahre zu verstehen. Die Hülle von Soloalbum einerseits und die teilweise heftigen Anfeindungen aus der Literaturkritik anderseits demonstrieren grundsätzlich, dass es im Literaturbetrieb noch relativ eindeutige Positionen gibt. In einem offenbar bildungsbürgerlich geprägten Betrieb ruft die popkulturelle Inszenierung Widerspruch hervor. Zumindest aus der Sicht des Romans und seines Autors – so lässt sich mit Blick auf die literaturpolitische Aussage des Textes bilanzieren – stellt der deutsche Literaturbetrieb einen kulturellen Raum dar, der noch stark von einer bürgerlichen Literaturauffassung geprägt ist und in dem der popkulturelle Zeitgeist weitgehend ignoriert wird.38 Als ein Text auf der Höhe der Zeit will sich 38 Beilein, Stockinger und Winko sehen in Stuckrad-Barres Literaturvermittlungskonzept ein

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hingegen Soloalbum positionieren, indem er eine Ästhetik aus der Popkultur übernimmt, die Lebensnähe und Ereignisgehalt vermittelt, die Inszenierung dieser Elemente aber gleichzeitig konsequent offen legt.

prinzipielles Symptom dafür, dass sich Ende der 1990er Jahre »neue Vermittlungsformen auf dem Markt« etablieren, die tradierten bürgerlichen Formen entgegenlaufen. Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko: »Einleitung. Kanonbildung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft«. In: Dies. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin/Boston 2012, S. 11f.

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Vom Abfall zum Licht. Zur flachen Metaphysik der Schrift in Rainald Goetz’ Rave (1998) und Abfall für alle (1999)

1.

Die Tiefe der Oberfläche (Goetz, Luhmann)

Christian Kracht antwortet 1999 auf die Frage, ob die literarischen Realitätsbeobachtungen von ihm, Benjamin Stuckrad-Barre und anderen nicht »stark vereinfachend seien«, wie folgt: »Genau, das sind Klischees, das ist die Oberfläche. Und die auszuloten, darum geht es.«1 Eine solche ›Poetik der Oberfläche‹ dominiert auch die Beobachtung der Pop-Literatur durch die Literaturwissenschaft: Frank Degler und Ute Paulokat sprechen paradox von »tiefen Oberflächen« und von den »›Oberflächenabgründe[n]‹« der Pop-Literatur, die »verführerische Sprach- und Zeichenspiele in der Horizontalen« inszeniere und sich »konsequent jeder Tiefendimension [verweigere]«.2 Bezüge auf Markennamen, Pop-Musik, Konsum- und Rauscherfahrungen reduzierten auch den »Referenzwert«3 der Sprachzeichen selbst; Sprache verweise nicht mehr gleichsam vertikal auf eine zugrunde liegende außersprachliche Wirklichkeit oder einen übergeordneten, zeichenunabhängigen ›Sinn‹, sondern immer nur horizontal auf andere Zeichen. Pop-Literatur wird damit als Phänomen der Postmoderne4 mit Affinität zu Positionen poststrukturalistischer Sprachtheorie lesbar – »Literatur als reine Textoberfläche«5 und als das vermeintlich bedeutungslose, 1 Anne Philippi, Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹. Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht«. In: Die Zeit vom 9. September 1999, S. 3. 2 Frank Degler, Ute Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, vgl. S. 106–113, hier S. 106. 3 Olaf Grabienski, Till Huber, Jan-No[l Thon: »Auslotung der Oberfläche«. In: Dies. (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin/Boston 2011, S. 1–10, hier S. 1. 4 Vgl. Gerhard Regn: »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«. In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne. Stuttgart 1992, S. 52–74 und zu Goetz als Autor der Postmoderne Sabine Kyora: »Postmoderne Stile. Überlegungen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), H. 2, S. 287–302, hier S. 287. 5 Grabienski, Huber, Thon: Auslotung (wie Anm. 3), S. 1.

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»einfache wahre Abschreiben der Welt« (Rainald Goetz im Titel von Sascha Seilers Monographie 2006),6 als »Schreibweise[n] der Gegenwart«, »Gerade Eben Jetzt« (Eckhard Schumacher, 2003).7 Einmal mehr verdeutlichen solche Definitionen auch, worauf Thomas Hecken (in diesem Band) aufmerksam macht: Längst scheint nämlich die ›Pop-Literatur‹ der 1990er Jahre selbst zu einem literarischen Label, zu einer ›Marke‹ geworden zu sein, die vor allem von der Literaturwissenschaft gepflegt und nachgefragt wird. Pop-Literatur im engeren Sinn ist auf dem literarischen Markt also weitgehend Geschichte, wird aber auf dem literaturwissenschaftlichen ›Markt‹ nach wie vor poetologisch subventioniert. Und wenn Moritz Baßlers Beobachtung8 zutrifft, Pop-Literatur also – ähnlich wie die sehr viel ältere Pop-Art Andy Warhols, Roy Lichtensteins, Richard Hamiltons und anderer (siehe Eckhard Schumacher) – kommerziell populäre Marken-, Produktnamen der alltäglichen Warenwelt archiviere und als objet trouv8s in Kunst transformiere, dann ist PopLiteratur inzwischen auch selbst Literatur-Pop geworden und dient als Werbefläche für ihr eigenes Corporate-Identity-Postulat – also für ein ›oberflächlich‹ abrufbares Erwartungsmuster, eine Trade Mark wie Rolex, Goethe, Christus, die Beatles, Gosch oder Thomas Mann: »Auch der Begriff Pop ist ja also Pop geworden. Und hat unter uns gewohnt. Gepriesen sei sein Name.«9 Im Unterschied zu den genannten ›Marken‹ als Fetisch-Ikonen des Kommerzes ist Pop-Literatur, auch das ist festzuhalten, allerdings nicht ›populär‹, nicht Teil der Populärkultur, sondern der Kunstliteratur, die die – selbst klischeehaft oberflächliche – Differenz von ›populär‹ und ›elitär‹ oder besser : von Konsumund Alltagskultur einerseits und Nischen-Hochkultur andererseits, vermeintlicher ›Oberfläche‹ und vermeintlicher ›Tiefe‹ in sich hineinkopiert und variantenreich verhandelt. Christian Krachts Roman Faserland (1995) erweist sich hierfür als exemplarisch: Vom Fisch-Gosch auf Sylt führt der Weg des Ich-Erzählers nach Zürich und endet auf dem nächtlichen Kilchberger Friedhof mit der vergeblichen Suche nach Thomas Manns Grabstein: »[I]ch […] fahre mit den Fingern über die Inschrift, aber es fühlt sich wirklich nicht so an wie der Name von Thomas Mann. Schade. Streichhölzer habe ich keine mehr«.10 Evoziert wird lediglich das ›Gefühl‹ für die Lineatur – die Oberfläche – eines 6 Sascha Seiler: ›Das einfache wahre Abschreiben der Welt‹. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. 7 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003. 8 Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002. 9 Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt am Main 1999 (= Heute Morgen 5.5.), S. 675; die Fleischwerdung des Wortes und eine inverse ›Pop‹-Werdung des Pop werden überblendet; Pop wird religiös verehrt (sein »Name [gepriesen]«) und die Formeln aus Johannes 1, 14 werden zu bloßem ›Pop‹ (»Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns«). 10 Christian Kracht: Faserland. Roman. München 1997 [1995], S. 153.

Zur flachen Metaphysik der Schrift in Goetz’ Rave (1998) und Abfall für alle (1999)

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literarischen Markennamens als sepulkrale Inschrift. Und dass, anders als im Falle Thomas Manns, massenmedial Distribuiertes mit kurzer Verfallszeit und ohne Kanonisierung als Erinnerungshilfe schnell vergessen und zum Gegenstand von Spezialistenwissen mit abnehmender Popularität wird, führt eine ›gegenwartsgeschichtliche‹ Pop-Literatur besonders dann vor Augen, wenn sie sich wie Rainald Goetz’ Abfall für alle extensiv auf den ephemeren Alltag einer vergangenen Print- und Fernseh-Medienkultur bezieht. Sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch erscheint das ›Ausloten‹ vergangener ›Oberflächen‹ somit als ein anspruchsvolles, alles andere als ›oberflächliches‹ Projekt der PopLiteratur. Rainald Goetz stellt vor allem in seiner Werkgruppe 5 aus den 1990er Jahren eigene theoretische Auslotungs-Instrumente bereit und reflektiert deren poetische Funktion – in Abfall für alle. Roman eines Jahres (1999) etwa seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1998) und zahlreiche Referenzen auf den Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann als prominentes Label auf dem Theorien-Markt. Schon in Celebration. 90s Nacht Pop (1999) positioniert sich Goetz autofiktional und programmatisch zwischen Theorie und Pop-Kunst, Luhmann und Warhol, und kommentiert zugleich bildlich deren Verhältnis sowie den Umgang mit Medien-Oberflächen: Als Leser von Luhmanns Das Recht der Gesellschaft (1993) am Beckenrand eines Swimmingpools vermag er sich weder narzisstisch in der bewegten Wasseroberfläche zu spiegeln, noch die unter der Wasseroberfläche prismatisch gebrochenen Buchstaben des Namens von Andy Warhol wahrzunehmen; stattdessen durchstößt er mit seinen Füßen die Oberfläche des Reflexions- und Brechungsmediums selbst, ermöglicht so die Irritation der Lektüre von »Andy Warhol« und versetzt den bekannten Markennamen in Schwingungen. Beobachtung (Lesen) und aktives Durchbrechen der medialen Oberfläche sind also gleichzeitig nur an verschiedenen Objekten – Theorie (Luhmann) oder Kunst (Warhol) – oder nacheinander am selben Objekt möglich (Abb. 1).11 Am Schluss von Abfall für alle wird Luhmann schließlich nachgerade zelebriert: So heißt es vier Zeilen vor dem Textende der Internet-Fassung am 11 Schwarz-weiß-Fotographie in: Rainald Goetz: Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt am Main 1999, S. 126-127. Zur wechselseitigen ›Beobachtung‹ von Literatur und Systemtheorie bei Goetz und Luhmann siehe Martin Jörg Schäfer: »Luhmann als ›Pop‹. Zum ›ästhetischen System‹ Rainald Goetz«. In: Christian Huck, Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden 2007, S. 262–283; zu Warhol vgl. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 236: »[Mein] [Lieblingsbuch] ist von Andy Warhol, Popism. The Andy Warhols 60s«. Zum »Goetz-Suhrkamp-Luhmann-Komplex«, der den »Ruhm« beider »Suhrkamp Boys« potenziert, siehe Nikolaus Wegmann: Wie kommt die Theorie zum Leser? Der Suhrkamp-Verlag und der Ruhm der Systemtheorie. In: Soziale Systeme 16 (2010) H. 2, S. 463–470 (= Jürgen Kaube, Johannes F. K. Schmidt [Hg.]: Die Wirklichkeit der Universität. Rudolf Stichweh zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2010), hier S. 468–469.

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Abb. 1

10. Januar 1999 in der ersten Variante von 7.7.7.: »022. Luhmann: sehr nahe an Alltagsplausibilität gebaut – nur schöner, / nachdenklicher, festlicher. Gesellschaft, 912. / ja«12 und – plakativer, formelhaft verknappt und ohne Seitennachweis – am Ende der zweiten Internet-Variante, die auch der Buchfassung entspricht: eine Welt in der der Mensch Luhmann Alltagsplausibilität Gesellschaft ja13

12 »ABFALL / FOREVER LAST / AND ALWAYS / 7.7.7.«, 10. Januar 1999. In: Rainald Goetz: Abfall für alle. 1998/99. http://www.rainaldgoetz.de/rainaldgoetz/scripts/message.pl?in dex=last, letzter Zugriff: 11. Januar 1999. 13 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 864.

Zur flachen Metaphysik der Schrift in Goetz’ Rave (1998) und Abfall für alle (1999)

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Wie ein Blick auf die Seite 912 in Niklas Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) zeigt, überträgt Goetz die zitierten Aussagen Luhmanns über die philosophische Ontologie als Teil der »Semantik Alteuropas« auf Luhmann selbst und projiziert diesen anverwandelten, umgedeuteten Luhmann wiederum auf sich: »[D]ie Ontologie ist (im Vergleich zu allem, was wir uns heute an Physik und an Logik leisten) sehr nahe an Alltagsplausibilitäten gebaut – nur schöner, festlicher, nachdenklicher.«14 Dass die Analyse der philosophischen ›Ontologien‹ Alteuropas durch den Soziologen Luhmann in Abfall für alle Merkmale ihres Gegenstandes gewinnt, also selbst ›alltagsplausibel‹ und zugleich ›schön‹ und ›festlich‹ wird – so könnte man Goetz’ intertextuelle Verfahrensweise der Aneignung interpretieren –, verdeutlicht in der Tat das Ideal der selbstreflexiven poetischen ›Ontologie‹ von Goetz selbst: Dem Oberflächen klitternden, montierenden ›Abschreiben‹ der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Gegenwart wachsen zwar ebenfalls Merkmale dieser Gegenwart zu und es bleibt hochgradig ›alltagsplausibel‹; zugleich will es aber weniger mimetisch denn analytisch erhellend und erkenntnisfördernd sein und gerät in diesem Spagat ›schöner‹, ›festlicher‹ und ›nachdenklicher‹ als der beobachtete Medien-Konsum-Alltag selbst – sublimiert ihn vielmehr zur ›Kunst‹, in deren ›Licht‹ am Ende Poesie und Gesellschaftstheorie auf ›erhellende‹ Weise eins zu werden beanspruchen. Die Poesie weiß sich der ermutigenden, ja heilenden Theorie Luhmanns »schwesterlich« verbunden und vergöttlicht sie gar zum wundertätigen Adressaten einer Anrufung durch die ›kranke‹ Ich-Instanz: Die Welt ist nicht unbeobachtbar. […]. Ein besonderer Charme von Luhmanns Denken besteht darin, daß er immer zu jeder spinnösen Logelei-Spinnerei, […], bereit ist. Und dann doch immer wieder […] an der Evidenz des Alltäglichen die abstrakte Begriffsbildung nicht nur plausibel macht, sondern immer auch ÜBERPRÜFT. Der große Meister des abstrakten Höhenflugs ist zugleich ein Ultra-Realist. Es gibt keine andere Theorie, […], die sich so schutzlos und offen von Realität irritieren läßt. […]. […]. […]. Dass auch die Kunst selber, auf ihre Art, ohne wirkliches Instrumentarium und ohne vernünftige Architektur […] sich verstricken muss in diese egal wie hilflosen Verstehens-Versuche, die ihren Horizont überschreiten, und dabei aber eben auch mitbestimmen. […] Dem so geführten Blick erscheint die poetische Dimension der Wahrheit der Theorie schwesterlich, als große Ermutigung – […].15 14 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, S. 912. 15 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 301f. (aus der Frankfurter Vorlesung »Praxis III«).

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Ich muß endlich wieder Luhmann lesen. Dann werde ich auch wieder gesund. Auch an der Seele. Und sprich nur ein Wort.16

Dieser poetologischen und sakral überhöhten Quadratur des Kreises aus Poesie, Theorie und Wirklichkeit, in der sich nicht nur Reflexion und Erfahrung durchkreuzen, sondern Poesie und Theorie auch ›schwesterlich‹ angenähert werden, gilt es im Folgenden mit Blick auf die fünfte Werkgruppe und insbesondere auf Rave und Abfall für alle nachzugehen, arbeiten doch schon seit der vierten Werkgruppe Festung »Wissenschaft und Pop am Text der neuen gantzen [sic] heiligen Schrift des Alltags, […], verständlich jedem.«17 ›Pop‹ konfiguriert sich als oberflächliche ›Schrift des Alltags‹ für Goetz jedoch nur in der Unterbrechung der Beobachtung durch Reflexion und erweist sich als Beobachtung der Beobachtung einer Oberfläche, die selbst permanent von RealPerformanz durchkreuzt und entstellt zu werden droht – in der Tat ein an die Theorie der Frühromantiker erinnerndes Programm, das Leben und Poesie in einer ›progressiven Universalpoesie‹ zusammen zu zwingen versucht18 und auch schon für Rolf Dieter Brinkmanns spät-avantgardistische Ontologie und objettrouv8-Ästhetik gilt: »ich finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und dass sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehr ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche, und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹.«19 Und in seiner Antrittsvorlesung leben und schreiben. der existenzauftrag der schrift zur »Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik« der Freien Universität Berlin am 10. Mai 2012 charakterisiert der Autor die PopLiteratur der 1990er Jahre wie folgt: 16 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 628; die in der katholischen Liturgie bei der Eucharistiefeier gesprochene Demutsformel »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund« variiert die Wundererzählung der Evangelien über den gelähmten und von Jesus geheilten Diener des Hauptmanns von Kafarnaum (siehe Matthäus 8, 5–13). 17 Rainald Goetz: »Angst« [1989]. In: Ders.: Kronos. Berichte. Frankfurt am Main 2003 [1993], S. 287–329, hier S. 295. 18 Diese soll »die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten […] Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht«, und sie kann die »Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen« (Friedrich Schlegel: »Fragmente«. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes zweytes Stück. Berlin 1798, S. 177–322, hier S. 204–205 [Fragment 116; Nachdruck Darmstadt 1992]); vgl. den »Vorrang der Reflexe, bei gleichzeitiger Reflexion auf diesen Vorrang«, den Rave der ›DJ-Kultur‹ zuschreibt (Rainald Goetz: Rave. Erzählung. Frankfurt am Main 1998, S. 87). 19 Rolf Dieter Brinkmann: »Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹ [1969]«. In: Jörg Schröder (Hg.): Mammut. März Texte 1 & 2. 1969–1984. Herbstein 1984, S. 141–144, hier S. 142.

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In den 90er Jahren hat Harald Schmidt damit angefangen, die fixierten Sprüche heraus zu isolieren, zu wiederholen, zur Besichtigung und Analyse freizugeben. Florian Illies und Benjamin von Stuckrad-Barre haben es zu einer Kunst entwickelt, all diese fertigen Sätze, die Floskeln und die von ihnen bezeichneten Haltungen so zu montieren, dass Heiterkeit und Präzision der Welterfassung für einen hellen Moment in den Texten zusammengefallen sind. Pop-Literatur war kollektivistisch, gegenwärtig und herrlich egoman, flashy, swishy und natürlich überall ganz schnell sehr stark verhaßt – sogar bei den Protagonisten selbst, ganz zu Unrecht, wie ich finde. Wir waren Frühromantiker, eine Bewegung, jung, eine Wahrheit und ganz schnell vorbei. Ich selbst habe die popliterarischen Jahre – gerade weil es mir dauernd bewußt war : das ist ein Augenblick der Nähe zu ganz vielen fundamental Anderen, Fernen, ein ganz kurzer Augenblick nur – ganz besonders schön gefunden, begeistert mitgemacht, die Sache gefeiert und auch die textlichen Resultate – die der anderen und die eigenen – lieber gemocht als das meiste davor oder danach.20

2.

Körperschrift und Selbstopfer (Subito)

Goetz wird der literarischen Öffentlichkeit kurz vor dem Erscheinen seines Debütromans Irre (1983) durch seine skandalisierende Lesung beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt am 25. Juni 1983 bekannt; bereits dieser Auftritt mit dem Text Subito (publiziert 1986) und seinem Ruf nach mehr »Pop und nochmal Pop«21 offenbart Konstanten im poetischen Verfahren von Goetz, die auch die fünfte Werkgruppe insgesamt prägen: Schon in Klagenfurt inszeniert Goetz nämlich nichts anderes als eine spektakuläre Engführung von perforierter ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹, von theatraler und mündlicher Performanz (›Tat‹) auf der einen Seite und einem gelesenen Text auf der anderen, der das »einfache wahre Abschreiben der Welt«22 als »notwendig« bezeichnet. In einer medialen »Synthese« von »Literatur und Wirklichkeit«,23 in der die »Per20 Rainald Goetz: Antrittsvorlesung im Rahmen der Heiner Müller-Gastprofessur (10. Mai 2012). Online-Publikation: Suhrkamp Verlag / FU Berlin 17. August 2012. http://www.youtube.com/watch?v=tJk2_Yopxcw, letzter Zugriff: 10. April 2015. 21 Rainald Goetz: »Subito«. In: Ders.: Hirn. Schrift. Frankfurt am Main 2003 [1986], S. 9–21, hier S. 21: »Wir brauchen noch mehr Reize, noch mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. Mehr vom Blauen Bock«. 22 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 19: »[…] die notwendige Arbeit ist: die Wahrheit schreiben von allem, die keinen Big Sinn nicht hat, aber notwendig ist, notwendig ist das einfache Abschreiben der Welt.« 23 Innokentij Kreknin: »Das Licht und das Ich. Identität, Fiktionalität und Referentialität in den Internet-Schriften von Rainald Goetz«. In: Grabienski, Huber, Thon (Hg.): Oberfläche (wie Anm. 3), S. 143–164, hier S. 146. Zum Subito-, Irre- und Klagenfurt-Komplex siehe eingehend auch Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston 2014, S. 94–184, zu Heute morgen S. 198–240.

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formance des Schnitts« den Text referentialisierend »entfiktionalisier[e]«24, wird zugleich das »empirische Subjekt (der lesende und blutende Rainald Goetz als Verkörperung der Autor-Funktion Rainald Goetz) […] zur literarischen Figur«25 : »Was ›Subito‹ und der Klagenfurt-Auftritt leisten, ist allerdings nicht ein ›einfaches wahres Abschreiben der Welt‹, sondern vielmehr ein Einschreiben in die Welt, bei dem etwas Neues erschaffen wird.«26 Der »Auftritt selbst [wird] zu einem notwendigen Bestandteil des Textes« und »sorg[t] dafür, dass der ›Subito‹Text nicht referenzlos bleibt, sondern immer in Bezug auf ebendiesen Auftritt gelesen werden muss.«27 Die Referentialisierung von Subito mit der realen Praxis seiner Performanz einerseits und die Fiktionalisierung dieser Praxis zum ›Text‹ andererseits werden für einen schockhaften Moment ununterscheidbar : Simulation, Inszenierung und Authentizität fallen zusammen. Nicht die ›reale‹ außerliterarische Biographie des Autors fordert dabei jedoch ihr Recht, sondern der performative Vollzug verwandelt sich seinerseits in ein Zeichen, in ›Kunst‹, in ein Happening also, das nicht vom Text zu trennen ist, mag dieser in Klagenfurt von Marcel Reich-Ranicki und in den nachfolgenden Rezensionen auch noch so sehr als ›literarisch‹ gelobt und gegen seine Lesung – seine blutige ›Aufführung‹ – ausgespielt worden sein:28 Ohne Blut logisch kein Sinn. Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden. […]. Ich schneide in die Haut, Blut quillt hervor, und es macht: Fließ Rinn Zisch Lösch. In mir brennt es nämlich von innen, es brennt vor so viel Lebenbrennen, und außen ist die glatte Haut. Aber mit meiner Rasierklinge enttarne ich die Lüge. […]. […]. Das frische helle Blut sucht […], der Schwerkraft gehorchend, seinen Weg nach unten und bildet so eigensinnige Ornamente auf der Haut. [Hrvh. C.-M. O.]29

Und: 24 25 26 27

Kreknin: Licht (wie Anm. 23), S. 146. Kreknin: Licht (wie Anm. 23), S. 147. Kreknin: Licht (wie Anm. 23), S. 148. Kreknin: Licht (wie Anm. 23), S. 145; siehe auch Petra Gropp: »›Ich/Goetz/Raspe/Dichter‹. Medienästhetische Verkörperungsformen der Autorfigur Rainald Goetz«. In: Gunter E. Grimm, Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 231–247. 28 Zur Lesung siehe insbesondere Gerald Bartl: Spuren und Narben. Die Fleischwerdung der Literatur im Zwanzigsten Jahrhundert. Würzburg 2002, S. 11–14 sowie Thomas Doktor, Carla Spies: Gottfried Benn – Rainald Goetz. Medium Literatur zwischen Pathologie und Poetologie. Opladen 1997, S. 96–98; Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 94–97 analysiert die lückenhafte Filmaufzeichnung akribisch; Seitenblicke auf die Aktion als Text und den Körper als Material im Wiener Aktionismus könnten den Deutungshorizont erweitern, vgl. besonders Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. München 2001, S. 139–184, S. 219–236. 29 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 16.

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Da erbrennt mein Kopf vor Schmerz. Ich muß ihn aufschlagen an der Tischkante. Da fällt das Hirn heraus. Ihr könnts mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf. Ihr folterts mich, ihr Schweine, derweil ich doch bloß eines wissen möchte, wo oben, wo unten ist und wie das Scheißleben geht. Wie geht das Scheißleben? Wenn es mir keiner sagt, dann muss ich es eben tun, das Schreien, laut werde ich schreien, bis mir die Angst vergeht. Und ich schreie nichts Künstliches daher, sondern echte Schreie, die mir blutig bluten. [Hrvh. C.-M. O.]30

Die »eigensinnige[n] Ornamente auf der Hautoberfläche« eines Verwundeten, Gefolterten, Gezeichneten – Gerald Bartl spricht von »Blutschrift«31 – erweisen sich als Folge seiner perforierenden Selbstbeschriftung, einer Vertiefung in das Außen, die die Lüge enttarnt, die Oberfläche durchstößt und doch wieder nur zu äußerlicher, allerdings blutiger, »eigensinniger« Oberflächenornamentik auf der Haut führt. Die Verkörperung von Schrift beim Vollzug dessen, was gerade gelesen wird, verbindet die reale Selbstverletzung des Autors jedoch nicht nur mit dem im Text konstatierten ›Auslaufen seines Blutes‹ und dem erhofften ›Auslaufen seines Hirns‹, sondern konnotiert darüber hinaus das christliche Sakrament der ›Kommunion‹ (»Ihr könnts mein Hirn haben«) und profaniert es zur metaphorischen Selbstverausgabung und Einverleibung durch das Publikum. Zugleich vergöttlicht sich die Autorinstanz im aggressiven Selbstopfer zur Schmerzensmann-Ikone mit Auferstehungsoption – zum Erlöser von der ›Lüge‹, der auf dem Altar des Literaturbetriebs geopfert wird:32 »Aber noch in meiner schwächsten Schwäche bin ich soo stark. Denn ein letztes Gehirnzellenlein in meinem Kopf weiß: Ich werde die Augen wieder öffnen. Ich werde die Welt wieder sehen.«33 Fünfzehn Jahre später liest sich das Problem theoretisch sublimiert in der Erzählung Rave von 1998 wie folgt: 30 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 20. 31 Bartl: Spuren (wie Anm. 28), S. 13; zu Goetz’ »Blut-›Performance‹« als »Authentifizierungskonzept von Literatur« in der »Bindung von Schrift und Körper« vgl. S. 12. 32 Die zukünftige Epiphanie von (Meta-)›Sinn‹ und die ›Auferstehung‹ des Geopferten kündigen sich bereits in den doppelten Verneinungen an, mit denen in Subito dialektal verstärkend und zugleich implizit dementierend die Tilgung des ›Sausinns‹ postuliert und die Selbstverletzung der Autorinstanz kommentiert wird: »die Wahrheit schreiben von allem, die keinen Big Sinn nicht hat« (Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 19)) und »Ich brauche kein Hirn nicht mehr« (Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 20). Religiös überhöhte, autofiktionale Selbstopfer-Narrative sind auch im Werk von Herbert Achternbusch zu beobachten, vgl. dazu Claus-Michael Ort: »›Dieses Kreuz ist eine Frage‹. Das Skandalon des Kreuzes in Herbert Achternbuschs Das Gespenst (1982)«. In: Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt am Main 2009, S. 175–202. 33 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 20.

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Dass also, […], wenn man über die Welt des Populären spricht, und zwar vor allem auch im Sinn eines real existierenden Prollismus, und nicht nur vom abstraktiven PopDestillat irgendeiner geistigen Pop-Elite, zu der man gehört, dann doch irgendwann diese Kollision entstehen muss: zwischen der eigenen geistigen Form und dem realen Körperding des Prolligen. Dass dazwischen eine wechselseitige ANGST sitzt. Und genau da, in diesem Punkt der Angst und Drohung, REALE Politik und ihre Reflexion zusammenkommen.34

Drei Tendenzen lässt also bereits das Klagenfurter Subito-Happening erkennen, die in der Werkgruppe 5 weiter elaboriert werden und sich v. a. in Abfall für alle potenzieren: Neben der Paradoxie aus ›prolligem Körper‹ und reflektierendem ›Geist‹, aus Oberflächen-Pop und den nicht minder oberflächlichen »echten Schreien« nach Tiefe und Authentizität – etwa im ironischen Plädoyer gegen den wohlfeilen ›blöden Sausinn‹ (»gehe weg, du blöder Sausinn«)35 und für mehr Werbung und Pop36 – versucht Heute morgen darüber hinaus zwei gegenläufige Bewegungsrichtungen auf engstem syntagmatischen Raum mit den Mitteln der Schrift zusammen zu zwingen: Einerseits sucht das immer nur nachträgliche Schreiben außertextliche Wirklichkeitsreferenzen, strebt also vom ›Licht‹ zur ›Nacht‹ des realen ›Lebens‹, andererseits führt dieser Weg immer wieder zurück in das erlösende ›Licht‹ poetisierender Schreibpraxis, die ihre eigene Performanz als raum-zeitliche vollzieht und zugleich reflektiert. Und schließlich mündet die erkennbare Tendenz zur Sakralisierung von Autorschaft und Werkstiftung in einer ›flachen Metaphysik‹ der Schrift.37 Dass sich letztere der ›horizontalen‹ und konsequent temporalisierenden Sprach- und Zeichenpraxis von Goetz – sei sie ironisierend oder nicht – und jedenfalls nicht den Prämissen einer von vornherein ›vertikal‹ disponierten ›Kunstreligion‹ verdankt, führen bereits Subito und die Klagenfurter mise en scHne deutlich genug vor Augen.38 34 35 36 37

Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 176f. Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 19. Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 21. Die Selbstopferungs-Performance von Subito, in der sich die Verausgabung des Körpers mit der Fleischwerdung des Wortes verschränkt, nähert sich Jacques RanciHres theologischer Schrift- und Erzähltheorie: »Das Leiden macht aus dem Körper die Präsentation des Textes, die Oberfläche, auf der sich die göttliche Botschaft einschreibt«, in: Jacques RanciHre: Das Fleisch der Worte. Politik(en) der Schrift. Zürich/Berlin 2010 [1998], S. 125; siehe auch S. 12: »[Die Literatur] lebt nur davon, die Fleischwerdung zu vereiteln, die sie unaufhörlich wieder ins Spiel bringt«. 38 Wenn Goetz’ ›schrift-metaphysisches‹ Verfahren im Folgenden dennoch als im weitesten Sinn ›kunstreligiös‹ bezeichnet wird, so geschieht es im Bewusstsein dessen, dass sich Goetz’ Poetik nicht nur als Antipode einer ersatzreligiös überhöhten Selbsterlösung durch Kunst (Hermann Nitsch) erweist, sondern auch von abgeschwächt kunstreligiösen Tendenzen bei Botho Strauß und beim späten Schlingensief abweicht; siehe dazu Christoph Deupmann: »Buchstabenfrömmigkeit. Botho Strauß’ nachreligiöse Auratisierung der Schrift«. In: Albert Meier, Alessandro Costazza, G8rard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 3: Diversifizierung des Konzepts um

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3.

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Die »Totheit der Schrift«: Präsenzfiktion und Nachträglichkeit (Rave, Abfall für alle)

Der fünfteilige Textzyklus der Werkgruppe »Buch 5« – 5.1. Rave (1998), das Theaterstück 5.2. Jeff Koons (1998), die Erzählung 5.3. Dekonspiratione (2000), 5.4. Celebration. 90s Nacht Pop (1999) und 5.5. Abfall für alle. Roman eines Jahres (1998/99) – steht unter dem Motto einer von Harald Schmidt in seiner Talkshow zitierten Formulierung aus dem Internet Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe und erprobt weit sanftere theatrale, ikonische, musikalische und elektronische Formen der außertextlichen Pragmatik. Er reproduziert schrift-transzendierende Fremdreferenz vorwiegend als textinterne Medienwechsel (Text-Bild-Beziehungen, musikalisierte Sprache im Techno-Beat), wobei Rave und Celebration stark auf die Musikkultur von Acid-House, Techno und Rave mit DJ-Kult (Sven Väth, WestBam) und Großevents zwischen Ibiza, Dortmund (die Mayday) und Berlin (die Loveparade) Bezug nehmen.39 In Rave und Abfall für alle umkreist Goetz variantenreich seine semiotische Utopie einer Realpräsenz der ›toten‹, immer schon nachträglichen Schrift, die ihre eigene performative Realität schafft und dabei nicht in leerer Selbstbezüglichkeit enden will, sondern sogar noch als »autistisches […] Gekritzel«40 ›Atem‹ sein möchte und ihr eigenes ›Jenseits‹, die Gegenwart von Realität und Leben, im »absolut jenseitslose[n] Jetzt«41 einzuholen beansprucht, was der Schrift eigentlich verwehrt bleiben muss: Sprache: no. Yes: ein konkretes Leben.42 Je mehr Wirklichkeit anfällt, desto weniger Schrift ist da. Desto mehr schweigt der Text.43 Musik füllt den Raum, Schrift NICHT.44

39

40 41 42 43 44

2000. Berlin/Boston 2014, S. 75–85 oder im selben Band, S. 241–262, Lore Knapp: »Ästhetik der Transzendenz. Christoph Schlingensiefs Parodie der Kunstreligion«. 1997 veröffentlicht Goetz Mix, Cuts & Scratches als Buch mit Audio-CD zusammen mit dem DJ und Musiker Maximilian Lenz, der sich – nach dem Hip-Hop-DJ Afrika Bambaataa – Westfalia Bambaataa, WestBam, nennt; Celebration (1999) enthält Texte von WestBam und Sven Väth, und 2000 erscheint eine CD mit von Goetz gelesenen Texten aus Heute Morgen mit Musik von WestBam. Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 262. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 328. Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 264. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 239. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 213.

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Bereits in Rave wird außerdem die Materialität von Schrift thematisiert, werden der Text und seine weiße Grundfläche – die Zwischenräume der Schrift – typographisch räumlich als ›Stille‹ im Mündlichen inszeniert (»Pause – Stille – Ruhe – / Textstillstand«45) und die Gegenwart von mono- oder dialogischen, deiktisch leeren Sprechakten schriftlich simuliert: Oh ja. Wow – … – hmm … – du – dingens – ja – ich auch – …46

Auch Gedicht-analoge, teilweise lautmalerisch rhythmisierte Stakkato-Passagen an der Grenze zu Techno-Beats – »Bam Bam Bam / Westbam«47 – versuchen gegen die Nachträglichkeit der Bezeichnung in wörtlicher, aber nur berichteter Rede (»sagte«) anzukämpfen: »Und der große Bumbum sagte: eins eins eins – / und eins und eins und – / eins eins eins – / und – / geil geil geil geil geil …«48 Abfall für alle reduziert schließlich die mit Angaben der Uhrzeit versehenen Tagesprotokolle stellenweise auf vertikale Syntagmen leerer Selbstreferenz, die den Verlauf von Zeit im Hier und Jetzt der Schrift nachvollziehen und zeitliches und räumlich-syntagmatisches Nacheinander parallelisieren: Harrend auf das Kommende des nächsten Moments, des jeweils nächsten Augenblicks, des von daher kommenden, darin sich gebenden nächsten Worts.49 Mittwoch, 30.9.98, Berlin. 1201. 1217. 1329. 1412. 1503. 1618. Aussichten eher düster50

Darüber hinaus wird jedoch nicht nur mit den räumlichen Mitteln der Schrift der Selbstvollzug von Zeit simuliert, sondern einschlägigen Textstellen vielfach auch noch die simultane Selbstreflexion des raum-zeitlichen Vollzugs von Schriftlichkeit aufgezwungen:

45 46 47 48 49 50

Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 251. Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 152, ähnlich S. 251. Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 9 (Motto). Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 19. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 328. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 616, ähnlich S. 837.

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Abb. 251

Die Inszenierung von Nachträglichkeit auf engstem syntagmatischen Raum demonstriert in einer Art Text-Pictura den leeren Vollzug von ›Zeit‹, der 22 Sekunden später (»1423.02«) in der folgenden Subscriptio Gegenstand nachträglicher Beobachtung und Reflexion wird – woran auch die mögliche Konnotation einer auf Minute und Sekunde protokollierten Kurz-Lektüre der Wochenzeitung Die Zeit nichts ändert und was die nachfolgenden ›Dada‹-Anklänge eher untermauern (»nichts als der Durchgangsaugenblick zu sein. […] zuzuschauen […], wenn sie da ist, da, da, da. Der Zeit der Ort zu sein, ganz einfach«). Dass nicht nur Erzählen, sondern jegliches Verbalisieren die Präsenz von Wirklichkeit immer nur zu simulieren, letztere nur fiktional zu repräsentieren vermag und insbesondere Verschriftung die eigene Nachträglichkeit selbst im Falle des Verzichts auf ihre Kommunikationsfunktion nie ganz aufzuheben in der Lage ist, wird bereits am Schluss von Rave eingeräumt (»Und wir erzählen uns später, wie das der Moment war […]. Nein, wir hören nicht auf, so zu leben«52) und poetologisch reflektiert:

51 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 619; vgl. den Vollzug nur mehr numerisch bezeichneter Zeit auf weißer Leerzeilenfläche auf S. 825: »Weihnachten / VII / 5.4. Donnerstag 24.12.98, Berlin. / 1337. / 1405. / 1458. / 1842. / 1857. / 2018. / 2330. […]«; ähnlich S. 769 (»1051. Zähle, mit den Fingern beider Hände: / 1982 / 1983 / 1984 / […]«) oder S. 833 (»Chronist / des Augenblicks«). 52 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 271.

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Man müsste die Sprache von ihrer Mitteilungsabsicht frei kriegen können. Dass die Schrift nur noch so ein autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel wäre, Atem. Jenseits des Todes. Aber auf dessen Eintreten muss sie dann warten, um Text zu werden. Schade ist das. [Hrvh. C.-M. O.]53

Auch eine weitgehend desemantisierte Sprache, ›Atem‹ oder ›reines Gekritzel‹, wird erst jenseits des Todes, also erst als ›tote‹ Kunst, zum ›Text‹. Die in Abfall für alle enthaltene Frankfurter Poetik-Vorlesung »Praxis II / Das Thema«54 verhandelt dieses unaufhebbare Dilemma aus ›Kunst‹ und ›Leben‹, an dem sich schon die Avantgarden des 20. Jahrhunderts abgearbeitet haben. Ein rhythmisiertes Gedicht aus achtzehn Versen synchronisiert die Reflexion mit der Gegenwart ihrer mündlichen und schriftlichen Realisierung im Rahmen der Vorlesung (das »unmittelbare, stammelnde Vorgehen der ZEIT«55) und wird von kommentierenden Textpassagen gerahmt, die es zu einem Text der Nachträglichkeit des Lesens und Lebens fiktionalisieren und Leben und Kunst zirkulär verschränken: nein, dieses Leben ist das Material und der Gegenstand, das Arbeitsinstrument und die künstlerische Endgestalt, Ausgangspunkt und Ziel und Mitte, ALLES wirklich dieser ganz speziellen Kunst, die auf der Bühne sich ereignet, Banalität, klar, trotzdem wichtig. Anschrift. Baustelle Zeit. Gegenwart. ungeduldig blick ich auf die Uhr wann hat ers denn? wann sind wirs denn? wann ist es denn soweit? dass alles endlich fertig ist? gesagt etcetera dass WAS? wie lange noch? verzeihung nee entschuldigung Moment mal, Augenblick so nicht okay verstehe kein Problem kein Akt, kein Thema 53 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 262. 54 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 252–275, hier S. 252. 55 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 271.

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schon okay okay TOD Daß also an der Stelle, wo beim letzten Mal die STILLE und das Problem des Paradoxes, wie davon gesprochen werden könnte, von diesem großen Schreiber-Lebens-Existential, von diesem Erhebungsort der ASOZIALITÄTSKUNST Schrift – Heute also das Problem des Todes steht, der unweigerlichen TOTHEIT der Schrift, die hier steht, vor mir, […], auf dem Papier, stumm, und erst dann Realität wird hier, wenn ich das Geschriebene gelesen, neu zu denken versucht und ausgesprochen habe. Daß die SCHRIFT, […] eine gewaltige Obsession dem Tod entgegen hat, bearbeitet, sich der verdankt, und von ihr abhängt und gegen sie protestiert, sich auflehnt. Und sich schließlich ihr doch fügt. [Hrvh. C.-M. O.]56

Das ›Schreiber-Lebens-Existential‹ entgeht der Mortifikation seines Gegenstandes und Arbeitsmaterials ›Leben‹ nicht nur nicht, sondern verdankt sich auf paradoxe Weise gerade der vergeblichen Auflehnung gegen seine eigene Voraussetzung: die ›Totheit‹ der Schrift, deren Materialität allerdings auch als Garant ihrer ›Schönheit‹ fungiert: Text als Objekt Einwurf. Dieses Ding, das man in der Hand hat, ein Stück Papier, auf dem die Zeichen der Schrift aufgedruckt sind. Die unendliche Schönheit dieser speziellen Sache, dieses Objekts. * Text als Grauwert Und die andere Lieblingsvorstellung: das Augenpulver der Schrift. So klein gedruckt, so fein. Text als beinah weißes Pulver für die Augen, als Ruhe-Ort, der optisch datenloses Rauschen sendet. Ah! Wie angenehm! Kein Bild, das Grau der Zeichen. Minimal vibrierend, dabei so reich an Innengeist. [Hrvh. C.-M. O.]57

Die typographische Außenseite und schwarze Oberfläche der Schrift verschwimmt mit der weißen Oberfläche der Seite zu einem »Grau der Zeichen«, zu einer »beinah weißen« Textoberfläche, die als minimalistisches Medium ihres ›Innengeistes‹, als Medium des ›Lichts‹, der Erhellung und Erkenntnis und zugleich als ein meditativer »Ruhe-Ort« fungiert, der ›weißes‹ »Rauschen« sendet: die Materialität des schönen Objekts und seine beinahe schon immaterielle 56 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 270f. 57 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 333.

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Licht-Qualität – sein ›Innengeist‹ – kommen in der zweidimensionalen textbildlichen mise en scHne von Schrift und Asterisk zur Deckung.58

4.

Durch Nacht zum Licht: Zur impliziten Kunstreligion von Heute morgen (Rave, Celebration, Abfall für alle)

Die bereits in Rave zu beobachtende populärkulturelle Kontrafaktur religiöser und insbesondere christlicher Texte und Zeichen erweist sich darüber hinaus als eine Engführung von Poetologie und impliziter Kunstreligion, die zwischen einer Profanierung des Sakralen und der Heiligung des Säkularen oszilliert:

Abb. 359

58 Ähnlichkeiten zur schriftbezogenen Spielart der ›Konkreten Poesie‹, etwa zu Franz Mon und seinem Manifest zur poesie der fläche (1963), drängen sich auf, sind hier jedoch nicht weiter zu verfolgen. 59 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 32.

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So kokettiert Rave mit Gebet und meditativer Litanei – Ave Maria und Benedictus – als mündlichen und schriftlichen Medien einer körperlich-rituellen Vermittlung von Schrift und Leben durch bedeutungstilgende Wiederholung bis zu Glossolalie und mystischer Rede und legt zugleich das ›Ave (Maria)‹ im Wort ›R-ave‹ frei. Betend »selbst mündlich Teil der Worte«60 zu werden, spielt mit christlichen Realpräsenz- und Verkörperungstopoi, kehrt die neutestamentliche Fleischwerdung des Wortes (Johannes 1,14) jedoch um: Das Sprecher-Ich wird selbst zum Wort und geht – in Abfall für alle – im Wort ›L-ich-t‹ auf. Unter der Überschrift »Die Members sind eben die Members« wird darüber hinaus in einer ironischen Montage biblischer und liturgischer Erzähl- und Gebetsformeln WestBam zum anbetungswürdigen Gott der dionysischen »Räusche und Geräusche«, der sich seiner Gemeinde im ›Sonic Empire‹ mit Hilfe seiner ›Werkzeuge‹, den ›Members of Mayday‹, offenbart: Und so geschah es, daß – / Die Zeit wird kommen, sprach der Herr, da ich zu den Menschen sprechen werde. Und er nahm sich als Werkzeug die Members, die da waren: Members of Mayday. Er sprach: sehet her und kommt alle, denn ihr seid alle Teil von meinem Reiche, das da kommen soll, das königreiche Königreich der Räusche und Geräusche. Dann gab er seiner Musik diesen Namen: Sonic Empire. […]. Und der Herr hatte beschlossen: diese Platte da wird rulen. So sollte es geschehen. […] es kam jener Mayday […], und es war, wie der Herr es beschlossen hatte, in seinem unerfindlichen Ratschluss, dies der Sommer des Sonic Empire der Members of Mayday. So war es bestimmt, und wie es bestimmt war, so war es geschehen. Alles geschah so. Und es geschah alles, im Namen des Herrn. Gepriesen sei der Name des Herrn. Denn sein Name ist groß.61

Die Kapitelüberschriften von Rave führen außerdem in »I Der Verfall« (S. 13–91) vom ambivalent ›hellen‹ oder ›höllischen‹ »Hell« (ebd. S. 30) über »Dark« (S. 33) zum »Kokain Gottes« (S. 40), zu »Auf Erden« (S. 40) und zur »Church of Fun« (S. 77), um nach »Dein Leib komme« (in »2 Sonne Busen Hammer«, S. 95–181, hier S. 154) in »3 Die Zerstörten« (S. 185–271) nach »Club Canossa« (S. 248) das Vater unser erneut aufzugreifen (S. 248 »Dein Wille geschehe«). Nach »Buch der Nüchternheit« (S. 257) und »Ästhetischer Theorie« (S. 262) endet Rave im Kapitel »Der Novize« (S. 268): »es vergehe, / was vergänglich ist. / Erde / zu Erde, / Asche zu Asche. / Staub / zu Staub.«62 Gerade das Memento-mori eröffnet jedoch in den beiden letzten Sätzen von Rave die tröstliche Zukunft einer ›Auferste60 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 33. 61 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 79; Sonic Empire (1997) war eine der erfolgreichsten Hymnen der Dortmunder Rave-Veranstaltung Mayday, die das Ensemble Members of Mayday – der Produzent Klaus Jankuhn und der DJ WestBam – produziert hat; siehe außerdem Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 68f. zur Diskothek als Kirchenraum. 62 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 270f.

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hung‹ des vergangenen Lebens im nachträglichen Erzählen: »Und wir erzählen uns später, wie das der Moment war, der uns in der Stunde der Not und Zerrüttung ein letztes Restchen an Würde zurückgegeben hat, ja. Nein, wir hören nicht auf, so zu leben.«63 Im Gedicht- und Interview-Band Jahrzehnt der schönen Frauen (2001), der sich als Koda noch dem Heute-Morgen-Komplex zurechnen lässt, findet sich unter dem Titel Freitag, 18. August 2000. Tag und Nacht ein Fax-Interview mit Daniel Lenz, in dem Goetz die Romantik-affine Licht-Dunkelheit-Semantik von Heute morgen interpretiert und einmal mehr nachdenkt über das Verhältnis von ›Leben‹ und ›Literatur‹, von Nachtleben, Rave und Rausch einerseits und Ordnung, Erkenntnis und ›toter‹ einsamer »ASOZIALITÄTSKUNST Schrift«64 als Medium der Selbstbeobachtung und der nachträglichen Reflexion andererseits: Ich habe […] vor meinen überpanischen Ordnungsideen genauso viel Angst wie vor zu viel Wirrnis und Chaos. Gerade die Zwangsidee Tag gegen Nacht, die mich praktisch die ganzen 90er Jahre über regelrecht VERFOLGT hat, ist zwar als Motor für das ›Heute Morgen‹-Projekt produktiv geworden, aber in Wirklichkeit natürlich Unsinn, ein Konstruktionsartefakt, um Widersprüche auseinander zu ziehen, die man vielleicht besser in Mischform komplex bestehen lassen sollte. […]. […]. Der Versuch, Leben und Schreiben auf der alleralltäglichsten Basis zusammenkommen zu lassen, eben über die Trennung von Tag und Nacht, ist […] auf ziemlich anstrengende Weise gescheitert. [Hrvh. C.-M. O.]65

Rave, das Theaterstück Jeff Koons (1998) und Abfall für alle erweisen sich als solche komplexen ›Mischformen‹, die sich »an der Kollisionsstelle von Leben und Werk, also zwischen Tag und Nacht«66 situieren und der Differenz von TagWerk und Werk-Tag einerseits und Leben in seiner »Radikal- und Exzess-Form der Nacht«67 andererseits ein innerkünstlerisches re-entry im Medium der Schrift ermöglichen.68 Der Titel des Werkkomplexes Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe wird vor diesem Hintergrund als Allegorie lesbar. Er bezeichnet nicht nur einen nachträglich erzählten, metaphorischen Morgen als Übergangsphase des Morgen-Grauens zwischen ›Nacht‹ und ›Tag‹, ›Finsternis‹ und ›Licht‹, Leben und Kunst sowie die Rückkehr aus dem natürlichen Außenraum (»Wiesen«), sondern impliziert auch den Versuch, ein flüchtiges, temporär ›abfallendes‹ Kondensat (Morgentau) aufzu63 64 65 66 67 68

Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 271. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 271. Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin 2001, S. 168–177, hier S. 169f. Goetz: Jahrzehnt (wie Anm. 65), S. 173. Goetz: Jahrzehnt (wie Anm. 65), S. 170. Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 182, erkennt schon im Frühwerk von Goetz eine »hybride metaleptische Selbstpoetik«, siehe auch S. 171–184.

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sammeln und im kulturellen Innenraum (»Innengeist« im »Grau der Zeichen«69) zu bewahren – und zwar als ein doppeltes objet trouv8: als »aufgelesen[er] [Tau]« und schriftlich angeeignetes Fundstück aus Harald Schmidts Talkshow. In Abfall für alle diffundiert die zunächst auf das Dilemma von ›Kunst‹ und ›Leben‹ verpflichtete temporale ›Tag/Nacht‹- und ›Morgen/Abend‹-Semantik schließlich zu beinahe ubiquitären ›hell/dunkel‹-Valenzen. Deren poetologische Bedeutungsanreicherung legt es nahe, den Roman eines Jahres als Versuch zu interpretieren, dem von Tag zu Tag innerweltlich anfallenden und nachträglich ›aufgelesenen‹, ›toten‹ Schrift-›Abfall‹ das ›Licht‹ der Erkenntnis und eine temporäre poetische Erhellung des ›Lebens‹ abzutrotzen, zugleich aber die metaphorische ›Innengeist-Tiefe‹ unter der Oberfläche der Schrift zum zeitlichen Nacheinander von Schreibakten abzuflachen. Die ›Oberfläche/Tiefe‹-Differenz wird verzeitlicht und auf der Text-Oberfläche verräumlicht, so dass sich die im Akt der Verschriftung bereits vergangene, uneinholbare Lebenswirklichkeit in der syntagmatischen Horizontalen immer von neuem, von ›Morgen‹ zu ›Morgen‹, von ›Abend‹ zu ›Abend‹ manifestiert.70 Textstellen, die wie realistische Tagebucheinträge anmuten, werden so bedeutungstragend und stiften der Zeit einen Ort im Medium der Schrift – versuchen also, »[der] Zeit der Ort zu sein«,71 der, wie im folgenden Zitat, das Schreiben mit ›Wach‹- und ›Hell-Werden‹ korreliert und gegen das Leben und ›Rauschen‹ der Außenwelt abgrenzt: 502. Ist das noch die alte Nacht? Oder schon der neue Tag? Ich wache auf, Korrekturen im Kopf, gehe zu den Papieren. Es ist noch ganz dunkel, viertel vor fünf. Das Licht im Zimmer, das leise Summen des Computers, von draußen die Vögel und fern das Rauschen von der Seestraße her. 536. An Kritik. Langsam wurde es hell.72

Sämtliche Zeit- und Helligkeitsangaben in Abfall für alle lassen sich somit als implizit poetologische lesen und gewinnen im Fortgang des Textes eine Zeichenhaftigkeit, die ihre fingierte Tagebuch-Qualität, ihre Funktion als fiktionale Authentizitätssignale bei weitem übersteigt (z. B. »Mond. Sehnsucht nach Nacht«73, »lichtsehnsüchtig«74, »Gegenwart, Gegenwart, Licht der Zeit«75, »der erste Advent, und ein Lichtlein brennt«76, »Luhmann, Fernsehen, Zeitungen, 69 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 333. 70 Zu dieser, für die Pop-Literatur typischen »temporal orientierten Poetik der Oberfläche« siehe u. a. Kreknin: Licht (wie Anm. 23), S. 150 und Schumacher : Jetzt (wie Anm. 7), S. 37f; ebd. auch zu Abfall für alle S. 111–154. 71 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 619. 72 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 224. 73 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 282. 74 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 740. 75 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 762. 76 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 768.

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Licht«77, »unter den dunkelgrauen Wolken ist der Himmel orangerot aufgerissen, […], aber es ist noch Weiß in der Farbe vom Licht«78, »darf ich mal fragen, wo Sie hinmöchten? / – ja, ins Licht«79 usf.). Abfall für alle (5.5.) greift zum Abschluss des Werkkomplexes 5 Heute Morgen die in Rave ironisch beschworene Kunstreligion auf und erweitert sie zu einer sakral semantisierten Werkstiftung vom Internet-Abfall zum Buch, das mit einem priesterlich verausgabenden Segens-Appell »allen alles / Licht«80 endet. Der Roman eines Jahres beschreitet nach dem in Rave und von den »Texten und Bildern zur Nacht«81 in Celebration. 90s Nacht Pop zelebrierten ›Nachtleben‹ mit seiner »›Heilsbotschaft‹ des Techno«82 nunmehr einen Weg ›durch Nacht zum Licht‹, den das Sujet eines schwarz-weiß reproduzierten Tafelbildes des Niederländers Geertgen tot Sint Jans auf den letzten Seiten von Celebration vorwegnimmt: Ein melancholischer Johannes der Täufer meditiert auf der Wiese einer alles andere als wüstenhaft toten ›Einöde‹ neben dem auratisierten Lamm Gottes, das auf Jesu Christi Opfertod vorausweist.83 Der Asket Johannes, noch vor seiner Berufung zum Propheten, Bußprediger und Märtyrer, unterlegt der TextBild-Autofiktion ›Goetz‹ in Celebration – von den ersten Bildern des Autors vor einer Pin-Wand und am Schreibtisch84 über den Luhmann-Leser, DJ und Raver bis zum doppelseitigen Foto des zwischen Blumenvasen und vor Bücherregalen vornüber gesunkenen Schreibtischschläfers am Ende des Buches85 – einen heilsgeschichtlichen und kathartischen Subtext, der sich auf die Selbstopfer- und Auferstehungs-Topoi in Subito (»ihr könnts mein Hirn haben«), die Realpräsenz- und Verkörperungspoetik in Rave (»betend […] selbst mündlich Teil der Worte werden«) ebenso rückbeziehen lässt, wie er den Weg präfiguriert, den

77 78 79 80 81 82 83

Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 787. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 788. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 815. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 864. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 4: »5.4. Celebration. Texte und Bilder zur Nacht«. Goetz: Celebration (wie Anm. 11), S. 278. Geertgen tot Sint Jans (der kleine Gerrit zu Sankt Johannes, auch Gerrit van Haarlem): Johannes der Täufer in der Wüste (um 1484), in Goetz: Celebration (wie Anm. 11), S. 276. 84 Goetz: Celebration (wie Anm. 11), farbiges Cover und S. 2f. (schwarz-weiß). Celebration enthält u. a. auch Fotographien von Arnold Schönberg am Schreibtisch, vgl. S. 62f., von Tizians Gemälde Dana[ (mit Eros, 1544) (S. 196f.) und bewirbt Heute morgen mit Abbildungen der Covers von WestBam: Mix, Cuts & Scratches mit Rainald Goetz (1997), S. 98, Rave, S. 241 und der Internet-Seite VI.1.5 (9. Oktober 1998), S. 240, aus Abfall für alle. Das Bildprogramm harrt noch inhaltlicher Interpretation, vgl. aber Klaus Rümmele: Zeichensprachen. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012, S. 301–320 sowie Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 267f., der in der Auswahl des Bildmaterials zu recht ›selbstpoetologische‹ Kriterien erkennt, die die Abbildungen auf ihren Beitrag zur Inszenierung der Autorrolle verpflichten. 85 Goetz: Celebration (wie Anm. 11), S. 284f.

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Abfall für alle vom säkularen objet-trouv8-›Abfall‹ zum ›Licht‹ und vom transitorischen Internet zum dauerhaften Werk als Buch beschreitet.86

5.

»Abfall für alle« und »allen alles Licht«: Vom Internet zur Auferstehung als Buch (Abfall für alle)

Der Weg per aspera ad astra führt Abfall für alle von der transitorischen InternetPräsenz zum finalen Buch und findet im Asterisk über dem Wort ›Licht‹ auf dem rückseitigen Buchumschlag sein paratextuelles Ziel.87 Textintern werden besonders Sonntage mehrfach als Ruhetage auf fast leeren, weißen Seiten inszeniert.88 Der siebte Tag von Kapitel VI erhebt darüber hinaus den Sonntag nicht nur zum Ruhetag des Autor-Gottes, sondern endet mit einem therapeutischen »Lichtgedicht«, welches astrale Transzendenz metaphorisch in Weltimmanenz übersetzt: Licht Therapie VI 7.7. Sonntag, 22.11.98. Berlin. Sonntag: Ruhetag Sonne Ruhe Tag und Licht Abends wird es dunkel

86 Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurse und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/ New York 2010 weist darauf hin, dass die bei Goetz zu beobachtende »Entideologisierung« und Entpolitisierung der »in Rave und Celebration verherrlichte[n] dionysischen Party« (S. 102) und »Kollektivbegeisterung« (S. 102f.) »religiöse und kunstmetaphysische« (S. 103) Kodierungen offenkundig nicht ausschließe. 87 Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 233f., interpretiert »LICHT« – abgesehen »von den Verweisen auf eine […] Aufklärungsmetapher oder auf vorgebliche Sterbeworte von Dichterfürsten« – als »Markierungszeichen der Selbstpoetik des Subjekts ›Rainald Goetz‹« und erinnert zu Recht daran, dass fast alle Werke des Heute-morgen-Komplexes auf der Umschlagrückseite den gleichen Asterisk aufweisen (S. 234, Fußnote 202), Rave z. B. zusammen mit der implizit selbstreferentiellen Aufforderung »komm her, Sternschnuppe«. Allein das finale Abfall für alle korreliert das Sternchen jedoch mit dem Wort ›LICHT‹, das das Schöpfer-›Ich‹ inkludiert und – so buchstäblich wie gottgleich – in ›Licht‹ aufgehen lässt. 88 Vgl. z. B. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 38: »ABFALL FÜR ALLE / Sonntag: Ruhetag«, ähnlich auch ebd. S. 54.

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in den Häusern gehen die Lichter an und die Menschen werden Sterne eines kleinen Lichtgedichts [Hrvh. C.-M. O.]89

Für die Ich-Instanz ist »Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet«90 und der »Tag […] ein göttliches Maß«,91 dessen Siebenzahl das ›Abfall‹-Werk gliedert. Neben dessen Licht-Semantik stilisiert insbesondere die inhärente Zahlensymbolik Abfall für alle zum Produkt eines Schöpfungsaktes, einer Genesis mit den Mitteln der Schrift, die zugleich ihren Schöpfungsplan und seine Entwicklung von der Kontingenz des Beiläufigen zur unvermeidlichen Intention zu erkennen gibt: 1423.02. […]. […]. Zu hier. Der Plan war ja nur gewesen: mal kucken, wie das läuft. Ganz einfach simpel nebenhin. Tag für Tag, geatmet wird ja auch, geschrieben, gelesen, gedacht. Normal. Relativ schnell entstehen dann aber Eigenwerte, Rückkoppelungen, Effekte des Schon aufs Wieweiter, der Geschichte des Geschehenen und Gemachten auf Plan und Absicht. AUCH normal, und trotzdem eine Normalität, die ich ablehne, die nervt, die dem widerspricht, was mir vorschwebt: Freiheit, Planlosigkeit, Nichtzukunft, kein Gesetz, offen. 1451. […]. Ein Problem des richtigen Lebens. […]. [Hrvh. C.-M. O.]92

Aus dem Paradox einer geplanten »Nichtzukunft« und reiner Gegenwart führt nur die Selbstverpflichtung auf ein äußeres, formal numerisches Ordnungsprinzip der Textoberfläche heraus, das zugleich biblische und kosmogonische Konnotationen nahelegt:

89 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 750; ereignen sich dagegen – wie in Rainald Goetz: Dekonspiratione. Erzählung. Frankfurt am Main 2000 [5.3.] anlässlich der Sonnenfinsternis vom »11. August 1999« (S. 158–161) – Verdunkelung und Aufhellung tagsüber in wenigen Minuten, wird sich die von »Himmel, Sonne und Gestirne[n] […] berührt[e] […] Seele« umso mehr der »immanente[n] Transzendenz« ihrer Wahrnehmung des unerreichbaren Außen bewusst (S. 160) – gefolgt von Abenddämmerung: »Und während ich das dachte, wurde es langsam dunkel« (S. 160). Goetz’ Wiener Sonnenfinsternis-Beschreibung erinnert übrigens auch deshalb stark an Adalbert Stifters Wiener Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 (1842), weil beide das Geschehen vor allem als antizipiertes und erinnertes verbalisieren und es auf seine vergemeinschaftende mediale Nachträglichkeit und eingeschränkte Reproduzierbarkeit beziehen (S. 159). 90 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 357; vgl. S. 225: »Gott o gott.« 91 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 863. 92 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 620.

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Abb. 493

Abfall für alle umfasst somit sieben Großabschnitte mit je sieben Wochen / sieben Tage, also 49 Wochen bzw. 343 Tage, woran in der Internet-Fassung die Zeilen mit Wochentage- und Kapitel-Zählung jeweils am Ende des täglichen Textes erinnern, die zugleich die Online-Navigation ermöglicht haben:

Abb. 594 93 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 620. 94 Goetz: Abfall (Internet) (wie Anm. 12), Startseite ohne Texteintrag, Mittwoch der 4. 2. 1998.

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Die Sieben setzt sich in der christlichen Zahlensymbolik aus der Dreizahl des dreifaltigen Gottes und der »Weltzahl« Vier zusammen, die unter anderem die Elemente, Jahreszeiten und Himmelsrichtungen repräsentiert, bezeichnet also die Einheit von Geist und Materie. Darüber hinaus repräsentiert die Sieben als »kosmisch-astronomische Ordnungszahl«95 die sieben Tage der Erschaffung der Welt im Buch Genesis – genauer : das Hexa[meron und den siebten Tag als Ruhetag – und wird in Abfall für alle explizit auf Karlheinz Stockhausens biblischen Opernzyklus Licht. Die sieben Tage der Woche bezogen. Seine sieben Opern fügen sich von 1977 bis 2003 zu einem Schöpfungs- und Welttheater zusammen, dessen »Stockhausen-Madness«96 auch die Produktion des Abfalls inspiriert: »[P]lötzlich sieht er [Stockhausen] es […] vor sich, seine Aufgabe, sein Lebenswerk: LICHT. Die große Oper. Die Wochentage«.97 Das Wort ›L-ich-t‹ – ein »schönes Wort, in dem viel drin steckt, z. B. alle via ich« und das »angeblich doch das Ende [ist]«98 – beschließt sowohl die Internetals auch die Buchfassung von Abfall. Es rettet das in ihm buchstäblich enthaltene Schöpfer-Ich aber zugleich über den ›Tod‹ des vorübergehenden Internet-Auftrittes und über den Schluss des Buchtextes hinaus in die Immaterialität seiner Bedeutung ›Licht‹. Damit transzendiert es sowohl textintern als auch paratextuell (auf der Umschlagrückseite) die Grenzen des Textes und seiner zeitlich terminierten, kontingenten und pseudo-diaristischen Ausdehnung vom 4. Februar 1998 bis zum 10. Januar 1999 und realisiert unmittelbar und materiell jenes ›dehors du texte‹, das Jacques Derridas Grammatologie als logo- und phonozentrische Illusion leugnet (»rien en dehors du texte«).99 Abfall hat eine Zukunft als Buch, das – so ließe sich extrapolieren – seine Grenzen zumindest semantisch überschreitet, paratextuell hinausschiebt und schon intern das Ende

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99

http://www.rainaldgoetz.de/rainaldgoetz/scripts/message.pl?index=112, letzter Zugriff: 18. Januar 1999. Vgl. die Lemmata ›Sieben‹ und ›Vier, Vierzahl‹ in: Engelbert Kirschbaum (Hg.): LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 4. Rom/Freiburg u. a. 1972, Sp. 154–156 (›Sieben‹), hier Sp. 154, und Sp. 459–460 (›Vier, Vierzahl‹), hier Sp. 459 (»Weltzahl«). Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 237. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 236f.; zu Stockhausens Licht auch S. 598. Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 598; Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 234, betont die strukturierende Funktion der graphemischen Umhüllung des ›Ich‹ im Wort ›Licht‹ und verweist (Fußnote 203) auf die neunfache morphologische Ich-Inklusion im selbstreferentiellen Ich-Gedicht: »Aussicht / Pfirsich spricht Gedicht / ich nicht richtig / Licht / Geschicht« (Goetz: Abfall [wie Anm. 9], S. 346). Eine weitergehende Interpretation der ich-bezogenen ›L-ich-t‹-Semantik in Abfall für alle mit Blick auf ihre religiösen Implikationen unterbleibt jedoch. Jacques Derrida: Grammatologie [1967]. Frankfurt am Main 1974, S. 274: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.«

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von Abfall dementiert: »ABFALLS / LETZTER TAG« wird in der Überschrift zum letzten Kapitel 7.7.7. gefolgt von »ABFALL FOREVER«.100 Darüber hinaus unterhält ›Licht‹ ein signifikantes Spannungsverhältnis nicht nur zur metaphorischen ›Dunkelheit‹ und ›Nacht‹ des irdischen und physischen Lebens, sondern auch zum Wort ›Abfall‹ selbst. Es bezeichnet die materialisierte, somit aber notwendig unvollkommene Text- und Buch-Schöpfung, die vom immateriell göttlichen ›Licht‹ ›abfällt‹, sich von ihm separiert, aber zu ihm zurückstrebt, am Ende der Schrift Abfall für alle also im ›Licht für alle‹ mündet. Was an Kontingentem, an alltäglich Oberflächlichem ›zu‹- und ›abfällt‹, mag gesammelt und abgelegt oder als Daten- und Sprach-Müll entsorgt, als wertloses ›Abjectes‹101 ausgegrenzt werden, um der Gefahr zu begegnen, dass das Ich »überrollt von Abfall / von Abfall überschüttet / vom Abfall verschüttet«102 wird. Vor allem das »Weltverantwortungsdenken« produziere unaufhörlich »den geistigen Schlamm und Schleim«,103 den unter anderem die »Chefpeinsäcke Böll und Grass […] absondern […]. […]. Wir müssen ihn kurz und klein zusammenschlagen, den Sausinn, damit wir die notwendige Arbeit tun können. […]: Die Wahrheit schreiben […].«104 Allerdings gewinnen ihres Zweckes beraubte objet trouv8s und Sinn-Relikte in Avantgarden und Pop-Art einen eigenen ästhetischen Mehrwert, der sie dazu prädestiniert, als Medien künstlerischer ›Wahrheiten‹ zu fungieren.105 Darüber 100 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 861. 101 Im Sinne von Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1980. 102 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 25; vgl. auch: »Abfall / bekämpfen« sowie Goetz: Jahrzehnt (wie Anm. 65), S. 148: »In dem Wort ist ja wirklich alles drin, das Alphabet, Wittgenstein, auch ein theologischer Oberton, den man in ›Abfall‹ mithört; es klingt auch irgendwie juristisch, medizinisch, alles; bis hin zu der perversen Obsession, die Deutschland mit dem Abfallproblem hat: dieser ganze Assoziationsraum. Ein wahnsinnig schönes Wort, finde ich, schlicht und einfach«; Christian Enzensberger : Größerer Versuch über den Schmutz. München 2011 [1968] erinnert außerdem daran, dass ›Schmutz‹ einer zu verunreinigenden »Außenseite«, der Oberfläche der »Haut« bedarf (S. 11) und weist auf den Zusammenhang von »Schmutz«, »Befleckung«, »Sünde« und »Schuld« hin (S. 38f.). 103 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 19; vgl. auch ebd. S. 15 »120mal, […] das Wort Scheiße« oder den zweiten Tag (5. Februar 1998) von Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 23: »VERSCHISSENE STADT – […] – alles nur voll SCHWADEN VON KOT«. 104 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 19; zu Subito siehe auch Jochen Bonz: Das Kulturelle. München 2012, S. 68–79, hier S. 78: »In seiner Negation ist Sinn nur noch Dreck«. 105 Eckhard Schumacher : »›From the garbage, into The Book‹: Medien, Abfall, Literatur«. In: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter. Frankfurt am Main 2001, S. 190–213, bezieht Goetz’ Poetik des Abfalls auf Positionen Rolf Dieter Brinkmanns in den späten 1960er Jahren (S. 206f.; zu Abfall für alle siehe auch S. 204–213); erinnert sei an Rolf Dieter Brinkmann: »Vanille. Gedicht [1969]«. In: Schröder : Mammut (wie Anm. 19), S. 106–140, hier S. 119: »Es ist noch hell / aber die Sonne scheint nicht mehr, doch was um / diese Zeit scheint / ist der Abfall, er leuchtet auf« und: »Es ist die Energie des Abfalls, die mich antreibt! Ich / bin irritiert, ich bin entrückt […] /«, S. 121. – Dass sich die Poetik des objet trouv8 allerdings längst nicht mehr auf avantgardistische Positionen und Pop-Art-Ästhetik be-

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hinaus meint ›Abfall(en)‹ aber auch die Emanzipation des Abtrünnigen – nicht nur des Lichtträgers Luzifer. Befreiung vom ›Abfall‹ und ›Abfall‹ als Subversion der Ordnung erweisen sich als gegenläufige Bedeutungsrichtungen, die dem ›Abfall‹ das göttliche (oder diabolische) ›Licht‹ der Erkenntnis, der Läuterung, Klärung und Aufklärung abzwingen.106 ›Abfall für alle‹ wird so zur ambivalenten, kosmogonisch und biblisch überhöhten Metapher für eine Poesis, die zum einen vorgegebene, trügerische Sinn-Postulate aktiv destruiert und zum anderen sowohl den Trümmern ihres eigenen Sinn-Zerstörungswerkes als auch dem je vorgefundenen Lebens- und Medien-Abfall Form gibt und beide in ›wahre‹ Kunst verwandelt.107 Das Ende von Abfall für alle im Internet und der Schluss des Buch-Textes – am siebten Tag der 49. Woche (7.7.7., Sonntag, 10.1.99) – durchläuft selbst ein letztes Mal den Zyklus vom ›Licht‹ nächtlicher Luhmann-Reflexion (»Luhmann / Spiegel / Licht«108) zum abendlichen ›Licht‹ des letzten Tages und beginnt wie folgt:

schränkt, belegt der weniger alltags- und sprachmagische denn archivierende und dokumentarische Ernst eines Walter Kempowski, der in seinem medienkritischen Roman Bloomsday ’97 (1997) die TV-Zapping-Splitter des 16. Juni 1997 akkumuliert. 106 Aleida Assmann: »Texte, Spuren, Abfall: die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses«. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 96–111, erinnert mit James Joyce an die Verwandtschaft von Buchstabe (letter) und Abfall (litter) im Englischen (hier S. 110) und gibt anlässlich von Thomas Pynchons Roman The Crying of Lot 49 (1966) zu bedenken, dass in einer medial vernetzten Welt allein »im Abfall« noch »Spuren eines unkodierten Lebens« zu finden seien (hier S. 107): »was der einen Epoche als Abfall erscheint, wird der anderen zur Information« (S. 110). 107 Auch Matthew Barneys Film-Oper River of Fundament (2014) folgt einer solchen Poetik der Transfiguration: Physische Wiedergeburt und materielle Reproduktion werden von einer quasi-sakralen, kathartischen Zeichenpraxis überwunden, die sich zwar aus toter und unreiner Materie speist, diese aber zu einer – nicht minder materiellen – Kunst läutert: »Earth, dirt, […], destruction, and mortification. […]; […], abject cavities, smeared substances, mold. The horizontal, ›l’informe‹, ›base materialism‹« und: »What stands at the end of the process of transfiguration is not pure ether and abstraction but rather new density, concreteness, the fertility of putrefaction« (Diedrich Diederichsen: »River of Many Returns«. In: Matthew Barney, Okwui Enwezor : River of Fundament. Ed. by Louise Neri. München 2014, S. 261–265, hier S. 262 und S. 264–265). 108 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 861.

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Abb. 6109

7.7.7. endet sodann drei Seiten später :

109 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 861.

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Abb. 7110

Die Inszenierung des Textendes hebt ein letztes Mal die Nachträglichkeit des Geschriebenen – »ja / das wars« – textimmanent auf und nähert den selbst ›licht‹durchlässig gewordenen, graphisch gestreckten Text der Helligkeit der weißen Seite an, auf der ›Licht‹ – und das im ›Licht‹ eingebettete ›ich‹ – das letzte Wort hat. Und der ›Abschied‹ der Schöpfer-Ich-Instanz vom nun beendeten ›Werk‹ weckt die auf den ersten Blick paradoxe Hoffnung, dass es neun Zeilen vor dem Textende »doch noch […] nicht so weit«, es »noch […] nicht aller Tage Abend« sei, verweist also auf das pragmatische ›Jenseits‹ des (Internet-)Textes, der als Buch zukünftiger Lektüre überantwortet wird und die Vergemeinschaftung späterer und anderer ›Leser-Gefährten‹ befördert. Die Zukunft der Rezeption und der nachträglichen Erinnerung an Abfall im Internet 1998 liegt außerhalb des Textes im Erinnerungsvermögen zukünftiger Leser, in deren ›Leben‹ der Text verschwinden wird – ›Leben‹ und ›Literatur‹ lassen sich also nur im zeitlichen Nacheinander und in vorwegnehmender Reflexion ihrer Nachträglichkeit vermitteln: Das ›Verschwinden‹ des Textes im Leben des Lesers sichert zugleich das soziale ›Weiterleben‹ des Textes in ›allen‹, die sich das Werk, den ›Abfall‹ des Autor-Ichs ›einverleiben‹, das sich auf diese Weise in der communio der Leser-Gemeinde distribuiert und verausgabt. Der aggressive Gestus des Selbstopfers des vorlesenden Autors – »ihr könnts mein Hirn haben«111 – schwächt sich zwar rezeptionsästhetisch ab, generiert aber in beiden Fällen eine mediale Zukunft jenseits des (vor-)gelesenen Textes, der im Falle von Subito kaum ohne seine, der Publikation 1986 vorausgehende, tran-

110 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 864. 111 Goetz: Subito (wie Anm. 21), S. 20.

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sitorische (aber nach wie vor im Internet präsente) Performance 1983 in Klagenfurt erinnert zu werden vermag. Da Abfall für alle seine Einträge vom »Sonnentag«112 Mittwoch den 4. Februar 1998 bis zum Sonntag den 10. Januar 1999 täglich unter »www.rainaldgoetz.de« im Internet akkumuliert hat, koexistiert die überarbeitete Buchfassung seit 1999 mit der Erinnerung an ihre inzwischen verschwundene, buchexterne Performanz im Internet, und deren minimierte Nachträglichkeit von Tag zu Tag kann wiederum nur noch anlässlich der Buchfassung als vergangene Präsenzfiktion erinnert werden. Ihre Adresse »www. rainaldgoetz.de« ziert aber immerhin den Buchrücken von Abfall für alle und erhebt das Buch so zum Grabdenkmal seiner getilgten Internet-Performanz.113 Darüber hinaus zelebriert Abfall für alle sein Ende im Internet und seine materielle Verkörperung im Medium Buch als Auferstehung und sakralisiert Autorschaft und Werkstiftung damit zwar weniger ironisch, aber strukturell konsequenter als in Rave. Dies zeigt sich auch an der signifikanten Veränderung, der die Schlussformel des letzten Tages (7.7.7.) der ersten Internet-Variante für die Buch-Fassung unterzogen worden ist:

Abb. 8114

Ihre schnelle Umarbeitung und Kürzung zu einem an ›alle‹ adressierten Segenswunsch (»allen alles Licht«) vereindeutigt sie zum ersatzreligiösen Appell und reduziert die Komplexität und Ambivalenz der ersten Variante. Diese re112 Goetz: Abfall (wie Anm. 9), S. 13, gegenüber der Rückseite des schwarzen Titelblatts von Kapitel I: »Los gehts. Mittwoch 4.2.98, Sonnentag, Berlin.« 113 Für Natalie Binczek: »›Wo also ist der Ort des Textes?‹ – Rainald Goetz’ ›Abfall für alle‹«. In: Peter Gendolla, Norbert M. Schmitz, Peter M. Spangenberg (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien. Frankfurt am Main 2001, S. 291–318, ist Abfall für alle weder »ein Titel mit zwei textuellen Referenten« noch »ein Text in zwei Varianten«, sondern beides zugleich: eine »sich ausfransende […] Textur« (S. 304). 114 Goetz: Abfall (Internet) (wie Anm. 12), erste Variante des letzten Tages, Sonntag der 10. Januar 1999. http://www.rainaldgoetz.de/rainaldgoetz/scripts/message.pl?index=last, letzter Zugriff: 11. Januar 1999.

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duziert die biblisch und neoplatonisch anmutende, substantialistische Tautologie ›Licht aus Licht‹, die selbst schon aus dem Nacheinander von ›Licht aus‹ (Dunkelheit) und ›Licht‹ besteht, in der vorletzten Zeile syntaktisch auf das Ende des Lichts (Dunkelheit: »Licht aus«), um in der letzten Zeile »Licht« das ›Licht‹ erneut verbal zu präsentieren.115 Für ein in Rave gefordertes »imaginäres, nachträgliches Gesamtwahrnehmungsorgan für das eben erst entstandene und schon für immer vergangene Werk«116 gewinnt der Unterschied beider Fassungen umso mehr an Bedeutung, als die Differenz von Textvarianten nun mit einem Medienwechsel einhergeht. Die paratextuell letzte Seite der Internet-Fassung inszeniert diesen Medienwechsel explizit als ein heilsgeschichtliches Geschehen, das seine Erfüllung in der Epiphanie »bei Suhrkamp« findet. Die Schöpfung des alttestamentlichen Sechs-Tage-Werks mit Ruhetag erlebt eine neutestamentlich konnotierte ›Auferstehung‹ jenseits des Internet (Abb. 9). Das elektronische Grabdenkmal der Tag-für-Tag-Schöpfung – »[hier] ruht«, »hier lebte Abfall« – nennt die Lebensdaten und den genetischen Kode »7 mal 7 / mal 7 Tage lang / täglich neu // für alle« und fungiert – darin mehr Kenotaph als Epitaph – zugleich als Internet-Werbefläche für das Erscheinen eines literarischen Wiedergängers, dessen erlösende Auferstehung und ewiges ›Leben‹ wie auf christlichen Grabsteinen prophezeit wird. Die Wiederkehr der literarischen Abfall-Schöpfung in überarbeiteter Gestalt sollte sich allerdings nicht auf einer CD-ROM, sondern im Buch ereignen (»ruht hier noch kurz / und wird demnächst […] erscheinen«):117 115 Licht-Semantik und numerische Strukturierung von Abfall nähern sich Positionen neoplatonischer Scholastik, vgl. etwa den Kommentar von Robert Grosseteste zum Sechs-TageSchöpfungsbericht (Hexa[meron): »[Das Licht] ist an sich schön, ›weil seine Natur einfach ist und gleichzeitig alles in sich enthält‹. Darum ist es […] in sich durch Gleichheit höchst harmonisch proportioniert. Schönheit nämlich ist Harmonie der Proportionen.« (zitiert nach: Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 1993 [1987], S. 74; zur Metaphysik und Ästhetik des Lichtes siehe ebd. S. 67–78). 116 Goetz: Rave (wie Anm. 18), S. 87: »So konstituiert sich, neben dem unmittelbaren Erleben der Sache, auch im Nachhinein, […], eine Art imaginäres, nachträgliches Gesamtwahrnehmungsorgan für das eben erst entstandene und schon für immer vergangene Werk. Auch an dieser Stelle steht der tolle Mythos dieser Kunst.« 117 Goetz bezieht zwar Texte auf ihre Performance (Subito) und Bücher auf vergangene TextFassungen mit Internet-Präsenz (Abfall), seine Werk(gruppen)politik mündet aber letztlich in einer logozentrischen ›Werkherrschaft‹ des Buches, das der Schrift-Lektüre sogar die Dynamik einer CD-ROM verweigert (mit Blick auf Derrida vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/ New York 2007, S. 21, S. 37–43); Binczek: Goetz (wie Anm. 113) rekonstruiert den Rückzug von Abfall für alle aus dem Internet und seine Transformation vom potentiellen Hypertext aus »Schriftbildern« (S. 294) zu einem Tagebuchroman mit zeitweise unsicherem »Erscheinungsort« (S. 295) und verweist auf die »vitalistische« Lebens-Rhetorik der »Hypertext- und Netzwerktheoretiker« (S. 296, Fußnote 22); die schrift-metaphysischen Impli-

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Abb. 9118

Die erkennbare Tendenz der Goetzschen Pop-Literatur-Phase zur performativen Sakralisierung von Autorschaft und schriftlicher Werkgenese, die schon die Subito-Inszenierung ahnen lässt, die sich ironisch in Rave manifestiert und sich eher un-ironisch in Abfall für alle konsequent auf die eigene literarische ›Schöpfung‹ überträgt, erinnert an frühromantische ›Kunstreligion‹ um 1800: ›Textgebete‹ und Rave-/R-Ave-/Ave-Maria dienen als Modelle für die angestrebte paradoxe Einheit der Differenz von Literatur und Realität, von Schrift und performativem Außen, von Beobachtung und Beobachtungsgegenstand, Reflexion und Reflektiertem. Ob damit sakrale Symbole und Narrative zu medialen Pop-Hülsen entleert oder umgekehrt Pop-Literatur und ihr ›schwesterlicher‹ Theoriebegleiter Luhmann religiös überhöht werden, bleibt offen. Festzuhalten ist aber, dass die vertikal ausgerichtete Unterscheidung von kationen von Goetz’ buch-fixierter, insofern mortifizierender ›Werkpolitik‹ blendet sie jedoch aus. 118 Goetz: Abfall (Internet) (wie Anm. 12), Text: 111. http://www.rainaldgoetz.de/rainaldgoetz/ scripts/message.pl?index=111, letzter Zugriff: 18. Januar 1999.

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›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ in die temporale, gleichsam horizontale Abfolge von ›Nacht‹ und ›Tag‹, ›Dunkelheit‹ und ›Helligkeit‹ überführt wird und Abfall für alle auch den Medienwechsel vom Internet zum Buch als Weg vom ›Abfall‹ zu einem finalen ›Licht‹ inszeniert, dessen Fülle von einer sich gottgleich verausgabenden ›L-ich-t‹-Instanz ›allen‹ gespendet wird (»allen alles / Licht«). Die immaterielle Bedeutung von ›Licht‹ und die Buchstabenfolge ›Licht‹ werden momenthaft ununterscheidbar, die Fremdreferenz des Signifikats ›Licht‹ verschränkt sich irreduzibel mit der Selbstreferenz seines Signifikanten.119 Rainald Goetz setzt den Referentialisierungs- und Lebens-WirklichkeitsHebel seiner schriftontologischen Poetik unbeirrt und beinahe heroisch immer von neuem an jenem relativen semiotischen Nullpunkt an, den die poststrukturalistische Sprachtheorie von Derrida und anderen umkreist: Zeichen verweisen demzufolge infinit und horizontal immer nur auf Zeichen und ermöglichen keine vertikalen Repräsentationsbeziehungen mehr, keine gesicherten Referenzen auf einen Raum jenseits ihrer Selbstbezüge, auf sich offenbarende Letztbedeutungen, auf ›Gott‹, auf ›Sinn‹ oder auf das selbstidentische gottgleiche Subjekt. Gerade in der Pop-Literatur, deren »Sprach- und Zeichenspiele in der Horizontalen«120 die vergängliche Oberflächen-Präsenz auch noch des ›Realen‹ selbst mit einschließen wollen, scheint sich dieser semiotische Effekt selbstreflexiv zu potenzieren, so dass ›Oberfläche‹ wieder ›Tiefe‹, das ›Außen‹ wieder ein ›Innen‹ (»Innengeist«) verspricht, deren nicht zu leugnender Zeichencharakter ihren Differenzwert zur bloßen ›Oberfläche‹ jedoch nicht mindert. Goetz’ literarische Luhmann-Parallelaktionen, seine Beobachtungen der massenmedial vermittelten Alltagswirklichkeit einschließlich populärer und nicht populärer Musik, Literatur und Kunst in der Werkgruppe Heute morgen reflektieren diesen Befund. Und zugleich spielen sie das selbstbezügliche ›horizontale Zeichenspiel‹ auf subversive Weise mit, so dass sich der semiotische Anstellwinkel – metaleptisch, paradox und zirkulär – immerhin ein wenig in die Vertikale einer ›flachen Meta-Physik‹ zu bewegen scheint, die die Vergänglichkeit des verschrifteten ›Lebens‹ und die Materialität der Schriftzeichen mit den Mitteln der Schrift selbst zu transzendieren versucht.121 119 Vgl. auch Albert Meier : »Realismus abstrakter Art. Rainald Goetz’ transironische Poetik«. In: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch? Frankfurt am Main 2007, S. 175–184, der allerdings die Tendenzen zur Entironisierung in Heute morgen lediglich als Indizien eines selbstreferentiell reduzierten, nur mehr auf das Schreiben selbst gerichteten ›Realismus‹ deutet (ebd. S. 183). Zumindest Abfall für alle spielt jedoch mit einem dritten ›meta-physischen‹ Weg zwischen lebensweltlicher Fremdreferenz und sprachlicher Selbstreferenz und treibt aus letzterer eine Fremdreferenz ohne ›realistischen‹ Weltbezug hervor. 120 Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 2), S. 106. 121 Wie vor diesem Hintergrund die vertikal semantisierte Titel-Metapher »Schlucht« der Werkgruppe 6 (bestehend aus Klage [2008], loslabern. Bericht Herbst 2008 [2009] und dem

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Roman Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft [2012]) zu interpretieren ist und ob Buch 6 den ›Weg ins Licht‹ von Heute morgen erneut beschreitet, kann hier nicht geklärt werden; dass sich das Motto »und müsste ich gehen in dunkler Schlucht« auf den Psalm 23 vom guten Hirten bezieht (23,4: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, / fürchte ich kein Unglück«), scheint allerdings ebenso dafür zu sprechen wie Rainald Goetz: loslabern. Bericht Herbst 2008. Berlin 2009, S. 147, wo »absolute Tiefe« [Hrvh. R. G.] und »die alten Ideale des […] ästhetischen Sofortismus, dem das hier laufende Textexperiment sich auch weiterhin verpflichtet fühlen wollte«, in Konflikt geraten; siehe auch Stefan Greif: »›loslabern‹. Rainald Goetz’ ›maximale Ethik der Schrift‹ und die Genesis der Popkultur«. In: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf (Hg.): ›High‹ und ›Low‹. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin/Boston 2011, S. 183–198. Kreknin: Poetiken (wie Anm. 23), S. 245 und S. 255–263, erblickt allerdings im Roman Johann Holtrop das vorläufige Ende von Goetz’ ›metaleptischer Selbstpoetik‹, vgl. zum Werkkomplex Schlucht auch ebd. S. 240–271.

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»Alt werden ist zu crazy für mich«. Benjamin Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman

Innerhalb der Wissenschaft herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit Benjamin Leberts Debütroman Crazy der Pop-Literatur zugerechnet werden kann. Neuhaus macht die Zugehörigkeit anhand der im Roman verwendeten Familienstruktur aus. Crazy werte wie andere pop-literarische Texte der neueren Generation diesen Themenkomplex auf, indem die Familie »nicht als Gegensatz, sondern komplementär zu dem manchmal sehr großen Narzißmus der Protagonisten«1 gedacht wird. Die Protagonisten pop-literarischer Romane emanzipierten sich, häufig bleibe die Verbindung zu den Eltern jedoch bestehen. Conter hingegen betont die soziale Isolierung der Hauptfiguren als »das verbindende Element in der Popliteratur der 1990er Jahre«2. Pop-literarische Figuren befänden sich an einem Scheitelpunkt des Lebens, den es durch Reisen und die Suche nach neuen sozialen Bindungen zu überschreiten gelte. Diese Ansätze haben gemein, den pop-literarischen Gehalt eines Textes an textinternen Merkmalen festzumachen. Einen anderen Zugang verfolgt Kaulen, der einen Katalog pop-literarischer Kriterien aufstellt. Ausgehend von fünf Aspekten,3 plädiert er entschieden dafür, 1 Stefan Neuhaus: »›Was ist das mit den Müttern? Was geht hier ab?‹ Popliteratur und Familie«. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop, Pop, Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004, S. 68–84, hier S. 69. 2 Claude D. Conter : »›Rebellion gegen die Rebellion‹. Gesellschaftsdiagnosen der Popliteratur der 1990er Jahre zwischen Selbstmord und Ehe. Ein Beitrag zur Debatte der Subversion und des Konservativismus der Popliteratur«. In: Pankau: Pop, Pop, Populär (wie Anm. 1), S. 49–67, hier S. 52. 3 Kaulen begreift – verkürzt dargestellt – lebensweltliche Orientierung, Grenzüberschreitung zwischen Hochkultur und Unterhaltungsliteratur, ästhetische Reproduktion popkultureller Strukturierungsprinzipien, Zielgruppenorientierung und Zugehörigkeit des Autors zum aktuellen Kulturbetrieb als Kriterien der pop-literarischen Strömung. Als exemplarische Texte nennt Kaulen Christian Krachts Faserland und Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum. Vgl. Heinrich Kaulen: »Der Autor als Medienstar und Entertainer. Überlegungen zur neuen deutschen Popliteratur«. In: Hans-Heino Ewers (Hg.): Lesen zwischen Neuen Medien und Pop-Kultur. Kinder und Jugendliteratur im Zeitalter multimedialen Entertainments. Weinheim/München 2002, S. 209–229.

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Leberts Text nicht der Pop-Literatur zuzurechnen, weil der Autor nicht deren Autorenkonzept entspräche. Stattdessen spricht Kaulen von einem »Schulroman«4, einer Textsorte, deren maßgeblicher Ort der Handlung die Schule ist und der sich bereits prominente Autoren wie Hermann Hesse (Unterm Rad) und Rainer Maria Rilke (Die Turnstunde) gewidmet haben. Gleichzeitig zielt der gewählte Begriff aber auch auf die Schule als Institution, die Crazy vorzugsweise als Lektüre im Deutschunterricht der Mittelstufe behandelt. Die verschiedenen Ansichten innerhalb der Wissenschaft resultieren vor allem aus einer nach wie vor großen Unsicherheit darüber, was ›Pop-Literatur‹ ausmacht: Leiten Conter und Neuhaus ihre Kriterien dezidiert aus den Texten selbst ab, macht Kaulen die Zugehörigkeit an dem außertextlichen Aspekt der Inszenierung des Schriftstellers als Autor fest. Auch wenn Kaulens Ansatz die Fragen aufwirft, inwieweit ein dichotomer Kriterienkatalog zur Bestimmung einer Stilrichtung zulässig oder gar notwendig ist, oder ob textexterne mit textinternen Aspekten bei einer Bestimmung vermischt werden sollten, zeigt seine Herangehensweise doch, dass dem Schriftsteller innerhalb der Pop-Literatur als Autorpersönlichkeit wieder mehr Gewicht zukommt. Der empirische Autor, der als Textproduzent logischerweise das Entstehen von Literatur erst möglich macht, ist für die Rezeption pop-literarischer Texte eine erhebliche Einflussgröße: Benjamin von Stuckrad-Barre beispielsweise bindet den Inhalt seiner tagebuchartigen Reportagen Livealbum oder Remix eng an seine Person. Seine Texte verlangen danach, den Autor in seiner sinnstiftenden Funktion nicht im Sinne Barthes’ in Frieden ruhen zu lassen. In einem Interview spricht Stuckrad-Barre über die eigene Popularisierung: Da sich unsere Verlage weigern, Bauzäune mit uns zu plakatieren, und sie auch keine Werbespots im Kino oder Fernsehen buchen, in denen Topmodels mit unseren Büchern posieren, müssen wir zu anderen Mitteln greifen, um dem Leser zu übermitteln: Es darf wieder gekauft werden.5

Nach Kaulen stehen Autoren wie Stuckrad-Barre oder Christian Kracht im Kampf um symbolisches und ökonomisches Kapital geradezu in der »Pflicht der Selbstinszenierung«6, um sich auf dem immer größer werdenden Kulturmarkt zu behaupten.

4 Kaulen: Der Autor als Medienstar (wie Anm. 3), S. 219. 5 Anne Philippi, Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹. Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht«. In: Die Zeit vom 9. September 1999. http://www.zeit.de/ 1999/37/199937.reden_stuckrad_k.xml, letzter Zugriff: 3. Januar 2015. 6 Kaulen: Der Autor als Medienstar (wie Anm. 3), S. 223.

Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman

1.

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Eine Crazy-Kritik

Viele Gedanken um die eigene medienwirksame Inszenierung musste sich Benjamin Lebert 1999 im Zuge der ersten Auflage von Crazy nicht machen: Elke Heidenreich hatte schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin das Wort ergriffen und den Roman des erst Siebzehnjährigen als »ein ganz und gar erstaunliches und wunderbares Buch von einem hochtalentierten, sehr jungen Autor« gelobt, der in »hemingwayscher Knappheit und Direktheit« unmittelbar aus dem Krisenherd der Jugend berichte.7 Für Maxim Biller, der sich selbst als »Entdecker« Leberts versteht, ist der »Literatur-Mozart« der einzige neben Henry Miller, »bei dem so laute, grelle Worte wie ›Fotze‹ oder ›ficken‹ romantisch klingen«8. Heidenreich und Biller haben durch ihre Vergleiche mit Größen der Literaturgeschichte die Beschäftigung mit dem Roman im Feuilleton erheblich mitbestimmt: Zahlreiche Besprechungen in Zeitungen und Internet beziehen sich auf Biller, indem sie, ohne Rückverweis auf den zu Grunde liegenden Artikel, Leberts Adelung als »Literatur-Mozart« aufgreifen. Die Rezensionen zu Crazy versuchen nicht nur mögliche Referenzen für Ton und Ausdruck in der Literaturgeschichte aufzuzeigen, sondern messen die literarische Qualität des Romans auch an Leberts jungem Alter während des Entstehungsprozesses. Da sich der Protagonist und Ich-Erzähler in Crazy den Vornamen und die körperliche Einschränkung mit dem empirischen Autor teilt, geht es immer auch um den möglichen biografischen Gehalt des Textes. Benni, die Hauptfigur des Romans, kommt als neuer Schüler in das Internat Neuseelen. Gemeinsam mit seinen neuen Freunden kostet er das Leben als Teenager aus: Alkohol, Sex und der Ausbruch aus räumlichen und moralischen Zwängen bilden thematische Schwerpunkte. Zu der scheinbaren Identität zwischen Autor und Erzählerfigur schreibt Maxim Biller : Natürlich heißt Benjamin Leberts »Crazy«-Held Benjamin Lebert; und natürlich schlägt sich der echte Benjamin Lebert mit derselben elenden Behinderung herum wie der ausgedachte, natürlich verbrachte er ebenfalls das letzte Jahr in einem Internat, und ich bin mir sicher, daß er uns nichts, aber auch gar nichts von dem, was er dort erlebt, gedacht, gefühlt hat, verschweigt.9

Nach Biller kann ein so junger Autor wie Lebert gar nicht anders, als unmittelbar aus seiner eigenen Erfahrung zu schöpfen. Den Roman kennzeichnet eine grundtiefe Ehrlichkeit: In Crazy schreibt kein Erwachsener, sondern ein Ju7 Elke Heidenreich: »Ein Autogramm von Gott. Elke Heidenreich über Benjamin Leberts Romandebüt«. In: Der Spiegel vom 15. Februar 1999, S. 199. 8 Maxim Biller : »Meine Schuld. Zu Benjamin Leberts Debütroman ›Crazy‹«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1999, S. 52. 9 Biller: Meine Schuld (wie Anm. 8).

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gendlicher. Diese Lebensnähe des ›Schulbuchs‹ hat auch die Deutschdidaktik früh erkannt: Crazy gehört seit Jahren zum »Standardstoff im Deutschunterricht«10. Das »Identifikationspotential des Textes ist hoch, kämpft der Protagonist doch mit vielen alterstypischen Widrigkeiten, die die gleichaltrigen Leser oft nur zu gut kennen«11. Die eingängige und schnörkellose Sprache ist ein weiteres Merkmal, das Crazy für den Deutschunterricht legitimiert. Es dominiert die Parataxe, zahlreiche umgangssprachliche Ausdrücke kommen vor. Die suggerierte »Mündlichkeit sowie eine protokoll- beziehungsweise tagebuchartige Erzählweise«12 erleichtern den Schülern zudem das Verständnis. Verkürzt gesagt: Die Rezeption des Romans steht unter den Schlagworten ›Intertextualität‹, also der Suche nach literarischen Referenzen, und ›Lebensnähe‹, dem Aufspüren des autobiografischen Gehalts des Textes. Für eine erneute Annäherung an den Roman können diese zwei Aspekte in Beziehung zueinander gesetzt werden: Vertraut man Billers Erfahrungen, beeinflussen Lebens- und Leseerfahrungen den Schreibprozess eines Autors; berücksichtigt man die Lebenswirklichkeit des zur Zeit der Entstehung des Romans selbst noch jugendlichen Autors, lässt sich die von Heidenreich und Biller angefangene Liste möglicher Referenztexte mit Blick auf die Jugendliteratur erweitern: Auf der Ebene der erzählten Welt wie auch auf der discours-Ebene bestehen auffällige Parallelen zu den frühen TKKG-Krimis von Stefan Wolf. Vor dem Hintergrund des Lobes auf den Roman mag es auf den ersten Blick despektierlich erscheinen, mit Stefan Wolf13, der über einhundert Bände der Jugendbuchreihe TKKG produziert hat, einen Autor von Genreliteratur ins Spiel zu bringen. Der Vergleich will zeigen, dass sich Leberts Debütroman über offensichtliche inhaltliche und stilistische Parallelen auf TKKG14 bezieht – gleichzeitig aber auch, besonders 10 Uwe Klemm: »›Crazy‹ Webquest. Handlungs- und produktionsorientiertes Arbeiten mit dem Internet«. In: Deutschmagazin 5 (2007), S. 43–48, hier S. 43. 11 Klemm: »Crazy« Webquest (wie Anm. 10). 12 Carsten Gansel: »Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Popliteratur (Text+Kritik Sonderband). München 2003, S. 234–257, hier S. 234. 13 Stefan Wolf ist eines der vielen Pseudonyme des Vielschreibers Rolf Kalmuczak. Da das Alias ›Stefan Wolf‹ eng mit der Serie TKKG verbunden ist, soll im Folgenden dieser Name für den Autor der Jugendbuchserie stehen. 14 Der Bezugsrahmen setzt sich aus den ersten drei Romanen der Serie zusammen: Die Jagd nach den Millionendieben [=im Folgenden MD], Der blinde Hellseher [=BH] und Das leere Grab im Moor [=GM], zit. n. Stefan Wolf: Ein Fall für TKKG. Wie alles begann. Die ersten 3 Bände. München 2014. Da die Handlungsverläufe der Texte gleichen Strukturierungsprinzipien folgen und auch die Figuren sich nicht verändern, kann auf die gesamte Serie geschlossen werden. Baeck und Beeck sprechen in Bezug auf die Eindimensionalität der einzelnen Folgen in ihrer Untersuchung von einer »Kinder- und Jugendbuchreihe, deren Langeweile nur von ihrem Erfolg übertroffen wird« (Jean-Philipp Baeck, Volker Beeck: »Mit Judo gegen Wodka Bruno, Miethai Zinse und Dr. Mubase. TKKG – ein postnazistischer Jugend-

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über die kontrastive Gestaltung der Protagonisten, als Kontrafaktur die Entfernung von der Jugendbuchserie bemüht. Diese These verlangt danach, den Bezug auf die Literaturdidaktik erneut herzustellen: Welche Argumente sprechen für Crazy als geeignete Unterrichtslektüre, die TKKG disqualifizieren? Vorliegende Unterrichtsmaterialien gehen davon aus, dass der Roman mit der Lebenswirklichkeit der Schüler korrespondiert. Ebenso wie das Feuilleton argumentieren sie mit der Identität zwischen Autor und Erzähler. Diese Lesart, die potentiell widersprechende Textsignale ausblendet, muss in diesem Zusammenhang deshalb ebenfalls geprüft werden.

2.

TKKG – »Das Abenteuer-Quartett«

1979 erschienen die ersten fünf Folgen der Jugendbuchserie TKKG. Nach über dreißig Jahren erfolgreicher Vermarktung gibt es inzwischen weit über 150 Folgen, die nicht auf das Medium Buch beschränkt blieben: Schnell lagen die Abenteuer von TKKG als Hörspiele, später dann als Fernsehserie, Kinofilme und Computerspiele vor. Ganze Generationen von Jugendlichen haben die Kriminalfälle der Jugendbande gelesen, gehört, gesehen und nachgespielt – kaum ein Kind der vergangenen Jahrzehnte, das TKKG nicht kennt. Der Serientitel leitet sich aus den Anfangsbuchstaben der Figurennamen ab: »Tarzan, Klößchen, Karl und Gaby. Sie waren das Abenteuer-Quartett. Die Unzertrennlichen. Die verschworene Gemeinschaft« (BH 211). Die vier Mitglieder der Bande lösen gemeinsam neben dem nicht immer leichten Schulalltag Kriminalfälle. Ein eindimensionales Rechtsempfinden motiviert die vier, vor allem Tarzan, sich gegen Ungerechtigkeit einzusetzen. Dabei werden TKKG davon angetrieben, gemeinsam Abenteuer zu erleben: »Es ist nämlich ein Riesenunterschied, ob man auf den Fernseher glotzt und sich ansieht, was andere erleben, oder ob man’s selbst tut« (MD 94). Tarzan ist der Anführer der Gruppe. Seine Freunde, vor allem Klößchen, blicken ehrfürchtig zu ihm auf: »Seit er die Schule besuchte, war Tarzan sein Vorbild – in jeder Beziehung« (MD 78). Tarzan und Klößchen leben im Internat und teilen sich dort ein Zimmer, das ›Adlernest‹. Nicht nur die Räume des Internats tragen scherzhafte Bezeichnungen, auch die Figuren leiten ihre Rufnamen aus charakterbestimmenden Eigenschaften ab: »Tarzan war natürlich sein Spitzname. […] Den Spitznamen hatte er weg, weil er mit affenartiger Geschwindigkeit am Kletterseil hoch turnen konnte« (GM 379). Da er absolut sportlich ist und einen absoluten Gerechtigkeitssinn besitzt, verkörpert er prototypische Eigenschaften einer Heldenfigur mit großem Identikrimi«. In: Kittkritik (Hg.): Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur. Mainz 2007, S. 70–88, hier S. 70).

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fikationspotential für junge Leser. Der Rufname seines Zimmerkameraden Klößchen resultiert aus der übertriebenen Vorliebe für Schokolade. Anders als der athletische Tarzan ist Klößchen ein adipöser Junge, der unentwegt an Süßigkeiten denkt: »Auch jetzt, nach dem Zähneputzen, saß Klößchen auf seinem Kopfkissen und kaute. Schokolade, natürlich. Ohne Schokolade konnte er nicht leben; und je mehr er davon aß, um so dicker wurde er« (MD 15). Dennoch bilden Klößchens Humor und Altruismus wichtige Stützen für das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe. Gaby, die aufgrund ihrer Tierliebe den Spitznamen Pfote trägt, ist das einzige Mädchen der Bande. Wie allen weiblichen Figuren in den Romanen haftet ihr ein nicht mehr zeitgemäßes Frauenbild an. Gaby darf auf Tarzans alten Rollenmustern entsprechender Anordnung nicht an nächtlichen Ausflügen teilnehmen, denn »nach Einbruch der Dunkelheit gehören Mädchen ins Haus« (GM 500). Gaby bleibt bei den Abenteuern demnach häufig »im Hintergrund. Für Mädchen ist so was doch zu gefährlich« (MD 183). Insgesamt zeigt sich, dass die Figuren in TKKG eindimensional konzipiert sind, sehr flach bleiben und sich im Verlauf der Serie kaum entwickeln. Jeder Charakter besitzt eindeutig bestimmbare Eigenschaften, die keine Schattierungen kennen. Die Verwendung sprechender Namen lässt keinen Zweifel an den bestimmenden Charakterzügen der jeweiligen Figur aufkommen. Die jedem Roman vorangestellten Kurzcharakterisierungen der vier Mitglieder von TKKG mit entsprechender Illustration tragen darüber hinaus dazu bei, bereits von der ersten Seite an ein klares Konzept der Figur zu übermitteln. Viele Merkmale der inneren und äußeren Form der TKKG-Serie stimmen mit Walter Nutz’ Definition des Trivialromans überein: Feste dramaturgische Muster, obligatorisches Happy End, stereotype und formelhafte Figurenbezeichnung,15 oder die Orientierung an einer bestimmten Leserschicht.16

3.

Crazy – »fett, krüppelig, schweigend, dumm«

Bereits auf der Ebene der erzählten Welt, des Ortes und der Figurenstruktur zeigen sich Parallelen zwischen der Jugendbuchserie TKKG und Benjamin Leberts Debütroman. Benni, der Protagonist in Crazy, soll im fiktiven Internatsschloss Neuseelen seine schulischen Leistungen verbessern. Er teilt sich dort ein Zimmer mit Janosch, einem selbstbewussten und frühreifen Jungen. Das Internat dient ebenso wie in TKKG zur Ausgestaltung einer rein literarischen Welt, die 15 Wenn Gaby jeweils das erste Mal in der Geschichte auftaucht, wird ihr Aussehen immer auf ganz ähnliche Weise beschrieben. Vgl. MD 29, BH 213, GM 384. 16 Walter Nutz: Trivialliteratur und Popularkultur. Vom Heftromanleser zum Fernsehzuschauer. Eine literatursoziologische Analyse unter Einschluss der Trivialliteratur der DDR. Opladen 1999, S. 63.

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von spannenden Abenteuern geprägt ist und dadurch die bedrohliche Pubertät ordnet. Durch die Freundschaft zu Janosch wird Benni in eine Clique aufgenommen, deren Anführer Janosch ist: »Und ein großer sogar. Er würde das Rudel zusammenhalten. Ihnen allen wenn nötig in den Arsch treten«17. In gleicher Weise wie die Mitglieder von TKKG tragen die Figuren und Orte in Crazy sprechende Namen. Sie symbolisieren die Rolle innerhalb der Peer-Group, denn »fast jeder Name zeichnet den Menschen aus, der ihn trägt« (Crazy 70). Das ›Adlernest‹ der Jungen befindet sich auf dem »Hurenflügel […] [o]der auch Landorf-Gang. Wegen dem Erzieher« (Crazy 16). Neben Benni und Janosch gehört »Florian aus der Siebten, den alle nur Mädchen nennen« (Crazy 23), zu der Clique. Er trägt diesen Namen, weil er »ungeheuer zart und sehr empfindlich« (ebd.) ist. Der Spitzname steht für seine noch nicht erreichte Männlichkeit. Neben ihnen gibt es noch den dicken Felix: »Er hat nie besonders viele Freunde gehabt. Nur die Süßigkeiten. Und denen ist er verfallen. Alle nennen ihn Kugli oder Obelix« (Crazy 26). Ebenso wie Klößchen denkt der dicke Felix unentwegt ans Essen. Sein Verlangen danach drückt er in der für den Roman typischen Derbheit und Direktheit aus: »Hat jemand zufällig was zu fressen hier?« (Crazy 30). Troy und der dünne Felix komplettieren die Clique als »[d]ie zwei großen Unbekannten« (Crazy 50). Anders als die TKKG-Bande, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, weist die Jungengruppe in Crazy kaum positives Identifikationspotential auf. Sie ist: »Fett, krüppelig, schweigend, dumm« (Crazy 25). Benni stellt mit Blick auf seine neuen Freunde schon früh fest: »Alle tun sie mir irgendwo leid. Alle fünf« (Crazy 26). Benni, der aufgrund seiner schlechten Schulnoten und seiner körperlichen Einschränkung von Unzufriedenheit getrieben wird, schließt sich hier mit ein. Die Gruppenstrukturen in TKKG und Crazy folgen gleichen Ordnungsprinzipien18 : Jede Gruppe verfügt über einen Anführer (Tarzan und Janosch), eine zarte Frauenfigur (Gaby und Felix) und einen Dicken (Klößchen und Kugli), dessen anhaltender Hunger und fehlende Fitness in beiden Texten dazu genutzt werden, Komik zu generieren. Der TKKG-Bande kommen dabei positive Attribute wie Sportlichkeit (Tarzan), Klugheit (Karl), Humor (Klößchen) und Attraktivität (Gaby) zu, die Clique in Crazy wirkt wie ihr negatives Gegenstück: Obwohl Janosch sie mehrfach als Gruppe von Helden bezeichnet, verkörpern die 17 Benjamin Lebert: Crazy. 7. Auflage. München 2009, hier S. 51. Im Folgenden nur Titel mit Seitenzahl. 18 Hat eine der Gruppen eine Strecke hinter sich zu bringen, nutzen beide Texte die gleiche Erzählstruktur, um das Vorankommen ihrer Figuren auszudrücken: »Tarzan fuhr mit Oskar an der Spitze. Dann kam Gaby. Karl hängte sich an ihr Hinterrad, und Klößchen fühlte sich, wie immer, als Schlusslicht am wohlsten« (BH 331). In Crazy : »Janosch, der Anführer, läuft vorne. […] Neben ihm läuft der kleine Florian, den alle nur Mädchen nennen. […] Hinter ihm laufen die beiden Felixe« (Crazy 103f.).

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Figuren keine erstrebenswerten Eigenschaften. So kann man in Benni den diametralen Kontrapunkt zu Tarzan sehen. Tarzan ist dank seiner hohen intrinsischen Motivation »in Mathe der Beste« (BH 220), kein Unterrichtsfach bereitet ihm Schwierigkeiten: »Er hatte nämlich schon längst rausgefunden, dass es zum eigenen Schaden war, wenn man im Unterricht pennte« (MD 89). Indem auktorialer Erzählerkommentar und Figurenrede verschwimmen, erhebt der Text für Tarzans Ansichten als Anführer Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bennis schulische Leistungen, vor allem in Mathematik, sind dagegen miserabel. Durch seinen Halbseitenspasmus hat er, anders als Tarzan, »Probleme beim Sport, kann kein Fahrrad fahren und hat bei allen Bewegungen, die den Gleichgewichtssinn betreffen, Schwierigkeiten« (Crazy 12). Anstatt mutig und lebensliebend wie Tarzan ins Abenteuer zu ziehen, ist Benni nur Mitläufer in seiner Clique. Wenn der Erzähler in TKKG sagt, »Tarzan gefiel es in dieser Schule. Daran waren vor allem seine Freunde schuld. Sie hielten eisern zusammen« (MD 16), kann die Zuversicht wortwörtlich genommen werden. Benni hingegen hadert mit seinem Schicksal und dem auferlegten Internatsaufenthalt. Seine Empfindungen lassen sich nicht ohne ironischen Unterton lesen: »Wir halten uns beinahe bei den Händen, so sehr lieben wir uns. Internat eben. Eine Gruppe, eine Freundschaft, eine Familie. Und Mathelehrer Rolf Falkenstein ist unser Papi« (Crazy 22).

3.

»Unsere Eltern sind prima«

Neuhaus gibt an, dass der Beschäftigung mit familiären Beziehungen innerhalb der Literatur längere Zeit nur ein untergeordnetes Interesse galt. Dies habe sich mit der Pop-Literatur geändert, die das Themenfeld der Familie bewusst aufgreift.19 Nicht verwundern sollte, dass in Anbetracht der aufgezeigten Nähe nicht nur in Crazy sondern auch in den TKKG-Krimis das Motiv der Familie eine übergeordnete Rolle einnimmt. In dem ersten TKKG-Band Die Jagd nach den Millionendieben stellt Tarzan in dem Kapitel Unsere Eltern sind prima die enge Beziehung der Mitglieder von TKKG zu ihren Eltern dar : »›Jeder hat’s eben nicht so gut wie wir‹, sagte Tarzan. ›Deine Eltern sind prima. Karls Eltern sind prima. Mit meiner Mutter kann ich Pferde stehlen‹« (MD 47). Tarzan will eine Erklärung für die kriminelle Energie des Raufboldes Rudi Kaluschke finden, denn »[w]er weiß, was Kaluschke für Eltern hat« (ebd.). Im weiteren Verlauf wird auch der Vater des verzogenen Rudi in die Geschichte eingeführt, der über die gleiche kleinkriminelle Energie verfügt wie sein Sohn. TKKG propagiert eine direkte Vererbung positiver wie negativer 19 Neuhaus: »Was ist mit den Müttern?« (wie Anm. 1), S. 68.

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Charaktereigenschaften von den Eltern auf die Kinder : Wer aus guter Familie kommt, ist ein guter Junge. Wer aus einem schwierigen Elternhaus kommt, der benimmt sich der Logik des Textes gemäß daneben. Tarzans Mutterliebe ist aufgrund des frühen Todes seines Vaters stark ausgeprägt: »Tarzan liebte seine Mutter und er hätte natürlich, genau wie alle anderen, nur zu gern auch ein richtiges Elternhaus mit Vater und Mutter gehabt. Aber darüber sprach er nie und ließ sich auch nichts anmerken« (MD 137). Der Verlust des Vaters wird durch die intensivierte Beziehung zu seiner Mutter teilweise aufgefangen: »Wie sehr er an seiner Mutter hing – daran durfte er manchmal gar nicht denken. Sonst hätte er sich sofort auf sein Rennrad geschwungen und wäre die endlose Strecke zu ihr geradelt« (BH 209). Auch Benni macht als Ich-Erzähler in Crazy kein Geheimnis aus seiner engen familiären Bindung: »Ja, ich würde sagen, ich bin ein richtiges Mutterkind« (Crazy 52). Während seines Internatsaufenthaltes beginnt seine Familie durch die Scheidung seiner Eltern zu zerfallen. Obwohl in Bennis Gedanken die Trennung der Eltern durchgehend präsent ist, spricht er ebenso wie Tarzan nicht mit seinen Freunden über seine Ängste. In Bennis Gedanken spiegeln sich Einsamkeit und Heimweh: »Ich muss an mein Bett denken. Und an meine Eltern. Die jetzt schlafen. Meine Mutter träumt bestimmt von mir. […] So ist sie. Meine Mutter. Stets in Sorge um mich. Wahrscheinlich bin ich deshalb so weich« (Crazy 52). Die familiäre Bindung, die seinem kindlichen Charakter Halt gibt, zeigt sich auch nach außen hin an seiner Kleidung. Während Benni mit seinen Freunden durch den Mädchenflügel des Internats schleicht, trägt er »den pechschwarzen Pyjama von [s]einem Vater. Er dürfte an die zwanzig Jahre alt sein« (Crazy 53). Das Bandshirt von Pink Floyd, das Benni vorrangig anhat, bildet den mit dem Vater geteilten Musikgeschmack ab. Benni hört keine aktuelle Popmusik, sondern wie sein Vater die Rolling Stones, Abba und Guns N’ Roses. Literatur und Musik werden in Crazy nicht, wie in anderen pop-literarischen Texten, in der Absicht verbunden, Realitätssplitter der Popkultur in die Texte einzuschreiben, sondern um die noch immer starke Bindung an das Elternhaus des Protagonisten anzuzeigen. Benni und Tarzan teilen die emotionale Nähe zu ihrer Familie, wenngleich ihnen die Sicherheit versprechende Struktur fehlt. Beide Protagonisten verschweigen den Kummer um den familiären Verlust vor ihren Freunden und behalten ihre Ängste für sich.

4.

Sex, Drugs and Rock’n’Roll

Die in beiden Texten verhandelte kindliche Sehnsucht nach familiärer Nähe bildet einen Gegenpol zu der Erwachsenenwelt, mit der sich Jugendliche ab einem bestimmten Alter zwangsläufig konfrontiert sehen: »›Mit sechzehn wollen

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Mädchen einfach genagelt werden. Also sollten wir sie auch nageln‹, meint Janosch« (Crazy 79). Auch wenn TKKG die unverblümte Direktheit fehlt, mit der die Jungen in Crazy die Sexualität entdecken, bleibt das andere Geschlecht nicht wirkungslos. Die Lust auf Abenteuer ist erheblich durch das Aufblühen der Sexualität bestimmt: In der ersten Folge der Serie klettert Tarzan in der Nacht aus dem Zimmerfenster, um heimlich mit Gaby auf ein Volksfest zu gehen. Um die Unschuld der Serie zu wahren, werden die beiden jedoch von Karl begleitet. Für seinen nächtlichen Ausbruch nimmt Tarzan einen Verweis in Kauf und riskiert so, von der Schule zu fliegen. Anders als in Crazy haben die Kinder der TKKG-Bande noch keine klare Vorstellung von Sexualität und wissen nicht, was Jungen und Mädchen zueinander zieht. Tarzan kann sich nicht erklären, warum er so angetan von der hübschen Gaby ist: »Zum Kuckuck! Woran das wohl liegt?« (GM 540). Sexuelle Konnotationen und Anspielungen klingen zwar in vielen Formulierungen an, werden aber nie explizit ausgespielt: »Darüber redete man nicht. Das war stillschweigende Übereinkunft« (BH 298). Das langsame Aufkeimen der Sexualität, das Crazy in wörtlicher und bildlicher Offenheit ausspricht, ist in den TKKGRomanen nur zwischen den Zeilen zu erkennen. Obwohl beide Texte diametrale Strategien im Umgang mit diesem Thema verfolgen, nutzen sie dennoch gleiche Mittel, um sexuelle Anziehungskraft darzustellen. Die Beschreibung von weiblichen Figuren ist auf äußerliche, sexuell konnotierte Schlüsselreize gerichtet: das Haar, die Augen und das Gesicht. In der zweiten TKKG-Folge wird Suzanne, das attraktive und bereits sechzehnjährige Au-pair-Mädchen aus Frankreich, vorgestellt: Suzanne war eine kesse Nudel, doch körperlich nur eine halbe Portion. […] Aber hübsch! Sie hatte kurzgeschnittenes, schwarzes Haar. Es fiel raffiniert in die Stirn, was einen verruchten Eindruck hervorrief – zumal sie auch sonst sehr kokett war und mit Augenaufschlägen nur so um sich warf. Ihre dunklen Augen sprühten (BH 276).

Benni hangelt sich in seiner Beschreibung eines Mädchens in Crazy an den gleichen Schlüsselreizen entlang: »Ihre langen blonden Haare hat sie hochgesteckt. Das Gesicht ist bleich, aber freundlich. […] Ihre Haut ist hell und zart. Die Augen gütig« (Crazy 35)20. Weibliche Figuren sind in beiden Texten auf ihre Äußerlichkeiten reduziert. Die Beschreibung der Charaktereigenschaften bleibt ausgespart. Anders als bei TKKG nimmt Crazy jedoch beim Thema Sexualität kein Blatt vor den Mund, es rücken nach der Beschreibung des Gesichtes auch die sekundären Geschlechtsmerkmale in den Fokus: »Ihre Brüste sind groß. Soweit ich das beurteilen kann. Das Nachthemd gibt wenig Einsichten« (Crazy 70). Stefan Wolf, der Autor der TKKG-Serie, liefert für sein Vorgehen eine etwas 20 Vgl. auch MD 29 und Crazy 69.

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ungelenke Erklärung: »Wie viele Möglichkeiten hat man denn, ein Mädchen zu schildern? Sie ist entweder blond und blauäugig, dunkelhaarig mit braunen Augen, oder sie ist eine Rothaarige mit grünen Katzenaugen«21. In beiden Texten liegt eine reduktionistische Sicht auf das weibliche Geschlecht vor. Da Crazy die Wahrnehmungen des Protagonisten nicht durch eine auktoriale Instanz filtert, dienen hier die anzüglichen Reduzierungen dazu, den sprachlichen Ausdruck simultan neben den sinnlichen Eindruck zu stellen. Der Ich-Erzähler Benni verschweigt keine Peinlichkeit und mystifiziert die Sexualität nicht, sondern beschreibt Frauen als Sehnsuchtsobjekte der Jugend: »Früher hingen in unseren Zimmern Superhelden. Nun hängen in unseren Zimmern Supertitten. Im Wesentlichen sind wir kleine Jungen geblieben« (Crazy 45). Nicht nur sexuelle Begehrlichkeiten tauchen ab einem bestimmten Alter in dem Leben der Protagonisten auf, auch Alkohol und Zigaretten rücken zwangsläufig in den Fokus. Die Mitglieder der TKKG-Bande haben zu diesem Thema eine unumstößliche Meinung: »›Viele unseres Jahrgangs‹, sagte Karl wieder mal in seiner geschraubten Art, ›gehen bereits in Diskotheken ein und aus, sprechen alkoholischen Getränken zu und haben meistens eine Zigarette in der Hand‹« (MD 35). Die Kinder der TKKG-Bande distanzieren sich von Rauschmitteln und können so nicht mit ›bösen‹ Figuren verwechselt werden, die innerhalb der Serie leicht anhand ihres Alkohol- und Zigarettenkonsums sowie an körperlichen Schönheitsmakeln zu identifizieren sind. Davon heben sich die Charaktereigenschaften der TKKG-Bande ab: »›Ich bin Sportsmann‹, sagte Tarzan. ›Ich rühr auch mit 15 kein Bier an. Und Zigaretten schon gar nicht. Bringt gar nichts. Und nur ein Blödmann kann sich einbilden, dass er mit Schnaps und Glimmstängel erwachsener wird. Oder männlicher. Ist doch sowieso nur Angabe‹« (MD 70). Zunächst scheint es so, als teile Benni Tarzans Ansichten: »Ich muss zugeben, daß ich sehr wenig trinke. Ich habe immer das Gefühl, mir könnte etwas dabei abhanden kommen. Etwas, das ich vielleicht brauchen könnte. Mein Verstand vielleicht« (Crazy 69). Trotz (oder gerade wegen) seiner Vorbehalte konsumiert Benni durch den Kontakt zu seiner Clique Zigaretten und Bier, um männlich zu wirken. Besondere Momente feiern Benni und Janosch, indem sie Zigarren rauchen: »Wir fahren in München ein. Jetzt müssen wir sie rauchen. Wir zwei Helden. Wie in Independence Day eben« (Crazy 147). Zwischen der Hoffnung, durch Alkohol- und Zigarettenkonsum älter zu wirken, und der tatsächlich vorangeschrittenen Adoleszenz besteht bei Benni jedoch ein enormer Gegensatz. Immer wieder konstatiert er in leichter Abwandlung: »Warum bleiben wir 21 David Sarkar : »Man muss der Jugend zeigen, dass das Leben viel schöner ist, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht. Ein Interview mit Stefan Wolf«. http://www.planetinterview.de/interviews/stefan-wolf/34059/, letzter Zugriff: 3. Januar 2015.

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nicht alle einfach kleine Jungen?« (Crazy 83). Die von seinem Freund Janosch vorgelebte Selbstsicherheit und immer wieder eingeforderte Männlichkeit kann Benni nicht übernehmen: »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, ich bräuchte eine Hurenhausphase. Müßte alles einmal rausschreien. […] Da sage noch einer, die Jugend sei einfach. Das sagen nur Leute, die sie hinter sich haben« (Crazy 92). In der Ausformulierung adoleszenzrelevanter Themen verfolgen TKKG und Crazy demnach gegenläufige Strategien. Der absoluten Enthaltsamkeit der TKKG-Kinder steht der anziehende erste Kontakt mit der Welt der Erwachsenen der Crazy-Helden gegenüber. Die TKKG-Bande hat ihre Kindheit noch nicht hinter sich gelassen. Um darauf hinzuweisen, werden die Mitglieder der TKKGBande im Text als Kinder bezeichnet (vgl. GM 491), auch wenn Tarzan als Anführer der Gruppe groß gewachsen ist und älter geschätzt wird, als er eigentlich ist (vgl. MD 109). Die Ansichten der Kinder über die Adoleszenz sind aufgrund fehlender Erfahrungen voreingenommen. Die Crazy-Clique hingegen befindet sich an einer Schwelle des Lebens, an der Geschichten durch Erfahrungen ersetzt werden. Vor allem für Benni hat die Wirklichkeit einen bitteren Geschmack – zu sehr ist er noch in seiner Kindheit gefangen.

5.

Crazy als Adoleszenzroman

Da in Crazy die Themen der Pubertät stark in den Vordergrund rücken, erscheint es auf den ersten Blick unproblematisch, die Kategorisierung als Adoleszenzroman zu übernehmen. In einem Aufsatz zur allgemeinen Klassifikation popliterarischer Texte schreibt Gansel: »Die neue deutsche Pop-Literatur ist in ihrem Kern Adoleszenzliteratur, ja eine Reihe von Texten stehen [sic] geradezu exemplarisch für den (post-)modernen Adoleszenzroman«22. In einer Inhaltswiedergabe im Deutschunterricht nehmen Beste und Kämper-van den Boogaart die »auf eine Entwicklung hin zyklisch« angelegte Struktur des Romans zum Anlass, die Kategorisierung des »neuen Adoleszenzromans (so darf man den Text wohl eingruppieren)« zu übernehmen.23 Zweifellos befindet sich der Protagonist und Erzähler seinem Lebensalter nach auf der Schwelle, die den Übergang von der unschuldigen Kindheit in das Leben eines Jugendlichen markiert: »Wenn man nämlich erst einmal dreizehn ist, werden Mädchen und Hintern zur Droge« (Crazy 48). Die Kindlichkeit des Protagonisten steht jedoch in einem Wider22 Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur (wie Anm. 12), S. 236. 23 Gisela Beste, Michael Kämper-van den Boogaart: »Literaturkritik im Unterricht am Beispiel von Benjamin Leberts Roman ›Crazy‹«. In: Deutschunterricht 52 (1999), S. 425–435, hier S. 425.

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spruch zu der Bezeichnung ›Adoleszenzroman‹. Der Internatsaufenthalt konfrontiert Benni zwar mit den neuen Reizen der Sexualität oder des Alkohols, seine Gedanken und Sehnsüchte bleiben jedoch durch den Roman hindurch auf seine Eltern und seine Kindheit gerichtet: »Keine Sau hat mich gefragt, ob ich erwachsen werden will« (Crazy 48). Diese Aussage des dicken Felix spiegelt treffend Bennis eigenen Standpunkt wider. Scheinbar sind Benni und seine Freunde ebenso in ihrer Kindlichkeit verfangen wie die Kinder aus TKKG – kein Weg führt in die Entfaltung der eigenen Identität. Demnach müsste für Crazy die Bezeichnung ›Adoleszenzroman‹ fallen gelassen werden, da es keine Reifung des Helden gibt. Gleichzeitig – und das ist entscheidend – versucht die Clique im Verlauf des Romans, aus ihrer Kindheit auszubrechen. Den beiden umfangreichsten Episoden unterliegt ein Reisemotiv, das als Ritual eine initiative Funktion erfüllt.24 Diese Episoden bedeuten für Benni und seine Freunde den Aufbruch in die ›Hurenhausphase‹. Ihr Erreichen ist jeweils durch eine spirituell überhöhte Vagina markiert. In beiden Episoden bilden sexuelle Aspekte den Antrieb für die Ausbrüche, die zusammengenommen letztendlich den Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz initiieren. In der ersten Episode schleicht sich die Clique in das Mädchenzimmer : »Janosch sagt, diese sinnlosen Aktionen würden uns auszeichnen. Und wenn ich mich so umschaue, glaube ich, er hat recht. Da laufen sie nämlich. Die sinnlosen Aktionen in Person« (Crazy 49). Benni sieht in dem nächtlichen Ausbruch, der vor allem für Janosch Teil eines Initiationsrituals ist (vgl. Crazy 97), keinen nachvollziehbaren Wert, lässt sich aber dennoch mitziehen. Beim Heraufsteigen einer Feuerleiter stellt er fest: »Hier könnte man eigentlich gut einfügen, daß ich nie klettere« (Crazy 62). Indem Benni an dieser Stelle über das eigene Erzählen reflektiert, scheint es fast so, als sei er sich der Nähe zu Tarzans Internatsausbrüchen bewusst. Nach erfolgreicher Ankunft und mehreren Bieren verlässt Benni schließlich das Zimmer. Er merkt zunächst nicht, wie ihm Marie folgt, die vorher schon verheißungsvoll auf seinem Schoß gelegen hatte. In den Waschräumen stellt sie sich vor Benni und beginnt sich auszuziehen: »Ich sehe ihre Schamhaare. Sie sind schwarz. Wie ein Fenster sieht ihr Venushügel aus. Breit und kurz geschoren. So etwas habe ich noch nie so nah vor mir gehabt« (Crazy 79). Auf etwa zwei Romanseiten schildert Benni anschließend, wie er seine Jungfräulichkeit verliert, Marie sich wieder anzieht und ihn allein zurücklässt: »Noch kurz sehe ich ihre Fotze. Ich werde sie in Erinnerung behalten« (Crazy 82). Unmittelbar nach seiner Entjungferung äußert Benni: »Mir ist schlecht« (Crazy 82). Sein Unwohlsein ist nicht nur auf den Alkohol zurückzuführen; er befürchtet, durch Maries »Tat« (Crazy 82) seiner Kindheit beraubt worden zu sein:

24 Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur (wie Anm. 12), S. 247.

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Wie lauten doch gleich die ganzen Sprüche mit dem ersten Mal? Nach dem ersten Mal wäre man ein Mann? Da stehe man auf eigenen Füßen? Vorbei sei es mit der milden Jugend? Man wäre nun erwachsen? Hm? Mein erstes Mal ist nun vorbei. Und ich fühle mich noch immer wie ein kleiner Hosenscheißer. Das ist, glaube ich, auch ganz gut so. Ich will gar nicht erwachsen werden. Ich will ein ganz normaler Junge bleiben. Meinen Spaß haben. Mich, wenn nötig, bei meinen Eltern verstecken. Und das soll jetzt alles vorbei sein? (ebd.)

Die erste sexuelle Erfahrung hat keinen Einfluss auf Benni. Voller Trotz ›pisst‹ er anschließend neben die Toilette, denn »[d]as ist lustig« (Crazy 83). Der zweite, weitaus größer angelegte Ausbruch führt die Clique nach München in ein Stripteaselokal.25 Die einzelnen Fäden, die der Mensch dem Roman nach im Laufe seines Lebens sucht (vgl. Crazy 131), laufen an diesem Ort zusammen. Durch den Alkohol und die Sexualität umgibt den Stripclub eine heilige Aura, die die individuellen Sehnsüchte der Figuren stillt. Während Ang8liques Stripshow – ihr Name deutet auf ein heiliges Wesen hin – steht vor Kugli »ein riesiger Schweinebraten. Er grinst über beide Ohren. ›Was will man mehr?‹ fragt er. ›Schöne Frauen und gutes Essen. Ich glaube, ich bin im Paradies‹« (Crazy 165). Janosch führt Benni auf der letzten Etappe der Reise26 zur Stripperin, damit er ihr einen Geldschein zusteckt: »Ich fahre mit der Hand um Ang8liques Bauchnabel herum. Nach und nach fahre ich tiefer. Stecke meinen Finger in ihren Slip. Ziehe ihn ein wenig von der Haut ab. […] Ich betrachte Ang8liques Fotze. Ihre Schamhaare sind schwarz. Zu einem Pfeil rasiert« (Crazy 165). In direkter Anlehnung an die erste Episode wird Benni erneut von einem Unwohlsein ergriffen: »Mir ist schlecht« (Crazy 165). Der gleiche Wortlaut in der Formulierung deutet an, dass beide Episoden Teil eines Initiationsrituals sind. Anders als nach dem nächtlichen Ausflug auf den Mädchenflügel, tritt Benni verändert aus dieser Reise hervor. Der räumliche Ausbruch aus dem Internat bewirkt bei ihm die Einsicht, selbst die Verantwortung zu tragen, neue Sicherheiten im Leben zu finden. Ihm wird bewusst, dass er sich nicht länger an seiner Mutter festhalten kann: »Eigentlich könnte ich jetzt zu ihr fahren. Aber ich tue es nicht. Es würde sowieso nichts bringen« (Crazy 162). Nach dieser Episode fehlen sehnsüchtige Gedanken an das zurückgelassene familiäre Bezugsfeld. Benni hat einen eigenen Standpunkt entwickelt, der sich in der Erzählung darin äußert, dass nicht jeder 25 Die Jungen treten ihre Reise mit unauffälligem, leichtem Gepäck an. Nur Kugli trägt einen prall gefüllten Wanderrucksack: »Er ist bis obenhin vollgepackt. Unterhalb des Verschlusses ist eine Haribo-Tüte zu erkennen« (Crazy 97). Mit dem intertextuellen Zeigefinger auf Klößchen gerichtet, begibt Kugli sich niemals ohne Süßigkeiten in ein Abenteuer. 26 Janosch erfährt bereits zuvor durch Benni eine spirituelle Aufwertung: »Janosch ist das Leben. Das Licht. Und die Sonne. Und wenn es einen Gott gibt, dann spricht er durch ihn« (Crazy 148). Die Huldigung erinnert durch Janosch’ Gleichsetzung mit der Sonne stark an den zwölften Vers des Psalms 84: »Ja, Gott, der Herr, ist die Sonne, die uns Licht und Leben gibt«.

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Gedanke an ein Zitat von Janosch rückgebunden ist. Auch wenn sein Selbstbewusstsein noch auf dünnen Beinen steht, lässt Benni die Kindheit hinter sich: »Ich will meine Familie nicht verlieren. Immerhin gehöre ich ja dazu. Was bin ich ohne sie? […] Ich sollte schauen, daß ich selbst weiterlaufe« (Crazy 128). Selbstsicherheit und Freundschaft in der Clique lösen die Familie nicht als neue Orientierungspunkte ab, sondern ergänzen sie. Crazy greift das von Neuhaus beschriebene, als typisch für Pop-Literatur geltende Familienthema auf, ohne jedoch einen narzisstischen Protagonisten vorzuführen. Bennis Schulleistungen haben sich durch den Eintritt in die neue Lebensphase nicht verbessert. Zum Ende des Romans muss Benni das Internat wieder verlassen. Um der Freundschaft und Zusammengehörigkeit innerhalb der Clique ein nach außen sichtbares Zeichen zu verleihen, färben sich die Mitglieder auf ihrem Abschlussball die Haare wasserstoffblond. Die Taschenbuchausgabe des Romans greift diesen Aspekt des Textes auf: Das Cover zeigt ein Foto des jugendlichen Autors Benjamin Lebert mit blondierten Haaren. Der Paratext legt eine Identität zwischen Autor und Erzähler nahe, wie sie in den Rezensionen an den Roman herangetragen worden ist. Er deutet auf die Entwicklung des Autors Benjamin Lebert hin, die er gemeinsam mit seinem Protagonisten durchlaufen hat, um das kindliche Image des ›Literatur-Mozarts‹ von sich abzustreifen, welches ihm im Zuge der ersten Auflage zugesprochen wurde.

6.

Ein erstes Fazit

Der Vergleich von Crazy und TKKG zeigt, dass die Texte auf gleiche Motive und Erzählstrukturen zurückgreifen. Die Parallelen auf der discours-Ebene, die sich beispielsweise in der Beschreibung von Figuren oder den parataktischen Satzkonstruktionen äußern, rücken die Texte in eine enge Beziehung zueinander. Da Crazy gleiche Elemente wie eine trivialliterarische Jugendbuchserie nutzt, liegt der Vorwurf der Banalität nahe. So formuliert Florian Illies eine harsche Kritik an der oberflächlichen Gestaltung der Dialoge im Roman: Crazy sei nicht mehr als »eine krude Mischung aus Nur-mit-dem-Herzen-sieht-man-gut-Weisheiten, Zögling-Törleß-Hartherzigkeiten, Sophies Weltweisheiten und JungentraktMädchentrakt-Deftigkeiten«27. Crazy dupliziert die Trivialität des TKKG-Kosmos, versucht aber zugleich als Kontrafaktur des Jugendromans Distanz zu diesem zu gewinnen, was sich am deutlichsten in der differenten Ausgestaltung der jeweiligen Protagonisten zeigt. Die beiden Internatsschüler und Cliquenmitglieder haben ein ähnliches 27 Florian Illies: »Das Kind. Wie ein Schriftsteller gemacht werden wird«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Februar 1999, S. 41.

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Schicksal zu tragen. Benni ist im Vergleich zu Tarzan jedoch ein Anti-Held: ein unsportlicher, Alkohol trinkender Schulversager ohne Selbstbewusstsein. Benni erfüllt keines der Ideale, die TKKG als erstrebenswert propagiert. Würde Benni als Figur in einer der TKKG-Folgen auftreten, blieben für ihn und seine Freunde nur die Rollen der verzogenen Jugendlichen, die aufgrund emotionaler Unsicherheit, sexueller Eskapaden und Alkoholkonsums vom richtigen Weg abgekommen sind. Benni schafft es jedoch im Gegensatz zu Tarzan, dem Sog der trivialliterarischen Stagnation zu entkommen und einen ersten Schritt in die Männlichkeit zu wagen.28 Die bloße Kontrastierung der Vorlage führt jedoch nicht zwangsläufig auf ein höheres literarisches Niveau. Der Vergleich mit Hemingway und Miller kann sich vor diesem Hintergrund kaum länger halten.

7.

Crazy, das ›Schulbuch‹

Über die kompetenzorientierte Didaktik hat die Gegenwartsliteratur den Weg in den Literaturunterricht gefunden. Nach den Vorgaben der Bildungsstandards muss der Lehrer die Unterrichtslektüre nicht mehr allein durch den kanonischen Wert des Textes begründen, da Schulliteratur immer auch das Ziel verfolgen soll, die Selbstkompetenz der Schüler zu fördern. Hurrelmann plädiert in diesem Zusammenhang für eine Integration der unterhaltenden Texte in den Deutschunterricht.29 Aufgabe der Lehrkraft sei es demnach, Texte nicht nur nach ihrem Bildungsgehalt auszuwählen, sondern gleichzeitig das Lesen selbst als produktiv zu verstehen.30 Die unterhaltende Literatur, welche die Interessen der Schüler im Auge behält, könne die Leselust steigern und zur Lesekompetenz der Schüler beitragen.31 In dieser Hinsicht wäre nicht nur Crazy, sondern auch TKKG ein dankbares ›Schulbuch‹: Es kann davon ausgegangen werden, dass den Schülern Literatur dieser Machart bereits vertraut ist. Da die Protagonisten im Alter der Schüler sind, streifen die Romane Themen, die mit den Alltagsproblemen der Schüler korrespondieren. In der Ausbuchstabierung adoleszenzrelevanter Themen ist Crazy im Gegensatz zu TKKG explizit: Sprache und Inhalt werden als Nähe zur Lebenswirklichkeit der Schüler ausgelegt. Weil Crazy aber in der Darstellung ebenso wie 28 Anders als bei seinem Debüt sorgt Lebert bei seinem zuletzt erschienenen Roman Mitternachtsweg dafür, dass nicht andere den Roman einer literarischen Vorlage zuordnen. Der Ton und die Thematik sind ernster : Lebert macht bei der Präsentation des Romans auf der Frankfurter Buchmesse ganz explizit, dass Storms Schimmelreiter und die Gruselgeschichten von Edgar Allan Poe ihm als Inspirationsquelle dienten. 29 Vgl. Bettina Hurrelmann: »Unterhaltungsliteratur«. In: Praxis Deutsch 150 (1998), S. 15–22. 30 Vgl. Hurrelmann: Unterhaltungsliteratur (wie Anm. 29), S. 16. 31 Vgl. Hurrelmann: Unterhaltungsliteratur (wie Anm. 29), S. 16.

Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman

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TKKG schematisch ist, zeichnen genau genommen beide Texte kein authentisches Bild der Adoleszenz. Dank der Entwicklung des Protagonisten lässt sich Crazy jedoch als Adoleszenzroman kategorisieren. Da sich Autor und Protagonist zudem eine Schnittmenge gemeinsamer Eigenschaften teilen, liegt der Verdacht nahe, diese Kategorisierung spezifizieren zu können. Als autobiografischer Adoleszenzroman hat Crazy, und nicht TKKG, einen Platz im schulischen Literaturkanon gefunden. Amelung und Guthahn schlagen in der Literatur-Kartei: »Crazy« eine Unterrichtsstunde vor, die sich dezidiert mit dem autobiografischen Gehalt des Romans beschäftigt. Die Kartei besteht aus Arbeitsblättern, die verschiedene Aspekte des Textes für einzelne Unterrichtsstunden aufarbeiten. Eines davon soll den Schülern anhand von Crazy die Merkmale eines autobiografischen Romans verdeutlichen. Ein Informationstext zum autobiografischen Schreiben erläutert dazu das Prinzip des Romans: »Benjamin Lebert hat ein sehr persönliches Buch geschrieben. Crazy ist ein autobiografischer Roman, in dem der Autor viel von sich preisgibt«32. Ein zusätzlicher Informationskasten erklärt den etymologischen Ursprung des zentralen Begriffes: »Autobiografisch schreiben bedeutet […] nicht, Geschichten zu erfinden, sondern über das eigene Leben zu schreiben, von sich selbst zu erzählen«33. Leberts »Schilderung eines Tages aus seinem Internatsleben«34 sei demnach das Grundgerüst, dem der Autor in dem Roman folge. Die angenommene Identität zwischen Autor und Erzähler dient als Ansatzpunkt für einen schriftlichen Arbeitsauftrag, der die Schüler dazu anleitet, im Stil des Romans einen eigenen Tagesbericht zu formulieren, um so die Schreibkompetenz zu fördern.35 Nicht nur auf diesem Arbeitsblatt der LiteraturKartei: »Crazy«, auch in der gesamten Unterrichtseinheit unterscheiden Amelung und Guthahn nicht zwischen Autor und Erzähler. Da die Literatur-Kartei für die 8. bis 10. Jahrgangsstufe vorgesehen ist, könnte ein Grund dafür sein, die Lerngruppe nicht mit zu komplexen literaturanalytischen Fragestellungen zu überfordern. Die Kartei enthält jedoch keinen Informationsteil für die Lehrkraft, der dieses Vorgehen als didaktische Reduzierung ausgibt oder überhaupt die konzeptuelle Gestaltung der Einheit erläutert. Zweifellos rückt in Crazy der Erzähler durch Parallelen eng an das Leben des empirischen Autors heran. Dennoch enthält der Roman zahlreiche Passagen, welche die Identität von Autor und Erzähler problematisieren. 32 Irmgard Amelung, Silke Guthahn: Literatur-Kartei: »Crazy«. Mülheim an der Ruhr 2000, S. 7. 33 Amelung, Guthahn: Literatur-Kartei (wie Anm. 32), S. 8. 34 Amelung, Guthahn: Literatur-Kartei (wie Anm. 32), S. 8. 35 Vgl. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den mittleren Schulabschluss. München 2004, S. 11.

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Simon Hansen

Dem Roman ist ein Zitat von Georges Simenon vorangestellt, das die Lektüre lenken soll: »Wir sind alle potentielle Romanfiguren – mit dem Unterschied, daß sich Romanfiguren wirklich ausleben« (Crazy 7). Deutet das Personalpronomen in diesem Zitat auf die empirische Wirklichkeit – in diesem Zusammenhang auf den Autor – hin, ist mit dem Bezug auf die Romanfiguren eine textinterne Ebene gemeint. Zwischen dem wirklichen Leben des Autors und seiner Romanfigur verläuft eine Grenze, die ein unterschiedliches Verhalten bedingt. Möchte man das einleitende Zitat gegen die autobiografische Lesart wenden, ließe es sich so verstehen, dass ein Roman niemals die Blaupause eines wirklichen Autorenlebens liefern könne. Auch im Romantext selbst zeigen sich Brüche mit der Lebensrealität. Bereits an der Oberfläche lässt sich die Fiktionalität leicht belegen: Der Text verortet das Internat Neuseelen in die Nähe von Rosenheim. Eine genauere Lokalisierung fehlt jedoch, weil es in dieser Gestalt außerhalb des Textes nicht existiert. An einer Stelle des Romans reflektiert Benni über den Namen des Internats: »Neuseelen heißt es ausgerechnet. Ja, meine Seele ist neu. Das kann ich sagen. Meine beschissene Seele. Ich vermisse mein Zuhause« (Crazy 83). Der Name des Internats dient in Crazy nicht dazu, Realitätseffekte in den Text einzuschreiben, sondern um den Ort mit einem sprechenden Namen symbolisch aufzuladen. Die Bezeichnung ›Neuseelen‹ steht für die Entwicklung des Protagonisten, der seine Kindheit überwindet. Fiktionalisierte und überhöhte Elemente wie dieses verdeutlichen die Literarizität des Textes. Bemerkenswert ist, dass die LiteraturKartei auch auf Abweichungen von der Realität verweist: »Benjamin Lebert hat beispielsweise neue Berufe für seine Eltern erfunden«36. Dass aufgrund dieser Brechungen die Authentizität des Textes, die der Unterrichtsentwurf ansetzt, angezweifelt werden muss, wird dort jedoch nicht weiter vertieft. Insgesamt bietet Crazy viele Ansatzpunkte, um das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler zu hinterfragen.37 Sollten Lehrer auf vorformulierte Unterrichtseinheiten wie die Literatur-Kartei: »Crazy« zurückgreifen, sollten sie deren 36 Amelung, Guthahn: Literatur-Kartei (wie Anm. 32), S. 8. 37 An anderer Stelle thematisiert der Roman seine Fiktionalität und macht das Erzählen selbst zum Thema. Auf der Zugfahrt nach München bespricht die Clique den beunruhigenden Gedanken, dass das Individuum nach seinem Tod von der Menschheit vergessen werde. Janosch verspricht als Anführer der Gruppe, dass er diesem Prozess in ihrem Fall entgegenwirken werde: »›Ich beschließe hiermit, daß ich mich an euch erinnern werde. Und an all die verrückten Sachen, die uns widerfahren sind. So leben wir doch irgendwie weiter‹« (Crazy 101). Die Jungen legen daraufhin ein Versprechen ab, die anderen nicht zu vergessen. Da Benni zu diesem Zeitpunkt nicht bei den anderen ist, kann er seine Zusicherung nicht geben. Der Romantext kann in diesem Zusammenhang als das später eingelöste Versprechen des Erzählers an seine Freunde verstanden werden: Benni schreibt ihre gemeinsame Geschichte auf, damit die Figuren nicht vergessen werden. Damit problematisiert der Text den Erzählprozess von einer übergeordneten Ebene aus.

Leberts Crazy (1999) zwischen Pop-Literatur, TKKG-Jugendkrimi und Schulroman

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vereinfachende Lesart kritisch prüfen.38 Das in Crazy vorgeführte Autor-Erzähler-Verhältnis ließe sich beispielsweise daraufhin diskutieren, inwiefern Abweichungen von der Biografie des Autors die Rezeption des Textes beeinflussen. Arbeitsaufträge dieser Art verzerren das Bild von Literatur nicht. Sie fördern das genaue Beobachten literarischer Texte mehr als vorgegebene Lösungen.

38 Ein Arbeitsauftrag in anderem Zusammenhang fordert die Schüler dazu auf, Verbindungen zwischen harten Kapitelübergängen zu schreiben. Diese Aufgabe verfolgt sicher das Ziel, die Schreibkompetenzen der Schüler zu entwickeln, riskiert aber, dass die Funktionalität solcher Zeitsprünge unbeachtet bleibt. Siehe Amelung, Guthahn: Literatur-Kartei (wie Anm. 32), S. 30.

III. Die 00er und 10er Jahre

Greg Bond

»Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit«. Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)

Moritz von Uslar verbrachte 2009 über einen Zeitraum von drei Monaten einige Tage in der Woche in der brandenburgischen Kleinstadt Zehdenick, etwa 70 Kilometer nördlich von Berlin, mit dem Ziel, das Leben in der ostdeutschen Provinz als »teilnehmender Beobachter« und als »Reporter« zu erleben und zu beschreiben. Ein Jahr später erschien seine literarische Reportage Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung bei Kiepenheuer und Witsch, die große Aufmerksamkeit erfuhr und in den Jahren 2013/2014 von Andr8 Schäfer mit von Uslar in der Hauptrolle verfilmt wurde.1 Von Uslar war bislang als Journalist und Spiegel-Redakteur tätig gewesen, hatte brillante unkonventionelle Interviews mit Prominenten und einen Roman veröffentlicht2 und wurde durchaus dem Kreis der ›neuen deutschen Pop-Literaten‹ zugeschrieben, auch wenn er weder die Literatur der »Generation Golf« maßgeblich prägte, noch an einem ›Pop-Manifest‹ wie beispielsweise dem »popkulturellen Quintett« beteiligt war.3 Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, was von Uslars Deutschboden mit ›Pop-Literatur‹ zu tun hat, und dabei auch fragen, wie das mit dem Bekenntnis des Autors in diesem Buch zum Dokumentarischen und Authentischen zusammenhängt. Dabei wird es um die Geste (oder Pose) des Pop (I), um den Topos der Reise (II), um Authentizität und inszenierte Authentizität sowie die Inszenierung des Selbst (III) gehen. Abschließend will ich den Film Deutschboden als Nachstellung (›reenactment‹) des Buchs Deutschboden kurz betrachten (IV).

1 Moritz von Uslar : Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung. Köln 2010. 2 Vgl. Moritz von Uslar : 100 Fragen an … Köln 2004; ders.: Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Köln 2006. 3 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt am Main 2000; Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. München 2001.

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1.

Greg Bond

Cross the Border – Close the Gap

In seinem berühmten Aufsatz von 1969, Cross the Border – Close the Gap, der zuerst im Playboy-Magazin veröffentlicht wurde, rief Leslie Fiedler eine neue kritische Wahrnehmung und Wertschätzung von populärer Literatur auf den Plan und nahm Abschied von der ›hohen‹ Kultur der literarischen Moderne.4 Die hegemoniale Unterscheidung zwischen ›high‹ und ›low‹ sollte nicht mehr gelten: »one art for the ›cultured‹, i. e. the favored few in any given society – in our own chiefly the university educated – and another art for the ›uncultured‹, i. e. an excluded majority as deficient in Gutenberg skills as they are ›uncultured‹ in taste«.5 Fiedlers Aufruf war keineswegs nur einer nach ästhetischer Erneuerung und einer kritischen Anerkennung von populären Gattungen in der Literatur, sondern auch eminent politisch. Er plädierte für und verteidigte eine Literatur, die sich in jene Bereiche begibt, die von einer Kultur der Mitte (»middlebrow«) bislang vernachlässigt oder abgelehnt wurden, und konstatierte: »The problem posed by popular culture is finally, then, a problem of class distinction.«6 Die Lücke, die geschlossen werden sollte, indem populäre Gattungen und Sprachen ernstgenommen wurden, ästhetische Vorurteile verworfen werden und die Situation gesellschaftlicher Randgruppen als gültiges Thema in der Literatur gelten sollten, war natürlich auch die damals schon sprichwörtliche Kluft zwischen den Generationen – der ›generation gap‹ der sechziger Jahre. Als etwa dreißig Jahre später eine junge Generation der »neuen deutsche Pop-Literatur«7 sich von etablierten ästhetischen und politischen Positionen des herrschenden (vor allem westdeutschen) Selbstverständnisses von Literatur und Schriftstellern als das Gewissen der Gesellschaft distanzierte, war eine ähnliche Geste am Werk. Man verabschiedete sich von einem »politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Mainstream«, von einer »linksintellektuelle[n] Hegemonialmacht«,8 um sich den von der hohen Kultur und Politik vernachlässigten Dingen des Alltags zu widmen. Dabei zu provozieren, indem man sich gegen das stellte, was als »politisch korrekt« galt, gehörte dazu.9 Für Fiedler warf die Pop-Literatur keineswegs nur ästhetische und inhaltliche Fragen auf, indem sie Gattungen und Themen benannte und bediente, die in dem 4 Leslie Fiedler : »Cross the Border – Close the Gap«. In: The Collected Essays of Leslie Fiedler. Bd. 2. New York 1971, S. 461–485. 5 Fiedler : Cross the Border (wie Anm. 4), S. 478. 6 Leslie Fiedler : »The Middle against Both Ends«. In: The Collected Essays of Leslie Fiedler. Bd. 2. New York 1971, S. 415–428, hier S. 427. 7 Frank Degler, Uta Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008. 8 Ulf Poschardt: »Die Generation Golf macht jetzt Politik«. In: Die Welt vom 14. Dezember 2009, http://www.welt.de/kultur/article5524297/Die-Generation-Golf-macht-jetzt-Politik.html, letzter Zugriff: 21. 10. 2014. 9 Poschardt: Die Generation Golf macht jetzt Politik (wie Anm. 8).

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)

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Kanon der ästhetischen Moderne nicht vorkamen, sie hatte auch eine klare politische Komponente. Pop zu sehen, bedeutete für Fiedler, die Gesellschaft als Klassengesellschaft wahrzunehmen: Das Problem, für das sie stand, war ja ein »problem of class distinction«. Die neuen deutschen Pop-Literaten haben sich mit den Emblemen der Popkultur beschäftigt, mit Marken und Moden, mit Musik und Pop-Stars, mit den trivialen und weniger trivialen Dingen in ihren Kindheitserinnerungen und ihrer Adoleszenz, mit den Oberflächen und mit den Partys der neuen Republik. Einerseits gehen sie damit mit Fiedlers Diagnose konform, indem sie das in die Literatur bringen, was zum Alltag einer ›unkultivierten‹ Mehrheit in der Gesellschaft gehört, andererseits tun sie dies mit der von Bildung stark gefärbten Ironie einer ›kultivierten‹ Minderheit und bleiben somit in ihrer eigenen Distanz zu dieser Welt befangen. Ganz stark ist diese Mischung aus Interesse am Alltag bei gleichzeitiger Distanz dazu in Tristesse Royale zu spüren, wo das Ergebnis eine so ziemlich alles vereinnahmende Geste des Ekels ist. Die Kritik reagierte teilweise irritiert und verärgert.10 Diese »Schnösel« der Pop-Literatur,11 so wie sie sich in Tristesse Royale geben, können eine kulturelle Lücke zwischen den Generationen zum Ausdruck bringen, aber sie können und wollen die Lücke zwischen ›high‹ und ›low‹ im eigentlichen Sinne Fiedlers nicht einmal in den Blick nehmen. Sie entstammen der gesellschaftlichen Elite und einer Bildungselite, sie präsentieren sich als Elite, und sie haben den Anspruch, Elite zu bleiben. Wenn sie, wie in Tristesse Royale, ihre elitären Gesten durchgehend selbstironisch nehmen, dann heißt das nur, dass Leser und Leserinnen darüber verunsichert werden sollen, wie ernst das alles gemeint sein kann, und nicht, dass die Autoren Interesse für irgendein ›wirkliches‹ Leben außerhalb des zugespitzt elitären Settings des Hotel Adlons zeigen. Gerade das ist bei von Uslars Deutschboden anders. 10 Poschardt: Die Generation Golf macht jetzt Politik (wie Anm. 8): »Die Kritik zerriss das Buch – bis auf den wie stets großartigen Gustav Seibt – mit Hingabe und mit einer Härte, die zweifelsfrei erkennen ließ, dass der Popsnobismus der fünf einen Nerv traf, der schon länger entzündet war. Von der Zeit (›Knabenwindelprosa‹) über den Spiegel (›Lächerlich posenhaftes Neo-Junkertum‹) bis hin zur Süddeutschen (›männerbündisch‹) und Welt (›irgendwie ohne Erfahrung‹) reichte das Panorama der Hinrichtungen«. 11 »Pop-Literatur aus den 1990er und 2000er Jahren – damit stehe ich auf Kriegsfuß. Unangenehme Zeitgeister, diese Popliteraten, oder? Warum meine Aversion? […] Ich habe vor langer Zeit in einem Berliner Club auf dem Nachbarssofa Benjamin von Stuckrad-Barre Schampus trinkend große Reden schwingend belauscht. Stilisierte dandyhafte Attitüde, NeoKonservatismus, ob echt, ob unecht, wer weiß das schon? […] Nervt natürlich, dass sie sich als Sprachrohr für Leute inszenieren, die in den 1980er Jahren groß geworden sind. Gute Marketingstrategie. Doch will man sich von diesen Schnöseln gerne repräsentiert sehen?« Achim Saupe: »›Gelebte Einheit‹. Ein Recklinghauser verirrt sich kurz nach Oberhavel und wird dabei kurz beobachtet. Moritz von Uslar, Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung«. In: Ulrike und Patrick Musial (Hg.): Recklinghäuser Kanon der Literatur. Recklinghausen 2014, S. 94–98, hier S. 95.

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Greg Bond

In Deutschboden macht Moritz von Uslar, Adeliger aus München, Absolvent eines Eliteinternats, erfolgreicher Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim Spiegel, Teil der Berliner Szene, nun doch etwas ganz anderes. Er begibt sich weg vom Berliner Nachtleben in die Provinz, er verlässt »all das, was uns seit jeher selbstverständlich war und notwendig erschien […]: eine gründliche Bildung, Zartheit, Ansprechbarkeit des Herzens, am Ende nannte man das Zivilisation«.12 Seine Erkundung einer Alltagskultur ist nicht der eigenen Jugend gewidmet und nicht vordergründig dem eigenen Selbst (doch dazu später mehr), sondern einer Gegend, in der bis dahin »kaum ein Mensch je vor uns war – […] Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt«.13 In der ersten Szene im Buch Deutschboden erzählt von Uslar von seinem Entschluss, das Leben in der Provinz zu erforschen, indem er dieses Leben mit der Berliner Szene kontrastiert. In einem Lokal bei »Steaks und Champagner«14 berichtet er seinen fassungslosen Freunden und Bekannten von seinem Vorhaben. »Es ging – «, schreibt er, »nach zehn Jahren in Berlin in den Nullerjahren – um die ebenso einfache wie dramatische Frage, ob man sich überhaupt noch irgendetwas Neues vorstellen und ansehen wollte.«15 Um der Langeweile der Berliner Elite zu entkommen, will von Uslar die Tristesse des Lebens in der Provinz aufsuchen, ohne Auftrag, außer dass er darüber berichten wird. Dass es »richtig düster«, »öde, trostlos, scheiße« werden kann, darauf freut sich der Erzähler : »Ich freute mich auf den Proll, erklärte ich in der Runde, der könne gar nicht böse, widerlich, asozial, beinhart und abstoßend genug sein.«16 Von Uslar, oder sein Erzähler, gibt vor, eine Lücke schließen zu wollen, eine Lücke, die etwas anders gelagert ist als diejenige, die die neue deutsche PopLiteratur sonst zu überbrücken gedachte. Hier geht es nicht nur um prägende kulturelle und ästhetische Erinnerungen und Alltagserscheinungen und nicht nur um den Abschied von alter politischer Korrektheit, hier geht es um eine soziale Gerechtigkeitslücke zwischen der kulturellen und gesellschaftlichen (westdeutsch und hauptstädtisch geprägten) Elite und einer Unterschicht in der ostdeutschen Provinz, in die sich von Uslar auf die Reise begibt. In diesem Buch wird die Bildungslücke verhandelt, die Fiedler benennt und die die deutsche Pop-Literatur, die sich im Allgemeinen sehr belesen und gebildet gibt, sonst nicht kennt.17 Es geht dabei um Steaks und Champagner versus Bier und Brat12 13 14 15 16 17

von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 22. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 14. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 13. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 21. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 21. Zu der demonstrativen Bildungsbeflissenheit durch Intertextualität in der deutschen PopLiteratur siehe Degler, Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur (wie Anm. 7), insbesondere S. 85–96.

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wurst, den Unterschied also zwischen Berliner Wohlstand und dem Leben als Hartz IV-Empfänger und ehemaliger Neonazi in einer heruntergekommenen Kleinstadt. Hier wird eine Grenze auf eine Art und Weise überschritten, die der neuen deutschen Pop-Literatur verpflichtet ist und doch gleichzeitig über sie hinausgeht. Christoph Rauen konstatierte in von Uslars Erzählung Davos einen »Willen zum Stilbruch« und die »Aufwertung des Trivialen« als Topoi der PopLiteratur.18 Beide finden sich in Deutschboden wieder, doch in diesem Fall ist von Uslars »Reise […] im Zeichen des schlechten Geschmacks«19 ganz anders – sie kann als eine literarische Dokumentation einer wirklichen Reise zu wirklichen Menschen in der Stadt Zehdenick im wirklichen Landkreis Oberhavel gesehen werden. Das ist ein durchaus heikles Unterfangen. Der Erzähler »hatte vor allem eine wahnsinnige Angst«.20 Doch er reist nicht nach Zehdenick, sondern in die fiktive Stadt Oberhavel.

2.

Reise in ein unbekanntes Land

Die Stadt Oberhavel, das Ziel von Moritz von Uslars Reise, gibt es nicht. Er wohnt dort im Haus Heimat, eine Pension, die auch nicht existiert. Doch die Stadt Zehdenick und das Hotel Haus Vaterland gibt es wirklich, und sie sind in der Erzählung unschwer zu erkennen. Die Fiktionalisierung der Ortsnamen – und auch Personennamen – in Deutschboden diente ursprünglich vielleicht dem Schutz von beteiligten Personen, hat aber auch die Funktion, die literarische Form dieser Dokumentation hervorzuheben. So schwankt die Erzählung durchweg zwischen Dokumentation und Fiktion, und obwohl der Gestus des Dokumentarischen überwiegt, bleibt immer ein Zweifel, ob das in dieser Form Dokumentierte nicht doch erfunden ist. Dazu später mehr – zunächst soll es um das Ziel der Reise gehen. Den Rezensenten von Deutschboden erschien es bedeutsam, dass sich ein westdeutscher Journalist in die ostdeutsche Provinz begibt. Wiebke Prombka sah sogar »eine fast vierhundert Seiten schwere Reportage zu zwanzig Jahren Wiedervereinigung« darin, die unweigerlich zu der Frage führt, »ob Uslar mit seinen Beobachtungen Indikatoren dafür liefert, wie viel Wiedervereinigung nach zwanzig Jahren tatsächlich stattgefunden hat«.21 Genauso wurde das Buch

18 Christoph Rauen: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin/ New York 2010, S. 333 und S. 334. 19 Rauen: Pop und Ironie (wie Anm. 18), S. 334. 20 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 18. 21 Wiebke Prombka: »Moritz von Uslar : Deutschboden. Nachrichten aus dem wilden Osten«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Februar 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuille

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auch vermarktet. Der Klappentext verspricht Neuigkeiten aus dem Osten Deutschlands: »Moritz von Uslar geht in eine Kleinstadt im Osten Deutschlands […]. Willkommen in jenem unbekannten Land, das Deutschland heißt«. Schon das Marketing des Buches unter dem Zeichen eines unbekannten »[w]ilden Ostens«22 indiziert, dass es mit der deutschen Einheit gar nicht so gut bestellt sein kann – man stelle sich das Gegenstück vor: ein Reporter, der eine Provinz in Schwaben oder Schleswig-Holstein aufsucht, um herauszufinden, inwieweit die deutsche Einheit dort spürbar sei, und der ›Nachrichten aus dem wilden Westen‹ liefert. Ein solches Projekt ginge nur als Satire. Von Uslar betreibt seine Forschung in der östlichen Provinz durchaus ironisch, und das hat die Kritik, die darin eine ernstzunehmende Bestandsaufnahme der deutschen Einheit sieht, weitgehend übersehen. Doch von Uslar geht in seinen Recherchen und Gesprächen in Oberhavel gezielt der »nationalen Frage« nach. Es ist keine zufällige Beobachtung von Alltagskultur, die er vornimmt, und somit nicht so naiv, wie der Erzähler sein Vorhaben in dem einleitenden Berlin-Kapitel mit dem amoralischen Gestus von Pop beschreibt: »Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile. Neonazis interessierten mich nicht. Landpfarrer interessierten mich nicht.«23 Landpfarrer kommen tatsächlich nicht vor, und es kommen eine Menge Beobachtungen aus dem Alltag vor, die von keinerlei Leitfrage initiiert sein mögen. Die Frage der politischen Einstellung der Oberhaveler zu einem vereinten Deutschland interessiert von Uslar jedoch brennend. Er schließt in Oberhavel Bekanntschaft mit einer Gruppe ehemaliger Neonazis, die in der Punk-Band 5 Teeth Less spielen, mit der der tatsächliche Autor von Uslar später mit seinem Buch auf Lesetournee ging. Sein Interesse gilt neben der Beschäftigung mit Punk und einem Leben auf Hartz IV der Haltung dieser Männer zu Deutschland heute und zu ihrer eigenen neofaschistischen Vergangenheit. Er trifft einen Oberhaveler namens Blocky, der ihn zu einem Grillfest einlädt, auf dem das Gespräch wie zwangsläufig auf das Thema ›Deutsche Einheit‹ kommt. Blocky hisst eine neue Deutschland-Fahne mit Bundesadler und stößt an: »Auf meinen Garten. Unser schönes Vaterland. Und darauf, dass immer Bier im Kühlschrank ist.«24 Kurz darauf erklärt er : »Ich unterstütze Deutschland im Allgemeinen und die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen.«25 Es ist eindeutig: die Menschen aus Oberhavel stehen zur deutschen Einheit, sie sind Patrioten (und das nicht nur im Sinne eines Verfassungspatriotismus), ihre Zeit als Neonazis ist vorbei,

22 23 24 25

ton/buecher/rezensionen/belletristik/moritz-von-uslar-deutschboden-nachrichten-aus-demwilden-osten-11014443.html, letzter Zugriff: 21.10.14. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 15. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 18. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 217. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 217f.

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und sie wollen das Leben genießen. Von Uslar beobachtet an anderer Stelle den Wirt Heiko Schröder aus der Gaststätte Schröder und denkt: »Deutschland ist nicht böse. Deutschland ist ein feiner Kerl«26. Ähnliches erfährt der Erzähler im Gespräch mit 5 Teeth Less über ihre Zeit als Nazis. Die nicht mehr ganz so jungen Männer berichten, dass sie diese Zeit bereuen und dass sie heute FDP wählen würden. Ein Fazit zieht von Uslar kurz vor seiner letzten Abreise aus Oberhavel: »Ich müsste doch jetzt noch etwas Abschließendes über Deutschland sagen. Mir fiel natürlich Gott sei Dank nichts ein.«27 In dieser Aussage deckt sich eine angeblich neue politische Normalität in Deutschland mit der stilisierten Absage der Pop-Literatur an politische Korrektheit.28 Vergleicht man diese Reise in den ostdeutschen Provinzalltag mit der Reise des Erzählers aus Christian Krachts Roman Faserland durch die Partys und Bars einer wohlhabenden, rein westdeutschen Elite, dann gibt es mehr Trennendes als Gemeinsames. Beide Erzählungen scheinen unbekannte Seiten der Republik entdecken und aufdecken zu wollen, und beide interessieren sich für einen bislang ungesehenen Alltag, doch während die gesellschaftliche Leere und Sinnlosigkeit in Faserland beim Erzähler Ekel auslöst und mit einem angedeuteten Selbstmord endet, findet von Uslar in der Trostlosigkeit einer von hoher Arbeitslosigkeit getroffenen ostdeutschen Kleinstadt schlichte und anständige Menschen, die ihn regelrecht begeistern. Die Figuren in Faserland betrügen und bestehlen einander, gehen sinnlosen Saufereien, Drogenexzessen und willkürlichem Gruppensex nach. Die Menschen in Deutschboden beschäftigen sich mit ihren Kleingärten oder mit Videospielen; die von von Uslar aufgesuchten ›Prolls‹ stehen stundenlang in Gruppen vor der Aral-Tankstelle, dabei rauchend und trinkend, doch gerade das hat Sinn. Hat von Uslar auch in dieser Hinsicht eine Grenze überwunden? Die Reise ist laut Degler und Paulokat ein häufiger Topos der Pop-Literatur. Dabei geht es um zweierlei – ein fremdes Milieu zu erkunden (das wirkliche Leben zu finden) und selbst als reisender Erzähler zu reifen.29 Beides gilt zweifelsohne für Faserland wie für Deutschboden (von Uslar will ja sehen, ob es überhaupt möglich sei, etwas Neues zu erleben) und in beiden findet sich als Höhepunkt der Reise eine frappierende Leerstelle. Gegen Ende von Faserland 26 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 82. 27 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 378. 28 Zur Frage der deutschen Nation in Deutschboden siehe auch Greg Bond: »›Willkommen in jenem unbekannten Land, das Deutschland heißt.‹ Moritz von Uslar, Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung«. In: Julian Preece (Hg.): Re-forming the Nation in Literature and Film – Entwürfe zur Nation in Literatur und Film. The Patriotic Idea in Contemporary German-Language Culture – Die patriotische Idee in der deutschsprachigen Kultur der Gegenwart. Oxford/Bern u. a. 2014, S. 11–20. 29 Degler, Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur (wie Anm. 7), S. 85.

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Greg Bond

sucht der Erzähler in der Abenddämmerung das Grab von Thomas und Katia Mann in Zürich und findet es nicht.30 Moritz von Uslars Erzähler erleidet eine vergleichbare Niederlage, als er den Ort Deutschboden bei Mondlicht sucht und nicht findet.31 In der Dunkelheit versagen beide Erzähler und finden den Fluchtpunkt ihrer jeweiligen Reisen nicht. Der letzte Weg ins jeweilige Herz der Finsternis der westdeutschen Szenetreffs und der ostdeutschen Provinz bleibt ihnen versperrt. Den Ort Deutschboden gibt es im Gegensatz zu der Stadt namens Oberhavel wirklich, und er heißt wirklich Deutschboden. Es ist ein winziges Dorf mitten im Wald im Landkreis Uckermark, dessen Name daher stammen soll, dass im siebzehnten Jahrhundert reisende deutsche Kaufmänner, die aus dem Norden zurückkehrten, an dieser Stelle wieder »deutschen Boden« betraten.32 In einem gewissen Sinne hat von Uslar sein Buch mit diesem klingenden Namen nach einem Tor nach Deutschland genannt und somit seinen Anspruch untermauert, das ›echte‹ Deutschland in der tristen und dennoch anständigen ostdeutschen Provinz aufspüren zu wollen. Doch kann das gelingen, wenn der Ort Deutschboden nicht auffindbar ist, wenn es nur »ein Nichts im Wald« ist?33 Und wenn der ›wirkliche‹ Ort Deutschboden nicht existiert, existiert dann der ›erfundene‹ Ort Oberhavel wirklich? Bislang habe ich den Diskurs der Authentizität in Deutschboden ausgeklammert. Die Behauptung des Erzählers, es gäbe den wirklichen Ort Deutschboden nicht, führt direkt in ein zentrales Problem seines Vorhabens als Reporter : das Problem der Authentizität.

3.

Authentizität

Leslie Fiedlers Aufruf, die Grenze zu überqueren und die Lücke zu schließen, war ein Plädoyer für eine Öffnung der Literaturkritik hin zu mehr Lebenswirklichkeit. Die Reiseliteratur als Genre beansprucht Authentizität. Dabei ist es ein schöner Zufall, dass Fiedler den Western als das klassisch-authentische Genre der amerikanischen Literatur preist: »our classic books are boys’ books […] they are all in some sense ›Westerns‹: accounts of an idyllic encounter between White man and non-White in one or another variety of wilderness setting.«34 Das ist Deutschboden auch: die versöhnliche und idyllische Erzählung einer Begegnung zwischen dem zivilisierten Intellektuellen von Uslar und den wilden und echten

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Christian Kracht: Faserland. Köln 1995, S. 153–165. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 333f. So eine Informationstafel im Dorf. von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 333. Fiedler : Cross the Border (wie Anm. 4), S. 472.

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)

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Kerlen des deutschen Ostens. Mit der Frage der Authentizität – und somit auch der Autorität – steht und fällt diese Erzählung. Dessen ist sich der Erzähler sehr wohl bewusst. Er will schon in seiner Methodik als Reporter auf der Hut sein und entscheidet sich gegen einen Notizblock und für einen »digitalen Aufnahmestift«, um alles aufnehmen zu können, ohne darüber nachdenken zu müssen: »Wenn der Reporter andauernd auf zwei Ebenen operierte – auf einer realen, der vor Ort, und auf einer vermittelten, der in der Reflexion, die unentwegt ein- und aussortierte, was vom gerade Erlebten sich in einem späteren Text verwenden lassen würde –, wie konnte das vermieden werden, was der GAU jeder Reportage ist, nämlich, dass das Vermittelte sich vor das Wirkliche schob und dabei wertvolle Echtzeit, Echtwelt, Echtwirklichkeit verloren gingen?«35 Die ›teilnehmende Beobachtung‹ von Uslars besteht aus einem Eintauchen ins Milieu, um ein Teil davon zu werden – ein Stück weit so zu denken und zu fühlen wie die Menschen, über die er berichtet. Er geht zum Boxclub, er trinkt mit den Männern Bier, er steht mit ihnen vor der Tankstelle und er lässt sich von ihnen auf Runden durch die Stadt fahren. Hinter all dem steht der Anspruch, mehr zu sein und mehr zu erleben als nur ein Beobachter von außen. Der Anthropologe, so Dean MacCannell in seinem einflussreichen Aufsatz und späterem Buch über den Tourismus als inszenierte Authentizität, »enters the setting and observes«; er bewegt sich irgendwo zwischen »false fronts and intimate reality«.36 Die Zielscheibe von Touristen ist die Authentizität der anderen, erreichbar durch die Durchdringung von vorderen Fronten hin zu den hinteren Regionen, wo das Echte sich befindet. »Insight, in the everyday, and in some ethnological sense of the term, is what is gotten from one of those peeks into a back region.«37 Von Uslar stellt seine Zeit in Oberhavel als teilweise erfolgreichen Versuch dar, in solche hinteren Räume zu gelangen, wo die »Echtwirklichkeit« zu finden ist, und dies ganz wörtlich – er geht über die Schwelle in Räume, die er sonst nie betreten hat. Während seine Integration im Boxclub scheitert, weil der Trainer ihn, den Wessi, darum bittet, nicht wiederzukommen, findet er trotz seiner Angst vor der Schwelle, die es zu übertreten gilt, ohne Umstände Eingang in die Räume der Gaststätte Schröder, und von dort wird er nach und nach in intimere Räume eingeladen: in den Proberaum von 5 Teeth Less in einem benachbarten Dorf, in Blockys Garten, in die Autos der jungen Männer und sogar in die »Präsidentenwohnung«,38 die Zweiraumwoh-

35 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 16f. 36 Dean MacCannell: »Staged Authenticity : Arrangements of Social Space in Tourist Settings«. In: The American Journal of Sociology 79 (3/1973), S. 589–603, hier S. 592. Siehe auch Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class. New York 1976. 37 MacCannell: Staged Authenticity (wie Anm. 36), S. 598. 38 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 268.

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nung von Bandmitglied Raoul. Der Reporter erhält unmittelbaren Einblick in die inneren Räume seiner Objekte. Doch ist das alles wirklich authentisch? Es gäbe zwei gute Gründe, daran zu zweifeln. Erstens, die oben angerissene Theorie des Tourismus wieder aufgreifend: Sobald ein Tourist in der Nähe ist, wird ihm zuliebe Authentizität inszeniert, nicht selten als Folklore. Kann es sein, dass die Menschen, und vor allem die jungen Männer, denen von Uslar begegnet, ihm etwas vorspielen, was seinen Erwartungen entspricht? Genau werden wir das nie erfahren, doch die Tatsache, dass einige seiner Hauptprotagonisten tatsächlich in einer Band spielen und mehrmals nur für ihn in ihrem Proberaum auftreten, deutet darauf hin, dass das Authentische, das von Uslar in Oberhavel sucht, ihm in Oberhavel vorgespielt wird, weil er es sucht. Das Kennenlernen der Band 5 Teeth Less kann als »Eintrittskarte in den jüngeren Inner Circle von Oberhavel«39 gesehen werden, und kann ebenso als ein pop-literarisches Indiz dafür gelten, dass von Uslar dennoch damit nur hinter die eine Oberfläche gelangt um die nächste Oberfläche zu erreichen. Er wäre somit schon hinter die Kulissen gekommen, aber nicht weit genug, um die Performance im Sinne einer inszenierten Authentizität zu durchbrechen. Dafür spricht der zweite Grund, die Authentizität dieser Begegnungen anzuzweifeln, nämlich die Tatsache, dass »Authentizität keine Eigenschaft von Dingen bzw. Personen und ihren Sprechakten« sein kann, »sondern eine Zuschreibung in einer bestimmten Kommunikationssituation«40 ist. Von Uslar findet und erfindet das, was er sucht. Dass das Authentische, das echte Deutschland in der Provinz nördlich Berlins liegt, wäre damit nichts weiter als eine Projektion. Die Sache ist etwas komplizierter, weil der Text keinen Hehl daraus macht, dass die Suche nach dem Authentischen ein Teil des Spiels ist, das von Uslar durchweg treibt. Der lässig-ironische Grundton seiner Erzählung stellt nicht nur die Personen, die er findet und deren Leben und Meinungen er dokumentiert, in den Vordergrund, sondern auch die Erfindung der Erzählung und der Figur des Reporters, der sich in betont ungewöhnliche bis exotische Settings begibt. Der ›Reporter mit Hut‹, der immer wieder von sich in der dritten Person schreibt, steht als ›teilnehmender Beobachter‹ zwischen den Welten: der Welt, aus der er kommt, und derjenigen, in die er geht. Er versucht niemals zu vertuschen, dass er anders ist als seine Subjekte und unterscheidet sich dadurch vom Reporter 39 Wiebke Prombka: Moritz von Uslar : Deutschboden Nachrichten aus dem wilden Osten (wie Anm. 21). 40 Achim Saupe: »Empirische, materiale, personale und kollektive Authentizitätskonstruktionen und die Historizität des Authentischen«. In: Martin Fitzenreiter (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie. Internet-Beiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie (IBAES). Bd. XV. London 2014, S. 19–26, hier S. 22, http://www.ibaes.de, letzter Zugriff: 21.10.14.

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)

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Günter Wallraff, auf den sich von Uslar bezieht, wenn er Deutschboden eine ›teilnehmende Beobachtung‹ nennt. Sein Eintauchen ins Milieu ist anders als das Wallraffs, er tarnt sich nicht mit dem Ziel, unsichtbar zu werden. Der Reporter legt sein Vorhaben vielmehr offen und versteckt sein Aufnahmegerät nicht. Die Personen, die er trifft, wissen, dass er über sie berichten wird, und spielen möglicherweise die Rollen, die sie für eine solche Reportage wünschen. Nicht nur im situativen Moment des Recherchierens ist von Uslar präsent. Auch auf der textuellen Ebene sind seine Figur und ihre Sprache das Vorherrschende an der Reportage. Das Dandyhafte des Pop-Reporters, seine gespielten Eitelkeiten und Unsicherheiten und die Konzentration auf seine Befindlichkeiten im Spiel mit seiner Identität steuern das Geschehen. Eine Lektüre dieses Buchs müsste sich zunächst mit dieser Figur auseinander setzen, bevor sie zu Urteilen über die Authentizität des Beobachteten kommt. Dies kann einerseits insofern zu Gunsten von Uslars ausgelegt werden, als seine Erzähler-Figur ehrlich und authentisch zugibt, dass sie nicht so ist wie die Welt, in die sie sich begibt; andererseits spricht es gegen von Uslar, dass sein Spiel überheblich wirkt und die Personen, die er beschreibt, klein macht und sich allerlei fragwürdiger, teilweise falscher Klischees über das Leben in der ostdeutschen Provinz bedient. Der Text ruft mit Sicherheit beide Reaktionen hervor, und viele Leserinnen und Leser sind von der Arroganz und dem Narzissmus seines hämischen Blicks auf die Ostdeutschen regelrecht entsetzt.41 Kritik kommt auch bei einer feministischen Lektüre des Textes auf, in welchem Frauen – mit Ausnahme der Kellnerin in der Pension Haus Heimat, über die der Erzähler in bester Machomanier sexuell fantasiert – nur selten vorkommen. In Deutschboden herrscht ein männlicher Blick auf eine männlich dominierte Welt vor, zu der der Erzähler vorgibt, gehören zu wollen, indem er sich des »Prolls reine Seele« aneignet.42 Eine Kritik an der Darstellung von Genderverhältnissen, die das alles für bare Münze nimmt,43 greift jedoch zu kurz, weil sie den ironischen Grundton der Reportage außer Acht lässt, und übersieht, dass Deutschboden ein Stereotyp nach dem anderen aufgreift. Andere ebenso grundsätzliche Kritik an der Anlage dieses Texts ist denkbar, so etwa an der vermeintlich zivilisationskritischen Suche nach dem Wahrhaftigen im Leben und Wesen von einfachen und grundanständigen Männern in der Provinz – in der (vormodernen) Gemeinschaft im Gegensatz zu der (modernen) Gesellschaft.44 Doch das ist alles nicht wahr, eben nicht authentisch: Es ist inszeniert 41 Die Kundenrezensionen bei amazon.de geben gute Beispiele. 42 von Uslar : Deutschboden (wie Anm. 1), S. 14. 43 Aniela Knoblich: »›Irgendwo stehen geblieben zwischen Mann und Frau‹: Gendered National Identities in Contemporary German Travel Writing«. In: Preece (Hg.): Re-forming the Nation in Literature and Film (wie Anm. 28), S. 39–54. 44 Eine Kritik, die während der Diskussion dieses Textes auf der Tagung »Re-forming the Nation

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und gespielt. Den wirklichen, wahren und authentischen Ort Deutschboden gibt es nicht, sagt der Erzähler, während der Autor Moritz von Uslar sehr wohl weiß, wo Deutschboden im Wald bei Zehdenick zu finden ist. Der Reporter begibt sich nicht nur in die Provinz, sondern gleichzeitig in einen Text über eine Suche nach einer Authentizität, die es nicht gibt, weil alles schon zu sehr von vorhandenen Bildern und Klischees überlagert ist. Mit diesen treibt er sein Spiel.

4.

Reenactment Deutschboden

2014 erschien der Film Deutschboden von Andr8 Schäfer, »nach dem Roman von Moritz von Uslar«, so der Nachspann. In diesem Film spielt von Uslar selbst seinen teilnehmenden Reporter und liest auch einen Kommentar, der ausschließlich aus Passagen aus dem Buch Deutschboden besteht. Die Menschen aus Zehdenick spielen sich selbst, diesmal mit ihren wirklichen Namen. Es werden Szenen aus dem Buch nachgestellt – Begegnungen in der Gaststätte – und Personen und Situationen aus dem Buch tauchen in ähnlichen Konstellationen auf – so Blocky in seinem Schrebergarten oder die jungen Männer vor der AralTankstelle. Andere Szenen aus dem Buch fallen komplett weg: Es gibt keine Innensicht des Hauses Vaterland (Heimat) und keine Szenen im Boxclub. Und es kommen neue Szenen dazu: die jungen Männer aus der Kleinstadt auf einer Motorjacht, die Familie von Raoul und Eric von 5 Teeth Less beim Essen und tatsächlich das kleine Dorf Deutschboden. Die Musik von 5 Teeth Less bekommt eine besondere professionelle Aufwertung und mutiert zum mitreißenden Soundtrack. Der Film erhielt einige sehr positive Rezensionen, in welchen die Authentizität des Porträts der Kleinstadt und ihrer Menschen gelobt wurde.45 Doch teilweise wirken die nachgestellten Szenen sehr steif, vor allem wenn von Uslar selbst das nachspielen muss, was er offenbar schon einmal im Text Deutschboden durchgespielt hat: die Erstbegegnung mit Raoul bei Schröders, ein Gespräch mit dem Wirt. Dagegen sind es einige O-Töne, die in diesem Film auffällig frisch wirken: Wenn der schwarze Junge Speedy über den Rassismus in der ehemaligen Neonaziszene und über seine Hoffnungen für die Zukunft direkt in die Kamera spricht, und wenn die Mutter von Raoul und Eric sich sehr in Literature and Film – Entwürfe zur Nation in Literatur und Film« (Swansea, Juli 2012) geäußert wurde. Vgl. auch Achim Saupes Diskussion von Ferdinand Tönnies in »Authentizität«, Version 2.0. In: Docupedia Zeitgeschichte (22) vom 22. Oktober 2012, http://docupe dia.de/zg, letzter Zugriff: 21.10.14, S. 6. 45 Auf der Webseite zum Film werden Pressestimmen zitiert: »Elegisches, reiches Bild der ostdeutschen Wirklichkeit«, »intimer Blick hinter Hartz IV- und Nazi-Rock-Klischees . . . authentisch«, »ein ziemlich harter aber wahrhaftiger Film«, http://www.deutschboden. wfilm.de/Deutschboden/Presse.html, letzter Zugriff: 21.10.14.

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010)

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emotional an die Zeit erinnert, als ihre Familie durch die Neonazi-Vergangenheit ihrer Söhne zu zerbrechen drohte. In diesen Momenten erreicht dieser Film eine direkte emotionale Betroffenheit, die in dem Text Deutschboden gar nicht beabsichtigt ist, weil dort der ›teilnehmende Reporter‹ zwischen den im Text vorkommenden Personen und den Lesern und Leserinnen steht. Die Verfilmung von Deutschboden verfolgt eine eigentümliche Strategie zwischen Dokumentation, Nachstellung und Neu-Inszenierung, mit teilweise harten Schnitten zwischen diesen Ebenen. Was diese Verfilmung nicht tut, ist uns (noch einmal) vor Augen führen, wie es war, als Moritz von Uslar zuerst nach Zehdenick kam und daraus Oberhavel machte. Das geht auch nicht, denn eine Nachstellung kann nur in der Gegenwart stattfinden. Matthias Flügge schreibt dazu: »Authentizität, das Ineinanderfallen von Schein und Sein als Kategorie der Wahrheit, ist an das unmittelbare Erleben gebunden – jede Form von Dokumentation, der Nachstellung oder Neuinszenierung ist nicht authentisch, sie dient immer auch den Zwecken derer, die sie unternehmen. […] Authentisch ist allein das Reenactment selbst, niemals das zurückgeholte, gleichsam widerbelebte Erlebnis.«46 In diesem Sinne ist das Buch Deutschboden vielleicht doch authentisch, als genretreue und mit Klischees spielende Pop-Erzählung des wirklich stattgefundenen Aufenthalts des Autors in Zehdenick. Es wäre dann nicht wichtig zu entscheiden, ob das Dargestellte wahr oder empfunden ist, Roman oder Dokumentation. Es ist beides, und eine Lektüre kann auf beiden Ebenen Freude bereiten.

46 Matthias Flügge: »Arwed Messmers Reenactment MfS«. In: Arwed Messmer (Hg.): Reenactment MfS. Ostfildern 2014, ohne Seitenangaben.

Dirk Niefanger

Ein melancholischer Ruhrpop-Roman. Frank Goosens So viel Zeit (2007)

Der so genannte Ruhrpop gehört zu den eher regionalen Ausprägungen eines globalen Phänomens.1 Hervorgebracht hat er nicht nur (die Idee) eine(r) eigene(n) Schule für Popmusik, die Ruhr Pop Foundation auf der Zeche Prinz Regent in Bochum, sondern auch ein Institut für Populäre Musik / Popmusik als Ableger der Folkwang Universität der Künste in Essen. Der bundesweit verbreitetste Ausdruck des Labels ›Ruhrpop‹ ist zweifelsohne der Song Bochum (1984) von Herbert Grönemeyer, auch wenn im Erscheinungsjahr des Liedes noch niemand vom Ruhrpop gesprochen hat. Das Lied findet sich auf 4630 Bochum, dem erfolgreichsten Album des Jahres 1984 in Deutschland. Es verhalf Grönemeyer und seiner Band zu deutschlandweiter Popularität. Bochum gilt heute als inoffizielle Hymne der gleichnamigen Ruhrgebietsstadt und als eine Art Vereinshymne des Fußballclubs VfL Bochum. Kaum ein anderes Lied scheint die Gefühlsambivalenz, die die Gleichzeitigkeit von höchst subjektiver, aber rückhaltloser Heimatliebe und objektiver ökonomischer sowie städtebaulicher Vernachlässigung der Region hervorbringt, ähnlich emotional und verdichtet ausdrücken zu können. Für jene, die wenig Kenntnis des Ruhrgebiets und seiner Bergarbeitertradition haben, wirkt das bei Livekonzerten Grönemeyers präsentierte, in der Regel vierversige2 Intro des Songs ungewohnt, passt es doch weder musikalisch und metrisch, noch inhaltlich zum dann folgenden Song. Der befremdliche oder verfremdende Einstieg sowie die beiden ersten Strophen und der folgende Refrain von Bochum seien hier in der Fassung zitiert, wie sie auf dem Album Live 1 Vgl. die Webseite des Büros für angewandte Popkultur in Essen: www.ruhrpop.de, letzter Zugriff: 09. 02. 2015. Hier finden sich auch Hinweise auf Akteure, Merchandising-Produkte und einschlägige Projekte. 2 Bei manchen Konzerten singt Grönemeyer zusätzlich die zweite Strophe des Steigerlieds: »Hat’s angezündt! Es gibt ein Schein. / Und damit so fahren wir bei der Nacht, / und damit so fahren wir bei der Nacht, / ins Bergwerk ein, ins Bergwerk ein.« So die entsprechende Textergänzung etwa beim Konzert im Ruhrstadion am 21. Mai 2012 in Bochum (vgl. www.youtube. com/watch?v=zSikwCzzd8 g, letzter Zugriff: 09. 02. 2015).

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(1995) zu hören sind. Laut Booklet handelt es sich bei den Aufnahmen um Livemitschnitte der Chaos Tour 1993/94; das Lied ist vermutlich in der Dortmunder Westfalenhalle aufgenommen worden: Glück auf, Glück auf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezündt, schon angezündt. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt. Tief im Westen. Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau, Du liebst dich ohne Schminke, bist ’ne ehrliche Haut, leider total verbaut, aber grade das macht dich aus. Du hast’n Pulsschlag aus Stahl. Man hört ihn laut in der Nacht. Du bist einfach zu bescheiden. Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt, du Blume im Revier. Bochum, ich komm’ aus dir, Bochum, ich häng’ an dir. Glück auf! Bochum.3

Den Einstieg in den eigentlichen Bochum-Song bildet – zumindest bei LiveAuftritten – die erste (oder die ersten beiden) Strophe(n) des alten Bergmannsliedes Der Steiger kommt. Dieses Volkslied-Intro wirkt für einen Popsong höchst ungewöhnlich, den eingefleischten Grönemeyer-Fans ist es freilich bekannt. Obwohl das Lied eigentlich aus Sachsen stammt und erstmals im Freiberger Berg-Lieder-Büchlein von 17104 zu finden ist, hat es heute für alle Bergbauregionen in Deutschland einen regionalen bzw. sozialen Wiedererkennungswert. Es wird im Saarland, in der Lausitz, im Harz, in Sachsen oder eben und besonders im Ruhrgebiet gesungen. Man stimmt es vielstimmig grölend im Stadion der Ruhrgebietsvereine an, insbesondere bei Spielen von Schalke 04, und präsentiert es mit traditioneller Inbrunst bei Parteitagen der SPD oder bei Veteranentreffen der Bergleute. Als Intro zu Bochum von Grönemeyer verweist es insofern nicht nur – jenseits 3 Herbert Grönemeyer : »Bochum«. Auf CD: Herbert Grönemeyer : Live. EMI/Electrola 1995, #10. 4 Vgl. Gerhard Heilfurth: Das Bergmannslied. Wesen, Leben, Funktion. Ein Beitrag zur Erhellung von Bestand und Wandlung der sozial-kulturellen Elemente im Aufbau der industriellen Gesellschaft. Kassel/Basel 1954, S. 76, 194–197, 210–218, 429–439 (Editionen), 636–643 (Quellenverzeichnis) et passim.

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der konkret angesprochenen Stadt – auf die Region Ruhrgebiet und deren Gemeinschaftsgefühl, sondern auch auf deren Arbeiter- und konkreter Bergbautradition. Durch die sentimentalische Rückbesinnung auf den Steiger als Symbolfigur des intakten Bergbaus, der von harter, gefahrvoller Männerarbeit und ehrlich der Erde abgerungenem Ertrag lebt oder zu leben schien, wirkt die soziale Problemlage der modernen Ruhrregion umso schärfer. Heute gibt es hier Arbeiter ohne Arbeit und Bodenschätze, die – gerade in Zeiten der Energiewende – keiner mehr haben will. Diesbezüglicher Protektionismus gilt im modernen Deutschland als rückständig und anrüchig, weil die Verarbeitung von Kohle zu Energie der Schadstoffbilanz schadet. Nach der Stilllegung der Zechen gibt es keine Steiger mehr im Ruhrgebiet, höchstens noch welche, die nicht mehr gebraucht werden. Die im realen Leben überflüssig gewordene Figur des Steigers steht nun für die Trauer über den verpassten Fortschritt in einer Region, die ihr Leben der industriellen Weiterentwicklung verdankt hatte. Im Steiger lebt nicht mehr der mutige Arbeiter, sondern der trotzige Bewohner einer vergessenen Region, die den Anschluss verpasst hat, die aber ›trotz alledem und alledem‹ an den Wert einer einst durch ehrliche Arbeit geprägten Umgebung glaubt. Die Bedeutung des Steigers – sein Auf- und Absteigen – verschiebt sich so von der Symbolfigur der Arbeit und des wirtschaftlichen Aufschwungs zu einer der Melancholie und der ökonomischen Baisse. Im Refrain von Grönemeyers Bochum vermittelt das bergmännische »Glück auf« diese widersprüchliche Beharrlichkeit; es knüpft damit bewusst nicht nur an den bekannten Bergmannsgruß, sondern auch an den Anfangsvers des Steigerliedes an. Insofern wirkt der Übergang vom Volkslied-Intro zum Popsong durchaus motiviert: Dem Steigerlied, das idealtypisch gemeinsam beim Einfahren in den Stollen gesungen wird, folgt die mehrfach codierte Ortsangabe »Tief im Westen«: »Tief« meint nämlich gleichermaßen die geographische Lage Bochums, seine wirtschaftliche Situation und spielt zudem mit der verwendeten Präposition auf den Bergbau an. »Tief im Westen« – im Ruhrgebiet, in der Krise und im Stollen – wurde in den 1950er und 60er Jahren der Aufbau Deutschlands nach dem verlorenen Krieg sichergestellt. Daraus erwächst jener Anspruch des Ruhrgebiets auf Solidarität in der Wirtschaftskrise durch den Rest der Republik, der nicht nur implizit durch Grönemeyers Song aufgerufen wird, sondern essentiell zur Identitätsbildung der Menschen im Revier gehört. Und das gilt eben merkwürdigerweise auch für den Pop. So heißt es ganz vorne auf der aktuellen Homepage von »ruhrpop« programmatisch: Wer sich heute Gedanken über kommunale und regionale Strategien zur Entwicklung des Ruhrgebiets macht, der kommt an einem Diskurs über Populärkultur und deren Auswirkungen nicht vorbei. Nach dem Bedeutungsverlust der Montanindustrie und dem damit einhergehenden Strukturwandel des Ruhrgebiets ist der Kulturwert einer Stadt zu einem entscheidenden Standortfaktor geworden. Popkultur ist ein wichtiges

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Instrument, um ein attraktives urbanes Umfeld zu gestalten und neue Identitäten herauszubilden.5

Und an anderer Stelle der Webseite neben dem Bild von Ruhrpop-Gesicht Tani Capitain steht: Streng verboten sind ausgebrannte Klischees, wie beispielsweise die alten Mottenkugeln aus Kohle und Stahl, die von den Machern der Kulturhauptstadt wieder bemüht wurden. Die aktuelle Generation von Kreativen ist da schon einen Schritt weiter, der Wandel längst vollzogen. Unsere Arbeit ist nicht von bleischweren Mythen umwoben, sondern eine simple Folge schöner Ideen.6

Im Ruhrpop erfährt das Bild des ehrlichen, aber melancholischen Malochers zwar ein unübersehbares »Re-Modeling«.7 Doch hält diese figurative Reaktion auf den regionalen Wandel die Krise als Referenz wach. Der aktuelle Pop zeigt sich als bewusste Arbeit am Ruhrmythos. Der Ruhrpop, dem Grönemeyer mit Bochum seine Hymne geliefert hat, basiert auf zwei Komponenten, die hier kurz vorzustellen sind: erstens, auf dem Bild des kantigen Arbeiters, der durch die ökonomische Krise der industriellen Gesellschaft in Frage gestellt wird, der aber seinen eigenen Habitus nicht aufgeben möchte, sowie zweitens, die urbane Region, in der dieser Arbeiter gelebt hat und die sich mit der Industriekrise erheblich verändert hat. Die Krise der Industrieregion verändert dabei nicht nur die Geltung des Arbeiterideals und stellt seine Geltung als role model erheblich in Frage, sondern zwingt zu einer melancholischen, selbstreflexiven und ironischen Variation des Ideals.

1.

Arbeiter als Pop-Ikone

Beginnen wir zunächst mit dem Arbeiter als insofern widersprüchlicher PopIkone, als das Image des ehrlichen und harten Arbeiters natürlich an sich und traditionell verstanden keine ironische variatio zulässt. Ein solcher working class hero8 – ich zitiere hier einen John-Lennon-Titel von 1971 – unterscheidet sich natürlich erheblich vom Typus des schnöseligen Dandys, wie ihn etwa das popkulturelle Quintett im Hotel Adlon prägt.9 Von diesen wird deshalb das 5 Ruhrpop. //idee, o. J. In: www.ruhrpop.de/index.html, letzter Zugriff: 09. 02. 2015. 6 [Tanti Capitain:] Ruhrpop. //personen, o. J. In: www.ruhrpop.de/personen.html, letzter Zugriff: 09. 02. 2015. 7 Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin 1999, S. 127. 8 Vgl. den entsprechenden Song von John Lennon auf seinem Album John Lennon/Plastic Ono Band (1970). 9 Vgl. Tristesse Royale (wie Anm. 7), S. 16–67.

Frank Goosens So viel Zeit (2007)

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Phänomen, das Goosens Büchern, Grönemeyers Musik und dem Ruhrpop zugrunde liegt, ostentativ als nicht zur deutschen Popkultur passend abgelehnt.10 Doch auch dieser scheinbar ›undeutsche‹ Pop-Typus hat seine Tradition, die tatsächlich vor allem im England der 1990er Jahre wurzelt. Als Pendant zur Industrieregion um Manchester und Liverpool wäre dabei das vergleichbar entwickelte Ruhrgebiet zu denken. Beim Popidol des Jugendlichen aus diesen Industrieregionen geht es kaum um eine authentische Verkörperung des Arbeiters, sondern um dessen widerständigen Habitus: So prägt den Britpop dieser Zeit wesentlich die Lad culture,11 wobei lad mit Kerl, Typ oder Macho zu übersetzen wäre, der sich bildungsfern, chauvinistisch und unkultiviert gibt. Seine Interessen konzentrieren sich augenscheinlich fast ausschließlich auf Fußball, Popmusik, Trinken, Glücksspiel und außerehelichen Sex. Dieser Habitus, der zunächst den jungen Männern der Arbeiterklasse anhaftete, wurde rasch von sich avantgardistisch begreifenden Jugendlichen der Mittelklasse nicht nur in England, sondern auch in den Vereinigten Staaten imitiert, reflektiert und variiert. Der Ruhrpop zieht hier etwas später nach. Vor allem im postfeministischen Gender-Diskurs12 offenbart der Laddism sein provokantes Potential, wobei die ironische Nutzung dieses Labels meist unübersehbar ist. Der New lad, der sich des Problematischen und Provokanten seines Habitus bewusst ist, erscheint seither als popikonisches Gegenstück zum abgehobenen Popästheten, wie man ihn vorwiegend in der deutschen Popkultur um 2000 findet. Und doch gibt es hier ähnliche Stilisierungen wie im Britpop. So heißt ein zentraler Satz in Andreas Neumeisters Manifest Pop als Wille und Vorstellung (1999): »Pop sagt: Ich stehe […] zu meiner angeblich proletarischen Herkunft«.13 Dieses ursprünglich typisch englische Pop-Ideal findet man geradezu prototypisch problematisiert beim Ruhrpop-Autor Frank Goosen. Er wird 1966 in Bochum geboren, besucht dort die Grundschule und das Gymnasium, studiert dann Geschichte, Germanistik und Politik an der Ruhr-Universität-Bochum und besteht dort das Magisterexamen. Nach dem Studium folgen Auftritte mit Jochen Malmsheimer im Literaturkabarett – eher ein Comedien-Duo – unter dem 10 Vgl. Tristesse Royal (wie Anm. 7), S. 115f. 11 Zum Begriff im deutschen Sprachraum vgl. etwa: Luisa Jacobs: »Lad Culture. Elite-Studenten, die von Vergewaltigung singen«. In: Zeit Online vom 30. Juli 2014. Verfügbar unter www.zeit.de/studium/uni-leben/2014-07/lad-culture-universitaeten-england, letzter Zugriff: 09. 02. 2015. Zum Verhältnis von Lad-Culture und Popkultur vgl. Tom Holert, Mark Terkessidis: »Einführung in den Mainstream der Minderheiten (1996)«. In: Charis Goer, Stefan Greif, Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, S. 224–241. 12 Vgl. St8phanie Genz, Benjamin A. Brabon: Postfeminism: Cultural Texts und Theory. Edinburgh 2009. 13 Andreas Neumeister : »Pop als Wille und Vorstellung«. In: Goer, Greif, Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop (wie Anm. 11), S. 262–269, hier S. 265.

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Titel Tresenlesen. Der Ausdruck ›Tresen‹ bezieht sich auf die Theke bzw. die Stehplätze beim Ausschank in eher nord- und westdeutschen Kneipen und Gaststätten; präsentiert werden also eine Art alternative und regional angepasste Stammtischwahrheiten. Das Duo produziert einige erfolgreiche Hör-CDs. Goosen spielt und managt nach Auflösung des Duos lokale Theaterproduktionen, bis ihm mit dem Pop-Roman Liegen lernen (2001) der schriftstellerische Durchbruch gelingt. Der Roman wird 2003 von Hendrik Handloegten verfilmt; am Drehbuch war Goosen selbst beteiligt. Es folgen Soloprogramme als Comedien und weitere Romane und Erzählungen, unter anderem die Weihnachtsgeschichte Sechs Silberne Saiten (2006), A 40 – Geschichten von hier (2007), der Roman So viel Zeit (2007), Weil Samstag ist. Fußballgeschichten (2008), Radio Heimat (2010), der Roman Sommerfest (2012) und schließlich der Erzählband Raketenmänner (2014), der recht unverhohlen und unverkennbar ironisch mit dem Lad-Ideal spielt. Die Themen und Motive seiner Texte und Live-Programme, Fußball, Pop- und Rockmusik, Alltags- und Frauengeschichten, Großstadt zwischen Arbeiterkultur und Universität erinnern an Goosens implizites Vorbild Nick Hornby, den Vater der neueren englischen Pop-Literatur. Seit 2007 schreibt Goosen ehrenamtlich für die Stadionzeitung des VfL Bochum, trainiert seit einiger Zeit die abstiegsgefährdete C-Jugend von DJK Arminia Bochum und verdingt sich als gelegentlicher Kicker-Kolumnist. Eine eigene Homepage14 und ein recht umfangreiches Merchandising-Programm forcieren die Etablierung des Pop-Stars Frank Goosen nicht nur, aber vor allem in seiner Region. Eine der wichtigsten Figuren in Frank Goosens Roman So viel Zeit (2007) ist Ole; in den Erinnerungen seiner Freunde war er Anfang der 1980er Jahre die zentrale Gestalt der Clique: Ole war cool. Für ihn war dieses Wort erfunden worden. Ihm schien egal zu sein, was um ihn herum passierte. Er drängte sich nie nach irgendetwas oder irgendwem. Er war der Prophet, und der Berg kam zu ihm, nicht umgekehrt. Er war die unumstrittene Autorität in musikalischen Angelegenheiten, in politischen Fragen und Belangen des alltäglichen Benehmens. Wenn man darum bat, sagte er einem, welche Platten gut und welche zu vernachlässigen waren; ob man auf eine Demo gehen sollte oder nicht; ob man Puma-Turnschuhe zu engen Jeans tragen konnte oder nicht. (Konnte man nicht. Adidas Allround waren die einzige Möglichkeit.)15

14 Vgl. www.frankgoosen.de, letzter Zugriff: 09. 02. 2015. 15 Frank Goosen: So viel Zeit. Roman [2007]. 3. Auflage. München 2009, S. 13. Der Roman wird seit September 2014 als Bühnenfassung von Stefanie Carp vom Theater Oberhausen (Regie: Peter Carp) gespielt.

Frank Goosens So viel Zeit (2007)

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»Fünfundzwanzig Jahre später«16 lebt Ole nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern in einer Berliner Hinterhofwohnung. Sein Äußeres markiert ihn augenscheinlich als Lad: Ole trug einen roten Slip, unter dem ein paar Sackhaare herausschauten, obenrum ein uraltes T-Shirt, eines das Konni, Bulle und Reiner vor Jahren hier in Berlin in einer Biker-Kneipe gekauft und Ole zum Geburtstag geschenkt hatten: auf schwarzem Grund ein Totenschädel mit einem Asterix-Helm, die Federn im Fahrtwind. Darunter der Schriftzug: Ride with the wind! Ole trug das Haupthaar millimeterkurz, doch auf seinen Wangen war es noch immer 1973: fast bis zum Kieferbogen wuchsen zwei sauber gestutzte Kotletten. Ole war schon immer eher der blasse Typ gewesen, aber was sein Gesicht jetzt zeigte, war ein astreines Weiß. Jedenfalls wenn man von den tiefen, dunklen Ringen unter den Augen absah.17

Ride with the wind! (deutsch: Das Rennen ihres Lebens) ist der Titel eines amerikanischen Films von 1994. Der Säufer Frank Shelby (gespielt von Craig T. Nelson) war einst ein begnadeter Motoradfahrer, der Chancen gehabt hätte, ein nationales Rennen zu gewinnen. Nach einem Alkoholexzess und einer Kneipenschlägerei landet er im Krankenhaus, wo er einen leukämiekranken Jungen und dessen Mutter kennenlernt. Sie bringen ihn wieder auf den rechten Weg. Ole tritt in Berlin als gefallener Engel auf; der Held von einst scheint gescheitert, obwohl er auch später – trotz seiner unübersehbaren Lebensprobleme – zum Ankerpunkt der neu gegründeten Band wird. Sein Habitus und sein Outfit – wenn man überhaupt davon sprechen kann – zeigen ihn nun als Gegenbild einer verbürgerlichten Popkultur. Auf seinen brüchigen Lebensweg, der lange ein wesentliches Spannungsmoment des Romans ist, komme ich später zurück. Von Anfang an tauchen in Goosens Texten Jungs auf, deren Habitus sich eher an Figurationen des Britpop oder auch des Grunge orientieren als am ausgestellten Ästhetizismus des deutschen Adlon-Pop. »Raketenmänner« nennt er sie in seinem letzten Erzählband; es sind Männer mit verlorenen Träumen, die nach zum Teil einschneidenden Erfahrungen Kompromisse mit dem Leben, aber nicht unbedingt bei ihren Idealen machen. Zu solchen Protagonisten zählt auch Helmut, der Held von Liegen lernen (2001), Goosens erstem, sehr erfolgreichen Roman; er beginnt mit einer vielsagenden Bestandsaufnahme: Im September 1998 stürzte ein Mann frühmorgens vornüber aus einer im Souterrain gelegenen Kreuzberger Kneipe in eine Pfütze brackigen Regenwassers und fühlte sich nun bereit für einen abschließenden Döner. Sein Leben als verantwortungsloses, bin-

16 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 9. 17 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 162.

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dungsunfähiges, triebhaftes Arschloch war definitiv an einem Tiefpunkt angekommen. […] fast schien es, als wolle er liegenbleiben, da in der Pfütze.18

Auch in diesem Roman wird eine Lebensgeschichte zwischen Sex, Drugs und Rock’n’Roll erzählt, die auch nicht durch die kurze Affäre Helmuts mit einer späteren Professorin ›glücklich‹ wirkt. Liegen lernen handelt vom Erwachsenwerden Helmuts in den 1980er und 90er Jahren »irgendwo im Ruhrpott«.19 Die zitierte Szene bildet den Rahmen des Erinnerungsromans. Da Liegen lernen so eine Art Picaro-Roman darstellt, bildet sie den Ausgangspunkt einer Conversio, die zur Festigung einer gebeutelten Identität führt. Doch dieser Roman steht nicht im Zentrum meiner Ausführungen; er sei hier nur angeführt, um zu zeigen, wie Goosen in vielen seiner Texte Figuren zeichnet – man könnte sie zweifellos postmoderne Picaros nennen –, deren Habitus ironische Anleihen an der Lad culture des Britpop nehmen.

2.

Regionale Verankerung

Die zweite Komponente des Ruhrpop ist – so hatte ich oben ausgeführt – eine regionale Verankerung, die in ihrer urban-industriellen Stilisierung auch an die Verortung des Britpop in den Arbeitergebieten Liverpools oder Nord-Londons erinnert. Hinzu kommt der Anspruch des Ruhrgebiets auf Solidarität, zu der der Rest der Republik verpflichtet sei, weil es nach 1945 wesentlich für den Aufbau des neuen Staates und damit für den gegenwärtigen Wohlstand verantwortlich gezeichnet habe. Die Geste der sozialen Benachteiligung scheint dem hier beschriebenen Pop-Typus inhärent zu sein. Frank Goosen bearbeitet das Identitätskonstrukt des Ruhrpops ausdrucksstark und ironisch in Radio Heimat. Geschichten von zuhause (2009); das recht erfolgreiche Buch ist eine Sammlung von Erzählungen, Fundstücken, Fragmenten und Alltagserinnerungen. Vergleichen kann man es in seiner Machart, insbesondere dem popkulturellen Verfahren fragmentarischen Archivierens von Alltags- oder Oberflächenkultur,20 mit der »Inspektion« der 1990er, Generation Golf (2000) von Florian Illies,21 oder auch den Reportage-Essays, die Benjamin v. Stuckrad-Barre etwa in Deutsches Theater (2001) veröffentlicht hat.22 Die Textsorte erscheint insofern typisch für den deutschen Literaturpop; weniger typisch für die jüngere deutsche Pop-Generation ist die strikte regionale Ausrichtung 18 19 20 21 22

Frank Goosen: Liegen lernen. Roman. München 2002 [2001], S. 9. Goosen: Liegen lernen (wie Anm. 18), S. 2. Vgl. Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002. Vgl. Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt am Main 2001 [Berlin 2000]. Vgl. Benjamin v. Stuckrad-Barre: Deutsches Theater. Köln 2001.

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seiner Diegesen auf Bochum und das Arbeitermilieu im weitesten Sinn. Denn Pop II gibt sich gewöhnlich global.23 Die Abschlussskizze ist Wichtig für die Region betitelt und wirkt wie ein letztes, absolut geltendes Statement des Buchs. Es korrespondiert mit dem bekanntesten Goosen-Zitat, das inzwischen auf Postkarten, T-Shirts und anderen Merchandising-Produkten verbreitet wird: »Woanders is auch scheiße.«24 In der Skizze wird eine alltägliche Szene beschrieben, wie sie jeder erleben kann, der sich im Zug von Süd- nach Norddeutschland bewegt. Die Hauptfigur sitzt im »ICE von München nach Hannover, und zwar in der ersten Klasse, um den Leberwurstbroten in der zweiten zu entgehen.«25 Offenbar möchte sie nicht gestört werden. Im Folgenden wird sich zeigen, dass natürlich auch die erste Klasse im Zug nicht vor unangenehmen Situationen schützt. Mir gegenüber sitzt ein stämmiger Herr in einem blauen Hemd mit weißem Kragen – etwas, das ich ungefähr so schätze wie mit dem Gesicht in ein seit zwei Wochen nicht gereinigtes Katzenklo zu fallen. Der Herr blättert im Handelsblatt, ich halte ihm aus reiner Bosheit die taz entgegen und lese einen Artikel über die Arbeit illegaler nordafrikanischer Immigranten bei der Wassermelonen-Ernte in Spanien.26

Die antagonistische Codierung der Begegnung ist unübersehbar : hier der übergewichtige Business-Mann, dort der alternativ denkende Intellektuelle, der sich gleich mit fünf sozial brisanten Problemkomplexen herumschlägt. Er befasst sich mit Vorurteilen gegenüber afrikanischen Immigranten, die – man glaubt es kaum – in guter Südstaatenmanier mit Melonen in Zusammenhang gebracht werden, mit illegalen Arbeitern, die zugleich illegale Einwanderer sind, und schließlich auch mit der industriellen Überproduktion von Lebensmitteln in Südspanien, die nicht nur ökologisch, sondern natürlich auch ökonomisch eine Katastrophe für aufrecht denkende mitteleuropäische Intellektuelle darstellt – mehr geht nicht, auch für hartgesottene Linksintellektuelle. In dieser Häufung wirkt die Selbststilisierung des Ich-Erzählers natürlich unübersehbar selbstironisch. »Der Herr mir gegenüber schwitzt. Vielleicht beschäftigt er Schwarzarbeiter.«27 An solchen Kalauern – »Schwarzarbeiter« ist doppelt codiert, da es auf illegale Arbeiter und die Afrikaner anspielt – erkennt man den ehemaligen Comedian. Plötzlich legt der Geschäftsmann sein Handelsblatt beiseite und zwingt dem Ich-Erzähler einen dieser typischen Zugdialoge auf. »Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf ?«28 – »Ich komme aus Bochum«.29 Wie immer in 23 Vgl. Diedrich Diederichsen: »Ist was Pop? (1999)«. In: Goer, Greif, Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop (wie Anm. 11), S. 244–258. 24 Frank Goosen: Radio Heimat. Geschichten von zuhause. Frankfurt 2009, S. 13. 25 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 160. 26 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 160. 27 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 161. 28 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 161.

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solchen Situationen schaut einen der Gegenüber mitleidig an. »Ein Blick, der zu sagen scheint: ›Ach, das tut mir aber leid, dass du nicht mit uns schwimmen gehen kannst, weil du einen künstlichen Darmausgang hast.‹«30 Was folgt, ist eine Auseinandersetzung über Revierklischees, die in einer A-la–mode-Rechtfertigung der Ruhrregion endet. Sie erscheint als Beleg für die spezifische, hier freilich selbstironisch modifizierte Identitätsbildung der Menschen im Revier : Unverschämtheit! Was erlaubt der sich? […] Wenn hier einer das Ruhrgebiet beleidigen darf, dann wohl ich! […] Unsere Kohle hat euch nach 45 wieder nach oben gebracht und heute macht ihr Zicken wegen dem Länderfinanzausgleich! Ein paar Sekunden lang komme ich mir vor, als sei ich selbst noch in den Fünfzigern auf Prosper Haniel eingefahren und hätte das schwarze Gold mit meinen eigenen Händen aus dem Schoß der Erde gerissen. Und überhaupt ist das jetzt hier Frankfurt, und da steige ich jetzt aus, was will ich denn in Hannover, ist doch genauso ein Drecksnest wie München oder alle anderen! Südlich von Hattingen ist für mich Tirol und nördlich von Recklinghausen Dänemark, östlich von Unna beginnt für mich Sibirien und westlich von Duisburg ist die Welt zu Ende und da fallen alle ins Urmeer!31

Der Rückgriff des Ich-Erzählers auf einen an sich älteren, nicht selbst erarbeiteten, nicht ge- und erlebten Habitus begegnet uns im Roman So viel Zeit wieder. Gezeigt wird hier aber weniger der Malocher, obwohl auch dieser variiert wird, sondern der ehrliche Rocker der frühen 1970er Jahre. Goosens Heimat ist das Ruhrgebiet, das es emphatisch und selbstironisch zu verteidigen gilt. Mit Grönemeyers holprigen Bochum-Versen: Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau, Du liebst dich ohne Schminke, bist ’ne ehrliche Haut, leider total verbaut, aber grade das macht dich aus.32

Die Selbsteinschätzung der Bewohner korreliert auffällig mit dem Image der Region. Die hier von Grönemeyer und Goosen formal unterschiedlich, in der Sache aber überraschend analog vollzogene melancholische Vermessung des Ruhrgebiets kann man mit neuerer Raumtheorie versuchsweise verstehen. Natürlich ist in solchen Texten nicht von wirklich vorhandenen Räumen die Rede; hier wird nicht auf eine tatsächlich oder authentisch erlebbare Region referiert, obwohl sie als authentische und quasi letzte ›echte‹ Region ausgestellt wird. Das Ruhrgebiet und speziell Bochum erscheinen nicht als absolute Größen, sondern als relationale Räume, die durch das Auge des Betrachters sukzessive entstehen und in ihren Konturen notorisch unbestimmt bleiben. Der Ruhr-Raum wird 29 30 31 32

Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 161. Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 161. Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 163. Grönemeyer : Bochum (wie Anm. 3).

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durch einen poetischen Kartierungsprozess entworfen, der das Malocher- und Industrie-Klischee zugleich aufruft und ironisch relativiert. Wir im Ruhrgebiet laden Auswärtige gern ein, zu uns zu kommen, um ihren Begriff von Schönheit zu erweitern. […] Auf dem Gasometer in Oberhausen stehen, sich umgucken und sagen: Wat ne geile Gegend!, das muss man wollen. Dafür muss man von hier sein.33

Die spezifische Melancholie, die vor allem den vergangenen Arbeitermythos des Reviers betrauert, rechtfertigt, so Goosen, die Stilisierung des urbanen Lebensraums an der Ruhr : Das Ruhrgebiet hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das Recht erarbeitet, sich hemmungslos zu stilisieren und sich zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht, nämlich ebenjene Arbeit. Zumindest die von früher. Und trotzdem stehen wir an lauen Sommerabenden auf unseren Eisenbahnbrücken, schauen auf unsere Städte, freuen uns darüber, wie schön das Leben mit Abitur sein kann, und denken: »Nä, schön is dat nich. Abba meins!« Oder wie es mein Oppa auszudrücken pflegte: »Ach, woanders is auch scheiße.«34

Ehe sich das Bild verfestigen kann, markieren Goosens Texte die relative Perspektive des Betrachters überdeutlich. Deshalb erscheinen das Ruhrgebiet und Bochum letztlich weniger als geographische Größen denn als soziale Räume, in denen die Protagonisten einerseits mit Vorstellungen und Traditionen ihrer Väter und Mütter ringen, andererseits diese gegen Angriffe und Umkartierungen Fremder durch Gemeinschaftsbildungen schützen wollen. Die Heimat Ruhrgebiet bleibt aber auch als relationaler Raum prekär : Je mehr dessen Unwirtlichkeit betont wird, desto mehr entsteht das Bedürfnis, diese als verkannte Qualität zweiter Ordnung zu behaupten und als geradezu hermetische Eigenschaft, als ästhetisches Moment, das nur dem wirklichen Kenner vorbehalten bleibt, herauszustellen. Das aber erschwert – beispielhaft vorgeführt im ICE-Gespräch – die Vermittlung des geographischen oder gar besuchswerten Raums Ruhrgebiet. Man kann diesen Komplex als zentrales Problem der heutigen RuhrgebietsTouristik und vieler Veranstaltungen zur europäischen Kulturhauptstadt sehen, die unter dem Label Ruhr.2010 beworben wurden.35 Der privilegierte Akt einer geradezu avantgardistischen Ästhetisierung eines Objekts und die Umcodierung eingeführter Urteile über dieses folgen den Mechanismen des Pop. Hier firmiert es unter der Bezeichnung Re-Modeling. In Tristesse Royal, einem Pop-Text, der ansonsten meilenweit von den Pop-Vorstellungen Goosens entfernt ist, wird vom jungen Stuckrad-Barre ein solcher Akt paradigmatisch und in seiner Problematik beschrieben und diskutiert. 33 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 9f. 34 Goosen: Radio Heimat (wie Anm. 24), S. 13. 35 Vgl. Achim Nöllenheidt: RuhrKompakt. Der Kulturhauptstadt-Erlebnisführer. Mit dem Programm von Ruhr.2010. Essen 2010, vor allem das Vorwort, S. 9.

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Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses. Pop entsteht aus der Verschachtelung, aus dem Segmentieren und in einer Gegenbewegung, die dann wiederum vielen einleuchtet.36

Anders ausgedrückt: Pop erklärt etwas gegen den augenblicklichen Konsens als angesagt, das in der Folgezeit selbst zum Konsens wird und dadurch für den – ja stets das Avantgardistische suchenden – Pop nicht mehr interessant ist.37 Als ein solcher Segmentierungs- und Verallgemeinerungsakt könnte die Umkartierung des Ruhrgebiets von der sozialen Bedarfszone zum privilegierten urbanen Raum, dessen Genuss vorerst nur dem wirklichen Kenner zugänglich ist, auch verstanden werden.

3.

So viel Zeit

Kommen wir nun zu Frank Goosens Ruhrpop-Roman So viel Zeit, zuerst 2007 bei Eichborn in Frankfurt am Main erschienenen. Die erfolgreiche Taschenbuchausgabe kommt 2009 bei Heyne bzw. Random House in München raus. Um was geht es? Vor allem um Männer in der Midlife-Crisis. Fünf exemplarische Vertreter dieser Spezies, etwa Mitte Vierzig, beschließen nach 25 Jahren einen gemeinsam erdachten Jugendtraum zu verwirklichen. Sie wollen eine Rockband gründen, die Musik ihrer Jugend covert. Vier von ihnen trafen sich regelmäßig bei einer Doppelkopfrunde, der fünfte, Ole, lebt von Gelegenheitsjobs in Berlin. Die anderen pflegen mehr oder weniger intensiv ihre Midlife-Krise in gesicherten Verhältnissen im Ruhrgebiet. Der zweifache Vater Rainer arbeitet als Steuerprüfer. Der junge Witwer Bulle versorgt als Alleinerzieher zwei Kinder ; er ist Onkologe. Konni, der von seiner langjährigen Freundin verlassen wurde, ist als Lehrer angestellt. Thomas versucht sich eher erfolglos als Autor. Er hat eine Beziehung zu einer zwanzig Jahre jüngeren Frau. Da traditionelle Rockbands nur fünfköpfig funktionieren (wie Deep Purple), beschließt man Ole als Frontmann, Sänger und Sologitarristen aus Berlin zurückzuholen. Weil die meisten Bandmitglieder liquide sind, wird rasch eine Ausrüstung beschafft und ein Roadie engagiert. Nach etwas mühsamen Proben hat die Band Mountain of Thunder sogar gewisse Erfolge. Das Bandleben wirkt sich aber auch auf das Leben ihrer Mitglieder aus; Ehekrisen zeigen sich bei den plötzlich jung gewordenen Lads, Liebesbeziehungen tun sich allerorten auf. Und schließlich löst sich auch das Geheimnis um den scheinbar coolen Ole auf. Er hatte nach dem Abitur alko36 Tristesse Royal (wie Anm. 7), S. 27. 37 Vgl. Diedrich Diederichsen: »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«. In: Goer, Greif, Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop (wie Anm. 11), S. 185–195, besonders S. 190: »Pop tritt als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist.«

Frank Goosens So viel Zeit (2007)

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holisiert einen Unfall verursacht; seitdem sitzt die einst von allen bewunderte und beeindruckende Dora im Rollstuhl. Als die Band beim fünfundzwanzigjährigen Klassentreffen spielt, kommt es zur Begegnung – man möchte fast sagen zum Showdown – von Ole und Dora. »Es war ein Unfall«, sagte Ole, »ein verdammter Unfall. […] Ich habe mich überschätzt […]. Alle haben immer gesagt, wie cool ich sei, und irgendwann habe ich es geglaubt. Ich war cool und unverwundbar. Ich konnte saufen ohne besoffen zu werden. Autofahren in jedem Zustand. Aber diese beschissene Kurve war zu viel für mich. […]«38

Das wirkt – wie dann auch das Ende des Romans – eher kitschig. Ole zieht nach Bochum und bekommt hier einen Job beim Bandausrüster. Die anderen festigen mehr oder weniger ihr neues Leben. Die Proben laufen nun, wie es heißt, entspannter ab. Ein bis zweimal im Monat hat man einen Auftritt. Die im Roman genannten fast ausnahmslos britischen Songs der 1970er und in Ausnahmen der 1980er Jahre, die die Band covert, etwa von Deep Purple, Led Zeppelin, King Crimson, Queen, Uriah Heep, Ten Years After oder Black Sabbath stehen auf einer Playlist, die man sich parallel zum Buch bei iTunes runterladen konnte. Eine gewisse Sonderstellung im Roman hat der Deep Purple-Song Child in Time. Er markiert das reguläre Ende der Setlist bei Konzerten. »Und dann kriegten sie den Gnadenschuss: ›Child in Time‹, endlich komplett, zwölf Minuten lang, ausufernd, gewaltig.«39 Im Original sind es übrigens nur zehn Minuten und 16 Sekunden. Normalerweise folgt dann bei den Konzerten von Mountain of Thunder die Zugabe der Band. Der Erzähler des Romans erlaubt sich eine kleine Spielerei hinsichtlich der verwendeten E-Gitarre bei dem Song. Der Deep-Purple-Fangemeinde ist offenbar bekannt, dass Ritchie Blackmore für das Stück ausnahmsweise die melodischere Gibson ES-335 statt seiner für Rockmusik klassischen Stammgitarre verwendete. Als sich die Band ausstattet, kauft Bulle natürlich – weil es Blackmores Stammgitarre ist – eine solche Fender Stratocaster MN. Auf dem Cover von Goosens Buch ist sie zu sehen und auch Ole besitzt natürlich eine Stratocaster : Oles Gitarre, eine alte Stratocaster, die keinen Rory-Gallagher-Vintage Look brauchte, weil sie wirklich alt war, der Lack wirklich abblätterte und Ole nie auf die Idee käme, sie nachzulackieren oder eine neue zu kaufen.40

Wenn Ole und Bulle Child in Time bei Konzerten spielen, wird der Song also genaugenommen doppelt auf der falschen E-Gitarre gecovert, die vermeintliche Authentizität des Rocks also ironisch gebrochen. Der Bezug des Liedes zum Inhalt des Romans ist gleichwohl greifbar. 38 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 373. 39 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 245. 40 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 165.

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Child in Time wurde schon 1969 geschrieben und im selben Jahr mit dem Roy al Philharmonic Orchestra uraufgeführt. Ian Gillan singt, Ritchie Blackmore spielt Leadgitarre und der klassisch ausgebildete Jon Lord sitzt am Keyboard. Den Song platziert man zuerst auf dem hybriden Livealbum Concerto for Group and Orchestra, ohne dass der Songtitel namentlich auf dem Cover erscheint. Ab 1970 ist Child in Time schließlich regulär auf der legendären Langspielplatte Deep Purple in Rock als Studioversion zu hören und auch auf dem bekannten Live-Album Made in Japan zu finden. Child in Time wurde – laut Sänger Ian Gillan – ohne erzählerischen Gehalt geschrieben:41 Sweet child in time, you’ll see the line the line that’s drawn between the good and the bad see the blind man, he’s shooting at the world the bullets flying, they’re taking toll. If you’ve been bad, oh Lord, I bet you have and you’ve not been hit by flying lead you’d better close your eyes you’d better bow your head wait for the ricochet.42

Für den Roman bekommt der Kultsong dennoch Sinn. Übersetzen könnte man die etwas kryptischen Verse etwa so: »Süßes Kind seiner Zeit, du wirst die Linie sehen, die zwischen Gut und Schlecht gezogen wurde. Sieh den blinden Mann, der auf die Welt schießt. Die Kugeln fliegen; sie fordern ihre Tribute. Wenn du schlecht warst, oh Herr, ich wette du warst es, und von fliegendem Blei getroffen wurdest, dann schließt du besser deine Augen, dann beugst du deinen Kopf vor und wartest auf den Querschläger.« Das Lied soll offenbar besonders die Situation Oles am Ende des Romans illustrieren; daher bricht er das Lied auf dem Schulkonzert in der alten Zeche nach dem ersten Solo ab, als er sieht, wie die gelähmte Dora ins Publikum getragen wird. Dann der Break, Sekunden der Stille, in denen Ole den Gurt seiner Gitarre löste, um sie achtlos auf den Boden fallen zu lassen. Aus den Boxen kamen ein Knallen und eine Rückkoppelung. Einige in der Menge johlten, hielten das für Show, warteten darauf, dass Ole die Gitarre anzündete oder wenigstens zertrümmerte.43

Während Thomas den Gesangspart von Ole übernimmt, rennt dieser geschockt von der Bühne; in einem Nebenraum, der mit alten Bergmannsschuhen gefüllt ist, kommt es schließlich zur Begegnung mit der ehemaligen Freundin. Die Schuhe verweisen indirekt auf Doras Behinderung und insofern auf eine dop41 Vgl. Jürgen Roth, Michael Sailer : Deep Purple. Die Geschichte einer Band. Gernsbach 2005, S. 195. 42 Vgl. Deep Purple in Rock. Harvest Records/EMI 1970, #3. 43 Goosen: So viel Zeit (wie Anm. 15), S. 372.

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pelte Melancholie: auf das kollektive Gedächtnis der Bergbau-Region und auf die gemeinsame, unwiederbringliche Jugend von Dora und Ole in Bochum. Von der im Rollstuhl Sitzenden lässt sich der Held am Ende der Aussprache blutig schlagen. Ungeschehen werden die Vorfälle vor 25 Jahren und Oles Flucht danach dadurch freilich nicht. Aber die Schläge scheinen doch kathartisch zu wirken, schon weil Ole sich offenbar erstmals der Frau, für deren Schicksal er nun mal Verantwortung trägt, und ihrem unermesslichen Leid ehrlich stellt. Dadurch scheint ein neues Leben für Ole nun möglich. Welche Rolle Dora dabei spielt, erfahren wir nicht. Der Titel des Deep-Purple-Songs Child in Time, Kind seiner Zeit oder Kind in der Zeit, erinnert nicht nur an den Titel des Romans So viel Zeit, sondern macht auch auf die anachronistische Zeitkonstruktion des Popromans und vielleicht der Popkultur überhaupt aufmerksam. Rekapitulieren wir einmal die Zeitebenen des Romans: Er spielt 2007, 25 Jahre vorher endete die Schulzeit der vier Jungs, Thomas ist jünger und stößt erst später zur Clique. 1982 hören die späteren Bandmitglieder aber keine aktuelle Musik, sondern vorwiegend Rocksongs der frühen 1970er Jahre. Diese Musik spielt die Band auch 2007; da ist die Musik, die ihr ›neues jugendliches Lebensgefühl‹ prägt, gut 35 Jahre alt und wird gewiss kaum von einem Jugendlichen mehr gehört. Auch das wird im Roman thematisiert. Sich jung fühlen, erscheint hier als Ausleben eines Jugendtraums, als Wiederbelebung einer schon damals anachronistischen Musik. Die vielen Anspielungen auf die Songs und Songtexte dieser Zeit sowie auf die Praxis dieser Musikkultur – Rockpalast, Instrumentierung einer Rockband, legendäre Konzerte usw. – zeigen, dass die britische Rockkultur der 1970er Jahre im kulturellen Gedächtnis der anvisierten Leserschaft, vermutlich Menschen ab vierzig, noch sehr präsent ist. Diese Leserschaft erlebt Popkultur im Modus des melancholischen Erinnerns, so wie die Bandmitglieder vor ihrer Gründung. Und diese Art der Erinnerung ist passgenau auf das moderne Ruhrgebiet und seine typische, oben erläuterte sentimentalische Grundstimmung zugeschnitten. Mit einer geradezu avantgardistischen Geste bestimmen die späteren Bandmitglieder und mit ihnen durchaus eine ganze Generation Jugendlicher Anfang der 1980er Jahre die 70er Musik – quasi ten years after – zum Popcode ihrer Generation. Und 2007 vergewissern sie sich ihrer Jugend mit einer Musik, die zu ihrer Jugendzeit im Grunde veraltet war, zumindest wenn man die Produktionszeit der Musik anschaut. Solche Verwerfungen zeigen, dass Popbezüge gesetzt sind, im Roman und in der Popkultur überhaupt. Frank Goosen – um an dieser Stelle einmal den Autor ins Spiel zu bringen – war nie Bandmitglied und hörte nie die im Roman favorisierte Musik.44 Aber natürlich hatte diese britische Rockmusik Anfang der 1980er Jahre in Deutschland eine hohe Anziehungskraft. 44 Das deutet Goosen jedenfalls in unterschiedlichen Interviews an: vgl. etwa mit seinem Lektor

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Dirk Niefanger

Die in Frank Goosens Roman So viel Zeit vorgeführte Popkultur ist – so meine These – für Ältere gedacht, die sich so sentimentalisch als Jüngere figurieren können – und zwar als solche, die am exquisit Älteren Gefallen finden, weil sie sich so den anderen Jungen ihrer Generation überlegen fühlen können. Nun könnte man spätestens hier mit dem popkulturellen Quintett argumentieren, der Roman behandele dann gar nicht Phänomene der Popkultur, sondern sei lediglich ein Roman über die Rockkultur. Als wesentlichen Unterschied sehen die Diskutanten im Adlon ja das Re-Modeling. Die fünf Rockmusiker im Roman haben sich als solche ja erst modelliert. Die klassische Rockband versuche, so die Adlon-Clique, auch beim Comeback immer authentisch zu bleiben, für die wahren Popgrößen – etwa Madonna – wäre das aber unerheblich. Die Popmusik sei ironisch, Rockmusik ganz ernsthaft.45 Zugegeben, der in Tristesse Royal konstatierte Vergangenheitsbezug des Rock deckt sich in wesentlichen Momenten mit dem melancholischen Zeitbezug des Romans: Eckhart Nickel: Ich glaube, so etwas entsteht aus Angst. Diese Angst, daß alles so bleiben soll, wie es ist, wie es gut ist – das ist Rock. Joachim Bessing: Demzufolge ist Rock ja eigentlich die Kindermusik, der KinderStyle, das ewige Kinderleben.46

Die späteren Bandmitglieder von Mountain of Thunder waren, als Child in Time herauskam, tatsächlich etwa neun Jahre alt. Und natürlich versuchen sie noch mit vierzig eine Kultur zu bewahren, die schon zu ihrer Jugendzeit eigentlich die Musik älterer Hörer war. Nun könnte man dieser deutschen Unterscheidung von Rock und Pop getrost folgen, wenn sie nicht selbst nur pop-rhetorisch hervorgebracht wäre. Pop sei das wirklich Postmoderne, Rock allenfalls das Moderne; ähnliche Kategorisierungen ließen sich mühelos anschließen. Diskursgeschichtlich gehört aber beides – Rock und Pop – in einen Zusammenhang, der seinen Ursprung in England hatte. Für die Literatur ist hier nicht der junge Stuckrad-Barre, sondern eher Nick Hornby zuständig. Mir scheint, die Unterscheidung von Rock und Pop ist selbst ein Phänomen des Pop, der sich eben aus einer Dialektik von Abgrenzung und Vereinnahmung speist: Close the Gap und markiere deinen Standpunkt als gleichzeitig zu denkendes Moment der modernen Popkultur. Die rhetorische Abspaltung des Rock in der deutschen Pop II-Kultur erscheint so als Phänomen der »Pluralisierung und Überlagerung von Pop-Kulturen.«47 Rock und Pop im Sinne von Tristesse Royal sind sich an Leit-

Matthias Bischoff und Jan Feddersen (taz) auf You Tube. 45 Vgl. Tristesse Royal (wie Anm. 7), S. 138–146. 46 Tristesse Royal (wie Anm. 7), S. 140. 47 Diederichsen: Ist was Pop? (wie Anm. 23), S. 244–258, hier S. 249, zum Verhältnis von Rock und Pop vgl. besonders S. 251f.

Frank Goosens So viel Zeit (2007)

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differenzen orientierende Subgemeinschaften einer »Fülle von nebeneinander existierenden Pop-Kulturen«, wie Diederichsen zuerst formuliert.48 Die in Frank Goosens Roman So viel Zeit entworfene Popkultur ist nichts für Jüngere wie Stuckrad-Barre oder allenfalls für solche, die das exquisite Moment des Neuen innerhalb des popkulturellen Diskurses im fast vergessenen Alten, in der ›ehrlichen Rockmusik der 1970er‹ suchen – so wie die Helden des Romans. Der avantgardistische Gestus selbst zeigt sich dabei als typisch für den Pop; die Hinwendung zur Rockmusik bedient hingegen nur eine spezifische – ich würde sagen vorwiegend angelsächsische – Variante des Pop. Teil dieser Variante sind spezifische Erprobungen von Genderzuschreibungen und ein bestimmter männlicher Habitus; beides wird im Roman natürlich ironisch vorgeführt und in wesentlichen Momenten dekonstruiert.

48 Diederichsen: Ist was Pop? (wie Anm. 23), S. 253.

Bernd Auerochs

Seiltanz zwischen Pop und Hochkultur. Zu Maxim Billers Der gebrauchte Jude (2009)

1.

Someone else is speakin’

Es ist ein kleines Weilchen her, genauer : neunundvierzig Jahre, dass Bob Dylan mit schmelzenden Geigen unterlegte Frauenstimmen in endloser Wiederholungsschleife singen ließ: »All the tired horses in the sun/ How am I supposed to get any riding done?« Acht Jahre später sang derselbe Dichtersänger in einem seiner rätselhafteren Lieder von einer geliebten Maid, deren Ebenholzgesicht jenseits von Verständigung sei. Und wieder fünf Jahre danach hieß es, immer noch aus derselben Quelle: »Someone else is speakin’ with my mouth, but I’m listening only to my heart/ I’ve made shoes for everyone, even you, while I still go barefoot.«1 Seither sind wieder einige Jahre ins Land gezogen. Die Schwierigkeiten beim Reiten sind groß wie eh und je, und das Barfußgehen ist nicht populärer geworden. Zudem hat sich herausgestellt, dass es anstrengend genug ist, die Reitstiefel selbst anziehen zu müssen, selbst wenn sie jemand anderer fachmännisch und mit Hingabe und Liebe verfertigt hat. Und trotzdem funktioniert die Verständigung über Literatur ausgesprochen gut. Wenn wir eine charakteristische Popgeste vollziehen und an einem beliebigen Morgen, an dem wir gerade aufgewacht sind, das Radio andrehen, so kann es sein, dass wir die einschmeichelnde Stimme einer Moderatorin oder die sonore und smarte Stimme eines Moderators zu hören bekommen. Teilt uns diese Stimme mit, dass ein bestimmter, gerade erschienener Roman sehr viel mit unserem eigenen Leben zu tun hat, spannend bis zum Ende ist und man ihn gar nicht mehr aus der Hand legen möchte, so wissen wir Bescheid und sind gewarnt. Wir erwarten nun nichts anderes mehr von diesem Buch, als dass es uns nichts über unser eigenes Leben lehrt und uns von Anfang an langweilt. Das Beste wäre es gewiss gewesen, 1 Nacheinander : »All The Tired Horses« aus Self Portrait (1970); »Changing of the Guards« aus Street Legal (1978): »a beloved maid/ Whose ebony face is beyond communication« (Bob Dylan: Lyrics. 1962–2001. London 2004, S. 383); »I and I« aus Infidels (1983): Dylan: Lyrics, S. 475.

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Bernd Auerochs

wir hätten das Buch niemals in die Hand genommen. Und versteigt sich unser Moderator bzw. unsere Moderatorin bis zu dem hymnischen Lob »Das liest sich runter wie nichts«, so beeilen wir uns ihm bzw. ihr beizupflichten, drehen in einer charakteristischen Popgeste das Radio wieder aus und sagen als ersten Satz des Tages vor uns hin: »Genau. Wie nichts.« Mit der Beschreibung dieser alltäglichen Situation einer Erfahrung mit Unernst sind wir bei einem Phänomen, das für das Thema Pop-Literatur hoch relevant ist. Ich meine das Ressentiment und seine Rolle bei der Konstitution und Abgrenzung der Popkultur und Pop-Literatur. Die Grenze zwischen Popkultur und Hochkultur erhält sich unter anderem genau durch dieses Ressentiment, und zwar dadurch, dass es von beiden Seiten der Grenze bedient wird. Es gibt das hochkulturelle Ressentiment gegenüber der Popkultur ebenso wie das popkulturelle Ressentiment gegen die Hochkultur. Es gibt aber auch das Ressentiment innerhalb der Popkultur selbst, das Unterscheidungen wie die zwischen dem guten und dem schlechten, dem intelligenten und dem doofen, dem subversiven und dem affirmativen Pop, ›Independent‹ und ›Mainstream‹, nicht-kommerziell und kommerziell usw. produziert. Die Verhältnisse werden auch dadurch kompliziert, dass die konkreten Unterscheidungslinien, in die sich solche semantischen Oppositionen umzusetzen pflegen, ganz unterschiedlich gezogen werden können. Mal verläuft die Grenze zwischen der Popkultur und der Hochkultur zwischen dem Fernsehen und dem Feuilleton;2 mal zwischen dem Feuilleton und der ›eigentlichen‹, ›wahren‹ Literatur, mal zwischen der Literatur, die auf das Feuilleton schielt, und der Literatur, die das nicht tut. Schließlich gibt es neben dem Bemühen, Grenzen durch Ressentiment wach und am Leben zu erhalten, auch die Tendenz zur Grenzverwischung, zum Kollaps der Unterscheidungen. Ist Bob Dylan nun Pop- oder Hochkultur? Wenn es einerseits möglich ist, ihn mit Shakespeare zu vergleichen, er den Literaturnobelpreis erhielt und die ernstzunehmende wissenschaftliche Forschung, die sich mit Dylan befasst, von Jahr zu Jahr unüberschaubarer wird; wenn er andererseits weiterhin und mit Recht als ein kardinales Phänomen der Popkultur analysiert werden kann. Maxim Biller, der Autor, von dem ich hier handle, ist in dem eben skizzierten Feld ein Grenzfall, und als einen solchen Grenzfall möchte ich ihn vorstellen. Biller ist ein 1960 in Prag geborener Jude, der 1970, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, mit seinen Eltern nach Hamburg emigrierte. Für die Eltern, russische Juden, war dies bereits die zweite Emigration ihres Lebens. Das Gymnasium absolvierte Biller in Hamburg, fürs Studium ging er nach München 2 Vgl. als einen Text, der die Existenz dieser Grenze behauptet und zugleich zu ihrer Überschreitung auffordert, Maxim Biller : »Selbstbezichtigung«. In: Ders.: Die Tempojahre. München 1991, S. 244–246.

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und schrieb dort seine Magisterarbeit über Darstellung und Funktion des Judentums im Frühwerk Thomas Manns. Im München der frühen achtziger Jahre verbrachte er viel Zeit in der Staatsbibliothek, noch etwas mehr Zeit in der Buchhandlung von Rachel Salamander. Nach dem Studium besuchte er, wieder in München, die dortige Journalistenschule. Seine journalistische Karriere erhielt einen raschen Schub, als 1986 in Hamburg das Magazin Tempo gegründet wurde und Maxim Biller in den Kreis jener merkwürdigen Säulenheiligen des modernen Journalismus aufstieg, die man »Kolumnisten« nennt. Billers Kolumne in Tempo trug den Titel Hundert Zeilen Hass und machte ihn rasch einem breiteren Publikum bekannt, ebenso wie seine Interviews, die mit der Frage zu schließen pflegten: »Hat Gott Humor?« und ihm gelegentlich so lahme Antworten eintrugen wie: »Ich bin Atheist, das weißt du doch.«3 Tempo war ein von Wien aus, von dem Chefredakteur Markus Peichl und einigen Mitstreitern gestarteter Versuch, das von Zeit und Spiegel dominierte Hamburger Pressewesen zu beleben. Das Geschäftsmodell des Magazins beruhte darauf, die Grenze zwischen Popkultur und Hochkultur zum Kollabieren zu bringen, und zwar in ihrer Gestalt als Grenze zwischen dem sogenannten seriösen und dem sogenannten Boulevard-Journalismus. Als Tempo-Journalist durfte man weder langweilig noch gründlich sein und musste einen hippen Boulevard-Journalismus schreiben, den kein Bildzeitungsleser je verstehen würde. Die Magazin-Neugründung war einer der letzten großen journalistischen Erfolge vor der Einführung des Internets, zu seinen besten Zeiten hatte das Magazin eine Auflage von 200 000 Stück. Durch allzu hektische und planlose Wechsel auf dem Chefsessel und in der Strategie schwächte sich Tempo selbst und wurde schließlich im Jahre 1996 eingestellt. Seine Machart lebte jedoch weiter. Tempo ist die Mutter jener merkwürdigen Magazine gewesen, die die großen überregionalen Blätter Deutschlands – man weiß nicht recht, aus welchem Grund und zu welchem Zweck – bis heute als Beilagen ihren Lesern anbieten zu müssen glauben. Und Tempo hatte auch katalysatorische Funktion für die Entstehung jener Welle der Pop-Literatur in den neunziger Jahren, von der in diesem Band an anderer Stelle gehandelt wird.4 Nicht nur Maxim Biller, sondern auch ein als immer gut angezogener Konfirmand verkleideter Autor namens Christian Kracht zählte zu den Mitarbeitern von Tempo. Die besten Kolumnen und Essays, die Biller für Tempo und andere Blätter schrieb, hat er selbst in zwei Sammelbänden vereinigt, Die Tempojahre von 1991 und Deutschbuch von 2001. Seit 1990 veröffentlicht Biller auch in regelmäßigen Abständen Kurzgeschichten, eine von ihren Ursprüngen her amerikanische 3 So Ibrahim Böhme in: Maxim Biller : »Sind Sie fertig, Herr Böhme?« In: Ders.: Die Tempojahre (wie Anm. 2), S. 253–262, hier S. 261. 4 Vgl. den Beitrag von Thomas Hecken in diesem Band.

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Gattung, für die er eine besondere Vorliebe hat. Im Jahr 2000 erschien der umfängliche Roman Die Tochter, 2003 der Roman Esra, um den bald nach seinem Erscheinen prozessiert wurde. Die Verbreitung des Romans wurde gerichtlich wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten untersagt; eine Verfassungsbeschwerde des Verlags (Kiepenheuer & Witsch) lehnte das Bundesverfassungsgericht am 13. Juni 2007 mit fünf gegen drei Stimmen (drei Sondervoten ergingen) ab.5 Im Jahre 2009 erschien dann unter dem Titel Der gebrauchte Jude. Selbstporträt eine schmale Autobiographie von Maxim Biller.

2.

Wer ist Bärbel Schäfer?

»Es macht mir großen Spaß, ein Intellektueller der Popkultur zu sein.«6 Da ich versprochen habe, Biller als einen Grenzfall der Pop-Literatur vorzustellen, mache ich den Anfang damit, dass ich davon spreche, was Pop an ihm ist oder zu sein scheint. Nehmen wir etwa eine Passage wie die folgende aus einem Beitrag der neunziger Jahre: Nein, bitte nicht, nicht schon wieder : Ich will nicht die Brüste von Bärbel Schäfer sehen! Immer muß ich mir irgendwo die halbnackten, gewaltsam hochgepreßten WonderbraBrüste von Bärbel Schäfer angucken! Und ihre Beine, die stämmigen Bauernbeine von Bärbel Schäfer, die zum Sauerkrautstampfen tausendmal besser geeignet sind als zum Tragen von hautengen Leopardenminis, oder ihre ganz, ganz kurzen Girliekleidchen! Und dann auch noch diese dicken, weichen Köchinnenoberarme von Bärbel Schäfer! Arme wie Keulen, wie Nudelhölzer! Arme wie Waffen! Wer ist Bärbel Schäfer eigentlich? Ich weiß es nicht.7

Als ich beim Lesen bis zu dieser Stelle gelangt war, fand ich meine kurzzeitig verlorengegangene Heiterkeit wieder. Denn auch ich wusste nicht, wer Bärbel Schäfer eigentlich ist oder war. Und ich wusste es nicht nur, als ich diese Zeilen 5 Inzwischen gibt es eine umfängliche juristische Monographie, die die Rechtsprechung (samt verwandter Falltraditionen) dokumentiert und reflektiert und auch literaturtheoretische Argumente einbezieht: Kathrin Bünnigmann: Die »Esra«-Entscheidung als Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Tübingen 2013. In Feuilleton und Literaturwissenschaft wurde das Urteil generell als rechtliche Schwächung des Prinzips der Kunstfreiheit beklagt. Die gegenteilige Minderheitenmeinung artikulierte etwa Remigius Bunia: »Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32 (2007), S. 161–182. Auf die diffizilen argumentativen Details der Auseinandersetzung kann ich in unserem popkulturellen Rahmen nicht eingehen. Es bleibt der Tatbestand, dass der Zugang zu Billers bestem Buch weiterhin massiv erschwert ist. 6 Maxim Biller : »Zurück in die Steinbrüche!« In: Ders.: Die Tempojahre (wie Anm. 2), S. 80–84, hier S. 84. 7 Maxim Biller : »Bärbel Schäfer : Total oral«. In: Ders.: Deutschbuch. München 2001, S. 63–65, hier S. 63.

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schrieb, nicht. Ich hatte es auch damals, in den neunziger Jahren, nicht gewusst. Ich hatte nie in meinem Leben auch nur den Namen Bärbel Schäfer gehört, weder Bärbel Schäfer selbst noch ihre Brüste waren je in den Horizont meines Bewusstseins vorgedrungen, obwohl ich in den neunziger Jahren auch schon auf der Welt gewesen war und die Dame Schäfer eigentlich hätte mitbekommen können. Und so musste ich mühsam eine Recherche anstellen, wer Bärbel Schäfer eigentlich gewesen war, mit dem Ergebnis, dass die Pointe oder der Witz der eben zitierten Passage darin bestehen könnte, dass Biller hier Bärbel Schäfer in genau derselben Weise sprachlich misshandelt, wie es Bärbel Schäfer selbst mit ihren ›Gästen‹ in der Fernsehsendung, die sie hatte, tat. So hätten wir hier also ›Pop‹: die Aufmerksamkeit für das rasch vergessene, ephemere Medienereignis, die Aufmerksamkeit für Mode und Körper, die Lust an der Untererfüllung kultureller Normen, dies alles durch mitlaufende Reflexion und Ironie zwar auf Distanz gehalten, aber ganz und gar nicht dementiert. »Ein Trend jagt den andern. Die Informationen darüber bekomme ich aus London, New York und jetzt auch aus Tokio. Runde Schuhe, spitze Schuhe, runde Schuhe, spitze Schuhe … Es macht mir großen Spaß, ein Intellektueller der Popkultur zu sein. Ich täusche Oberflächlichkeit vor, politisches Desinteresse und bin sehr zynisch.«8

3.

Relevante Unterhaltung

»Es macht mir großen Spaß […]«. Natürlich ist die Selbstironie hier nicht zu überhören, zugleich jedoch berühren wir nicht nur ein zentrales Ideologem aller Popkultur (›fun‹), spaßigerweise stehen wir auch am ernstesten Punkt der Identifikation Maxim Billers mit der Popkultur. Biller teilt das Ressentiment der Popkultur gegen die Hochkultur, das sich im Namen der ›Unterhaltung‹ artikuliert. Umgekehrt teilt er auch jenes Ressentiment der Hochkultur gegen die Popkultur, das deren ›Relevanz‹ bestreitet. Daraus ergibt sich bei Biller ein provokanter Rundumschlag gegen große Teile sowohl der Pop- wie der Hochkultur. Das Meiste aus der Popkultur ist irrelevant und kann darum nicht unterhaltsam sein. Das Meiste aus der Hochkultur ist nicht unterhaltsam und kann darum nicht relevant sein. Es ist dies das Bild, das sich ergibt, wenn man sich die verstreuten Äußerungen über die Kultur und Literatur unserer deutschen Gegenwart aus den Essays, Rezensionen und Kolumnen Billers zusammensucht. Dankenswerterweise hat Biller jedoch auch einen Text geschrieben, in dem er diesen rasanten Rundumschlag durch die Kulturszene konzentriert in nur wenigen Zeilen vollführt. Der Text trägt den Titel Unschuld mit Grünspan und 8 Maxim Biller : Zurück in die Steinbrüche (wie Anm. 6), S. 84.

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befasst sich eigentlich mit der Art und Weise, wie deutsche Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs später im Nachkriegsdeutschland über ihre Erfahrungen als Soldaten geschrieben haben. Mitten in diesem Text findet sich indes die folgende Passage: Denn das Versteckspiel mit der unverstellten Realität, das Heinrich Böll und seine »Gruppe 47«-Kameraden einst spielten, ist, wie sich rückblickend herausstellt, nichts anderes gewesen als das ästhetische Vorspiel zu dem romantischen Hakenschlagen, das Peter Handke, Botho Strauß, Thomas Hettche, Elfriede Jelinek und all die anderen Großeuphemisten dieser Jahre und Tage betreiben, wenn es darum geht, mehr zu tun, als die Eisblumen ihrer gewalttätigen Tagträume und verheulten Alpnächte auf die Fenstergläser der modernen Prosa zu hauchen. Man muß sie ja fast schon dafür bewundern, weil sie es immer wieder schaffen, sich mit bedeutungsleeren Wortneuschöpfungen, weltabgewandten Akademismen und schwammigen Pauschalgefühlen aus der Gegenwart und somit auch aus ihrer eigenen, unmittelbaren Teilhabe an ihr herauszustehlen. Und man muß gleichzeitig sehen, daß es neben ihnen eine viel größere Gruppe ganz anderer, wohl noch verdrucksterer, verlogenerer Dichter in diesem Land gibt: Es sind jene, die zwar so tun, als würden sie mit klaren Worten Klarheit in das Leben ihrer Figuren und Leser bringen wollen, die am Ende aber ebenfalls bloß danebenstehen und sich aus ihrer Wirklichkeit auf ihre Art genauso zu flüchten suchen wie ihre Soldatenväter. Manche von ihnen tun es, indem sie, ohne jedes Risiko, für sie völlig fremde literarische Identitäten annehmen, wie Ingo Schulze zum Beispiel, der in einem falschen, aufgesetzten Mütterchen-Rußland-Ton von Russen in Rußland erzählt, wie Thomas Brussig, der Philip Roth so hilflos nacheifert wie Stefan Raab New Yorker Stand-up-Komikern, wie W.G. Sebald, dessen Worte nur dann halbwegs zu sich finden, wenn sie von jüdischen Emigranten geliehen sind. Andere wiederum tun es, indem sie, so wie Helmut Krausser, Patrick Süskind oder Christoph Ransmayr, vor der Gegenwart in eine Vergangenheit davonlaufen, die mal besser, mal schlechter erfunden ist, ihnen aber auf jeden Fall Schutz vor den Konflikten und Anwürfen der Zeit bietet, in der sie hier und jetzt mit ihren Freunden und Feinden leben. Und dann gibt es noch solche wie Thomas Meinecke, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Andreas Neumeister : Sie glauben, daß der, der in der Schönen Neuen Welt des angelsächsischen Pop um Asyl nachgesucht hat, mit dem Deutschland von heute – und gestern – nichts mehr zu tun haben muß und deshalb für deutsche Fehler, deutsche Steifheit, deutsche Geschichtslosigkeit nicht verfolgt und haftbar gemacht werden kann. Lüge, alles nur Lüge, und wer lügen will, sollte Wunderpillen auf Jahrmärkten verkaufen, aber nicht Schriftsteller sein.9

Wirklichkeitsflüchtig also sind sie alle, die Pop-Literaten ebenso wie die Hochliteratur. Die Hochliteratur ist anämisch, akademisch und lebensfern, Pop ist ein Abklatsch des Angelsächsischen. Wo aber findet sich der dritte Weg zwischen diesen beiden Sackgassen, wo wäre die Literatur zu finden, die lebensprall, 9 Maxim Biller : »Unschuld mit Grünspan«. In: Ders.: Deutschbuch (wie Anm.7), S. 223–228, hier S. 226f.

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konfliktfreudig und unterhaltsam ist? Der Name Philip Roth gibt hier den entscheidenden Hinweis. Es ist die jüdisch-amerikanische Literatur, die von Maxim Biller immer wieder als Muster für eine Literatur, wie sie sein soll, angeführt wird: Joseph Heller, Bernard Malamud, Saul Bellow, Philip Roth und Mordecai Richler sind die Namen, die mit besonderer Emphase erwähnt werden. Biller zeichnet mithin die jüdische Tradition in ihrer Verbindung mit dem modernen Großstadtleben und dem pikaresken Strang der Weltliteratur als den Königsweg für eine aktuelle lebendige Literatur aus. Er verweist damit auf eine Kultur, die amerikanische, in der die Grenzziehung zwischen Pop- und Hochkultur niemals so klar und ausschließend durchgeführt war wie im alten Europa.

4.

Ein jüdischer Schriftsteller in nichtjüdischer Gesellschaft

Vielleicht wird man sagen, dass die Bereitschaft, fast die gesamte Gegenwartsliteratur in Deutschland symbolisch um einen Kopf kürzer zu machen, Mut erfordert. Das ist wohl in der Tat so, und so hat Biller denn auch das Rezensentenlob »Er hat Mut« auf die Buchrückseite der Tempojahre setzen lassen. Dieser Mut als eine seiner Eigenschaften steht jedoch auch in Zusammenhang mit Billers Position im literarischen Feld, die ihm zunächst im westdeutschen, dann im gesamtdeutschen Kontext zugewachsen ist. Er ist das jüdische enfant terrible des Literaturbetriebs, einerseits geschützt durch sein Judentum – schließlich sind wir im Deutschland nach der Shoah; andererseits wohl wissend, dass ihn sein Judentum letztlich nicht schützen kann, nicht nur, weil wir schließlich in Deutschland sind, sondern auch weil der Antisemitismus eine Seuche ist, die die Menschheit, mit all der zu ihr gehörigen Niedertracht, niemals los werden wird. Als jüdisches enfant terrible jedenfalls kann Biller nicht nur Dinge sagen, die die Deutschen nicht hören wollen; er kann auch Dinge sagen, die die Deutschen gar nicht sagen können, selbst wenn sie es wollten, weil sie nicht in der jüdischen Position sind, von der aus diese Dinge gesagt werden müssen. Man lese etwa den knappen und schneidenden Essay Heiliger Holocaust über die quasireligiöse Rolle, die die Shoah in der politischen Kultur Deutschlands der achtziger und neunziger Jahre und im Grunde bis heute gespielt hat und spielt.10 Kaum jemals wurde ironischer über die Neigung der Deutschen gesprochen, den Juden strenge Vorschriften zu machen, wie sie über die Shoah zu reden hätten: mindestens genauso feierlich und pathetisch, wie das deutsche Nichtjuden von deutschen Nichtjuden erwarten. Die Rolle eines enfant terrible hat Biller in den achtziger und neunziger Jahren mit pointenversessener Verve und Lust an der Provokation ausgefüllt. Es liegt 10 Maxim Biller : »Heiliger Holocaust«. In: Ders.: Deutschbuch. München 2001, S. 27–29.

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aber in der Natur der Dinge, dass die Kampfeslust der Jugend nach und nach etwas zurückgeht. Als 2009 Der gebrauchte Jude. Selbstporträt erscheint, steht Biller altersmäßig an der Grenze zur Fünfzig. Der Titel des Buches in seiner Doppeldeutigkeit signalisiert, dass sein Autor und Held ebenso benötigt wie abgenutzt wurde. Die öffentliche Rolle für ihn war da, sie musste besetzt werden, wenn nicht mit ihm, so eben mit jemand anderem. Wer in diese Rolle aber eintrat, konnte sich nur der Abnutzung aussetzen und musste mit Gebrauchsspuren rechnen. Der gebrauchte Jude zeigt beide Seiten dieses Prozesses und konzentriert sich auf die achtziger Jahre. Sein Thema ist mithin: Maxim wird Schriftsteller. Das aber heißt zweierlei. Maxim wird jüdischer Schriftsteller in einer nichtjüdischen Gesellschaft. Und: Er tritt mit ausgesprochen hochkulturellen Ambitionen an und muss sich unter zunehmend popkulturellen Rahmenbedingungen zurechtfinden.

5.

Jüdische Gegenstände – ja eben

Schon der Einstieg in die Autobiographie schlägt die beiden Themen an:11 Im Sommersemester 1982 ging ich lieber in den Englischen Garten als ins ThomasMann-Seminar. Ich stand spät auf, duschte und fuhr mit dem Fahrrad zum Eisbach. Die anderen waren schon da. Wir hörten auf dem Walkman Heaven 17, redeten über den ersten Roman von Bret Easton Ellis, und die Schweißtropfen auf den Armen der Mädchen trockneten schnell in der Sonne. Am Nachmittag setzte ich mich zu Hause an den Schreibtisch, schloss die Fenster, die mit Zeitungspapier abgeklebt waren, und schrieb ein paar Seiten. Drei Monate später war ich fertig, zweihundert Seiten, mein erster Roman. Ich nahm ihn mit nach Israel, damit meine Schwester ihn lesen konnte, und als am Münchener Flughafen zwanzig Meter von mir entfernt eine Kofferbombe explodierte, schützte ich das Manuskript mit meinem Körper. Meine Schwester las den Roman erst kurz bevor ich wegfuhr. Sie sagte: ›Ich dachte, Thomas Mann ist schon tot. Und überhaupt finde ich, er ist kein gutes Vorbild.‹

Der erste Roman von Bret Easton Ellis ist Less Than Zero, nicht American Psycho, der New Yorker Restaurantführer mit bestialischen Morden, den Christoph Rauen in diesem Sammelband vorstellt. Less Than Zero erschien allerdings erst 1985, drei Jahre nach dem ›Sommersemester 1982‹. Das ändert jedoch nichts an der paradoxen Paarung von Thomas Mann und Bret Easton Ellis, die uns dieser autobiographische Anfang vorführt. Den amerikanischen Autor, der als ein11 Maxim Biller : Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Köln 2009, S. 9. – Die wichtigeren Rezensionen des Buches stammen von Florian Illies (Die Zeit vom 3. Dezember 2009), Viola Roggenkamp (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 2009) Joachim Kaiser (Süddeutsche Zeitung vom 13. Oktober 2009) und Henryk M. Broder (Der Spiegel vom 26. September 2009). Die beiden zuletzt Genannten kommen selbst in Billers Buch vor.

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undzwanzigjähriger Collegestudent eine erfolgreiche literarische Karriere beginnt, hat offenbar jeder der jungen Studenten, die sich im Englischen Garten treffen, gelesen, er ist der Gegenstand eines zwanglosen und selbstverständlichen Interesses. Eigentlich sollte er als Vorbild für den literarisch ehrgeizigen Studenten Biller geeignet sein. Aber nein: am Nachmittag verbarrikadiert sich Biller vor der Welt wie Proust, und das fertige Produkt erinnert an Thomas Mann, an jenen Autor also, der der Gegenstand des Seminars war, das Biller damals am liebsten schwänzte. Ich wette, dass es Tonio Kröger war, der den jungen Maxim Biller dazu verführte zu sagen: Das kann ich auch. Später im Text werden wir mit der Einsicht konfrontiert, dass am Anfang der schriftstellerischen Karriere, wie meist, auch bei Thomas Mann, die Eitelkeit stand, nichts als der nackte Wunsch, Schriftsteller zu werden. Dass man etwas zu sagen hat, kommt erst später. Biller bilanziert ironisch-buchhalterisch im weiteren Verlauf seines Textes die ›Fortschritte‹ und ›Fehler‹ in seinem Leben und seiner literarischen Entwicklung. Die beiden Gestalten, die am Eingangsportal seiner literarischen Karriere und seines Buches stehen, die hochkulturelle und die popkulturelle, Thomas Mann und Bret Easton Ellis, sind beides Nichtjuden. Der unveröffentlicht bleibende erste Roman, den Biller in Anlehnung an Thomas Mann schreibt, kennt keine jüdischen Figuren. Joachim Kaiser, der Münchner Musik- und Literaturkritiker, der den Roman liest, kann ihm da nicht weiterhelfen. Eher schon Rachel Salamander, die Buchhändlerin, die ihm den Eindruck vermittelt, dass Billers Roman nichts mit ihm zu tun hat. Als ich ging, sagte Rachel nicht, ich solle sie auf dem Laufenden halten. Sie gab mir mein Manuskript zurück, lächelte ironisch-unironisch und meinte, sie hätte den Zettel mit ihren Notizen hineingelegt, vielleicht wolle ich ihn lesen. Zu Hause überflog ich ihn nur schnell, weil ich immer noch sauer auf sie war, aber einen Satz konnte ich nicht ignorieren: ›Wenn schon Paranoia, dann richtig dick. Denke an Kafka!‹ Kafka, nicht Thomas Mann. Ich machte Fortschritte.12

Soweit der Wink mit dem jüdischen Klassiker der deutschen Hochliteratur des 20. Jahrhunderts. Der nächste Fortschritt steht dem Autor Biller bevor, als er auf den Gedanken kommt, die für ihn schon länger zurückliegende Begegnung mit Philip Roth für sein eigenes Schreiben produktiv zu machen. Jüdische Gegenstände – ja eben. Aber Biller beneidet den fern von Europa schreibenden Amerikaner auch für seine jüdische Unbefangenheit gegenüber der Shoah und möchte ihn sich zum Vorbild nehmen. Wieder ein Fortschritt, sollte man meinen … aber nein: ein Fehler. Als Goodbye, Columbus 1962 auf Deutsch erschien, widmete Philip Roth den deutschen Lesern ein kurzes Vorwort. Er sei sich sicher, schrieb er, dass es in Deutschland keine 12 Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 15.

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Nazis mehr gebe. Und wenn doch, dann sei ihm das egal, er habe keine Lust, seine Phantasie und seinen Willen von ihnen beeinflussen zu lassen. Genau, dachte ich, ich auch nicht. Das war mein erster Fehler.13

Und so geht es weiter. Im Wechsel von Fortschritten und Fehlern entfaltet sich die literarische Karriere Billers, nicht im Sturmschritt des Erfolgs, sondern eher langsam, im Wechsel von immer neuen Begegnungen mit Juden und Nichtjuden und immer neuen Kontexten. Eine Schlüsselszene des Buches – und für mich seine am meisten komische – schließt sich an einen unliebsamen Auftritt Billers mit dem Direktor der Journalistenschule in München an: Ich ging aus dem Zimmer des Direktors, und die Sekretärin schaukelte ihren alten Kopf wie ein Kamel, das schon zu viel erlebt hatte, um von etwas überrascht zu sein. Sie hörte mit dem Schaukeln auf und fragte mich, warum es für mich so wichtig sei, dass ich Jude bin. Ich sagte, für sie sei es bestimmt wichtiger.14

Man kann sich sicher sein – und darin liegt die schöne und letztlich auch milde Ironie dieser Replik – dass die Sekretärin das nicht wusste, bevor Biller ihr es sagte. Noch komischer aber ist, dass sie es gewiss auch danach nicht wusste. Und an dieser Stelle öffnet sich eine geheime Tür einen Spalt weit, und man kann auch als Nichtjude aus leicht verzerrter Perspektive einen Blick auf die Aporie eines jüdischen Schriftstellers werfen, der in Deutschland für ein nichtjüdisches Publikum schreibt. Um diesen indiskreten Blick werfen zu können, muss der Nichtjude jedoch zunächst begreifen, dass er ein Nichtjude ist – ein schwieriges Unterfangen. Und darum mache ich diese geheime Tür nun auch sofort wieder zu.

6.

Eine undurchsichtige Gemengelage aus Erfolg und Misserfolg

Und kehre zum Thema Popkultur und Hochkultur zurück. Billers autobiographischer Text hat ein Motto. Es stammt aus den Chronicles, der Autobiographie von Bob Dylan aus dem Jahr 2004, und lautet: »Ich suchte nicht nach Geld oder Liebe.« – »It wasn’t money or love that I was looking for.«15 Das Motto warnt den gedankenlosen Leser. Denn ein solcher könnte bei der Lektüre durchaus auf den Gedanken kommen, dass der junge werdende Schriftsteller nach Liebe sucht. Es beginnt mit »Kiki, der lieblosen Tochter von George Moorse«16, mit der der 13 14 15 16

Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 23. Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 56. Bob Dylan: Chronicles. Vol. 1. London 2004, S. 9. Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 10.

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Schriftsteller drei Monate zusammen ist, und geht weiter mit einer »blonden Studentin mit Sommersprossen, herrlichen Zähnen und einem Gang, wie Pferde ihn haben, wenn sie vom Trab auf Schritt wechseln«. Dieses Mädchen freilich disqualifiziert sich durch das, was sie in der Bayerischen Staatsbibliothek liest. »Sie bereitete sich auf ihre Prüfung fürs Lehramt vor, Brentano, Christa Wolf, E.T.A. Hoffmann. Na und? Sollte sie ruhig Deutschlehrerin werden, wir würden trotzdem ein Leben lang zusammenbleiben.«17 Woraus – der Leser ahnt es – nichts werden wird. In beinahe jedem der kurzen Kapitelchen der Autobiographie muss sich der Leser auf neue Frauen einstellen, Jüdinnen und Nichtjüdinnen. Letztere freilich »hatten fast nie Lust. Sie wollten dieselben Bücher wie ich lesen, sie fragten mich um Rat, wenn sie nicht wussten, ob sie mit Philosophie weitermachen oder lieber zu Theaterwissenschaften wechseln sollten.«18 Usw. Dass man auf diese Weise Liebe nicht finden kann, weiß natürlich auch Biller selbst. Ähnlich verhält es sich mit dem Geld. Ein Honorarangebot von zweihundert Mark mit der Antwort »Super« zu quittieren,19 ist einer der vielen sicheren Wege, nicht wirklich reich zu werden. Wohl aber ist es eine Weise, rasch – und wenn die Honorare steigen, noch rascher – auf einen Lebensweg zu finden, den Biller bereits relativ früh in seinem Buch mit dem Satz beschreibt: »Bevor ich Schriftsteller wurde, wurde ich Journalist.«20 Was aber dann, wenn nicht Geld oder Liebe? Ein guter Kandidat für das, was Biller suchte, wäre der literarische Ruhm als mehr oder weniger zwangsläufige Folge eines unbändigen Selbstvertrauens in die eigene Kreativität, die sich auch in einer fremden, unbekannten Umgebung durchsetzen würde, wie beim jungen Dylan, der als obskurer Mann vom Lande sich in der Weltstadt New York zurechtzufinden hatte: »My mind was strong as a trap and I didn’t need any guarantee of validity. I didn’t know a single soul in this dark freezing metropolis but that was all about to change – and quick.«21 Im Wechsel von ›Fortschritten‹ und ›Fehlern‹ ergibt sich für Biller hier jedoch bald eine undurchsichtige Gemengelage aus Erfolg und Misserfolg. Erfolge können Misserfolge sein und umgekehrt. Und die großen hochkulturellen Ambitionen, mit denen im Gepäck Biller aufgebrochen war (Stichwort Thomas Mann und Kafka), schleifen sich in den Redaktionssitzungen der Zeit und im alltäglichen popkulturellen TempoJournalismus mehr und mehr ab. Nicht in der Autobiographie, aber im Roman Esra findet das Schriftsteller-Ich dort am Ende sogar zu den desillusionierten Sätzen: »Oder ich lege mich vor den Fernseher und schlafe ein. Oft arbeite ich

17 18 19 20 21

Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 27. Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 28. Vgl. Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 45. Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 44. Bob Dylan: Chronicles (wie Anm. 15), S. 9.

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dann gar nicht mehr weiter, und wenn ich nicht Geld verdienen müßte, denke ich manchmal, würde ich vielleicht gar nicht schreiben.«22 Im Zuge dieses Abnutzungsprozesses wird ein Charakter zur zweiten Hauptfigur von Billers Autobiografie: der 2013 verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Sowohl in den Tempojahren wie auch im Deutschbuch finden sich durchaus aggressive Auseinandersetzungen Billers mit Reich-Ranicki, das frühe Interview »Kennen Sie einen guten deutschen Witz, Herr ReichRanicki?« und der Essay »Marcel Reich-Ranicki: Geliebter Lügner«.23 Über Billers ersten Erzählungsband hatte Reich-Ranicki geurteilt: »Ich möchte mich zu dieser Art von Literatur lieber nicht äußern.« Zwar hatte Biller prompt – in typisch popkultureller Manier – diesen Satz zu Werbezwecken auf den Umschlag seines Buches setzen lassen: »Ich fand, besser dieser Satz von ihm als keiner«. Aber das Nachdenken über das mögliche Motiv für die Wut des Kritikers »beim Gedanken an jemanden, dessen Literatur man für Abfall hält«,24 hatte Biller zu dem Schluss geführt, dass hinter Reich-Ranickis kosmopolitischem Ideal der Weltliteratur und der in sie eingebetteten großen deutschen Literaturtradition die nahtlose Anknüpfung an das vornationalsozialistische Ideal der deutschjüdischen Assimilation steckte, die Reich-Ranicki nach der Shoah, als sie nicht mehr möglich war, einfach nur wiederholen wollte. Und dieser Mann verwehrte Biller nun die höheren Weihen. Während Thomas Mann und Kafka frei in den Hallen der Hochliteratur herumschweifen konnten, stand Reich-Ranicki als Türhüter am Eingang und hielt dem Einlass begehrenden Biller den Satz entgegen: »Ich möchte mich zu dieser Art von Literatur lieber nicht äußern.« Und wie ein echter, ebenso mitleidiger wie hartherziger Türhüter sagt Reich-Ranicki dann auch noch, als Biller wieder einmal mit ihm telefoniert: »Sie haben überhaupt keine Ahnung, wer ich bin.«25 Eigentlich sollte man erwarten, dass Biller den Schatten, den Reich-Ranicki über seine literarische Karriere wirft, nicht los wird, dass er trübsinnig wird und die Flöhe im Pelz des Kritikers zu zählen beginnt. Aber so geht diese Autobiographie nicht aus. Vielmehr lässt am Ende der Kritiker den Schriftsteller Biller doch noch ein, und wenn nicht in die Hochliteratur, so doch in die eigene Wohnung im »Frankfurter Dichterviertel«; und in einer beinahe märchenhaften Wendung klären sich die Missverständnisse auf. Weder ist Reich-Ranicki der glatte Assimilant, für den ihn Biller gehalten hat, noch wird Biller von jüdischem Selbsthass verzehrt, wie Reich-Ranicki dachte. »Ich hielt Sie für einen jüdischen Antisemiten«, sagt Reich-Ranicki. »Und ich 22 Maxim Biller : Esra. Roman. Köln 2003, S. 212. 23 Maxim Biller: »Kennen Sie einen guten deutschen Witz, Herr Reich-Ranicki?« In: Ders.: Tempojahre (wie Anm. 2), S. 44–49; ders.: »Marcel Reich-Ranicki: Geliebter Lügner«. In: Ders.: Deutschbuch (wie Anm. 7), S. 102–104. 24 Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 84. 25 Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 104.

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dachte, Sie sind ein Jude, der keiner sein will«, antwortet Biller. Und so sitzen sie da, in ihren Sesseln, »wie zwei alte vergessene Emigranten in einem NabokovRoman«, und Frau Reich-Ranicki fragt »mit einem lichten, aufrichtigen Lächeln«: »Wer will noch Tee?«26 Die hochliterarischen Ideale sind nicht vergessen. Aber vielleicht sind sie auch nicht so wichtig. »Die Geschichten, die ich zu erzählen versuche,« hat Maxim Biller geschrieben, »sind ohne die Schoa nicht denkbar. Denn der Ernst und die Weisheit, welche jeder Figur eigen sind, die so etwas selbst oder in der Erinnerung eines ihr nahestehenden andern durchgestanden hat, dieser absurde Ernst und diese lebensverneinende Weisheit geben einer Literatur, wie ich sie beherrschen möchte, erst die Tiefe, die ich von ihr bei andern verlange. – Aber vielleicht ist alles ganz anders, und ich bin genauso ein Heuchler und Wichtigtuer wie jeder andere auch. Vielleicht hatten sie damals eben doch recht, die blassen tschechischen Kinder, und ich bin nichts weiter als ein kleines, dreckiges Zigeunerlein.«27

26 Biller : Der gebrauchte Jude (wie Anm. 11), S. 167. 27 Maxim Biller : »Kleine Autobiographie«. In: Ders.: Deutschbuch (wie Anm. 7), S. 331–333, hier S. 333.

Laura Schütz

Punctum, Punctum, Loop, Pop? Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

Axolotl Roadkill ist ein absoluter Bestseller, der in über 15 Sprachen übersetzt wurde.1 Das Presseecho war enorm; vor allem als bekannt wurde, dass Helene Hegemann Texte ohne Quellennachweis verwendete, entwickelte sich ein wahrer Literaturskandal.2 Das Skandalöse liegt dabei – wie Eckart Löhr treffend festgestellt hat3 – jedoch weniger in der intertextuellen Produktionsart von Axolotl Roadkill als in der Literaturkritik selbst, die teilweise einem veralteten Geniebegriff anhing, indem sie Hegemann beispielsweise als »Wunderkind«4 und »Originalgenie«5 pries. Die zweite kardinale Fehllektüre ergibt sich aus der Gleichsetzung der Autorin mit der Protagonistin, die auch vom Verlagsmarketing extrem forciert wurde.6 Das vermeintlich authentische Erleben einer wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen aus einer namentlich bekannten kultu1 Vgl. u. a. Hartmut Steinecke: »Das literarische Plagiat im Zeitalter der Intertextualität. Von E.T.A. Hoffmann bis Helene Hegemann«. In: Dietmar Goltschnigg, Charlotte Grollegg-Edler, Patrizia Gruber (Hg.): Plagiat, Fälschung, Urheberrecht im interdisziplinären Blickfeld. Berlin 2013, S. 97–104, hier S. 102. 2 Vgl. für einen groben Überblick über die ersten Pressereaktionen Thomas Ernst: »Wer hat Angst vor Goethes PageRank? Bewertungsprozesse von Literatur und Aufmerksamkeitsökonomien im Internet«. In: Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin/Boston 2012, S. 305–319, hier S. 316f. Allein zwischen dem 18. Januar und dem 19. Mai 2010 erschienen 127 journalistische Beiträge zu dem Roman in 24 überregionalen deutschsprachigen Printmedien. Vgl. Doris Moser : »Frame and Fame: Literaturvermittlung als Medienkommunikation am Beispiel von Helene Hegemann und Axolotl Roadkill«. In: Maik Bierwirth, Anja Johannsen, Mirna Zeman (Hg.): Doing contemporary literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. München 2012, S. 191–216, hier S. 204. 3 Eckart Löhr : »Authentizität ist keine Kategorie. Helene Hegemanns Axolotl Roadkill und die überforderte Literaturkritik«. In: literaturkritik 3 (2010). http://www.literaturkritik.de/pu blic/rezension.php?rez_id=14102, letzter Zugriff: 04. 08. 2014. 4 Tobias Rapp: »Das Wunderkind der Boheme«. In: Der Spiegel vom 18. Januar 2010, S. 124f., hier S. 124. 5 Andreas Kilb: »Plagiatsdebatte ›Axolotl‹. Sie zitiert Airen, und er zitiert Benn und Burroughs«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Feburar 2010. 6 Vgl. für eine ausführliche Darstellung des Frame-Buildings durch die PR-Abteilung des Verlages und die journalistische Publizistik: Moser : Frame and Fame (wie Anm. 2), S. 191–216.

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rellen Oberschichtsfamilie sollte das voyeuristische Bedürfnis einer möglichst breiten Leserschicht bedienen. Dabei wird im Roman, noch bevor ab der vierten Auflage ein detailliertes Quellenverzeichnis eingefügt wurde, das Artifizielle seiner Machart von der ersten Seite an thematisiert. Die Plagiatsdebatte soll an dieser Stelle nicht (erneut) dokumentiert und kommentiert werden.7 Auch soll nicht der Versuch einer ästhetischen Bewertung dieses stark polarisierenden Romans unternommen werden. Das Spektrum literaturkritischer Kommentare reicht von genial bis unlesbar. Die Beständigkeit des Romans scheint sich jedoch zu bestätigen, wie nicht nur Verkaufszahlen, Übersetzungen und die Verfilmung unter dem Titel Axolotl Overkill (2017) belegen, sondern auch der vielfältige Forschungsdiskurs, in den sich Axolotl Roadkill nur wenige Jahre nach Erscheinen bereits eingeschrieben hat. Es soll an dieser Stelle vielmehr die dem Roman eigene Ästhetik untersucht und die Frage erörtert werden, ob er pop-literarische Schreibverfahren eher aufgreift oder unterminiert. Kann Axolotl Roadkill – unabhängig von allen Skandalen und seiner unbestreitbaren Popularität – zum Kanon der Pop-Literatur gezählt werden?

1.

Ästhetische Merkmale

Formal orientiert sich der Roman laut Klappentext an dem Genre Tagebuch. Auch die Protagonistin Mifti spricht von »Tagebuchkram«.8 Erzählt wird meist aus der Ich-Perspektive der jugendlichen Protagonistin. Der narrative Modus wird dabei häufig durch den dramatischen Modus unterbrochen (meist durch Dialoge wörtlicher Figurenrede ohne verba dicendi). In mindestens zwei Punkten kann die Gattungszuschreibung jedoch nicht überzeugen. Während Tagebucheinträge gewöhnlich mit dem entsprechenden Datum versehen sind, löst sich bei Axolotl Roadkill die Chronologie komplett auf. Konstant im Präsens geschrieben verschwimmen die Grenzen zwischen retrospektivem und gleichzeitigem Erzählen, wobei sich zudem die Ebenen aus erlebender, im wahrsten Sinne reflektierender (also spiegelnder), niederschreibender und rezipierender Erzählinstanz permanent überlagern.9 Die Künstlichkeit des Schreibprozesses 7 Vgl. für die Plagiatsdebatte um Axolotl Roadkill u. a. die Publikationen von Philipp Theisohn: »Das Recht der Wirklichkeit. Plagiarismus als poetologischer Ernstfall der Gegenwartsliteratur«. In: Bierwirth u. a. (Hg.): Doing contemporary literature (wie Anm. 2), S. 219–239 oder Philipp Theisohn: Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay. Stuttgart 2012. 8 Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman. 2. Auflage. Berlin 2010, S. 43. 9 In einer Stelle kommentiert sie so den eigenen Schreibprozess durch eine fiktive Außenperspektive, die an Lehrerkommentare erinnert: »Wie du immer mal wieder ›sozusagen‹ an

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wird dabei ebenso thematisiert wie die Unmöglichkeit, zu einer individuellen, ›authentischen‹ Sprache zu finden. Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist. Diese Sprache ist sehr lebendig, obwohl einige Worte extrem überstrapaziert werden. Um die abgehobene Glätte glaubhaft durch all den passierenden Wahnsinn zu tragen, ist es wichtig, dass der Text fehlerfrei und perfekt gegliedert ist. Alles in allem bleibt über mich zu sagen: Diese junge Frau spielt geschmeidig auf der Klaviatur der Elemente wie eine Gazelle mit Panzerfaust.10

Die Sprache ist als Übernahme gekennzeichnet. Lebendigkeit und ›Echtheit‹ wird der Floskelhaftigkeit und der Oberfläche gegenübergestellt, wobei sich die Ebenen partiell auflösen. Im Dauerloop11 der Erzählung stellt sich ebenso wie im ›Wahnsinn‹ keinerlei Ordnung ein. Die einzelnen Aussagen konterkarieren sich so auf beinahe satirische Weise; die Selbstcharakterisierung demaskiert dann endgültig auf ironische Weise die Anschaulichkeit von Metaphern als Nonsens. Sprache wird stattdessen als etwas Floskelhaftes ausgestellt. Formulierungen wie »aus dem Gehege seiner/meiner Zähne entlassenen Satz«, »bis zum Getno« oder »aus unerfindlichen Gründen« erscheinen als Wiederholungsstrukturen.12 Die Erzählerin findet keine authentische Sprache mehr, Versatzstücke ›ihrer‹ Sprache sind aus der Alltagssprache und Intertexten gesampelt. Durch die Dekontextualisierung verschiedener heterogener Intertexte hebt sich erneut die Chronologie auf. Zudem erinnert dies nicht nur von ungefähr an die poststrukturalistische Theoriebildung, wonach es kein außerhalb der Sprache geben kann.13 Bezeichnenderweise wird sich auch familienintern darüber unterhalten,

10 11

12 13

Satzenden anbaust, überhaupt der Trick, mit Füllwörtern intellektuelle Sätze verworren und atemlos zu machen – beeindruckend, Mifti!« Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 45. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 49. An anderer Stelle konstatiert die Protagonistin: »ich habe in dieser Sexwelt keine Sprache«. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 115. Diedrich Diederichsen definiert den Loop folgendermaßen: »Der Loop symbolisiert aber nicht nur dessen unaufgeregtes Kreisen ohne Ziel, er ist auch die Form, in der man nicht nur Vergangenheit aufbewahren kann, sondern auch Präsenz inszenieren. Die Vignettenhaftigkeit der Aufbrüche erscheint in der Techno-Kultur sehr viel zugespitzter, auf die kurzen Ups achttaktiger Loops beschränkt.« Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. 252. Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), z. B. S. 60, S. 89, S. 101, S. 154, S. 173. Auch die Steigerung durch ›übelst‹ tritt wiederholt auf, z. B. »übelst geil« (S. 130), »übelst breit« (S. 142). Jacques Derrida schreibt in Grammatologie: »Selbst wenn die Lektüre sich nicht mit der Verdopplung des Textes begnügen darf, so kann sie legitimerweise auch nicht über den Text hinaus- und auf etwas anderes als sie selbst zugehen, auf einen Referenten (eine metaphysische, historische, psycho-biographische Realität) oder auf ein textäußeres Signifikat, dessen Gehalt außerhalb der Sprache, das heißt in dem Sinn, den wir diesem Wort hier geben, außerhalb der Schrift im allgemeinen seinen Ort haben könnte oder hätte haben können. […] Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« (Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main

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dass sich die Begriffe Signifikat und Signifikant nur schwer unterscheiden lassen.14 Dabei stellt sich die Frage, ob es in Axolotl Roadkill überhaupt noch ein Signifikat gibt, ob auf der Handlungsebene noch etwas passiert, ob ein Erleben noch stattfindet. Diese Unsicherheit verstärkt sich durch die Unzuverlässigkeit der Erzählerin, die sich auch anhand widersprüchlicher Aussagen zeigt: So ist das Nachbarskind abwechselnd zwei oder drei Jahre alt oder besteht die Klasse einmal aus 22, an anderer Stelle aus 27 Schülern.15 In der Widersprüchlichkeit der Narration erweist sich eine vorgängige Wirklichkeit zunehmend als Illusion. Unabhängig davon bleibt eine gewisse Deutungsambivalenz bestehen, die partiell durchaus groteske Züge aufweisen kann. Dies geschieht offensichtlich auf struktureller Ebene, als Ausdruck der »entfremdeten Welt«, indem sich das Vertraute, Alltägliche plötzlich als fremd und unerklärlich geriert.16 Der Realitätsstatus lässt sich nur schwer überprüfen. So gilt in Ansätzen auch für Axolotl Roadkill die von Wolfgang Kayser bereits in den 1950er Jahren getroffene definitorische Festlegung, dass die »verfremdete Welt« dem Rezipienten »keine Orientierung [erlaubt], sie erscheint als absurd«.17 Auch groteske Körper werden in verschiedenen Varianten präsentiert, etwa als Vermischung des Organischen mit dem Anorganischen18 oder der Verschränkung des Tierischen mit dem Menschlichen. Aus meinen Armen treten dicke, dunkelrote röhrenförmige Strukturen hervor. Adern, durch die sich kleine Insekten quetschen. Sie werden immer größer, bis meine Blut-

14 15

16 17 18

1974, S. 274) Die vielzitierte Formulierung »Il n’y a pas de hors-texte.« (Jacques Derrida: De la Grammatologie. Paris 1967, S. 227) ist dabei häufig missverstanden worden: »Es geht […] nicht um eine Verleugnung der Wirklichkeit, sondern um methodische Strenge: Die Lektüre muss innerhalb des Textes verbleiben, weil ihr ein textäußeres Signifikat nicht zur Verfügung steht […]. Die Lektüre, heißt das, muss sich mit den Signifikanten bescheiden, mit dem, was sich – auf die eine oder andere Weise – lesen lässt. Sie muss auf diese Signifikanten und ihre Verteilung in einem Text aufmerksam sein, auf ihre Konstellationen, ihre Wiederholungen, ihre Widersprüche.« (Susanne Lüdemann: Jacques Derrida zur Einführung. Hamburg 2011, S. 78). Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 188. So wird zunächst über »den dreijährigen Äneas« (Hegemann: Axolotl Roadkill [wie Anm. 8], S. 19) geschrieben, anschließend wird dasselbe Kind »zweijährige[s] Scheißbalg« (S. 90) tituliert. Die zweite Terminologie wird sogar in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Sätzen doppelt gesetzt. Die Klasse besteht aus »zweiundzwanzig mit ihrem Imponiergehabe auffallenden Jugendlichen« (S. 96), später handelt es sich um eine »siebenundzwanzigköpfige Klassengemeinschaft« (S. 99). Vgl. Wolfgang Kayser : Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg 1957, S. 198. Kayser : Das Groteske (wie Anm. 16), S. 199. So heißt es beispielsweise an einer Stelle: »Meine Existenz setzt sich momentan nur noch aus Schwindelanfällen und der Tatsache zusammen, dass sie von einer hyperrealen, aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten-Installation halb zerfleischt wurde.« Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 11.

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gefäßwände zerplatzen und aus meinem Körper dunkle Mehlwürmer rauskriechen, über mich drüberkrabbeln, zu platten Käfern mutieren, deren Fühler dreimal so lang sind wie ihre Körper.19

Mit Michail Bachtin lassen sich gleich mehrere Elemente des grotesken Leibes identifizieren: Die Vermischung des Menschlichen mit dem Tierischen, die Sprengung der Körpergrenzen, der »innere[] Anblick des Leibes […]: das Blut, das Gedärm, das Herz und die anderen inneren Organe. Der innere und der äußere Anblick des Leibes vermengen sich oft in einer Gestalt.«20 Auch folgende Beschreibung körperlicher Grenzüberschreitung scheint auf Axolotl Roadkill zuzutreffen: Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes […] Essen, Trinken, Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib – alles das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes. In allen diesen Vorgängen des Körper-Dramas sind Lebensanfang und Lebensende untrennbar ineinander verflochten.21

Allerdings schwächt sich die groteske Wirkung durch die andauernden Wiederholungen ebenso ab wie durch den bereits thematisierten Wegfall der außertextlichen Wirklichkeit. Auch der stetige Drogenkonsum fungiert als Erklärungsmuster und mildert so das Befremden im Akt der Rezeption. Das ›KörperDrama‹ orientiert sich bei Hegemann eher an den Praktiken der Postdramatik. Hegemanns Art zu schreiben ist durch das postdramatische Theater und dessen Weiterentwicklungen etwa in Form von Ren8 Polleschs Depräsentationstheater beeinflusst. Das Theater soll dabei Dinge eben explizit nicht repräsentieren,22 die Figuren sind gänzlich entpsychologisiert. Figuren und Handlung tendieren zur vollständigen Auflösung. Einzelne Handlungselemente erscheinen enthierarchisiert, gleichzeitig und repetitiv.23 In diesen Theaterformen sind Sampling und Palimpsest generelle Praxis, der alte Geniebegriff erscheint als Antagonismus. Aus dieser Tradition stammend erweist sich auch Christoph Schlingensief in seinem letzten Interview als Verteidiger Hegemanns: 19 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 60f. 20 Michail Bachtin: »Die groteske Gestalt des Leibes«. In: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980 [1969], S. 195–202, hier S. 196f. 21 Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes (wie Anm. 20), S. 197. 22 Vgl. z. B. Franziska Bergmann: »Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von Ren8 Pollesch. Zur Verschränkung von Neoliberalismus und Gender«. In: Christine Bähr, Franziska Schößler (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Bielefeld 2009, S. 193–208, hier S. 196. 23 Vgl. u. a. Muriel Ernestus: Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten. Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch. Berlin 2012, S. 201–205.

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Von daher sind für mich die Diskussionen um Helene Hegemanns Buch »Axolotl Roadkill« auch so absurd. Im Theater wird permanent auf Texte und Zitate zurückgegriffen, aus denen dann Handlungen oder Pseudo-Handlungen konstruiert werden. Das ist gut und legal und ich bin schwer erstaunt, dass in anderen Kunstformen, allen voran der Literatur und auch der Oper, ein anachronistischer Purismus gelebt wird, der letztlich den alten Geniebegriff und die Unantastbarkeit der Originalität beschwört.24

Heiner Müller, einer der frühesten und wichtigsten Vertreter der Postdramatik und Lehrer für Ren8 Pollesch und viele andere,25 wird dabei nach seinem Tod teilweise selbst zur Figur, etwa – unvergessen – in Christoph Schlingensiefs AntiTalkshow »Talk 2000« in der Verkörperung durch den Schauspieler Achim von Paczensky, der als wiederkehrender Part die Getränke serviert und in einer Episode mit der ahnungslosen Ingrid Steeger allein gelassen wird. Ob es sich hier um einen ironischen Kommentar zum »Tod des Autors« handelt oder schlicht um Prozesse der Profanierung einer Überfigur, kann nicht abschließend geklärt werden. Während bei Schlingensief Komik noch klar über die im kulturellen Gedächtnis gespeicherte Abweichung und Steegers Unwissen erzeugt wird, ist dies bei Hegemann nicht mehr so eindeutig. Auch hier wird die Ikone gewissermaßen in einer Alltagssituation profaniert, wie folgender Dialog mit dem Fahrer eines Nichtrauchertaxis26 verdeutlicht: ›Ja. Nur einen habe ich hier drin mal rauchen lassen. Der stand da so und hatte sich gerade ’ne Havanna angezündet, ich bin vorgefahren, und er sagt: ›Oh, jetzt habe ich vergessen, ein Rauchertaxi zu bestellen.‹ Und ich habe gesagt: ›Herr Müller, kein Problem, steigen Sie ein.‹ Dann haben wir alle Fenster runtergekurbelt, sind mit höchstens fünf km/h die Oranienburger Straße entlanggefahren und wenn jemand blöd ins Auto geguckt hat, haben wir gewunken wie dieser Scheich, wie heißt der denn noch mal?‹ ›Das ist aber nett von Ihnen gewesen.‹ ›Ja, ich meine, Heiner Müller, der sagt dir bestimmt nichts, aber in so einer Situation muss man schon mal …‹ ›HEINER MÜLLER?‹ ›Heiner Müller.‹27

24 Christoph Schlingensief im Interview mit Max Dax. In: Spex. Magazin für Popkultur. Nr. 328, Sept./Okt. 2010, S. 37–40, hier S. 38. 25 Heiner Müller war Gastprofessor an der Uni Gießen, wo Ren8 Pollesch angewandte Theaterwissenschaften studierte, vgl. Ren8 Pollesch im Interview mit Philipp Ekardt und Jan Kedves. In: Spex. Magazin für Popkultur (wie Anm. 24), S. 44–48, hier S. 48. 26 Dieser Fahrer ist durch seine frühere Tätigkeit als Radiomoderator zudem auch Teil einer kulturellen Boheme. Doch die kulturelle Oberfläche erweist sich lediglich als Fassade der Barbarei, die Protagonistin wird im Anschluss von ihm brutal vergewaltigt. Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (Anm. 8), S. 114–116. 27 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 113f.

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Der Dialog erscheint beinahe tautologisch. Der Name Heiner Müller wird zum bloßen Begriff, zur popkulturellen Oberfläche. Dabei bedient sich Hegemann auch einiger ästhetischer Elemente, wie der Überschreibung anderer Texte und der Polyglossie,28 die sich auch in Müllers Stücken – etwa in Hamletmaschine (1977) – finden lassen. Auch Polleschs Stücke werden von Hegemann nicht nur passiv rezipiert, 2011 schrieb und inszenierte sie zusammen mit Kathrin Krottenthaler (die bereits unter anderem mit Christoph Schlingensief, Ren8 Pollesch und Schorsch Kamerun zusammenarbeitete) für das Spielart-Festival das Theaterstück Lyrics. Dieses Gedicht wurde vor ca. 20.000 Jahren geschrieben und ist immer noch aktuell – unter dem Mentorat von Ren8 Pollesch.29 Es ist eine Form des AntiTheaters, in der sich dilettantische Schauspielerdarsteller in einer ›Theater-AG‹ ihren Rollen widersetzen. Dieses Rollenspiel wird von popkulturellen Oberflächen überlagert. So handelt das Stück – wie es im Programmheft heißt – »von den Abgründen popkultureller Identitätsproduktion und setzt sich kritisch und unterhaltsam mit Profilierungsparanoia und Selbstvermarktung im Namen der Kunst auseinander«.30 Dafür sollen »die Tiefen der Popkultur« beleuchtet werden als ein »[J]onglieren zwischen Madonna, Cupcakes und Hamlet«.31 Hier zeigen sich erneut die Popkultur-typischen Loop-Strukturen. Das für Polleschs ›Diskurstheater‹ typische Verfahren, Theorie-Diskurse auf unterhaltsame Weise zu präsentieren,32 findet auch in Axolotl Roadkill Anwendung, beispielsweise, als die Nachbarn bei Mifti baden. Durch den Türspalt hat man dann immer gehört, wie sie sich so pseudo-echauffiert über Feminismus gestritten haben und über die feministische Allianz mit dem Patriarchat und die weibliche, von Männern durch diese ganze Pornographie umstrukturierte Sexualität, die eigentlich gar keine mehr ist. Die Gebärmutter sei ja auch bloß was diskursiv Erzeugtes und so. Und das war so super, weil da währenddessen keiner von beiden aus der Badewanne rauskam, um sich kurz mal zu distanzieren, sie wollten ja 28 Mit der Polyglossie wird die Formelhaftigkeit der Sprache bei Hegemann geradezu überbetont, etwa wenn die Schwester der Protagonistin vorwirft – eingeleitet durch den Hegemann-typischen verbfreien lakonischen Auftakt »Annika nur so:« – »›Mifti, du hast die Sprache zerstört‹«, woraufhin die Protagonistin antwortet: »I totally agree und frage trotzdem: ›Warum?‹« Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 52. 29 Die Uraufführung fand am 24. 11. 2011 im i–camp / Neues Theater München statt. Die beiden Frauen kooperierten u. a. erneut für Hegemanns Inszenierung von Musik (nach Frank Wedekind), die am 7. Dezember 2013 an der Oper Köln Premiere hatte. 30 Programmheft von der Uraufführung. Helene Hegemann und Kathrin Krottenthaler : »Lyrics. Dieses Gedicht wurde vor ca. 20.000 Jahren geschrieben und ist immer noch aktuell«. Spielart Festival München 18. November bis 4. Dezember 2011. München 2011, S. 4. 31 Hegemann, Krottenthaler: Lyrics (wie Anm. 30). 32 So fügt Pollesch jedem seiner gedruckten Theaterstücke einen speziellen Theorietext als Lektüretipp bei, vgl. Ren8 Pollesch: »Kill your darlings«. Stücke. Mit einer Laudatio von Diedrich Diederichsen. Reinbek 2014.

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nicht nackt durch unsere Wohnung laufen. Schreckliche Leben sind der größte Glücksfall.33

Der Diskurs über die Denaturierung von Geschlecht wird so mit Situationskomik verknüpft.34 Ob dabei die Theorie überhaupt noch durchdrungen und vermittelt wird oder alles als leeres Geraune erscheint, wird am Ende dieses Aufsatzes thematisiert. Während die Postdramatik eher Einfluss auf die Ästhetik ausübt, gibt es wiederum etliche intertextuelle Verweise, die auf Motivkomplexe zielen.

2.

Intertextuelle Verweissysteme

Es soll an dieser Stelle nicht der Versuch unternommen werden, sich an der Plagiatsdebatte zu beteiligen. Bereits bevor in Folgeauflagen die einzelnen Fremdreferenzen detailliert gelistet wurden, wird textintern mehrmals von der zugleich schreibenden Protagonistin die Unmöglichkeit einer individuellen Sprache thematisiert, ebenso wie der Bezug zu Intertexten. Für Hegemann ist dabei »[d]ie totale Verwischung der Trennlinie zwischen dem sogenannten eigenen ›Selbst‹ und ›Fiktion‹ […] unabdingbar.«35 Der Playgarism als ästhetisches Verfahren erscheint dabei selbst als markierte Übernahme; nicht nur wird der Autorin Kathy Acker dezidiert gedankt, sondern sogar die viel zitierte ›Offenlegung‹ des Verfahrens steht in einem intertextuellen Verweissystem. ›Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspirationen finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …‹ ›Straßenschilder, Wolken …‹ ›… Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.‹ ›Es ist also nicht von dir?‹ ›Nein. Von so ’nem Blogger.‹36

Laut Hegemann sind Teile des Zitats von Jim Jarmusch übernommen, der wiederum Jean-Luc Godard zitiert. Das Zitat erschien zudem bereits in einem Buch 33 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 21. 34 Auch auf die Denaturierung des Penis in Form eines Dildos, wie sie beispielsweise Beatriz Preciados Kontrasexuelles Manifest (Berlin 2003) propagiert, wird auf satirische Weise verwiesen, als ein zweidimensionaler »Schwanz aus Pappe« seinen Zweck nicht erfüllen kann. Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 29. 35 Helene Hegemann im Interview mit Max Dax und Anne Waak. In: Spex. Magazin für Popkultur (wie Anm. 24), S. 48–53, hier S. 48. 36 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 15.

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von Paul Arden.37 Die labyrinthische Überlieferungsgeschichte lässt die Grenzen zwischen Original und Kopie, zwischen Ursprung und Verbreitung fließend erscheinen. Doch wie verhält es sich nun mit den Intertexten jenes ›Bloggers‹?

2.1

Strobo von Airen

In späteren Auflagen von Axolotl Roadkill sind die intertextuellen Bezüge einzeln im Anhang gelistet. Obwohl sich die Übernahmen aus Airens 2009 auch als Buch veröffentlichtem Blog Strobo auf stolze 21 Stellen summieren,38 und deren anschließende Offenlegung mehr als zu begrüßen ist, handelt es sich dabei – trotz der überschneidenden Sujets auf der histoire-Ebene – exzessiver Drogenkonsum und ungezügelte Sexualität im Ambiente legendärer Berliner (Techno-)Clubs – um rein sprachlich-terminologische Übernahmen, die nicht nur ein bestimmtes Milieu charakterisieren sollen, sondern als Metasprache teilweise auch markiert sind. Strobo erscheint dabei deutlich ›authentischer‹; sein selbst zur Figur gewordener Freund Bomec konstatiert im Nachwort, dass Airen »genauso spricht wie er schreibt […]. Airen ist in gewisser Weise wirklich so, wie er schreibt. Authentisch. Gnadenlos ehrlich.«39 Strobo ist trotz der – wie es in einer Rezension heißt – »gleichmäßig dahinfließende[n] Litanei«40 eines andauernden Drogenrausches eher konventionell chronologisch erzählt. Es gibt weder sich auflösende Erzählperspektiven noch sonstige experimentelle oder gar groteske Erzählelemente. Semantische Leerstellen existieren kaum, alles ist ausformuliert. Insgesamt handelt es sich um einen streckenweise etwas zu monoton geratenen Selbsterfahrungsbericht, der bei der Lektüre gerade durch die vorgebliche Authentizität durchaus auch das voyeuristische Interesse zu befriedigen vermag. Diese autobiographische Lesart wurde vom Marketing bei Helene Hegemann ebenfalls extrem forciert. Allerdings wird dieser Lesart textintern von Anfang an eine klare Absage erteilt. Es sind Aspekte der Literarizität, Selbst- und Fremdreferenzialität und Deutungsambivalenz, die beide Texte deutlich voneinander unterscheiden. Dies zeigen auf evidente Weise die Romananfänge: Ich habe mindestens zwei Kilo Gras geraucht, dutzende Bongs zerbrochen, unzählige Joints gebaut, stundenlang gekotzt, nächtelang geschwiegen. Ich kiffe seit Ewigkeiten. Mit vierzehn die erste Bong mit einem Freund im Proberaum, mit sechszehn [sic!] das 37 Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill. 4. Auflage. Berlin 2010, S. 206. 38 Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill. 4. Auflage (wie Anm. 37), S. 203–206. Philipp Theisohn spricht gar von 29 Passagen, vgl. Theisohn: Literarisches Eigentum (wie Anm. 7), S. 51. 39 Bomec: »Der Club der virtuellen Dichter«. In: Airen: Strobo. Berlin 2009, S. 165–169, hier S. 165. 40 Kilb: Plagiatsdebatte »Axolotl« (wie Anm. 5).

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erste Mal was gemerkt, in Freiburg, auf einem Gitarrenworkshop abends im Jazzhouse, es flashte mich so dermaßen, meine Wahrnehmung wie ein Stroboskop[.]41

Ursache und Wirkung sind hier klar aufeinander bezogen. Der Anfang erscheint wie ein Erlebnisbericht; Deutungsambivalenzen und Leerstellen lassen sich nicht ausmachen. Die Sprache ist zumindest am Romananfang bestenfalls funktional zu nennen, ohne ästhetische Formungen. Das Genre dieser Selbsterfahrungs-Blog-Literatur variiert deutlich, wobei auch die einzelnen Blogs intertextuell aufeinander Bezug nehmen. Das Erleben ist authentisch, auch wenn sich das Erlebte an den Maßgaben der Blogliteratur orientiert, das heißt: bestimmte Orte nur aufgesucht werden, um anschließend davon berichten zu können. Wer hingegen den Anfang von Axolotl Roadkill liest, muss sich schon sehr wundern, dass Verlagsmanagement und frühe Rezensionen – lediglich aufgrund einiger biographischer Überschneidungen zwischen Autorin und Protagonistin – die Geschäftsgrundlage dieses Romans derart verkannten. O.k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen angstgequälten Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen schreien. Kein Hauptstraßenlärm und kein Stöhnen von leidenden, sich durch Stärke und Hässlichkeit hervorhebenden Monstern, die gerade entfesselt werden. Nur die Klaviatur der absoluten Dunkelheit, das Kreischen im Kopf, dieses unrhythmische Trommeln, scheiße. Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur.42

Der andauernde Bruch im sprachlichen Register ist evident. Der Alptraum transportiert zugleich Langeweile und absolute Existenzangst. Die Wahrnehmungsebenen verschwimmen nicht nur hinsichtlich des Realitätsstatus (ist der nicht vorhandene Hauptstraßenlärm Teil der realen Welt oder der Traumwelt? etc.), sondern auch als Synästhesie (›Klaviatur der absoluten Dunkelheit‹). Doch bevor die Traumanalyse ihren Anfang nimmt, wird ihr bereits der Boden entzogen, indem auf die Manieriertheit des geschilderten Traums verwiesen wird. Die Reflexion des Schreibprozesses erweist sich als romaninterne Konstante – auch um fremde Übernahmen zu markieren. Der geschilderte Traum ist dabei gerade nicht ›authentisch‹, sondern in seinem Pathos und seiner Konstruktion in nicht unerheblichem Ausmaß Malcolm Lowrys Roman Unter dem Vulkan (1947) entnommen. … Nacht – und wieder einmal das nächtliche Ringen mit dem Tode, das von dämonischen Orchestern erbebende Zimmer, die Fetzen angstgequälten Schlafes, die Stimmen 41 Airen: Strobo (wie Anm. 39), S. 7. 42 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 9.

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vor dem Fenster, die eingebildeten Besucher, die in verächtlichem Ton unausgesetzt meinen Namen rufen, die Spinette der Finsternis.43

Es ist das auf abstruse Weise gesteigerte Pathos, das Hegemann gleichermaßen fasziniert und angestrengt erscheint, weshalb sie ihren eigenen Romanseinstieg mit einem »neutralisierenden Satz« abschließt44 und zugleich als Artefakt markiert. Markant ist, dass sich Emotionen offensichtlich auch als Überschreibungen transportieren.

2.2

Weitere intertextuelle Verweise: Mifti als psychotische Göre?

Einen weiteren recht weit gespannten intertextuellen Referenzrahmen eröffnet Hannelore Schlaffer, indem sie Axolotl Roadkill – mit Einschränkungen – der Gören-Literatur zuordnet, deren kindliche Protagonistinnen männlich-wild, der elterlichen Kontrolle entrissen, sich Zwängen wie der Schulpflicht widersetzen, ohne dabei richtig kriminell zu werden.45 Das intertextuelle Referenzsystem erscheint riesig: von frühen Vertretern wie Emmy von Rhodens Der Trotzkopf (1885), dem Prototyp der Lindgren’schen Pippi Langstrumpf (1945) über Vladimir Nabokovs Lolita (1955) bis hin zu Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008).46 Obwohl es auf der histoire-Ebene einige Übereinstimmungen gibt, wie das quasi eltern- und kontrolllose Aufwachsen, treten die Differenzen doch deutlicher hervor und werden von Schlaffer auch teilweise benannt: Zunächst einmal handelt es sich nicht um Kinder im eigentlichen Sinn, sondern um Heranwachsende, die nicht erwachsen werden wollen. So vertritt Mifti auch eine dezidierte Haltung gegenüber dem Erwachsenwerden: »Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden.«47 Dieses Motiv spiegelt sich zugleich im Leitmotiv des Axolotls, einem mexikanischen Schwanzlurch, der im Larvenstadium verharrt, so sogar die Geschlechtsreife erlangt, und in seiner pink eingefärbten Gestalt auf dem Titelbild durchaus an die Künstlichkeit von ›Hello Kitty‹-Figuren erinnert. Eine Entwicklung oder gar ein Reifeprozess findet nicht statt. Insofern ist Antonius Weixlers Kategorisierung der »autodiegetischen Erzählung der 16-jährigen Mifti« als »Entwicklungs- und Pubertätsroman« zu widersprechen.48 Statt Entwicklung ist der Protagonistin viel eher bereits der Tod 43 Malcolm Lowry : Unter dem Vulkan. Roman. Mit einem Vorwort des Autors. Aus dem Englischen übersetzt von Susanna Rademacher. Reinbek 1988, S. 54. 44 Vgl. Helene Hegemann im Interview mit Max Dax und Anne Waak (wie Anm. 35), S. 52. 45 Vgl. Hannelore Schlaffer : »Die Göre – Karriere einer literarischen Figur«. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. März 2011, H. 3, S. 274–279. 46 Vgl. Schlaffer : Die Göre (wie Anm. 45), S. 274f. 47 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 17. 48 Antonius Weixler : »Post-autoritäre Authentizität. Eine Rezeptionsanalyse von Eric Friedlers

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eingeschrieben (›Roadkill‹); Adoleszenz und endgültiger Verfall sind dabei in eins gesetzt, sie erscheinen weniger als chronologische Abfolge, denn als Loop. Diedrich Diederichsen konstatiert: »Der Loop oszilliert zwischen der Bestätigung der Person und ihres Werdens, weil er ihr ein stabiler Spiegel ist, und der Regression in einen Kerker ohne Werden, wenn die Person mit dem Loop verschmilzt.«49 Auch Michael Peter Hehl charakterisiert das »Bewegungsmuster« der Protagonistin als »nicht teleologisch angelegt, sondern zirkulär«.50 Die »Dauer-Adoleszenz« entspricht dabei einem »kulturelle[n] Muster innerhalb des Milieus, in dem die Handlung situiert ist«.51 Es handelt sich dabei um eine kulturelle Oberschicht, die zugleich zutiefst antibürgerlich auftritt.52 Der absolute Antagonismus zum Bildungsroman lässt sich auch bei den Klassikern der Gören-Literatur finden, allerdings nicht die Aufhebung der Zeitstrukturen, wie sie sich bei Hegemann nicht nur hinsichtlich der Chronologie,53 sondern auch hinsichtlich der Erzählhäufigkeit von Ereignissen ausmachen lassen. Diese Unregelmäßigkeiten simulieren wiederum Rauschprozesse, etwa nach der Einnahme von Ketamin: »Die Vergangenheit und die Gegenwart zerfließen, der Raubfischrachen und mein hysterisches Umfeld überblenden sich gegenseitig, aus meinem Zeitempfinden wird ein großes Feld aufeinandergestapelter Erinnerungen.«54 Weiterhin unterscheidet sich Axolotl Roadkill durch die psychische Devianz. Es ist nicht nur die Pubertät, die hier als psychischer Ausnahmezustand erscheint. Dabei ist die Psychose von den verschiedenen Fachmännern und -frauen und der Protagonistin längst gelabelt und kategorisiert. So reflektiert die Protagonistin beispielsweise: »Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung inter-

49 50

51 52

53 54

Aghet, Helene Hegemann Axolotl Roadkill und Margaux Fragosos Tiger, Tiger«. In: Ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin 2012, S. 321–351, hier S. 327. Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping, Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. 2. Auflage. Köln 2009, S. 36. Michael Peter Hehl: »Digitale BohHme vs. Bildungsbürgertum? Kultursoziologische Perspektiven auf Helene Hegemanns Axolotl Roadkill«. In: Johanna Bohley, Julia Schöll (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2011, S. 259–278, hier S. 262. Hehl: Digitale BohHme vs. Bildungsbürgertum? (wie Anm. 50), S. 263. Auch ältere Protagonisten (wie Ophelia, Alice oder Miftis Geschwister) weisen dabei deutlich infantile Züge auf. So konstatiert auch Lothar Müller, dass eben kein Generationenkonflikt geschildert werde, sondern ein »in sich abgeschlossene[s] Milieu[], in dem die Generationsunterschiede im Innern verblassen zugunsten der gemeinsamen Abgrenzung von jener fernen Außenwelt«. Lothar Müller : »Sex, Lügen und Bücher«. In: Süddeutsche Zeitung vom 24. Oktober 2010, S. 11. Besonders markant erscheint die Aufhebung der Chronologie beispielsweise auch, indem das ›Vorwort‹ erst auf Seite 23 erfolgt. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 36.

Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

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essanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt.«55 Die psychologischen Diagnosen heben sich dabei gegenseitig auf, etwa in den Worten der Schwester : »Selbst wenn du heutzutage verhaltensgestört bist und selbst wenn du eine gewisse Notfallnormalität aufrechtzuerhalten imstande bist, stellt sich Erfolg nicht von selbst ein – obwohl deine abweichende Persönlichkeitsstruktur dich zu einer Besonderheit hat werden lassen.«56 Die psychopathologischen Kategorien werden zu einer Modeerscheinung (›heutzutage‹), wirken inhaltsleer (›Notfallnormalität‹) und erscheinen als modische Accessoires vermeintlicher Individualität, wie andernorts, beispielsweise bei den Klassikern der Pop-Literatur, die diversen Markennamen. Die psychologischen Diagnosen verlieren dabei jede Spezifik: »Ach, diese Borderlinesyndromscheiße ist gleichzusetzen mit unklaren Oberbauchbeschwerden. Das sagen die immer, wenn ihnen nichts mehr einfällt.«57 Obwohl das assoziative Schreiben beizeiten etwas an die Praktiken der Psychoanalyse erinnert, zeichnet sich ein wie auch immer gearteter Therapieerfolg nicht ab. Auch als sich Ophelia und Mifti in EMails ihre Träume schildern, findet eine Deutung nicht statt, da nicht aufeinander eingegangen wird, jede am »Spiegel […] [ihrer eigenen] Oberflächlichkeit«58 verharrt. Vielmehr präsentiert sich die Psychose durch die Etikettierung selbst wieder als Oberfläche ohne Ursprung und Verlauf. Obwohl sich die Familie hier deutlich als dysfunktional geriert, erscheint die Psychose nicht als individuelle, sondern als kollektive. Dabei erweisen sich die (terminologischen Festlegungen von) psychischen Pathologien ebenso wie die Sprache generell als Kollektivgut.

2.3

Mögliche weitere intertextuelle Verweise

Teilweise können Verweisstrukturen auch indirekt funktionieren. Wenn beispielsweise eine Nebenfigur Ophelia benannt wird, könnte dies im Akt der Rezeption einen intertextuellen Verweis auf Shakespeares Hamlet oder Heiner Müllers Hamletmaschine evozieren. An anderer Stelle wird ein »über fünfzigjähriger Hardcoregastronom überdurchschnittlichen Einkommens« beschrieben, mit »einer Zwanzigjährigen an der Hand, die Gloria heißt und entweder geistig behindert oder auf einen Pelzmantel scharf ist.«59 Dabei müssen sich Pelzmantel und geistige Behinderung gar 55 56 57 58

Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 24. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 52. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 75. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 30. Die Traumschilderungen sind auf den Seiten 28–31 zu finden. 59 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 33f.

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nicht unbedingt ausschließen. Der Pelzmantel erscheint wie ein Relikt vergangener Zeiten, nicht als Fetisch-Objekt heranwachsender Frauen der nuller Jahre. Doch es geht immer noch um Ruhm und ›Glanz‹, wie schon bei Irmgard Keuns ebenfalls tagebuchartig verfasstem Roman Das kunstseidene Mädchen (1932),60 in dem die Protagonistin einen Feh stiehlt, um sich gesellschaftliche Achtung zu verschaffen. Inwiefern derartige Anspielungen intendiert sind, kann nicht abschließend geklärt werden – es zeigt sich nur einmal mehr, wie weit intertextuelle Referenzsysteme im Akt der Rezeption reichen können. Markant ist lediglich der Anachronismus des Pelzmantels als Fetisch-Objekt und die Hegemann-typische Auflösung vermeintlicher Antagonismen. Die sonstigen modischen Insignien der sozialen Schicht folgen dann jedoch wieder eher dem Markenarchiv der PopLiteratur : »HermHs-Tasche aus hellblauem Kalbsleder«, »Margiela-Cardigan«, »Acne-Jeans«, »Flanellminirock von Marc Jacobs«,61 wobei sich die Protagonistinnen aus der kulturellen Oberschicht nicht von der – in ihren Augen einfallslosen – Maskerade blenden lassen.

2.4

Pop-Literatur

Wie verhält sich Axolotl Roadkill zu den Klassikern der Pop-Literatur? Bereits Maxim Biller nennt es in seiner hymnischen Rezension in der FAZ in einem Atemzug mit Christian Krachts Faserland (1995).62 Auf der histoire-Ebene bieten sich etliche Übereinstimmungen: das gehobene Milieu und die damit verbundene Wohlstandsverwahrlosung, Drogenexzesse und Selbstentgrenzung, gewalttätige heterosexuelle Handlungen und latente Homosexualität (bei Kracht deutlich subtiler als bei Hegemann)63 und Rastlosigkeit, die sich bei Hegemann eher als innerliche und innerstädtische, bei Kracht als reales Reisen präsentiert. Nicht zu unterschätzen ist jedoch der Unterschied zwischen gerade noch anhaltender Adoleszenz der Protagonistin bei Hegemann, die sie durchaus auch als Opfer erscheinen lässt, und einer künstlichen Adoleszenz des Protagonisten bei Kracht. 60 Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. Mit zwei Beiträgen von Annette Keck und Anna Barbara Hagin. 6. Auflage. München 2004. 61 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 34. 62 Christian Kracht: Faserland. Roman. München 2002 [1995]. Vgl. Maxim Biller: »›Glauben, lieben, hassen. Ein deutsches Romandebüt mit einer solchen Kraft hat es lange nicht gegeben‹: Helene Hegemanns Axolotl Roadkill ist ein Buch der Revolte gegen die Welt der Erwachsenen«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. Januar 2010. 63 Moritz Baßler offeriert dabei in seinem kanonischen Werk Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten eine Lesart von Faserland als »Problemstudie über ein verpasstes Comingout«. Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 113.

Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

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Auf der discours-Ebene gibt es weitere Übereinstimmungen. So analysiert Moritz Baßler exemplarische Stellen von Faserland: Was unterscheidet einen literarischen Text von einem vollgeschwallten Stück Papier? Nun, unter anderem vielleicht das Gespür für den Satz. ›Sylt ist eigentlich super schön‹ wäre so ein typischer Satz aus der Krachtschen Rollenprosa. Die redundanten Adverbien ›eigentlich‹ (einschränkend) und ›super‹ (verstärkend) machen aus dem simplen ›Sylt ist schön‹ eine Stilparodie, die den Sprecher und seine Verfassung ebenso charakterisiert wie die zweite Portion ›Scampis mit Knoblauchsoße‹. Das Erzähl-Ich hat dabei für seine Sprache selbst kein Bewußtsein, man könnte sagen, daß an jedem seiner Sätze noch ein anderer (sagen wir vereinfacht: der Autor) mitspricht. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens nennt Bachtin ›das Bild von einer fremden Sprache und Weltanschauung, die abgebildet wird und gleichzeitig abbildet‹.64

Auch in Axolotl Roadkill lassen sich teilweise derartige Satzkonstruktionen und eine gewisse Sammelwut für ›fremde‹ Sätze nachweisen. Faserland erlebt dabei zurzeit fast schon ein intertextuelles Revival. Zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschafft Alexander Schimmelbusch mit Die Murau Identität65 ein lustiges Pastiche, das den Kracht’schen Erzählgestus zugleich mit einem untoten Thomas Bernhard, intertextuellen Verweisen auf sein Werk und seine Sprache zu vereinen weiß. Somit spiegelt sich die popkulturelle Oberfläche ein weiteres Mal, wobei sich auch hier die alte Frage der Avantgarde stellt, wie oft sich Tabubrüche zelebrieren lassen bzw. ob sich ein Erzählgestus samplen lässt. Es handelt sich hier gewissermaßen um ein Paradox nach dem Motto: Der Autor ist tot, es lebe der Autor. Daran anknüpfend ließe sich auch die Frage stellen, ob Hegemanns Roman nun Pop-Literatur auf höchster Stufe ist, oder bereits deren Verfall markiert. Zunächst scheint Axolotl Roadkill den wichtigsten Kriterien von Pop-Literatur zu entsprechen. Erstens dient »Popmusik als Thema und Formatvorlage«,66 etwa wenn über verschiedene Formen von Popmusik diskutiert wird,67 ein »sagenumwobene[r] Sachtext über die Praxis der DJ-CULTURE« gelesen wird,68 oder als formale Anspielung, wenn sich die »repetitiven Tanzrhythmen«69 auch auf den Schreibstil übertragen. Damit zusammenhängend betreibt Axolotl Roadkill 64 Baßler : Der deutsche Pop-Roman (wie Anm. 63), S. 115–118. Moritz Baßler verweist hier wiederum auf Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S. 305. 65 Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Roman. Berlin 2014. 66 Vgl. Frank Degler, Ute Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, S. 25–33. Im Folgenden wird sich grob an den in dieser kurzen Einführung aufgestellten Kategorien orientiert. 67 Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 18. 68 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 15. 69 Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 11.

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zudem – wie bereits angesprochen – die »Arbeit am Archiv : Die Semantik von Marken und Medien«70 wird offensiv betrieben. Während die eigene Schicht beispielsweise Chanel, Jil Sander oder Satinsandalen von Lanvin trägt, präsentiert sich das bedrohliche ›Andere‹ »in spitzen Pumps von Deichmann« oder in »[k]urzen Sportklamotten von H& M«.71 Die Marken und Medien illustrieren dabei zudem ein bestimmtes Zeitkolorit. Als weitere Kriterien gelten »Jugend und Generationskonflikte im ›popmodernen‹ Adoleszenzroman«,72 wobei es sich – wie bereits thematisiert – in Axolotl Roadkill eher um das Phänomen des ›Nicht-erwachsen-werden-wollens‹ handelt und der Konflikt sich weniger an realen Generationsunterschieden entzündet, sondern vielmehr an unterschiedlichen Schichten. Auch die Kategorie »[i]ntermediale Inszenierungen: Autoren als Popstars«73 funktioniert bei Hegemann, u. a. aufgrund des fehlgeleiteten Verlagmarketings und der mangelnden Live-Performance bei Lesungen und in den Medien, nicht auf gleiche Weise wie zum Beispiel die bereits kanonische Inszenierung des pop-literarischen Quintetts als Tristesse Royale (1999). »Gesellschaftskritik« und »der ästhetische Zustand der Politik«74 spiegeln sich bei Hegemann – wie auch bereits bei der vorangehenden Pop-Literatur – am ehesten in den isolierten, psychisch devianten Protagonisten. An einer Stelle wird der Charity-Gedanke einer bestimmten Schicht ad absurdum geführt. Politik erscheint im vermeintlich post-ideologischen Zeitalter nur noch als Konsumgut. Ich will ein Kinderheim in Afghanistan bauen und viele Anziehsachen haben. Ich brauche nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf, sondern drei titanweiß ausgestattete Villen, jeden Tag bis zu elf Prostituierte und ein mich in plüschigen, güldenen Zwanziger-Jahre-Chic hüllendes Sowjet-Uniform-Kostüm von Chanel.75

Verstärkt thematisiert werden lediglich der Gender-Diskurs und die ›Gemachtheit‹ von Geschlecht, beispielsweise, indem Emre mal als »Mann meines Lebens«, mal als »Sozialhilfeempfängerin« beschrieben wird.76 Körperlichkeit, Krankheit, Tod sind ebenfalls wichtige Themen der Pop-Literatur,77 die sich auch bei Hegemann finden lassen. Auf die weiterhin typischen intertextuellen Vorbilder78 wurde bereits detailliert eingegangen. Es stellt sich abschließend die 70 71 72 73 74 75 76

Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 34. Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 25, S. 32, S. 77, S. 86, S. 123. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 44. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 25. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 53. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 10f. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 81. Für Degler und Paulokat zählen »Gendertrouble: Männlichkeit, Weiblichkeit und das Dazwischen« ebenfalls zu wichtigen Themen der Popliteratur. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 74. 77 Vgl. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 97. 78 Vgl. Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 85.

Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

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Frage nach der Tiefe der Oberflächen: Sind die narzisstischen Motive auch bei Hegemann »lesbar […] als Metaphern der Isolation und des Umgangs mit systematischen Defiziten der Moderne«?79 Die Abgründe der Oberflächen zeigen sich dabei überdeutlich.

3.

Fazit: Über leeres Geraune und das produktive ›punctum‹ – ist Axolotl Roadkill noch Pop-Literatur?

Obwohl viele Kriterien eindeutig in Richtung Pop-Literatur weisen, gibt es auch kritische Stimmen, die gerade an dem Umgang mit Oberflächen und Intertexten Anstoß nehmen. Eine von Helene Hegemanns ästhetischen Maximen bei der Textproduktion ist die Geschwindigkeit, da sie schneller schreiben möchte »als der flüchtige Gedanke, der einem durch den Kopf jagte«.80 Auch beim Umgang mit Intertexten geht es ihr nicht um intellektuelle Durchdringung, sondern darum, ob der nun entstandene Text etwas in ihr auslöst.81 Gewissermaßen verlagert sie so das Barthes’sche ›punctum‹,82 das Diederichsen auch in der Rezeption von Popmusik als fundamental erachtet, in die Sphäre der Produktion. Dabei ist das ›punctum‹ sowohl bei Barthes als auch in der Adaption durch Diederichsen ein reines und individuelles Rezeptionsphänomen: »Wenn man das Punctum nie da findet, wo es einer haben wollte, sondern immer irgendwo anders, kann es auch nicht absichtlich hergestellt werden. Es bleibt ein Rezeptionsphänomen.«83 Ein ›punctum‹ zweiter Ordnung lässt sich also ebenso wenig erzeugen wie ein intendiertes ›punctum‹. Weiterhin ergeben sich Probleme aus der mangelnden Kenntnis der montierten Texte. Das Unverständnis, das Hegemann nicht nur gegenüber bestimmten Theorien hat – so gibt sie beispielsweise im Interview mit Harald Schmidt unverhohlen zu, noch nie etwas von Agamben gelesen zu haben84 – wird auch innerhalb des Romans immer wieder thematisiert. Homo Sacer von Giorgio Agamben wird so zur sinnentleerten Grundlage einer 79 80 81 82

Degler, Paulokat: Popliteratur (wie Anm. 66), S. 106. Helene Hegemann im Interview mit Max Dax und Anne Waak (wie Anm. 35), S. 52. Helene Hegemann im Interview mit Max Dax und Anne Waak (wie Anm. 35), S. 52. Roland Barthes etabliert in seinem kanonischen Werk Die helle Kammer (1980) die Kategorien von ›studium‹ und ›punctum‹ zur Analyse von Fotografien. Das ›studium‹ entspricht dabei einem kulturellen Interesse (vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt von Dietrich Leube. 11. Auflage. Frankfurt am Main 2007, S. 105) und ist codiert (vgl. ders.: S. 60). Im Gegensatz dazu ist das ›punctum‹ das Zufällige an der Fotografie, das den Betrachter persönlich berührt, besticht und emotional bewegt (vgl. ders.: S. 36). 83 Diederichsen: Über Pop-Musik (wie Anm. 11), S. XXII. 84 Vgl. Helene Hegemann in Die Harald Schmidt Show vom 11. Februar 2010.

302

Laura Schütz

erotischen Phantasie,85 wobei über den Text selbst weniger als ein Satz ›Wikipedia-Wissen‹ kolportiert wird. Auch das Unwissen über Foucault wird explizit als Qualität dargestellt. So möchte Mifti unter anderem deshalb nicht erwachsen werden, weil sie »dann vermutlich endlich Foucault kapiert habe«.86 Für Philipp Theisohn, den Verfasser einer Literaturgeschichte des Plagiats,87 ergeben sich die Probleme einer angenommenen Authentizität nicht nur aufgrund der mangelnden Drogen- und Technoclub-Erfahrung, sondern auch aufgrund des mangelnden Lektüre-Wissens der Autorin. Der Vorwurf lautet dann: Vorspiegelung von Wissen, das gar nicht vorhanden ist: also das Zurschaustellen von Diskursen und Lektüren von Agamben bis Eusebius von Cäsarea, die der Text zwar ins Spiel bringt, aber offensichtlich gar nicht konsultiert, geschweige denn verstanden hat. Natürlich ist ein solches Erzählen nicht ›authentisch‹, es kann für den Erfahrungsschatz des Autors nicht zeugen.88

Kritisiert wird hier das Sampling verschiedener Versatzstücke ohne jedwede hermeneutische Dimension – die Ästhetik des Romans wird für Theisohn somit zum »Flickenteppich unverstandener, wo nicht brutal eingeimpfter Wunschbilder eines intellektuellen Milieus«.89 Es geht ihm dabei weniger um den juristischen Tatbestand des Plagiats als darum, dass der Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Fremdtextnutzung für die Kunst nicht in der Anhäufung von Fußnoten und Quellenvermerken, sondern im Ethos des literarischen Dialogs liegt; dass mithin sowohl der Rang von Materialarbeitern wie Mann, Brecht oder Müller als auch der von Zeitgenossen wie Christian Kracht, Thomas Meinecke oder David Foster Wallace sich auf die Fähigkeit gründet, Texte von Vorgängern neu zum Sprechen zu bringen; dass es dazu keiner Querverweise, sondern des Opfers der mühevollen Auseinandersetzung mit dem Anderen, also: geistiger Arbeit bedarf.90

Hegemann wird somit explizit aus der Riege etablierter Pop-Literaten ausgegrenzt.91 Im schlimmsten Fall findet zwischen dem montierten Material und 85 86 87 88 89 90 91

Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 97f. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 17. Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart 2009. Theisohn: Literarisches Eigentum (wie Anm. 7), S. 39. Theisohn: Literarisches Eigentum (wie Anm. 7), S. 39. Theisohn: Literarisches Eigentum (wie Anm. 7), S. 65f. Es muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass selbst Thomas Meinecke nicht sämtliche von ihm montierte Texte komplett durchdringt. In einem Interview vergleicht er die Prägung durch aktuelle Theorie-Strömungen mit einem Bahnsteig, an dem man von bestimmten Zügen einfach mitgerissen wird, auch wenn man nicht weiß, »woher der Zug kommt und wohin er fährt. Man kommt dauernd in solche Fahrwasser, die gerade en vogue sind.« Thomas Meinecke: Ich als Text. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main 2012, S. 266.

Zur Ästhetik von Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

303

seiner Verwendung überhaupt keine Kommunikation, Interpretation oder Erweiterung mehr statt. »Für die schärfsten Kritiker war es schlichtweg ›ungestalteter Stoff‹, eine Perversion des Intellektuellenmilieus und der Verlagsbranche«.92 Sie sprachen dem Buch somit die Daseinsberechtigung ab; jegliche inhaltliche Dimension verliert sich auf diese Weise. Es ließe sich also durchaus die Frage stellen, ob Axolotl Roadkill durch diese Sinnentleerung nicht bereits den Verfall der Pop-Literatur in sich trägt. Allerdings lässt sich einwenden, dass es sich ebenso gut um eine Metasprache handeln kann, die als Archivfunktion gesellschaftlicher Sinnentleerung gelesen werden kann, in der viele zwar Philosophennamen wie Agamben, Derrida und Foucault im Munde führen, ohne die Texte jedoch durchdrungen zu haben. Hinter all den Oberflächen und Worthülsen steckt eine tiefe Verzweiflung; auch die Popkultur hat sich bei aller romaninterner Konservierung ein großes Stück weit entzaubert.93 Es lässt sich also (noch) nicht abschließend klären, ob Axolotl Roadkill in Zukunft selbst als ›Klassiker der Pop-Literatur‹ rezipiert werden wird, oder ob sich in ihm hauptsächlich die Verfallserscheinungen der Gattung ausmachen lassen. Beide Tendenzen sind paradoxerweise im Roman angelegt und erzeugen so eine gewisse Spannung.

92 Theisohn: Das Recht der Wirklichkeit (wie Anm. 7), S. 235. 93 Sie wird sogar punktuell lächerlich gemacht, etwa wenn es über die infantile und dysfunktionale Familie der Protagonistin heißt: »Im äußersten Fall wird von deren Seite aus mal ein popkultureller Text über die Frage verfasst, weshalb die Avantgarde TROTZDEM bauchtanzt«. Hegemann: Axolotl Roadkill (wie Anm. 8), S. 12. Die Sprachkrise wird in der Überschrift einer Rezension treffend als Aktualisierung des Hofmannsthal’schen ChandosBriefs formuliert: Mara Delius: »Mir zerfallen die Worte im Mund wie schlechte Pillen«. In: FAZ vom 22. Januar 2010.

Moritz Baßler

Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben. Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) Eigentlich wissen es alle, Eigentlich, ah-ah-eigentlich

1.

Frank Spilker

Wenn es darum geht, Diskurspositionen in der neuesten deutschsprachigen Pop-Musik nachzuspüren, dann steht dieses Unterfangen in einer langen deutschsprachigen Tradition, die Diedrich Diederichsen einst so auf den Punkt brachte: Wir wollen Pop-Musik so verhandelt wissen wie die anderen kulturellen und politischen Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen. Voraussetzungsreich, komplex, und, ja, geradezu verbissen ernst.1

Die Verbindung von Pop-Musik und kritischer sowie postmoderner Theorie erfolgte dabei keineswegs nur rezeptionsseitig, in der Spex oder in Organen wie Testcard und neuerdings Pop – Kultur und Kritik sowie im überregionalen Feuilleton, sie findet sich seit langem auch in der Musik selbst, am ausdrücklichsten im Diskurspop der Hamburger Schule seit den 1990er Jahren, die ja eine Anspielung auf die Frankfurter Schule schon im Namen trägt, bei Bands wie Cpt. Kirk & , Blumfeld, Die Sterne oder Tocotronic also. Anfang 2013 nun hat der Sänger und Texter der Sterne, Frank Spilker, seinen ersten Roman vorgelegt.2 Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen beginnt popförmig, als eine Art Szenesatire in einer prekären Hamburger Werbeagentur namens Tropical Design, deren Auflösungserscheinungen der Held namens Thomas Troppelmann entflieht. Am Ende des 150 Seiten kurzen Romans droht er jedoch, von quälenden Kinderkur-Erinnerungen 1 Diedrich Diederichsen: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag. Köln 2005, S. 12. 2 Frank Spilker : Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen. Roman. Hamburg 2013. Anfang 2015 zog Jochen Distelmeyer, Frontmann von Blumfeld, mit Otis (Roman. Reinbek bei Hamburg 2015) nach.

306

Moritz Baßler

ferngesteuert, irgendwo in einem tropfnassen Schwarzwald zu verschwinden und ist (freilich ohne um die intertextuelle Verbindung zu wissen) nah an der Ermordung einer Butterblume: »Es greift nach mir, daran besteht kein Zweifel«.3 »Eine Normalität ohne den bedrohlichen Unterton der Ausgrenzung«4 erscheint Troppelmann da schon als rettendes Ufer. Was ist geschehen?, fragt man sich. Um die pop-poetologische Dimension der Sache in ihrer ganzen Schärfe zu realisieren, muss man bedenken, dass Troppelmanns Weg den der Hamburger Schule geradezu umkehrt. Aus unmittelbarer geographischer Nähe, aus Freiburg im Breisgau nämlich, waren Tocotronic einst gen Hamburg aufgebrochen, ausdrücklich mit der Absicht »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, wie ein sehr bekannt gewordener Song auf ihrem ersten Album Digital ist besser (1995) heißt. Sie waren dann – so ein anderer Songtitel – »neu in der Hamburger Schule«, jener Schule also, die Spilker kurz zuvor mit anderen Landflüchtigen begründet hatte, die aus der ostwestfälischen Provinz um Bad Salzuflen stammten.5 Und jetzt strebt der Ich-Erzähler seines ersten Romans zurück in die deutsche Provinz und sagt: »Ich verstecke mich tief in dieser Normalität. Ich möchte Teil einer Modelleisenbahn werden, in der die Züge immer im Kreis fahren.«6 Als »angenehm unaufgeregtes Buch« lobt Sarah Kuttner im Klappentext Spilkers Roman; was immer man sich von ihr als Pop-Stimme erwarten mag – Euphorie liest sich irgendwie anders. Vor allem hatte die Pop-Literatur der 1990er Jahre ja mit der Problemfixierung der Nachkriegsliteratur gebrochen, und jetzt, zwanzig Jahre später, sollen es erneut Kindheitstraumata sein, die einer Literatur aus dem Pop-Umfeld ihre Tiefe und Bedeutung verleihen? Man darf sich schon fragen: Lebt hier noch irgendwo das Pop-Versprechen eines, um die Kategorien Richard Hamiltons zu bemühen, »Witty / Sexy / Gimmicky / Glamorous / Big business«7-Zustandes innerhalb der kapitalistischen Medien-, Markt- und Massenkultur? Witz, Sex, Spielerei, Glamour und Geschäft – in Spilkers Text sind diese Dinge mittlere Vergangenheit. Sicher war Tropical Design als Business einst im Spirit eines freien, jugendlichen, optimistischen Aufbruchs gegründet worden. Nun aber erscheint dieser Geist längst zum Ge3 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 142. 4 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 149. 5 Vgl. Moritz Baßler, Walter Gödden, Jochen Grywatsch und Christina Riesenweber (Hg.): Stadt. Land. Pop. Popmusik zwischen westfälischer Provinz und Hamburger Schule. Bernd Begemann, Blumfeld, Erdmöbel, Bernadette La Hengst, Die Sterne. Bielefeld 2008. 6 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 149. Im persönlichen Gespräch leugnete Spilker, dass es sich hier um eine Tocotronic-Anspielung handele, einmal mehr ein Beleg dafür, dass man Selbstaussagen von Autoren nicht trauen kann. Eine Seite vorher findet sich mit »Kaltes klares Wasser« übrigens ein Malaria-Zitat. 7 Richard Hamilton: [Brief an Peter und Alison Smithson, 16. 1. 1957]. In: Ders.: Collected Words 1953–1982. London 1983, S. 28.

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 307

spenst geworden, eingeholt und zur Unkenntlichkeit veralltäglicht durch die monetären Zwänge der freischaffenden, nicht mehr ganz so jungen Hamburger Berufsjugendlichen, bei denen die Aufträge fürs Plattencover-Artwork ausbleiben, oder durch die Zwänge der alleinerziehenden Mutter, die über Kindergarten-Probleme redet und Metal hört, »den klassischen Soundtrack zu einem angepassten Leben.«8 Realismus des Erwachsengewordenseins im Prekären präsentiert sich als Postpoptristesse; die Bilanz kommt zu spät und in Form eines Melville-Zitats: »I would prefer not to«.9

2.

Ja, Panik

Ist das der Schwanengesang des Pop? Oder kann hier etwas beginnen? »Was bleibt / ist der Ekel am Morgen danach, / die intensivste, ja schmerzhafteste Form / der Realität. / Das ist der Nullpunkt, / hier können wir ansetzen«10 behaupteten Ja, Panik, österreichische Erben der Hamburger Schule, 2007 in einem SechsPunkte-Programm. Dem Programmatischen sind sie bis heute treu geblieben: Ihr Album Libertatia (2014) wird erneut von einem Manifest begleitet, das die Idee der titelgebenden mythischen freiheitlichen Piratenkommune auf Madagaskar, über die bereits Daniel Defoe schrieb, in eine neue Jugendbewegung übersetzen will. Darin heißt es beispielsweise: In gewissen Momenten in der Kunst des Krieges sind Orte und Freunde strategischer als Waffen und Schilder. LIBERTATIA ist dieser Moment. LIBERTATIA ist die berechtigte Sorge um die Erziehung eurer Kinder, die schicke Wohnung mit Ausblick, die Unterwürfigkeit eurer Dienstmädchen, die Sicherheit eures Staates. Die begründete Angst um euer Erspartes, euer freies Wochenende, euer Weltbürgertum.11

Das klingt, in poppigem Sound vorgetragen, nach antikapitalistischer Revolte. Das Album davor trug den kryptischen Abkürzungstitel DMD KIU LIDT (2011). Der zwanzigminütige vielstrophige Titelsong – damals ein Lieblingsstück der Spex-Hörer – lässt seine Dylaneske Zumutung in sechs Minuten Schweigen gipfeln. Die Strophen sind deutschsprachig, nur der Refrain mit der seltsamen 8 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 76. 9 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 60. Ein 2014 gegründeter kapitalismuskritischer Think Tank nennt sich »Haus Bartleby. Zentrum für Karriereverweigerung« und führt dasselbe Motto (hausbartleby.org) aus Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall Street von 1853. Die Hauptfigur hat man unter anderem mit Depression in Verbindung gebracht. 10 Ja, Panik: »The Taste and the Money. Ein Programm in sechs Punkten«. In: Ja, Panik: Schriften. Erster Band. O.O. 42014, S. 9–14, hier S. 11. 11 ja-panik.com, letzter Zugriff: 10. August 2015.

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Titelchiffre kommt in englischer Aussprache daher. Das Stück präsentiert sich zunächst als typischer Trampersong, das jugendlich-lyrische Ich geht Kerouacartig »on the road«, sieht die Welt, kommt wieder »zurück in die Stadt«, findet nirgends ein wirkliches Zuhause und entkommt vor allem dem offenkundig allgegenwärtigen Gesetz des DMD KIU LIDT nicht. Im Dialog mit der »Grande Dame«, hinter der man die Berliner Musikerin Christiane Rösinger (Lassie Singers, Britta und solo) vermuten kann, wird dann das Titelgeheimnis selbst zum Thema: ›DMD, wie bitte? Ich verstehe kein Wort.‹ Sie sieht mich entgeistert an. Ja, es ist schwer nur zu erklären, man begreifts nicht sofort, es ist so etwas wie ein verinnerlichter Zwang […]. Manche sagen auch es ist viel eher ein Opiat, ein Ablenkungsmanöver, du hast vielleicht davon gelesen. ›Naja, ich kenn schon Theorien dieser Art, aber dieses seltsame Wort, das ist nie dabei gewesen.‹ So I grab my guitar just to sing her the smash-hit, you know DMD KIU LIDT.12

Smash Hits sind zweifellos Pop, gimicky, glamorous und big business, doch das führt in die Irre. Was hier im englischen Pop-Gewand verpackt wird, ist in Wirklichkeit eine deutsche Formel aus dem Umfeld von Occupy und Der kommende Aufstand: DMD KIU LIDT nämlich heißt – wie auf der Platte nirgends verraten wird – »Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit«. Der Blues als Kapitalismuskritik, wie ist das zu denken? »Ich hab versucht es aufzuschreiben und versucht / es auszudrücken, / aber es wollte sich nicht wirklich denken lassen«,13 heißt es im Song. Eine gesellschaftliche Diagnose ist hier also nicht zu erwarten; trotz seiner ungeheuren Textmasse präsentiert der Song zunächst eine für Pop-Musik eher topische Befindlichkeit; selbst innerhalb der Independent-Szene erscheint seine Ich–Lyrik auf den ersten Blick kaum überraschend. »Aber die komplett vereinfachte und deshalb so gut verständliche Version meiner eigenen Erfahrungen erscheint mir plötzlich erwägenswert«, bemerkt Spilkers Erzähler.14 Dagegen wendet jedoch das weibliche Über-Ich bei 12 Ja, Panik: »DMD KIU LIDT. Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit«. In: Ja, Panik: Schriften (wie Anm. 10), S. 21–27, hier S. 25. Als Song auf dem gleichnamigen Album (Staatsakt 2011, #2). 13 Ja, Panik: DMD KIU LIDT (wie Anm. 12), S. 24. 14 Spilker : Es interessiert mich nicht (wie Anm. 2), S. 76.

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 309

Ja, Panik ein: »Du hast doch immer geglaubt, dass es um mehr als die eigenen paar problems geht.«15 Die emphatische Antwort des lyrischen Ich aber stellt den Bezug her, um den es hier geht: Ja, aber exakt genau, genau das ist der Punkt, dass all unsre problems wie unsere ganz eigenen paar scheinen. Die ausstaffierten leeren Tage voller Inhalt, ohne Grund, und die Stunden in den Zimmern, in denen wir einsam jemand nachweinen. Weißt du, ich bin mir langsam sicher und das ist gar nicht personal, die kommende Gemeinschaft liegt hinter unseren Depressionen, denn was und wie man uns kaputt macht, ist auch etwas, das uns eint, es sind die Ränder einer Zone, die wir im Stillen alle bewohnen. Aber Achtung, Achtung, Achtung, vor der allzu schnellen Heilung, denn das, was uns zerstört, will uns gleich schon reparieren. Und unser Schmerz, der darf nicht abfallen […].16

Die Diagnose ist hier ebenso interessant wie die Form, in der sie daherkommt: Wo keine Depression ist, dort sei die Einsicht nur noch nicht angekommen – eine neue Art notwendig falschen Bewusstseins wird diagnostiziert. In den eingebauten Sentenzen wie »die kommende Gemeinschaft liegt hinter unseren Depressionen« oder »denn nicht du bist in der Krise sondern die Form, die man dir aufzwingt«17 gerät die Indie-Innerlichkeits-Textur punktuell zu einem Occupytauglichen Merkspruch-Pop. Und auch wenn sich das Ich dann im weiteren Verlauf in sich zurückzieht und den Song in bedeutsamem Schweigen beendet – es hat doch in der 1. Person Plural geredet und insofern einen allgemeingültigen Anspruch formuliert, der – wie im Pop üblich – sowohl zur Identifikation und Gemeinschaftsbildung einlädt als auch zur radikalen Abgrenzung dient. Diese richtet sich, wie im Song ausdrücklich formuliert, auch und vor allem gegen das »Kling Bim, Lalala« des Pop selbst als, wie man mit gewissem Recht doch auch sagen könnte, die ästhetische Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben. In ätzender Anklage heißt es da über die anderen: Jedes Lied davon ein Lied zur Restauration, die Champagner-Revoluzzer und die Barden ganz in weiß, ihr lächerlichen Söldner, ihr habt meinen ganzen Hohn, ich bin raus und ihr seid drin, bis zum Kopf steckt ihr im Scheiß.18

15 Ja, Panik: DMD KIU LIDT (wie Anm. 12), S. 26. 16 Ja, Panik: DMD KIU LIDT (wie Anm. 12), S. 26. (Neben »problems« wird auch »personal« englisch ausgesprochen). 17 Ja, Panik: DMD KIU LIDT (wie Anm. 12), S. 27. 18 Ja, Panik: DMD KIU LIDT (wie Anm. 12), S. 27.

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Messer: Im Schwindel

»Ich bin raus«, »I would prefer not to« – sind das jetzt Positionen innerhalb des Pop, oder wird hier eine Art Archimedischer Punkt außerhalb der Popzusammenhänge angestrebt? Auch eine andere Diskurspopband, Messer aus Münster, scheint auf ihrem Debütalbum Im Schwindel (2012) dieses Außen zu suchen, das irgendwie immer zum depressiven Innenraum tendiert: Ich will nur einen Raum Mit einem Plattenspieler Eine Matratze und ein Buch Und ihr seht mich nie wieder Diese Welt macht mich nicht glücklich.19

Das Buch könnte, folgt man den Lyrics von Sänger Hendrik Otremba, von Nietzsche oder den Existenzialisten sein, es könnte sich aber auch um Ter8zia Moras Roman Alle Tage (2004) handeln, dessen Held Abel Nema einem MesserSong den Titel gibt: »Dann verschwindet er im Nebel / Hört wie er leise lacht«, wird da gesungen.20 »Was Abel anbelangt: Er ging in sein Zimmer, sammelte seine verstreuten Habseligkeiten ein, verließ die Bastille und kam nicht mehr wieder«,21 heißt es im Roman, der auf merkwürdig abstrakte Weise von diesem jungen Mann handelt, der alle Sprachen spricht, sich doch nicht verständigen kann und gelegentlich eben verschwindet. Alle Tage ist definitiv kein PopRoman, eher das Gegenteil (»seine verstreuten Habseligkeiten«) – oder ist das jetzt Pop? Der Schmerz, die Wut, die Traurigkeit, das Verschwinden – die Wendung nach Innen als das Andere von Restauration, als Vorschein der kommenden Gemeinschaft? Musikalisch treten Messer ein ganz anderes Erbe an als die an SingerSongwritertum, Indie und Americana orientierten Ja, Panik. Fehlfarben, Mutter und EA80 lauten die härteren Vorbilder, auf dem ersten Album wird mehr geschrien und gesprochen als gesungen, Postpunk bleibt die grobe Orientierung. In Verbindung mit den zwischen Abstraktion und situierter Ich-Reflexion changierenden Lyrics ergibt auch das ein im Spex-Umfeld überaus erfolgreiches Profil, die zweite Platte wird dann bereits bei Spiegel-Online und in den großen Feuilletons besprochen. Kurz: Auch dies ist Musik, auf die eine intellektuellere Pop-Klientel offenbar geradezu gewartet hat. Es geht mir so gut Ich habe Liebe, Geld, gesundes Blut Ich werde immer satt 19 Messer: Fieberträume. Auf: Im Schwindel. This Charming Man Records 2012, #9. 20 Messer: Abel Nema. Auf: Im Schwindel (wie Anm. 19), #6. 21 Ter8zia Mora: Alle Tage. Roman. München 2004, S. 129.

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 311

Berausche mich am Duft der Stadt Ich spiele meine Spielchen Bin ziemlich gut darin Jeder kann mich leiden (sehen) Und ich kriege alles hin22

beginnt z. B. ein Song, der aber eben Lügen heißt. In dem Wortspiel »Jeder kann mich leiden (Pause, andere Stimme:) sehen« ist eine Message codiert, die direkt an Ja, Panik anschließt: Gelingendes Leben als gefühlte Lüge. Auch hier wird das durch keine allzu konkrete Zeitdiagnose unterfüttert: Was eigentlich genau das Falsche am falschen Leben im richtigen ist, »was und wie man uns kaputt macht«, bleibt einmal mehr offen. Messers Postpunk transportiert vor allem die Intensität des Gefühls. Die Coolness, die bei Ja, Panik immer noch über den dandyhaften Wiener Akzent und die eingestreuten Anglizismen aufrecht erhalten wird, weicht hier einer exzessiven Ausdrucksästhetik, die vor Personalisierung nicht zurückschreckt. Mutmaßungen über Hendrik heißt ein weiteres Stück; wobei schon die intertextuelle Anspielung auf Uwe Johnson den Autor und Sänger als poeta doctus ausweist, der genau weiß, dass er immer auch eine Rolle spielt. Otremba, der seinen lyrischen Ichs Stimme und Körper gibt, ist Jahrgang 1984, hat Germanistik und Kulturpoetik studiert, ist auch als bildender Künstler und Schriftsteller erfolgreich, hat für Oliver Schwabe geschauspielert, lehrt nebenbei an der Fachhochschule für Gestaltung, schreibt für die Spex und andere Organe und ist seit mehreren Jahren einer der gefragtesten jungen Musiker in Deutschlands Independent-Szene. Mutmaßungen über Hendrik aber schließt mit den Versen Ein trauriger Trinker Ein alter Mann Der größte Nichtsnutz Der alles kann.23

Auch hier wird also die obligatorische Depression als avancierte Position behauptet und verkörpert. Sie resoniert in der zeitgenössischen Pop-Theorie mit den Überlegungen von Simon Reynolds (Retromania, 2011) und vor allem Mark Fisher, dessen Textsammlung Ghosts Of My Life (2013) den Untertitel trägt: »Writings On Depression, Hauntology and Lost Futures«. In beiden Fällen geht es zunächst um die Möglichkeit, überhaupt eine gegenwärtige Pop-Musik zu machen. Reynolds argumentiert, dass die pure Masse von Pop, die sich historisch angesammelt hat und im Web ständig präsent gehalten wird, eine neue PopMusik von Grund auf behindere, die irgendwie Zukunft verheißen könnte.24 22 Messer: Lügen. Auf: Im Schwindel (wie Anm. 19), #8. Parenthese von M. B. hinzugefügt. 23 Messer: Mutmaßungen über Hendrik. Auf: Im Schwindel (wie Anm. 19), #4. 24 »Musicians glutted with influences and inputs almost inevitably make clotted music: rich

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Durch die Historisierung, Archivierung und Musealisierung von Pop komme es stattdessen zu einer permanenten Retroisierung. An die Stelle von Pionierarbeit und Innovation sei bei der »cutting edge class« des Pop das Archivieren und Kuratieren getreten.25 Reynolds wünscht sich, mit Ja, Panik gesprochen, also »dahin zurück, wo’s nach vorne geht«.26 Fisher verbindet diese kulturpessimistische Historismus-Diagnose nun einerseits mit seiner persönlichen Depression und andererseits mit Derridas Hauntology-Konzept aus dessen kapitalismuskritischer Schrift Spectres de Marx (1993). Wie Reynolds bevorzugt er in der gegenwärtigen Situation eine Musik, die den gespenstischen Charakter ihrer selbst (qua Retroisierung) bewusst und explizit ausstellt (z. B. James Ferraro, Ariel Pink oder das Label Ghost Box), vor ›bloßem Retro‹ mit Bezug auf Soul (z. B. Amy Winehouse) oder Postpunk (z. B. The Strokes, Arctic Monkeys). David Keenan hatte diese bewusst gespenstischverhuschte Musik, die sich an »revenant 1980s forms freed from their historical context« bedient und so klingt, wie ausgeblichene 70er-Jahre-Farbfotos aussehen, in einem seminalen Artikel in The Wire 2009 als ›Hypnagogic Pop‹ bezeichnet. Fisher greift »this idea of being haunted by pop«27 auf und tauft das Ganze ›Hauntology‹. Das ist ursprünglich eine Wortprägung Derridas, der damit Ontologie und Gespensterwesen (to haunt – spuken, heimsuchen) zu einem zeitdiagnostischen Begriff verbindet; Fisher nennt es ein »puncept«.28 »Das Gespenst kennt mehrere Zeiten«, heißt es bei Derrida. »Das Eigene eines Gespenstes, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem künftigen Lebenden zeugt«.29 Derrida reagiert hier polemisch auf die Vorstellungen von einem Ende der Geschichte im Zeichen des siegreichen Kapitalismus nach 1989, wie sie von Francis Fukuyama, Allan Bloom oder Alexandre Koj8ve emphatisch propagiert wurden. Ihnen gegenüber beschwört er das Gespenst des Marxismus im Modus des Nicht-mehr und Noch-nicht. In der Trauerarbeit kann das vermeintlich Überlebte oder Tote also, neu bedacht, auch einen Zukunftsvektor haben:

25 26 27 28 29

and potent on some levels, but ultimately fatiguing and bewildering for most listeners.« Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture’s Addiction to it’s Own Past. London 2011, S. 75. Reynolds: Retromania (wie Anm. 24), S. xx. Ja, Panik: Libertatia. Auf: Libertatia. Staatsakt/Rough Trade 2014, #1. David Keenan: »Childhood’s end. Hypnagogic Pop«. In: The Wire Nr. 306, August 2009, S. 26–31, hier S. 26. Mark Fisher : Ghosts Of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Winchester/ Washington 2013, S. 17. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Deutsch von Susanne Lüdemann. Frankfurt am Main 1996, S. 159.

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 313

Sie sind immer da, die Gespenster, selbst wenn sie nicht existieren, selbst wenn sie nicht mehr da sind, selbst wenn sie noch nicht sind. Sie geben uns erneut das ›da‹ zu denken, sobald man den Mund öffnet […].30

Gegenüber Derridas explizit gelehrter hauntologischer Trauerarbeit – mehrfach zitiert er Hamlet (I,1) mit: »Thou art a scholar ; speak to it, Horatio« – gibt sich die popmusikalische Variante eher vor-diskursiv, und doch ist die Richtung dieselbe. Wie die musikalische Hauntology zunächst »not a sound so much as a sensibility, an existential orientation« sei, »suffused with an overwhelming melancholy«,31 so sieht Fisher auch die eigene Depression als eine repräsentative an, assoziiert mit dem Verlust von Zukunft, den Derrida mit dem Wegfall der sozialistischen Alternativen zum Kapitalismus um 1990 herum begründet. Musik wie Depression konstituieren in dieser Logik also a refusal to give up on the desire for the future. This refusal gives the melancholia a political dimension, because it amounts to a failure to accommodate to the closed horizons of capitalist realism.32

Das entspricht genau der Argumentation von Ja, Paniks DMD KIU LIDT: Die »eigenen paar problems« mögen zunächst als »pretty personal« erscheinen, sie verweisen jedoch auf die vermeintliche Alternativlosigkeit des Kapitalismus, die anzuerkennen man sich weigert: »the personal is impersonal« (Fisher).33 Die Haltung bleibt bewusst paradox: Man gibt die Zukunft nicht auf, obwohl die Diagnose ewige Gegenwart lautet und man nicht über ein positives Konzept zur Überwindung der Retro-Kultur, geschweige denn des Kapitalismus verfügt. Die Depression ist ausdrücklich keine ökonomische.34 Vielmehr wissen diese Bands um ihren privilegierten Status: »Ein Gespenst brüllt aus unseren Lautsprechern. / Das Gespenst heißt European Rich Kid.«35 Der Doppelsinn von Otrembas »Jeder kann mich leiden (sehen)« verkörpert dieses Paradoxon in nuce: Das gelingende Leben, die gelingende Pop-Karriere droht immer schon die Affirmation zu sein, gerade auch dort, wo sie sich alternativ und revoltierend gibt. In dem Einakter Eine Entgiftung, der am 28. April 2010 statt eines Ja, PanikAuftritts auf dem Donaufestival Krems (Motto: Failed Revolutions) gespielt wurde, formuliert die Figur Peter diese Position in der Form einer Bernhard’schen Tirade, wie sie ja schon der Titel nahelegt: 30 31 32 33 34

Derrida: Marx’ Gespenster (wie Anm. 29), S. 276. Fisher : Ghosts Of My Life (wie Anm. 28), S. 21. Fisher : Ghosts Of My Life (wie Anm. 28), S. 21. Fisher : Ghosts Of My Life (wie Anm. 28), S. 28. ›No Depression‹ ist nach einem seminalen Album von Uncle Tupelo aus dem Jahre 1990 eine Genrebezeichnung für Alternative Country geworden. Im titelgebenden Cover-Song der Carter Family (1936) ist der Bezug zur amerikanischen Great Depression lebendig. 35 Ja, Panik: The Taste and the Money (wie Anm. 10), S. 10.

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Solang eure linkslinke Geheimgesellschaft feuchtfröhliche Revolutionspartys in den ihr zugewiesenen Ghettos feiert, solang ihr euch für ein bisschen Handgeld immer wieder die Avantgarde-Etikette umhängen lässt [sic], solange seid ihr die größten Feinde derjenigen, die wirklich und echt an diesem teuflischen System zu Grunde gehen. Du und deine ganze scheußliche Bagage seid die Lebensversicherung der herrschenden Ordnung und ihr wisst es nicht einmal.36

Auf der Bühne von Peter Schachinger verkörpert, klingt hier die Position noch eines anderen Peters durch: PeterLichts spezielle Variante des Verschwindens bezieht sich bekanntlich auf die medialen Aspekte des Pop – er tritt in Persona (wenngleich unter Pseudonym) auf, lässt aber sein Gesicht nicht fotografieren und vor allem nicht medial verbreiten. Statt einer Position ›ein Gesicht zu geben‹, fordert der Peter im Stück: »Wir brauchen kein Gesicht, wir brauchen das Gegenteil von einem Gesicht«, um »dieser Ordnung unsere Körper zu entziehen.«37 Auf DMD KIU LIDT deklinieren Ja, Panik noch radikalere Auswege durch: Bereits der Refrain zum ersten Song des Albums, This Ship Ought To Sink, zitiert Chris Kordas Church of Euthanasia mit dem Slogan: »Save the planet / kill yourself«38 – ein Weg aus dem Pop, der jedoch nur im Modus eines obskuren Kunst-Sekten-Okkultismus gangbar erscheint.39 Das Album selbst endet in besagtem Schweigen am Ende des Titelsongs.

4.

Trümmer

Ausgerechnet qua Pop dem Stillstand der hauntologischen Zeit zu entkommen, den Reynolds und Fisher ja just am Zustand der Pop-Musik ablesen, erscheint also nur als konsequente Fortsetzung dieses Paradoxons. PeterLicht hatte das schon 2006 mit seinem Album Lieder vom Ende des Kapitalismus versucht: »Du hast keine Wahl«, erklärt das Eröffnungsstück, »was du hast / ist ein offenes Ende«.40 Im titelgebenden Lied vom Ende des Kapitalismus greift PeterLicht zu 36 Ja, Panik: »Eine Entgiftung. Stück in einem Akt«. In: Ja, Panik: Schriften (wie Anm. 10), S. 169–195, hier S. 189. In der Dramenfiktion wird hier der Veranstalter des Festivals angesprochen, auf dem 2010 u. a. auch Deichkind und Dinosaur Jr. auftraten. 37 Ja, Panik: Eine Entgiftung (wie Anm. 36), S. 189f. 38 Ja, Panik: This Ship Ought To Sink. Auf: DMD KIU LIDT. Staatsakt 2011, #1. 39 Die Church of Euthanasia proklamiert in offensiven Kunstaktionen Suizid, Abtreibung, Kannibalismus und Sex, der nicht der Fortpflanzung dienen darf. Korda hat seine Botschaften in den 1990er Jahren auch als Techno-Musiker verbreitet, u. a. in dem Song Safe the Planet, Kill Yourself mit der Textzeile »Why do so many of you believe these lies?« (Vgl. www. youtube.com/watch?v=Ft_N-skpXRs, letzter Zugriff: 10. August 2015). 40 PeterLicht: Offenes Ende. Auf: Lieder vom Ende des Kapitalismus. Motor Music 2006, #1. Schon auf seinem Debutalbum hatte Licht die Paradoxa der Popkultur ausgelotet, wenn er als Pop-Musiker »meide die Popkultur – / dann geht’s dir besser […] / meide Informationen von

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 315

einem so simplen wie wirksamen Trick: Er spricht vom Kapitalismus konsequent in der Vergangenheitsform, was einem Tigersprung in die Zukunft gleichkommt: »weißt du noch / wir regelten unsere Dinge / übers Geld«, heißt es dort fast schon nostalgisch, »der Kapitalismus, der alte Schlawiner […] / jetzt isser endlich vorbei«.41 Zumindest formal wird so die Zukunftsperspektive erzwungen, die ansonsten unmöglich erscheint, obwohl auch hier nirgendwo eine positive Alternative formuliert wird. Von den jüngeren Bands haben insbesondere Trümmer hier gut zugehört. Die Hamburger Formation um Sänger und Texter Paul Pötsch scheint mit MitsingVersen wie »du bist viel zu schön / um jetzt schon nach Hause zu gehen«42 zunächst deutlich näher an Party- und Teenage-Problemen als Ja, Panik (und als Messer ohnehin), aber mit dem Bewusstsein für die bislang skizzierte Diskurskonstellation lassen schon die ersten Verse des ersten Albums (Trümmer, 2014) aufhorchen: Ein Land zieht vorbei am Fenster Häuser, Autos, ein paar Gespenster Und ich kriege keinen Frieden Wie sollte ich ihn jemals kriegen kriegen kriegen

Sie formulieren exakt die hauntologische Position (»Nostalgie ist prinzipiell nicht zu ertragen«43), nur ist die Depression hier einer ›friedlosen‹ TeenageUnruhe gewichen, eine etwas andere ›sensibility‹ also, die aber auf das Gleiche verweist. »Ich muss mich selbst ernst nehmen«, reflektiert Pötsch. »Das Gefühl des Widerspruchs ist kein vorbeifliegender Schatten, sondern mein Vorgriff auf das, was kommen wird«.44 Im Refrain wird dann geradezu trotzig eine AntiReynolds-Position behauptet: »Vor uns liegt immer noch mehr als hinter uns«.45 Was das allerdings sein könnte, ist, wenig überraschenderweise, auch hier nicht wirklich formulierbar, auch wenn der Song Revolte heißt: Und ich weiß nicht mehr wo lang Und nicht ganz genau wohin

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Menschen / die vor Mikrophonen reden / die Popkultur ist nicht gut für uns« in ein Mikrofon singt (Popkultur / Meide. Auf: Vierzehn Lieder. BMG Ariola 2001, #3). PeterLicht: Lied vom Ende des Kapitalismus. Auf: Lieder vom Ende des Kapitalismus (wie Anm. 40), #7. Das Nachfolgealbum heißt übrigens Melancholie und Gesellschaft (2008). Trümmer : Wo ist die Euphorie. Auf: Trümmer. Pias Recordings 2014, #5. Trümmer : Nostalgie. Auf: Trümmer (wie Anm. 42), #6. Auch in diesem Lied wird eine Art Vorschein eines anderen Zustands formuliert: »Ich halte inne und ich seh ein Bild / Ein anderes Leben, es ist neu, es ist wild« etc. Paul Pötsch: »Sie suchen das Problem? Hier ist es«. In: Das Wetter 1 (Herbst 2013), S. 38–41, hier S. 40. Das Motto dieser Zeitschrift, die affin zu den hier vorgestellten Bands und Ideen ist, lautet: »Es kann nur besser werden«. Trümmer : Schutt und Asche. Auf: Trümmer (wie Anm. 42), #1.

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Lieber ein offenes Ende Als ein Leben ohne Sinn46

Die Aufbruchsparolen kommen bei Trümmer vielleicht etwas direkter und scheinbar naiver daher als bei den anderen Bands (der letzte Song des Albums heißt Morgensonne!), aber vielleicht haben sie sich eben bei PeterLicht das Überspringen des Status quo abgeschaut, angesichts dessen es immer nur heißen kann: »Ist das alles, wo bleibt die Euphorie?« Etwas zugespitzt ließe sich hier der Vorschlag erkennen, die Depression zumindest zu einer bipolaren Störung des Ist-Zustandes auszubauen.

5.

Messer: Die Unsichtbaren

Die Musiker von Messer verfügen über ein enzyklopädisches Wissen im Bereich der Pop-Musikgeschichte, das durchaus auch leichten Pop, Soul, Disco, Electronica etc. umfasst. Im Prinzip wäre ihnen jede Form von retromanischem Zitatpop zuzutrauen. Die Beschränkung, die sie sich musikalisch, textuell und in Bezug auf die in ihrer Musik hörbaren Vorbilder auferlegen, ist demnach eine bewusste. Auf YouTube gibt es eine Videoserie, in der junge Musiker ihre Lieblingsplatte vorstellen. Otremba wählt die obskure LP einer Band namens Campingsex, ein Nebenprojekt von Mutter-Frontmann Max Müller, bei der schon der Titel wenig Spaß verheißt: Sie heißt 1914!47 Geschätzt und propagiert wird hier eine Ästhetik des Gebrochenen, der Drastik und der Überforderung, die sich erneut in Opposition zur Ästhetik von Pop als bunter, glitzernder Attraktionskultur definiert.48 Letztere erscheint hier im Bild des Freizeitparks, der Achterbahn, in der sich die Leute befinden und amüsieren und dabei bloß noch nicht wissen, dass sie dem Tod geweiht sind. Die Allegorie liegt nahe. Das entscheidende Wort in dieser Beschreibung aber lautet ›Intensität‹, und die geht offenbar über eine rein ästhetische Qualität hinaus. Sie ist der Garant für die Echtheit jenes Unbehagens in der Gegenwartskultur, aus dem sich der zeitdiagnostische Anspruch der Band ableitet. Und so weist ein Vektor vom Independent-Gefühl zur umfassenden Kapitalismuskritik, man könnte mit Deleuze und Guattari auch sagen: vom ›Kleinen‹ ins Große, insofern eine »›kleine‹ oder revolutionäre Literatur« mit dem Sagen beginnt und erst später begreift, »denn die Literatur hat

46 Trümmer : Revolte. Auf: Trümmer (wie Anm. 42), #3. Ein weiteres PeterLicht-Zitat findet sich in Schutt und Asche (»Wir werden siegen«). 47 www.youtube.com/watch?v=ZIslw7cJ8TU, letzter Zugriff: 24. Juli 2015. 48 Das muss keineswegs zwangsläufig so sein. In der gleichen YouTube-Reihe präsentiert ein Mitglied der ansonsten durchaus seelenverwandten Band Die Nerven eine Kiss-Platte.

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 317

nur Sinn, wenn die Ausdrucksmaschine den Inhalten vorgreift, sie hinter sich herzieht«.49 Das zweite Album von Messer, Die Unsichtbaren (2013), ist denn auch keine kleine Musik mehr. Die Platte baut einen enormen intertextuellen Hallraum auf, in dem unter anderem die Geisterstimmen aus dem SO36 in Berlin, aus der frühen Hamburger Schule und dem Ratinger Hof ihr Echo finden. Fassbinder wird zitiert, Malaria, Burroughs und andere mehr. Produzent ist übrigens, wie auch bei Ja, Paniks Libertatia, Tobias Levin, ein Hamburger Schule-Mann der ersten Stunde, der 1984 Cpt. Kirk & gründete, auch hier schließt sich also ein Kreis. Die spezifische Hauntology dieses Albums beschwört die Unsichtbaren im Medium eines Rock, der zweifellos den Achtzigern verpflichtet bleibt und doch alles andere ist als Retro. Denn hier geht es nicht um nerdige Indie-Spurensuche in der staubigen Verweishölle des Pop und schon gar nicht um Nostalgie – hier wird, völlig ironiefrei, ein Erbe angetreten. Das sagt bereits der klare, ganz und gar unfrickelige Gestus der Musik, und diesen Anspruch erheben unmissverständlich auch die erneut ins Abstrakte tendierenden, allegoriegesättigten Lyrics. Kurz: Messer bauen diese gespenstisch große Echokammer, um über einen Raum zu verfügen, in dem ein neues Pathos gewagt werden kann. Dieses präsentiert sich zwar (sofern man so etwas von Pathos sagen kann) eher tastend, es ist keineswegs abgedichtet gegen Enttäuschung und Lächerlichkeit, aber auch keinen Moment lang durch irgendeine Angst vor ihnen gehemmt. Die Unsichtbaren versteht sich also einerseits als vorbehaltlos gegenwärtig, auf der anderen Seite ist zu erkennen, dass es zugleich auch um so etwas wie Klassizität geht. Wie vielfach in ernsthafter Pop-Musik, gerade im Deutschen, kommen in den Lyrics von Messer z. B. keine Markennamen vor, es gibt keine ironischen oder spielerischen Bezüge auf zeitgenössische Politik, Technik, Werbung, konkrete Orte oder Popkultur generell. Man beruft sich auf Fehlfarben, Mutter, EA80 oder die Einstürzenden Neubauten, aber nicht auf Nina Hagen, Trio oder Ideal. Im Gespräch erklärt Otremba, er verlasse sich auf sein Gespür für Wörter, die sich als »Messer-Wörter« eignen. ›Platzpatronen‹ sei so ein Wort, ›Vodafone‹ nicht. Markennamen, Fachvokabular, Konkreta jeder Art finden hier keinen Ort; diese Musik will nicht veralten. Sehen wir uns Platzpatronen, einen dieser Songs, näher an: Platzpatronen Wie verschwommene Stimmen Millionenspiel Tote Fische schwimmen Die Stadt im Sommer 49 Gilles Deleuze, F8lix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt 1976, S. 40 und 76f.

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Moritz Baßler

Die Stadt im Regen Wasser auf Asphalt Der Geruch von Leben50

Über den asyndetischen Zeilenstil, der manchmal nur ein Wort pro Vers zulässt (»Platzpatronen«, »Millionenspiel«), entsteht die bandtypische Kombination von Intensität und Elliptik. Im ersten Abschnitt werden die Lyrics herausgeschrien, weil aber die Endsilben nicht, wie in Umgangssprache üblich, verschluckt werden, wirkt die Sprache überdeutlich und damit sowohl emphatisch als auch künstlich. Den kohärentesten Komplex ergeben die Verse 5–8, über einen anaphorischen Parallelismus wird ein Frame etabliert, es entsteht so etwas wie eine lyrische Situation, wenn auch ohne manifestes Ich, wobei der Eindruck der sommerlichen Stadt im Regen im achten Vers, typisch für Messer, sofort ins Abstrakte gehoben wird (»Der Geruch von Leben«), unter Verwendung des einzigen unreinen Reims (Regen/Leben). Welche Rolle spielt nun das titelgebende Messer-Wort »Platzpatronen«? Ist das eine Kindheitsreminiszenz, oder geht es um Kino, um Western (die Gitarre legt so etwas anfangs nahe) oder Kriminalfilme? Der Vergleich jedenfalls ist kühn: Platzpatronen sind ja gerade nicht »wie verschwommene Stimmen«, sondern knallen distinkt und deutlich. Das Schwimmen wird bei den toten Fischen wieder aufgenommen – ist das aber ein Paradoxon in Vers 4, oder geht es um Umweltsünden? Und was ist mit dem Millionenspiel, außer dass es das Assonanzcluster von i und o in den Versen 2–4 verstärkt? Nun, hinter diesem Wort verbirgt sich doch noch eine popkulturelle Anspielung, allerdings eine aus den Tiefen des Archivs: Das Millionenspiel ist ein Fernsehfilm aus dem Jahre 1970 (WDR, Regie: Tom Toelle) in Form einer Spielshow, in der ein Kandidat sich freiwillig vor Kameras von drei Killern jagen lässt, um bei erfolgreichem Abschneiden eine Million zu kassieren. Auch der Zusammenhang zum Song ist zunächst über das musikalische Archiv gegeben: Der instrumentale Titelsong des Films ist von der legendären Kölner Krautrock-Band Can, Platzpatronen weist im Aufbau durchaus Parallelen zu ihm auf. Doch auch zum Film selbst lassen sich Beziehungen herstellen. So sieht man den gejagten Hauptdarsteller Lotz (gespielt von Jörg Pleva) immer wieder allein in Hotelzimmern, verlassenen Häusern und Transiträumen in Zuständen existenzieller Bedrohung und Verzweiflung bis hin zur lebensmüden Depression.51 Diese Situationen sind nun allerdings gerahmt von einem durch und durch kapitalistischen Setting, einer zynischen Spielshow (moderiert von Dieter Thomas Heck), die dazu dient, Werbeanzeigen (in Form 50 Messer: Platzpatronen. Auf: Die Unsichtbaren. This Charming Man Records 2013, #9. 51 Auch in Hendrik Otrembas literarischer Prosa befinden sich die Protagonisten auffällig häufig in solchen Räumen und Situationen. Vgl. z. B. die Fragmente Im toten Haus I–III (in: Hendrik Otremba: Lügen. O.O. O. J. [2015]).

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 319

fiktiver Clips für den ebenfalls fiktiven Stabilelite-Konzern) zu platzieren – ein Szenario, auf das sich Lotz immerhin freiwillig eingelassen hat. Zu Depression und Kapitalismus kommt dann im zweiten, etwas ruhiger vorgetragenen Abschnitt des Songs eine – wie auch immer virtuelle – Zukunftsperspektive hinzu, die sich sowohl auf Lotz beziehen als auch als direkte Aussage des Sänger-Ichs, verkörpert durch Otremba, verstehen lässt: Träum mich in eine Welt Die ich nicht haben kann Hol mich einfach hier raus Und hilf mir irgendwann52

Das Ich ist jetzt manifest, die Syntax versübergreifend. Trotzdem sperren sich die Verse einer vereindeutigenden Lesart. Soll man in Vers 9 ein »Ich« ergänzen oder handelt es sich, wie im folgenden Verspaar, um einen Imperativ? Träumt man sich aus der Stadt der toten Fische weg oder in eine Filmdiegese hinein? In den Reichtum des Millionengewinners hinein oder aus dem Kapitalismus heraus? Ist der Hilferuf der eines Erfolgreichen, eines Privilegierten im falschen Leben wie in Lügen, oder ist das hier Rollenlyrik aus der Sicht eines Unterprivilegierten? Und, vom Reimzwang mal abgesehen, was bedeutet »irgendwann« – ist es denn doch nicht so dringend mit der Hilfe?53 Wie in den meisten Lyrics von Messer bleiben die Ambiguitäten unauflösbar ; mitsingbare Sentenzen und Manifeste wie bei Ja, Panik und Trümmer finden sich keine.

6.

Trotz allem: Pop

Zumindest nicht in den Songs. Auf dem Cover von Die Unsichtbaren allerdings findet sich eine Widmung, die etwas deutlicher wird. Sie lautet: Den Unsichtbaren, die keiner sieht, deren Leid nicht interessiert, deren Schmerz im Verborgenen bleibt. Den Menschen, die nicht vergessen werden können, weil nie jemand an sie gedacht hat. Den Geistern und Phantomen, wie taub und stumm, mit denen keiner spricht, die keiner wahrnimmt, die im Dazwischen existieren. Den Menschen außerhalb der Rede, die nur zu sich selber sprechen, denen nicht geantwortet wird, die ganz verschwinden, wenn sie gehen. Den Unsichtbaren um uns herum. Denen, die wir nicht sehen.54

Einige Rezensenten, z. B. Jens Uthoff in der taz, haben das sehr konkret als Leseanweisung für die Songs verstanden. Aber ganz so einfach scheint das nicht 52 Messer: Platzpatronen (wie Anm. 50), l.c. 53 Im Film Das Millionenspiel bekommt Lotz immer wieder unerwartete Hilfe, die er aber genregemäß stets äußerst dringend benötigt. 54 Messer: Die Unsichtbaren (wie Anm. 50), 1.c.

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Moritz Baßler

zu sein. Die Leidenden, Phantome und Verschwindenden sind ja in den Songs selbst zumeist die autornah entworfenen Ich-Figuren, das ist bei Messer nicht anders als bei Ja, Panik oder auch in Spilkers Roman und anderen Popromanen. Womit wir wieder bei der dialektischen Kippfigur wären, dem Gedanken, dass das intensive Empfinden solcher Zustände – Depression, Traurigkeit, gelebte Lüge, Schmerz, Unsichtbarkeit – irgendwie so etwas wie der Ausgangspunkt von etwas Neuem sein könnte, womöglich gar einer »kommenden Gemeinschaft«. Deshalb wollen sie ja auch nicht geheilt werden von ihren »eigenen paar problems«, jedenfalls nicht allzu schnell und schon gar nicht durch die Angebote der Kulturindustrie, sprich: durch Pop. Sowohl die Abhängigkeit vom Gefühl als auch die Disqualifikation allzu konkreter Vokabeln und Sachzusammenhänge als untauglich für die Lyrics verhindern dabei, dass es zu konkreten Problemanalysen oder Diagnosen kommt. Lampedusa wird so wenig ausdrücklich genannt wie Veganismus, Occupy oder die Piratenpartei. Das hat einerseits durchaus seine problematischen Seiten, weil damit ja im Grunde immer schon und immer bloß vorausgesetzt ist, dass man selbst im Recht und der Kapitalismus irgendwie böse ist, ebenso wie der Pop der »Barden ganz in weiß«. Klischees werden so kaum vermieden, das neue Pathos dieser Lyrics zielt auf Zustimmung und Identifikation, nicht auf Diskussion und Widerspruch. Im Libertatia-Manifest ist sogar ein gewisser Anti-Intellektualismus zu erkennen, wenn es dort heißt: LIBERTATIA versteht nichts, wo es nichts zu verstehen gibt. Denn jenseits des intellektuellen Verstehens bestehen die eigentlichen Verflechtungen, Überschneidungen und Übergänge zwischen den unterschiedlichen Lebensformen.55

Andererseits oder, mit Deleuze/Guattari gedacht, auch gerade deshalb scheint hier durchaus eine Art protopolitisches Feld auf, und zwar zunächst in einem ästhetischen Modus, der sich denn wohl doch zwangsläufig innerhalb des Pop entfaltet. Ja, Panik, Messer und Trümmer sind ja keineswegs Nischenmusik, sie werden von den führenden Pop-Organen besprochen, medial verbreitet und independent zwar, aber eben doch kulturindustriell hergestellt. Ernst und Ironiefreiheit, Klassizität und Gegnerschaft zum Kommerz-Pop sind längst Optionen innerhalb des Pop-Feldes, hinzu käme das Pathos. Schon das T-Shirt mit dem antikapitalistischen Smash-Hit-Slogan DMD KIU LIDT, das auf der gut bestückten Merchandise-Website von Ja, Panik erworben werden kann, illustriert ja den Double bind aller kritischen Pop-Musik: Es gibt im Pop kein Außen von Markt und Medien. Noch die propagierte Traurigkeit ist demnach eine Pophaltung, eine Summertime Sadness, wie Lana del Rey sie in ihrem internationalen Smash Hit von 2012 besang. Es ist kein Zufall, dass dieser Song von Die 55 ja-panik.com (wie Anm. 11).

Diskurspositionen im neuesten deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trümmer) 321

Nerven auf Deutsch gecovert wurde (Sommerzeit Traurigkeit) und von Ja, Panik auf dem Libertatia-Album als Post Shakeytime Sadness zitiert wird. Zu den verachteten »Barden in Weiß« scheint selbst Superstar del Rey demnach nicht zu gehören. Kurz: All dies verbleibt innerhalb des Systems Pop und affirmiert es dadurch auch. Niemand ist draußen, »die Wahrheit selbst ist ein Moment des Falschen«,56 und man möchte eben letztlich lieber doch. Diesen Eindruck vermittelten Ja, Panik auch auf ihrer Tour zu Libertatia im Jahre 2014. Live vorgetragen wirkten die Songs des Albums keineswegs als Thesenmusik, sondern überaus poppig.57 Zwar wurde das Konzert58 eingerahmt von zwei Stücken von DMD KIU LIDT, Trouble und Nevermind, und am Ende des letzten hieß es ausdrücklich noch einmal, wir seien vom Kapitalismus so eingezwängt, dass wir ganz verloren seien, der Auftritt transportierte jedoch etwas anderes. Die Performance des Frontmanns Andreas Spechtl bediente ganz bewusst die großen und kleinen Gesten des Rock, mit einem Schwerpunkt auf klassischen Pathosformeln aus dem Repertoire von Soul und Disco, wie sie im selben Jahr auch international von Bands wie Arcade Fire und Metronomy reaktualisiert wurden.59 Das sehr österreichische Englisch, das Spechtl singt, signalisiert dabei keinerlei Ironie, es trägt vielmehr seine ganz eigene, angenehm selbstverliebte Art von Pathos, das sich zu echten Falco-Momenten aufschwingen kann. Ein solcher liegt insbesondere an der Stelle in Eigentlich wissen es alle vor, wo das David Sanborn-artige Saxophon einsetzt – eigentlich ging so etwas im Independent-Kosmos nur in ironischen Anführungszeichen, hier wird es neu als vollgültig gesetzt, als Selbstermächtigung zum großen Pop: »Wo wir sind« – sprich: wo Pop ist – »ist immer Libertatia«.60 Und Libertatia ist, wie es im Manifest heißt, eben auch »das Bewusstsein davon, dass eine andere Welt eben nicht möglich ist. Das Wiederzusichkommen nach der großen Independenthalluzination« – im und als Pop.61 Ja, Paniks Erben, die derzeit sehr erfolgreichen österreichischen Bands Wanda und Bilderbuch, scheinen diesen Weg in Richtung eines neo-emphatischen sexy, witty und glamorous Pop fortzusetzen: »Wenn man dich fragt, wofür du stehst / Sag für Amore, Amore«.62 Und Pötsch übersetzt Harald Welzers Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand (2013) wie folgt in einen pop-tauglichen Diskurs: 56 Ja, Panik: Eigentlich wissen es alle. Auf: Libertatia. Staatsakt/Rough Trade 2014, #8. 57 Das lässt sich auch schon für das Album selbst sagen. Otremba sieht in seinem ausgefeilten Sound »das bisher größte Zugeständnis an das unscharfe, luxuriöse Wort Pop, das abstrakt über all dem thront«. Hendrik Otremba: »Nach der Traurigkeit das Träumen?« In: Das Wetter vom 2. Januar 2014, S. 20–27, hier S. 23. 58 Münster, Gleis 22, 29. April 2014. 59 Der Rock’n’Roll der frühen Ja, Panik-Alben hatte einen ähnlichen Effekt. 60 Ja, Panik: Libertatia (wie Anm. 26), l.c. 61 ja-panik.com (wie Anm. 11). 62 Wanda: Bologna. Auf: Amore. Problembär Records 2014, #1.

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Moritz Baßler

›Nichtinstrumentelle Beziehungen von Menschen untereinander sind prinzipiell Widerstandsnester‹, steht dort geschrieben. Als Popkultur-Mensch würde man vielleicht einfach ›Love is the answer‹ sagen.63

Wohin es letztlich politisch gesehen führt, begriffliche Klarheit, die ja stets auch ins Ideologische zu kippen droht, durch Deutlichkeit des Gefühls zu ersetzen, entzieht sich der Kompetenz des Literatur- und Kulturwissenschaftlers. Die neuen diskursiven Optionen unter dem Label Pop, die ich hier zu skizzieren versucht habe, bleiben aber gerade darin interessant, dass sie das ästhetische Gelingen vor das Immer-schon-Verstandenhaben setzen. Dies geht zugunsten einer Komplexität und Ambiguität, die nicht als Mangel, sondern als ästhetischer Gewinn betrachtet werden müssen, und die, könnte man hinzufügen, womöglich auch der Lage intelligenter, privilegierter Jugendlicher in der politischen Realität Europas vollständig angemessen sind.64 Aber das kann ich nicht beweisen.

63 Pötsch: Sie suchen das Problem? (wie Anm. 44), S. 39. 64 »Wenn wir von LIBERTATIA sprechen, sprechen wir von Europa. Alles andere wäre lächerlich.« ja-panik.com (wie Anm. 11).

Maike Schmidt

»Im Zweifel für den Zweifel.« Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman?

1.

Einleitung

Im Jahr 2013 hat Joachim Bessing – seit der Veröffentlichung von Tristesse Royale (1999)1 bekannter Pop-Literat und Urheber des popkulturellen Quintetts – sein Werk untitled veröffentlicht und damit entsprechende Erwartungen auf einen neuen Pop-Roman geschürt. Doch die Resonanz im Feuilleton hätte gemischter kaum sein können: Marie Schmidt kritisiert beispielsweise in der Zeit, dass das »redundante verknallte Genöle« bewirke, »dass es dem Roman an der vorzüglichsten Eigenschaft des Pop gebricht: jener zwischen heiligem Ernst und Ironie changierenden Haltung, die Kritiker in den Wahnsinn treiben kann und höchster formaler Disziplin bedarf.«2 Auch Thomas Neumann konstatiert schlicht: »das nervt!«3 Rainald Goetz, der ebenfalls eine pop-literarische Vergangenheit vorweisen kann und in untitled mehrfach positive Erwähnung findet, bezeichnet den Roman hingegen lobend sowohl als »hysterisches Pamphlet für den Ernst« als auch als »echte[n] Poproman«: Auf quasi jeder Seite dieses Romans wird man mit Informationen beballert, von denen man noch nie gehört hat, hochinteressant alle, denen man im Internet vielleicht genauer nachgehen wird, ein vor Innerlichkeit bebendes Buch, gespickt mit einem irrwitzigen Reichtum an Weltdaten und Äußerlichkeiten.4

Nur wenige Rezensenten sprechen sich für eine alternative Lesart des Romans aus, die wegführt von der Pop-Literatur hin zu einem ›neuen Ernst‹: »Man muss 1 Joachim Bessing: untitled. Roman. Köln 2013. 2 Marie Schmidt: »Der Dandy-Punk. In untitled hofft Joachim Bessing, dass SMS, Skype und Instagram unsere Pein lindern«. In: Die Zeit vom 14. März 2013. 3 Thomas Neumann: »Es nervt. Zu Joachim Bessings Romanversuch Untitled«. In: Literaturkritik 8 (2013), http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18154, letzter Zugriff: 27. Februar 2016. 4 Rainald Goetz: »Ein Pamphlet für den Ernst. Was ist aus dem Poproman geworden? Rainald Goetz, selbst ein früherer Pop-Autor, freut sich über Joachim Bessings Roman untitled«. In: Die Zeit vom 11. April 2013.

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Maike Schmidt

diesen Text als ernsthafte Lebensrealität lesen und aufnehmen«,5 heißt es beispielsweise bei Helene Hegemann. Sie sieht das Thema der Überschreitung gesellschaftlich akzeptierter Grenzen in ihrer Rezension ebenso im Mittelpunkt wie den kritischen Umgang mit den Konzepten von Freiheit und Kapitalismus.6 Anknüpfend an diese divergierenden Beobachtungen wird im vorliegenden Beitrag die Frage gestellt, ob Bessings untitled der Pop-Literatur zugerechnet werden kann oder einer ›ernsten‹ Literatur, die traditionelle Werte wie Liebe, Glaube und Hoffnung wieder in den Mittelpunkt stellt, ohne dabei auf Referenzen auf die moderne Medienwelt zu verzichten.7 Für letzteres könnte die Entwicklung des Protagonisten zu einem pop-literarischen Anti-Helden sprechen. Doch gilt das auch auf ästhetischer Ebene? Der selbstreferentielle Umgang mit der Geschichte der Pop-Literatur jedenfalls würde indirekt sogar ein popliterarisches Muster bestätigen.8 Der Beitrag knüpft mit dieser Frage an die in der Forschungsliteratur bereits seit 2001 geführte Diskussion an, ob das Ende der Pop-Literatur erreicht sei: »Die Popliteratur ist tot, es leben ihre antikunstreligiösen Impulse!«9 Von der »Krise des Pop« spricht auch Thomas Assheuer : »Für viele ist Pop die neue Hochkultur unserer Epoche […]. Doch inzwischen mehren sich die Stimmen, die gegen die flächendeckende Anwendung der Popästhetik protestieren.«10 Exemplarisch hat Heinz Drügh Christian Krachts im Jahr 2001 erschienen Roman 1979 auf den pop-literarischen Prüfstand gestellt. Ebenso wie bei Bessings untitled ist bereits bei Krachts 1979 die ›neue Ernsthaftigkeit‹ ausgerufen worden.11 Drügh hat jedoch gegen das Ende der Pop-Literatur argumentiert, indem er mit 1979 »eine weitere Karrierestufe der Popliteratur«12 erlangt sieht. Der vorliegende Beitrag folgt einer möglichst weiten Pop-Definition, wonach Pop »nicht nur thematisch, in der Wahl der Gegenstände und Szenarios, sondern auch auf der Ebene der je spezifischen Schreibverfahren«13 erkennbar ist. Um die 5 Helene Hegemann: »Im Gefängnis der Freiheit. Joachim Bessing erzählt vom Wahnsinn der Liebe«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14. April 2013, S. 54. 6 Vgl. Hegemann: Im Gefängnis der Freiheit (wie Anm. 5), S. 54. 7 Vgl. dazu den Sammelband von Kristin Eichhorn (Hg.): Neuer Ernst in der Literatur? Schreibpraktiken in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2014. 8 Vgl. Andr8 Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren. Bochum 2010, S. 114. 9 Dirk Knipphals: »Hinein ins immer schon Gesagte«. In: die tageszeitung vom 30. Mai 2002. 10 Thomas Assheuer : »Im Reich des Scheins. Zehn Thesen zur Krise des Pop«. In: Die Zeit vom 11. April 2001. 11 Heinz Drügh: »›… und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen‹. Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur?« In: Wirkendes Wort 57,1 (2007), S. 31–51, hier S. 37. 12 Drügh: und ich war glücklich (wie Anm. 11), S. 45. 13 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003, S. 12.

Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman?

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Fragestellung zu beantworten, soll zunächst die Entwicklung des Protagonisten nachgezeichnet und nach dem spezifischen pop-literarischen Ton bzw. den ästhetischen Merkmalen des Romans gefragt werden. Vor allem die inhaltlichen und ästhetischen Brüche stehen dabei im Mittelpunkt der Analyse.

2.

Pop-Elemente in Bessings untitled

Die selbstreferentiellen Verweise auf die Geschichte der Pop-Literatur lassen sich vor allem zu Beginn des Romans erkennen: Während sich heutige Definitionen auf die ästhetischen Schreibverfahren der Pop-Literatur konzentrieren, haben die Definitionen für die Pop-Literatur der 1990er Jahre spezifische inhaltliche Schwerpunkte in den Mittelpunkt gestellt. Dazu gehören »Schilderungen aus der Popwelt, Adoleszenz, jugendliche Subkulturen«,14 »letztlich aber jede Distanzierung von der bürgerlichen Norm in Richtung Dandy-, Beatnik- oder BohemeDasein mit allen vitalistischen Essentials: Unterwegssein, Glamour, Drogen, libertäre Sexualität, Ekstase und Exzeß«.15 Wenigstens zu Beginn der sich über rund zwei Jahre hinziehenden Romanhandlung16 lassen sich nahezu alle genannten Merkmale nachweisen, so dass der Roman auf eine spezifische popliterarische Tradition rekurriert. Der namenlose Ich-Erzähler charakterisiert sich nämlich durchaus selbstkritisch als Dandy : Ich bin neununddreißig. Ich habe nie studiert. Ich habe in Nachtklubs gearbeitet und danach in Werbeagenturen. Mit dem Schreiben konnte ich mehr Geld verdienen als mit den Tresenjobs, also habe ich das gemacht. Ich habe von Anfang an über schöne Dinge geschrieben, weil mir zu Krisen und Kriegen, zu Immobilienpreisen oder Sportereignissen nichts einfällt. Ich verstehe nicht, worum es im Nahostkonflikt geht. Da bleiben nur Handtaschen übrig, die Schmuckuhrenkollektion und Parfums, die nach Buchsbaum duften, und Springreittuniere im Grand Palais.17

Der Ich-Erzähler zeichnet sich also durch eine unpolitische Einstellung und ein Faible für das Schöne aus, weshalb er seine »sogenannte[n] Arbeitstage«18 als Leiter des Stilressorts einer großen deutschen Wochenzeitung eines großen Verlagshauses verbringt. Diese Arbeit geht einher mit dem übermäßigen Kon14 Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende (wie Anm. 8), S. 11. 15 Johannes Ullmaier : Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001, S. 17. 16 Am 11. Februar 2010 lernen sich Julia und der Ich-Erzähler kennen, am 10. März 2011 fliegt letzterer nach Australien, einige Monate später endet der Roman in Südfrankreich. Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 13 und 223. 17 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 12. 18 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 12. Vgl. auch S. 74: »Ich habe den absurdesten Beruf der Welt.«

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sum von Alkohol (Cocktails, Champagner) und Drogen (Ketamin, Codein).19 Das permanente Reisen (New York, London, Paris, Mailand) gehört ebenso zum Beruf wie die Teilnahme an Charity-Veranstaltungen und Empfängen. Einzig das Merkmal einer libertären Sexualität lässt sich angesichts der betonten Enthaltsamkeit des Protagonisten nicht nachweisen.20 Wie es für die Pop-Literatur charakteristisch ist, setzt mit dem seelischen auch das körperliche Leiden ein: Der Ich-Erzähler verweigert in seinem Liebesrausch die Nahrungsaufnahme.21 Wichtiger als die Auseinandersetzung mit der hässlichen Wirklichkeit der erzählten Welt ist die Beschäftigung mit dem Schönen – also mit Mode, Musik, Malerei und Literatur. Mittels Namedropping und Geschmacksurteilen baut der Ich-Erzähler ein Koordinatensystem aus angesehenen bzw. abzulehnenden Marken, Musiktiteln und technischen Errungenschaften auf, das – wie man es von der Pop-Literatur der 1990er Jahre kennt – das Grundgerüst der Identität bildet. Über die Figur des Ich-Erzählers lassen sich regelrecht Kataloge von angesagten Marken der Glamourwelt anfertigen. Damit ist untitled »auch eine Vermessung der Pop-Gegenwart mit Bezügen zu Rainald Goetz, Cat Power und Alexander McQueen.«22 Der Austausch von Songtiteln dient dem Austausch von Emotionen: »Musik ist etwas Großartiges. Musik ist, das werden Julia und ich in den nächsten Wochen noch herausfinden, nicht nur etwas, sondern: lebensnotwendig. Musik, der Austausch von Songs, wird unser bevorzugtes Mittel der Verständigung bleiben.«23 Geradezu die gesamte Geschichte der Pop-Literatur wird mittels kleiner Verweise rekapituliert – von Acid nach Adlon könnte man in Anlehnung an die von Johannes Ullmaier herausgegebene gleichnamige Monographie sagen. Doch der Einfluss der Popmusik wird hier bereits aus historischer Perspektive und damit als überholt betrachtet: »Wir würden den uns nachfolgenden Generationen wohl nie erklären können, welche unfassbar riesige Macht die Popmusik auf uns gehabt hatte.«24 Die als typisch für die Pop-Literatur geltenden Wertevorstellungen könnten ein pop-literarisches Muster des Textes also vorläufig bestätigen, doch indem gleichzeitig deren Überholtheit zum Ausdruck kommt, lässt sich besser von einem Anzitieren bereits überkommener Formen sprechen. Eine besondere Rolle kommt in untitled dem iPhone zu, das über den größten

19 20 21 22

Vgl. u. a. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 35f. Vgl. u. a. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 18. Vgl. u. a. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 57. Thomas Andre: »Die gefährlichste Droge heißt Liebe. Untitled von Joachim Bessing«. In: Spiegel-online, http://www.spiegel.de/kultur/literatur/joachim-bessing-untitled-rezensiona-890953.html, letzter Zugriff: 27. Februar 2016. 23 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 77. 24 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 265f.

Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman?

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Teil der Romanhandlung den einzigen Kommunikationsweg zwischen Julia und dem Ich-Erzähler darstellt: In den nächsten Wochen und Monaten würden wir zwar noch einige Kanäle alternativ zu SMS, EMail und Telefongesprächen eröffnen und betreiben. Doch der Austausch von Getipptem über unsere iPhones, später auch unsere iPads, würde weiterhin den bei Weitem überwiegenden Teil unserer unendlichen Zwiesprache ausmachen.25

Nachrichten und Fotos lassen sich in Sekundenschnelle und über die größten Entfernungen hinweg austauschen, so dass über die digitalen Wege schnell ein Schriftwechsel zu Stande kommt, der ausgedruckt »mehrere Tausend Din-A4Blätter bedecken wird.«26 Allerdings weckt das iPhone dadurch auch den permanenten Wunsch nach weiteren Neuigkeiten und Informationen, so dass eine ›Funkstille‹ erst recht schwer zu ertragen ist und das Liebesleiden eher verstärkt als mindert. Während man zu Beginn des Romans den Eindruck gewinnt, dass der IchErzähler dem Alkohol- und Drogenkonsum zum Trotz sein Leben in geordnete Bahnen gelenkt hat – er geht einer festen Arbeit nach und hat eine Freundin – führt das Treffen mit Julia Speer zu einer grundlegenden Verunsicherung über seinen bisherigen Weltentwurf und schließlich einer Lebenskrise. Die als Tomboy und Philosophin charakterisierte, verheiratete Julia passt nicht in ein popliterarisches Schema, die vom Ich-Erzähler vorgenommene Charakterisierung funktioniert allerdings nach ebensolchen Kategorisierungen: Sie kennt den antiken Philosophen Plotin, aber nicht den belgischen Modedesigner Martin Margiela, aus dessen Haus das titellose und dem Roman den Titel gebende Parfum stammt.27 Sie trägt Doc Martens und hat einen exzellenten Musikgeschmack, nutzt jedoch öffentliche Verkehrsmittel (»ich kannte bislang niemanden, der Bus fährt«).28 Ihr Anderssein wird in der Folge vom Ich-Erzähler stilisiert und weckt immer wieder sein Interesse an ihrer Person. Innerhalb kurzer Zeit baut der Ich-Erzähler eine so starke Beziehung zu Julia auf, dass der bisherige Alltag aus den Fugen gerät. Selbst wenn gar kein Kontakt zwischen beiden besteht, fühlt der Ich-Erzähler die intensive Nähe: »ich spinne mich ein, in ein Erleben mit ihr.«29 Diese gedankliche Auseinandersetzung nimmt im Laufe der Romanhandlung immer weiter zu, bis die überwiegend virtuell und nicht körperlich geprägte Liebe zu Julia sein Leben beherrscht: »Ich 25 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 92. 26 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 92. Die E-Mails haben als Verweis auf den Titel des Romans keinen Betreff; sie sind ›untitled‹. Darüber hinaus steht der Titel des Romans stellvertretend für das Parfum ›untitled‹, welches Julia verwendet, sowie für die gemeinsame Beziehung, die nicht als solche bezeichnet werden darf, sondern ›untitled‹ bleiben muss. 27 Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 16f. 28 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 20, vgl. S. 21f. 29 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 29.

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interessiere mich bereits nur noch sporadisch oder wenn es sein muss für meine sogenannte Branche. Und in den nächsten Wochen würde dieses Interesse noch weiter zurückgehen […]. Meine eigentliche Beschäftigung wird ja längst eine andere sein: Julia Speer.«30 Mit der Liebe zu Julia kehren vergessene Emotionen zum Ich-Erzähler zurück, der nun wieder Angst empfinden und weinen kann.31 Obwohl er weiß, dass Julia nicht beabsichtigt, ihren Mann zu verlassen, trennt er sich von seiner Freundin Senta Kustermann und verliert damit alles: »Freundin, Wohnung, Habseligkeiten.«32 Die leidend-nörgelnde Schreibweise des Romans hat dabei durchaus pop-literarische Vorbilder, denkt man beispielsweise an Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum,33 es lässt sich jedoch durch die permanente Selbstreflexion sowie die bereits erwähnte Werteverschiebung eine Weiterentwicklung feststellen, die im Folgenden aufgezeigt werden soll.

3.

Hinwendung zum ›neuen Ernst‹

In untitled bricht der namenlose Ich-Erzähler ebenso wie der Ich-Erzähler in Krachts 1979 aus seiner Dandywelt aus: »Ich will so nicht mehr weiterleben, dachte ich, so nicht. Irgend etwas muß sich ändern.«34 Allerdings begibt sich Bessings Ich-Erzähler nicht wie derjenige Krachts als Pilger in die tibetische Bergwelt und ein chinesisches Straferziehungslager, sondern flüchtet nach Südfrankreich, um allein mit sich und der Welt ins Reine zu kommen.35 Diese Entwicklung verläuft über drei Etappen: Wie schon erwähnt trennt sich der IchErzähler für Julia von seiner Freundin, er verliert seinen Arbeitsplatz und schließlich gesteht ihm Julia, noch während sich der Ich-Erzähler von einem schweren Unfall erholt, ihre Schwangerschaft. Damit ist endgültig klar, dass sie ihren Mann, den Vater des Kindes, nicht verlassen wird. Der Kommunikations- bzw. Liebesentzug, der die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und Julia kennzeichnet, wird zum Drogenentzug stilisiert, der nicht nur seelisch, sondern auch körperlich Spuren hinterlässt: Noch bin ich sozusagen vollgetankt mit einer anständigen Zahl von EMails, dazu ein mehrstündiges Telefongespräch. […] Doch schützt selbst die Überdosis nicht vor dem

30 31 32 33 34 35

Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 42. Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 50f., S. 62. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 67. Benjamin von Stuckrad-Barre: Soloalbum. Köln 1998. Christian Kracht: 1979. Köln 2001, S. 79. Bei Kracht heißt es entsprechend: »Ich hatte mich noch nie so sauber gefühlt, so zutiefst und im Innersten rein.« Kracht: 1979 (wie Anm. 34), S. 132.

Bessings untitled (2013) – ein nicht mehr popliterarischer Roman?

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Comedown, der unweigerlich mit dem Einsetzen der Dämmerung des nächsten Tages […] beginnt.36

Kommt durch den Vergleich mit dem Drogenkonsum sprachlich hier noch eine popkulturelle Metapher zur Sprache, wendet sich der Protagonist von der Populärkultur ab und erliegt einer dezidiert nicht pop-literarisch konnotierten »Sehnsucht nach einer vordiskursiven Wirklichkeit, nach etwas Eigentlichem«.37 Ging es in seinem bisherigen Leben vor allem um die Inszenierung des Äußerlichen bzw. Oberflächlichen (»Weil man weiß, dass man erst mit dem Kleidungsstück bekleidet als derjenige erscheinen kann, als der man verstanden werden will«38), öffnet sich der Ich-Erzähler nun für seine tiefsten Empfindungen und damit auch allen Unsicherheiten und Zweifeln, die es zuvor zu verbergen und zu betäuben galt: »Alles von zwei Seiten betrachten zu wollen, alles infrage stellen zu können, das habe ich von ihr [Julia, M. S.]. Ich kann nicht sagen, dass es mein Leben leichter gemacht hat. Aber : Im Zweifel für den Zweifel.«39 Anders als noch in dem gleichnamigen Tocotronic-Song verbirgt sich hinter dem Motto »Im Zweifel für den Zweifel« aber keine Positionierung »gegen Zweisamkeit und Normativität« oder »für die Ziellosigkeit«,40 sondern umgekehrt gerade für die Zweisamkeit mit Julia und für einen Lebenssinn. Eine ironische Haltung, wie sie für die Pop-Literatur exemplarisch ist, lässt sich spätestens hier nicht länger feststellen. Schon seitdem Kracht das Zitat »Irony is over. Byebye«41 auf den Umschlag seiner Anthologie Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends aufgenommen hat, gilt in der deutschsprachigen Literatur die ironiekritische Haltung als ein Kennzeichen für die Rede vom Ende der Pop-Literatur. Diese Entwicklung stellt auch Borgstedt fest: Die ironische Affirmation tabuisierter Zeichen war ein geläufiges poetisches Verfahren postmoderner Ästhetik der 1980er Jahre […]. Von hier aus führt ein direkter Weg zu den popliterarischen Provokationen der 1990er Jahre. Mit der offensiven Anerkennung der Medienwelt als eines integralen Bestandteils moderner Wirklichkeit hat sich der ästhetische Ironisierungsbedarf aber schließlich merklich abgeschwächt.42 36 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 84. 37 Jörgen Schäfer : »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968«. In: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): PopLiteratur. TEXT+KRITIK Sonderband. München 2003, S. 7–25, hier S. 15. 38 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 186. 39 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 20. 40 Tocotronic: Im Zweifel für den Zweifel. Auf: Schall und Wahn. Vertigo Records 2010, #8. 41 Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart 1999, hintere Seite des Schutzumschlags. Das Zitat stammt ursprünglich von Jarvis Cocker. 42 Thomas Borgstedt: »Wunschwelten: Judith Hermann und die Neuromantik der Gegenwart«. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 5 (2006), S. 207–232, hier S. 217.

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Allerdings hat Drügh 2007 in Bezug auf Kracht festgestellt, dass sich »die Überwindung des popliterarischen Spiels mit der Alltagskultur zugunsten vermeintlich essentieller Themen«43 nicht überzeugend durchsetzen kann, zu stark bleiben popkulturelle Posen im Text verhaftet. In untitled lässt sich stärker noch als bei Kracht eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ironie-Diskurs feststellen, indem der Roman eine postironische Position aufweist. Dies wird bereits an dem zitierten Liebesmotto »Im Zweifel für den Zweifel« und damit für Julia deutlich: »Über den Tag tauschten wir [Julia und der Ich-Erzähler, M. S.] noch einige solcher Formeln und Hülsen, aber dem gesamten Schriftverkehr lag eine beunruhigende Zweideutigkeit zugrunde, die mich in Atem hielt.«44 Genau dieses Aushalten von Kontingenzen entwickelt sich laut Sebastian Plönges in postironischen Romanen der Gegenwartsliteratur zur Hauptaufgabe der Protagonisten: Der Postironiker »setzt alles auf eine Seite (ohne zu leugnen eine Wahl gehabt zu haben), er markiert seinen Präferenzwert, und das alles ist ihm nicht peinlich«.45 In der postironischen Literatur werden folglich Spielarten dieses Austarierens von Möglichkeiten der Kontingenz erprobt. Das »Zulassen von Emotionen und Mut, [von] Pathos und großen Gefühlen«46 ist damit wieder erlaubt und jede Zweideutigkeit muss folglich wie in dem oben erwähnten Zitat als beunruhigend empfunden werden. Bessings Ich-Erzähler nimmt nun eine postironische Haltung ein, indem er sich zu seinen Zweifeln bekennt und seinen Präferenzwert, die Liebe, markiert, die sich schließlich als Medium zur Beschäftigung mit dem Ich darstellt. Damit zeichnet sich der Protagonist durch seine Dünnhäutigkeit und emotionalen Stellungnahmen aus und nicht länger durch eine ironische Haltung oder pop-literarische Pose. Die Werte, die der IchErzähler am Ende des Romans vertritt, lassen sich nicht mehr der Oberfläche zuordnen. Die tiefe Unsicherheit des Protagonisten, die für die Pop-Literatur als typisch gilt,47 wird damit in Bessings untitled über den Entwicklungsprozess des Ichs und die einschneidenden Erkenntnisse des Ich-Erzählers verabschiedet. Er empfindet nicht länger Angst vor Ironie und Spott durch seine Mitmenschen, sondern geht ganz in der Liebe zu Julia auf. Diese Sinnsuche, die mit der bewussten Re-Aktualisierung traditioneller ethischer oder sozialer Werte wie Glaube und Bildung einhergeht, ist seit den 1990er Jahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unter den Strö43 Drügh: und ich war glücklich (wie Anm. 11), S. 37. 44 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 19. 45 Sebastian Plönges: »Postironie als Entfaltung«. In: Torsten Meyer, Wey-Han Tan, Christina Schwalbe und Ralf Appelt (Hg.): Medien und Bildung. Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel. Wiesbaden 2011, S. 438–446, hier S. 444. 46 Johannes M. Hedinger: »Postironie. Geschichte, Theorie und Praxis einer Kunst nach der Ironie«. In: Kunstforum International 213 (2012), S. 112–126, hier S. 123. 47 Vgl. Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende (wie Anm. 8), S. 33.

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mungen des ›neuen Konservativismus‹ und des ›neuen Ernstes‹ zusammengefasst worden.48 In der Rückkehr zu bereits etablierten, gewissermaßen ›gutbürgerlichen‹ Formen des Erzählens häufig in Kombination mit dem Bekenntnis zu den genannten moralischen Werten liegt eine besondere Chance, sich vom pop-literarischen Ton und Gestus abzuheben. Dass die lange Zeit vorherrschende Pop-Literatur eine konservative Wende in der Literatur begünstigt, führt auch Assheuer in seinem Artikel über die Krise des Pop an: »Pop ist nicht das Opfer eines konservativen Roll-backs, sondern hat ihn beschleunigt.«49 In Bessings untitled kommt dieser ›neue Ernst‹ vor allem darin zum Tragen, dass der Ich-Erzähler Werte wie Liebe, Innerlichkeit und Ehrlichkeit entdeckt: Vor jedem anderen Menschen, vor allem vor jeder anderen Frau hätte ich nun versucht, eine pointierte Bemerkung zum Partnerlook [eines alten Paares, M. S.] anzubringen. Zu Julia sage ich: Ich finde das sehr schön. Weil es die Wahrheit ist. Und weil, wie ich durch Julias Hilfe herausfinden werde, Wahrheit mit Wahrheit belohnt wird. Woraus ein schönes, ein reines, weil – eben wahres Lebensgefühl entsteht.50

Am Ende des Romans steht daher auch die pathetisch vorgetragene Selbstfindung des Protagonisten in der Liebe: »Ich bin so froh, dass du dich gefunden hast, sagt Julia. Ja, sage ich, in dir.«51 Diese Suche nach einem tieferen Lebenssinn wird allerdings wie auch schon in Bessings Roman Wir Maschine aus dem Jahr 2001 durch das »popspezifische Verhältnis von Autor und Werk«52 pop-literarisch motiviert. Auf die autobiographischen Parallelen zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor hat Joachim Bessing in einem Interview selbst hingewiesen: »Nach meinem Handtaschenund-Nagelack-Leben als Modejournalist und einem schweren Unfall beschloss ich: Ich möchte nie wieder etwas machen, was mir nichts bedeutet, weil es jederzeit vorbei sein kann.«53 Bei aller Vorsicht, die man angesichts solcher Selbstaussagen walten lassen muss, ist die Ähnlichkeit der Argumentation des Ich-Erzählers in untitled, der sich mit dem Autor die existentielle Erfahrung eines schweren Unfalls wie auch den Beruf im Modejournalismus teilt, augenfällig: Solange ich mich noch mit etwas anderem als Julia befassen musste – mit den Fragen der Mitarbeiter, meinen Reisen, den Abläufen der Produktion –, konnte ich mich noch 48 Vgl. die Sammelbände: Eichhorn: Neuer Ernst in der Literatur (wie Anm. 7) sowie Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013. 49 Assheuer : Im Reich des Scheins (wie Anm. 10). 50 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 100. 51 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 303. 52 Ullmaier : Von Acid nach Adlon (wie Anm. 15), S. 16. 53 Alexander Kissler: »›Jeder braucht einen Menschen, der ihn ruiniert.‹ Interview mit Joachim Bessing«. In: Cicero. Online Magazin für politische Kultur vom 6. Mai 2013.

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nicht restlos meinem Gefühl der Sehnsucht nach ihr überantworten. Nun waren mir die letzten Kapazitäten freigeräumt worden.54

Weiter heißt es im Interview: »Ich wünsche jedem Menschen, dass er eine solche Julia Speer findet – einen Menschen, der ihn komplett ruiniert. Nur ein solcher Ruin sorgt dafür, dass du neu entscheiden kannst, was du wirklich willst.«55 Obwohl der Roman also inhaltlich mit dem pop-literarischen Muster bricht, zitiert er ästhetisch mittels der autobiografischen Fiktion eine der typischen pop-literarischen Schreibweisen an. Angesichts der Zunahme autofiktionaler Werke in der Gegenwartsliteratur seit etwa der Jahrtausendwende56 handelt es sich dabei jedoch nicht mehr um ein genuin pop-literarisches Verfahren. Kaum von den Verletzungen seines Unfalls genesen, erkennt der Protagonist die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Julia, die ihren Mann angesichts ihrer Schwangerschaft keinesfalls verlassen wird. Zur Erholung reist der Ich-Erzähler jedoch nicht mehr in Mode-Weltstädte wie Berlin, Mailand oder New York, sondern in eine kleine südfranzösische Stadt, um sich dort seiner Einsamkeit und seinem Schmerz hinzugeben. Hier beschließt er, mit der Anfertigung »eines Erinnerungsbildes«57 sich der Kunst zu widmen, genauer der Malerei: Mädchen trifft Jungen vor fremdem Bücherregal. Vielleicht könnte dies meine erste Entscheidung aus freiem Willen sein: Ich würde es wie Martin Margiela machen, der ja nach seinem Entschluss, der Modebranche den Rücken zu kehren, das Restaurieren von Gemälden des siebzehnten Jahrhunderts erlernte.58

Durch dieses Bild, das die Situation des Kennenlernens und sich ineinander Verliebens von Julia und dem Protagonisten darstellt, kann der Ich-Erzähler seine Sehnsucht zu Julia produktiv nutzen und den Liebesschmerz leichter ertragen. Gleichzeitig bietet ihm das Medium der Kunst die Möglichkeit, die Realität der erzählten Welt zu verklären. Er stellt die Zweisamkeit der beiden Figuren in den Mittelpunkt und überhöht auf beinahe sakrale Weise deren Verbundenheit. Seiner Julia-Fiktion innerhalb der Fiktion malt der Ich-Erzähler schließlich einen Ring aus Gold an den Finger, der symbolisch für das Eheversprechen steht. Damit überhöht er das Versprechen, das sich Julia und der Protagonist innerhalb der erzählten Welt gegeben haben: »Julia schaut mich an, sie hat große Augen, ihr Gesicht wirkt kindlich, sie sagt: Es darf dir nie schlecht gehen, versprochen. j Dir auch nicht. j Und sie umschlingt mich wieder und sagt: Fest versprochen! j Es ist ein Versprechen. Eine geheime Ehe, die nie gebrochen 54 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 204. 55 Kissler : Jeder braucht einen Menschen (wie Anm. 53). 56 Vgl. dazu den Sammelband: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013. 57 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 272. 58 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 225.

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werden kann.«59 Der Ich-Erzähler stilisiert sich in der Folge zu einem Künstler : »Ich bin ein Poet der Stille und der Einsamkeit. Mein Glück sieht sich im leeren Wunsch bereits erfüllt.«60 Die Malerei stellt für ihn die Rettung vor dem Liebeswahn durch die Kunst dar, indem er schließlich zu seinem Ich findet. Zwar spielt auch noch beim Malen die Wahl der Kleidung (T-Shirt nach dem Entwurf von Dries van Noten, eine aus dem Kontext des Militärischen herausgehobene Camouflage-Hose)61 sowie die Exklusivität der angemischten Farben (Lapislazuli, Schneckenpurpur, japanisches Weiß)62 eine gewisse Rolle, allerdings läuft der popkulturelle Gestus hier ins Leere: Der Protagonist wird beim Malen von niemanden gesehen, so dass die Symbolwirkung mindestens innerhalb der erzählten Welt keine Funktion erfüllt. Stattdessen bleibt die Partnerkleidung von Julia und dem Ich-Erzähler von Bedeutung, die ihre innere Verbundenheit nach außen demonstriert. Und auch die teuren Grundstoffe, die für den richtigen Farbton notwendig sind, verweisen wie auch die Schilderung der erzeugten Lichteffekte stärker auf den hochkulturellen Vermeer-Bezug als auf eine popkulturelle Tristesse-Royale- oder Huysmans-Anspielung. Eine wichtige Funktion nimmt auf dem Gemälde das Bücherregal ein, vor dem sich die beiden Liebenden treffen. Der Ich-Erzähler füllt es »mit all den Bänden, von denen ich wusste, dass sie Julia oder mir viel bedeuteten.«63 Damit legt er quasi ein Archiv der gemeinsamen Liebe an, wobei hochkulturelle Werke hier deutlich überwiegen: Plotin, Hermann Lenz, Arno Schmidt, Peter Handke.64 Musikalisch ergänzt wird die Sammlung trotz des Anachronismus durch eine Reihe von CD-Rücken, denn »MP3 s ließen sich einfach nicht malen.«65 Einerseits zitiert der Roman damit pop-literarische Muster, indem er mittels ästhetischer Urteile über Sprache, Medien und Kunst spricht.66 Trotz der Kritik an Regallückenfüllern wie »ADAC-Reiseatlanten und Guiness-Rekordbüchern« sowie »Belegexemplaren eigener Werke«67 hat die Zusammenstellung der Werke zu einem gemalten Liebesarchiv andererseits jedoch eine andere Funktion als den »scheinbar willkürlich aburteilende[n] Gestus«68 der Pop-Literaten. So wie sich der Protagonist durch die Liebe zu Julia von seinem früheren popkulturellen Leben als Modejournalist abwendet und dieses Leben selbstkri59 60 61 62 63 64 65 66

Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 100. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 303. Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 273f. Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 283. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 298. Vgl. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 298. Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 299. Vgl. Moritz Baßler : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Auflage. München 2005, S. 21. 67 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 298. 68 Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende (wie Anm. 8), S. 32.

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tisch reflektiert, lässt sich auf ästhetischer Ebene von einer kritischen Reflexion der Pop-Literatur zugunsten einer pathetischen und ernsten Erzählweise sprechen. Die aufgezeigten pop-literarischen Referenzen sind vielmehr als Zitat eines spezifischen ästhetischen Konzepts in den Roman eingebunden und führen die Differenzen zwischen dem ironischen und dem pathetischen Ton umso deutlicher vor Augen. Das komplexe Erzählverfahren mit den zahlreichen Pro- und Analepsen führt zusätzlich dazu, dass der Leser die Chronologie der Handlung erst Schritt für Schritt rekonstruieren kann. Seinen reflexiven Charakter betont der Roman vor allem auch dort, wo Floskeln und formelhafte Formulierungen hinterfragt werden: »Ich stehe vor einem Regal in Maxims Bibliothek und lasse meinen Blick, wie man es so schön nichtssagend sagt: ruhen auf den Rücken einer Reihe von Inleinengebundenen. Denn ich will wirklich: meine müden Augen ruhen lassen.«69 Der Text greift Metaphern der Alltagssprache auf und fragt nach der wortwörtlichen Bedeutung. Dahinter verbirgt sich die Funktion der Verlangsamung: So wie das Nachdenken über die Wortbedeutung das Lesetempo reduziert und eine Reflexion in Gang gesetzt wird, soll auch über die anzitierten literarischen Muster und Themenfelder nachgedacht werden. Mit diesem Merkmal der Reflexion, das sich narrativ, sprachlich und ästhetisch durch den Text zieht, grenzt sich der Roman von als typisch für Pop-Literatur geltenden Ausdrucksmustern ab zugunsten einer Literatur, »die einlädt, das eigene Ich sowie die wahrgenommene soziale Bedingtheit, den Ist-Zustand, zu hinterfragen bzw. einer Prüfung auszusetzen, bei der man zu sich selbst finden kann.«70

4.

Fazit

Die Analyse hat gezeigt, dass sich Bessings untitled auf den ersten Blick in die Pop-Literatur einordnen lässt, weil man all die in germanistischen Arbeiten ausgebreiteten Merkmale des Genre Pop hier noch einmal findet: die blasierte Aufzählung ikonischer Elemente aus Mode und Popmusik. Das Gemisch aus Wirklichem und Fiktionalisiertem, das durch die demonstrative Ähnlichkeit der Hauptfigur zum Autor begünstigt wird.71

Doch dieser Abgleich des Romans mit den pop-literarischen Elementen der 1990er Jahre greift zu kurz, da diese bereits als selbstreferentielles Zitat – der 69 Bessing: untitled (wie Anm. 1), S. 87. 70 Thomas K. Jung: »Ende gut, alles gut – Oder der Pop frißt seine Kinder. These zur Popliteratur von ihrem Ende her erzählt«. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop – Pop – Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004, S. 131–145, hier S. 145. 71 Schmidt: Der Dandy-Punk (wie Anm. 2).

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historische Rückbezug wird explizit deutlich gemacht – Eingang in den Text finden. Entscheidender ist vielmehr die Entwicklung des Protagonisten von einem sich nach Außen inszenierenden pop-literarischen Dandy hin zu einem auf die eigenen Empfindungen konzentrierten, von der Außenwelt abgeschotteten Ich. Ausgelöst durch die drei zentralen Handlungselemente des Verliebens, des Jobverlusts und des Unfalls findet eine Abwendung vom pop-literarischen Gestus statt, die sich auch ästhetisch in der pathetischen, beinahe kitschigen Erzählweise des Romans niederschlägt. Das analeptische, durch zahlreiche Prolepsen gekennzeichnete Erzählverfahren führt bereits von Beginn an zu einer negativen Wertung des alten Lebens. Erst das Infragestellen der früheren Lebenseinstellung führt am Ende zu einer Rettung des Ichs durch die Kunst. Untitled, das »radikalste Icherforschungsbuch«,72 rückt damit Merkmale der PopLiteratur in eine Vergangenheit, in der die reaktualisierten konservativen ›wahren‹ Gefühle und Lebensziele noch verschüttet waren. Ob es sich bei Bessings untitled damit um einen Roman handelt, der sich von der Pop-Literatur abgrenzt bzw. deren Überwindung vor Augen führt oder sich die in der Analyse aufgezeigten Beobachtungen als Weiterentwicklung innerhalb der Grenzen der Pop-Literatur verstehen lassen, muss vorerst noch offenbleiben.

72 Goetz: Ein Pamphlet für den Ernst (wie Anm. 4).

Die BeiträgerInnen

Thomas Hecken ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Pop und Populäre Kulturen an der Universität Siegen. Weitere Forschungsschwerpunkte zu Begriffsgeschichte, Ästhetik und Poetologie, Avantgardebewegungen. Jan Behrs ist Visiting Associate Professor an der Northwestern University (Evanston). Forschungsschwerpunkte: Literatursoziologie, Theorien literarischer Innovation, Barockliteratur, Kanon und seine Ausfransungen, Literatur und Film der Gegenwart. Lea Müller Dannhausen ist Mitarbeiterin an der Hochschule Mainz. Forschungsschwerpunkte: Digital Humanities, Intertextualität und Elfriede Jelinek. Heinz Drügh ist Professor für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Allegorie und Symbol, Text/Schrift und Bild: Poetik der Beschreibung, Klassik und Romantik, Literatur und Popkultur – Warenästhetik und (Post-)Moderne. Gregory Bond ist Leiter des Sprachenzentrums an der Technischen Hochschule Wildau. Lehrschwerpunkte: Mediation, Verhandlungsführung, Kommunikation. Forschung in der Germanistik vor allem zu Uwe Johnson. Dirk Niefanger ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit systematischem Schwerpunkt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Kultur der Frühen Neuzeit, Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie, Autorschaftstheorie sowie Poetik und Rhetorik der Frühen Neuzeit, Drama, Dramentheorie, Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, Gegenwartsliteratur, Futurologien.

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Die BeiträgerInnen

Laura Schütz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilian-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Gegenwartsliteratur, Hans Pleschinski, Helene Hegemann. Moritz Baßler ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie, Literatur der Gegenwart. Hans-Edwin Friedrich ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literaturtheorie, nichtkanonisierte Literatur, Medienwissenschaft. Ole Petras ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Popmusik und ihre Theorie, moderne Lyrik, Literatur und Medialität, Volkskultur/populäre Kultur. Nikolas Buck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Avantgardeliteratur, Gegenwartsliteratur und Literatursoziologie. Christoph Rauen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Metaliteratur der Goethezeit, Empirie und Theorie in der Literaturwissenschaft, Pop-Literatur und Ironie, Deutsche Amerikabilder im Western. Ingo Irsigler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Geschichtsreflexionen in Literatur und Film, Literatur und Literaturbetrieb, Literaturvermittlung, Autorschaft, Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Spannungsforschung. Claus-Michael Ort ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literarische Selbstreferentialität und poetologische Selbstreflexion vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Geschichte der Darstellung von Verbrechen und Strafjustiz vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Probleme einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung, Zeichen-, Medien- und Diskurstheorien im Verhältnis zur Systemtheorie.

Die BeiträgerInnen

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Simon Hansen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsdramatik, Theorie des Dramas, Drama und Theater, Gegenwartsliteratur. Bernd Auerochs ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Deutschjüdische Literatur, moderne Lyrik, Geschichte des Romans, Literatur und Religion, Literatur und Philosophie, der Poesiebegriff, Aufklärung, Romantik. Maike Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur und Geschichte, Kulturkontaktforschung und Literatur des 21. Jahrhunderts.